Weimar als Herausforderung: Die Weimarer Republik und die Demokratie im 21. Jahrhundert 3515115919, 9783515115919

Die deutsche Demokratie steht im 21. Jahrhundert vor neuen und vielfältigen Herausforderungen: Sinkende Wahlbeteiligung

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German Pages 310 [330] Year 2016

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Table of contents :
INHALT
VORWORT
WEIMAR ALS HERAUSFORDERUNG
„O WEIMAR! DIR FIEL EIN BESONDER LOS…“
DIE WEIMARER NATIONALVERSAMMLUNG ALS DEMOKRATISCHER ERINNERUNGSORT
REVOLUTION UND REPUBLIK, DEUTSCHLAND UND EUROPA
AUF DEM WEG ZUR REAKTUALISIERUNG DURCHHISTORISIERUNG
DIE GRÜNDUNG DER WEIMARER REPUBLIK UND VERGLEICHENDE KONSTITUTIONALISIERUNGSFORSCHUNG
POLITISCHE VERBINDLICHKEIT ALS KERNPROBLEM DER WEIMARER DEMOKRATIEDEBATTE
DIE WEIMARER REPUBLIK UND DIE EUROPÄISCHE DEMOKRATIE
STRUKTUREN, INSTITUTIONEN, POLITISCHE KULTUR
WEIMAR – ÜBERFORDERTE REPUBLIK UND ÜBERFORDERTE BÜRGER
„WEIMARS“ CHANCEN UND MÖGLICHKEITEN, STRUKTUREN UND NORMEN – EINE PROBLEMSKIZZE
DIE WEIMARER VERFASSUNG UND DAS GRUNDGESETZ
WEIMAR UND DIE ORGANISATION DER ARBEIT
WEIMARER BIOGRAFIEN FÜR DAS 21. JAHRHUNDERT
FRIEDRICH EBERT IN DER POLITISCHEN ERINNERUNG UND IN DER HISTORISCHEN FORSCHUNG
MATTHIAS ERZBERGER – DER VERGESSENE MÄRTYRER
WALTHER RATHENAU – EIN REPRÄSENTANT DER REPUBLIK?
DIE WEIMARER REPUBLIK IN MUSEALER REPRÄSENTATION, BÜRGERWISSENSCHAFT UND POLITISCHER BILDUNG
DAS MUSEALE WEIMAR IN DER HAUPTSTADT
„WEIMAR“ IN WEIMAR – DIE MÜHEN DER EBENE
ES „WEIMART“ SCHON SEHR.
DIE WEIMARER REPUBLIK: DEUTSCHLANDS ERSTE DEMOKRATIE
WEIMARER REPUBLIK & BÜRGERWISSENSCHAFT 2019: CHANCEN EINES PROJEKTS
WEIMAR UND DIE DEMOKRATIE FÜR JUNGE BÜRGER
VON WEIMAR ÜBER BONN NACH BERLIN
WEIMAR UND DIE BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND
AUTORENVERZEICHNIS
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Weimar als Herausforderung: Die Weimarer Republik und die Demokratie im 21. Jahrhundert
 3515115919, 9783515115919

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Weimar als Herausforderung Die Weimarer Republik und die Demokratie im 21. Jahrhundert

Herausgegeben von Michael Dreyer und Andreas Braune Weimarer Schriften zur republik

Franz Steiner Verlag

1

Weimar als Herausforderung Herausgegeben von Michael Dreyer und Andreas Braune

weimarer schriften zur republik Herausgegeben von Michael Dreyer und Andreas Braune Band 1

Weimar als Herausforderung Die Weimarer Republik und die Demokratie im 21. Jahrhundert

Herausgegeben von Michael Dreyer und Andreas Braune

Franz Steiner Verlag

Gedruckt aus Mitteln des Strategie- und Innovationsbudgets des Thüringer Ministeriums für Wirtschaft, Wissenschaft und Digitale Gesellschaft

Umschlagabbildung: Theaterplatz in Weimar nach der Vereidigung des Reichspräsidenten Friedrich Ebert am 21. August 1919 Fotografie: Oskar Schlechtweg, Weimar (Stadtmuseum Weimar) Die Flagge am Deutschen Nationaltheater wurde nachträglich farbig hervorgehoben. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2016 Druck: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany ISBN 978-3-515-11591-9 (Print) ISBN 978-3-515-11592-6 (E-Book)

INHALT Vorwort ..................................................................................................................IX Michael Dreyer / Andreas Braune Weimar als Herausforderung. Zum Umgang mit einer schwierigen Republik ... XII „O WEIMAR! DIR FIEL EIN BESONDER LOS…“ Heiko Maas Die Weimarer Nationalversammlung als demokratischer Erinnerungsort .............. 3 REVOLUTION UND REPUBLIK, DEUTSCHLAND UND EUROPA Alexander Gallus Auf dem Weg zur Reaktualisierung durch Historisierung. Die vergessene Revolution von 1918/19 revisited .................................................. 9 Andreas Braune Die Gründung der Weimarer Republik und vergleichende Konstitutionalisierungsforschung ............................................ 23 Marcus Llanque Politische Verbindlichkeit als Kernproblem der Weimarer Demokratiedebatte ... 39 Tim B. Müller Die Weimarer Republik und die europäische Demokratie .................................... 57 STRUKTUREN, INSTITUTIONEN, POLITISCHE KULTUR Ursula Büttner Weimar – Überforderte Republik und überforderte Bürger .................................. 81 Detlef Lehnert „Weimars“ Chancen und Möglichkeiten, Strukturen und Normen – Eine Problemskizze.................................................... 103

VI

Inhalt

Christoph Gusy Die Weimarer Verfassung und das Grundgesetz ................................................. 123 Franz Josef Düwell Weimar und die Organisation der Arbeit ............................................................. 135 WEIMARER BIOGRAFIEN FÜR DAS 21. JAHRHUNDERT Walter Mühlhausen Friedrich Ebert in der politischen Erinnerung und in der historischen Forschung ........................................................................................ 159 Torsten Oppelland Matthias Erzberger – Der vergessene Märtyrer ................................................... 175 Martin Sabrow Walther Rathenau – Ein Repräsentant der Republik? ......................................... 189 DIE WEIMARER REPUBLIK IN MUSEALER REPRÄSENTATION, BÜRGERWISSENSCHAFT UND POLITISCHER BILDUNG Arnulf Scriba Das museale Weimar in der Hauptstadt ............................................................... 205 Alf Rößner „Weimar“ in Weimar – Die Mühen der Ebene .................................................... 211 Thomas Schleper Es „weimart“ schon sehr. Hinweise auf ein Verbundprojekt im Westen anlässlich der Jubiläen von „Bauhaus“ und „Weimarer Republik“ ..................... 229 Stephan Zänker Die Weimarer Republik: Deutschlands erste Demokratie – Eine multimediale Wanderausstellung ................................................................ 259 Christian Faludi Weimarer Republik & Bürgerwissenschaft 2019: Chancen eines Projekts ......... 269 Moritz Kilger Weimar und die Demokratie für junge Bürger .................................................... 277

Inhalt

VII

VON WEIMAR ÜBER BONN NACH BERLIN Michael Dreyer Weimar und die Bundesrepublik Deutschland .................................................... 295 Autorenverzeichnis .............................................................................................. 309

VORWORT Mit diesem Band werden Beiträge veröffentlicht, die überwiegend im November 2015 auf einer Tagung in der Landesvertretung des Freistaates Thüringen in Berlin diskutiert wurden. Fachleute aus verschiedenen Fächern, aus Universitäten und der musealen und pädagogischen Praxis kamen zusammen, um sich der Herausforderung Weimar zu stellen. Gleichzeitig ist dieser Band aber nicht nur die Dokumentation der damaligen grenzüberschreitenden Diskurse, sondern zugleich die Einleitung für eine eigene Herausforderung, nämlich eine neue Schriftenreihe: die „Weimarer Schriften zur Republik“. Der Titel ist bewusst gewählt. Auch wenn die Weimarer Republik im Zentrum des Forschungsanliegens liegt, sollen es nicht einfach nur Schriften zur Weimarer Republik sein – die Existenz von Demokratie und Republik und ihre Ansprüche, Chancen und Bedrohungen sind von viel grundsätzlicherer Bedeutung als eine rein historische Sichtweise sie abbilden könnte. Weimar zeigt auch die Gefährdung der Demokratie, und wer glaubt, dass solche Gefährdungen heute nicht mehr vorkommen können, beschwört sie gerade dadurch herauf. Die Herausgeber dieses Bandes und der Reihe sind davon überzeugt, dass gerade die Beschäftigung mit der ersten deutschen Demokratie auch für die zweite Demokratie entscheidende Erkenntnisgewinne bieten kann. In diesem Geist ist die Berliner Tagung organisiert worden, und in diesem Geist gehen wir auch die Schriftenreihe an. Für die Aufnahme der Schriftenreihe in das Programm eines renommierten Verlages und die vorbildliche Zusammenarbeit danken wir dem Franz Steiner Verlag und seinem Leiter, Thomas Schaber. Wir möchten hier eine Reihe begründen, die sich an all jene richtet, die sich in diesem Sinne mit der Geschichte, Politik und Kultur der Weimarer Republik auseinandersetzen. Sie richtet sich an Geschichts-, Politik- und Rechtswissenschaftler und an Vertreterinnen und Vertreter angrenzender Disziplinen, die einen Beitrag zur Erforschung der Weimarer Republik, aber auch ihrer Voraussetzungen und Vorgänger sowie ihrer Folgen und Nachwirkungen, ihrer europäische und ihrer internationalen Einbettung leisten. Im Zentrum stehen dabei jene Chancen und Gefährdungen, die Republik und Demokratie im 20. und 21. Jahrhundert ausgesetzt waren und sind. Neben den Publikationen der Forschungsstelle Weimarer Republik und ihrer Initiativen ist die Reihe offen für Sammelbände Dritter sowie die Publikation entsprechender Qualifikationsschriften. Ein wissenschaftlicher Beirat und ein Reviewprozess werden die Qualität der Reihe sicherstellen. Zurück zu diesem Band: Zwischen der ersten Idee zu einer Tagung und der Sicherung ihrer Ergebnisse zwischen Buchdeckeln liegen viele arbeitsreiche Stunden, aber auch die Mithilfe vieler Menschen, die weit über die Herausgeberschaft hinausgeht. Wir danken allen diesen Kolleginnen und Kollegen, beginnend mit denen, die ihre Forschungsergebnisse mit uns in Berlin geteilt und mit großer zeitlicher Disziplin verschriftlicht haben. Unser Gastgeber in Berlin war, wie gesagt, die Thüringische Landesvertretung, in der wir hervorragende Aufnahme fanden. Be-

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Vorwort

sonderer Dank für die Tage in Berlin gilt dem Bevollmächtigten des Freistaats Thüringen beim Bund, Malte Krückels, sowie dem Dienststellenleiter der Landesvertretung, Raimund Grafe. Organisiert wurde die Tagung vom Verein Weimarer Republik und von den Kollegen aus der Jenaer Politikwissenschaft. Stephan Zänker, Michael Schultheiß und Markus Hünniger (Verein Weimarer Republik) sowie Matthias Enders, Sebastian Elsbach, Ronny Noak und Marion Wondrak (alle Jena) sei für ihre Begleitung der Tagung gedankt. Das Engagement des Vereins wiederum wäre ohne die großzügige Finanzierung des Bundesministeriums für Justiz und Verbraucherschutz nicht möglich gewesen. Dem Hausherrn des Ministeriums, Heiko Maas, sei hierfür gedankt. Wie sehr dem Bundesminister die Thematik am Herzen liegt, zeigt auch der bemerkenswerte Beitrag, den er in diesem Band veröffentlicht hat und der auf eine Rede im Deutschen Nationaltheater Weimar im Jahr 2014 zurückgeht. Für die Vermittlung dieser Verbindung muss Carsten Schneider, MdB, dem Gründungsvorsitzenden des Vereins, aufrichtiger Dank ausgesprochen werden. Es ist nicht oft, dass Politiker sich ohne eigene Interessen wichtigen wissenschaftlichen Themen verbunden fühlen, und um so anerkennenswerter ist es, wenn es geschieht. Die Nachbereitung der Tagung und die Herausgabe dieses Bandes ist in der neu begründeten Forschungsstelle zur Weimarer Republik durchgeführt worden, die mit Mitteln des Freistaates Thüringen am Institut für Politikwissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena eingerichtet worden ist. Die Herausgeber danken dem Präsidenten der Universität, Walter Rosenthal, für die Bereitschaft, eine solche Forschungsstelle einzurichten. Und vor allem natürlich auch dem Freistaat Thüringen, dessen Wirtschafts- und Wissenschaftsminister Wolfgang Tiefensee diese Arbeit ermöglicht hat. In Jena war neben den Herausgebern vor allem Paul Helm an der redaktionellen Bearbeitung der Beiträge beteiligt, wie auch schon zuvor an der Vorbereitung der Tagung. Neben Bund und Land muss der Stadt Weimar gedacht werden, die in der Person von Oberbürgermeister Stefan Wolf und Kulturstadtdirektorin Julia Miehe (die selbst an der Tagung in Berlin teilnahm) lebhaften Anteil an den Aktivitäten von Verein und Forschungsstelle genommen haben und weiterhin nehmen. Weimar als Herausforderung lässt sich durchaus auch auf die Stadt beziehen, und es ist der tatkräftigen Hilfe der Stadtspitze zu verdanken, dass die Weimarer Republik in ihrer Geburtsstadt inzwischen wieder deutlich zu vernehmen ist. Das ist auch Alf Rößner, dem Direktor des dortigen Stadtmuseums und stellvertretenden Vorsitzenden des Weimarer Republik e.V. zu verdanken, der in seinem Haus mit bescheidenen Mitteln und umso mehr Engagement eine ausgezeichnete Sonderausstellung zur Nationalversammlung konzipiert hat und betreibt. Allen Beteiligten danken die Herausgeber von Herzen. Mit diesem Band wird nicht nur eine Konferenz abgeschlossen, sondern vor allem eine Reihe von Aktivitäten eröffnet, die hoffentlich nachhaltige wissenschaftliche Erkenntnisse erbringen wird und die das Bewusstsein für die Herausforderung Weimar in die Öffentlichkeit tragen kann. Jena, im Oktober 2016

Die Herausgeber

WEIMAR ALS HERAUSFORDERUNG Zum Umgang mit einer schwierigen Republik Michael Dreyer / Andreas Braune Der Titel dieses Bandes wie auch der Konferenz, auf der er beruht, lautet „Weimar als Herausforderung“ – und er ist erklärungsbedürftig. Wie kann ein politisches System, das vor knapp 100 Jahren konstruiert wurde und das keine 14 Jahre Bestand hatte, bevor es der dunkelsten Epoche deutscher Geschichte weichen musste, heute noch eine Herausforderung sein? Und doch ist es so, und zwar gleich in mehrfacher Hinsicht. Für die Öffentlichkeit gilt, dass sie die Bedeutung der Weimarer Republik als Erinnerungsort der Demokratie bislang noch kaum zur Kenntnis genommen hat. Vergleicht man etwa die öffentliche Aufmerksamkeit, die durch Medien, Gedenkstätten, Feierlichkeiten und ähnliches der gescheiterten Revolution von 1848/49 zuteil wird mit derjenigen, die der erfolgreichen Revolution und demokratischen Staatsgründung 70 Jahre später gezollt wird, dann ist der Unterschied bemerkenswert. Bezeichnend ist die Liste der deutschen Erinnerungsorte, die Etienne François und Hagen Schulze in drei Bänden zusammengestellt haben.1 Unter 121 Artikeln gibt es natürlich auch einen Beitrag über Weimar, aber damit ist die Stadt gemeint und nicht die Weimarer Republik. Immerhin wird konstatiert, Weimar sei „ein sperriger Erinnerungsort“2. Für die Weimarer Republik selbst gibt es keinen Artikel, wohl aber für Versailles, die Dolchstoß-Legende, Rosa Luxemburg, das Bauhaus, Marlene Dietrich und Walther Rathenau. Sechs Artikel, von denen kein einziger die Errungenschaften der Republik selbst thematisiert. Das ist keine Kritik an den Herausgebern, denn es ist in der Tat so, dass Rosa Luxemburg ein Erinnerungsort im Sinne der historischen Erinnerungsforschung ist, die Weimarer Republik aber nicht. Besonders aufschlussreich ist der Artikel über das Bauhaus, denn hier gibt es zwar Kapitel über das Bauhaus im Nationalsozialismus, in der Bundesrepublik, in der DDR und in den USA – aber keine Kapitelüberschrift, die die Weimarer Republik im eigentlichen Sinne aufgreift, oder aber die Gründe, die zur Umsiedelung von Weimar nach Dessau führten.3 In der politischen Bildung sieht es nicht viel anders aus. Besucht man die Internetpräsenz der Bundeszentrale für politische Bildung, findet man zwar erfreulich viele Treffer zur Suche „Weimarer Republik“. Aber der erste Treffer beginnt in der ersten Zeile der Vorschau (von insgesamt gut drei Zeilen) mit dem Hinweis, dass der „Januar 1933 der Hintergrund aller Untersuchungen der Weimarer Zeit bleiben“   1 2 3

François/Schulze (Hrsg.) (2001): Deutsche Erinnerungsorte. Bollenbeck (2001): Weimar, S. 224. Baumhoff (2001): Bauhaus, S. 591, S. 593, S. 596 und S. 598.

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Michael Dreyer / Andreas Braune

müsse. Der zweite Treffer spricht auf gut vier Zeilen von der „Phase der radikalen Zuspitzung“ in der „rechte und linke Extreme vereint durch die Ablehnung der Weimarer Republik“ gewesen seien. Und im dritten Treffer wird überhaupt nur „Der Untergang der Weimarer Republik“ thematisiert. Die drei ersten von insgesamt 250 Treffern bei einer Volltextsuche, und alle drei enthalten ausschließlich negative Informationen.4 Die museale Gestaltung der Thematik muss überhaupt erst einmal physischen Platz schaffen für neue Ausstellungen über die Weimarer Republik. Im Deutschen Historischen Museum gibt es einige Exponate, im Weimarer Stadtmuseum wurden 2009 und seit 2014 beachtliche Sonderausstellungen gezeigt, und die Planungen für das Jubiläumsjahr 2019 sind in vollem Gange.5 Aber ein direkt der Weimarer Republik gewidmetes Museum oder auch nur eine Gedenkstätte gibt es bislang noch nicht. Der Verein Weimarer Republik, der diese Tagung veranstaltet hat, wird versuchen, diesen Zustand zu ändern – aber die Bestandaufnahme des Ist-Zustandes muss nüchtern konstatieren, dass es bislang zwar ein Westpreußisches Landesmuseum gibt6 (im westfälischen Münster), aber kein Museum zur ersten deutschen Demokratie. Die Wissenschaft hat, außer in den Kulturwissenschaften, der Weimarer Republik bislang gleichfalls kaum die Aufmerksamkeit geschenkt, die ihr gebührt. Im Katalog der Harvard Library, der größten Universitätsbibliothek der Welt, findet man zum Stichwort „Weimar Republic“ 638 Titel. Für das Stichwort „Third Reich“ sind es 1627 Titel. Für „Friedrich Ebert“ gibt es 43 Titel, für „Adolf Hitler“ dagegen 1735.7 Das sind natürlich nur anekdotische Befunde, aber sie sind trotzdem aufschlussreich. Der 51. Deutsche Historikertag 2016 in Hamburg hatte, soweit ich sehe, keine einzige Sektion, die ausschließlich oder primär der Weimarer Republik gewidmet gewesen wäre, und die Historische Zeitschrift hat in den letzten 15 Bänden (Bd. 288-303) exakt drei Aufsätze zur Politik Weimars veröffentlicht.8 Besonders vielversprechend ist der Titel des Aufsatzes von Christoph Thonfeld, „Krisenjahre revisited. Die Weimarer Republik und die Klassische Moderne in der gegenwärtigen Forschung“. Betrachtet man den Text genauer, wird man finden, dass unter 127 Anmerkungen die rechts- und politikwissenschaftliche Forschung fast vollständig ignoriert wird.9 Hier ist also durchaus noch Raum für Verbesserungen, und nicht zuletzt diesem Ziel dient ja der hier eingeleitete Band.   4 5 6 7 8 9

http://www.bpb.de/suche/?suchwort=weimarer+republik&suchen=Suchen (alle Webquellen dieses Beitrags vom 29.9.2016). Vgl. die Beiträge von Arnulf Scriba, Alf Rößner und Thomas Schleper in diesem Band. Zur Ausstellung von 2009 vgl. Ulbricht (2009): Weimar 1919, zu der von 2014 vgl. Rößner (2015): Demokratie aus Weimar. Vgl. http://westpreussisches-landesmuseum.de/de/. http://lms01.harvard.edu/. Thonfeld (2016): Krisenjahre revisited; Conze (2013): Konflikt um den Verfassungseid; Gerber (2011): Pragmatismus und Kulturkritik. Ausnahmen finden sich nur in den Anmerkungen 62 und 120, soweit ich sehe; Thonfeld (2016): Krisenjahre revisited, S.406 und S.418.

Weimar als Herausforderung

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Erstaunlicherweise ist es ausgerechnet die Politik, die hier eine Vorreiterrolle einnimmt, jedenfalls im Vergleich zu den anderen gesellschaftlichen Bereichen. Politisch wurde schon 2009 eine wichtige Konferenz vom Bundesjustizministerium wesentlich gefördert10, und auch jetzt ist die Politik auf allen Ebenen des föderalen Systems im Vorfeld des hundertjährigen Jubiläums der Weimarer Republik in Vorleistung getreten. Die Anliegen des Vereins Weimarer Republik, darunter eine umfangreiche Wanderausstellung, aber auch die hier dokumentierte Konferenz, werden großzügig vom Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz gefördert, und dass neben dem materiellen auch das ideelle Interesse besteht, wird aus dem auf diesen Beitrag folgenden Aufsatz von Bundesjustizminister Maas deutlich.11 Der Freistaat Thüringen, der bereits 1998 eine wichtige Ausstellung gefördert hatte12, trägt für die nächsten Jahre eine an der Friedrich-Schiller-Universität angesiedelte Forschungsstelle, die von den beiden Herausgebern dieses Bandes geleitet wird. Und die Stadt Weimar plant die Umwandlung des jetzigen Bauhausmuseums, am Theaterplatz direkt gegenüber vom Deutschen Nationaltheater, dem Tagungsort der Nationalversammlung, gelegen, in ein der Weimarer Republik museal, wissenschaftlich und im Bereich der politischen Bildung gewidmetes Haus – wobei der entsprechende Umbau wiederum vom Bund wesentlich finanziert wird. Gemessen an den Aktivitäten in anderen gesellschaftlichen Bereichen ist dies ein ebenso erstaunliches wie erfreuliches Maß an Aktivität. Dabei hat das Thema der Weimarer Republik inzwischen eine geradezu surreale Aktualität gewonnen, und zwar nicht nur deshalb, weil das Jubiläumsjahr 2019 (und alle weitere Jubiläen bis 2033) direkt vor der Tür stehen. Das Aufkommen des Rechtspopulismus in der europäischen Parteienlandschaft und im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf hat die Wissenschaft, aber auch die Medien einigermaßen unvorbereitet getroffen. Und sie machen die kritische Auseinandersetzung mit der Weimarer Republik erst recht zu einem Gebot der Stunde. Denn natürlich zeigt Weimar beides; sowohl die Chancen der Republik wie auch ihre Gefährdungen. Beides ist im Übermaß vorhanden gewesen, und beides scheint auch in den 18 Beiträgen zu diesem Band durch. Die Ambivalenz wird bereits in der einleitenden Überlegung von Heiko Maas deutlich, die hier nicht nur als Rede eines Ministers abgedruckt wird, sondern bewusst auch als ein Beitrag zur inhaltlichen Diskussion um die Weimarer Republik. Die Ideale der Republik, das Bekenntnis zu Republik, Demokratie und Sozialstaat – so Maas – sind eben gerade nicht gescheitert, sondern haben sich letzten Endes, wenn auch mit schmerzvoller Verzögerung, durchgesetzt. Die vier darauf folgenden Aufsätze befassen sich mit den strukturellen Elementen der neuen Republik im europäischen Kontext. Alexander Gallus thematisiert die „vergessene Revolution“ am Anfang der Republik, die niemals den Stellenwert als Erinnerungsort bekam, der der gescheiterten Revolution von 1848 bereitwillig ein  10 Die Ergebnisse sind nachzulesen in Schultheiß / Lasch (Hrsg.) (2009): Weimarer Verfassung. 11 Zu den Aktivitäten des Vereins siehe http://www.weimarer-republik.net/. 12 Mittelsdorf (Hrsg.) (1999): 80 Jahre Weimarer Reichsverfassung.

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Michael Dreyer / Andreas Braune

geräumt wurde. Gallus will durch „konsequente Historisierung zu ihrer Reaktualisierung führen“ und stellt dabei die Kontinuität in den Mittelpunkt der Überlegungen. Hieran schließt sich der Beitrag von Andreas Braune an, der von einem „‘Konstitutionalisierungslaboratorium‘ der europäischen Zwischenkriegszeit“ spricht und der damit die deutschen Erfahrungen in einen europäischen Kontext stellt. Gerade der Vergleich mit den vielen Staatsum- und -neugründungen der Zwischenkriegszeit rücke die Gründung der Weimarer Republik in ein neues Licht. Marcus Llanque greift die Grundsätzlichkeit der Weimarer Debatten auf und sieht hier ein „elementares Verbindlichkeitsproblem“, was er an legitimatorischen Grundbegriffen durchführt. Das europäische Moment ist zentral im Aufsatz von Tim B. Müller, der die Stärke der real existierenden und normativ-legitimatorischen Demokratie auch in den letzten Jahren der Weimarer Republik betont. Die Transdisziplinarität des Bandes wird besonders deutlich im nächsten Abschnitt, in dem sich Beiträge aus der Geschichts- und Politikwissenschaft zusammen mit zwei rechtswissenschaftlichen Abhandlungen um die „Strukturen, Institutionen, Politische Kultur“ bemühen. Ursula Büttner greift ihre Synthese der „überforderten Republik“ auf und stellt ein großes Panorama der gesellschaftlichen und politischen Kräfte dar. Politikwissenschaftliche Strukturen, Handlungsmöglichkeiten und Handlungsalternative stehen im Mittelpunkt von Detlef Lehnerts mit Daten gesättigten Ausführungen, wobei auch Analysedefizite der bisherigen Forschung deutlich werden. Auch Lehnert betont die Chancen, die es auch in den letzten Jahren der Republik gegeben habe. Dem großen Thema der Verfassung widmet sich die Analyse von Christoph Gusy, der den lange gebräuchlichen Narrativen vom guten Grundgesetz und der defekten Weimarer Verfassung eine weit differenziertere Sicht entgegenstellt und die Weimarer Republik als experimentelles „Verfassungslaboratorium“ begreift. Franz Josef Düwell endlich geht in seinem Beitrag auf die „Organisation der Arbeit“ in Weimar ein; ein lange übersehenes, aber enorm folgenreiches Reformprojekt der Republik mit Verfassungsrang. Düwell resümiert, dass hier „ein Meilenstein für die Demokratie und den sozialen Fortschritt“ vorgelegen habe. Jedes politische System lebt auch durch seine Repräsentanten und individuellen Akteure, und so beschäftigen sich drei Aufsätze mit Politikern, die die Republik geprägt haben, und die zugleich als ihre Märtyrer zu gelten haben. Das ist auch bei Friedrich Ebert der Fall, der sich in der Arbeit für die Republik aufrieb und der Gegenstand der Überlegungen von Walter Mühlhausen ist. Der Autor geht dabei der Frage nach, warum Ebert im kollektiven Gedächtnis bis heute unverändert eine so geringe Rolle spielt. Wenn überhaupt, sei er „als Politiker der Revolutionszeit in Erinnerung“, nicht aber als Reichspräsident. Noch weniger in Erinnerung geblieben ist allerdings Matthias Erzberger, der „nicht (mehr) im lebendigen, kommunikativen Gedächtnis der Nation enthalten“ sei, wie Torsten Oppelland in seinen Überlegungen konstatiert. Es fehlte und fehlt die Deutungselite, „in deren Interesse es lag oder die genug Sympathie für ihn hatte, um die Erinnerung wach zu halten“. Der Verfasser artikuliert aber auch Zweifel daran, ob sich Erzberger, gerade mit einen Einstellungen vor 1917, als Identifikationsfigur eigne. Dritter im Bunde ist Walther Rathenau, der von Martin Sabrow betrachtet wird – wobei der Autor zur Vorsicht

Weimar als Herausforderung

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mahnt gegenüber einer vermeintlich einfachen Vereinnahmung des intellektuellen Industriellen für Demokratie und Republik. Habe doch sein „gesellschaftspolitisches Zukunftsmodell ... ein ausgesprochen antiliberales Credo“ enthalten. Im Bereich der biographischen Annäherungen lässt sich daher resümieren, dass sich eine einfache ‚Heroisierung‘ auch der aktivsten Republikaner verbietet, und dass nach wie vor eine Herausforderung darin besteht, die Akteure der Republik kritisch zu würdigen. Die wissenschaftliche Untersuchung der Weimarer Republik garantiert noch lange nicht, dass die dabei gewonnenen Erkenntnisse auch in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Wissenschaftliche Monographien und Sammelbände gehören nicht unbedingt zur Lieblingslektüre der Nation. Die Vermittlung der Ergebnisse obliegt zu einem guten Teil Museen und der politischen Bildung innerhalb und außerhalb von Schulen. Die sechs Beiträge des letzten zentralen Abschnitts sind der Frage dieser Vermittlung gewidmet. Sie berücksichtigen dabei verschiedene Ebenen und Formen musealer Präsentationen. Arnulf Scriba beschäftigt sich mit der im hauptstädtischen Deutschen Historischen Museum geplanten Ausstellung und den besonderen Herausforderungen, diese in das Programm des Flaggschiffs der deutschen Geschichtsmuseen einzufügen. Demgegenüber steht Weimar für die Geburt der Republik, aber eben auch für die lokale Konkurrenz durch andere Großepochen dieser numerisch relativ kleinen Stadt. Von den „Mühen der Ebene“, die damit verbunden sind, spricht der Aufsatz von Alf Rößner. Gewissermaßen zwischen diesen beiden Fokussierungen liegt die Museumslandschaft, die Thomas Schleper für das Verbundprojekt des Landschaftsverbands Rheinland vorstellt. „Weimar im Westen“ mit dem doppelten Bezug auf die Republik und das Bauhaus blickt in die Zukunft mit dem Anspruch, „[n]eue Aufgaben und neue Formen“ zu präsentieren. Eine neue Form ist sicherlich auch die „multimediale Wanderausstellung“, die der Verein Weimarer Republik 2015 realisiert hat und die Stephan Zänker vorstellt – nicht in Konkurrenz zu Ausstellungen wie denen im Weimarer Stadtmuseum, sondern angelegt auf „eine möglichst breite Massenwirksamkeit“, die mit den ungewöhnlichen Standorten in Einkaufzentren, Bahnhöfen und anderswo auch ihre räumliche Besonderheit aufweist. Den Weg in die Bürgergesellschaft weist auch der Beitrag von Christian Faludi, der die Möglichkeiten austariert, das Projekt einer wissenschaftlichen Neuvermessung der Weimarer Republik im Rahmen eines bürgerwissenschaftlichen Ansatzes aus der Universität heraus- und in die Gesellschaft hineinzuführen – und so auch der Forschung selbst neue Perspektiven zu eröffnen. Klassischer politischer Bildung mit neuem Aktualitätsbezug dienen die Ausführungen von Moritz Kilger, der die berechtigte Frage aufgreift, „warum Jugendliche sich überhaupt für die Weimarer Republik interessieren sollten“. Zum Glück gibt er auch eine Antwort auf diese Frage und legt dabei den Fokus einmal nicht auf die genuin politische Dimension der Chancen und Gefährdungen, sondern auf die wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen, die für den Zusammenhalt einer demokratischen Gesellschaft nicht minder bedeutsam sind.

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Michael Dreyer / Andreas Braune

Der letzte Beitrag des Bandes, aus der Feder von Michael Dreyer, zeigt im Bogen zur Bundesrepublik einige Desiderate der Forschung auf, die nicht zufällig bestehen, sondern die das Resultat aus jahrzehntelanger Befassung – oder auch NichtBefassung – mit den Chancen der Weimarer Republik in der unzweifelhaft so viel erfolgreicheren Bundesrepublik sind. So viele Themen hier auch angesprochen wurden, so viele Autoren sich für diesen Band versammelt haben: es kann sich bei dieser Bestandsaufnahme nur um eine erste Anstrengung handeln, um einen Anfang, der fortgeführt werden wird. Und diese Fortführung wird auch über das Jahr 2019 hinausgehen, denn Weimar ist nicht nur im Jubiläum eine Herausforderung, sondern wird es für die vorhersehbare Zukunft bleiben. LITERATUR Baumhoff, Anja: Das Bauhaus. In: François, Etienne / Schulze, Hagen (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte. 2. Bd. München 2001, S. 584-600. Bollenbeck, Georg: Weimar. In: François, Etienne / Schulze, Hagen (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte. 1. Bd. München 2001 S. 207-224. Conze, Vanessa: Treue schwören. Der Konflikt um den Verfassungseid in der Weimarer Republik. In: Historische Zeitschrift, 297 (2013), S. 354-389. François, Etienne / Schulze, Hagen (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte. 3 Bde. München 2001. Gerber, Stefan: Pragmatismus und Kulturkritik. Die politische Kommunikation des deutschen Katholizismus in der Anfangsphase der Weimarer Republik. In: Historische Zeitschrift, 294 (2011), S. 361-390. Mittelsdorf, Harald (Hrsg.): 80 Jahre Weimarer Reichsverfassung (1919-1999). Weimar 1999. Rößner, Alf (Hrsg.): Demokratie aus Weimar. Die Nationalversammlung 1919. Ausstellung des Stadtmuseums Weimar zur Nationalversammlung. Weimar 2015. Schultheiß, Michael / Lasch, Sebastian (Hrsg.): Die Weimarer Verfassung – Wert und Wirkung für die Demokratie. Erfurt 2009. Thonfeld, Christoph: Krisenjahre revisited. Die Weimarer Republik und die Klassische Moderne in der gegenwärtigen Forschung. In: Historische Zeitschrift, 302 (2016), S. 390-420. Ulbricht, Justus H. (Hrsg.): Weimar 1919. Chancen einer Republik. Köln 2009.

„O WEIMAR! DIR FIEL EIN BESONDER LOS…“

DIE WEIMARER NATIONALVERSAMMLUNG ALS DEMOKRATISCHER ERINNERUNGSORT1 Heiko Maas Die Weimarer Nationalversammlung ist ein wichtiges Stück deutscher Demokratiegeschichte. Das möchte ich am Beispiel einer Frau zeigen, die heute weitgehend vergessen ist: Sie hieß Elfriede Ryneck. Ende des 19. Jahrhunderts wurde sie in das deutsche Kaiserreich hineingeboren. Sie wuchs in einfachen Verhältnisse auf. Sie besuchte die Volksschule, anschließend musste sie ihr Geld als Näherin verdienen – bis zur Heirat, dann wurde sie Hausfrau und Mutter. Eine qualifizierte Ausbildung oder gar ein Studium war für Elfriede Ryneck undenkbar. Frauen waren damals an den Universitäten nicht zugelassen. Außerdem konnte sich eine Arbeiterfamilie eine höhere Ausbildung ihrer Kinder schon finanziell gar nicht leisten. An diesen Zuständen etwas zu ändern, war nicht einfach. Schon gar nicht für Frauen. Ihnen wurde nicht nur das Wahlrecht vorenthalten. Frauen war auch die Mitgliedschaft in politischen Parteien verboten. Bis 1908 war ihnen sogar der Besuch politischer Versammlungen untersagt. Die Mutter von Elfriede Ryneck versteckte sich mitunter in Männerkleidung, um an politischen Treffen teilzunehmen. Manchmal wurde sie entdeckt, zweimal wurde sie verurteilt und einmal sogar ins Gefängnis geworfen. Was für uns heute völlig absurd klingt war die Realität in Deutschland an der Schwelle zum 20.Jahrhundert. Man muss daran erinnern, um zu ermessen, welch‘ gewaltige politische Leistung 1919 in Weimar vollbracht wurde. Die Nationalversammlung war die erste echte Volksvertretung in der deutschen Geschichte. Zum ersten Mal konnten auch Frauen das Parlament wählen und ins Parlament gewählt werden. Eine dieser Frauen war Elfriede Ryneck. Sie hatte sich viele Jahre in der Wohlfahrtsarbeit engagiert. 1919 wurde sie im Wahlkreis Potsdam für die SPD in die Nationalversammlung gewählt. Mit dem Frauenwahlrecht war Deutschland vielen anderen Staaten weit voraus. In Großbritannien durften Frauen erst ab 1928 wählen, in Italien und Frankreich sogar erst nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Mit der Verfassung, die im Weimarer Nationaltheater beschlossen wurde, bekamen Männer und Frauen die gleichen staatsbürgerlichen Rechte. Dies war die Voraussetzung dafür, dass wenige Jahre später die ersten Frauen Richterinnen und Rechtsanwältinnen werden konnten. Es ist aber nicht nur die Gleichberechtigung, die die Nationalversammlung und ihre Verfassung zu einem Meilenstein der Demokratiegeschichte macht. Ein anderes Beispiel sind die Farben Schwarz-Rot-Gold. Als Symbol der Freiheit und der   1

Der Text ist die geringfügig überarbeitete Fassung einer Rede, die am 22. Oktober 2014 im Deutschen Nationaltheater in Weimar bei einer Veranstaltung des Vereins „Weimarer Republik e.V.“ gehalten wurde.

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Heiko Maas

Demokratie wurden sie lange Zeit unterdrückt. Erst die Nationalversammlung machte diese Farben zum Symbol unseres Staates. In Weimar wurden auch zum ersten Mal drei Verfassungsprinzipien festgeschrieben, die unser Staatsleben bis heute prägen: Die Republik wurde geschaffen. Nicht Könige und Fürsten stehen seither an der Spitze Deutschlands, sondern gewählte Repräsentanten. Die Demokratie wurde verwirklicht. Die politische Macht liegt seither beim Volk, das durch Wahlen und Abstimmungen regiert. Und der soziale Rechtsstaat wurde geschaffen, also ein Rechtsstaat, der auch materielle Gerechtigkeit anstrebt. Was das konkret bedeutet, zeigt sich zum Beispiel in Artikel 146 der Verfassung. Dort heißt es: „Für die Aufnahme eines Kindes in eine bestimmte Schule sind seine Anlage und Neigung, nicht die wirtschaftliche und gesellschaftliche Stellung … seiner Eltern maßgebend.“ Republik, Demokratie und Sozialstaat – diese Grundsätze der Weimarer Verfassung gelten auch heute, und dies zeigt: Die Ideale der Weimarer Nationalversammlung sind keineswegs gescheitert. Ihre Durchsetzung hat länger gedauert und war schmerzvoller, als 1919 erhofft. Seit 1989 aber sind diese Ideale in ganz Deutschland Wirklichkeit und das zeigt: Sie sind die Sieger der Geschichte, nicht die Radikalen von Rechts und Links, die die Weimarer Verfassung bekämpft haben. In Deutschland tun wir uns manchmal schwer damit, jene zu würdigen, die sich früher als andere für Freiheit und Demokratie eingesetzt haben. Die Mainzer Republik, die Revolution von 1848 und auch die Weimarer Nationalversammlung – sie alle hatten es in der Erinnerungskultur lange Zeit nicht einfach. Die DDR verachtete die Weimarer Republik als „bürgerliche Demokratie“. Wer von der „Diktatur des Proletariats“ träumte, der hatte für freie Wahlen und parlamentarische Debatten nur Hohn und Spott übrig. In West-Deutschland wurde die Weimarer Verfassung dagegen auf ein Negativ-Vorbild für das Grundgesetz reduziert. „Bonn ist nicht Weimar“ – das war damals die Devise. Dabei wurde übrigens gern vergessen, dass die Rahmenbedingungen für die Nationalversammlung und die Weimarer Verfassung viel ungünstiger waren, als später für den Parlamentarischen Rat und sein Grundgesetz. Inzwischen wird die Leistung der Weimarer Nationalversammlung in der Wissenschaft gerechter beurteilt. Aber es ist wichtig, dies auch im kollektiven Gedächtnis stärker zu verankern. 2019 jährt sich die Nationalversammlung zum 100. Mal. Solche Jubiläen sind ein guter Anlass, wichtige Ereignisse stärker ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken. Wir haben das ja 2014 mit dem Ersten Weltkrieg erlebt. Ich würde mir wünschen, dass es 2019 gelingt, die Weimarer Nationalversammlung in das Zentrum der Erinnerung zu rücken. Damit wir das schaffen, sind nach meiner Einschätzung fünf Punkte wichtig: 1. Wir müssen die Leistungen der Nationalversammlung stärker betonen. Frauenwahlrecht und Gleichberechtigung, Republik, Demokratie und Sozialstaat. Das sind die bleibenden Verdienste der Nationalversammlung und ihrer Verfassung. Das sollte man ruhig auch öfter einmal laut sagen!

Die Weimarer Nationalversammlung als demokratischer Erinnerungsort

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2. Wir sollten die positiven Gründe, die 1919 nach Weimar führten, deutlicher benennen. Die Tagung in Weimar wird häufig als „Flucht aus Berlin“ kleingeredet. Die Entscheidung für Weimar war aber mehr als das. Im Vorfeld der Nationalversammlung herrschte in Süd- und Westdeutschland eine Stimmung „Los-von-Berlin“. Die Entscheidung für Weimar und gegen Berlin war deshalb auch ein Zeichen für die Einheit Deutschlands und gegen die alte Vorherrschaft Preußens. 3. Erinnerung ist niemals Selbstzweck. Sie kann uns auch helfen, die Herausforderungen der Gegenwart besser zu meistern. Die Nazis konnten die Weimarer Republik auch deshalb zerstören, weil es in Teilen der Bevölkerung an einer demokratischen Kultur gefehlt hat. „Ein garstig Lied! Pfui! Ein politisch Lied.“ So schrieb es Goethe einst im Faust. Diese apolitische Einstellung herrschte vor allem im Bürgertum noch lange Zeit vor. Eine Demokratie braucht aber Demokraten. Wenn bei Wahlen die Beteiligung zum Teil unter 50 Prozent liegt oder Rechtspopulisten Erfolg haben, dann ist das ein Anlass zur Sorge. Wir sollten die Erinnerung an die Nationalversammlung daher auch nutzen, um die demokratische Teilhabe, das bürgerschaftliche Engagement und die Streitkultur zu fördern. Ein zweiter Aspekt in diesem Zusammenhang: Die Feinde der Weimarer Republik propagierten Hass und Ausgrenzung. Im Innern hetzten sie gegen Demokraten und Juden, nach außen schürten sie die Feindschaft zu Frankreich und Polen. Mit der Erinnerung an die Nationalversammlung könnten wir deshalb auch ein Zeichen setzen – gegen Hass und Ausgrenzung und für Vielfalt und Verständigung. Mit dem „Weimarer Dreieck“, der Deutsch-französisch-polnischen Partnerschaft in Weimar, gibt es dafür schon einen guten Anknüpfungspunkt. 4. Alle politischen Akteure müssen an einem Strang ziehen. Das Erinnern an die Nationalversammlung ist nicht die Sache einer einzelnen Partei. Es ist eine Aufgabe für alle politischen Richtungen. Natürlich spielten damals viele Sozialdemokraten eine wichtige Rolle. Aber die Akteure aus den anderen Parteien waren nicht weniger wichtig: Der Präsident der Nationalversammlung war Konstantin Fehrenbach, ein Mann des Zentrums, eines Vorläufers der CDU. Den Entwurf der Reichsverfassung hat Hugo Preuß formuliert, ein Liberaler. Auch für die Grünen gibt es Anlass, sich zu erinnern. Im Artikel 150 der Weimarer Verfassung heißt es: „Die Denkmäler … der Natur sowie die Landschaft genießen den Schutz und die Pflege des Staates.“ Das ist die erste umweltspezifische Verfassungsnorm in der deutschen Geschichte. Die Weimarer Demokratie war auch deshalb schwach, weil es an einem demokratischen Grundkonsens fehlte. Heute haben wir diesen Konsens zwischen den Parteien und ich meine, wir sollten ihn auch bei der Erinnerung beweisen.

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5. An einem Strang ziehen sollten auch die Stadt, der Freistaat und der Bund. Das Bundesjustizministerium hat sich bereits 2009 beim 90. Jubiläum der Weimarer Republik engagiert. Wir haben damals die Sonder-Ausstellung im Stadtmuseum Weimar finanziell gefördert und meine Amtsvorgängerin, Brigitte Zypries, hat in Weimar eine Konferenz zu „Wert und Wirkung der Weimarer Verfassung“ veranstaltet. Wir werden uns auch 2019 wieder gern beteiligen, aber ich sage zugleich: Unser Ministerium hat den kleinsten Haushalt aller Ministerien in Berlin. Unsere Möglichkeiten sind begrenzt. Geschichtsarbeit ist Teil der Kulturpolitik, deshalb sollte auch das Bundeskanzleramt mit seiner Kulturstaatsministerin einbezogen werden. Außerdem ist die Nationalversammlung ein Vorläufer des Deutschen Bundestages. Auch das Parlament könnte hier aktiv werden. Wie wäre es, wenn zum 100. Jahrestag der Weimarer Nationalversammlung der Deutsche Bundestag zu einer Festsitzung hier im Nationaltheater tagt? Ich könnte mir das gut vorstellen. Vielleicht lassen sich die Abgeordneten des Bundestages dafür gewinnen. Elfriede Ryneck hat als Abgeordnete der Nationalversammlung nicht nur den Frauen ihrer Generation zu Wahlrecht und Gleichberechtigung verholfen. Mit ihrem politischen Engagement hat sie auch folgenden Generationen den Weg bereitet. Zum Beispiel ihrer Enkeltochter Jutta. Jutta Limbach, geborene Ryneck, war die erste Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts. Sie war damit die mächtigste Richterin im vereinten Deutschland. Ihr Lebensweg ist ein weiterer Beleg dafür, dass die Ideen der Nationalversammlung auf lange Sicht erfolgreich waren. Ich bin sicher, dass die Bedeutung der Nationalversammlung weiter wachsende Anerkennung findet. Die Ausstellungen im Stadtmuseum Weimar und die Aktivitäten des Vereins „Weimarer Republik“ tragen dazu bei und dafür wird hoffentlich auch das große Jubiläum 2019 sorgen. Dass wir auf einem guten Weg sind, zeigt übrigens die neueste Ausgabe eines populären Reiseführers. Der neue Baedeker listet schon auf der Titelseite die vier wichtigsten Themen auf, die jeder über Weimar wissen muss. Sie lauten: Goethe, Buchenwald, Nationalversammlung und Bauhaus. Dies zeigt, dass die Zeiten, in denen die Nationalversammlung nur eine Fußnote Wert war, endgültig vorbei sind. Die Weimarer Nationalversammlung war ein Meilenstein in der Geschichte der deutschen Demokratie. Die Stadt Weimar und das Nationaltheater können stolz darauf sein, dass die erste, deutsche Volksvertretung, die von Männern und Frauen frei gewählte wurde, in ihren Mauern tagte!

REVOLUTION UND REPUBLIK, DEUTSCHLAND UND EUROPA

AUF DEM WEG ZUR REAKTUALISIERUNG DURCH HISTORISIERUNG Die vergessene Revolution von 1918/19 revisited Alexander Gallus 1. ZUR EINFÜHRUNG Es sind manche Anzeichen für ein behutsam zunehmendes Interesse an einer Zeit der Umbrüche am Ende des Ersten Weltkriegs zu erkennen. Die Demokratie als ganz unterschiedlich umworbene Leitidee während der Zwischenkriegszeit findet gesteigerte Aufmerksamkeit wie auch die vergleichende Gewaltgeschichte in jener Phase.1 Möglicherweise kündigt sich hier eine Trendwende an. Denn insbesondere mit Blick auf den Systemwechsel in Deutschland 1918/19 zwischen Kaiserreich und Republik entstand im Laufe der vergangenen dreißig Jahre der Eindruck, es mit einer zunehmend „vergessenen Revolution“ zu tun zu haben.2 Wenngleich sich Ausnahmen benennen lassen, so stand doch nicht nur die Forschung seitdem im Grunde still, sondern auch der politische Deutungskampf um die „richtige“ Interpretation der deutschen Revolution. Um davon aber nochmals einen Eindruck zu vermitteln, will ich im Folgenden Deutungskonjunkturen in der alt-bundesdeutschen Historiografie grob skizzieren, bevor ich in punktueller Form drei Gründe dafür anführe, warum die Revolution in den Schatten der Erinnerung wie der Geschichtsschreibung geraten ist. Dann gilt es aber ebenfalls drei Gründe für den aktuellen Wandel dieser misslichen Situation und zur Relativierung der These von der „vergessenen Revolution“ zu nennen. Denn wir erleben eine wenigstens zaghafte Renaissance. Zum Abschluss werde ich einen (nicht: den) Weg zur Wiederbelebung der Revolution im Zeichen einer konsequent historisierenden Erfahrungsgeschichte aufzeigen. Dies ist kein gänzlich neuer Weg, aber seine Erkundung verdient eine Intensivierung. Dieser Vorschlag für die aktuelle und künftige Geschichtsschreibung der Revolution beruht auf der Grundannahme, dass gerade – so paradox es zunächst klingen mag – eine konsequente Historisierung zu ihrer Reaktualisierung führen kann.

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Siehe als Beispiele: Müller / Tooze (Hrsg.) (2015): Normalität und Fragilität; Gerwarth / Horne (Hrsg.) (2013): Krieg im Frieden; Weinhauer et al. (Hrsg.) (2015): Revolution. Gallus (Hrsg.) (2010): Vergessene Revolution.

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2. RÜCKBLICK AUF KONTROVERSE GESCHICHTSDEUTUNGEN DER REVOLUTION Es lässt sich rasch erkennen, dass die Revolution von 1918/19 über viele Jahre hinweg zu jenen Themen gehörte, die erhöhte Aufmerksamkeit fanden und zu kontroversen Stellungnahmen herausforderten, ja bis in die 1980er Jahre hinein „im Brennpunkt des zeitgenössischen Interesses“ stand.3 Die erste entscheidende Wegmarke in der Interpretationsgeschichte, die jüngst Wolfgang Niess nochmals in enzyklopädischer Vollständigkeit nachgezeichnet hat,4 setzte der Kieler Historiker Karl Dietrich Erdmann. In seinem Aufsatz „Die Geschichte der Weimarer Republik als Problem der Wissenschaft“ formulierte er ein pointiertes Entweder-Oder, das den Hauch des Kalten Krieges atmete: Entweder kooperierten die Sozialdemokraten unter Friedrich Eberts Führung mit den alten Eliten in Bürokratie, Justiz und Militär, um eine parlamentarische Ordnung zu installieren, oder es drohten sich die linksextremen Kräfte durchzusetzen, die in Deutschland ein Rätesystem nach sowjetischem Vorbild einführen wollten. In Erdmanns Worten lautete die Alternative: „soziale Revolution im Bündnis mit den auf eine proletarische Diktatur hindrängenden Kräften“ oder „parlamentarische Republik im Bündnis mit den konservativen Kräften wie dem alten Offizierskorps“5. Nach dieser Sicht hatten die Mehrheitssozialdemokraten wenig Handlungsoptionen und erscheint ihr Verhalten ebenso richtig wie zwangsläufig. Das Bild einer akuten Bolschewismusgefahr,6 die im Bündnis mit den alten Kräften abgewehrt werden musste, wandelte sich erst im Laufe der sechziger Jahre, als der Kalte Krieg in eine Phase der Entspannung einmündete und die Historiker neue Quellenbestände erschlossen. Die eingehendsten Einschätzungen zum Charakter der Rätebewegung stammten von Eberhard Kolb und Peter von Oertzen. Sie führten zu einer grundlegenden Revision der bis dahin „herrschenden Lehre“7. Auf einem überaus tragfähigen empirischen Fundament wiesen sie nach, dass die Räte nur zu geringen Teilen kommunistisch ausgerichtet und organisiert waren. Sie wirkten vielmehr häufig improvisiert und favorisierten Positionen der Unabhängigen und Mehrheitssozialdemokraten. Insofern boten sie, entgegen Erdmanns These, keinen Nährboden für eine Bolschewisierung Deutschlands. Die Furcht der sozialdemokratischen Führung vor einem kommunistischen Umsturz sei unbegründet,   3 4 5

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Lehnert (1983): Sozialdemokratie und Novemberrevolution, S. 12. Niess (2013): Deutungen. Erdmann (1955): Problem der Wissenschaft, S. 7. Die Ausführungen stützen sich auf Gallus (2006): Etablierung, S. 133–137. Siehe auch meine neben den Forschungspositionen insbesondere das kontroverse Geschichtsbild innerhalb der bundesdeutschen Sozialdemokratie berücksichtigende Darstellung: Gallus (2010): Vergessene Revolution. Der neueste Forschungsüberblick bei: Stalmann (2016): Wiederentdeckung. Siehe dazu Lösche (1967): Bolschewismus. Vgl. Kolb (1962): Arbeiterräte; von Oertzen (1963): Betriebsräte; siehe auch die späteren Arbeiten von Rürup (1968): Probleme der Revolution; Carsten (1973): Revolution in Mitteleuropa; Miller (1978): Bürde; Kluge (1975): Soldatenräte; Kluge (1985): Kapp-Putsch. Neuerdings auch zur Rätebewegung nach der Hochphase der Arbeiter- und Soldatenräte: Weipert (2015): Rätebewegung.

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die Situation grundsätzlich offen gewesen. Vor allem aber ließ die SPD das in den Räten schlummernde Demokratisierungspotenzial ungenutzt. Dieses historische Szenario traf im Verlauf der 1960er Jahre auf ein gewandeltes Meinungsklima, das Räteideen und der Suche nach Alternativen zwischen den großen gesellschaftlichpolitischen Systemblöcken bis in die 1970er Jahre hinein eine vermehrte Aufmerksamkeit sichern sollte. Die gewandelte Geschichtssicht beflügelte Ideen eines Dritten Wegs zwischen Kapitalismus und Kommunismus und einer alternativen sozialistischen Demokratie.8 Mit der These von der objektiven Schwäche der Linksaußenkräfte während der Revolution 1918/19 war der Vorwurf gegenüber der SPD-Spitze und insbesondere Ebert verbunden, notwendige und mögliche demokratische Reformen unterlassen zu haben. Die Perhorreszierung und Niederhaltung der Rätebewegung seitens der führenden Sozialdemokraten um Ebert, die sich als „Konkursverwalter“ des alten Systems verstanden, habe die weitere politische und gesellschaftliche Modernisierung des Landes gehemmt. Die Deutung der Ereignisse um die Jahreswende 1918/19 firmierte danach unter dem Rubrum „versäumte Chance“ – nämlich die Weimarer Republik in der Entstehungsphase unter Einbeziehung einer „basisdemokratischen“ Volksbewegung nachhaltig zu konsolidieren. Sebastian Haffner ergänzte in seiner 1969 erstmals erschienenen, bis in unsere Tage populärsten Revolutionsdarstellung die „Versäumnis-“ um die (an sich bis in die Revolutionszeit selbst zurückreichende) „Verratsthese“ gegenüber Ebert und den Mehrheitssozialdemokraten und brachte so eine alt-neue Schärfe in die Debatte zurück, die schon bei Erscheinen seines Buches nicht dem State-of-the-Art der Revolutionsforschung entsprach.9 Aber auch die wesentlich moderatere neue dominierende Sicht, die insbesondere an Kolb und v. Oertzen anknüpfte, forderte zu Widerspruch heraus. Der große Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel, nach dem der deutsche Politologenverband doch einmal einen Preis benennen sollte, sprach von der Schaffung eines „Rätemythos“10, und für den Zeithistoriker Horst Möller machte der geringe numerische Anteil linksradikaler Kräfte innerhalb der Räte diese keineswegs irrelevant und von vornherein ungefährlich für den jungen demokratischen Verfassungsstaat. „Der Hinweis auf den Minoritätscharakter dieser Gruppen“, so unterstrich er, „ist kein Argument gegen die Reaktion der mehrheitssozialdemokratischen Führung, zumal Diktaturen gewöhnlich von radikalen Minderheiten errichtet werden.“11 Er betonte auch, dass es sich bei der neuen Orthodoxie im Grunde um eine alte Lehre handelte,   8 9

Vgl. Allmendinger (2009): Rätebewegung. Haffner (1969): Verratene Revolution; spätere Auflagen erschienen unter dem abwägende Neutralität suggerierenden Titel „Die Deutsche Revolution 1918 / 1919“. 10 Fraenkel (1973): Rätemythos und soziale Selbstbestimmung. Die gegenwartsbezogene Problemwahrnehmung im Angesicht der Studentenbewegung motivierte Fraenkel zu seiner deutlichen Kritik. Auch ist diese biografisch zu interpretieren und entsprang einer Furcht vor Massenbewegungen, die sich als Ausdruck eines – vermeintlich – einheitlichen Volkswillens verstanden. Vgl. Llanque (2009): Fraenkel und die Rätedemokratie; Wildt (2013): Angst. 11 Möller (1985): Parlamentarismus in Preußen, S. 25 f.; siehe dort überhaupt zur Kritik an den neuen Tendenzen der Revolutionsforschung S. 23–31.

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die in Grundzügen bereits der linkssozialistische Historiker Arthur Rosenberg entworfen hatte. Rosenberg habe schon in seiner zuerst 1935 im Exil publizierten „Geschichte der Weimarer Republik“ die Möglichkeit eines Dritten Weges zwischen reformistischen und revolutionären Positionen formuliert.12 Die Kritik richtete sich gegen jene Interpretationen, die das demokratische Potenzial der Räte in ein allzu positives Licht rückten: „Rätedemokratie und parlamentarisch-demokratisches System“, hieß es sodann aus einer vorrangig politikwissenschaftlich-systematischen Haltung, „ließen sich wegen der unterschiedlichen Strukturprinzipien nicht miteinander vereinbaren“.13 Ein „reines Rätesystem“, das unterstrich auch der Historiker Heinrich August Winkler, wäre in einer komplex gegliederten modernen Massengesellschaft „nichts anderes gewesen als die ‚Diktatur des Proletariats‘ – in der Praxis also die Diktatur einer revolutionären Avantgarde über das Proletariat und den Rest der Gesellschaft“.14 Zudem sei bei der Bewertung der SPD-Führung während der Revolution ein „Anti-Chaos-Reflex“ in Rechnung zu stellen, den der Politikwissenschaftler Richard Löwenthal für alle hochentwickelten Industriegesellschaften, die einen beträchtlichen Grad an administrativer Kontinuität erforderten, reklamierte. Nicht nur die Führer, sondern auch die Anhänger der Sozialdemokratie hätten vor einem radikaleren Vorgehen gegen die alte staatliche Ordnung zurückgeschreckt, weil sie ansonsten chaotische, bürgerkriegsartige Zustände fürchteten.15 Man kann demnach in der Begrenzung der Revolution auch ein Krisenmanagement mit Augenmaß erkennen. Es gilt darüber hinaus einen weiteren Gesichtspunkt in Betracht zu ziehen: Obgleich der Bolschewismus nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland kaum Chancen besaß, an die Macht zu gelangen, so sind doch die Ängste im bürgerlichen und sozialdemokratischen Lager vor einer solchen Entwicklung ernst zu nehmen. Nicht nur eine richtige, sondern auch eine falsche Wahrnehmung, dafür hat uns eine „Kulturgeschichte der Politik“ sensibilisiert, kann handlungsleitend wirken und sollte nicht bloß aufgrund der Erkenntnisse nachlebender Historiker über das verschätzte Gefährdungspotenzial mit erhobenem Zeigefinger als illegitim abgetan werden.16 Anders als in Russland stand in Deutschland, wie wir heute wissen, das schon erreichte Maß an Modernisierung – in wirtschaftlicher, gesellschaftlicher, aber auch in politischer Hinsicht (bei allen Defiziten) – einer noch tiefgreifenderen Umwälzung entgegen. Heinrich August Winkler knüpfte bei seiner Suche nach den tieferen   12 Vgl. Rosenberg (1991): Geschichte der Weimarer Republik; zur biografischen Einordnung siehe Keßler (2003): Rosenberg, insbes. auch S. 191 f. 13 Jesse / Köhler (1978): Forschungsüberblick, S. 21; auch als Reaktion auf deren Ausführungen siehe Rürup (1983): Demokratische Revolution. 14 Winkler (2002): Umstrittener Wendepunkt, S. 37. 15 Vgl. Löwenthal (1979): Sozialdemokratie; Löwenthal (1981): Ausbleiben. 16 Vgl. programmatisch Mergel (2002): Überlegungen; wichtige Einzelstudien aus solcher Perspektive zu Weimar versammeln: Hardtwig (Hrsg.) (2005): Zwischenkriegszeit; Hardtwig (Hrsg.) (2007): Ordnungen; Föllmer / Graf (Hrsg.) (2005): Kritik eines Deutungsmusters; Canning et al. (Hrsg.) (2010): Weimar Publics / Weimar Subjects.

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Ursachen für das Ausbleiben einer weiteren Revolutionierung an diese Argumentation an. Schon Eduard Bernstein (auf den sich auch Richard Löwenthal bezog) hatte in seiner zeitgenössischen Revolutionsinterpretation ein ähnliches Argument vorgebracht: „Das Stück Demokratie, das in Reich, Staaten und Gemeinden zur Verwirklichung gelangt war“, heißt es in Bernsteins Darstellung der Revolution aus dem Jahr 1921, „hatte sich unter dem Einfluss der in die Gesetzgebungs- und Verwaltungskörper eingedrungenen Arbeitervertreter als ein wirkungsvoller Hebel zur Förderung von Gesetzen und Maßnahmen erwiesen, die auf der Linie des Sozialismus liegen, so dass selbst das kaiserliche Deutschland auf diesen Gebieten mit politisch vorgeschritteneren Ländern sich messen konnte.“17

Anders ausgedrückt: Die neu geschaffene demokratische Republik war nicht mehr das Resultat eines Traditionsbruchs, sondern entsprang einer nicht unbeträchtlichen Kontinuität. Die parlamentarische Demokratie befand sich dieser Lesart zufolge damals „in der Logik der politischen Entwicklung Deutschlands“.18 Auch in diesem, aus den historischen Voraussetzungen zu erklärenden Ausbleiben eines radikaleren Wandels ist für Winkler ein Grund dafür zu erkennen, „dass die deutsche Revolution nicht zu den großen Revolutionen der Weltgeschichte“19 zu zählen sei. Die Attribute für diese Revolution sind überhaupt vielfältig. Weitgehende Einigkeit besteht darüber, sie nicht länger als „Novemberrevolution“ zeitlich eng zu fassen und sie stattdessen als „deutsche Revolution 1918/19“, gelegentlich auch bis zum Ende des Kapp-Putsches und der Ruhraufstände 192020 oder sogar – wie neuerdings – als weit ausgedehnte „Revolution im Kontext“ von 1916 bis 1923 zu bezeichnen.21 Die wenigsten halten sie für einen bloßen Zusammenbruch und sprechen ihr den Charakter der Revolution ab, wie dies beispielsweise Karl Heinrich Pohl vorschlug. In seinen Augen sind damals zu viele „revolutionäre“ Chancen vergeben und die verkrusteten Strukturen des Kaiserreiches nicht beseitigt worden.22 Andere Historiker gehen nicht so weit, selbst wenn sie die Revolution für gescheitert, erfolglos oder zumindest „steckengeblieben“23 halten. Die letztgenannte Zuschreibung deutet auf eine vermittelnde Position hin, welche die Leistungen der Revolution und das Erreichte ebenso würdigt wie ihre Mängel und Versäumnisse.24 Dabei werden letztere vor allem in der unzureichenden Umschichtung gesellschaftlicher (Macht-)Verhältnisse erkannt, während der Erfolg im grundsätzlich vollzogenen politischen Systemwechsel – von der konstitutionellen Monarchie zur parlamentarischen Demokratie – auszumachen ist.

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Bernstein: Deutsche Revolution, S. 237 f. Winkler (2002): Ein umstrittener Wendepunkt, S. 38. Ebd., S. 37. Etwa Mommsen (1978): Deutsche Revolution. So Weinhauer et al. (Hrsg.) (2015): Revolution. Vgl. Pohl (1991): Obrigkeitsstaat und Demokratie. So Kolb (2003): Die steckengebliebene Revolution. Eine solche abwägende Haltung nimmt etwa ein: Winkler (1997): Ort der Revolution.

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Inzwischen sind die Wogen der – hier letztlich nur schemenhaft dargestellten – Streitgeschichte abgeebbt, ohne dass allerdings ein wirklicher Konsens erzielt wurde; der ist auch deswegen so schwer herbeizuführen, weil: –



erstens die Erörterung von verpassten Möglichkeiten, Handlungsspielräumen und Entscheidungsalternativen stets das Nachdenken über ungeschehene, „kontrafaktische“ Geschichte erfordert und je unterschiedliche Kontinuitätsannahmen oder -konstruktionen hervorbringt; zweitens die Debatte zunehmend weniger über historische Ereignisse und Fakten oder neue Quellenbeweise als über normative Grundannahmen geführt wurde, ohne dass die einzelnen Streitparteien sich immer bereitfanden, diese einzugestehen und offenzulegen.

So attraktiv sich die Revolution geschichtswissenschaftlich, aber auch geschichtskulturell und geschichtspolitisch – nicht zuletzt von den 1960er bis in die 1980er Jahre hinein – präsentierte, so merkwürdig erschien manchem Beobachter der „Abbruch der einst breit geführten Debatte“, samt der Hinterlassenschaft eines „vor Klärung aller Fragen eingefrorenen Forschungsstand“,25 der bis dahin freilich – das ist ebenfalls zu konstatieren – ein beachtliches Maß erreicht hatte. 3. GRÜNDE FÜR ABBRUCH UND RENAISSANCE DES INTERESSES AN DER REVOLUTION Es ist nach weiteren Gründen für diesen schleichend herbeigeführten Abbruch zu fragen ebenso wie nach jenen Gründen, die in jüngster Zeit die zaghafte Renaissance der Revolutionsforschung erklären helfen. Es lassen sich nicht zuletzt drei Erklärungen für das Abflauen benennen: Erstens dürfte die Entwicklung der Bundesrepublik selbst von zentraler Bedeutung sein. Während der ausgedehnten Nachkriegszeit war die Unsicherheit darüber ausgeprägt, als wie stabil sich die neu installierte Staats- und Gesellschaftsordnung erweisen würde. Wie zur Selbstbeschwörung und Selbstberuhigung verselbständigte sich rasch Fritz René Allemanns Buchtitel „Bonn ist nicht Weimar“26 zu einer Art Leitformel. Je mehr sich die Bundesrepublik von ihrem Provisoriumscharakter verabschiedete, desto befreiter wirkte sie allerdings vom „Weimar-Komplex“, der an identitätsbildender Kraft verlor.27 Karl Dietrich Erdmanns 1979 geäußerte Auffassung, die rechte Sicht auf die Revolution von 1918/19 sei „von höchster Bedeutung nicht nur um die geschichtliche Vergangenheit zu verstehen, sondern auch, um im gegenwärtigen Deutschland den richtigen Weg zu finden“, wirkte zu diesem Zeitpunkt kaum noch überzeugend und besaß einen anachronistischen Anstrich (so   25 Gessner (2002): Weimarer Republik, S. 24. 26 Allemann (1956): Bonn ist nicht Weimar. 27 Ullrich (2009): Der Weimar-Komplex.

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sehr der Nato-Doppelbeschluss den Beginn einer Phase des wieder verschärften „Zweiten Kalten Krieges“ signalisieren mochte).28 Zweitens ließ sich in der DDR während der Honecker-Ära ebenfalls ein erinnerungspolitischer Bedeutungsverlust der Novemberrevolution feststellen. Insgesamt aber fanden die Umbrüche von 1918/19 in der DDR regelmäßig mehr und unmittelbarere Beachtung als in der Bundesrepublik.29 Die Novemberrevolution bezog in der DDR-Sicht vor allem deswegen einen ungleich höheren Rang als im Westen Deutschlands, weil sich der sozialistische deutsche Staat als Fortsetzer und Vollender der Novemberrevolution interpretierte. Dies diente zugleich zur Legitimation einer schlagkräftigen kommunistischen Kaderpartei wie der SED, die 1918/19 gefehlt habe. Sonst hätte sie schon damals nicht nur der „bürgerlichen“, sondern auch und vorrangig der „proletarischen“ Revolution zum Erfolg verholfen. Das Ende des Kalten Krieges und der auch historiografischen Systemkonkurrenz verfestigte noch das gewachsene Desinteresse an der Revolution.30 Drittens hätte man aber 1989/90 selbst einen Aufmerksamkeits-Umschwung angesichts der friedlichen Revolution erwarten können. Doch paradoxerweise steigerte diese neue „Novemberrevolution“ nicht das Interesse an der alten Novemberrevolution. Ganz im Gegenteil: Da sie sich im Resultat eher als angleichende oder – in Jürgen Habermas’ Worten – als „nachholende Revolution“ an etwas schon Bestehendes präsentierte, es (so weiter Habermas) ihr „eigentümlicher Zug“ der „fast vollständige Mangel an innovativen, zukunftsweisenden Ideen“ war,31 beschrieb diese Revolution eher einen End- als einem Anfangszustand. Überhaupt waren in der Periode nach den Umbrüchen von 1989/90 und mit dem viel beschworenen „Ende der Geschichte“ Revolutionen nicht mehr en vogue. Für die Wiederbelebung des Interesses an der Revolution von 1918/19 lassen sich ebenso drei Gründe ins Feld führen: Erstens profitiert die Revolutionsforschung von der Welle an Arbeiten zur Geschichte des Ersten Weltkriegs. Es deutet sich an, dass neben dem Zentenarium von dessen Beginn 2014 ebenfalls jenes von seinem Ende 2018 eine größere Zahl von Darstellungen sowie einige öffentliche Aufmerksamkeit befördern wird. Von Jubiläumsdynamik bleibt die seriös-akademische Geschichtsschreibung keineswegs verschont. Da auch sie ihr Publikum benötigt, sollte dies jedoch kein Grund zur Beunruhigung sein. Zweitens erhalten revolutionäre Auf- und Umbrüche wieder mehr Resonanz aufgrund aktueller zeitdiagnostischer Impulse und eines Gefühls neuer Verunsicherung. Die sogenannten Farben- und Blumen-Revolutionen von der „Orangenen“ in der Ukraine bis zur kirgisischen „Tulpen“-Revolution und der „Arabische Früh  28 Erdmann (1979): Rätestaat oder parlamentarische Demokratie, S. 3. 29 Siehe dazu im Einzelnen: John (2002): Novemberrevolution. 30 Dieses Argument macht stark – im Rückblick auf den 75. Jahrestage der Revolution: Rürup (2015): Revolution, unter: http://www.fes.de/fulltext/historiker/00186001.htm#E9E2 (alle Webquellen dieses Beitrags vom 9. November 2015); vgl. auch Segelke (2010): Memoralization. 31 Habermas (1990): Die nachholende Revolution, S. 181.

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ling“, aber auch die Suche nach grundsätzlichen Alternativen politisch-gesellschaftlicher Ordnung im Rahmen von Globalisierungs- und Kapitalismuskritik wie institutionelle Legitimations- und Repräsentationskrisen haben eine Renaissance des Revolutionsbegriffs befördert.32 Da scheint es angebracht, auch die sich uns chaotisch-verquirlt darbietenden, in jedem Fall aber dynamisch-prägenden Zeiten im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts von Neuem in Augenschein zu nehmen. Drittens schließlich sind Verschiebungen, neuentdeckte Felder und Fragehorizonte in der Historiografie selbst zu nennen. Während die „ältere“ Politikgeschichte ebenso wie die Arbeiterbewegungsgeschichte, die lange Zeit die Revolutionsdiagnostik ihr Eigen nannten, ein wenig aus der Mode gekommen sind, hat die politische Kulturgeschichte, ergänzt um transnationale Perspektiverweiterungen, erst in jüngerer Zeit damit begonnen, die revolutionäre Umbruchszeit um 1918/19 genauer in den Blick zu nehmen. Eine solche Historiografie arbeitet weniger mit strikten Typologien und dichotomischen Mustern, zumal dann nicht, wenn diese sich nicht aus der zeitgenössischen Diktion und Diskussion selbst ergeben. Dies bedeutet also zum Beispiel einen Abschied von Erfolg-Scheitern-Geschichten und festgefügten Demokratie-Diktatur-Paradigmen, die sich erst im Verlauf der Zwischenkriegszeit herausbildeten.33 Stattdessen gelangt ein hohes Maß an Bewegung und Offenheit in geschichtliche Situationen zurück, weil vielfältige zeitgenössische Kommunikations- und Aushandlungsprozesse, Wahrnehmungsweisen und Bewusstseinswelten vermehrtes Interesse finden. 4. WEIMAR ALS GESCHICHTE UND DER ZEITGENÖSSISCHE DISKURS Eine solche Betrachtungsweise – und damit bin ich bei Perspektiven einer künftigen Revolutionsbetrachtung angelangt – ermöglicht es zugleich, sich von normativ kräftig eingefärbten oder sogar quasi-teleologisch ausgerichteten Interpretationen zu Weimar endgültig zu verabschieden und einen offeneren Blick auf Weimarer Republik und Zwischenkriegszeit zu werfen: als Periode fluider Übergänge, paradoxer Wahrnehmungen, offener Entscheidungen und Aushandlungen, als nicht von vornherein zum Scheitern verurteilte, in die Zukunft weisende Erprobung moderner Demokratien, als breit aufgefächertes Ideenkonglomerat wie Handlungskonzept gleichermaßen.34 Gerade Deutschland geriet in der Revolutionszeit zu einem Experimentierfeld für politisch-gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen. Schon Tomáš Masaryk, erster Präsident des neu geschaffenen tschechoslowakischen Staates, bezeichnete das gesamte Europa nach 1918 als ein „auf dem großen Friedhof des Weltkriegs errichtetes Laboratorium“.35 Statt diese Periode am Ausgang des Ersten Weltkriegs als Abfolge quasi-punktueller revolutionärer oder konterrevolutionärer   32 Siehe etwa Menke (2015): Möglichkeit, unter: http://das-blaettchen.de/2015/08/die-moeglichkeit-der-revolution-33778.html. 33 Vgl. etwa Müller / Tooze (Hrsg.): Normalität und Fragilität; Müller (2013): Das demokratische Zeitalter; Llanque (2008): Diktatur. 34 Müller (2014): Lebensversuche. 35 Zitiert nach Müller (2013): Das demokratische Zeitalter, S. 86.

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Eruptionen zu fixieren, erscheint es sinnvoll, darin vielmehr eine Phase von in Bewegung geratenen und teilweise auf den Kopf gestellten Wert- und Ordnungsvorstellungen zu erkennen.36 Es handelte sich um eine umfassende Orientierungskrise, die zu einer Vielzahl von Gegenwartsdiagnosen und zeitgenössischen Kommentaren herausforderte. Es bietet sich an, stärker als bislang nicht nur nach Resultaten, Entscheidungen oder verpassten Chancen (häufig einer Schwarz-Weiß-Logik gemäß) zu suchen, sondern die Dynamik der Revolutionszeit als Erfahrungsgeschichte zu erfassen, die den widerstreitenden Wahrnehmungen und Interpretationen der Zeitgenossen zu ihrem Recht verhilft. Biografien jüngeren Datums zu zentralen Akteuren (wie Friedrich Ebert, Erich Ludendorff, Paul v. Hindenburg, Richard Müller, Prinz Max v. Baden)37, Tagebuch-Aufzeichnungen (etwa Harry Graf Kesslers, Hermann Molkenbuhrs, Oberst Ernst van den Berghs, Gerhart Hauptmanns, Thomas Manns oder Victor Klemperers)38, zeitnah verfasste Berichte und Erinnerungen (wie von Ben Hecht, Albert Grzesinski oder Philipp Loewenfeld)39, publizistische Zeugnisse (vom „Berliner Tageblatt“ über „Frankfurter Zeitung“ und „Weltbühne“ bis zur „Kreuzzeitung“)40 oder wissenschaftlich-intellektuell inspirierte Zeitkritik (etwa bei Max Weber und nicht zuletzt bei Ernst Troeltsch)41 bieten die Chance, diese Wendezeit zwischen Euphorie und Enttäuschung – oder nüchtern ausgedrückt: verschiedener Entwicklungserwartungen, Entwicklungsempfehlungen und schließlich Entwicklungswege – wieder lebendig werden zu lassen. Nicht nur politische Entscheidungen, sondern auch Hoffnungen, Wünsche und Ängste verschiedener Personen, Gruppierungen und Milieus – mit Reinhart Kosellecks Worten: die „Erwartungshorizonte“, „Erfahrungsräume“ und Vorstellungswelten der historischen Akteure – besaßen nachhaltige Prägekraft. Es war damals ein Anfang gemacht auf dem Weg zur modernen liberalen und sozialen Demokratie, deren Erprobung erst begann – mit offenem Ausgang. Es war – um Koselleck gleich nochmals zu zitieren – die „vergangene Zukunft“ der damaligen Zeitgenossen, nicht mehr, aber auch nicht weniger.42   36 Vgl. als frühe Studie aus solcher Perspektive: Geyer (1998): Verkehrte Welt. 37 Vgl. Mühlhausen (2006): Friedrich Ebert; Nebelin (2010): Ludendorff; Pyta (2007): Hindenburg; Hoffrogge (2008): Richard Müller; Machtan (2013): Max von Baden. 38 Vgl. Graf Kessler (2013): Tagebücher; Braun / Eichler (Hrsg.) (2010): Hermann Molkenbuhr; Wette (Hrsg.) (1991): Ernst van den Bergh; Hauptmann (1997): Tagebücher; Mann (2003): Tagebücher; Klemperer (2015): Revolutionstagebuch. 39 Vgl. Hecht (2006): Revolution im Wasserglas; Grzesniski (2001): Erinnerungen eines Sozialdemokraten; Landau / Rieß (Hrsg.) (2004): Recht und Politik. 40 Eine Mediengeschichte der Revolution von 1918 / 19 gehört freilich zu den großen Desideraten der Forschung. Zur sozialdemokratischen Parteipresse aufschlussreich: Lehnert (1983): Sozialdemokratie und Novemberrevolution; richtungsweisend: Altenhöner (2008): Kommunikation und Kontrolle, S. 291–301; allgemein zu Weimars Pressegeschichte: Fulda (2009): Press and Politics. 41 Siehe zuletzt: Troeltsch (2015): Briefe; vgl. auch Mommsen (1998): Max Weber. 42 Siehe insbesondere den Aufsatz von Koselleck (1992): Kategorien; konkret-empirisch auf Weimar angewendet siehe: Graf (2008): Krisen und Zukunftsaneignungen; Mergel (2010): Structures; zur Analyse der Revolution im Zeichen des „spatial turn“ und zu Prozessen kulturell-

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Jene Zeitspanne, als in Deutschland Revolution war, präsentiert sich dann als eine Phase aufregender, ungewisser Entwicklung. Es lohnt sich in diesem Prozessionszug der Geschichte gleichsam mitzulaufen, ohne das Ende zu kennen oder gar die ebenso alte wie ermüdende Frage nach verpassten Chancen, Handlungszwängen und -möglichkeiten fortzuschreiben – um dann doch nur auf der kontrafaktischen Stelle zu treten. Die bereits von zeitgenössischen Akteuren und Beobachtern vorgebrachte Mahnung, die „Revolutionsstimmung“ und jene „Psyche, die die Revolution geschaffen hat“43, stärker in Betracht zu ziehen, ist ein auch für heutige Historiker der Umbruchsphase 1918/19 ein bedenkenswerter Fingerzeig. Vieles von den damals auf- und durcheinandergewirbelten Ideen mag uns dabei fremd erscheinen. Gerade diese Differenzerfahrung und die Wiederbeschäftigung mit verschütt gegangenen oder seitdem wenigstens stark transformierten Alternativen und Denkmöglichkeiten – die unter gewandelten Kontextbedingungen manches Mal aber sogar Modellcharakter entfalten konnten44 – mögen uns helfen, uns von Selbstbeschränkungen und Fixierungen unseres gegenwärtigen Horizonts zu befreien.45 Insoweit ist eine strikt historisierende, auf die Rekonstruktion zeitgenössischer Diskurse ausgerichtete Geschichtsbetrachtung keine „antiquarische“, sondern eine von gegenwärtiger Relevanz, ohne in die präsentistische Instrumentalisierungsfalle zu tappen. Die Revolution im Speziellen und Weimar im Allgemeinen nicht nur quasipathologisch zu untersuchen, sondern als offene historische Situation voller Lebendigkeit und Risiken gleichermaßen, könnte uns helfen in einer Zeit, da uns wenigstens gelegentlich das Gefühl beschleicht, dass wir uns mitten in einer Normalitätskrise befinden. LITERATUR Allemann, Fritz René: Bonn ist nicht Weimar. Köln / Berlin 1956. Allmendinger, Björn: „Brecht dem Schütz die Gräten, alle Macht den Räten.“ Die Rätebewegung – historische Inspiration und theoretische Bürde der 68er-Bewegung. Marburg 2009. Altenhöner, Florian: Kommunikation und Kontrolle. Gerüchte und städtische Öffentlichkeiten in Berlin und London 1914/1918. München 2008.

  symbolischer „Verräumlichung“ nach 1918 siehe neuerdings: Aulke (2015): Räume der Revolution. 43 So während der Diskussionen des Hamburger Arbeiter- und Soldatenrates geäußert: Stalmann (Hrsg.) (2013): Der Hamburger Arbeiter- und Soldatenrat, S. 258. 44 Doering-Manteuffel (2012): Weimar als Modell, verdeutlicht dies nicht zuletzt anhand arbeitsrechtlich grundierter Vorstellungen einer sozialen Demokratie der sog. Sinzheimer-Schule. Er zeigt die Erfahrungsverarbeitung von Ideen, die schon in Weimar entwickelt worden waren, aber erst transatlantisch modelliert in einer konsensbereiten Bundesrepublik dauerhaft die soziale Wirklichkeit beeinflussen sollten. 45 Vgl. diese grundsätzliche Argumentation zur geradezu kritisch-emanzipatorischen Relevanzbegründung der „Cambridge School“ des politischen Denkens bei: Honneth (2014): Geschichtsschreibung als Befreiung, insbes. S. 280.

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DIE GRÜNDUNG DER WEIMARER REPUBLIK UND VERGLEICHENDE KONSTITUTIONALISIERUNGSFORSCHUNG Andreas Braune In der Beurteilung der Ereignisse zwischen Novemberrevolution 1918 und dem Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung am 11. August 1919 herrschte und herrscht in Deutschland und darüber hinaus eine eher defensive, skeptische Grundstimmung. Die ‚vergessene Revolution‘ – so Alexander Gallus in einem erneuerten Interpretationsangebot in diesem Band – hat es bis heute nicht geschafft, sich als emblematischen Bestandteil der deutschen Demokratiegeschichte zu etablieren. Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive drängte sich diese Sichtweise nach 1945 auf, weil man schlecht etwas seiner Errungenschaften rühmen konnte, das allem Anschein nach den Weg zu ‚1933‘ wenn schon nicht ebnete, so wenigstens nicht versperrte. Ohne das ‚Scheitern‘ leugnen zu wollen, so hat ‚1918/19‘ in einer spezifischen politiktheoretischen Perspektive jedoch einen Eigenwert als etwas, das Ralf Gröschner in einem etwas anderen Zusammenhang und mit Blick auf ‚1989/90‘ einmal als „Freiheitsrevolution“1 bezeichnete. Das Misslingen dieser ‚Freiheitsrevolution‘ bleibt in meinem Beitrag ein erkenntnisleitendes Motiv, doch vermutet die ihm zugrunde gelegte Arbeitshypothese die Ursachen nicht so sehr in den materiellen Bestimmungen der beschlossenen Verfassung und ihrer vorgeblichen Konstruktionsfehler, sondern in der Revolutions- und Umgründugsdynamik des politischen Gemeinwesens selbst. Nicht die Frage, was eine Revolution hervorbringt, sondern wie sie und die Verfassungsgebung vonstattengehen, so die Vermutung, entscheidet über ihren Erfolg und Misserfolg entscheidend mit. Denn die Legitimitäts- und Geltungsgründe, die zu erheischen sie nicht umhinkommt, realisiert sie nicht allein durch die qualitative Güte ihres Endprodukts, sondern auch durch die Art und Weise, wie das Alte überwunden und das Neue gegründet und beschlossen wird. Dabei wird zugleich vorgeschlagen, die selbstreferentielle deutsche Selbstbespiegelung zugunsten einer vergleichenden Betrachtung zu überwinden, die das ‚Konstitutionalisierungslaboratorium‘2 der europäischen Zwischenkriegszeit in den Blick nimmt.

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Gröschner (2010): Freiheitsrevolution, S. 268–271. Siehe hierzu auch den Beitrag von Christoph Gusy in diesem Band.

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1. DIE POLITISCHE THEORIE DER FREIHEITSREVOLUTION UND STAATSUMGRÜNDUNG Ralf Gröschner liest in seinem eben zitierten Beitrag ‚1989/90‘ ausdrücklich in den Termini der Revolutionstheorie Hannah Arendts3 und verweist in diesem Zusammenhang auf die notwendige „Differenzierung zwischen zwei Stadien republikanischer Revolutionen: erstens Befreiung von einem alten, despotischen Regime und zweitens Gründung einer neuen, freiheitlichen Ordnung“.4 1989/90 seien diese zwei Revolutionsphasen klar zu identifizieren gewesen, und sie sind es auch 1918/19: Die Aktivitäten der verschiedenen Bürgerrechtsgruppierungen und die Massendemonstrationen führten 1989 zum Kollaps des alten, ‚despotischen‘ Regimes der SED, wobei schon während dieser Bestrebungen der abstrakte Wunsch nach ‚Freiheit‘ handlungsleitend war.5 Gleiches geschah innerhalb kürzester Zeit im November 1918, wobei die ‚Macht‘ des alten Regimes, Gefolgschaft zu generieren und die Bevölkerung auf seine Geltungsgründe zu verpflichten, innerhalb kürzester Zeit erodierte. Machttheoretisch lassen sich diese Prozesse, nebenbei bemerkt, hervorragend im Rahmen der Machttheorie Hannah Arendts erklären, für die Macht nicht so sehr in der Durchsetzungsfähigkeit des eigenen Willens gegen Widerstreben besteht (Max Weber), sondern in der Fähigkeit, „sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu Handeln“.6 Das Ancien Régime verlor in beiden Fällen, 1989 wie 1919, die Fähigkeit, im (vorher nur erzwungenen oder herbeipropagandierten) Konsens mit den Herrschaftsunterworfenen zu handeln, die ihrerseits eine Gegenmacht des Gemeinsam-Handelns so effektiv organisieren konnten, dass die Durchsetzungsmacht zur Herrschaftsunterwerfung von Seiten des Ancien Régime nicht mehr effektiv wirken konnte.7 In beiden Fällen war ein mehr oder weniger friedlicher Kollaps der alten Ordnung die Folge, der nicht so sehr auf dem Gewaltverzicht der Revolutionäre beruhte, sondern auf der Unfähigkeit der alten Ordnung, auch innerhalb des eigenen Herrschaftsapparates Gefolgschaft generieren zu können. Die so verstandene Beseitigung der alten Ordnung, die auf ihrer legitimationsund machtpolitischen Implosion basiert – was im Übrigen bei manchen Beteiligten den Eindruck erweckte, die Revolution sei ihnen durch glückliche Umstände in den Schoß gefallen – hat eine konstitutionelle tabula rasa zur Folge. Das politische Gemeinwesen ist nun Träger einer pouvoir constituant und als solcher Träger einer   3 4 5

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Vgl. Arendt (1994): Über die Revolution; Dies. (1994): Revolution und Freiheit. Gröschner (2010): Freiheitsrevolution, S. 265. Dieser Wunsch blieb ‚abstrakt‘, weil er unterschiedliche Formen annehmen konnte, sei es die eines reformierten ‚Sozialismus mit menschlichem Antlitz‘, in dem sich der Freiheitswunsch auf Unabhängigkeit von sowjetischer Gängelung und parteistaatlicher Kontrolle bezog, oder aber diejenige einer Teilhabe an den Freiheitsinstitutionen und Konsumchancen des ‚Westens‘. Gemeinsam war diesen Formen aber der Wunsch nach Befreiung vom Obrigkeitsstaat und seinen Herrschaftsinstrumenten. Arendt (2013): Macht und Gewalt, S. 45. Zur Unterscheidung von Handlungs- und Durchsetzungsmacht siehe meine Ausführungen und die Literaturhinweise in Braune (2016): Zwang und Heteronomie, S. 357–359.

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bestimmten Form der Souveränität, nämlich derjenigen, über die Konstitution des politischen Gemeinwesens von ganz und gar Neuem entscheiden zu können (auch dieses Neubeginnen ist in Arendts politischer Theorie angelegt). „Verfassunggebende Gewalt ist der politische Wille, dessen Macht und Autorität imstande ist, die konkrete Gesamtentscheidung über Art und Form der eigenen politischen Existenz zu treffen, also die Existenz der politischen Einheit im ganzen zu bestimmen.“8 Der Begriff der ‚Konstitution‘ erhält hier seinen doppelten Sinn: Denn einerseits handelt es sich um einen Akt der Gründung, und andererseits um einen solchen, der die zukünftige Verfasstheit des politischen Gemeinwesens festlegt. Ist dieser Prozess wie schon die Phase der Befreiung von der Leitidee der Freiheit geprägt, handelt es sich im Arendtschen Sinne um eine constitutio libertatis, um jenen Akt also, der der abstrakten Idee der Freiheit eine institutionelle Ordnung gibt, um die „Gründung der Freiheit“.9 Auch diese Phase treffen wir 1990 wie 1919 an, nämlich einmal in Form der freien Volkskammerwahlen im März 1990, und zuvor in Form der Wahlen zur verfassunggebenden Nationalversammlung im Januar 1919. In ihnen tut sich nicht der alltägliche politische Wille, sondern der konstituierende Wille des Volkes kund. 1990 wurde nur kurze Zeit darüber debattiert, ob es nicht einen neuen, gesamtdeutschen konstituierenden Auftrag gäbe, woraufhin sich der konstituierende Wille des Staatsvolkes der DDR in Form der frei gewählten Volkskammer aber rasch zum Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes entschied. Es war in dieser historischen Situation schlichtweg ‚einfacher‘ und auch hinreichend, sich einer existierenden republikanischen Ordnung anzuschließen anstatt eine völlig neue zu gründen. Diese Möglichkeit bestand für die verfassunggebende Nationalversammlung 1919 nicht. Sie musste die republikanische Ordnung aus eigener Kraft gründen: nicht ex nihilo, wie die Formulierung einer tabula rasa suggeriert, aber doch von Grund auf und ohne jedes erfolgreiche Beispiel vor Augen. Und dabei, so der Carl Schmitt der Verfassungslehre, stellte die Weimarer Reichsverfassung mehr dar als „die Summe zusammenhangloser […] Einzelbestimmungen“. Die republikanische und demokratische Verfassung war – in typisch Schmittscher Redeweise – ein Resultat einer „existentiellen Totalentscheidung des deutschen Volkes“.10 Sie brachte das Novum mit sich, dass erstmals die ‚Staatsgewalt vom Volke ausgeht‘ und das ‚Deutsche Reich eine Republik‘ war (so Art. 1 WRV), die Konstitution des bestehenden Staates also von Grund auf geändert wurde. Im Gegensatz zu 1989/90 fand daher 1918/19 in Deutschland eine grundlegende Staatsumgründung statt. Sie unterscheidet sich in mehrerlei Hinsicht von Staatsneugründungen, die im Konstitutionalisierungslaboratorium der Zwischenkriegszeit bei der Gründung der Folgestaaten der zerfallenen Kontinentalimperien auch anzutreffen waren. In diesen Fällen wie etwa der Tschechoslowakei, Finnland, Ungarn, den baltischen Staaten und dem wiedererstandenen Polen ging es nicht nur um eine Modifikation der Verfasstheit des politischen Gemeinwesens, sondern um   8 Schmitt (1928): Verfassungslehre, S. 75 f. 9 Arendt (1994): Freiheit und Revolution, S. 244 und passim. 10 Schmitt (1928): Verfassungslehre, S. 24.

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die Kreation dieses Gemeinwesens selbst. Neben die Verfassungsgebung traten daher Prozesse der Staats- und Nationenbildung,11 in deren Verlauf die Jellineksche Trias von Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt erst hergestellt und in eine funktionsfähige Wechselwirkung gebracht werden musste. Bei allen Belastungen, die die Versailler Nachkriegsordnung für Staatsvolk und Staatsgebiet des Deutschen Reiches bedeuteten, musste sich weder der demos des politischen Gemeinwesens konstituieren, noch ein funktionsfähiger Verwaltungs- und Staatsbetrieb errichtet werden. Beides war 1918/19 vorhanden, was einerseits den Vorzug hatte, dass sich die Akteure auf die Verfassungsgebung konzentrieren konnten (nachdem die grundlegende Loyalität von Verwaltung und Militär gesichert war), was aber andererseits die Herausforderung mit sich brachte, aus der formellen Loyalität der bestehenden Verwaltung und Institutionen eine solche zu machen, die die neu gegründete Ordnung auch aktiv bejahte, sie also auf ihre neuen Geltungsgründe zu verpflichten. Wenn sich in dieser Hinsicht die Staatsumgründung von der Staatsneugründung unterscheidet, so ist sie zugleich aber auch von der Reform einer bestehenden Verfassungsordnung zu unterscheiden. Die Aufnahme von Umwelt- oder Tierschutz in die grundgesetzlich festgelegten Staatsaufgaben ist ein ehrenwertes Anliegen und eine sinnvolle Ergänzung einer Verfassungsordnung, aber sie bedeutet keine Umgründung eines bestehenden Gemeinwesens. Carl Schmitt unterschied daher in der Verfassungslehre sehr strikt zwischen der Änderung der Verfassungsgesetze einerseits, und jener eben beschriebenen ‚existentiellen Totalentscheidung‘ andererseits. In ihr wird der Grundcharakter des Gemeinwesens verändert, allen voran die normativen Geltungsgründe der Staatsordnung. In einem formaljuristischen Sinne mag das Folgegebilde die Rechtsnachfolge des Vorgängergebildes antreten12 und es mag sich auf die gleichen personellen und administrativen Strukturen stützen, aber seine in Anspruch genommene Legitimationsgrundlage ist eine gänzlich neue, ebenso wie die daraus abgeleiteten prozeduralen Vorgaben politischen Entscheidens. Bei der Transition von einem Obrigkeitsstaat mit simuliertem Parlamentarismus, zuletzt sogar einer faktischen Militärdiktatur, hin zu einer parlamentarischen Demokratie, die nicht nur auf Reichseben, sondern auch in allen Ländern mit dem monarchischen zugunsten des republikanischen Prinzips brach, war exakt dies der Fall.

  11 Vgl. Thompson (2002): Crafting Democracies sowie die entsprechenden Fallstudien in BergSchlosser (2000): Conditions of Democracy sowie in Gusy (2008): Demokratie in der Krise. 12 … ohne dabei aber an das Prinzip der Legalität gebunden zu sein! „Eine solche Vorstellung wäre geradezu widersinnig. Eine Verfassung kommt überhaupt nicht nach über ihr stehenden Regeln zustande. Außerdem ist es undenkbar, daß eine neue Verfassung, d. h. eine neue fundamentale politische Entscheidung sich einer früheren Verfassung unterordnet und von ihr abhängig macht. […] Die Legitimität der Weimarer Verfassung beruht auf der verfassunggebenden Gewalt des deutschen Volkes. Daß diese Verfassung unter Beseitigung der früheren Verfassung von 1871 zustande gekommen ist, könnte höchstens dazu führen, sie vom Standpunkt der dynastischen Legitimität, d. h. von der verfassunggebenden Gewalt des Monarchen für illegitim zu halten, aber nicht mehr.“ Schmitt (1928): Verfassungslehre, S. 88.

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2. ANSÄTZE VERGLEICHENDER KONSTITUTIONALISIERUNGSFORSCHUNG Dass ein solcher Versuch der Staatsumgründung gelingt, ist keine Selbstverständlichkeit, wahrscheinlich ist es im historischen Vergleich sogar eher eine Ausnahme als ein Regelfall. Das erste bekannte Beispiel der Amerikanischen Revolution war ein Sonderfall, weil es eher eine postkoloniale Staatsneugründung darstellte. Das zweite Beispiel der Französischen Revolution scheiterte spätestens nach 24 Jahren revolutionärer Umbrüche und verschiedener Umgründungsetappen aus äußeren und inneren Gründen, und es folgten bis 1958 verschiedene weitere Anläufe einer solchen Umgründung – denn immerhin zählen wir schon die Fünfte Französische Republik. Was alle Staatsneugründungen und Staatsumgründungen miteinander verbindet, ist der Umstand, dass in beiden Fällen ein Verfassungsgebungsprozess im eben beschriebenen Sinne vorzufinden ist, der in der Regel auf einen Akt der Befreiung von einem Ancien Régime – sei er friedlicher oder weniger friedlicher Art – folgt. Damit eine solche Gründung von Erfolg gekrönt ist, sind viele Voraussetzungen zu erfüllen. Eine zentrale Bedingung besteht darin, dass die neu in Anspruch genommenen Geltungsgründe der neuen Verfassungsordnung sich langfristig nicht nur bei jenen Akteuren durchsetzen, die die Umgründung vorangetrieben und umgesetzt haben, sondern auch bei jenen Akteuren, die für das Funktionieren der neuen Ordnung zentral sind. In einer parlamentarischen Demokratie sind das neben der juristischen, polizeilichen, militärischen und administrativen Verwaltung natürlich auch die Parteien, Verbände und die Presse, letztlich aber der demos insgesamt. Wenn alle Staatsum- und -neugründungen durch Prozesse der Konstitutionalisierung und Umwandlung der Legitimitätsressourcen gekennzeichnet sind, dann lässt sich möglicherweise eine sozialwissenschaftliche Theorie der Verfassungsgebung formulieren, die den Ablauf eines Gründungsprozesses beschreibt und Wegmarken zu Erfolg oder Scheitern identifiziert. Sie kann, muss aber nicht mit einer normativen politischen Theorie der Transition von einem Obrigkeitsstaat zu einem freiheitlichen Staat verbunden sein, wie es die Bezeichnung der ‚Freiheitsrevolution‘ Rolf Gröschners anzeigt. Eine solche Theorie ist dabei offen für verschiedene methodische und erkenntnistheoretische Ansätze. Sie wird in einem induktiv-deduktiven Schlussverfahren gewonnen, weil sie einerseits aus dem historischen Material vorfindbarer Gründungsprozesse ihr Material schöpft, ihre Kategorien bildet und ihrer Arbeitshypothesen ableitet, weil sie aber andererseits formuliert wird, um vergangene und gegenwärtige Gründungsprozesse einer vergleichenden Analyse zu unterziehen, die gleichermaßen synchron und diachron angelegt sein kann. Neben dem Vergleich der deutschen Freiheitsrevolutionen 1918/19 und 1989/90 (dem die extern geleitete doppelte Staatsumgründung 1945-49 oder die gescheiterte Umgründung 1848/49 hinzugefügt werden kann) bietet sich das Arbeiten anhand der Gründungsprozesse des Konstitutionalisierungslaboratoriums der europäischen Zwischenkriegszeit besonders gut an. Denn hier verdichten sich auf engem geographischen und historischen Raum zahlreiche Staatsneu- und -umgründungen, die allesamt ihre eigene Dynamik und Geschichte aufweisen, aber in einem ähnlichen

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Setting von Rahmenbedingungen abgelaufen sind. Vor allem erlaubt es eine solche zukünftige Betrachtungsweise, die deutsch-deutschen Selbstbespiegelungen zur Seite zu legen und die Fragen nach dem Scheitern, Steckenbleiben und Dahinstolpern der Revolution von 1918/19 nicht im Lichte der verhängnisvollen deutschen Geschichte zu betrachten und zu beurteilen, sondern sie mit Gründungsprozessen zu vergleichen, die 1918/19 unter ähnlichen Rahmenbedingungen, mit einem ähnlichen Zukunftshorizont und unter ähnlichen Herausforderungen von links und rechts abliefen, wie sie Deutschland in der Zwischenkriegszeit vorfand. Die Singularität der deutschen Geschichte – die im Lichte von ‚1933‘ und seiner Folgen außer Frage steht – ist nicht so singulär, dass sie den Vergleich mit anderen Staaten in ähnlichen Situationen verbietet. Im Rahmen einer solchen sozialwissenschaftlichen Theorie der Gründung und Konstitutionalisierung möchte ich einstweilen mindestens drei Ansätze unterschieden wissen, nämlich erstens einen Ansatz der Akteurs- und Institutionenrationalität, zweitens einen normativ-idealtheoretischen Ansatz, und drittens einen ideen- und intellektuellengeschichtlichen Ansatz. Alle drei Ansätze legen unterschiedliche Schwerpunkte, so dass eine umfassende Theorie der Gründung eher auf einer Kombination dieser Ansätze beruht als auf der Abgrenzung des einen von dem anderen. In diesem Beitrag werde ich jedoch nur den normativ-idealtheoretischen Ansatz näher beleuchten und die beiden anderen lediglich umreißen und auf ihn beziehen. 2.1 Der normativ-idealtheoretische Ansatz einer Theorie der Gründung Dieser Ansatz geht – vor allem in Abgrenzung zum Ansatz der Akteurs- und Institutionenrationalität – ganz bewusst von der Annahme aus, dass bestimmte Akte der Neu- oder Umgründung (oder: Revolution) darauf abzielen, eine despotische Ordnung zu beseitigen und an ihre Stelle eine freiheitliche, eine ‚gerechte‘ Ordnung zu setzen. Er hat etwas Kantianisches an sich, denn „die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein“.13 Das Attribut ‚republikanisch‘ ist jedoch weniger als die Bezeichnung einer konkreten Staatsform zu verstehen, sondern vielmehr als Hinweis auf die Ordnungsprinzipien eines Staates. Er soll kein Obrigkeitsstaat sein, der Herrschaftsverhältnisse von Menschen über Menschen verkörpert, sondern ein Staat der gleichen Freiheit aller Bürger. Eine konstitutionelle Repräsentativmonarchie kann somit diesem Prinzip genauso verpflichtet sein wie eine staatsrechtliche Republik. Außerdem: Nur weil dieser Ansatz etwas Kantianisches an sich hat, hat er nicht automatisch etwas Hegelianisches an sich. Es muss nicht Telos der Geschichte sein, dass alle Staaten republikanisch in diesem Sinne werden (tatsächlich ist diese Idee genauso Kantianisch wie sie Hegelianisch ist, aber lassen wir hier diese Finesse), sondern es reicht, dass genügend Beispiele vorhanden sind, die den Versuch beschreiben, einen solchen Staat zu gründen. Wir bewegen uns damit nun unweigerlich im Rahmen (neo-)idealistischer Staatstheorie. In diesem Strang der politischen Theorie finden wir etwas, das ich   13 So der erste Definitivartikel in Kant (1795): Zum ewigen Frieden, S. 10.

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andernorts bereits als das „Problem der Gründung“14 beschrieben habe. Dieses Problem beschreibt eine paradoxe Situation: In der idealistischen Staatstheorie von Aristoteles über Rousseau und Schiller bis Kant und Hegel wird der ‚gerechte‘ Staat zugleich als der ‚vernünftige‘ Staat apostrophiert. Er basiert auf einer Verfassungsordnung, die das Prinzip der gleichen Freiheit zum Ausdruck bringt. Unter einer solchen Ordnung werden die Bürger in einer Weise sozialisiert, die sie diese Ordnung aktiv bejahen lässt. In den Worten des amerikanischen politischen Philosophen John Rawls, der diesem politiktheoretischen Strang durchaus zuzuordnen ist, bilden sie eine „grundsatzorientierte Moralität“15 aus, die an den Gerechtigkeitsgrundsätzen der gleichen Freiheit und fairen Chancengleichheit ausgerichtet ist. Um diese Art der Moralität auszubilden, sind sie aber auf das Vorhandensein und die Praxis von politischen und sozialen Institutionen angewiesen, die diese Prinzipien schon verkörpern. Es entsteht daher die Frage, wie und von wem solche Institutionen ins Leben gerufen werden sollen, wenn die Einstellung, die zu ihrer Gründung notwendig wäre, erst das Resultat ihres Vorhandenseins ist. Die idealistische Denktradition überhöhte diesen Standpunkt als ‚den vernünftigen‘, so dass Rousseau konstatieren konnte, dass der vernünftige Staat nicht von jenen eingerichtet werden könne, die aufgrund einer Sozialisation in einem despotischen Staat (der ein Naturstaat ist) diese Vernunft ermangeln. Entkleidet von der idealistischen Vernunftmetaphysik bleibt aber die Erkenntnis, dass in einem despotischen Staat eine Art der öffentlichen Moralität vorherrscht, die nicht durch die Prinzipien der gleichen Freiheit geprägt ist, und dass die Bürger – die in einem solchen Staat gar nicht Bürger im eigentlichen Sinne sein können – keine von diesen Prinzipien geleitete öffentliche Moral ausbilden werden. Anders gesagt: Der demos eines vormals despotischen Staates eignet sich nur bedingt als Verfassungsgeber eines freien Staates, weil er im Moment der Umgründung nicht den ‚Geist‘ verkörpert, den er den Gesetzen geben soll. Damit ergibt sich unweigerlich ein Spannungsverhältnis zur demokratischen pouvoir constituant des gesamten Volkes. Sie ist einerseits normativ gefordert und die zentrale Legitimationsquelle eines demokratischen Staates, sie wirft aber andererseits eine Reihe von Problemen auf, die den Keim des Scheiterns eines solchen Gründungsprozesses in sich tragen. In der Idealtheorie der ‚vernünftigen‘ Verfassungsgebung ist die Gründung gerechter Institutionen und ihre Praxis also von einem bestimmten ‚Geist‘ geleitet. Was ihn genau ausmacht, ist ebenfalls in der Kantianischen Gerechtigkeitstheorie von John Rawls dargestellt. In seinem Hauptwerk Eine Theorie der Gerechtigkeit präsentiert Rawls ein Vierstufenmodell, das zur Gründung gerechter Institutionen bzw. zu ihrem gerechten Arbeiten führen soll.16 Auf allen vier Stufen nehmen die Akteure unterschiedliche epistemologische Perspektiven oder Stufen der Vernünftigkeit ein. Die erste Stufe ist die bekannteste, nämlich die ursprüngliche Position des Schleiers des Nichtwissens. Auf dieser Stufe verfügen die Akteure über keiner  14 Braune: Zwang und Heteronomie, S. 202, 371, 473. 15 Rawls (1971): Theorie der Gerechtigkeit, S. 514–521. 16 Vgl. ebd. S. 223–229.

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lei partikulare Kenntnisse und sind so in der Lage, allgemeine Grundsätze der Gerechtigkeit zu beschließen, denen sie im weiteren Verlauf folgen werden. Am interessantesten für eine Theorie der Gründung ist dann die zweite Stufe, die Rawls selbst als die Stufe einer „verfassunggebenden Versammlung“17 bezeichnet. Während in den beiden folgenden Stufen die Rationalität beschrieben wird, die Akteure innerhalb freiheitlicher Institutionen (der Legislative bzw. Judikative/ Exekutive) haben sollten, gilt die zweite Stufe der Errichtung dieser Institutionen. Auf dieser Stufe verfügen die Akteure über die gleichen Kenntnisse wie hinter dem Schleier des Nichtwissens, nur, dass sie nun zusätzlich über die Beschaffenheit und Eigenheiten des Volkes Bescheid wissen, für das sie eine Verfassung geben sollen. Sie sind in diesem Sinne ausdrücklich unpolitische Akteure, weil sie einen Rahmen für demokratische Politik kreieren sollen, ohne aber selbst diese Politik zu betreiben. Denn das passiert erst nach der Gründung und im Modus der letzten beiden Stufen. Von einem idealen Verfassungsgeber wird daher verlangt, dass er sich in der verfassunggebenden Versammlung anders verhält als ein Politiker.18 Vor allem – und das ist der Kern des liberalen Konstitutionalismus – darf er den Verfassungsgebungsprozess nicht dafür missbrauchen, seinen politischen Vorstellungen Verfassungsrang zu geben. Denn die zu schaffenden politischen Institutionen sollen politischen Wettbewerb ermöglichen und nicht Entscheidungen präjudizieren. Idealerweise ist der Verfassungsgebungsprozess daher ein Prozess des öffentlichen Vernunftgebrauchs, in dem partikulare politische Positionen zur Seite gestellt werden, um eine Ordnung zu begründen, die das Austragen politischer Konflikte auf demokratische Weise ermöglicht. In einer verfassunggebenden Nationalversammlung, die nach allgemeinem und gleichem Wahlrecht gewählt ist und sowohl in ihrer Zusammensetzung, ihrem äußeren Erscheinungsbild und ihrer Arbeitsweise einem regulären Parlament ähnelt (und die faktisch wie auch in der Regel beide Funktionen gleichzeitig übernimmt, so auch 1919), kann es daher leicht zu Vermischungen beider Funktionen kommen. Der Verfassungsgebungsprozess kann dann übermäßig politisiert werden. In günstigen Fällen findet man ausgewogene Kompromisse (die aber systematisch von einem rationalen Konsens zu unterscheiden sind: Kompromisse sind Resultate politischen bargainings, während ein Konsens das Resultat öffentlichen Vernunftgebrauchs (also von public reasoning) ist19). Im schlimmsten Fall gewinnt eine Fraktion die politische Oberhand, dominiert den Verfassungsgebungsprozess und schreibt ihre partikularen Prinzipien in der Verfassung fest. Aber selbst ein Kompromiss ist fragil, wenn er sich nicht zu einem Konsens verfestigt, denn dann erodiert er mit der Verschiebung der Kräfteverhältnisse, die ihn ursprünglich trugen; wie es im Falle der Weimarer Republik nur zu gut zu beobachten war.   17 Ebd., S. 224. 18 Zur Unterscheidung zwischen ‚framers‘ und ‚politicans‘ siehe Elster (2000): Ulysses Unbound, S. 172. 19 Dieses Argument wird bspw. auch stark gemacht in Patberg (2016): Constituent Power im Zusammenhang mit dem dort formulierten ‚principle of discursiveness‘. Es ist für Patberg eines von vier Prinzipien, die einer von ihm in ihren Grundzügen entfalteten Idealtheorie der Verfassungsgebung im Anschluss an die Habermassche Diskursethik zugrunde liegt.

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Idealerweise nehmen demzufolge Akteure eines rationalen Verfassungsgebungsprozesses eine bestimmte Haltung ein, die sie das Ziel verfolgen lässt, Institutionen der gleichen Freiheit und demokratischen politischen Entscheidens zu begründen, und nicht, politische Ansprüche gegen andere durchzusetzen. In einer Verfassungsgebung im Modus der pouvoir constituant sind die relevanten Akteure nicht nur die Mitglieder des Verfassungsausschusses oder der verfassunggebenden Versammlung, sondern alle Bürger, die zuvor die Constituante in dieser Haltung wählen müssen und ihr Ergebnis in dieser Haltung akzeptieren und praktizieren müssen. Diese und weitere, andernorts auszuformulierende Elemente einer Idealtheorie der Verfassungsgebung kollidieren notwendigerweise in realen Verfassungsgebungsprozessen mit den Bedingungen einer nichtidealen Welt. Sie tun dies in unterschiedlichem Ausmaß und an unterschiedlichen Stellen, teilweise in Form kleiner Hindernisse und Erschwernisse, teilweise aber auch in Form existentieller Herausforderungen und unüberwindbarer Schwierigkeiten. Eine vergleichende Konstitutionalisierungsforschung identifiziert diese Stellen und erlaubt es, ihre Bedeutung in empirischen Verfassungsgebungsprozessen einzuschätzen. Das sogenannte Problem der Gründung, dem sich alle Verfassungsgebungsprozesse in der Transition von einem despotischen zu einem ‚gerechten‘ Staat ausgesetzt sehen, besteht demnach darin, dass eine Idealtheorie der Konstitutionalisierung Ansprüche an die Akteure formuliert, die sie als Akteure in einer nichtidealen Welt nicht erfüllen können. Der Verfassungsgebungsprozess kann daher in verschiedener Weise korrumpiert werden: Das Beispiel des ‚Hijackings‘ durch partikulare Gruppen wurde bereits angesprochen. Um diese und andere Quellen des Scheiterns auszuschalten, sind Abweichungen vom Idealverfahren der Konstitutionalisierung notwendig, und alle realen Verfassungsgebungsprozesse sind als solche – aber in unterschiedlichem Ausmaße – Ausdruck solcher Abweichungen. Größere Abweichungen können dabei, selbst wenn sie von empirischen Notwendigkeiten diktiert werden, schnell zu einer legitimatorischen Hypothek werden, eben weil sie Abweichungen vom Ideal sind. Geringere und andere Abweichungen werden hingegen eher als praktische Notwendigkeiten akzeptiert. Das Idealverfahren einer Verfassungsgebung im Modus der pouvoir constituant des Volkes würde darin bestehen, dass alle Bürger die neue Verfassung des politischen Gemeinwesens beraten und konsensual beschließen, wobei sie von einer Haltung des öffentlichen Vernunftgebrauchs und nicht von politischen Interessen oder Leidenschaften geleitet werden, die sie das Ziel verfolgen lässt, Institutionen der gleichen Freiheit (gleiche Grundrechte, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, demokratische Entscheidungsfindungen etc.) zu errichten. Schon die Wahl einer verfassungsgebenden Nationalversammlung und damit das Prinzip der Repräsentation ist daher ein Zugeständnis an die praktische Notwendigkeit moderner Gemeinwesen – und eine Abweichung von der Idealtheorie: Denn „der verfassunggebende Willen des Volkes kann nicht repräsentiert werden, ohne daß die Demokratie sich in eine Aristokratie verwandelt.“20 Genauso sind es der Mehrheitsbeschluss und der   20 Schmitt (1928): Verfassungslehre, S. 80.

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Kompromiss statt des Konsenses. Sie alle sind weitgehend als praktische Notwendigkeiten akzeptiert. Und auch die Implementierung einer neuen Verfassung zeigt in der nichtidealen Welt notwendige Abweichungen von der Idealtheorie. Denn in dieser akzeptieren die vernünftigen Bürger den von ihnen gefundenen Verfassungskonsens unmittelbar, denn er ist Ausdruck ihres rationalen Willens. In der nichtidealen Welt einer revolutionären Situation wie 1919 ist dies aber keineswegs der Fall. Gesellschaften sind in solchen Situationen in der Regel tief gespalten, und zwar nicht entlang einer Scheidelinie, sondern entlang mehrerer. In einem Verfassungskompromiss leben solche Scheidelinien fort und können späterhin einige Sprengkraft entwickeln, genauso wie noch tiefere Scheidelinien zu jenen Gruppen verlaufen, die sich selbst vom Verfassungskompromiss ausgeschlossen haben (DVP, DNVP, KPD, NSDAP etc.). Unter den Bedingungen eines tiefgreifenden Wertepluralismus, der sich in der Hitzephase des Durchbruchs der ‚klassischen Moderne‘ auch zu einem ‚geistigen Bürgerkrieg‘ (Max Scheler) um die normative Deutungshoheit von Ordnungsmodellen steigern konnte, ist es schwer vorstellbar, wie ein Prozess der demokratischen Verfassungsgebung allein dem Prinzip des öffentlichen Vernunftgebrauchs vertrauen soll; ja scheint es ein glücklicher Umstand zu sein, wenn dem Mehrheitsprinzip gefolgt wird und sich so ein republikanisches Gemeinwesen gründen lässt. Es muss dann mit den nötigen autoritativen Instrumenten ausgestattet sein, um die Geltung seiner Ordnung nötigenfalls auch gegen seine Feinde durchsetzen und verteidigen zu können, um bestenfalls die Bevölkerung und die Eliten mit der Zeit auf die normativen Geltungsgründe der neuen Ordnung verpflichten zu können. Es muss den normativen Konsens erzeugen können, der seine Gründung anleitete, ohne ihr umfassend zugrunde zu liegen. Vergleichende Konstitutionalisierungsforschung fragt daher nicht nur nach den demokratischen, sondern auch nach den autoritativen und expertokratischen Elementen, die eine (Um-)Gründung, Verfassungsgebung und Verfassungsimplementierung begleiteten und danach, ob und inwieweit sie eine republikanische Gründung absicherten oder doch in Frage stellten. Sie fragt dies nicht allein für die Erarbeitung und Implementierung der ersten deutschen republikanischen Verfassung, sondern für alle Verfassungsgebungen der Zwischenkriegszeit. Flankiert wird diese Gegenüberstellung von Idealtheorie der Verfassungsgebung und ihrer Umsetzung unter nicht-idealen Bedingungen durch zwei weitere Ansätze. 2.2 Der Ansatz der Akteurs- und Institutionenrationalität Der Ansatz der Akteurs- und Institutionenrationalität lässt dabei die normativen Überlegungen des idealtheoretischen Ansatzes beiseite und stärkt daher die vergleichende empirische Analyse. In einem ersten Schritt identifiziert er in einer gegebenen Gründungs- oder Umgründungssituation die zentralen individuellen und institutionellen Akteure, fragt nach möglichen Vetospielern und Vetopositionen und akteursspezifischen Interessenkonstellationen, Handlungsbedingungen und Hand-

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lungsressourcen. Er fragt damit danach, wie sich diese subjektiven Präferenzordnungen und Ressourcen der Handlungs- und Durchsetzungsmacht der einzelnen Akteure und Institutionen aufeinander beziehen und welche kollektiven Handlungsräume und Handlungshemmnisse sich vor diesem Hintergrund auftun. In einem solchen Raum muss sich der Gründungs-, Verfassungsgebungs- und -implementierungsprozess abspielen und es ist daher nach den Konstellationen und Dynamiken zu fragen, die den Prozess im Lichte von Machtverteilungen und Vetopositionen befördern, am Laufen halten, stören oder gefährden. Wichtige Akteure in diesen Konstellationen sind Parteien, Verbände (siehe Stinnes und Legien und die je hinter ihnen stehenden Organisationen), individuelle Politiker, die Staatsverwaltung, das Militär, paramilitärische Verbände, revolutionäre Gremien (z. B. Arbeiter- und Soldatenräte, Rat der Volksbeauftragten), staatliche Institutionen wie Parlament, Regierung etc. Welcher dieser Akteure ist zu welchem Zeitpunkt auf die Zusammenarbeit mit welchem anderen Akteur angewiesen? Wie werden mögliche Vetospieler eingebunden oder so ausgeschaltet, dass sie den Prozess nicht stören? Oder können sie ihre Vetopositionen doch ausspielen? Die Antworten auf diese und ähnliche Fragen sind in jeder historischen Situation einzigartig, was aber nicht bedeutet, dass sie nicht vergleichbar wären oder dass sich nicht Muster und Regelmäßigkeiten in ihnen feststellen ließen. Um nur ein Beispiel zu nennen: In allen Umbruchsituationen, die auf eine Umgründung hinauslaufen, ist es für die revolutionären Akteure essentiell, die Akteure des staatlichen Gewaltmonopols auf ihre Seite zu ziehen und jenes Monopol nicht zerfallen zu lassen. In der Einschätzung der damit verknüpften Akteursrationalitäten des Umbruchs 1918/19 erscheint dann das ominöse Telefonat zwischen Friedrich Ebert und Wilhelm Groener in einem neuen Licht. Im Ansatz der Akteurs- und Institutionenrationalität wird demnach einerseits danach gefragt, in welchem breiteren politischen Umfeld ein Umgründungsprozess stattfindet, andererseits aber auch danach, wie der Prozess der Verfassungsgebung und -implementierung im engeren Sinne gestaltet sein muss, um ausgehend von den diversen Akteursrationalitäten institutionelle Stabilität zu ermöglichen.21 In Abweichung von den idealtheoretischen Vorgaben können dann Kompromisse oder machtbasierte Durchsetzungen in einem günstigeren Licht erscheinen. Und auch die konkrete Verfassungsordnung und ihre Umsetzung kann und sollte so gestaltet sein, dass sie mögliche Vetospieler entweder effektiv ausschaltet (was bei einzelnen Parteien oder Verbänden möglich ist, nicht aber bei Verwaltung oder Militär), oder sie so einbindet, dass sie entsprechend ihrer Akteursrationalität ein Interesse daran haben, an dem neuen System mitzuwirken (was für die Reichswehr unter den Vorgaben des Versailler Vertrages erschwert wurde). Die Interessen und Präferenzen, die den subjektiven Akteursrationalitäten zugrunde liegen, bestehen in materiellen, politischen und organisationalen Eigeninteressen der involvierten Akteure, die im Rahmen dieses an der rational-choice-Theorie orientierten Ansatzes zwar nur schwer zu quantifizieren, aber immerhin zu   21 Exemplarisch für diesen Ansatz stehen hier die vielfältigen Arbeiten von Barry R. Weingast. Vgl. etwa Weingast (2006): Designing Constitutional Stability.

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identifizieren und zu taxieren sind. Dient der Ansatz der Akteurs- und Institutionenrationalität jedoch als analytische Ergänzung vergleichender Konstitutionalisierungsforschung, die im Rahmen des normativ-idealtheoretischen Ansatzes Umgründungen von einem ‚despotischen‘ zu einem ‚republikanischen‘ Gemeinwesen oder Neugründungen solcher in den Blick nimmt, dann lässt er sich nicht vollständig von der Ebene normativer Überzeugungen trennen. Denn die Akteursrationalitäten werden dann nicht nur in rationabilen Interessen (Macht, Ressourcen, politischer Einfluss etc.) bestehen, sondern auch von normativen Überzeugungen und von ihnen korrespondierenden Vorstellungen über gesellschaftliche und politische Ordnungsprinzipien grundiert sein. Die Reichswehr hatte – um bei diesem Beispiel zu bleiben – 1918/19 nicht nur ein Interesse daran, weiterhin eine politische Rolle zu spielen und auch ihre ökonomischen und organisationalen Eigeninteressen zu wahren, sondern waren im Gegensatz zu den revolutionär gesinnten Mannschaftsdienstgraden innerhalb der Leitung und des Offizierskorps autoritäre Ordnungsentwürfe (seien sie monarchisch oder neu-konservativ) weit verbreitet. Sie bestimmten die akteursspezifischen Handlungskalküle in der Revolutionsphase und darüber hinaus entscheidend mit. Die Herausforderung bestand demnach nicht nur darin, sie nach rationabilen Kriterien einzubinden, sondern auch darin, diese grundlegenden normativen Differenzen mit der Zeit aufzulösen. 2.3 Der ideen- und intellektuellengeschichtliche Ansatz An dieser Stelle tritt dann der ideen- und intellektuellengeschichtliche Ansatz auf den Plan. Denn er hilft, diese Überzeugungen und Ordnungsvorstellungen zu identifizieren und im Spektrum des Wertepluralismus und des Pluralismus der politischen Grundkonzeptionen einer gegebenen Gesellschaft zu verorten. Gerade Gesellschaften im politischen Umbruch weisen ein ausgesprochen dynamisches Feld konkurrierender Ordnungsentwürfe auf, in denen sich, mit André Brodocz gesprochen, ein „Kampf um Deutungsmacht“22 abspielt. Die am Gründungs- bzw. Umgründungsprozess beteiligten Akteure sind daher zugleich Akteure dieses Deutungskampfes, der sich mit den Instrumenten der Ideen- und Intellektuellengeschichte für Umbruchsgesellschaften rekonstruieren lässt. Dabei spielen nicht nur die Rekonstruktionen der Ordnungsvorstellungen der beteiligten kollektiven Akteure eine Rolle, sondern auch die Vorstellungen der individuellen Mitglieder der Deutungseliten innerhalb dieser Akteure und aus dem Kreis der Politik, Wissenschaft, Presse und Publizistik. Die Rekonstruktion des Kampfes um Deutungsmacht ist daher auch eine Aufgabe der Intellektuellengeschichte.23 Für die Binnensicht auf die Weimarer Republik, in der sich wie bereits beschrieben dieser Kampf zuweilen

  22 Brodocz (2011): Kampf um Deutungsmacht. 23 Vgl. Gallus (2009): „Intellectual History“.

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als ein ‚geistiger Bürgerkrieg‘ darstellte, ist dies in zahlreichen Arbeiten bereits geschehen und weiterhin auf gutem Wege.24 Für die vergleichende Konstitutionalisierungsforschung des europäischen Gründungslaboratoriums der Zwischenkriegszeit stehen systematischere Einzel- und vergleichende Studien jedoch noch aus. Dient der ideen- und intellektuellengeschichtliche Ansatz der Begleitung einer Fragestellung im Rahmen des normativ-idealtheoretischen Ansatzes, dann ist seine Leitfrage, ob und inwiefern in den Umbruchs- bzw. Gründungsgesellschaften eine Transformation des Charakters des normativen und politischen Wertepluralismus zu beobachten ist. In den Termini der politischen Philosophie John Rawls‘ drückt sich dies folgendermaßen aus: Das ‚Problem der Gründung‘ innerhalb des normativ-idealtheoretischen Ansatzes besagt, dass es in der Ausgangssituation eines Umbruchs in aller Regel keinen ‚übergreifenden Konsens‘25 über die normativen Grundlagen der anzustrebenden und dann umzusetzenden Verfassungsordnung gibt, dass diese aber zu ihrer Stabilisierung eines solchen Konsenses bedarf.26 Der Pluralismus einer solchen Gesellschaft stellt sich als ein ‚unvernünftiger‘ Pluralismus dar, in dem zahlreiche Akteure Träger ‚unvernünftiger umfassender Lehren‘ sind und in ihrem politischen Agieren von einer ‚autoritäts- oder gruppenorientierten Moralität‘ geleitet sind.27 Um die notwendigen Voraussetzungen der Stabilisierung einer republikanischen und an den Grundsätzen der gleichen Freiheit orientierten Ordnung zu schaffen, muss sich ein solcher umkämpfter, konflikthafter, ja bürgerkriegsähnlicher Pluralismus in einen gemäßigten, ‚vernünftigen‘ Pluralismus   24 Vgl. exemplarisch die beiden Pole: Sontheimer (1962): Antidemokratisches Denken; Gusy (2000): Demokratisches Denken; Groh (2010): Demokratische Staatsrechtslehrer; Gallus (2012): Heimat „Weltbühne“. Die Liste der individuellen Intellektuellenbiografien für zentrale Persönlichkeiten der Weimarer Republik lässt sich hier unmöglich wiedergeben. 25 Vgl. Rawls (1993/95): Politischer Liberalismus, S. 219–265. 26 Oder mit Michael Dreyers Hinweis auf Ernst Fraenkel in diesem Band: Es herrscht kein Einvernehmen über den nicht-kontroversen Teil der politischen Ordnung. 27 Um diese Termini im Verständnis von John Rawls in aller Verkürzung knapp zu erläutern: Unvernünftige umfassende Lehren sind solche Ideologien, Weltanschauungen, Religionen etc., die nicht nur einen umfassenden Erklärungsanspruch erheben, sondern auch einen Anspruch auf ein politisches Gestaltungsmonopol. Ihre Anhänger wollen die Anhänger anderer umfassender lehren zur Not mit Gewalt von der ihrigen überzeugen oder sie bekämpfen. Ein Pluralismus, in dem solche Lehren eine starke Stellung einnehmen, ist ein unvernünftiger (kontroverser) Pluralismus (den wir weitgehend in der Weimarer Republik antreffen). In einem vernünftigen Pluralismus herrschen stattdessen vernünftige umfassende Lehren vor, die diese Aggressivität abgelegt haben. Ihre Anhänger können sich auf einen übergreifenden Konsens einigen, der bspw. die gleiche Religionsfreiheit und -ausübung oder die gleiche politische Teilhabe garantiert. Ihre Anhänger sind daher mit größerer Wahrscheinlichkeit Träger einer grundsatzorientierten Moralität, die die öffentliche Ordnung anerkennen, weil sie die Prinzipien der gleichen Freiheit verkörpert. Menschen, die einer autoritäts- oder gruppenbezogenen Moralität folgen, akzeptieren eine öffentliche Ordnung nur dann, wenn sie einer von ihnen anerkannten Autorität (z.B. dem monarchischen Prinzip) entspringt oder Ausdruck einer spezifischen Gruppenzugehörigkeit (Nationalismus) ist. Die Weimarer Zeit ist demnach durch eine Dominanz von autoritäts- und gruppenorientierten Moralitäten gekennzeichnet, gegen die sich eine republikanische grundsatzorientierte Moralität kaum durchsetzen konnte.

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wandeln. Das setzt voraus, dass sich die ‚unvernünftigen‘ umfassenden Lehren (oder wenigstens ihre Träger) dergestalt transformieren, dass sie die Umgestaltung der politischen Ordnung nach dieser Lehre nicht mehr anstreben und sich mit einer freiheitlichen Ordnung arrangieren. Die Dynamiken im Kampf um Deutungsmacht und Deutungshoheit sind demnach daraufhin zu befragen, ob sie Tendenzen der Herausbildung eines solchen Konsenses zeigen oder umgekehrt auf eine stärkere Fragmentierung und Polarisierung des Diskurses hindeuten. Die Stabilisierung oder Erosion einer republikanischen Ordnung hängt entscheidend von diesen Dynamiken ab. Exemplarisch zeigt sich dies sehr gut an der DVP, die oftmals zwischen republikfeindlichen Positionen und einem Zweckrepublikanismus lavierte, wobei Punkte zu identifizieren wären, an denen sie auf einen republikanischen Konsens einschwenkte oder sich von ihm entfernte. Ähnliche Fragen sind für andere Akteure in Deutschland und den übrigen europäischen Gründungsgesellschaften zu stellen. 3. FAZIT Im Lichte von ‚Arabischem Frühling‘, den diversen ukrainischen Revolutionen und anderen Umbrüche der jüngeren Vergangenheit ist es sicherlich keine Schande, diese (Um-)Gründungsversuche aus der Perspektive einer dezidiert normativen Theorie der Verfassungsgebung zu interpretieren und sie als Versuche der ‚Gründung der Freiheit‘ (Arendt) zu verstehen. Wir werden nicht alle Antworten bezüglich der Erfolgs- und Scheiternsbedingungen dieser ‚Herausforderungen für die Demokratie im 21. Jahrhundert‘ am historischen Beispiel finden. Doch liefert die vergleichende Konstitutionalisierungsforschung, die sich den zahlreichen (Um-)Gründungen der Zwischenkriegszeit annimmt, wertvolle Einsichten, die nicht zuletzt durch eine gewisse historische Distanz und Abgeschlossenheit an Aussagekraft gewinnen. Die deutsche Umgründung 1918/19, ihre Errungenschaften und ihr Scheitern sind dabei kein Einzelfall, sondern ein Vergleichsgegenstand für die Gründungen in Polen, Finnland, der Tschechoslowakei, Österreich, der Türkei etc. Der hier vorgeschlagene und nur in seinen Grundzügen vorgestellte Theorierahmen aus einer Kombination aus normativ-idealtheoretischem, akteurs- und institutionenrationalistischem und ideen- und intellektuellengeschichtlichem Ansatz liefert dabei das nötige theoriegeleitete Instrumentarium, um sich den verschiedenen Fällen des (Um-)gründungslaboratoriums der Zwischenkriegszeit systematisch zu nähern. LITERATUR Arendt, Hannah: Über die Revolution. 4. Aufl., München / Zürich 1994, zuerst 1963 als On Revolution. Dies.: Revolution und Freiheit. In: Dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. Hrsg. von Ursula Ludz. München / Zürich 1994, S. 227–251. Dies.: Macht und Gewalt. 22. Aufl., München / Zürich 2013, zuerst 1970 als On Violence. Berg-Schlosser, Dirk (Hrsg.): Conditions of Democracy in Europe, 1919–39: Systematic Case-Studies. Basingstoke u.a. 2000.

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POLITISCHE VERBINDLICHKEIT ALS KERNPROBLEM DER WEIMARER DEMOKRATIEDEBATTE Marcus Llanque 1. EINLEITUNG Ein charakteristisches Merkmal der Weimarer Demokratiedebatte war die Tendenz, die auftretenden Fragen immer auf eine grundsätzliche, eine fundamentale Weise zu stellen. Die Grundsätzlichkeit der Debatte brach sich in zahllosen Begriffen und Begriffsoppositionen Bahn, darunter befinden sich Gemeinschaft und Individuum, Gesellschaft und Gemeinschaft, Freund und Feind, Volk und Bevölkerung, Bevölkerung und Rasse, Nationalismus und Internationalismus, Souveränität und Rechtsstaat, Demokratie und Liberalismus, Nation und Klassenstaat, bürgerliche Gesellschaft und Zivilisation, Sozialismus und Demokratie, soziale und politische Demokratie, wahre und formale Demokratie und viele weitere mehr. In diesen und zahlreichen anderen Begriffen wurden elementare Fragen von Politik und Gesellschaft aufgeworfen und zugleich immer wieder ihre ethische, sozialphilosophische, metaphysische, geschichtsphilosophische, juristische wie theologische Bedeutung erwogen. Die ideengeschichtliche Beschäftigung mit dieser Debatte sollte nicht nur der historischen Frage dienen, auf welche Weise erklärt werden kann, wie es kam, insbesondere, was zum Untergang der Republik führte, sondern welche theoretischen Lehren aus der Debatte selbst gezogen werden können. Letztere Frage stellt sich auch ungeachtet des Endes der Republik, das selbstverständlich die Debatte retrospektiv überschattet. Man wird hier immer zu bedenken geben müssen, dass die Teilnehmer der Weimarer Debatte nicht selbst schon Lehren aus dem Untergang der Republik ziehen konnten, man daher diese Debatte besser aus ihrer eigenen Logik heraus rekonstruieren und verstehen sollte und keine nachträgliche (negative) Teleologie als entscheidendes Strukturmerkmal unterstellen sollte. Dazu gehört die Differenzierung der unterschiedlichen Fragedimensionen. Neben den unvermeidlichen institutionellen und normativen Fragen um beispielsweise das Verhältnis von parlamentarischen und präsidentiellen Elementen, Problemen des Verhältniswahlrechts, der Umsetzung der Gleichheit, der Bedeutung des Referendums und anderen, insgesamt demokratietheoretisch vertrauten Problemen, wurde die Demokratiedebatte auch auf einer ganz grundsätzlichen Ebene geführt, auf dem Boden, welcher den genannten institutionellen und normativen Fragen noch zugrunde lag und der mit dem Umbruch vom Kaiserreich zur Demokratie und der kollektive Erfahrung des Weltkrieges ins Schwanken gekommen war. Die Weimarer Republik vermochte es nicht, ihre Bürger an sich zu binden, sie hatte ein elementares Verbindlichkeitsproblem. Das soll im Folgenden am Beispiel zweier

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Begriffe, des Begriffs des Volkes und des Begriffs der Pflichten, etwas genauer erörtert werden, und zwar anhand des Diskurses der Weimarer Staatslehre. Mangels einer eigenen Politikwissenschaft, die in Weimar erst im Aufbau befindlich war, sowie vor dem Hintergrund der deutschen ideengeschichtlichen Tradition, war es die Allgemeine Staatslehre, die sich mit diesen Fragen beschäftigte. Rasch wurde den Vertretern dieses Faches klar, dass die mit der Republikgründung einhergehende Demokratisierung nicht einfach nur einen Formwandel des an sich gleichbleibenden Staates bewirkte. Daher wurden Fragen der Demokratie auch nicht mehr nur im Rahmen der Staatsformenlehre erörtert, sondern betrafen den Begriff des Staates und damit den Begriff des Politischen selbst im Kern. Konnte Georg Jellinek in seiner Staatslehre vor dem Weltkrieg noch behaupten, der Begriff des Staates falle mit dem des Politischen zusammen,1 war genau diese Behauptung fraglich geworden mit dem Zusammenbruch des kaiserlichen Staates. Die Verschiebung der Grenzen von Staat und Gesellschaft, welche durch die Demokratisierung eintrat und auch eintreten sollte, bewirkte eine hohe Sensibilität für politische und theoretische Grundfragen. 2. POLITISCHE VERBINDLICHKEIT IN WEIMAR Was bindet die Menschen zusammen, was bindet sie an gesellschaftliche und politische Ordnungen und wie ist mit dem Umstand umzugehen, dass es offensichtlich nicht nur mehrere solcher Bindungen gibt, sondern diese auch noch miteinander konkurrieren, und zwar in vielen Fällen bis zur gegenseitig ausschließenden Dichotomie? Hinter diesen Fragen steht das Problem politischer Verbindlichkeit.2 Verbindlichkeit ist etwas anderes als Geltung und berührt das, was meist als Legitimität bezeichnet wird, fällt aber nicht damit zusammen. Man kann die Legitimität einer politischen Ordnung in Frage stellen und sein Verhalten dennoch an den von ihr erlassenen Gesetzen in einer konkreten Situation orientieren, was zeigt, dass sich die politische Ordnung für das konkrete Handeln als verbindlich erweisen kann, auch wenn die Legitimität dieser Ordnung bezweifelt wird. Die bloße Geltung einer politischen Ordnung, die Annahme, dass korrekterweise ein bestimmtes Gesetz in dieser Ordnung gültig ist, kann die Verbindlichkeit nicht garantieren. Der sich als proletarischer Sozialist verstehende Bürger wird die Geltung eines Gesetzes, das nach den Verfahrensvorschriften der Verfassung zustande kam, nicht in Abrede stellen, aber das muss nicht das Verhalten tatsächlich orientieren. Er kann der Verfassungsordnung Weimars keine Legitimität zusprechen, da er sie als eine bürgerliche Ordnung ansieht, als Herrschaft des Klassenfeindes, das muss aber nicht be  1 2

„‚Politisch‘ heißt ‚staatlich‘; im Begriff des Politischen hat man bereits den Begriff des Staates gedacht“, in: Jellinek (1914): Allgemeine Staatslehre, S. 180. Hierzu Llanque (2010): Membership; Llanque (2011): Populus und Multiudo; Llanque (2013a): Mitgliedschaft und Zugehörigkeit; Llanque (2013b): Rawls’ Volksbegriff; Llanque (2015a): Citizenship; Llanque (2015b): Verbindlichkeit.

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deuten, dass diese Ordnung nicht dennoch eine bindende Wirkung auf ihn hat. Verbindlichkeit ist immer nur eine Frage der konkreten Bindung. So kann der Sozialist der Auffassung sein, dass in einem Gleichgewicht der Klassenkräfte mangels Alternative die Verfassung eine Grundlage des Klassenkampfes darstellt und wenigstens im Augenblick Ordnung und Sicherheit wahrt. Umgekehrt kann jemand, der eine transzendente Bindung für vorrangig erachtet, die Verpflichtungskraft der politischen Ordnung immer nur als Ableitung aus dem eigentlich für verbindlich erachteten Bezugspunkt ansehen. In diesem Sinne war die im Weimarer Protestantismus gestellte Frage nach der ethischen Substanz der Weimarer Verfassung eine Infragestellung ihrer Verbindlichkeit.3 Das muss aber nicht zwingend zur Delegitimierung führen, denn gerade die Hinzuziehung intensiver Bezugspunkte der Bindung wie der Gottesglaube, die Überzeugung bezüglich des Verlaufs der Geschichte oder der Traditionalismus althergebrachter Verhaltenskonventionen kann einer neu geschaffenen politischen Ordnung zur Verbindlichkeit verhelfen. Es erschwert allerdings die Möglichkeit, mit dem Umstand umzugehen, dass es noch andere, konkurrierende Bezugspunkte einer solchen Verbindlichkeit gibt. Das politische Problem der Verbindlichkeit ist die Verbindlichkeitskonkurrenz. Im Gegensatz zur Legitimität erörtert die Verbindlichkeit die Frage der Intensität einer Bindung in einer konkreten Situation. Mit dem Wandel der Lage kann sich der Intensitätsgrad der Bindung steigern oder abschwächen. So gesehen ist die Verbindlichkeit einer politischen Ordnung prekär, aber sie ist auch nicht abhängig von der beispielsweise ideologischen Begründung einer Legitimität oder im Sinne Max Webers von dem Legitimitätsglauben. Die Verbindlichkeit bewegt sich zwischen den Polen des schlichten Interessenkalküls auf der einen Seite und der völligen Identifizierung mit der politischen Ordnung auf der anderen. Der Lauheit der Verbindlichkeit dessen, der nur seine persönlichen Profitinteressen vertritt und daher jede Regierung akzeptiert, die beispielsweise seine Handelsinteressen wahrt, steht der Fanatismus des anderen gegenüber, der aus Überzeugung jeden Kompromiss als Verrat an der Gesinnung ansieht. Die politische Bindung an die Republik und ihre Verfassung ist vor allem unter dem Gesichtspunkt des Endes der Republik erforscht worden und betonte die Schriften derjenigen, welche zur Delegitimierung Weimars beitragen wollten. Das bekannteste Beispiel hierfür ist die Forschung zur Konservativen Revolution.4 Zuletzt ist aber auch bei Anhängern der Weimarer Republik kritisch gefragt worden, wie stark ihre Bindung war und ob sie die Republik ausreichend unterstützten. So wird immer wieder beklagt, dass die so genannten „Vernunftrepublikaner“ von keinem wirklichen Bekenntnis zur Republik angetrieben wurden, sondern sie nur mangels besserer Alternativen unterstützten.5 Muss man Zeitgenossen wie Gustav Stresemann oder Friedrich Meinecke dafür kritisieren, dass sie keine Herzensrepubli  3 4 5

Tanner (1989): Verstaatlichung des Gewissens, S. 104. Statt vieler: Breuer (1995): Revolution. Wirsching / Eder (Hrsg.) (2008): Vernunftrepublikanismus.

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kaner waren, verbunden mit dem Verdacht, sie hätten nicht mit der nötigen Entschlossenheit für die Republik gekämpft? Oder muss man anerkennen, dass sie trotz ihres Monarchismus und Nationalismus die Republik öffentlich unterstützten?6 Wie stark ist eine politische Bindung, die sich alleine auf Vernunftgründen stützt? Auf der anderen Seite gab es nicht viele „Herzensrepublikanern“, die wie Hermann Heller ihre Studenten dazu aufriefen, notfalls mit der Waffe in der Hand die Weimarer Verfassung gegen die Anhänger der Diktatur zu verteidigen.7 Die Zahl der Herzensrepublikaner war am Ende der Republik offenkundig sehr begrenzt. Zum Verbindlichkeitsproblem Weimars gehörte auch, dass nicht immer klar war, auf welchen normativen oder institutionelle Gegenstand hin die Bindung bezogen werden sollte. Die Demokratie? Das Volk? Der Staat? Die Verfassung? Verteidiger und Gegner der Republik nach ihrer Einstellung zur Verfassung zu unterscheiden, wie dies die ältere Forschung zunächst versuchte,8 übersieht vorschnell, wie sehr Inhalt und Stellenwert der Verfassung selbst zur Debatte gestanden hatten. Gegner wie Anhänger der Republik stützten ihre Argumente auf die Verfassung. Dezisionisten wie Carl Schmitt, Sozialisten wie Franz Leopold Neumann oder Otto Kirchheimer, konservative Liberale wie Rudolf Smend, Sozialdemokraten wie Hermann Heller argumentierten nicht gegen die Verfassung, sondern mit ihr. Hier hilft es nicht, ungeachtet der zeitgenössischen Deutungskämpfe einen „objektiven“ Standpunkt zu beziehen und eine „demokratische“ Auslegung der Verfassung zu konstruieren, um Feinde und Verteidiger der Republik besser unterscheiden zu können. Was eine angemessene „demokratische“ Auslegung ist, war gerade in Weimar höchst umstritten. Wenn gleich zu Beginn der Republik gesagt wurde, sie ruhe auf der „demokratischsten“ Verfassung der Welt,9 so zeigte sich dann rasch, dass die Zeitgenossen sehr unterschiedliche Auffassungen darüber hatten, was „Demokratie“ ist oder heißen sollte und was „Verfassung“ ist und was ihr Ort in der politischen Ordnung ist oder sein sollte. Demokratie und Verfassung dienten hier als Bezugspunkte für die Erörterung, was die politische Bindung der Akteure sein sollte und was die Voraussetzungen einer solchen Bindung waren. Auf der kollektiven Ebene wurde diese Frage unter Zuhilfenahme des Volksbegriffs erörtert, auf der individuellen nicht alleine mit Hilfe der Konzeption individueller Rechte, sondern auch durch die Erörterung von Pflichten. Die Problemstellungen „Volk“ und „Pflichten“ erörtern also ein ähnlich gelagertes Problem auf unterschiedlichen Ebenen: beim Volk werden die Individuen als Angehörige bzw. Mitglieder einer Personengruppe angesprochen, als Individuen werden sie berechtigt oder verpflichtet sofern sie (was unterstellt wird), der entsprechenden Personengruppe angehören bzw. ihr Mitglied sind. Politisch   6 7 8 9

Möller (2008): Drei Wege. Heller (1971c): Freiheit und Form, S. 377. Sontheimer (1962): Antidemokratisches Denken. „Nirgends in der Welt ist die Demokratie konsequenter durchgeführt als in dieser Verfassung [...] Die deutsche Republik ist fortan die demokratischste Demokratie der Welt“: Eduard David in der Nationalversammlung vom 31. Juli 1919, Stenopraphische Berichte Bd. 329, S. 2194 f., hier: S. 2195.

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werden die kollektive wie die individuelle Ebene relevant, wenn die stets unterstellte Kooperationsfähigkeit der Mitglieder oder Angehörigen des Volkes untereinander oder der berechtigten und verpflichteten Individuen untereinander grundsätzlich in Frage gestellt wird. Hermann Heller beispielsweise sprach von der in Zweifel stehenden Verpflichtungskraft der Republik: übte sie in Konkurrenz zu anderen politischen Bezugsgrößen die maßgebliche Bindung ihrer Angehörigen aus, oder drohte mit dem Zerfall dieser Bindung der Bürgerkrieg?10 Heller sah die Verpflichtungskraft der Republik vor allem durch die Konfrontation von liberal-bürgerlicher und proletarisch-sozialistischer Deutung der Republik und der von ihr etablierten Herrschaft gefährdet: „Der Staatsmann, der nicht ehrlich bemüht ist, seine politischen Entscheidungen über Klassenvorurteile hinauszuheben, der Richter, der nicht dauernd bemüht ist, die Werturteile aller Klassen gegeneinander abzuwägen, um so einer Klassenjustiz zu entgehen, sie und alle anderen staatlichen Instanzen repräsentieren dann dem Proletarier den nackten Klassenstaat, der für ihn keinerlei Verpflichtungskraft hat, sondern als ein bloßes Unterdrückungsinstrument lediglich bekämpfenswert erscheint.“11

Damit bezog Heller das Problem der Verpflichtungskraft auf das Kollektivsubjekt der Republik, auf das Volk der Demokratie, von welchem, jedenfalls nach dem herkömmlichen Verständnis der Idee der Demokratie, alle Herrschaft ausgehen sollte. Bindungen zur politischen Ordnung können auf unterschiedlichste Weise thematisiert werden. Der Begriff des Volkes eignet sich hierzu auf der kollektiven Ebene ebenso wie der Begriff des Bürgers oder der Begriff der Pflichten auf der individuellen. 3. DER BEGRIFF DES VOLKES Die Verwendung der Semantik des Volkes weckt in der retrospektiv am Ende der Weimarer Republik orientierten Forschung den nicht unbegründeten Verdacht, hier handle es sich um rechte oder völkische Argumentationen. Insbesondere Wortkombinationen wie „Volksgemeinschaft“ werden aus heutiger Sicht sehr schnell in einen völkischen Deutungsrahmen gestellt. Es konnte jedoch bereits gezeigt werden, dass selbst liberale Politiker den Ausdruck „Volksgemeinschaft“ aufgriffen, ihn keineswegs schlichtweg ablehnten, sondern verwendeten, um das von ihnen unterstützte Anliegen zu verdeutlichen.12 Abgesehen von den nicht wenigen Fällen, in welchen die Verwendung des Volksbegriffs einfach nur den ideologischen Standpunkt zum Ausdruck brachte oder der Volksbegriff als klassischer Appelativbegriff im demokratischen Wahlkampf benutzt wurde, ergab sich geradezu die Notwendigkeit, vom Volk zu sprechen, wenn eines der zentralen politischen Probleme Weimars angesprochen wurde: Wie war angesichts der gewaltigen Differenzen zwischen den politischen   10 Heller (1971d): Demokratie und soziale Homogenität, S. 431. 11 Ebd. 12 Llanque (2015b): Der Weimarer Linksliberalismus.

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Vorstellungen an eine gemeinsam verbindliche Politik sowie alle Beteiligten bindende Gesetze zu denken? Der Begriff des Volkes wurde zentral, sobald das Problem politischer Verbindlichkeit erörtert wurde. In Hinblick auf das Volk stand die Republik nicht schlicht in der Kontinuität zum Kaiserreich. Das Volk des Deutschen Reichs der Kaiserzeit war nicht identisch mit der deutschen Nation gewesen. Zum einen umfasste es nur einen Ausschnitt der deutschen Nation, denn es war das Ergebnis der „kleindeutschen“ Lösung unter Ausschluss des überwiegend katholischen Österreich; zum anderen gehörten dem „Reichsvolk“ auch Nationen an, die sich selbst nicht als deutsch verstanden: Nach der Volkszählung von 1900 sprachen von 56 Millionen der Gesamtbevölkerung als Muttersprache etwa 3 Millionen Personen polnisch, 100.000 französisch, 140.000 dänisch. Die heterogene Zusammensetzung der Bevölkerung war bereits im Kaiserreich ein vertrautes Problem, hatte aber kaum politisches Gewicht gehabt. Das änderte sich mit der auf dem Demokratieprinzip beruhenden Republik dramatisch. Die Frage, wie kollektives politisches Handeln organisiert werden soll, setzt die Klärung der Frage woraus, wer zum Volk gehört. Welcher Ausschnitt der Bevölkerung gehört zu jenem „Volk“, das entscheiden darf? Zählen zum Volk auch Personen außerhalb der Staatsgrenzen? Was qualifiziert eine Person, Volksherrschaft auszuüben, was sind die ausschlaggebenden Merkmale bzw. Eigenschaften? Umfasst der Staat als Inbegriff der politischen Institutionen genau ein Volk oder kann er auch mehrere Völker umfassen? Wie sind sog. nationale Minderheiten zu sehen? Gehören sie nicht oder nur bedingt zum „Volk“ oder umfasst das demokratische Volk alle „Volksgruppen“, nur nicht diejenigen, die außerhalb der Staatgrenzen leben? Ist der Staat also territorial von anderen Staaten abgegrenzt, umfasst dann das Volk schlicht alle Bewohner dieses Territoriums? Daraus ließe folgern, dass das Volk die Summe der Staatsangehörigen ist ungeachtet ihrer nationalen Zugehörigkeit. Auf der Ebene des Volksbegriffs wurden in der Weimarer Republik erbitterte Deutungskämpfe geführt: ist es die Nation, jener alte integrative Kernbegriff des Liberalismus, welches das demokratische Volk ausmacht, ist es ein Konglomerat sozio-ökonomischer Merkmale, die im Begriff der Klasse zusammenfallen, ist es die Rasse, ist es die Summe individueller Rechtsträger, also die Verfassung bzw. die Rechtsordnung, die festlegt, wer das Volk ist? Zwei Möglichkeiten der Festlegung der Verbindlichkeit in Personengruppen sind vorhanden: die Festlegung nach Kriterien der Mitgliedschaft und die Festlegung nach Merkmalen der Zugehörigkeit. Diese Unterscheidung hatte Friedrich Meinecke im Sinn, als er 1907 in seinem Buch „Weltbürgertum und Nationalstaat. Studien zur Genesis des deutschen Nationalstaates“ die in der Nationsforschung prägende Differenz von Staatsnation und Kulturnation formulierte. Wenn Meinecke bei dieser Unterscheidung gleichsam idealtypisch die französische Nation dem Typus der Staatsnation und die deutsche dem Typus der Kulturnation zuordnete, übersah er, dass die Realtypen nicht den Idealtypen entsprachen. Denn auch in Frankreich wurde die Nation nicht nur nach den Festschreibungen staatlichen Rechts erörtert, sondern mit Hilfe der Diskussion von Merkmalen der Zugehörigkeit, insbesondere den Merkmalen der Sprache und der Kultur, so wie umgekehrt

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die deutsche Nation ungeachtet der Verspätung der Nationalstaatswerdung die Nation auch vor 1871 nach Kriterien der Mitgliedschaft erörtert hatte, zumal in jenen Kreisen, welche die fehlende nationale Staatlichkeit bemängelten. Für die Theorie der politischen Verbindlichkeit ist es wesentlich, dass die politische Bindung sich erheblich intensiver gestalten lässt, wenn man sie mit Hilfe von Zugehörigkeitsmerkmalen festlegt als wenn man sich nur auf Kriterien der Mitgliedschaft beschränkt. Die Festlegung der Mitgliedschaft erfolgt in der Regel durch die Beschreibung der Rechte und Pflichten der Mitglieder und ist damit zwar für jede rationale Gestaltung der politischen Bindungen geeignet, es fehlt aber oft das emotionale Band, die Bemühung von Identitäten und Identifikationen. Letztere werden eher durch die Betonung von Zugehörigkeitsmerkmalen angesprochen, ob diese nun ethnisch, religiös, sprachlich, historisch oder allgemein kulturell angesprochen werden. Dabei ist aus der Sicht der Theorie politischer Verbindlichkeit nicht zu fragen, ob es Mitgliedschaftsrechte „gibt“ (etwa in Gestalt von für vorstaatlich erachteter Menschenrechte) oder den angesprochenen Zugehörigkeitsmerkmalen eine spezifische substantielle „Wirklichkeit“ zukommt, sondern nur, ob sie im politischen Deutungskampf erfolgreich sind bei der Orientierung des individuellen Handelns. Der Umstand, dass der Weimarer Republik ein auf dem Merkmal der Rasse definierte Herrschaft folgte, ist kein Beweis für die Existenz rassischer Merkmale, sondern nur Ausweis des Erfolges eines propagandistischen Deutungskampfes, das Merkmal der Rasse für ausschlaggebend zu erachten, ein Erfolg, der nicht dem argumentativen Gewicht geschuldet war, sondern der ideenpolitischen Konstellation, in welcher eine solche Behauptung verfangen konnte. Gerade Phasen der Gründung politischer Bindung und Phasen ihrer Infragestellung sind Zeiten der Zuhilfenahme von Bindungsfestlegungen auf der Basis von Zugehörigkeit. Doch für jede konkrete Festlegung von Bindungen ergibt sich die Notwendigkeit mitgliedschaftlicher Argumentationen, etwa in Gestalt von Verbindlichkeitsprogrammen wie Verfassungen. Die Auflösung der multinationalen Kaiserreiche als Ergebnis des Ersten Weltkrieges und die Gründung von Nationalstaaten brachte die Minderheitenproblematik in ganz Europa auf die Tagesordnung.13 Die Gebietsverluste als Folge der Niederlage im Ersten Weltkrieg klärten für Deutschland zunächst das nationale Profil, insbesondere durch die Abtretung polnisch-, dänisch- sowie französisch-sprachig bewohnter Gebiete. Andererseits schuf der Versailler Friedensvertrag das zahlenmäßig massive Phänomen von Deutschen als Minderheit im Ausland. Alleine in der Tschechoslowakei lebten 3 Millionen Menschen, die als deutschsprachig galten. 1921 lebten 1,1 Millionen deutschsprachige Personen in Polen (1931 waren es noch 739.000), 1 Million in Rumänien, Hunderttausende in Ungarn und Serbien, ferner gab es so genannte Baltendeutsche. Die so genannten Auslandsdeutschen wurden oft zusammenfassend unter dem Begriff des „Grenzlanddeutschtum“ erfasst, es war auch von „Volksdeutschen“ die   13 Motta (2013): Minorities.

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Rede. Es lag daher nahe, ungeachtet der Grenzen der Republik und seiner verfassungsmäßigen Festlegungen nach Sinn und Bedeutung des „deutschen Volkes“ zu suchen. Ein bekannter Vertreter dieser Richtung war Max Hildebert Boehm.14 Trotz der weiteren Entwicklung und Karriere dieses Ansatzes in Richtung eines völkischen Verständnisses des Volkes sollte nicht übersehen werden, dass zu Beginn der Weimarer Republik es nicht grundsätzlich verpönt war, die außerhalb des Geltungsbereichs der Verfassung lebenden „Deutschen“ zu thematisieren. Böhm lehrte etwa an der Hochschule für Politik.15 Für die Frage nach der Verbindlichkeit ist bedeutsam, dass die Thematisierung der Auslandsdeutschen dazu führen musste, den Begriff des Volkes über ein Modell der Zugehörigkeit, nicht der Mitgliedschaft zu erörtern. Über das verfassungsmäßige Volk hinaus konnte man durch die Betonung von Merkmalen der Zugehörigkeit ganze Personengruppen, die außerhalb des Staatsgebietes lebten, zum Volk hinzuzuzählen. Von hier war es dann kein weiter Weg, um aus der Festlegung qua Zugehörigkeit solchen Personen den Bürgerstatus abzusprechen, die ihn zwar „formal“ bzw. verfassungsförmig inne hatten, welche aber nicht die für erforderlich erachteten Merkmale aufwiesen, um auch als Angehörige des Volkes gelten zu können. Das galt für Merkmale wie die Rasse ebenso wie für das Merkmal der Klassenzugehörigkeit. In allen Spezialdiskursen, die sich mit dem Begriff des Volkes beschäftigten, erhielt die fachliche Diskussion in der ideenpolitischen Konstellation Weimars unweigerlich eine politische Dimension. Das galt für die junge Soziologie, die das Volk zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft einzuordnen versuchte, das galt auch für die junge Demographie als Bevölkerungswissenschaft16 sowie für die Theologie.17 Den Begriff des Volkes zu thematisieren war eines der Kennzeichen der politischen Ideologie der Konservativen Revolution.18 Auch in der Weimarer Staatslehre war der Begriff des Volkes umstritten.19 Angesichts der Bedeutsamkeit des Volksbegriffs für die Frage der politischen Verbindlichkeit konnte unter den Bedingungen Weimars ein offener, pluralistischer, damit aber auch gleichgültiger Volksbegriff keine Option sein.20   14 Hierzu Prehn (2008): Metamorphosen. 15 Boehm (1931): Erziehung zur Deutschtumspolitik; vgl. hierzu Bleek (2001): Geschichte der Politikwissenschaft, S. 208. 16 Weippert (2006): „Nehrung der Volkskraft“; Weippert (2007): Deutsche Demographen. 17 Tanner (1989): Verstaatlichung des Gewissens, S. 245–258; Weber (2000): Der biblische Volksbegriff, S. 28–60. 18 Breuer (1995): Revolution, S. 78–86. 19 Lepsius (2007): Wandlungen, S. 353 f., zwei konkurrierende Volksbegriffe in Weimar; Groh (2010): Demokratische Staatsrechtslehrer, S. 10–11, unterscheidet zwischen einem „antidemokratischen“ und einem „demokratischen“ Volksbegriff in der Staatsrechtslehre: jener „verkollektiviert und homogenisiert“, dieser vertritt einen „rechtlichen Volksbegriff“, wobei die Heterogenität und in Verfahren abgebildet werden, welche die „Komplexität akzeptierten, verarbeiteten und reduzierten“. 20 So aber Klein (2007): Gustav Radbruch, S. 171: Der offene pluralistischer Volksbegriff sei in der Weimarer Staatslehre noch nicht durchgedrungen.

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Der wichtigste Vertreter des auf Zugehörigkeit festgelegten Volksbegriffs in der Weimarer Staatslehre war Carl Schmitt. Er wollte den Begriff des Volks als zentralen Begriff der Demokratie konstruieren; das Volk im demokratischen Sinne ist in seinen Augen weder die kontingente Summe der aus Individuen zusammengesetzten Bevölkerung, noch eine aus Interessengruppen zusammengesetzte Gesellschaft. Vielmehr muss sich die Bevölkerung zum staatstragenden Volk konstituieren, und zwar auf der Grundlage einer Fundamentalentscheidung, der Entscheidung über Freund und Feind. Erst durch eine solche Entscheidung könne von einem politisch „existierenden“ Volk gesprochen werden.21 Nicht jedes Volk ist daher ein politisches Volk: entzieht sich die Bevölkerung der Zumutung des Politischen, die „Mühen und Risiken“ des Politischen zu schultern, ist es also zur Entscheidung zwischen Freund und Feind außerstande, so hört damit nicht die Politik auf, es verschwindet nur ein politisches Volk, wie es Schmitt formuliert.22 Ein politisch existierendes Volk ist „gegenüber dem natürlichen Dasein einer irgendwie zusammenlebenden Menschengruppe eine höhere und gesteigerte, intensivere Art Sein“.23 Als demokratische Substanz einer solchen Freund-Feind-Unterscheidung deklariert Schmitt die Nation. Das erklärt Schmitt mit Hilfe der überall beobachtbaren Tendenz, dass nur die Zugehörigen zu einer Nation als gleiche Staatsbürger der jeweiligen Nationaldemokratie anerkannt und gleichzeitig die Nichtzugehörigen ausgeschlossen werden, wenn es nicht sogar zur Vertreibung kommt. Das nannte Schmitt in der „Geistesgeschichtlichen Grundlage“ die Tendenz, „nötigenfalls die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen“24 vorzunehmen. Schmitts historisches Beispiel war die Vertreibung der Armenier durch die Türken. Was aus einer humanitär-universalistischen Perspektive ein empörender Vorgang erscheinen mag, war für Schmitt die in der Logik des Politischen liegende Reaktion eines Volkes, das seine politische Einheit sucht und durch die Sicherstellung seiner substantiellen Gleichheit ins Werk setzt. Für Schmitt nehmen die Zugehörigkeitsmerkmale, nach welchen er demokratische Völker unterscheidet, einen substantiellen, die Existenz ausmachenden Status ein. Das zeigt aber zugleich die Beschränktheit der auf Zugehörigkeit beruhenden Argumentation in Hinblick auf die politische Verbindlichkeit. Vermittlungen oder Kompromisse zwischen unterschiedlichen, miteinander konkurrierenden Zugehörigkeitsmerkmalen, der Minderheitenschutz etwa, eine der zentralen Fragen der jungen Nationaldemokratien Mittel- und Osteuropas nach 1918 mit ihren zahllosen Minderheiten, sind für Schmitt geradezu denkunmöglich. Hier erweist sich der große Vorzug der auf Mitgliedschaft basierten Festlegung politischer Verbindlichkeit. Sie beruht nicht auf der Annahme von eindeutigen Identitäten, sondern auf Vereinbarungen. Dazu gehört die Festlegung von Rechten und Pflichten. Gerade das Vorhandensein unterschiedlicher Zugehörigkeitsgemein  21 22 23 24

Schmitt (1928): Verfassungslehre, S. 210. Schmitt (1963): Begriff des Politischen, S. 54. Schmitt (1928): Verfassungslehre, S. 210. Schmitt (1985): Parlamentarismus, S. 14.

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schaften und der unklare Grenzverlauf zwischen Personengruppen mit diversen Zugehörigkeitsmerkmalen erzwingt eine Festlegung der Verbindlichkeit, die auf einer anderen Logik beruht. Aus der Sicht der Mitgliedschaft ist die Bindung von unterschiedlichen Personen zur politischen Ordnung nicht schon vorhanden, nur weil bestimmte Zugehörigkeitsmerkmale geteilt werden, sondern diese Bindungen müssen erst hergestellt werden. Sie müssen aber auch nicht identitätswirksam sein, sondern schlicht die politische Kooperation ermöglichen. Mitgliedschaftliche Bindungen haben aber einen Nachteil gegenüber der Zugehörigkeit: Es mangelt ihnen oft an der Intensität der Bindung, die es Mitgliedschaftsverbänden erschwert, in der Konkurrenz mit Zugehörigkeitsgemeinschaften zu bestehen. Gerade unter kompromisslosen Anhängern der Republik fanden sich Staatslehrer, die einen auf Mitgliedschaft beruhenden Volksbegriffs favorisierten. Hugo Preuss etwa sprach in seinem unvollendet gebliebenen Kommentar zur Verfassung davon, dass die „Urquelle des neuen Verfassungsrechts“ das Volk sei, aber „nicht das Volk als gestaltlose Summe der zufällig gerade nebeneinanderlebenden Einzelmenschen“, sondern „das organisierte Volk ist die Substanz des politischen Gemeinwesens“.25 Das legte das Schwergewicht auf die Frage der Institutionen und Verfahren: das Volk hat keinen demokratischen Willen vor seiner Organisierung, es kann sein Gemeinwohl nicht anders definieren als durch die verfahrensmäßige Durchführung der Willensbildung und Entscheidungsfindung selbst. Deutlicher wird das bei Hermann Heller, der zur politischen Leitaufgabe der Demokratie die Vermittlung der vorhandenen Gegensätze in der Bevölkerung erklärte, damit einheitliches kollektives Handeln überhaupt möglich wird. Heller wollte den „beklagenswerten“ Zustand der deutschen Staatslehre überwinden, die zu dem Kernsatz der Weimarer Reichsverfassung, wonach alle Gewalt vom Volke ausgeht, nichts zu sagen wisse.26 Hierbei unterscheidet Heller das politische Volk scharf von der Bevölkerung. „Voraussetzung jeder Staatsbildung ist die Betätigung eines gemeinsamen Willensgehaltes, der fähig ist, die ewig antagonistische gesellschaftliche Vielheit zur staatlichen Einheit zu integrieren. Denn der Staat, das Volk als politische Einheit, existiert weder vor noch über dem Volk als Vielheit, noch entsteht er durch ein bloß vernünftiges sich ‚Vertragen‘ dieser Vielheit. Entscheidend ist deshalb stets die Frage, wie viel als Einheit, als gemeinsamer ‚organischer‘ Willensgehalt in jedem Augenblick vorgegeben ist und wie viel rational vereinheitlicht, ‚organisiert‘ werden kann und muss. Politik ist immer Organisation von Willensgegensätzen auf Grund einer Willensgemeinschaft. [Abs.] In viel höherem Grade als die autokratische Staatsform ist die Demokratie von dieser vorgegebenen Einheit abhängig.“27

Die Abhängigkeit der Demokratie von ihren Bürgern bedeutet jedoch, dass das Verhältnis der Bürger zum Staat sich wandeln muss, wenn dieser eine Demokratie sein soll. Es muss auf Freiwilligkeit beruhen und Verantwortungsbewusstsein.28 Dazu gehört auch, dass der Staat nicht nur an der Erfüllung von Wünschen gemessen   25 26 27 28

Preuss (1928): Reich und Länder, S. 11 f. Heller (1971a): Souveränität, S. 98. Heller (1971e): Europa und der Fascismus, S. 467. Ebd., S. 609.

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werden darf, sondern die Bürger aus der Kooperation mit anderen Bürgern lernen müssen, ihre Forderungen an der Wirklichkeit zu orientieren, und nicht an ihren ideologischen Überzeugungen: Nicht durch verordnete Wahrheit, sondern nur „durch eigene politische Erfahrungen“ kann man die „harten Notwendigkeiten einer jeden politischen Form“ erkennen.29 Die Demokratie ermöglicht diesen Lernprozeß am besten, weshalb Heller sie auch allen anderen Staatsformen vorzieht. Aus diesem Grunde muß „ein bestimmtes Maß öffentlich-rechtlicher Freiheit des Individuums“ gewährleistet werden, aber man muss zugleich im Auge haben, dass zumal in der Krisensituation der angebrochenen 30er Jahre „jeder Exzeß der demokratischen Freiheit unerbittlich einen Schritt näher zur Diktatur führt“.30 Die Frage des Volkes in Hinblick auf die Festlegung der politischen Verbindlichkeit führte gerade bei den Vertretern eines mitgliedschaftlichen Verständnisses des Volkes zur Frage des Bürgers. Die mitgliedschaftliche Festlegung dessen, was die Bürger sind und was von ihnen erwartet wird, erfolgt meist in der Sprache von Rechten und Pflichten, so auch in der Weimarer Reichsverfassung. 4. PFLICHTEN Die Weimarer Verfassung statuierte in ihrem 2. Hauptteil die „Grundrechte“ zusammen mit „Grundpflichten“. Umstritten war besonders die Stellung der Grundrechte im System der parlamentarischen Demokratie. Je stärker der Parlamentarismus in die Krise geriet und damit der einfache Gesetzgeber fraglich wurde, desto aktiver bemächtigte sich die Staatslehre der Grundrechte, häufig als Gegengewicht zur Dynamik und Unsicherheit des Parlamentarismus gedacht,31 aber auch als Zielbestimmung und Direktive zwecks Legitimierung gesetzgeberischer Aktivität. Die Weimarforschung konzentriert sich bislang auf den Aspekt der Grundrechte und vernachlässigt den der Grundpflichten,32 wenngleich der Katalog der Pflichten in der Verfassung lang war. Es ist nach 1945 nicht gelungen, die nun ganz auf Rechten basierende Staatslehre um eine Pflichtenlehre zu ergänzen,33 diese hat sich auch nur rudimentär mit der Weimarer Diskussion beschäftigt. In der Aufzählung Hermann Hellers gehörten zu den „Grundpflichten des Deutschen, dem Staat allerlei persönliche Dienste zu leisten, ihn zu schützen (Wehrpflicht), Ehrenämter zu übernehmen, dem Staat durch Sachleistungen das materielle Dasein zu ermöglichen und durch Erfüllung der Schulpflicht an seiner Kulturaufgabe mitzuarbeiten.“34

  29 30 31 32

Ebd. Ebd. Stolleis (1999): Geschichte des öffentlichen Rechts, S. 110 ff. Groh (2010): Demokratische Staatsrechtslehrer, S. 409–462, erörtert in ihrem Abschnitt zu den demokratischen Grundrechtslehren die Grundpflichten nicht eigens. 33 Luchterhandt (1988): Grundpflichten; Schmidt (1999): Grundpflichten. 34 Heller (1971b): Grundrechte und Grundpflichten, S. 302.

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Ferner zählte Heller zu den Pflichten verstreute Aufgaben wie die Zeugnispflicht vor Gericht oder die Nothilfe bei Unglücksfällen sowie die Sozialpflichtigkeit des Eigentums, die Elternpflicht gegenüber ihren Kindern sowie die Arbeitspflicht. Andere republiknahe Staatslehrer reduzierten den Pflichtengedanken dagegen radikal auf die eine den Rechten komplementäre Pflicht, dem Recht Gehorsam zu leisten.35 Das hatte mit der liberalen Besorgnis zu tun, die Pflichten würden die Rechte relativieren. Die Weimarer Staatslehre hatte einige Mühe, den Begriff der Pflicht systematisch zu erfassen. Von Grundrechten zu sprechen war vertraut, diese regelten das Verhältnis des Einzelnen zum Staat, Gerichte verhalfen dem Inhaber von Rechten zu seinem Recht. Der Begriff der Grundpflichten, den die Verfassung aufnahm, war der Staatslehre dagegen weitestgehend unbekannt gewesen.36 Während die einen in den Grundpflichten nur programmatische Sätze sahen, die juristisch unerheblich waren, versuchten andere ihnen einen verfassungspolitischen Sinn abzugewinnen. Der führende und am meisten zitierte Kommentator der neuen Verfassung, Gerhard Anschütz, war der Auffassung, der Pflichtenbegriff müsse „juristisch betrachtet als ziemlich leer und inhaltslos“ angesehen werden.37 Diese Äußerung erfolgte im Rahmen seiner Kommentierung des Artikels 132 der Verfassung, welche die Pflicht jedes Deutschen zur Übernahme ehrenamtlicher Tätigkeiten statuierte, und bezog diese Einschätzung auch auf Art. 133, der alle Staatsbürger zu persönlichen Dienstleistungen für den Staat und die Gemeinde verpflichtete. Anschütz bemerkte jedoch an gleicher Stelle, dass eine solche „formaljuristische“ Betrachtung der „staatsethischen Bedeutung der Art. 132 und 133 nicht voll gerecht wird“.38 Doch „Staatsethik“ war für viele Staatslehrer, die der Republik aufgeschlossen gegenüber standen wie Anschütz und selbst bei solchen, die sie vehement verteidigten wie Hugo Preuss, eine zweischneidige Angelegenheit: Ethische oder sittliche Aussagen machten Versprechungen, die juristisch kaum verwirklicht werden können, schaffen dafür aber permanente Streitanlässe in der Verfassung, ohne die Konflikte tatsächlich lösen zu können. Daher bekannte Preuss,39 dass er in seinem ersten Entwurf auf die Aufnahme von Grundrechten ganz verzichtet hätte, ihrer Aufnahme nur zögernd zustimmte und nicht überrascht war, wie aufgebläht der 2. Hauptteil wurde, da mit der Aufnahme der Werte und Überzeugungen der einen auch die der anderen aufgenommen werden mussten: offene Abschnitte laden dazu ein, programmatisch gefüllt zu werden. Die Ablehnung von Preuss bezog sich auf Rechte wie Pflichten, beides sah er als Einfallstor politisch-ideologischer Überzeugungen, statt sich auf die Sicherstellung der Handlungsfähigkeit der Republik zu konzentrieren. Werte und Überzeugungen konnten die Bürgerschaft einen; waren sich die Bürger darin aber nicht einig, konnten sie umso mehr entzweien. Das mit der Auf  35 36 37 38 39

Thoma (1929 / 1930): Bedeutung, S. 2. Ebd., S. 28. Anschütz (1933): Verfassung des Deutschen Reiches, S. 614. Ebd., S. 614. Preuss (2008): Deutschlands republikanische Reichsverfassung, S. 349–354.

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nahme von Pflichten einhergehende zusätzliche Problem war ihre notwendige Allgemeinheit und Offenheit, die den Bedürfnissen juristischer Konkretion widersprach. Preuss beeilte sich aber, den eigentlichen, nicht im engeren Sinne juristischen Sinn der Aufnahme von Pflichten zu akzeptieren, nämlich die „Prinzipien sozialer Bindung und Rechtspflicht zur Geltung zu bringen“.40 Aber waren die Pflichten nur eine Möglichkeit, ethische oder sittliche Überzeugungen zum Ausdruck zu bringen und wandelten sie die Verfassung in ein Spielfeld programmatischer Deutungskämpfe, oder spiegelte sich in der Aufnahme von Pflichten auch ein Wandel des Verständnisses der Grundrechte, der mit einem Wandel des Verständnisses des Verhältnisses von Bürger und demokratischem Staat zu tun hatte? In Hellers Sicht legen die Grundpflichten Zeugnis ab von einem fundamentalen Wandel der Rechtsauffassung überhaupt, den die Weimarer Verfassung mit der Aufnahme von Pflichten anerkennt: Freiheit ist nicht mehr als Naturzustand des Individuums denkbar, woraus sich ein Verständnis der Grundrechte als bloße Abwehrrechte gegenüber staatlichen Interventionen ableiten würde, sondern es sind „Kulturrechte“, die dem Menschen „von der Gemeinschaft zuwachsen“.41 Erst die Macht des Staates gewährleistet demnach die gleichmäßige Freiheit der einzelnen. Um dies zu dokumentieren habe die Verfassung neben Grundrechte auch Grundpflichten gestellt. In den Pflichten komme der Gedanke zum Ausdruck, dass dem Recht der politischen Partizipation auch die Pflicht entspricht, für diesen Staat tätig zu werden. Da alle Gewalt vom Volk ausgeht, gibt es auch keine Gewalt, die dem Volk die Verantwortung für seinen Staat abnimmt, es muss sich selbst regieren. Im „Gleichmaß eines allgemeinen Rechts und einer allgemeinen Pflicht liegt das sittliche Pathos der Demokratie“.42 In Hinblick auf die sozialen und wirtschaftlichen Rechte und Pflichten spricht Heller selbst von juristisch schwer umsetzbaren programmatischen Sätzen, die zwischen einer liberal-bürgerlichen und einer proletarisch-sozialistischen Weltanschauung zu vermitteln trachten. Was aber in Hellers Augen mit diesen Rechten und Pflichten außer Zweifel gestellt wird, ist der Umstand, dass ein bestimmter „Geist der Auseinandersetzung“ festgelegt wird, wie die sozialen Gegensätze ausgetragen werden sollen: weder in Gestalt des marxistischen Klassenkampfes noch dem der Diktatur, sondern im Geiste „der Ausgleichung und möglichst zweiseitigen Übereinkunft zum Zwecke einer gerechten Güterverteilung“.43 Ganz anders als Heller und Preuss interpretierte Carl Schmitt die Aufnahme der Grundrechte. Er sah darin ein Überbleibsel des liberal-bürgerlichen Rechtsdenkens, deren Funktion darin bestand, dem demokratischen Staat individualrechtliche Hemmungen entgegenzustellen.44 Aus dieser Einstellung heraus, wonach Grundrechte nur liberale Abwehrrechte seien, erklärt sich auch, warum Schmitt den Grundpflichten keine eigenständige Bedeutung beimessen wollte, denn sie widersprachen   40 41 42 43 44

Ebd., S. 352. Heller (1971b) Grundrechte und Grundpflichten, S. 286. Ebd., S. 302. Ebd., S. 312. Schmitt (1928): Verfassungslehre, S. 163 ff., ferner 125 f., 158 f., 173.

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seinem Konzept. Wie er nämlich 1932 meinte, seien Grundpflichten „im bürgerlichen Rechtsstaat undenkbar“.45 Die in der Verfassung aufgenommenen Pflichten hätten auch keine eigene Bedeutung und dienten nur als Milderung des in der Grundrechtsidee zum Ausdruck kommenden „konsequenten Liberalismus“.46 „Allgemein demokratische Bürgerpflichten“, worunter Schmitt Treue, Staatsgesinnung, Widerstand gegen Verfassungswidrigkeiten, nationale Verteidigung und Schutz der Verfassung zählte, habe die Verfassung gerade nicht aufgenommen. Abgesehen davon, dass Schmitt die Liste der in der Verfassung aufgenommenen Pflichten verkürzte, denn die Verfassung sah sehr wohl die Wehrpflicht vor (durfte sie aber wegen des Versailler Friedensvertrages nicht umsetzen), wird in der Kontrastierung demokratischer Grundpflichten mit liberalen Grundrechten Schmitts Stoßrichtung deutlich: „Echte“ Pflichten gehören in den Bereich der demokratischen Idee, wogegen Grundrechte in seinen Augen für das als a-politisch charakterisierte liberale Denken sprächen. Wie sein Volksbegriff gezeigt hatte, beruht die Bindung der Bürger seiner Ansicht nach auf der konsequenten Umsetzung des maßgeblichen Zugehörigkeitsmerkmals, aus welcher die Freund-Feind-Unterscheidung resultiert. Die Möglichkeit einer Festlegung der Bindung durch die Bürger selbst, welche diese Bindung durch die gegenseitige Zuschreibung von Rechten und Pflichten reglementieren, lag außerhalb von Schmitts Verständnis politischer Verbindlichkeit. Die Pflichten konnten in erster Linie als Pflichten des Einzelnen gegenüber dem Staat thematisiert werden, zumal dort, wo sie komplementär zu den Rechten begriffen wurden. Dann musste nicht weiter danach differenziert werden, ob es sich um einen demokratischen Staat handelt oder nicht. Die Idee der Verpflichtung des Individuums gegenüber dem Staat löste liberale Abwehrreflexe aus, die wie bei Richard Thoma zu einer Haltung führten, Inhalt, Reichweite und vor allem die juristische Verpflichtungskraft der Pflichten zu minimieren. Rechte konnten in den Augen Schmitts aber nicht die für den Staat erforderliche Bindung der Bürger über Merkmale der Zugehörigkeit und nicht der Mitgliedschaft festlegen. Letzteres war Hellers Anliegen, der betonte, dass die Grundpflichten die Möglichkeit boten, das Bindungsproblem in mitgliedschaftlicher Hinsicht zu erörtern. Die Programmatik der Pflichten war hier ein probates, wenn auch wenig vertrautes Mittel, Verhaltenserwartungen zu thematisieren, die für das Gelingen der Demokratie als unerlässlich angesehen wurden. Pflichten waren daher nicht feudale Verpflichtungen der Untertanen gegenüber ihren Herren, sondern Ausdruck der neuartigen Stellung der Bürger, die für ihren eigenen Staat Verantwortung trugen, seine Handlungen erst ermöglichten und daher selbstverständlich auch in die Pflicht genommen werden konnten. Andererseits bedeutete die abschließende Aufzählung der Pflichten, dass über diesen programmatischen Katalog hinaus keine Pflichten durch einfaches Gesetz erzwungen werden konnten. Heller etwa war sich darüber im Klaren, dass die Verpflichtung des Bürgers in einer Demokratie letztlich auf Freiwilligkeit beruht,47   45 Schmitt (1958): Grundrechte und Grundpflichten, S. 216. 46 Ebd., S. 217. 47 Heller (1971b): Grundrechte und Grundpflichten, S. 302.

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damit die mit den Pflichten angesprochenen Handlungen auch ihren Zweck erfüllen. Die nicht aufgenommene Wahlpflicht etwa kann sich kontraproduktiv erweisen für die Sorgfalt des Wählers, die Organe des Staates auszuwählen. Ehrenamtliche Pflichten wie die in der deutschen Rechtstradition ältere Einrichtung des Geschworenengerichts mit seinem Laienanteil setzen eine Sorgfalt der Ausführung dieser Tätigkeit voraus, die nicht erzwungen werden kann, sondern eine intrinsische Motivation voraussetzt. Mit welchen gesetzgeberischen Maßnahmen die freiwillige und sorgfältige Erfüllung der Pflichten sichergestellt werden kann, damit die verfassungsmäßigen Grundpflichten nicht leere Worthülsen blieben, blieb dem Gesetzgeber vorbehalten. 5. SCHLUSS Somit ergibt sich, dass ein wesentlicher Teil der Weimarer Grundlagendebatte sich um die Frage der politischen Verbindlichkeit drehte. Der diskursive Ausschnitt (die Staatslehre) und die begriffliche Fokussierung auf den Volksbegriffs und den Pflichtenbegriff zeigen, wie die beiden Argumentationsweisen bei der Festlegung politischer Verbindlichkeit, Mitgliedschaft und Zugehörigkeit, am Werk waren. Wurde die Verbindlichkeit als Zugehörigkeit reformuliert, kam ein Volksbegriff zur Geltung, der auf die substantielle Überhöhung der Merkmale ausgerichtet war, die das Volk angeblich erst zu einem politischen Subjekt machten. Aus dieser Sicht musste die Frage nach dem Stellenwert von Grundrechten und Grundpflichten marginalisiert werden. Wer aber Verbindlichkeit auf der Grundlage von Mitgliedschaft definieren wollte, operierte mit einem auf Organisation beruhenden Volksbegriff und verstand die Rechte und Pflichten als die gegenseitigen Verhaltensberechtigungen und Verhaltenserwartungen der Bürger untereinander, die erforderlich erscheinen, um die demokratische Ordnung trotz der ideologischen Gegensätze und sozialen Heterogenität handlungsfähig zu halten. In beiden Fällen jedoch handelte es sich letztlich um eine im wesentlichen politische, nicht um eine juridische Argumentation: die Frage war nicht nur, wie die verfassungsmäßig vorgesehenen Institutionen und Akteure eingerichtet waren und miteinander kooperieren sollten, sondern worin die Bedingung der Möglichkeit ihres Wirkens bestand. Verbindlichkeit als Frage nach der Bindung der Bürger untereinander und an die politische Ordnung war dabei das zentrale Anliegen. Die Antworten changierten zwischen der Annahme, die Bürger müssten sich mit der politischen Ordnung identifizieren einerseits und dem Vorschlag, sie sollten wenigstens imstande sein, sich zu arrangieren. Die hieran anschließende Frage wäre, wie andere Teildiskurse der Weimarer Grundlagendebatte mit ähnlichen Problemen umgingen. Was die Pflichten für die Staatslehre war, mochte die Solidarität für den sozialistischen Diskurs sein, und der Begriff der Klasse ersetzte hier den des Volkes, denn auch hier stellte sich das Bindungsproblem: Wie verbindlich war die Weimarer Demokratie für jene, die sich eigentlich weder nach Volk noch Nation, sondern nach Klassen orientierten und

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nicht in Begriffen staatlicher Institutionen und ihrer Handlungsfähigkeit und Stabilität dachten, sondern in Begriffen der Revolution? Waren Anweisungen der revolutionären Zentrale in Moskau vorrangig, hatte die Partei immer Recht, war man also eine Art Soldat in einer revolutionären Armee? Oder aber legte man sich die Handlungsstrategien, die aus der Idee sozialistischer Revolution folgten, selbst zurecht, freilich um den Preis der Zersplitterung der politischen Bewegung? In welchen Begriffen wurde das Problem der Verbindlichkeit hier kommuniziert? Weimar ist ein unerschöpfliches Feld der Erforschung des politischen Denkens und der ideenpolitischen Deutungskämpfe. Die Vielgestaltigkeit und Grundsätzlichkeit der gestellten Fragen ist fester Bestandteil des Arsenals der Ideengeschichte und zugleich trägt dieser Umstand mit zum Verständnis dafür bei, mit welchen Problemen die Verteidiger der Republik zu ringen hatten. Das Problem der Verbindlichkeit konnte in Weimar angesichts der Ausgangslage, der Kürze der Zeit und des Ausmaßes der zu bewältigenden Probleme nicht gelöst werden, es wurde in den begleitenden und die Praxis reflektierenden theoretischen Diskursen erst allmählich erfasst und auf den Begriff gebracht, und zwar in kontradiktorischer Weise. LITERATUR Anschütz, Gerhard: Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11.8.1919. 14. Aufl., Berlin 1933, Neudruck dieser Ausgabe Darmstadt 1960. Bleek, Wilhelm: Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland. München 2001. Boehm, Max Hildebert: Erziehung zur Deutschtumspolitik. In: Jäckh, Ernst (Hrsg.): Politik als Wissenschaft. Zehn Jahre Deutsche Hochschule für Politik. Berlin 1931. Breuer, Stefan: Anatomie der Konservativen Revolution. 2. Aufl., Darmstadt 1995. Groh, Kathrin: Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik. Von der konstitutionellen Staatslehre zur Theorie des modernen demokratischen Staates. Tübingen 2010. Heller, Hermann: Die Souveränität. Ein Beitrag zur Theorie des Staats- und Völkerrechts. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 2. Hrsg. von Martin Draht, Gerhart Niemeyer, Otto Stammer und Fritz Borinski. Leiden 1971a, zuerst 1928, S. 31–202. Ders.: Grundrechte und Grundpflichten. In: Teubners Handbuch der Staats- und Wirtschaftskunde, 1. Abteilung: Staatskunde, Bd. 2. 1. Heft Leipzig und Berlin o.J (1924), S. 1–23, zitiert nach: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 2. Hrsg. von Martin Draht, Gerhart Niemeyer, Otto Stammer und Fritz Borinski. Leiden 1971b, zuerst 1928, S. 281–318. Ders.: Freiheit und Form in der Reichsverfassung. Rede zur Verfassungsfeier des Deutschen Studentenverbandes. In: Die Justiz 5 (1929/1930), Heft 11, S. 672–77, zitiert nach: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 2. Hrsg. von Martin Draht, Gerhart Niemeyer, Otto Stammer und Fritz Borinski. Leiden 1971c, zuerst 1928, S. 371–377. Ders.: Politische Demokratie und soziale Homogenität. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 2. Hrsg. von Martin Draht, Gerhart Niemeyer, Otto Stammer und Fritz Borinski. Leiden 1971d, zuerst 1928, S. 421–433. Ders.: Europa und der Fascismus. In: Ders.: Gesammelten Schriften, Bd. 2. Hrsg. von Martin Draht, Gerhart Niemeyer, Otto Stammer und Fritz Borinski. Leiden 1971e, zuerst 1928, S. 463–609. Jellinek, Georg: Allgemeine Staatslehre. Hrsg. von Walter Jellinek. 3. Aufl. 1914, 5. Nachdruck, Berlin 1929, Nachdruck dieser Ausgabe Kronberg Ts. 1976. Klein, Martin D.: Demokratisches Denken bei Gustav Radbruch. Berlin 2007.

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DIE WEIMARER REPUBLIK UND DIE EUROPÄISCHE DEMOKRATIE Tim B. Müller So klangen Stimmen des Jahres 1933: „Kann die Demokratie überleben?“ fragte ein prominenter Publizist. Die „Demokratie in der Krise“ beschrieb ein bekannter politischer Professor, der fürchtete, dass „wir unmittelbar vor dem Abgrund stehen“. Beides waren keine Wortmeldungen aus Deutschland, sie bezogen sich auch nicht auf die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten. Es waren Äußerungen britischer Intellektueller, die das Ende der Demokratie im Vereinigten Königreich und auf der ganzen Welt fürchteten: Leonard Woolf, der seine Frage an das Massenpublikum der BBC richtete, und Harold Laski in seinem auch in den Folgejahren noch aufgelegten Buch „Democracy in Crisis“, das die Selbstheilungskräfte der Demokratie nicht ignorierte, aber den gewaltsamen Zusammenbruch der sozialen und internationalen Ordnung für wahrscheinlicher hielt.1 Es handelt sich nicht um vereinzelte Stimmen, und die jüngste Forschung nimmt die Krise der britischen Demokratie und die Krisenwahrnehmung der Zeitgenossen wieder ernst.2 Auch aus den Vereinigten Staaten wurde damals Ähnliches berichtet. Im Mai 1932 war im Senat der Satz zu hören: „Wenn dieses Land jemals einen Mussolini nötig hatte, dann jetzt.“ Der republikanische Senator, der ihn aussprach, war zuvor als extremer Einwanderungsgegner bekannt geworden. Jetzt stand seine Stimme für die vieler anderer. Meinungseliten und Politiker teilten diese Auffassung: die amerikanische Demokratie am Abgrund; der Kongress überfordert und zu nichts anderem in der Lage, als Lobbyisten zu gefallen; Rufe nach einer Stärkung der Exekutive und einem entschlossenen Führer. Der prominente protestantische Denker Reinhold Niebuhr fürchtete 1933 um das Schicksal der amerikanischen Demokratie: „Ein sterbender Kapitalismus steht unter dem Zwang, die Demokratie abzuschaffen oder einzuschränken.“ Walter Lippmann, damals vielleicht der bekannteste politische Journalist, setzte seine Hoffnungen auf einen starken neuen Präsidenten. Der 1933 ins Amt eingeführte Franklin Delano Roosevelt sollte wegen des wirtschaftlichen Notstands mit diktatorischen Vollmachten ausgestattet werden; Lippmann verordnete der amerikanischen Republik „strong medicine“. Und selbst der Präsident deutete an, dass die Demokratie scheitern könnte.3 Die umgekehrte Perspektive könnte aus Deutschland kommen und auf die deutsche Demokratie blicken – der Überraschungseffekt ist heuristisch aufschlussreich, sollte aber nicht über die Vielzahl der Stimmen hinwegtäuschen, die seit dem ersten   1 2 3

Woolf / Lord Perry (1933): Can Democracy Survive?; Laski (1935): Democracy in Crisis, S. 9. Vgl. etwa Pugh (2006): Fascism in Britain, S. 314 f.; Overy (2009): The Morbid Age. Ira Katznelson (2013): Fear Itself, S. 12, 39 f., 98 f., 104 f., 114 f., 118 f., 122 f.

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großen Wahlerfolg der NSDAP 1930 eine ernste Bedrohung der Demokratie thematisierten, wenn es auch fast niemanden unter den gemäßigten politischen Debattenteilnehmern gab, der das Ende der Demokratie für wahrscheinlich hielt.4 So legte etwa der Ökonom und Zentrumspolitiker Ferdinand Aloys Hermens, Schüler Joseph Schumpeters und später Vertrauter Heinrich Brünings, 1931 eine scharfsinnige Studie über den Zusammenhang von „Demokratie und Kapitalismus“ vor, in der er die globale „Unausweichlichkeit der Demokratie“ beschrieb, auch aus ökonomischen Gründen, die auf die Deutungsmuster späterer Jahrzehnte vorauswiesen: „Überall da, wo der moderne Kapitalismus seine volle wirtschaftliche und soziale Ausprägung gefunden hat, [ist] eine andere Staatsform als die Demokratie mit ihm auf die Dauer nicht verträglich.“ Die „augenblickliche Bedrohtheit der deutschen Demokratie“ durch Wahlerfolge von Extremisten nahm er ernst, konstatierte aber: „Eine ernsthafte Gefahr für die deutsche Demokratie dürfte trotzdem nicht gegeben sein.“5 Dieses Urteil blieb auch im weiteren Verlauf der Krise 1932/33 bestehen. „Der Wendepunkt ist da“, stellte schließlich die „Frankfurter Zeitung“, das führende liberal-demokratische Blatt der Weimarer Republik, in ihrem zweiseitigen Leitartikel zu Neujahr 1933 fest, den Rudolf Kircher, der die Linie der Zeitung prägende politische Korrespondent in Berlin, verfasst hatte. Der „Umschwung“ war „tiefgreifend und vor allem: er erstreckt sich auf alle dafür wesentlichen Gebiete“ – Wirtschaft, Innenpolitik, Außenpolitik, die „geistige Gesamtlage“. Überall waren deutliche Zeichen der „Entspannung“ zu erkennen. Am wichtigsten war, dass „der gewaltige nationalsozialistische Angriff auf den demokratischen Staat“ nicht nur „abgeschlagen“, sondern durch einen „mächtigen Gegenangriff“ der Regierung beantwortet worden war, was zur „Entzauberung der NSDAP“ geführt hatte. Gerade die Strategie des Reichskanzlers Kurt von Schleicher hatte Kircher zufolge dazu beigetragen, „den Nationalsozialisten die Serie von Mißerfolgen und Verlusten beizubringen, die erstmals in großem Stil bei den Reichstagswahlen vom 6. November (wo die NSDAP zwei Millionen Stimmen verlor) festzustellen waren“. Für die klugen Köpfe der „Frankfurter Zeitung“ galt als erwiesen, „daß nichts falscher ist, als den Geist der freiheitlichen Demokratie in Deutschland totzusagen“. Zwar hatten die Parteien im Jahr 1932 gelitten, „aber die Demokratie hat nicht weiter gelitten; sie hat während des letzten halben Jahres geradezu einen Triumph erlebt.“6 Kircher stand nicht allein mit seiner Einschätzung, die nicht vorschnell als Fehleinschätzung denunziert werden sollte – es sei denn, man ist davon überzeugt, dass das kurz darauf Geschehene auch das historisch einzig Mögliche war, Geschichte also keine Offenheit kennt. Aber muss man, um mehr zu begreifen, nicht schärfer darüber nachdenken, warum noch Ende 1932, Anfang 1933 der linksliberale jüdische Ban  4 5 6

Eine ältere Dokumentation, in der sich jedoch nur wenige Beiträge auf den medialen Mainstream beziehen und eher die intellektuellen Produzenten des Krisendiskurses in den Blick genommen werden, liefert Koebner (Hrsg.) (1982): Weimars Ende. Hermens (1931): Demokratie und Kapitalismus, S. v f. Kircher (1933): Ein Jahr deutscher Politik, S. 1 f.

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kier Siegmund Warburg sich vorstellen konnte, als demokratischer Wirtschaftsreformer in die Politik zu gehen?7 Oder warum für den später als Totalitarismustheoretiker und Lehrer der außenpolitischen Elite Amerikas prominenten Politikwissenschaftler Carl J. Friedrich zum gleichen Zeitpunkt feststand, dass Deutschland eigene demokratische Traditionen ausgebildet hatte und es in der Weimarer Republik keinen politischen Horizont jenseits der Demokratie gab, auch wenn ungewiss war, wie die Demokratie aus der Krise hervorgehen würde: „whether Germany will turn definitely toward the American system of a presidential republic, will muddle along with its present plan of parliamentarism in good times and presidential dictatorship in bad ones, or will cast its vote for a constitutional monarchy, as exists in the other Germanic nations of Europe: Holland, the Scandinavian kingdoms, and England.“

Zuversichtlich erklärte Friedrich in seinem am Jahresende 1932 verfassten Aufsatz, der am Erscheinungstermin im Frühjahr 1933 bereits von den Ereignissen überholt worden war: „Germany will remain a constitutional, democratic state with strong socializing tendencies whose backbone will continue to be its professional civil service.“8 Eine scheinbar verkehrte Welt tritt hier der historischen Forschung entgegen, die sich weniger durch die Erkundung nationaler Geschichten als durch eine vergleichende Auseinandersetzung mit der transnationalen Problemgeschichte der Demokratie erschließen lässt. Die Weimarer Republik stand nicht nur als Staat der Kriegsverlierer in einem Spannungsverhältnis zu Europa oder zu dem nicht selten mit den Kriegsgegnern gleichgesetzten „Westen“.9 Sie war selbst ein integraler Bestandteil der Geschichte Europas oder des „Westens“ nach dem Ersten Weltkrieg. Dieser Satz, der eine triviale Einsicht formuliert, trifft nicht nur auf die ökonomischen Verflechtungen, den Völkerbund oder die multiplen sozialpolitischen Beobachtungs- und Kooperationsverhältnisse zu.10 Auch in der transnationalen Geschichte der modernen – von den Zeitgenossen bereits als liberal und sozial bezeichneten – Demokratie nimmt die Weimarer Republik eine besondere Rolle ein. Zwar setzte die historische Demokratieforschung schon seit längerem beim Selbstverständnis der deutschen Republik von 1919 als Demokratie an.11 Doch ganz abgesehen von den normativen Prämissen dieser Demokratieforschung, handelte es sich dabei nicht um den Mainstream des Fachs. Demokratiegeschichte stand kaum   7

Vgl. Ferguson (2011): High Financier, S. 66–70; Warburgs Erwartung war bis zuletzt, dass am Ende der Krise eine reformierte Republik ähnlich der französischen oder amerikanischen stehen und die Nationalsozialisten nicht die Herrschaft übernehmen würden. 8 Friedrich (1933): Executive Power in Germany, S. 203. Zu seiner Biographie in Weimar und Amerika vgl. Greenberg (2014): The Weimar Century. 9 Vgl. zum Begriff des „Westens“ Bavaj / Steber (Hrsg.) (2015): Germany, darin besonders den Beitrag von Llanque zur Ausbildung des Begriffs der „westlichen Demokratie“ im Ersten Weltkrieg. 10 Vgl. aus der jüngeren Forschung etwa Tooze (2014): The Deluge; Kott / Droux (Hrsg.) (2013): Globalizing Social Rights; Rodgers (1998): Atlantic Crossings. 11 Vgl. bereits Schulz (1963–1992): Demokratie und Diktatur, 3 Bde.; sowie die neueren Beiträge in Gusy (Hrsg.) (2000): Demokratisches Denken; Gusy (Hrsg.) (2008): Krise; Wirsching (Hrsg.) (2007): Herausforderungen.

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im Mittelpunkt der klassischen Weimar-Forschung seit 1945.12 Zusammen mit der Frage der Demokratie – den Fragen nach den Kulturen und Ideen, Formen und Wandlungen, Herausforderungen und Krisen, Grenzen und Möglichkeiten der Demokratie – trat allerdings auch die europäische Dimension der politischen Entwicklung zumeist in den Hintergrund. Ein europäischer Blick lässt schnell erkennen, dass es keinen Standardweg zur Demokratie gab, kein Idealmodell existierte und die Demokratie im 19. Jahrhundert keine etablierte Herrschafts- oder Sozialordnung darstellte, sondern als agonales Konzept in der Gegenwart, das in sich vielfältig war und in der Auseinandersetzung mit konkurrierenden politischen Konzepten stand, eingesetzt wurde und ein universaler Erwartungsbegriff hinsichtlich der Zukunft blieb. Die Demokratie gab es nicht einfach immer schon seit dem Zeitalter der Revolutionen; die Demokratie wurde in einer widersprüchlichen und langwierigen Abfolge von politischen Handlungen geschaffen und permanent verändert. Was die Demokratiegeschichte als Demokratie „in the making“ diskutiert, gewann nicht vor der Jahrhundertwende, zumeist nicht einmal vor der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weitreichende Akzeptanz, womit die anhaltende demokratische Dynamik aber längst nicht stillgestellt war.13 Dass sich die Massendemokratie international als politische Praxis erst um die Zeit des Ersten Weltkrieges herausbildete, in Skandinavien, Deutschland oder Großbritannien, mit einer partiell früheren, partiell aber auch späteren Formierung in Frankreich oder den Vereinigten Staaten von Amerika, dass sich also mit dem Auftreten der Demokratie um 1918 keine Ausdifferenzierung, sondern eine Synchronisierung nationaler Geschichten ereignete14 – solche Grundeinsichten der jüngeren Forschung blieben einer Zeitgeschichte verschlossen, die von einer nationalen Pädagogik im Zeichen des „Sonderwegs“ und der Enthistorisierung eines Demokratiemodells im Zeichen des Kalten Krieges durchdrungen war. Fragen nach den Kontinuitäten und Brüchen der deutschen Geschichte lagen diesen älteren Debatten zugrunde. Wissenschaftlich unhaltbare, politisch aufgeladene, theoretisch unbefriedigende Hierarchisierungen und Vereinseitigungen nationaler Geschichten wurden vorgenommen; die Rede von der „verspäteten Nation“ war nur eine Variante dieser von politisch-therapeutischen Imperativen geleiteten Historiographie, die ihre normativen Prämissen für selbstverständlich hielt.15   12 Auch nur die allerwichtigste Literatur anzuführen, würde jedes Maß sprengen; einen ausgezeichneten Überblick über die Forschung bietet Wirsching (2008): Weimarer Republik; eine anregende Analyse der Deutungs- und Erzählmuster in der Forschung Ziemann (2010): Weimar; eine gelungene neue Synthese Büttner (2008): Die überforderte Republik. 13 Rosanvallon (2006): Democracy, S. 66; vgl. etwa Innes / Philp (Hrsg.) (2013): Re-imagining Democracy; Mager (2004): s.v. Republik; Meier et al. (2004): s.v. Demokratie; Nord (1998): The Republican Moment; Rosanvallon (1998): Le Peuple introuvable; Rosanvallon (2000) : La Démocratie inachevée. 14 Vgl. etwa Kurunmäki / Strang (Hrsg.) (2010): Nordic Democracy; McCarthy (2012): Whose Democracy?; Müller / Tooze (Hrsg.) (2015): Normalität und Fragilität; Nord (2012): France’s New Deal; Sejersted (2011): Social Democracy. 15 Vgl. Koselleck (2000c): Deutschland – eine verspätete Nation?, mit dem klärenden Hinweis zu Helmuth Plessners Buchtitel „Die verspätete Nation“: „Der abwägende Text Plessners hat durch den aufgesetzten Titel eine Zuspitzung erfahren, die der Text selber nicht hergibt. Aber

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Vielleicht ist es angemessen, an dieser Stelle nicht nur an Marc Blochs professionelle Grundregel zu erinnern, dass die „Manie des Urteilens“ ein „teuflischer Feind“ der Geschichtswissenschaften sei,16 oder mit Reinhart Koselleck an das „Ethos der Gerechtigkeit“ als Tugend des Historikers zu appellieren.17 Die politisch-moralische Lesart der deutschen Geschichte untergräbt in letzter Konsequenz, indem sie durch „kausale Verdopplung“ des Geschehenen den „Anschein einer Notwendigkeit“ beschwört, ihre eigenen guten Absichten: „Ein Ereignis ist niemals deshalb mehr eingetreten, weil es eintreten musste. Hinter solchen Kausallineaturen lauern Kurzschlüsse und Vereinfachungen – post hoc, ergo propter hoc. Damit lässt sich alles beweisen. Was aber mit derartigen Axiomen verfehlt wird, ist ausgerechnet jener moralische Anspruch, der mit der kausalgenetischen Sonderwegthese erhoben werden soll. Denn die freie Verantwortung derer, die gehandelt haben, also der wirklichen Täter, wird verschluckt von einer übermächtigen Geschichte.“18

Schon Hannah Arendt hatte in ihrem großen Buch über die Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft festgehalten: „Zu erklären ist das totalitäre Phänomen aus seinen Elementen und Ursprüngen so wenig und vielleicht noch weniger als andere geschichtliche Ereignisse von großer Tragweite.“ Dem „Glaube an Kausalität in den Geschichtswissenschaften“ hielt sie vor, „ein Aberglaube“ zu sein, auch in seiner abgeschwächten Gestalt als historisches Verstehen einer Entwicklung. „In beiden Fällen wird das eigentlich neu sich Ereignende, womit die Geschichtswissenschaft es jeweilig zu tun hat, aus der Geschichte entfernt.“ Was auch immer seine Ursprünge waren: Der Nationalsozialismus konnte Arendt zufolge nur als ein Neues beschrieben werden, das „den Kontinuitätszusammenhang unserer Geschichte und die Begriffe und Kategorien unseres politischen Denkens sprengt“.19 Diesen Charakter der nationalsozialistischen Herrschaft, das fundamental Neue, den Bruch, die Gewalt, stellen wichtige aktuelle Beiträge wieder ins Zentrum der Forschung.20 Das bedeutet im Umkehrschluss: Über die Demokratie vor 1933 lässt sich nur wenig in Erfahrung bringen, wenn vor allem über 1933 hinausreichende Kontinuitäten das Forschungsinteresse bestimmen. Zugleich ist auch die Demokratie vor 1933 als etwas Neues zu erfassen, das erst in Ansätzen als eigenständiges Phänomen untersucht wurde. Im Gegensatz zu diesen Fragen, die um die Deutung der deutschen Geschichte kreisen, tritt mit dem jüngsten Interesse an der Demokratie ein transnationales, europäisches, globales Problem in den Vordergrund.21 Darin spiegelt sich auch ein   16 17 18 19 20 21

so hat er seitdem gewirkt: normativ richtend“ (S. 363). Vgl. auch Nipperdey (1990): Kontinuität. Bloch (2007): Apologie der Geschichtswissenschaft, S. 37. Koselleck (2000b): Geschichte, Recht und Gerechtigkeit, S. 338; vgl. auch Müller (2009): Arbeiter und Dichter. Koselleck (2000c): Deutschland – eine verspätete Nation?, S. 379. Arendt (1996): Elemente und Ursprünge, S. 946 f. Die politische Zäsur von 1933 betonen in der jüngsten Forschung etwa Eley (2013): Nazism as Fascism; Evans (2015): The Third Reich; auch Wachsmann (2015): KL. Vgl. etwa Gijsenbergh et al. (Hrsg.) (2012): Creative Crises; auch Nolte (2013): Jenseits des Westens?, der allerdings die Demokratiegeschichte der Zwischenkriegszeit als katastrophale

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mit dem historischen Erfahrungswandel verbundener Wechsel der methodischen Perspektive:22 Während jede nationalzentrierte Untersuchung der deutschen Demokratie zwangsläufig in eine Variation über das Thema deutscher Sonderentwicklungen mündet, ist die Frage nach der Stabilität und Instabilität von Demokratien heute auch angesichts von Gegenwartsdiagnosen keine deutsche Frage mehr. Der vergleichende Blick auf die Demokratiegeschichte, die Rekonstruktion ihrer transnationalen Zusammenhänge, ihrer Entstehungs- und Handlungskonstellationen, ihrer Eigendynamiken nach 1918 legt einer theoretisch reflektierten Geschichtswissenschaft nahe, die „Möglichkeitsstruktur“ der Demokratiegeschichte zu erschließen,23 um deterministische Setzungen zu korrigieren, die nur aus einer exklusiv nationalen Perspektive plausibel erscheinen, ohne damit umgekehrt historisch Ungleiches und Unverbundenes über einen Kamm zu scheren. Einen Schlüssel dazu bieten historische Rekonstruktionen der zeitgenössischen Debatten und Selbstverständigungen, der Auseinandersetzungen um die deutsche Demokratie als etwas Neues und Unwiderrufliches, als etwas, was nicht selbstverständlich war und doch selbstverständlich werden sollte, was eine Tradition hatte und das zu errichten zugleich viele Gesellschaften erst im Begriff waren, etwas Fragiles, aber Widerstandsfähiges, noch zu Lernendes und bereits zu Bewahrendes. Zu rekonstruieren bleibt im Hinblick auf die Geschichte der deutschen Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg, „wie historische Akteure ihre Situationen verstanden und welchen Sinn sie ihnen zuschrieben, die Ähnlichkeiten und die Gegensätze wiederzuentdecken, auf deren Grundlage sie ihre Handlungen planten, die Genealogien des Möglichen und des Unmöglichen zu skizzieren, die implizit ihren Horizont strukturierten“.24

Die Kategorien des Politischen, die Begriffe der Demokratie sind zu historisieren, als in ihre Kontexte eingebundene Sprechakte, als situativ intervenierende, auf Realitäten reagierende und Realitäten konstituierende Argumentationsmuster.25 Zur Ausbildung eines demokratischen Erwartungshorizonts in der politischen Kultur der Weimarer Republik lässt sich auf der Grundlage einer großen Zahl neuerer Forschungen, deren unterschiedliche Deutungen es zusammenzuführen gilt, mehr sagen als noch vor einigen Jahren, wenn auch die Lücken erheblich bleiben.  

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Durchgangsstation teleologisch abwertet; als multinationalen Deutungsversuch Müller (2014a): Lebensversuche; zur transnationalen Orientierung der jüngsten Forschung Föllmer (2011): Nationalism, Consumption, and Political Culture. Vgl. Koselleck (2000a): Erfahrungswandel und Methodenwechsel. Koselleck (1989b): Zufall, S. 165 f.; Koselleck (1989c): Standortbindung und Zeitlichkeit, S. 205 f. Rosanvallon, Democracy, S. 66. So 1972 bereits, Reformulierungen dieses Ansatzes durch Skinner oder Rosanvallon vorwegnehmend, Koselleck (1989a): Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte, S. 117–120. Begriffe sind demnach nicht nur „Indikator“ der von ihnen erfassten politisch-sozialen Zusammenhänge, sondern auch „Faktor“, d.h. sie verändern selbst die sozialen und politischen Bedingungen: „Mit jedem Begriff werden bestimmte Horizonte, aber auch Grenzen möglicher Erfahrung und denkbarer Theorie gesetzt“ (S. 120).

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Ein wichtiger Augenblick in der historiographischen Revision des klassischen Weimar-Bildes, das letztlich immer wieder die real existierende Gesellschaft und Politik der Weimarer Republik an nicht problematisierten Normen späterer Epochen maß, war 1987 die Publikation von Detlev Peukerts Interpretation der Weimarer Republik, die wohl wie keine andere seither die Forschung inspirierte. Peukerts Deutung machte das Doppelgesicht von Fragilität und Kreativität deutlich, das diese Geschichte kennzeichnete.26 Einen weiteren großen Schritt bedeuteten die Arbeiten von Thomas Mergel, allen voran seine Studie über den Aufbau von Gesprächsgrundlagen und das Einüben von Konfliktaustragungsmodi im Reichstag. Demokratie wurde hier nicht als etwas Fertiges präsentiert, an das sich anzupassen oder das umzusetzen es gegolten hätte, sondern Demokratie wurde als nicht-linearer, neuartiger Lern- und Gewöhnungsprozess sichtbar.27 Ähnlich wegweisend waren die Forschungen von Benjamin Ziemann und anderen, die die lange vorherrschende Vorstellung von der Omnipräsenz und Unbeherrschbarkeit der politischen Gewalt, die nach wie vor unwillkürlich viele Darstellungen infiltrierende These vom permanenten offenen oder latenten Bürgerkrieg, widerlegten und damit der Weimarer Demokratie neue Lebenschancen eröffneten.28 Von fundamentaler Bedeutung war auch die Neubewertung ihrer politisch-kulturellen Ausgangsbedingungen: Das Einüben der Demokratie im Kaiserreich durch Wahlen und auf anderen Gebieten wurde intensiv erforscht,29 demokratische Politiker vor dem und im Ersten Weltkrieg erfuhren eingehendere Aufmerksamkeit,30 die Forderung nach dem demokratischen „Volksstaat“ in den Vorkriegs- und Kriegsjahren gilt nicht mehr als marginal, und die Vielstimmigkeit der demokratischen Debatte im Krieg wurde wiederentdeckt,31 die Akzeptanz, ja das offensive Eintreten für demokratische Standards durch die seit 1917 selbstbewusst und regierungskritisch agierende Reichstagsmehrheit wurde herausgearbeitet.32 Die großen Debatten der frühen Republik wurden als Kontroversen um die Demokratie und um den Begriff des Volks, als dem Träger der Demokratie, gedeutet. Damit traten zugleich die demokratischen Traditionen hervor, in die sich die neue Demokratie von 1918/19 in ihren Selbstverständigungen stellte.33 Entscheidend waren auch die historischen Arbeiten, die daran erinnerten, dass Krise nicht Untergang bedeutet und das Reden von der Krise zur modernen Gesellschaft und Demokratie gehört. Der Begriff der Krise selbst erfuhr eine methodisch   26 Vgl. Peukert (1987): Weimarer Republik. 27 Vgl. Mergel (2012): Parlamentarische Kultur; Mergel (2005): Erwartungsstrukturen. 28 Vgl. Ziemann (1997): Front und Heimat; Ziemann (2003): Germany; Ziemann (2014); Kriegserinnerung; Reichardt (2009): Faschistische Kampfbünde; Schumann (2001): Politische Gewalt. 29 Vgl. etwa Anderson (2000): Practicing Democracy; Kühne (2005): Demokratisierung und Parlamentarisierung. 30 Vgl. etwa Lehnert (Hrsg.) (2011): Hugo Preuß. 31 Vgl. etwa Bruendel (2003): Volksgemeinschaft oder Volksstaat; Breundel (2013): Verfassungsdiskussion; Llanque (2000): Demokratisches Denken im Krieg. 32 Vgl. etwa Ribhegge (1998): Frieden für Europa; Tooze (2014): The Deluge, S. 108–123. 33 Vgl. etwa Bollmeyer (2007): Der steinige Weg; Gruhlich (2012): Geschichtspolitik.

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reflektierte Analyse als zeitgenössisches Argumentationsmuster. Die Vielzahl der zeitgenössischen Thematisierungen von Krisen zeigte weder das Ende der Demokratie an noch grundsätzlich die Ablehnung der modernen Welt. Der Krisenbegriff war semantisch schillernd und strategisch einsetzbar; er ging nicht mit einer ubiquitären Krisenwahrnehmung oder Untergangsstimmung einher. Im Gegenteil konnten sich in ihm auch optimistische Hoffnungen artikulieren: Krise stand auch für die Öffnung von Gestaltungsmöglichkeiten, für Zukunftschancen und demokratische Kreativität. Krisenrhetorik stellte ein Element der Ordnungskonstitution dar. Ihre Absicht bestand auch darin, den Entscheidungsdruck in politischen Fragen zu erhöhen.34 Die Vielfalt der politischen Kultur, die Offenheit der Begriffe, die Stärke des Pluralismus, der Wehrhaftigkeit der Weimarer Demokratie, die Stabilisierung der Zukunftserwartungen, die Gewöhnung an die Demokratie und die wachsende Akzeptanz gegenüber der, ja Zustimmung zur demokratischen Ordnung von Anfang an bis zu ihrer Zerstörung 1932/33 – als die offizielle Mitgliederzahl des demokratieloyalen Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold die von Stahlhelm, SA und Rotfrontkämpferbund zusammengenommen noch um das Dreifache überstieg – sind in der Forschung wieder deutlich in Erscheinung getreten. Michael Dreyer insbesondere hat die dringend notwendige Erforschung der Weimarer Republik als „wehrhafte Demokratie“ wieder auf die Tagesordnung gesetzt.35 Zum Pluralismus ist zudem anzumerken, dass die jüngere Forschung im Gegensatz zu einigen etwas älteren Beiträgen im Staatsrecht ebenso wie in der Politik Verständnisse politischer Repräsentation herausarbeiten konnte, die keinesfalls eine Identität des Willens von Volk und Regierung unterstellten. Politik wurde vielfach pluralistisch gedacht, als durch Parteien und sozialen Gruppen moderierte Austragung von Interessengegensätzen.36 In dieser Hinsicht stifteten die damals verbreiteten Gemeinschaftsbegriffe lange Zeit Verwirrung, die oft nicht begriffsgeschichtlich übersetzt, sondern in einem methodischen Kurzschluss als Vorboten der NS-Volksgemeinschaft gedeutet wurden. Wenn in der Weimarer Republik Begriffe der Gemeinschaft und des Allgemeininteresses im Namen der Demokratie mobilisiert wurden, handelte es sich weder um ein deutsches Sondervokabular – es gab Entsprechungen in der amerikanischen, britischen oder französischen politischen

  34 Vgl. etwa Hardtwig (Hrsg.) (2007): Ordnungen; Föllmer / Graf (Hrsg.) (2005): Krise; Graf (2008): Krisen und Zukunftsaneignungen. 35 Vgl. etwa Dreyer (2009): Ein unterschätztes Vorbild; Evans (2015): The Third Reich; Hardtwig (Hrsg.) (2010): Politische Kulturgeschichte; Groh (2010): Demokratische Staatsrechtslehrer; Lehnert (Hrsg.) (2013): Gemeinschaftsdenken in Europa; Lehnert / Megerle (Hrsg.) (1993): Pluralismus; Ziemann (2014): Kriegserinnerung. 36 Gegen z.B. Lepsius (2002): Staatstheorie, vgl. jetzt Groh (2010): Demokratische Staatsrechtslehrer; Lehnert (2012): Staatsdenken.

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Sprache – noch um eine Infragestellung von pluralistischer Diskussion und Parlamentsdebatte.37 Umgekehrt war die Feier des Individuums keineswegs allein Demokratien vorbehalten.38 Diese Begriffe zeigten keine Defekte von Demokratien an; sie waren vielmehr Ausdruck von politischen Grundverständigungen, auch über das Verhältnis von sozialer Ungleichheit und Demokratie.39 Zwar ist es verständlich, wenn retrospektiv in Gemeinschaftsbegriffen immer schon der antiliberale Wunsch nach ethnischer Homogenität und sozialer Exklusion erkannt wird;40 aber das wird der Vielfalt der politischen Debatte nicht gerecht. Gemeinschaftsbegriffe konnten und können liberal und pluralistisch sein41 – und sie waren ein unverzichtbares Element der Diskussionen über die Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg in Europa. „Volksgemeinschaft“ als sozialdemokratisches und bürgerlich-liberales Konzept stand in der Weimarer Republik auch für die Aussicht, alle Schichten und Gruppen in die neue Demokratie zu integrieren.42 Überzeugend lässt sich die pluralistisch-inklusive demokratische Funktion von Gemeinschaftsbegriffen wie „Volksheim“ und „Mitbürgerheim“ auch in der schwedischen Diskussion der 1930er Jahre rekonstruieren.43 Der Begriff „Gemeinschaft“ und seine Entsprechungen liefern selbst also keine Erklärungen, sie können nur Ausgangspunkt kontextsensibler Untersuchungen sein. Im Hinblick auf die demokratische Verwendung von Gemeinschaftsbegriffen und generell auf zeitgenössische Vorstellungen der gerade selbstverständlich gewordenen Demokratie liefert die Rhetorik Weimarer Regierungen markante Beispiele, besonders emphatisch das Kabinett des sozialdemokratischen Reichskanzlers Gustav Bauer. Dieser deutsche Regierungschef, der die Annahme des Versailler Vertrags verteidigte und die Verabschiedung sowohl der Weimarer Reichsverfassung als auch der großen Steuerreform verantwortete, bekannte sich in seiner Regierungserklärung am 23. Juli 1919 enthusiastisch zur Demokratie: „Wir nehmen diesen Ruf von jenseits der Grenzen auf, wir sind einig im Glauben an die Unbesiegbarkeit der Demokratie, die nicht nur die Gleichheit zwischen den Volksgenossen, sondern auch die Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit zwischen den Völkern, den Völkerbund erschaffen muss.“44

  37 Zur Prominenz von Kollektivbegriffen im britischen Liberalismus und in der anglophonen politischen Debatte vgl. etwa Freeden (1978): The New Liberalism; Freeden (2005): Liberal Languages; Jackson (2007): Equality; Kloppenberg (1988): Uncertain Victory; Rodgers (1988): Atlantic Crossings; zur französischen Gemeinschaftsrhetorik Kott (1996): Gemeinschaft oder Solidarität?; vergleichend: Rosanvallon (2013): Gesellschaft der Gleichen, S. 21–91, 197–246. 38 Vgl. Föllmer (2013): Individuality and Modernity. 39 Vgl. etwa Heller (1992): Politische Demokratie, S. 427 f., 430 f. 40 Vgl. etwa Wildt (2007): Volksgemeinschaft, S. 11–13, 26–68, besonders S. 53, Anm. 84; Mergel (2011): Democracy and Dictatorship, S. 424 f., 428, 430 f., 433, 447. 41 Vgl. etwa Freeden (2005): Liberal Languages, S. 38–59; Lichtblau (2000): „Vergemeinschaftung“. 42 Vgl. Hardtwig (2013): Volksgemeinschaft im Übergang. 43 Vgl. Lundberg (2015): „Volksheim“ oder „Mitbürgerheim“? 44 Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Stenographische Berichte (Sten. Ber.), Bd. 328, 64. Sitzung, 23.7.1919, Berlin 1920, S. 1852.

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Die nationale Perspektive ist hier grundsätzlich überschritten, die Volksgemeinschaft in der demokratischen Völkergemeinschaft aufgehoben. Eine europäische Intertextualität der neuen Realität der Demokratie klingt in diesen Worten ebenso an wie eine optimistische Erwartung für die Zukunft. Was die internationale Perspektive betraf, sprach Bauer vom Verzicht der Staaten „auf einen Teil ihrer Souveränität“ als dem „höchste[n] Ziel“ der Außenpolitik im Rahmen des Völkerbunds. In seiner Rede fächerte Bauer den Demokratiebegriff in vier Dimensionen auf, was typisch für die Bandbreite des Demokratieverständnisses war: erstens Demokratie als Volkssouveränität und Selbstherrschaft der Bürger; zweitens Demokratie als Kultur, Sittlichkeit, Alltag und Lebensweise; drittens Demokratie als Institutionenordnung und Staatsverwaltung, als Gefüge des guten Regierens; und viertens die soziale, wirtschaftspolitisch aktive Demokratie.45 Politische Kultur und politische Ökonomie, Verfahren und Verfassungsinstitutionen gehörten für zeitgenössische Demokraten in Europa und darüber hinaus untrennbar zusammen. Demokratiegründung bedeutete für diese Protagonisten einer Demokratie „in the making“ mehr, als nur die Institutionen der parlamentarischen Demokratie zu errichten: Bauer stellte sich in die Kontinuität der Revolution von 1848 und ihrer Forderung nach politischer und sozialer Demokratie. Seiner Rhetorik gemäß handelte es sich bei der Republikgründung um die Wiederbegründung der deutschen Demokratie. Deutschland erschien dabei als Avantgarde eines internationalen Prozesses, der zum fortwährenden Ausbau der Demokratie führte: „Kein anderes Volk kann sich solch reiner Demokratie rühmen.“ Das verdankte die deutsche Republik den noch unvollendeten „demokratischen Errungenschaften“ und der „Demokratisierung“ in allen Lebensbereichen, beginnend mit der Bildung. Bauer ging es um die Ermöglichung und Absicherung der Demokratie als Lebensweise, um das „sittliche Bewußtsein“, um eine Erzählung und eine Kultur der Demokratie. Die Ausübung der Volkssouveränität setzte den „Geist“ der Demokratie voraus, und diesen „Geist“ zu fördern war die politische Aufgabe der Demokratie: „Im neuen Deutschland bestimmt“ das Volk „selbst seine Geschicke und ist sein Wille das oberste Gebot“; darum musste die Regierung den Bürgern „die Erwerbung“ der „Sachkenntnis und Erfahrung“, die zum Regieren nötig waren, „möglich machen, damit die Demokratie in der deutschen Republik keine Äußerlichkeit, sondern der Geist des Volkes werde“.46 Die Sorge um die politische Kultur war charakteristisch für viele Demokratien nach dem Ersten Weltkrieg.47 Doch die von Bauer hervorgehobenen Bemühungen um eine demokratische Kultur, die bei Bildung und Erziehung ansetzten und in Schul- und Universitätsreform, Volkshochschulen, demokratischer Publizistik, öffentlichen Festen und Republikfeier zum Ausdruck kamen, sind für Deutschland bislang nur in Ansätzen   45 Sten. Ber., Bd. 328, S. 1843–1852; vgl. dazu Müller (2014a): Lebensversuche, S. 74–113. 46 Sten. Ber., Bd. 328, S. 1843 f. 47 Vgl. etwa Katznelson (2013): Fear Itself; Lundberg (2015): „Volksheim“ oder „Mitbürgerheim“?; McCarthy (2012): Whose Democracy?; McCarthy (2007): Interwar Britain; Müller (2014a): Lebensversuche, S. 79–88; Nevers (2010): Danish Political Thought; Sejersted (2011): Social Democracy, S. 50–98, 106–121, 154–172.

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erforscht.48 Gewissermaßen in Umkehrung der berühmten These des Verfassungsrichters Ernst-Wolfgang Böckenförde, wonach der freiheitliche Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann – aber nicht im Gegensatz zu Böckenfördes Ansichten, die die entscheidende Rolle der Erziehung für die Demokratie betonen49 –, herrschte unter führenden Protagonisten der Republik die Überzeugung vor, dass die Demokratie ihre eigenen Voraussetzungen schaffen musste und sich eine politische Kultur der Demokratie durch die Demokratie selbst kultivieren ließ. Wie sehr diese Anstrengungen aufgrund anachronistischer Demokratieverständnisse in der Forschung unterschätzt werden, zeigt etwa die Diskussion um die Deutsche Hochschule für Politik, eine Institution des internationalen Austauschs und der Professionalisierung von nationalen Verwaltungseliten, ein nicht zu unterschätzendes Element demokratischer Legitimitätsstiftung.50 Das Selbstverständnis von Beteiligten, dass diese ein „Ort der Erziehung zur politischen Verantwortung und Demokratie“ gewesen sei, lässt sich nur durch Loslösung aus den historischen Kontexten bezweifeln. Die Handelnden mögen gegenwärtigen Idealvorstellungen nicht immer entsprochen haben, aber an diesem Ort bewies die Demokratie ihre Integrationskraft: Über Parteigrenzen hinweg identifizierten sich hier politische und administrative Eliten willentlich oder faktisch mit dieser Demokratie.51 Ein öffentliches Symbol für die wachsende Akzeptanz der Demokratie waren 1925 die Trauerfeiern für Friedrich Ebert, die die ganze Nation erfassten. Bis ins deutschnationale Lager hinein wurde der erste Präsident der Republik gewürdigt.52 Sein gegen einen Kandidaten der Mitte nur knapp ins Amt gewählter Nachfolger Paul von Hindenburg bekannte sich demonstrativ zur demokratischen Verfassung. Er wurde zu diesem Zeitpunkt noch als „Verkörperung des nationalen Einheitswillens“, vielleicht sogar als Galionsfigur der Integration von bürgerlichen Rechtsparteien in die Republik betrachtet.53 Die junge Republik hatte da wie andere Demokratien in Europa auch bereits etliche Krisen gemeistert und stand in den Augen vieler als alternativlos da. 1928 hatten selbst intellektuelle Gegner ihren Frieden mit   48 Vgl. etwa Achilles (2010): Reforming the Reich; Hung et al. (Hrsg.) (2012): Beyond Glitter and Doom; Lehnert / Megerle (Hrsg.) (1990): Politische Identität; Rossol (2010): Performing the Nation. 49 Vgl. Böckenförde (2011): Wissenschaft, Politik, Verfassungsgericht. 50 Vgl. Nickel (2004): Politikwissenschaft; Korenblatt (2006): A School for the Republic?; Rausch (2007): „Scientific Philanthropy“; Saunier (2003): Administrer le monde?; zur demokratischen Legitimität durch Verwaltung Rosanvallon (2010): Demokratische Legitimität. 51 Bethke (2013): Arnold Brecht, S. 45; Ebd.: S. 37–45 findet sich die Fortführung einer älteren Kritik, die „Ambivalenzen“ generell als Mängel beurteilt und nicht als das historisch Übliche betrachtet. Dabei wird Demokratie zu sehr mit Sozialdemokratie identifiziert und die Integrationskraft der Demokratie zu gering veranschlagt: Wenn sich auch Deutschnationale an der Hochschule einfanden, spricht das eher dafür; die Deutung blickt vom Ende zurück, Demokratie wird als etwas Fixiertes und nicht als Lernprozess gedacht. Zu wenig Beachtung erfährt, wie viele Lehrende 1933 ins Exil mussten oder dass die demokratische Geschichtswissenschaft dort ihre Heimat gefunden hatte. Vgl. dagegen Nickel (2004): Politikwissenschaft. 52 Vgl. Meissner (1988): Erinnerungen; o.A. (1927): Friedrich Ebert. 53 Pyta (2009): Hindenburg, S. 474.

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der Demokratie gemacht. Der Geschäftsführer des Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verbandes, einer mit der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) verbundenen Angestelltengewerkschaft, verlangte von seiner Partei, sich nicht nur taktisch, sondern aus Überzeugung der Demokratie zu öffnen. Die DNVP hatte sich an Regierungen beteiligt und den noch sehr weiten Weg zur konservativ-demokratischen Volkspartei eingeschlagen. Allerdings formierten sich gegen die „stille Demokratisierung“ auch rechtsradikale Gegenkräfte in der Partei.54 Auch indem Bauer vom demokratischen Staat sprach, setzte er eine demokratische Tradition fort. Bereits die Diskussionen während des Krieges hatten betont, dass der Weg zur Demokratie als Ordnung sowohl „der bürgerlichen Gleichberechtigung“ als auch „der sozialen Gerechtigkeit“ über die „demokratische Durchdringung des Staates“ führte, über die Verbindung von „parlamentarischem System“ und „demokratisch-sozialistischem Verwaltungsstaat.“55 „Verantwortungsvolles“ Regieren, worauf sich die Regierung Bauer verpflichtete, spiegelte sich in der Steuergesetzgebung wider. Eine angemessene fiskalische Handlungsgrundlage verschafften sich die modernen Staaten in den Jahrzehnten seit 1900 durch Einkommenssteuern, die nicht nur der Finanzierung öffentlicher Aufgaben, sondern auch der Bekämpfung der Armut dienten.56 In Deutschland sorgte erst die Demokratie für eine nationale Einkommenssteuer in nennenswertem Umfang. Bauer kündigte in seiner Regierungserklärung die Steuerreform an, die ab 1920 ausgeführt wurde und mit dem Namen des Finanzministers Matthias Erzberger verbunden ist. Neben der Haushaltsdeckung war Umverteilung ihr erklärtes Ziel: Das ganze System der Besteuerung sollte „bewusst und planvoll auf das Ziel eines Vermögensausgleichs“ hinwirken. Es handelte sich um eine „neue, von sozialer Gerechtigkeit getragene Steuergesetzgebung“. Diese Demokratie verstand sich als eine soziale Demokratie, die nach Sozialgesetzgebung und öffentlicher Versorgung, aber auch nach einem wirtschaftspolitisch aktiven Staat verlangte. Auch hier nahm die deutsche Republik teil an einer synchronen, westeuropäischen und transatlantischen Problematisierung und Etablierung einer demokratischen Wirtschaftspolitik – die Genesen der praktizierten Massendemokratie und der Wirtschaftspolitik als staatlicher Aufgabe überlappten einander in diesem Prozess.57 Gerade das umkämpfte Feld der Wirtschaftspolitik zeigte, wie sehr demokratische Vorstellungen die politischen Optionen strukturierten. „Form“ und „Inhalt“ des „deutschen Wirtschaftslebens“, erklärte Bauer 1919, blieben in der Zukunft der demokratischen Diskussion überlassen. Mit den notwendigen gesetzlichen Regelungen sei „die Zeit der gewaltsamen Umwälzung für jeden demokratisch Denkenden abgeschlossen“. Zwar erklärte Bauer, die „Idee des Kapitalismus“ abzulehnen,   54 Vgl. Dreyer (2009): Ein unterschätztes Vorbild; Jackisch (2012): The Pan-German League, S. 154; Nielsen (2015): Verantwortung und Kompromiss; Mergel (2012): Parlamentarische Kultur, S. 323–331 spricht von „stiller Republikanisierung“. 55 Mager (2004): s.v. Republik, S. 642 f. 56 Vgl. Rosanvallon (2013): Gesellschaft der Gleichen, S. 198–203, 218–222. 57 Vgl. Müller (2014b): Demokratie und Wirtschaftspolitik; zur Steuerreform Epstein (1976): Matthias Erzberger.

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doch was er damit meinte, war eine Reform des Kapitalismus: Es fand sich weiterhin Platz für den „Unternehmer“ in der demokratischen Wirtschaftsordnung, in der jedoch „über das Privatinteresse das Allgemeininteresse“ gesetzt werden sollte.58 Bauer fühlte sich dem in der öffentlichen Debatte zu bestimmenden demokratischen „Allgemeininteresse“ verpflichtet, wies jedoch populäre Erwartungen zurück, das Mandat seiner Regierung erstrecke sich auf die Einführung einer Planwirtschaft. Sein Verständnis von Repräsentation unterstellte keine Identität des Willens von Volk und Regierung, Politik dachte er pluralistisch. Wie weit Reformen der Wirtschaftsordnung reichen würden, war immer wieder neu zu diskutieren: „Wen das Volk in die Regierung einsetzt, der kann sein Wirtschaftsideal verwirklichen, soweit sich Ideale verwirklichen lassen [...] Nach den politischen werden wir auch die wirtschaftlichen Schicksalsbestimmungen in die Hand des Volkes selbst legen.“ Die Demokratie sollte jedoch auch ins Wirtschaftsleben einziehen: „Dazu bedarf es eines Wirtschaftsprogramms, das nicht negativ in der Ablehnung der sogenannten ‚Planwirtschaft‘ bestehen darf, sondern positiv zu planvoller, zielklarer Wirtschaftspolitik führen muss.“59 Demokratische Vorstellungen lagen auch dem zugrunde, was die konkret wirtschaftspolitisch Verantwortlichen, etwa der Staatssekretär Julius Hirsch, für sagbar und machbar hielten. In einer Rede auf dem „Bundestag“ des Deutschen Verkehrsbundes in München 1925 zeigte er, dass sich über die Wirtschaft nicht neutral streiten ließ, dass jedes ökonomische Interesse sich als objektiv zu artikulieren versuchte, dass dieser Streit zur Demokratie gehörte. Für eine demokratische Streitkultur kam es jedoch darauf an, dass die Öffentlichkeit, die Wähler, die Bürger politische Urteilskraft entwickelten und auch auf dem unübersichtlichen Feld konkurrierender wirtschaftlicher Ansprüche die Orientierung und damit ihre Entscheidungsfähigkeit behielten. Die Wirtschaft war kein dem allgemeinen Urteil entzogenes Reich der Experten, kein Naturphänomen. Die Wirtschaft wurde gestaltet – von denen, die Wirtschaft als „Beruf“ betrieben, und von den Bürgern. Doch Urteilskraft setzte Anstrengung voraus. Die Demokratie, von der Hirsch sprach, hatte nicht nur soziale und ökonomische, sondern auch epistemische Voraussetzungen. Es war eine Debattendemokratie, eine deliberative Demokratie, die von informierten, zumindest informationsbereiten Diskussionssteilnehmern lebte, was wiederum Bildung und Wissen – gerade über die Wirtschaft – zur politischen Priorität werden ließ. Was es jedoch nicht geben durfte, und angesichts der Ungewissheit und Parteilichkeit ökonomischer Expertisen auch gar nicht geben konnte, war eine privilegierte Position der wirtschaftlichen Fachleute: „Es ist in der Demokratie immer falsch, sich auf irgend jemand zu verlassen. Es ist der Sinn der Demokratie, daß die öffentliche Kritik einsetzt, daß niemand an den Fragen, die sein Lebensschicksal bedeuten, vorübergehen darf, indem er etwa sagt, er verstehe nichts davon. Die anderen nämlich, glauben Sie mir, verstehen es auch nicht besser.“60

  58 Sten. Ber., Bd. 328, S. 1847. 59 Sten. Ber., Bd. 328, S. 1847 f. 60 Hirsch (1925): Wirtschaftsentwicklung und Wirtschaftsdemokratie, S. 17.

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Die verbreiteten Schlagworte der „Sozialisierung“ und „Betriebsdemokratie“, deren Bedeutung, aber auch Widersprüche er nicht ignorierte, waren jedoch ausdrücklich nicht die Fragen, auf die Hirsch die Aufmerksamkeit lenken wollte. Er zeigte vielmehr den „Weg von der Sozialpolitik zur Wirtschaftspolitik“. Ihm lag die res publica, die Demokratie selbst am Herzen, der „Weg zur wirklichen Mitbestimmung“, zur politischen Partizipation. „Die Demokratie ist kein Geschenk, sie ist nur die Freigabe eines Kampfbodens, der sich langsam zugunsten des Arbeitnehmertums verschiebt.“ Diesen Kampf musste jeder aufnehmen und nicht der Selbsttäuschung erliegen, dass es in der Demokratie mit dem Wahlakt getan sei: „Viele verstehen den Begriff der Demokratie sehr falsch. Das Mittel der Demokratie ist die Wahl. Wenn aber jemand denkt, er hätte seine Pflicht getan, wenn er gewählt hat, so ist das falsch.“ Demokratie musste gelebt werden, sie lebte vom Willen zur politischen Verantwortung: „Der Arbeitnehmer redete von der Ergreifung der politischen Macht nach der Revolution, der Arbeitgeber ergriff die politische Macht. Demokratie ist kein Ruhekissen, sondern, wie ich schon sagte, ein Kampfboden. Wer ihn betritt, muß nicht nur mitfuchteln, sondern auch die Regeln des Kampfes kennen.“61

Wenn einer der führenden Wirtschaftsbürokraten der Republik so sprach, ein vermeintlicher Technokrat und Sozialplaner, ist es mehr als berechtigt, auch Annahmen in Frage zu stellen, die in den letzten Jahren vorschnell das in konkreten Zusammenhängen nützliche Deutungsmuster des „social engineering“ zum politischen Grundzug des Zeitalters nach dem Ersten Weltkrieg ausgeweitet – und damit die Geschichte der Demokratie ausgeblendet – haben. Diese historiographische Perspektive reicht weit über Deutschland hinaus, wenn sie auch besonders von deutschen Fachvertretern eingenommen wird: Staat und Verwaltung finden sich dann in der Erforschung von Expertenkulturen und von „social engineering“ wieder, die überaus wichtig für das Verständnis des 20. Jahrhunderts ist,62 mittlerweile aber ihren Gegenstand häufig verselbständigt oder überschätzt. Der Staat und seine Verwaltung waren nicht völlig von Sozialexperten dominiert. Diese operierten vielmehr in begrenzten Arbeitsfeldern und innerhalb politischer Rahmensetzungen, verstanden jedoch mitunter, wie Gunnar und Alva Myrdal in Schweden, ihre eigene Bedeutung medial zu inszenieren.63 „Social engineering“ legt als Interpretament nicht selten nahe, politische Grenzen überschreiten zu können, die sich nur um einen hohen intellektuellen Preis ignorieren lassen. Das politische Experiment der Demokratie „in the making“ wird letztlich in ein Kontinuum gestellt, das im Fa  61 Ebd., S. 19–23. 62 Vgl. die unverzichtbaren grundlegenden Beiträge von Raphael (1996): Verwissenschaftlichung des Sozialen; Raphael (2001): Organisation totalitärer Herrschaft. 63 Vgl. etwa Etzemüller (Hrsg.) (2009b): Ordnung; Etzemüller (2010): Romantik; zur Kritik Müller (2012): Schweden. Plausiblere, nicht auf „social engineering“ zugeschnittene Erzählungen der schwedischen Geschichte im 20. Jahrhundert bieten etwa Berggren (2011): Wunderbare Jahre; Lundberg (2015): „Volksheim“ oder „Mitbürgerheim“?; Sejersted (2011): Social Democracy. Soziale und ökonomischen Fragen wurden demnach zunehmend in der Sprache der Demokratie verhandelt, nicht von Experten oder Sozialingenieuren bestimmt.

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schismus, Nationalsozialismus oder Stalinismus endet. Allzu leicht werden relevante politische Kontexte ignoriert und lediglich situativ bedingte Ähnlichkeiten moderner Staaten essentialisiert.64 Die demokratischen Kontexte und Intentionen der Handelnden werden dann marginalisiert. Die von Ludwig von Mises und Friedrich August Hayek, Urvätern des Neoliberalismus, geprägte Denkfigur des Kontinuums oder der „slippery slope“,65 die über die postmoderne Theorie (von Zygmunt Bauman bis Giorgio Agamben) auch bei progressiven Historikern angekommen ist,66 unterstellt dem Staat autoritäre, paternalistische, die Freiheit erstickende Absichten und übersieht, dass man auf jeder Stufe anhalten kann und in der Geschichte des Politischen scheinbar feine Distinktionen den Unterschied ums Ganze ausmachen, vor allem wenn das Leben und die Würde von Menschen betroffen sind. Bezeichnend ist, dass Wolfgang Schivelbuschs Polemik „Entfernte Verwandtschaft“, eine Zitatencollage ohne Quellenkritik und Berücksichtigung des Forschungsstands, immer wieder kritiklos und als Beleg für die angebliche Nähe von demokratischen und totalitären Staaten zitiert wird.67 So gerät die Demokratie völlig aus dem Blick. Die transnationale Erforschung des demokratischen Staates der Zwischenkriegszeit bleibt ein Desiderat.68 Im Gegensatz zu diesen eher von aktuellen Theoriekonjunkturen und Forschungsparadigmen geleiteten Ansätzen der europäischen Geschichte der Zwischenkriegszeit plädiert dieser Beitrag für transnationale Untersuchungen, die beim Problembewusstsein der Zeitgenossen ansetzen; „soziale und politische Begriffe der Vergangenheit im Medium der damaligen begrifflichen Abgrenzung und im Selbstverständnis der vergangenen Sprachgebrauchs“ der Handelnden (die auch in Form von Sprechakten handelten) aufschlüsseln; „all jenen ‚aktiven‘ Vorstellungen“ Aufmerksamkeit widmen, „die das Handeln leiten, das Feld des Möglichen   64 Ein Beispiel, das statt von „social engineering“ noch von „Sozialdisziplinierung“ spricht, ist das für seine Darstellung früherer Perioden viel gepriesene Werk von Reinhard (2002): Geschichte der Staatsgewalt. 65 Vgl. Mises (1922): Die Gemeinwirtschaft; Mises (1926): Sozialliberalismus; Mises (1944): Bureaucracy; schon Mises (1920): Wirtschaftsrechnung; Hayek (1997): Serfdom; vgl. zu diesen Diskussionen und zur historischen Genealogie des Neoliberalismus Tribe (1995): German Economic Discourse, S. 140–168; Burgin (2012): The Great Persuasion; Jones (2012): Masters of the Universe, S. 30–84. 66 Vgl. etwa Baberowski / Doering-Manteuffel (2006): Ordnung durch Terror; Etzemüller (2010): Romantik, S. 13–16, 103; Etzemüller (2009a): Social engineering als Verhaltenslehre, S. 28 f; Wildt (2006): Sind die Nazis Barbaren? 67 Vgl. etwa Doering-Manteuffel (2008): Ordnung jenseits der politischen Systeme; DoeringManteuffel (2009): Konturen von „Ordnung“, S. 56; Gosewinkel (2008): Zwischen Diktatur und Demokratie, S. 327; Hesse (2010): Wirtschaftspolitische Bewältigungsstrategien, S. 315; Metzler / van Laak (2006): Konkretion der Utopie, S. 23; Plumpe (2007): Der Reichsverband der Deutschen Industrie, S. 156. 68 Wie man Parallelen untersuchen kann, ohne die demokratische Politik des „New Deal“ der Praxis der Faschisten und Nationalsozialisten anzunähern, zeigt Patel (2003): „Soldaten der Arbeit“; jetzt auch Patel (2016): New Deal. Bereits Katznelson (2013): Fear Itself, betont die oft übersehene parlamentarische Dimension des New Deal und belegt, wie sich gerade aus der starken Stellung der Legislative das größte Problem des „New Deal“ ergab: nicht die Nähe zum Faschismus, sondern die Hinnahme der Rassentrennung in den Südstaaten.

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durch das des Denkbaren begrenzen und den Rahmen für Kontroversen und Konflikte abstecken“; rekonstruieren, „wie historische Akteure ihre Situationen verstanden und welchen Sinn sie ihnen zuschrieben“.69 Für die Geschichte nach dem Ersten Weltkrieg wird man dann dem deutschen, europäisch-atlantischen und in Grundzügen globalen Problem der Demokratie nicht ausweichen können. Demokratie war die vielleicht wichtigste politische Idee nach dem Ersten Weltkrieg, der Kristallisationspunkt ebenso großer Hoffnungen wie Enttäuschungen.70 Der Ruf nach Demokratie war überall und von allen Seiten zu hören. Selbst Adolf Hitler sprach 1924/25 noch von der „germanischen Demokratie“.71 Es ist jedoch an der Zeit, die weit verbreitete These einer pathologischen Demokratisierung nach 1918, wie sie die wegweisende Interpretation von Mark Mazower vertritt, eingehend zu überprüfen.72 Die jüngste Forschung legt eine andere Sichtweise nahe. Sie hat die Stabilität und Vitalität vieler Demokratien belegt – ohne damit pathologische Tendenzen und die potentielle Instabilität sozialer Ordnungen, auch von Demokratien, zu unterschlagen.73 Das Leitmotiv vieler neuer Fallstudien und Deutungsansätze zur Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg lässt sich bei den Zeitgenossen finden: der Versuch, eine zugleich liberale und soziale Demokratie zu errichten – politische Gleichberechtigung und Teilhabe aller Bürger in Verbindung mit der sozialpolitischen, wohlfahrtsstaatlichen Ermöglichung politischer Partizipation: Darin gipfelte die Erwartung einer „Verwirklichung der Demokratie“.74 Die Weimarer Republik war dabei Teil einer transnationalen Entwicklung. Auch dezidiert liberale politische Stimmen sprachen von der „sozialen Demokratie“. Symptomatisch für den Umgang mit der neuen Demokratie, der zwischen Anerkennung ihrer Notwendigkeit und enthusiastischer Unterstützung oszillierte, zugleich die Fragilität dieser Regierungs- und Lebensform thematisierte und darum das permanente Engagement für die Demokratie propagierte, war der prominente Theologe, Intellektuelle und Politiker Ernst Troeltsch. In seinen öffentlichen Interventionen von 1918 bis zu seinem Tod 1923 vertrat er die Ansicht, „dass der Siegeszug der Demokratie unaufhaltsam sei, weil sie der modernen Gesellschaft entspreche“, und auf einem Parteitag der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) erklärte er: „Deutschland ist endgültig zur Demokratie geworden.“ Troeltsch stand zugleich für die Auffassung, dass die Demokratie nicht in einer Tyrannei der Mehrheit enden musste. Die Demokratie konnte Troeltsch zufolge, wie in Großbritannien   69 Koselleck (1989a): Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte, S. 114; Rosanvallon (2011): Für eine Begriffs- und Problemgeschichte des Politischen, S. 56; Rosanvallon (2006): Democracy, S. 66. 70 Vgl. Llanque (2000): Demokratisches Denken im Krieg; Larsen (2013): Abandoning Democracy; Manela (2007): The Wilsonian Moment. 71 Hitler (1925): Mein Kampf, Bd. 1, S. 364; die Formulierung wurde 1930 ersetzt; vgl. Hammer (1956): Die deutschen Ausgaben, S. 171. 72 Mazower (2000): Der dunkle Kontinent, S. 20: „1918 triumphierte [die Demokratie], war aber nur zwanzig Jahre später fast dem Tod geweiht“. 73 Statt der Thesenbücher vgl. die präzisen Studien in Gijsenbergh et al. (Hrsg.) (2012): Creative Crises. 74 Kirchheimer (1930): Weimar, S. 15; vgl. Neumann (1930): Grundrechte; Literaturhinweise zu anderen Demokratien bei Müller (2014a): Lebensversuche, S. 95–113, 127–146.

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oder in den Vereinigten Staaten, „konservativ“ sein, historisch evolutionär voranschreiten, mit Respekt für traditionelle Rollen und Gewohnheiten. Was sie jedoch in jeder Konstellation sein musste, weil es den Grundbedingungen moderner Gesellschaften entsprach, war eine „soziale Demokratie“, in der die „Wirtschaft im Interesse und im Dienste des Ganzen“ stand. Die Demokratie war für Troeltsch die politische Form einer westlich-deutschen „Kultursynthese“.75 Das könnte ein guter Ausgangspunkt für eine europäische Demokratiegeschichte sein. LITERATUR Achilles, Manuela: Reforming the Reich. Democratic Symbols and Rituals in the Weimar Republic. In: Canning, Kathleen / Barndt, Kerstin / McGuire, Kristin (Hrsg.): Weimar Publics / Weimar Subjects. Rethinking the Political Culture of Germany in the 1920s. Oxford 2010, S. 175–191. Anderson, Margaret Lavinia: Practicing Democracy. Elections and Political Culture in Imperial Germany. Princeton 2000. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. München 1996, zuerst 1951. Baberowski, Jörg / Doering-Manteuffel, Anselm: Ordnung durch Terror. Gewaltexzeß und Vernichtung im nationalsozialistischen und stalinistischen Imperium. Bonn 2006. Bavaj, Riccardo / Steber, Martina (Hrsg.): Germany and „the West“. The History of a Modern Concept. New York 2015. Berggren, Henrik / Palme, Olof: Vor uns liegen wunderbare Jahre. Die Biographie. München 2011. Bethke, Hannah: Das politische Denken Arnold Brechts. Eine transatlantische Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts. Berlin 2013. Bloch, Marc: Apologie der Geschichtswissenschaft oder Der Beruf des Historikers. Hrsg. von Peter Schöttler. Stuttgart 2002. Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Wissenschaft, Politik, Verfassungsgericht. Frankfurt 2011. Bollmeyer, Heiko: Der steinige Weg zur Demokratie. Die Weimarer Nationalversammlung zwischen Kaiserreich und Republik. Frankfurt 2007. Bruendel, Steffen: Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die „Ideen von 1914“ und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg. Berlin 2003. Ders.: Zur Identität von Volk und Staat. Die deutsche Verfassungsdiskussion 1915. In: Lehnert, Detlef (Hrsg.): Gemeinschaftsdenken in Europa. Das Gesellschaftskonzept „Volksheim“ im Vergleich 1900–1938. Köln 2013, S. 205–226. Büttner, Ursula: Weimar. Die überforderte Republik 1918–1933. Leistung und Versagen in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur. Stuttgart 2008. Burgin, Angus: The Great Persuasion. Reinventing Free Markets since the Depression. Cambridge 2012. Doering-Manteuffel, Anselm: Ordnung jenseits der politischen Systeme. Planung im 20. Jahrhundert. In: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), S. 398–406. Ders.: Konturen von „Ordnung“ in den Zeitschichten des 20. Jahrhunderts. In: Etzemüller, Thomas (Hrsg.): Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert. Bielefeld 2009, S. 41–64.

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STRUKTUREN, INSTITUTIONEN, POLITISCHE KULTUR

WEIMAR – ÜBERFORDERTE REPUBLIK UND ÜBERFORDERTE BÜRGER Ursula Büttner Die Erinnerung an die Weimarer Republik ist unvermeidlich mit dem Gedanken an ihr Scheitern verbunden. Die Frage nach den Ursachen beschäftigte schon die ins Exil geflohenen Sozialisten und Demokraten. Sie fanden die Erklärung, je nach politischem Standort, in grundlegenden Strukturfehlern und Versäumnissen während der Revolutionszeit oder in den Angriffen und gewissenlosen Intrigen der Feinde der Demokratie. Damit zeigten sich bereits die beiden konträren Positionen, die in der zeitgeschichtlichen Forschung wiederkehrten. Auch bei den ersten wissenschaftlichen Untersuchungen von Historikern und Politikwissenschaftlern stand die Endphase der Republik im Mittelpunkt, und als sich der Schwerpunkt der Forschung zu Beginn der 1960er Jahre zur Revolution von 1918/19 hin verschob, blieb die Suche nach den Gründen für den Untergang der Weimarer Demokratie erkenntnisleitend. Ebenso ging es in den späten 1970er / 1980er Jahren bei der Untersuchung der Inflationsperiode darum, die Auswirkungen für das Schicksal des Weimarer Staates genauer zu bestimmen, das Gewicht der zunächst positiven Folgen für den Wirtschaftsaufbau gegen die auf längere Sicht politisch destabilisierenden sozialpsychischen Konsequenzen abzuwägen.1 Sogar bei Arbeiten, die Wert darauf legen, die Weimarer Republik als Epoche von eigenständiger Bedeutung zu behandeln, und die bewusst den Fokus auch auf ihre Leistungen richten, bleibt das Ende indirekt der Bezugspunkt, indem die einseitig daran orientierte Perspektive zurechtgerückt werden soll. Wie sehr der Untergang der Weimarer Republik die Deutung ihrer Geschichte beeinflusst, zeigen die Titel oder Untertitel vieler Gesamtdarstellungen: „Selbstpreisgabe einer Demokratie“ (Karl Dietrich Erdmann / Hagen Schulze), „Die verspielte Freiheit“ (Hans Mommsen), „Belagerte Civitas“ (Michael Stürmer), „Die unvollendete Demokratie“ (Horst Möller), „Improvisierte Demokratie“ (Theodor Eschenburg).2 Ich selbst habe in meinem Buch: „Weimar – die überforderte Republik“ zwar sehr darauf geachtet, die trotz aller Schwierigkeiten in den verschiedenen Bereichen erzielten politischen und sozialen Fortschritte gebührend zu behandeln. Aber im Titel wird doch eine der Ursachen für den Zusammenbruch der Republik herausgestellt; nicht die einzige Ursache, wie sich überhaupt monokausale Erklä  1 2

Genauer dazu: Büttner (2016): Zerstörung Weimarer Republik, S. 149–151; Büttner (2008): Weimar, S. 11–15. Die genauen Titel im Literaturverzeichnis. In neuerer Zeit fehlen solche bewertenden Untertitel.

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rungen verbieten. Viele andere Faktoren spielten eine Rolle, insbesondere der Missbrauch demokratischer Institutionen, Rechte und Regeln, der die in vielfältiger Weise überforderte Demokratie letztendlich zu Fall brachte. Überforderung trifft als Metapher generell für den 1918/19 entstehenden neuen Staat zu. Von Anfang an war er unrealistisch hohen Erwartungen ausgesetzt. Der Systemwechsel vom Kaiserreich zur Demokratie sollte einen erträglichen Frieden und ein Höchstmaß an politischer und sozialer Gerechtigkeit im Innern bringen. Die Demokratie wurde nicht nüchtern als ein politisches Regelwerk, sondern als ein ideales, glücksverheißendes Programm verstanden.3 Dabei waren sich die meisten Deutschen der Schwere ihrer Kriegsniederlage nicht bewusst. Im Herbst 1918 war die materielle, physische und psychische Widerstandskraft des deutschen Volkes an der Front und in der Heimat erschöpft, wie die Massendesertionen von Soldaten und die Riesenstreiks in der Rüstungsindustrie zeigten. Das alte Regime war am Ende, bevor es im November durch die Revolution beseitigt wurde.4 Jedoch auch die demokratischen Politiker, die den ruinierten Staat übernehmen mussten, wagten es nicht, den Deutschen das volle Ausmaß der Niederlage zu offenbaren oder es sich selbst einzugestehen. „Kein Feind hat Euch überwunden“, erklärte der Sozialdemokrat Friedrich Ebert, um die Gefühle der heimkehrenden Soldaten zu schonen.5 Die Folgen dieser fast allgemeinen Verdrängung der Niederlage waren gravierend: Die Demokraten verloren dadurch die Möglichkeit, die Verantwortung des alten Regimes, das den Krieg mit verschuldet und in aussichtsloser Lage fortgeführt hatte, für die Nöte der Nachkriegszeit herauszustellen. Das wichtigste Argument für die radikale Entmachtung der Eliten des Kaiserreichs fiel fort. Bei Kriegsende waren sie so diskreditiert, dass die Vorsitzenden der einflussreichsten konservativen Organisationen von der Deutschnationalen Volkspartei, die ihre Nachfolge antrat, nicht einmal an aussichtsreicher Stelle für die Nationalversammlung nominiert wurden.6 Sechs Jahre später wurde 1925 einer der Hauptverantwortlichen für das Kriegsdesaster, Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg, als Reichspräsident in das höchste Amt des neuen Staates gewählt. Auch die „Dolchstoßlüge“ seiner rechten Gegner, dass Deutschland, „im Felde unbesiegt“, allein wegen verräterischer Umtriebe in der Heimat die Waffen habe strecken müssen,7 konnte nur wegen der verbreiteten Leugnung der Niederlage ihre Wirkung entfalten.

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Diese hohe Erwartung spiegelt sich auch in der Kritik der Gegner der Demokratie wider, die sie als eine rein mechanische Zählmaschine diffamierten. Genauer dazu Büttner (2008): Weimar, S. 31–35. Ansprache an die heimkehrenden Truppen, 10.12.1918. In: Wende (Hrsg.): Ebert. Politische Reden, S. 94. Vgl. Büttner (2008): Weimar, S. 97. Barth (2003): Dolchstoßlegenden; Sammet (2003): „Dolchstoß“.

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Der Versailler Friedensvertrag wurde nicht nüchtern als Folge des schlechten Kriegsausgangs, sondern als schreiendes Unrecht betrachtet.8 Alle politischen Parteien, mit Ausnahme der USPD, lehnten ihn vehement ab. Das Bemühen um „Revision“ des „Diktats“ von Versailles hatte für alle Weimarer Regierungen einen hohen Stellenwert, auch wenn sich ihre Methoden stark unterschieden und vor allem Walther Rathenau und Gustav Stresemann mehr auf einvernehmliche Lösungen als auf Konfrontation setzten. Sogar Stresemann, der im Westen durch die Anerkennung der Versailler Regelung im Vertrag von Locarno (1925) für Entspannung sorgte, wagte es nicht, die neue deutsche Ostgrenze und die Verluste an Polen zu akzeptieren.9 Die Fixierung auf die Revision des „Friedensdiktats“ engte den außenpolitischen Handlungsspielraum der Regierungen ein, während im Inneren selbst wichtige Teilerfolge wie die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund 1926 oder die vorzeitige Räumung des Rheinlands von alliierten Truppen 1930 wenig zählten. Insbesondere die Reparationen waren ein dauernder Stein des Anstoßes. Sie waren nicht wirklich untragbar.10 Aber als Symbol für die angeblich generationenlange „Versklavung“ des deutschen Volkes eigneten sie sich hervorragend, alle, die den Krieg nachträglich gewinnen wollten, gegen die republikanischen Politiker aufzuhetzen. Die Regierung Brüning ließ ihre Finanz- und Wirtschaftspolitik vom Herbst 1930 bis zum Frühjahr 1932 wesentlich von dem Ziel bestimmen, die Streichung der Reparationen zu erreichen und Deutschland zumindest ökonomisch wieder in eine Großmachtstellung wie vor dem Krieg zu bringen. Durch die Vereinbarung einer deutsch-österreichischen Zollunion wollte sie 1931 das durch den Versailler Vertrag verhängte Anschlussverbot aushebeln11 und riskierte damit inmitten einer bedrohlichen Finanz- und Währungskrise einen außenpolitischen Eklat. Zum „Kampf gegen Versailles“ gehört auch das ständige Drängen der militärischen Führung nach Wiederaufrüstung.12 Sie mischte sich deshalb fortwährend in die Innenpolitik ein und entschied seit 1930 unter Hindenburgs Präsidialregime über das Schicksal der Regierungen mit. Um die Hindernisse des Versailler Vertrags zu umgehen, arbeiteten Offiziere sogar illegal mit den „Bolschewisten“ der Roten Armee in Russland zusammen.13 In Deutschland förderten sie die nationalen Wehrverbände, duldeten die „Fememorde“ der „Schwarzen Reichswehr“ und sahen

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Krumeich / Fehlemann (2001): Versailles; Kraus (2013): Versailles und Folgen, S. 15–33 bedenkt bei seiner sehr negativen Bewertung zu wenig die Kriegsverluste und Kompensationserwartungen der Bevölkerung in den Siegerstaaten. Höltje (1958): Ostlocarno-Problem; von Riekhoff (1971): German-Polish Relations, S. 90– 119. McNeil (1982): Could Germany Pay? Graml (2001): Zwischen Stresemann und Hitler, S. 89–111; Rödder (1996): Stresemanns Erbe, S. 186–222. Bergien (2012): Bellizistische Republik; Geyer (1980): Aufrüstung. Zeidler (1993): Reichswehr und Rote Armee.

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selbst in der SA trotz ihrer offensichtlichen Gewaltbereitschaft vor allem soldatische Kader für ein künftiges größeres Heer. Die Reichswehr trug auf diese Weise stark zur Militarisierung der deutschen Gesellschaft bei.14 Die Weigerung, die volle Tragweite der Kriegsniederlage zu erkennen, hatte noch schwerwiegendere, auf den ersten Blick weniger deutliche Auswirkungen. Sie reichten tief in das Wirtschafts- und Gesellschaftsleben hinein: Alle Wirtschaftsund Sozialstatistiken bezogen sich auf 1913 als letztes „normales“ Jahr. Industrien suchten ihre Fertigungskapazitäten auf den Vorkriegsstand zu bringen, obwohl der Inlandsmarkt infolge der Gebietsverluste inzwischen kleiner und die internationale Konkurrenz infolge des Aufbaus neuer Industrien außerhalb Europas größer geworden war.15 Unternehmer klagten über ihre im Vergleich zu früher zu geringe Eigenkapitalbildung und suchten die Schuld bei den Gewerkschaften und der republikanischen Sozialpolitik,16 aber kaum bei Krieg und Inflation. Weil die Wirtschaftsergebnisse an der Friedenszeit gemessen wurden, gab es Anlass zur Klage, dass nur 1928/29 bei den meisten Daten wieder der Vorkriegsstand erreicht wurde. Mit mehr Recht hätte ein solches Ergebnis nur zehn Jahre nach dem Zusammenbruch als Erfolg gelten können. Die im Kaiserreich benachteiligten Schichten erwarteten sogar mehr als bloß die Wiederherstellung der alten Verhältnisse. Nachdem sie im Krieg große Opfer gebracht hatten, verlangten sie zum Ausgleich nicht nur die volle politische Gleichstellung, sondern vor allem auch die Anhebung ihrer wirtschaftlichen und sozialen Lage. Die Demokratie sollte ihnen eine bessere Zukunft bringen. Nach der gewaltigen Wertevernichtung im Krieg wurde der SPD und der Republik mit dieser Forderung eine schwere Last aufgebürdet. Die Löhne und Sozialleistungen waren in der Weimarer Republik nicht zu hoch.17 Das Volkseinkommen und der Wohlstand mussten neu und gerechter verteilt werden. Bei der Auseinandersetzung darüber wurden die Kriegsverluste auf allen Seiten aber zu wenig bedacht. So wurde versucht, gleichzeitig zu den wirtschaftlichen Verhältnissen von 1913 zurückzukehren und die Situation der Arbeitnehmer und schlechter gestellten Bevölkerungsschichten zu verbessern. Diese unrealistische Zielsetzung war eine wichtige Ursache für die Dauerprobleme der öffentlichen Etats, die auf allen Ebenen immer wieder zu Haushaltslöchern und gefährlichen Kassendefiziten führten.18 Für den Staat waren die gesellschaftlichen Konflikte brisanter als früher. Seit er im Krieg immer mehr Aufgaben im Bereich der Wirtschaft und der sozialen Fürsorge hatte übernehmen müssen, wurde er für das Wohlergehen der Wirtschaft und der Bürger verantwortlich gemacht. In der Weimarer Republik setzte sich dieser   14 Nagel (1991): Fememorde; Sauer (2004): Schwarze Reichswehr; Longerich (1989): Die braunen Bataillone; Müller / Opitz (1978): Militär und Militarismus, S. 193–286; Mommsen (1997): Militär, S. 265–276. 15 Knortz (2010): Wirtschaftsgeschichte, S. 21–26. 16 Weber (2010): Gescheiterte Sozialpartnerschaft, S. 764–818. 17 Ich folge hier Carl-Ludwig Holtfrerich und anderen gegen Knut Borchardt und seine Schule: Borchardt (1982): Zwangslagen; Holtfrerich (1982): Alternativen. Genauer dazu mit umfangreichen Literaturnachweisen: Büttner (2008): Weimar, S. 463,661 f., Anm. 87. 18 Knortz (2010): Wirtschaftsgeschichte, S. 158–168; Heindl (1984): Haushalte.

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Prozess fort. Die Arbeitslosigkeit erreichte in der unmittelbaren Nachkriegszeit, auf dem Höhepunkt der Inflation 1923 und in der Weltwirtschaftskrise zu Beginn der dreißiger Jahre ein früher unbekanntes Ausmaß. Die Schicht der Rentiers, der Alten, die von Kapitalerträgen lebten, wurde in der Inflationszeit vernichtet. Sie waren fortan wie ehemalige Arbeitnehmer, Erwerbslose und Kriegsopfer auf öffentliche Leistungen angewiesen. Zur Nothilfe kam der Ausbau des Sozialstaats. Auch diese Anstrengungen waren, nachdem private Investoren und Stiftungen infolge der Vermögensvernichtung durch Krieg und Inflation weitgehend ausgefallen waren, zum Teil zwangsläufig, so z. B. das öffentliche Engagement im sozialen Wohnungsbau, im Gesundheitswesen und bei der Altenversorgung. Durch die Weimarer Verfassung wurden die hohen Erwartungen an den Staat gestützt.19 Im Grundrechte-Teil garantierte sie „ein menschenwürdiges Dasein für alle“, das Recht auf Arbeit und Versorgung bei Arbeitslosigkeit, die Erhaltung und Förderung des selbständigen Mittelstands. Obwohl diese Programmsätze keinen einklagbaren Rechtsanspruch verbürgten, wurden sie gerne benutzt, um dem Staat sein Versagen vorzuwerfen. Auch auf dem Gebiet der Kultur musste der Staat Aufgaben übernehmen, die früher private Förderer erfüllt hatten. Ob es sich um die Finanzierung von Museen, Theatern, Musikstätten oder anderen Einrichtungen handelte: immer sollte er dabei heterogene Erwartungen erfüllen. Die Künste und ihr Publikum waren tief gespalten. Avantgarde und Anhänger der Tradition standen sich unversöhnlich gegenüber.20 Die einen erfüllte nach dem Fall des Kaiserreichs Aufbruchsstimmung; die anderen trauerten um das Verlorene und sahen in der Revolution nur Treubruch und Verrat. Die einen zogen aus dem massenhaften Sterben im technisierten Krieg den Schluss, dass nur Anstrengungen zur Versöhnung der Völker noch legitim seien; den anderen dienten die Opfer der Soldaten zur Begründung ihrer nationalistischen und revisionistischen Ziele. Die einen feierten die Dynamik der Großstadt und die modernen technischen Entwicklungen; die anderen ergingen sich in Antiurbanismus, Kulturpessimismus und Zivilisationskritik. Angesichts solcher widersprüchlichen Anforderungen mussten die verantwortlichen Politiker und Politikerinnen immer eine Seite enttäuschen. Der neue Staatsinterventionismus, den alle Gruppen im eigenen Interesse begehrten, wurde theoretisch ganz unterschiedlich bewertet. Die sozialdemokratische Arbeiterbewegung begrüßte ihn unter den Schlagworten „Wirtschaftsdemokratie“ und Demokratisierung der Kultur als Etappe auf dem Weg zum Sozialismus.21 Rechtsliberale und konservative Kreise hielten dagegen am vordemokratischen Ideal des über den Parteien und sozialen Gruppen stehenden, neutralen Staates fest, der sich aus den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen heraushalten sollte. Viele aus der ‚Frontkämpfergeneration‘ des Bürgertums suchten nach einem dritten Weg;   19 Völtzer (1993): Sozialstaatsgedanke. Siehe hierzu auch den Beitrag von Franz Josef Düwell in diesem Band. 20 Büttner (2008): Weimar, S. 296–303; Gay (2004): Republik der Außenseiter; Hermand / Trommler (1989): Kultur; Laqueur (1976): Weimar; Sontheimer (1962): Antidemokratisches Denken, S. 93–111. 21 Thum (1991): Wirtschaftsdemokratie, S. 30–52, 109–126; Könke (1987), Organisierter Kapitalismus.

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sie verlangten vom Staat, die partikularen Kräfte so, wie es vermeintlich im Schützengraben geschehen war, in einer starken ‚Volksgemeinschaft‘ unter einem charismatischen ‚Führer‘ zu einen und diese zu neuer nationaler Größe zu führen.22 In dieser abstrakten Verdichtung sind die Probleme der Weimarer Republik und der sie tragenden demokratischen Politiker und Politikerinnen nur in der historischen Rückschau erkennbar. Für die Menschen der Zeit waren die dramatischen politischen und wirtschaftlichen Krisen spürbarer, mit denen sie fertig werden mussten: die Umsturzversuche von rechts und links in der Phase bis 1923, die bürgerkriegsähnliche Zuspitzung der inneren Konflikte in den ersten und letzten Jahren der Republik, die in immer rasanterem Tempo galoppierende Inflation von 1921 bis 1923, die lähmende und zu politischer Verzweiflung treibende Deflation von 1931 bis 1933. Hinzu kamen die tiefgreifenden Veränderungen der internationalen Kräftekonstellation in Politik und Wirtschaft. Das Weiterwirken vordemokratischer gesellschaftlicher Machtstrukturen im Innern, deren radikaler Wandel in der Revolution von 1918/19 nur unzureichend gelungen war, machte die Situation nicht leichter. Alle diese Schwierigkeiten sollten von Politikern und Politikerinnen gemeistert werden, die ihre Rolle in der Demokratie erst finden mussten. Zumindest im Reich waren sie sich ihrer veränderten Aufgabe nicht genügend bewusst23 und verstanden sich noch immer mehr als Widerpart und Kontrolleure einer von ihnen unabhängigen Regierung, denn als deren Träger bzw. als Opposition, die diese Rolle übernehmen will. Die starke Abhängigkeit der Parteien von organisierten Interessen – Gewerkschaften, Unternehmer- und Wirtschaftsverbänden – engte den Handlungsspielraum der politischen Akteure stark ein und machte Kompromisse oft unmöglich. Unter diesen Umständen waren die Leistungen beachtlich, die in den 14 Jahren der Weimarer Republik vollbracht wurden, die meisten sogar in den nur fünf Jahren relativer Stabilität von 1924 bis 1928. Dazu gehörten: die Schaffung einer liberaldemokratischen Verfassung, deren Kern sich 30 Jahre später im Grundgesetz als zukunftsfähig erwies; die Grundlegung eines modernen Sozialstaats, konkret: die Einführung des Achtstunden-Arbeitstages als Norm; Tarifverträge und Ansätze betrieblicher Mitbestimmung; Verbesserungen des Arbeitsschutzes; die Errichtung von Arbeits- und Verwaltungsgerichten; die Schaffung einer öffentlichen Arbeitslosenversicherung; die Wandlung der demütigenden „Armenpflege“ zur wertschätzenden Sozialfürsorge; ein beachtlicher sozialer Wohnungsbau, der erschwingliche Mieten und architektonische Qualität zu verbinden versuchte; Schulreformen, um die Bildungschancen für sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche zu verbessern; nicht zuletzt der großartige Aufschwung der Kultur, der durch die im Großen und Ganzen freiheitlichen Rahmenbedingungen und manche öffentlichen Beihilfen gefördert wurde. Im Erleben der Zeitgenossen und in der historischen Erinnerung wurden diese Fortschritte jedoch von den rasch aufeinanderfolgen schweren Krisen überdeckt.   22 Sontheimer (1962): Antidemokratisches Denken, S. 199–215. 23 In den Ländern war das zum Teil anders; vgl. Büttner (1994): Politischer Neubeginn; Möller (1985): Parlamentarismus in Preußen; Orlow (1986): Weimar Prussia.

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Nicht nur der Weimarer Staat und seine Träger, sondern auch seine Bürger und Bürgerinnen wurden dadurch in wachsendem Maß überfordert. Allerdings ist schwer auszumachen, wann harte Belastungen als nicht mehr erträglich, als Überforderung empfunden wurden, weil es größere Meinungsumfragen noch nicht gab. Äußerungen in den Presseorganen und bei Kundgebungen sozialer Verbände können Hinweise auf politische Reaktionen der von ihnen vertretenen Bevölkerungsteile liefern. Das wichtigste Indiz sind im übrigen Wahlergebnisse: die Abwendung von Wählern und Wählerinnen von systemloyalen, den Verfassungsrahmen akzeptierenden zu systemfeindlichen, auf die Zerstörung der bestehenden Ordnung zielenden Parteien.24 Die wirtschaftlichen und sozialen Verluste sind dabei aber nicht allein ausschlaggebend, sondern entscheidend ist, wie sie sich vor dem Hintergrund weltanschaulicher Überzeugungen und der langfristigen Erfahrung darstellen. Obwohl den Anhängern der SPD in den letzten Jahren der Republik besonders harte Entbehrungen zugemutet wurden, blieben viele von ihnen ihre verlässlichsten Verteidiger. Wie sich Verlusterfahrungen im Verlauf der Weimarer Republik zum Gefühl der Überforderung akkumulierten, soll im Folgenden an signifikanten Beispielen dargestellt werden. Bei der ersten Wahl nach dem politischen Umbruch, der Wahl zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919, verteilten sich die Stimmen ungefähr in der gleichen Weise auf die großen Wählerblöcke: Sozialisten, Liberale, Konservative und politischer Katholizismus, wie vor dem Krieg, obwohl sich die Wählerschaft inzwischen durch die Einführung des Frauenwahlrechts und die Herabsetzung des Wahlalters wesentlich vergrößert und verändert hatte. Das Ergebnis zeugte von sehr stabilen politischen Überzeugungen in großen sozialen Gruppen.25 Der politische Neuanfang, für den die Parteien der Weimarer Koalition, die SPD, die liberale Deutsche Demokratische Partei (DDP) und die katholische Deutsche Zentrumspartei standen, wurde von Dreivierteln (76%) der Wähler und Wählerinnen unterstützt. Doch schon bei der nächsten Reichstagswahl im Juni 1920 verloren die Weimarer Parteien die absolute Mehrheit (43,6%) und gewannen sie nie wieder zurück. Die SPD fiel von 37,9 auf 21,7 Prozent und die am stärksten an der Verfassungsgestaltung beteiligte DDP von 18,5 auf 8,3 Prozent. Offensichtlich wurden die schweren Folgen der Niederlage vielen Deutschen erst jetzt voll bewusst; sie waren enttäuscht über die real existierende Demokratie, die ihre hohen Erwartungen nicht erfüllen konnte, sondern um innere Sicherheit, wirtschaftliche Erholung und außenpolitische Gleichstellung kämpfen musste. Aber diese Erfahrungen ordneten sich in unterschiedliche Kontexte ein: Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs mussten die Arbeiterorganisationen die führende Rolle im Staat übernehmen. Sie waren gespalten zwischen den linksradikalen Anhängern der Rätediktatur und den sozialdemokratischen Anhängern der parla  24 Mit dieser Methode habe ich in meinem Buch: Hamburg in der Staats- und Wirtschaftskrise (1982), den Zusammenhang von sozioökonomischen Erfahrungen und politischen Reaktionen zu erfassen versucht. 25 Vgl. dazu Büttner (2008): Weimar, S. 103 f., Wahlergebnisse S. 802 f.

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mentarischen Demokratie und dadurch geschwächt. Trotzdem waren sie die einzigen, die bei den aufgewühlten Massen genügend Autorität besaßen, um mit Hilfe der Arbeiter- und Soldatenräte die elementaren öffentlichen Leistungen einigermaßen sicherzustellen: Schutz der Bevölkerung vor Verbrechen und Gewaltakten, ihre Versorgung mit Nahrungsmitteln und Energie, Aufrechterhaltung von Agrar- und Industrieproduktion, Handel und Verkehr. Allerdings war die Arbeiterbewegung dabei auf die Mitwirkung des alten Beamten- und Militärapparats, der Wirtschaftsführer und Großagrarier angewiesen, und das ermöglichte diesen, ihre gesellschaftliche Stellung weitgehend zu behaupten. Der vorsichtige Umgang mit den Eliten des Kaiserreichs in der deutschen Revolution hat viel Kritik hervorgerufen; wie groß der Spielraum für ein radikaleres Vorgehen gegen sie gewesen wäre, ist umstritten. Dieses Problem kann hier nicht genauer erörtert werden.26 Es geht um einen anderen Aspekt: Der Übergang vom Kaiserreich zur Republik brachte zunächst der Arbeiterschaft den größten Gewinn: volle politische Partizipation und eine deutliche Stärkung ihrer gesellschaftlichen Position. Gleichzeitig konnten die Oberklasse und obere Mittelklasse dank ihrer Unentbehrlichkeit für das Funktionieren von Staat und Wirtschaft ihren Einfluss zu einem guten Teil bewahren. Dagegen erlebte der selbstständige Mittelstand in Stadt und Land den Umbruch von 1918 vor allem als schweren politischen und gesellschaftlichen Rückschlag. Durch die Einführung des allgemeinen, gleichen Wahlrechts verlor er sein Wahlprivileg, das in vielen Ländern und Gemeinden das Gewicht der Stimme an die Einkommenshöhe gebunden und außerdem oft Grundeigentümern eine zusätzliche Stimme verliehen hatte. Die erhoffte Kompensation für die im Krieg erbrachten Opfer, als viele nicht kriegswichtige Betriebe geschlossen oder eines Großteils ihrer Arbeitskräfte und Zugtiere beraubt worden waren, fiel aus. Der Mittelstand wurde nicht mehr wie früher als staatstragende Schicht geehrt, sondern wegen der Warenverknappung und bereits einsetzenden Preissteigerung gescholten. Diese Erfahrung der Benachteiligung setzte sich in der Inflationszeit verstärkt fort. Die Geldentwertung hatte nicht nur Nachteile. Sie verlief in Schüben und wirkte sich für die sozialen Gruppen unterschiedlich aus. Die Mark hatte bei Kriegsende schon ungefähr 50% ihres Werts verloren. Da die demokratischen Politiker vor einschneidenden Maßnahmen zu ihrer Stabilisierung zurückscheuten, sank sie weiter, zuerst relativ langsam, dann nach der Annahme des Versailler Vertrages stark beschleunigt, so dass sie schon im Februar 1920 auf ca. fünf Prozent ihres früheren Wertes gefallen war. Besitzer von Geldkapital waren bereits zu diesem Zeitpunkt weitgehend enteignet. 18 Monate lang blieb die Mark danach ziemlich stabil, bevor die Inflation seit Herbst 1921 immer mehr an Fahrt gewann und im Juli 1922 in die Hyperinflation überging.27 1923 ließ der „Ruhrkampf“, der von vornherein aussichtslose, aber teure passive Widerstand gegen die französisch-belgische Besetzung des Ruhrgebiets, die Mark endgültig ins Bodenlose stürzen. Der   26 Vgl. dazu Büttner (2008): Weimar, S. 60–64. 27 Zur Inflationsperiode vgl. Holtfrerich (1980): Deutsche Inflation; Feldman (1993): Great Disorder; Knortz (2010): Wirtschaftsgeschichte, S. 35–75; Taylor (2013): Inflation; Büttner (2008): Weimar, S. 166–177.

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Zusammenbruch der Währung machte eine geordnete Wirtschaftstätigkeit nahezu unmöglich. Die Banken konnten die Überweisung der komplizierten Millionenund Milliardenbeträge technisch kaum noch bewältigen. Die Reichsbank schickte Güterzüge mit Geldnoten in die Städte und war doch nicht in der Lage, die angeforderten gewaltigen Mengen zu liefern. Betriebe konnten deshalb nur ganz geringe Bruchteile der Löhne auszahlen; der fehlende Rest von 90 oder 95 Prozent war nach kürzester Zeit wertlos. Die größeren Unternehmen behalfen sich mit der – illegalen – Ausgabe von eigenem Notgeld; rund 70 verschiedene Zahlungsmittel kursierten im August 1923 z. B. in Hamburg. Die Arbeitslosigkeit schnellte in diesem Sommer steil empor und zeigte die weitgehende Lähmung der Wirtschaft an. Viele Menschen hungerten. Im Herbst war die Versorgung der Städte gefährdet, weil sich zahlreiche Bauern weigerten, ihre Erzeugnisse für wertloses Papiergeld herzugeben. Riesige Massenstreiks, Hungerkrawalle, Putschversuche und separatistische Bestrebungen gefährdeten den Zusammenhalt des Staates und seinen territorialen Bestand. Jetzt endlich unternahm die Reichsregierung energische Schritte zur Währungsstabilisierung, die im Oktober 1923 gelang. Das Chaos in der Zeit der Hyperinflation hat sich als „Inflationstrauma“ tief in das kollektive Gedächtnis der Deutschen eingegraben, mit langfristigen Folgen auch für die Finanz- und Wirtschaftspolitik. Dagegen werden die Auswirkungen der Inflation von Wirtschaftshistorikern unter rein ökonomischem Aspekt als überwiegend positiv beurteilt. Durch die Reduktion aller inländischen Kosten: der Löhne, Steuern, Mieten, Zinsen, Gebühren, Rohmaterialien, Energiekosten usw. erleichterte sie den Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft und ihre Rückkehr auf den Weltmarkt. Schulden wurden bedeutungslos, die Investitionsneigung war groß, und auch ausländische Investoren leiteten viel Geld nach Deutschland. Der wirtschaftliche Aufschwung half, die nach der Demobilmachung von mehr als drei Millionen Soldaten herrschende Arbeitslosigkeit schnell zu überwinden; 1922 gab es in Deutschland Vollbeschäftigung und in vielen Bereichen sogar Fachkräftemangel. Die Arbeitergewerkschaften konnten Lohnerhöhungen und soziale Reformen verhältnismäßig leicht durchsetzen, weil die Kosten über die inflationär steigenden Preise abgewälzt wurden. Soziale Spannungen wurden auf Kosten von Sparern und Empfängern fester Einkommen gemildert. Unternehmer und Arbeiter zogen bis zur Währungskatastrophe von 1923 auf unterschiedliche Weise Vorteile aus der Inflation. Für den Mittelstand stellte sich die Lage trotz vieler Unterschiede im Einzelnen insgesamt weniger günstig dar. Beamte und Angestellte waren mit ihren Monatsgehältern, die erst rückwirkend durch Teuerungszulagen aufgebessert wurden, weit schlechter dran als wochen-, tage- oder sogar stundenweise bezahlte Arbeiter. In Kriegsanleihen investierte Rücklagen und andere Ersparnisse waren schon Anfang 1920 verloren. Die Schicht der ‚Rentiers‘, der überwiegend alten Menschen, die von ihren Kapitalerträgen lebten, wurde durch die Inflation vernichtet; als ‚Kleinrentner‘ waren sie künftig auf öffentliche Unterstützung angewiesen. Auch der von seinem Vermögen lebende ‚Privatgelehrte‘ verschwand. Eine neue Erscheinung waren dagegen die ‚Werkstudenten‘, die Studenten oder Studentinnen, die wegen

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der Verarmung der Eltern nebenbei als ungelernte Arbeiter oder Haushaltshilfen ihren Lebensunterhalt verdienen mussten. Die Situation des selbstständigen Mittelstands war vielschichtiger: Einerseits profitierten auch Handwerker und Einzelhändler von der allgemeinen Konjunkturbelebung, die der Inflation zu verdanken war. Sofern sie Schulden hatten, wurden auch sie davon befreit. Andererseits galten die im Krieg eingeführten staatlichen Preisbindungen bei Gütern des täglichen Bedarfs weiter und machten ihnen die Wiederbeschaffung von Waren oder Rohstoffen schwer, weil die erlaubten Erlöse wegen der Inflation nach kurzer Zeit dafür nicht mehr reichten. Bald wurde die Diskrepanz zwischen Verkaufs- und Wiederbeschaffungspreis auch bei frei verkäuflichen Gütern zu einem großen Problem. Ähnlich erging es den Bauern, die seit der Kriegszeit ebenfalls mit umfassenden Produktions-, Liefer- und Preiskontrollen zu kämpfen hatten und mit den wertlos werdenden Papiermarkerlösen immer weniger Saatgut, Dünger, Jungvieh etc. einkaufen und die Höfe, Geräte und Maschinen nicht mehr instand halten konnten. Der Verfall des Besitzes wog den Vorteil der Entschuldung weitgehend auf. In vergleichbarer Lage waren auch mittelständische Hausbesitzer. Weil die eingefrorenen Mieten dem Wert nach auf wenige Prozent der Friedensmiete sanken, wurden sie faktisch enteignet. Die geringen Erträge reichten nicht, um die Immobilien zu erhalten und schon gar nicht, um von ihnen leben. Wer sich nicht über die Befreiung von hohen Kreditlasten freuen konnte, war der Dumme. Diese Benachteiligung des solide wirtschaftenden, schuldenfreien Kaufmanns, Handwerkers oder Hauseigentümers stellte die Wertvorstellungen des Mittelstands auf den Kopf. Gleichzeitig sank sein soziales Ansehen dramatisch. Da die Ursachen des Währungschaos lange Zeit nicht verstanden wurden, wurde die „Teuerung“ den bäuerlichen Produzenten, Handwerkern und Einzelhändlern zur Last gelegt. Durch Antiwuchergesetze und Antischlemmerverordnungen leistete der Staat solchem Denken Vorschub.28 Auch die Organisationen der Arbeiterbewegung schürten durch einseitig nur an der Not der eigenen Anhänger orientierte Verbesserungsvorschläge die Ressentiments. 1920 versuchte zum Beispiel der Hamburger Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund (ADGB), die Verteilung lebenswichtiger Güter an seine Mitglieder selbst in die Hand zu nehmen; er scheiterte bald an der Höhe der Einstandskosten. Daraufhin forderte er, zur Bekämpfung des „Wuchers“ und der Warenverschiebungen ins Ausland Gewerkschaftsvertreter als Preisprüfer und Grenzkontrolleure einzusetzen. „Volkswuchergerichte“ mit Gewerkschaftlern als Richtern oder Beisitzern sollten drakonische Strafen verhängen können. Als der ADGB mit diesem Ansinnen scheiterte, baute er 1921 einen „gewerkschaftlichen Selbstschutz gegen Konsumentenbewucherung“ auf, der Einzelhändler in der Presse anprangerte, wenn sie vermeintlich zu hohe Preisspannen berechneten.29 Die kleinen Gewerbetreibenden sahen ihre Furcht vor der „sozialistischen Bedrohung“ bestätigt. Die   28 Die Konferenz der Ernährungsminister. In: Hamburgischer Correspondent, 6.9.1922. 29 Das Opfer des Einzelhandels [Zuschrift der Detaillistenkammer]. In: Hamburgischer Correspondent, 28.5.1923; Zweierlei Maß [Zuschrift des Vereins der Kolonialwarenhändler von 1872]. Ebenda, 17.1.1924; Schreiben der Detaillistenkammer an die Deputation für Handel,

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SPD-Zeitung „Hamburger Echo“ förderte die Ängste, als sie im Dezember 1922 ihre Genugtuung über die Schließung vieler Lebensmittelläden äußerte, weil sich darin die größere Leistungsfähigkeit der Konsumgenossenschaft „Produktion“ zeige.30 Die Gescholtenen, denen die Ursachen der Inflation auch nicht klarer waren, fanden andere Sündenböcke. Die Hamburger Milchhändler empörten sich z. B. über den Milch- und Butterexport, darüber, dass „selbst in Hamburg von Franzosen Butter aufgekauft wird für die Schwarzen, die ja unbedingt unsere gute Butter haben müssen (der deutsche Michel bezahlt es ja!)“.31 Auf allen Seiten wurden Ressentiments angeheizt. In mittelständischen Kreisen waren sie oft nationalistisch, rassistisch und noch häufiger antisemitisch aufgeladen. Die sozialen Konflikte bekamen eine solche Dynamik, dass sie den Staat zu zerreißen drohten, wie Unternehmer und Gewerkschaften übereinstimmend warnten. Kurz vor der Katastrophe gelang die Währungsstabilisierung. Erst jetzt, nach dem Ende des Geldtaumels, wurde das volle Ausmaß der Verluste spürbar. Die Hoffnungen auf eine akzeptable ‚Aufwertung‘ der wertlos gewordenen Bankguthaben und Darlehen zerstoben. Wieder verlor die Weimarer Republik bei der Reichstagswahl am 4. Mai 1924 viel Zustimmung. Ihre in der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) versammelten rechten Gegner verbesserten ihr Ergebnis von 15,1 auf 19,5 Prozent der Stimmen; die rechtsradikale, aggressiv antisemitische Deutschvölkische Freiheitspartei verbuchte weitere 6,5 Prozent, so dass insgesamt mehr als ein Viertel der Wähler und Wählerinnen eine rechte Alternative zur Weimarer Demokratie suchte.32 Die Ober- und Mittelschichten in Stadt und Land hatten an dieser Bewegung nach rechts einen großen Anteil. Auch das Aufkommen von wirtschaftlichen Interessenparteien zeugte von der Unruhe im gewerblichen Mittelstand, der sich von den etablierten politischen Parteien nicht genügend vertreten fand.33 Links brachte es die KPD, die den bestehenden Staat nicht weniger heftig ablehnte als die Rechte, auf 12,6 Prozent. Diese Entfremdung von der Weimarer Republik war kein unumkehrbarer Prozess. Nach der Phase der „relativen Stabilität“, wie die Zeitspanne von 1924 bis 1928 in der Forschung meistens bezeichnet wird, schien eine Konsolidierung auch der politischen Verhältnisse möglich zu sein. Der Stimmenanteil der rechten Antidemokraten, DNVP und NSDAP, ging bei der Reichstagswahl am 20. Mai 1928 auf 16,8 Prozent zurück. Die SPD verbesserte ihr Ergebnis um fast zehn Prozent auf 29,8 Prozent;34 die KPD verzeichnete 10,6 Prozent. In großen gesellschaftlichen  

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Schiffahrt und Gewerbe, 5.11.1922, in: Staatsarchiv Hamburg: Staatliche Pressestelle I - IV, Nr. 7413, dort auch die Zeitungsausschnitte. Vgl. Büttner (1985): Politische Gerechtigkeit, S. 145–158; Lyth (1990): Inflation and Merchant Economy, S. 111–118, 141–145. Hamburger Echo, 17.12.1922: Der Zusammenbruch der Lebensmittelversorgung. Neue Hamburger Zeitung, 10.4.1922: Milchhändler gegen Preisprüfungsstelle. Büttner (2008): Weimar, S. 802; Falter et al. (1986): Wahlen und Abstimmungen, S. 41, 44. Jones (1979): Inflation, Revaluation; ders. (1985): Shadow of Stabilization; Büttner (2007): „Bierstreik”, S. 287 f. Steigerungsrate bezogen auf 20,5% bei der Wahl am 4. Mai 1924; am 7. Dezember 1924 erreichte die SPD schon 26,0%; vgl. die Tabelle bei Büttner (2008): Weimar, S. 802.

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Organisationen, so bei der Evangelischen Kirche und beim Reichsverband der deutschen Industrie, gab es Anzeichen für eine vorsichtige Annäherung an die Republik. Offenbar sicherten ihr die außenpolitischen Erfolge, der wirtschaftliche Aufstieg, die sozialen Verbesserungen und kulturellen Leistungen, die alle überwiegend in diesen wenigen Jahren erreicht wurden, eine gewisse Anerkennung. Die Fortschritte kamen prinzipiell der gesamten Bevölkerung zugute. Aber für Arbeiter, kleine Angestellte und Beamte und andere sozial schwache Gruppen wogen sie besonders schwer, weil sich der Abstand zu den besser gestellten Schichten verringerte und sich Teilhabechancen oftmals überhaupt erst eröffneten. Der Vergleich mit dem Kaiserreich fiel für sie trotz aller Schwierigkeiten in der Weimarer Republik positiv aus. Ein damals junger Sozialdemokrat brachte diese Erfahrung in der Rückschau auf den Punkt: „Die Errungenschaften seit 1918“, besonders „der gewaltige soziale Wohnungsbau und die neuen Bildungsmöglichkeiten, ließen hoffen, dass eine Demokratie den weiteren Fortschritt sichert. […] Es wird viel über die Weimarer Zeit gemosert; wir als Jugend haben in der Zeit Möglichkeiten gehabt, vorwärts zu kommen, die unsere Väter vor 1918 nicht hatten, und deshalb bedeutet uns die Weimarer Zeit viel.“35

Hier mag die Erklärung dafür liegen, dass die sozialdemokratischen Organisationen bis zum Ende die zuverlässigsten Stützen der Republik blieben. Ihre Loyalität wurde in der Weltwirtschaftskrise durch die Politik des Kabinetts Brüning auf eine harte Probe gestellt. Nachdem ein sozialdemokratischer Reichskanzler mit einer Regierung der Großen Koalition an den Interessenkonflikten zwischen den Flügelparteien, der SPD und der rechtsliberalen, unternehmerfreundlichen Deutschen Volkspartei (DVP), gescheitert war, bildete der Zentrumspolitiker Heinrich Brüning Ende März 1930 auf ausdrücklichen Wunsch des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg eine Regierung ohne die SPD. Die fehlende parlamentarische Mehrheit wurde in verfassungsrechtlich fragwürdiger Weise durch die Befugnis des Präsidenten ersetzt, bei schweren Notständen mit Verordnungen einzugreifen. Bei der ersten dieser Notverordnungen nach Artikel 48 der Verfassung erzwang die SPD im Reichstag die Aufhebung. Als aber die NSDAP bei der folgenden Neuwahl des Reichstags einen spektakulären Stimmenzuwachs von 2,6 auf 18,3 Prozent erzielen konnte, entschied sich die SPD, das Kabinett Brüning und seine Notverordnungen künftig als das „kleinere Übel“ zu tolerieren. Statt vom Parlament war es fortan ganz und gar von der Unterstützung des Reichspräsidenten abhängig. Die SPD bezahlte ihren Oppositionsverzicht mit der Abwanderung vieler Anhänger und Anhängerinnen zur KPD oder zu den Nichtwählern und mit der Abspaltung ihres linken Flügels im Sommer 1931. Brüning nutzte den Spielraum, den die weitgehende Lösung vom Parlament bot, um eine rigorose Spar- und Deflationspolitik zu betreiben.36 Das Ziel war zunächst, den Ausgleich der öffentlichen Haushalte zu erzwingen, dann, darüber   35 Emil Bien: Ergebnisse. Heft für historische Öffentlichkeit, Hamburg 1979, S. 30, zitiert nach Büttner (1985): Politische Gerechtigkeit, S. 230. 36 Zu diesem Abschnitt: Büttner (2008): Weimar, S. 391–463; dies. (1989): Politische Alternativen, S. 211–217; Knortz (2010): Wirtschaftsgeschichte, S. 217–248; Hesse et al. (2014): Große

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hinaus, durch bewusste Forcierung der Deflation das Krisentief schneller als die konkurrierenden Industriestaaten zu erreichen, um Deutschland einen Vorsprung im Augenblick des Wiederaufschwungs der Weltwirtschaft zu verschaffen. In einer schweren weltweiten Depression, die der durch Krieg und Inflation geschwächten deutschen Wirtschaft besonders hart zusetzte, verfolgte die Reichsregierung eine krisenverschärfende Politik und zwang auch Ländern und Gemeinden den gleichen verhängnisvollen Kurs auf. Alle Einnahmemöglichkeiten durch Steuern, Abgaben und Gebühren wurden bis zur äußersten Grenze ausgeschöpft, die öffentlichen Ausgaben auf das unvermeidliche Minimum herabgedrückt. Als Abnehmer von Gütern und Diensten fielen Staat und Kommunen weitgehend aus; Investitionen, sogar Aufwendungen zum Erhalt von Gebäuden, Verkehrswegen, technischen Anlagen, Parks, Freizeiteinrichtungen etc., unterblieben. Für 1932 waren beispielsweise in Hamburg, ohne die explodierenden Soziallasten, deutlich niedrigere Ausgaben als 1913 vorgesehen.37 Auch bei den Personalausgaben wurde unerbittlich gespart, durch Entlassungen und Frühpensionierungen, durch wiederholte Kürzungen von Gehältern, Löhnen und Ruhebezügen, durch drastische Einschnitte bei den Renten und Unterstützungen für Arbeitslose, Kriegsopfer und Kranke. Gleichzeitig griff die Reichsregierung per Notverordnung in private Verträge ein, um die ohnehin fallenden Preise künstlich herabzudrücken. Sie verkannte dabei, dass eine völlig gleichmäßige Senkung aller Preis- und Kostenelemente unmöglich ist und eine Deflation nicht weniger zerstörerisch wirkt als vor acht Jahren die Inflation. Die Auswirkungen dieser Politik waren verheerend. Alle statistischen Indikatoren zeigen, dass die „Große Depression“ Deutschland härter traf als andere Industrieländer. Von 1928 bis 1932 sank das Bruttosozialprodukt auf 65%, die Industrieproduktion auf 58%, der Wert der Anlageinvestitionen auf 31%, der Exportwert auf 47%, der private Konsum auf 67% und die Staatsnachfrage auf 72% der Ausgangswerte von 1928. Die Zahl der registrierten Arbeitslosen stieg auf 5,6 Millionen, die Quote auf 29,9%; dazu kamen viele ‚unsichtbare‘ Erwerbslose.38 Arbeitslosigkeit bedeutete für die Betroffenen und ihre Familien oftmals Hunger. Von der 1927 errichteten Versicherung erhielten Alleinstehende ursprünglich ein halbes Jahr lang knapp 40 Prozent ihrer früheren Einkünfte, Familienväter etwas mehr. Nach wiederholten Kürzungen waren es 1932 unter Brünings Nachfolger Franz von Papen nur noch 20 bis 30 Prozent, die sechs Wochen lang und an Frauen und Jugendliche überhaupt nur bei Bedürftigkeit gezahlt wurden. Immer mehr Arbeitslose schieden aus der Versicherung aus. Schließlich mussten fast 60 Prozent von ihnen mit den kümmerlichen Leistungen der kommunalen Fürsorge auskommen,

  Depression, S. 53–78; diese Autoren schätzen Brünings Handlungsspielraum geringer ein, als es in der folgenden Darstellung geschieht. 37 Büttner (1978): Finanzpolitik, S. 224. 38 Knortz (2010): Wirtschaftsgeschichte, S. 219; Fischer (1968): Deutsche Wirtschaftspolitik, S. 108; Wehler (2003): Deutsche Gesellschaftsgeschichte, S. 260; Petzina et al. (1978): Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch, S. 75; Büttner (2008): Weimar, S. 826, 830.

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die nur das Verhungern verhinderten.39 Ab und zu konnten Hilfsbedürftige in einer Notstandsküche ein warmes Mittagessen erhalten. „Der Sozialstaat […], wurde in der Depression zur Armenanstalt.“40 Auch Menschen, die noch in Beschäftigung waren oder als Selbstständige ihr Brot verdienten, mussten nach den Lohn-, Gehalts- und Umsatzverlusten vieles entbehren. Der Gesundheitszustand der Schulkinder war 1932 wieder so schlecht wie nach den Hungerjahren des Ersten Weltkrieges.41 Die Millionen erwerbslosen Arbeiter und Angestellten und ihre Familien litten zweifellos am schwersten unter der Wirtschaftskatastrophe am Ende der Weimarer Republik. Aber auch die Beamten, die von vielen wegen ihrer sicheren Arbeitsplätze beneidet wurden, fühlten sich nach vier rasch aufeinanderfolgenden Gehaltskürzungen von ihrem Arbeitgeber Staat schlecht behandelt, insbesondere weil sie ohne Kontakt mit ihren Verbänden nach beruhigenden Dementis plötzlich per Notverordnung dekretiert wurden. Durch dieses Verfahren würden die Beamten „in hellen Scharen“ den Nationalsozialisten zugetrieben, warnte der linksliberale Staastssekretär im preußischen Innenministerium, Wilhelm Abegg. „Es ist fast so, als wenn in der Nähe der Reichsregierung […] bereits ein Propagandachef Hitlers säße.“42 Auch das mittelständische Gewerbe wurde durch die Auswirkungen der allgemeinen Not schwer getroffen. Der Kaufkraftverlust weiter Bevölkerungskreise und der weitgehende Ausfall der öffentlichen Auftraggeber führten zu dramatischen Einbrüchen beim Umsatz und bei der Beschäftigung. Arbeitslose Handwerksgesellen und Verkäufer gründeten Ein-Mann-Betriebe und vergrößerten dadurch die Konkurrenz um die schrumpfende Nachfrage. Noch schlimmer wirkte sich die weit verbreitete Schwarzarbeit aus. Mit Ausnahme der Branchen, auf deren Erzeugnisse oder Dienstleistungen auch in äußerster finanzieller Bedrängnis niemand verzichten kann, waren Umsatzeinbußen von 60 und mehr Prozent die Regel. Dabei war schon die Ausgangslage der meisten Gewerbetreibenden schlecht gewesen: 70 bis 80 Prozent der selbstständigen Handwerker verzeichneten Einkommen von weniger als 3000 Reichsmark im Jahr und damit nur wenig mehr als gelernte Arbeiter (2500 RM); 30 bis 40 Prozent lagen sogar unter 1500 Reichsmark.43 Im Einzelhandel war die Situation eher noch schlechter. Seit dem Herbst 1931 registrierten städtische Wohlfahrtsämter eine wachsende Zahl von Unterstützungsanträgen aus Gewerbekreisen. Aus Scheu, die ‚Verarmung‘ einzugestehen, wurden sie oft erst gestellt, wenn nichts mehr zu retten war. Wieder, wie in der Inflationszeit, fühlten sich die mittelständischen Gewerbetreibenden vom Staat in besonderer Weise benachteiligt. Nicht nur private Kunden,   39 Genauer zu den komplizierten, häufig wechselnden Bestimmungen: Büttner (1982): Hamburg in Staats- und Wirtschaftskrise, S. 243–248; Winkler (1987): Arbeiter und Arbeiterbewegung, S. 22–34; vgl. auch die Grafik bei Büttner (2008): Weimar, S. 827. 40 Longerich (1995): Deutschland 1918–1933, S. 304 41 Büttner (1982): Hamburg in Staats- und Wirtschaftskrise, S. 267. 42 Aufzeichnung vom 25.9.1930, zitiert nach Büttner (1985): Politische Gerechtigkeit, S. 246. 43 Diese Angaben basieren auf der Handwerksenquête von 1930, Bd. 1, S. 350–358, zitiert nach Büttner (2007): „Bierstreik”, S. 282, Anm. 10.

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sondern auch staatliche und kommunale Behörden wurden wegen ihrer leeren Kassen zu säumigen Zahlern und brachten dadurch Handwerker und Lieferanten in Bedrängnis. Ein Protestbrief eines kleinen Chemiefabrikanten zeigt, wie sich die Empörung über das Ausbleiben des Geldes mit sozialem Ressentiment aufladen konnte: „Tatsache ist, daß die erwerbenden Kreise […] hier einfach als zweitklassige Individuen an die Seite geschoben werden, und die Devise ist wie immer: Alles den Beamten, den anderen nichts!!“44 Vor allem die Preissenkungskampagnen der Reichsregierung riefen schlechte Erinnerungen an die Kriegs- und Inflationszeit wach und erschienen vielen Gewerbetreibenden als erneute ungerechte Diffamierung. Um überhaupt Aufträge zu erhalten, kalkulierten sie ohnehin mit äußerst knappen Verdiensten und wurden trotzdem ständig zu weiteren Preisermäßigungen gedrängt, während gleichzeitig die Belastung mit Steuern und öffentlichen Abgaben stieg. Mit der Notverordnung vom 8. Dezember 1931 kehrte die Reichsregierung sogar wieder zu Zwangseingriffen zurück, indem sie die gebundenen Preise unmittelbar auf das Niveau von 1927 senkte und einen Reichspreiskommissar mit weitreichenden Vollmachten für weitergehende Maßnahmen ausstattete. Wieder sahen sich Einzelhändler und Handwerker verdächtigt, ihre Produkte zu teuer zu verkaufen, und dies unmittelbar vor dem Weihnachtsgeschäft. Der Termin bestätigte ihnen, dass ihre Interessen, anders als die Bedürfnisse von Verbrauchern, Industrieproduzenten und Landwirten, bei der Reichsregierung wenig zählten.45 Stattdessen sollten sie nach ihrer Wahrnehmung „wieder die Rolle des Prügelknaben spielen“. Eine Behandlung wie 1923 würden sie sich aber nicht mehr gefallen lassen.46 Die Verletzung der sozialen Gerechtigkeit war der Hauptvorwurf gegen das Kabinett Brüning: In der Bankenkrise habe es die großkapitalistischen Geldinstitute gerettet, während es mittelständischen Betrieben das Leben schwer mache und sie trotz der Schutzzusage in der Reichsverfassung einfach untergehen lasse.47 Die Gewerbetreibenden sahen sich in einer doppelten Konfrontation: gegen den Staat und gegen die Großbetriebe, gegen „staatliche Regie ebenso wie [gegen] die Regie der Großbanken, denen zu Liebe die Grundsätze der freien Wirtschaft geopfert würden“.48 Konkret fühlten sie sich auf der einen Seite von Warenhäusern, Großbanken, Konzernbrauereien und Kartellbetrieben bedroht, die ihnen Kredite ver  44 Büttner (1982): Hamburg in Staats- und Wirtschaftskrise, S. 231. 45 Einzelhandel und Preissenkungsaktion. In: Hamburger Anzeiger Nr. 291 vom 14.12.1931. 46 Im Zeichen des Preisabbaus. In: Hamburger Anzeiger Nr. 272 vom 21.11.1930 (Bericht über eine Monatsversammlung eines Feinkosthändlervereins). 47 Fallstudien über Hamburg und Bremen zeigen, dass das Gefühl ungerechter Benachteiligung in der gesamten Zeitspanne vom Kriegsbeginn bis zum Ende der Ära Brüning das politische Verhalten der selbstständigen Gewerbetreibenden viel stärker bestimmte als ideologische Vorprägungen: Büttner (2007): „Bierstreik” (unter besonderer Berücksichtigung der Gastwirte); Domurad (1981): Politics of Corporatism, insbes. S. 194 f.; Haupt / Niermann (1988): Bremer Einzelhandel, insbes. S. 118. 48 Kundgebung des Groß-Hamburger Einzelhandels. In: Hamburger Anzeiger Nr. 288 vom 10.12.1931.

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weigerten und Preise diktierten; auf der anderen Seite fürchteten sie Konsumgenossenschaften und staatliche Regiebetriebe, sogar Behinderten- und Gefängniswerkstätten sowie Sachlieferungen an Wohlfahrtserwerbslose als gefährliche Konkurrenz. In einer Eingabe an den Reichskanzler klagten die Dachverbände des deutschen Handwerks im Sommer 1931 über „das bittere Gefühl der Vernachlässigung und Vereinsamung […], das in den letzten zehn Jahren mehr und mehr im gewerblichen Mittelstand Platz gegriffen“ habe.49 Hier wird der Unterschied zur Arbeiterschaft deutlich: Nach objektiven Merkmalen war ihre Lage in der Weltwirtschaftskrise vor allem wegen der großen Arbeitslosigkeit gewiss schlimmer als die Situation des gewerblichen Mittelstandes. Aber sie hatte in der Weimarer Republik auch beachtliche Fortschritte im Vergleich zum Kaiserreich erlebt, während sich den Mittelständlern diese gesamte Zeit als eine Abfolge von Rückschlägen darstellte. Vergeblich hatten sie im neuen demokratischen Staat nach einer Partei gesucht, die ihren Interessen Vorrang einräumte. In der DDP gaben liberale Unternehmer und Angestelltenvertreter den Ton an; in der DVP, der sie sich seit 1920 verstärkt zuwandten, waren es liberalkonservative Wirtschaftsführer und in der DNVP Großunternehmer und Großagrarier. Die Unterstützung einer eigenen Interessenpartei, der Reichspartei des deutschen Mittelstands (Wirtschaftspartei), hatte auch keinen durchschlagenden Erfolg gebracht, und so konnte die NSDAP mit ihrer antikapitalistischen Rhetorik und radikalen Ablehnung der Republik in der letzten Phase bei den selbstständigen Gewerbetreibenden Boden gewinnen. Seit dem Sommer 1931 umwarb sie diese Gruppe gezielt und versuchte, in den etablierten Mittelstandsverbänden Fuß zu fassen oder, wenn das nicht gelang, Konkurrenzorganisationen aufzubauen.50 „Deflation führt zur Revolution“, brachte einer der schärfsten und hellsichtigsten Brüning-Kritiker, der Reichstagsabgeordnete Anton Erkelenz (DDP/SPD), die verheerenden innenpolischen Auswirkungen seiner Deflationspolitik auf den Punkt.51 Die Verzweiflung und Empörung über das Wirtschaftselend, gegen das die Reichsregierung nichts unternahm, ja, das sie mit ihren Maßnahmen sogar noch förderte, kamen den radikalen Gegnern der Weimarer Demokratie zugute. Die KPD konnte ihre Ergebnisse bei den Reichstagswahlen im Juli und November 1932 von 13,1% auf 14,3% und 16,9% verbessern. Das war ein geradezu moderater Anstieg im Vergleich zur NSDAP, die ihr spektakuläres Resultat von 1930 verdoppelte und 37,3% bzw. 33,1% gewann. In den Länderparlamenten schnitt sie zum Teil noch besser ab. Sie zog in mehrere Landesregierungen ein und stellte im April 1932 in Anhalt den Ministerpräsidenten. In Hessen, Hamburg, Preußen, Bayern und Württemberg waren die demokratischen Regierungen seit September 1931 bzw.   49 Eingabe des Deutschen Handwerks- und Gewerbekammertages und des Reichsverbands des deutschen Handwerks vom 24. Juli 1931, abgedruckt in: Hamburger Industrie- und GewerbeZeitung, Nr. 17 / 1931, S. 232: Die Finanz- und Wirtschaftskrise erfordert unbedingte Rücksichtnahme auf den gewerblichen Mittelstand. 50 Die nationalsozialistische Ausbreitung im Mittelstand und Eroberung seiner Verbände habe ich am Beispiel der Gastwirte eingehend dargestellt: Büttner (2007): „Bierstreik”. 51 Anton Erkelenz, Undatiertes Manuskript mit diesem Titel im Bundesarchiv: Nachlass Erkelenz, Nr. 99; vgl. Büttner (2003): „Deflation führt zur Revolution“.

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April 1932 nur noch geschäftsführend im Amt, weil die Wahlsiege der NSDAP die Bildung neuer Regierungen verhinderten. Alle Bevölkerungsschichten hatten an dem rasanten Wachstum der NSDAP Anteil. Sie war, wie der Autor der gründlichsten Wahlanalyse formulierte, eine „Volkspartei des Protests“, aber – und das kann nach dem Gesagten nicht verwundern – „mit ausgeprägtem Mittelstandsbauch“.52 Wie sehr die rücksichtslose Sparpolitik des Kabinetts Brüning die republikanische Loyalität der Deutschen auf eine harte Probe stellte, zeigt der heftige Widerspruch einer Gruppe, die eigentlich mehr zu pragmatischem Handeln als zu empörtem Protest neigte: Der Deutsche Städtetag und Bürgermeister, die meistens denselben Parteien angehörten wie die Mitglieder der Reichsregierung, sahen in ihrer Politik nach vielen enttäuschenden Erfahrungen schließlich eine Gefahr für den demokratischen Staaat. Die Städte hatten in der Weimarer Republik einen großen Anteil am Aufbau moderner, sozialfreundlicher Infrastrukturen, seien es Straßen, Verkehrsmittel oder Messehallen, Parks, Schwimmbäder oder Sportarenen. Dafür hatten sie in den relativ guten Jahren seit 1924 im Ausland Kredite aufgenommen und sich deshalb den Zorn des Reichsbankpräsidenten Hjalmar Schacht und konservativer Politiker zugezogen. Der Grund waren weniger wirtschaftliche oder finanzielle Risiken als reparationspolitische Einwände. Der Devisenzustrom ermöglichte den Transfer der Reparationsraten, der nach dem Dawes-Plan von 1924 bei einem bedrohlichen Devisenmangel in Deutschland hätte ausgesetzt werden können. Die angeblich unechte „Konjunktur auf Pump“ und schädliche „Verschwendungssucht der Gemeinden“ und ihrer demokratischen Parlamente waren seither polemische Standardvorwürfe gegen die Städte. Auf Drängen des Reichsbankpräsidenten Hjalmar Schacht wurden sie gezwungen, Auslandsanleihen vom Reich genehmigen zu lassen, und mit Hilfe dieses Instruments vom internationalen Kapitalmarkt weitgehend abgeschnitten. Sie wichen notgedrungen auf kurzfristige Auslandskredite aus, deren massierter Rückzug sie in der Weltwirtschaftskrise in große Schwierigkeiten brachte. Dazu kamen die explodierenden Soziallasten, vor allem für die Unterstützung der Erwerslosen, bei drastisch sinkenden Einnahmen. Vielen Gemeinden und mehreren Ländern, die ihnen zu Hilfe kommen mussten, darunter Preußen, drohte der finanzielle Kollaps. Die verantwortlichen Kommunalpolitiker arbeiteten unter höchster Anspannung fast Tag und Nacht, um die Zahlungsunfähigkeit abzuwenden und wenigstens Gehälter, Löhne und Unterstützungen pünktlich auszuzahlen. In mühsamen Verhandlungen versuchten sie, das Reich zur Übernahme eines Teils der Krisenkosten zu bewegen und in akuten Notsituationen zum Monatsende von ihm kurzfristige Überbrückungskredite zu erhalten. Beim Kabinett Brüning fanden sie jedoch wenig Verständnis. Es wollte ihre finanzielle Bedrängnis nutzen, um die Selbstverwaltung der Gemeinden zu beschneiden und ihrer angeblichen „Verschwendungssucht“ ein für allemal ein Ende zu machen. Für den Reichsbankpräsidenten, inzwischen Hans Luther, der zugleich als Vorsitzender des Bundes zur Erneuerung des Reiches Vorkämpfer einer konservativen Reichsreform war, erschien der Konkurs einer   52 Falter (1984): Wähler der NSDAP, S. 55; ähnlich Falter (1991): Hitlers Wähler, S. 372.

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Stadt keineswegs als undenkbar: „Dieser Heilfaktor sollte nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden.“53 Auch Reichsarbeitsminister Adam Stegerwald, eigentlich für die Abwendung der sozialen Krisenfolgen zuständig, hielt den absehbaren finanziellen Zusammenbruch von Ländern und Gemeinden für nützlich, weil dadurch der „Abbau der übersteigerten Verwaltung einfach“ würde; die Regierung müsse dann wählen „zwischen der Verfassung und zwischen Staat und Volk.“54 Demokratische Oberbürgermeister, die bis zur Erschöpfung um das finanzielle Überleben ihrer Städte kämpften, waren über diese Politik verbittert. Der Berliner Bürgermeister Fritz Elsas, Mitglied der DDP bzw. Deutschen Staatspartei, der später im Widerstand gegen Hitler sein Leben verlor, stellte besorgt fest: Bei den Leitern der Städte sei ein „Maß von Arbeitsverdrossenheit“ entstanden, das zur „staatspolitischen Gefahr“ zu werden drohe.55 Am Ende waren die Kommunalpolitiker erleichtert, als Brüning gestürzt wurde und sie auf einen verständnisvolleren Reichsfinanzminister hoffen konnten.56 Seit dem Sommer 1931 verbreitete sich das Verlangen nach einer Änderung der offensichtlich krisenverschärfenden Finanzpolitik und wurde immer stärker. Es gab Alternativen: Angebote für französische Anleihen; die Abwertung der Reichsmark, zu der die englische Regierung im Herbst 1931 ermutigte; vor allem von dem englischen Wirtschaftsprofessor John Maynard Keynes inspirierte Vorschläge, die Konjunktur durch eine bewusste Kredit- und Geldschöpfungspolitik und umfangreiche Staatsaufträge anzukurbeln. Nach der Einführung der Devisenbewirtschaftung im Sommer des Jahres 1931 waren auch die Rahmenbedingungen dafür vorhanden. Wissenschaftler, Publizisten, Unternehmer, Bankiers, Gewerkschaftler und einige hohe Beamte bemühten sich verzweifelt, eine solche Wende durchzusetzen.57 Aber Brüning weigerte sich, diesen Schritt zu früh zu tun. Zuvor wollte er die schwere Wirtschaftskrise ausnutzen, um die Streichung der Reparationen zu erreichen, Deutschland wieder in die Position einer wirtschaftlichen Großmacht zu bringen und die angeblich übersteigerte Demokratie abzubauen.58 Außenund innenpolitisch strebte sein Kabinett danach, Folgen des Zusammenbruchs von 1918 zu überwinden. Es wollte die beiden Grundgesetze der Weimarer Republik korrigieren: den Versailler Vertrag und die Verfassung. Angesichts dieser hehren   53 Vermerk über eine Besprechung mit Kommunalvertretern im Reichsfinanzministerium am 15.12.1930, Archiv des Vereins für Kommunalwissenschaften, Berlin: DSt, B 3766. 54 Protokoll der Ministerbesprechung am 2.10.1931. In: Koops (1982): Kabinette Brüning, S. 1787. 55 Schreiben an Hermann Fischer, 5.4.1932, Bundesarchiv Koblenz: Nachlass Hermann Dietrich, Nr. 254. 56 Vermerk des Staatssekretärs in der Reichskanzlei, Hermann Pünder, vom 4.4.1932, zitiert bei Saldern (1966): Hermann Dietrich, S. 155; Bericht des hamburgischen Gesandten in Berlin vom 3.6.1932 über ein Gespräch mit dem Präsidenten des Deutschen Städtetages Oskar Mulert, Staatsarchiv Hamburg: Sozialbehörde I, FR 32 / 08, Bd. 1. 57 Büttner (1989): Politische Alternativen; dies. (2003): „Deflation führt zur Revolution“; Kim (1997), Industrie, Staat. 58 Helbich (1962): Reparationen. Das revisionistische Streben auf wirtschafts- und verfassungspolitischem Gebiet hat bisher weniger Beachtung gefunden; dazu Büttner (2008): Weimar, S. 426, 438.

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Ziele glaubte Brüning, dem Volk schwere Entbehrungen zumuten zu dürfen. Zur Zeit seiner Entlassung Ende Mai 1932 wähnte er sich „hundert Meter vor dem Ziel“. Gegenüber dem Staatssekretär im Reichsfinanzministerium Hans Schäffer beklagte er sich über die wachsende Proteststimmung: Es gehöre „zu den Eigenheiten des deutschen Volkes, kurz vor der Erreichung des Zieles den Mut zu verlieren und zusammenzuklappen“. Schäffer wusste es besser: Wann immer er solche Niederlagen erlebt habe, am Ende des Weltkrieges und des „Ruhrkampfes“, seien „die Ziele, die von den Führern gesetzt wurden, [...] über die vorhandenen Kräfte des Volkes“ hinausgegangen und deshalb immer wieder „aus möglichen Einigungen deutsche Kapitulationen“ geworden.59 LITERATUR Barth, Boris: Dolchstoßlegenden und politische Desintegration. Das Trauma der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg 1914–1933. Düsseldorf 2003. Bergien, Rüdiger: Die bellizistische Republik. Wehrkonsens und „Wehrhaftmachung“ in Deutschland 1918–1933. München 2012. Borchardt, Knut: Zwangslagen und Handlungsspielräume in der großen Wirtschaftskrise der frühen dreißiger Jahre. Zur Revision des überlieferten Geschichtsbildes. In: Ders.: Wachstum, Krisen, Handlungsspielräume der Wirtschaftspolitik. Studien zur Wirtschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Göttingen 1982, S. 165–182. Büttner, Ursula: Die Finanzpolitik des Hamburger Senats in der Weltwirtschaftskrise 1929–1932. In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 64 (1978), S. 181–206. Dies.: Hamburg in der Staats- und Wirtschaftskrise 1928–1931. Hamburg 1982. Dies.: Politische Gerechtigkeit und sozialer Geist. Hamburg zur Zeit der Weimarer Republik. Hamburg 1985. Dies.: Politische Alternativen zum Brüningschen Deflationskurs. Ein Beitrag zur Diskussion über „ökonomische Zwangslagen“ in der Endphase von Weimar. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 37 (1989), S. 209–251. Dies.: Politischer Neubeginn in schwieriger Zeit. Wahl und Arbeit der ersten demokratischen Bürgerschaft Hamburgs 1919–1921. Hamburg 1994. Dies.: „Deflation führt zur Revolution“. Anton Erkelenz’ vergeblicher Kampf für einen wirtschaftspolitischen Kurswechsel und die Rettung der Demokratie in der Ära Brüning. In: Hering, Rainer / Nicolaysen, Rainer (Hrsg.): Lebendige Sozialgeschichte. Gedenkschrift für Peter Borowsky. Wiesbaden 2003, S. 365–383. Dies.: „Bierstreik“ in Hamburg. Not und politische Radikalisierung des selbständigen Mittelstands in der Weltwirtschaftskrise. In: Brietzke, Dirk / Fischer, Norbert / Herzig, Arno (Hrsg.): Hamburg und sein norddeutsches Umland. Aspekte des Wandels seit der Frühen Neuzeit. Festschrift für Franklin Kopitzsch. Hamburg 2007, S. 279–304. Dies.: Weimar. Die überforderte Republik 1918–1933. Leistung und Versagen in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur. Stuttgart 2008. Dies.: Die Zerstörung der Weimarer Republik. In: Kailitz, Steffen (Hrsg.): Nach dem „Großen Krieg“. Vom Triumph zum Desaster der Demokratie 1918/19–1939. Göttingen 2016, S. 149– 172.

  59 Hans Schäffer, Entlassungsgesuch, 19.3.1932, abgedruckt bei: Maurer / Wengst (1980): Politik und Wirtschaft, S. 1344.

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„WEIMARS“ CHANCEN UND MÖGLICHKEITEN, STRUKTUREN UND NORMEN – EINE PROBLEMSKIZZE Detlef Lehnert Unter dem Titel „Mythos Weimar“ erschien 1998 ein Buch des Publizisten Peter Merseburger.1 In jenem Jahr wurde das „klassische Weimar“ von der UNESCO zum Weltkulturerbe erhoben – kurz bevor Weimar zum 250. Geburtstag Goethes Europas Kulturhauptstadt war. Doch auch schon Friedrich Ebert bemühte diesen Mythos, wenn er zur Eröffnung der erstmals von Frauen und Männern ab 20 Jahre gewählten Nationalversammlung am 6. Februar 1919 ausrief: „Jetzt muß der Geist von Weimar, der Geist der großen Philosophen und Dichter wiederum unser Leben erfüllen.“ Dabei solle man „die Wandlung vollziehen vom Imperialismus zum Idealismus, von der Weltmacht zur geistigen Größe“. Dass Ebert sich als Sozialdemokrat auch zu „wahrem sozialen Geist und sozialistischer Tat“ bekannte, war einige Tage vor seiner Wahl zum ersten Reichspräsidenten nicht verwunderlich. Aber dass auf seinen Appell, „in Deutschland eine starke Demokratie zu verankern“, das Protokoll nur „lebhafter Beifall links“ vermerkte2, mag doch als Warnzeichen gelten, die Bereitschaft zum Neubeginn nicht zu überschätzen. Erst 1949 trugen sämtliche Parteien, die für das Grundgesetz stimmten, nämlich CDU, SPD und FDP, nach der NS-Diktatur ein demokratisches Bekenntnis auch im Parteinamen. Im Kaiserreich galt dies neben der SPD reichsweit nur für die kleine linksbürgerliche Demokratische Vereinigung. Somit war die Gründung einer Deutschen Demokratischen Partei im November 1918 zunächst eine wichtige Neuakzentuierung. Aber gerade der Niedergang dieser (nur teilweise links-)liberalen DDP von 18,5 % im Januar 1919 bis auf 4,8 % bei Reichstagswahlen im Mai 1928, bevor sie unter Namensänderung zur „Deutschen Staatspartei“ in Bedeutungslosigkeit versank, wurde kennzeichnend für Schwundprozesse des Gründungsimpulses. Dieser war gerade am Ort der Nationalversammlung nicht massenbewegend, so jedenfalls erinnerte sich zum 10. Jahrestag der Republikausrufung im demokratischen „Berliner Tageblatt“ die Witwe des Verfassungsvaters Hugo Preuß: „[...] brausend wurde am 31. Juli 1919 die Verfassung in der Nationalversammlung angenommen. [...] Aber als man hinaustrat aus dem Theater von Weimar, [...] da war von einer gewaltigen Volksmenge um das Goethe-Schiller-Denkmal nichts zu sehen.“3 Bald schon hatte sich in der Stadt Weimar, ohne Mythos betrachtet, politischer Ungeist eingenistet: 1924 erzielten dort rechtsextreme Völkische bei Landtagswahlen 18,6 %,   1 2 3

Merseburger (1998): Mythos Weimar. Verhandlungen (1919), Bd. 326, 1. Sitzung am 6.2.1919, S. 3 (C). Berliner Tageblatt Nr. 531 v. 9.11.1928: Else Preuss, Die Nationalversammlung.

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dreimal so viel wie im Reichsmaßstab. Im November 1932 bei den letzten freien Reichstagwahlen erreichte Hitlers NSDAP zusammen mit Hugenbergs Deutschnationalen 52,2 % in Weimar4 gegenüber reichsweit 41,6 % – aber nur 31,3 % im Wahlkreis (Alt-)Berlin, am Sitz des Reichstags seit dem Spätsommer 1919.5 Auf den Tätigkeitsort bezogen kann von einer Weimarer Nationalversammlung sowie der von ihr beratenen und beschlossenen Weimarer (Reichs-)Verfassung gesprochen werden. Aber eine Weimarer Republik lässt sich die Periode mit ihrem Kern der 1920er Jahre nach Rückkehr in den Berliner Reichstag im Frühherbst 1919 nur problemlos nennen, wenn die formelle und weitere reale Geltung ihrer ursprünglichen Verfassungsordnung der historisch-politischen Analyse zugrunde gelegt wird.6 1. ZUR INTERNATIONALEN UND INNEREN VERFASSTHEIT DER GRÜNDUNGSKONSTELLATION Bei den „Chancen und Möglichkeiten“ geht es auch um die Frage: Waren vor allem in den ersten Jahren grundlegende Handlungsalternativen verfügbar? Ein kurzer Blick muss dem internationalen Handlungsfeld gelten, für das klarere Entscheidungen in beiden Richtungen denkbar gewesen wären. Einerseits hätte dem republikanischen Neubeginn mehr Vertrauen entgegengebracht werden können, ohne die Siegerinteressen zu verkennen: Dabei natürlich Rückgabe von Elsaß-Lothringen an Frankreich und Wiederaufbau der kriegsverwüsteten Gebiete unter maßgebendem Beitrag Deutschlands, teilweise gegenfinanziert durch kontrollierte Abrüstung; umgekehrt aber z.B. kein Beitrittsverbot für die österreichische Republik, was eine Missachtung des vom US-Präsidenten Wilson proklamierten demokratischen Selbstbestimmungsrechts war und „deutsche Fragen“ für die Zukunft unbeantwortet ließ. Zumal in Österreich nur die Farben Rot und Schwarz parteipolitisch dominierten, hätte der Beitritt der Alpenrepublik jenes national-protestantische Lager geschwächt, das wahlsoziologischer Erkenntnis gemäß deutschnationale und zuletzt nationalsozialistische Erfolge trug.7 Auch wenn österreichische Ergebnisse insgesamt nur einige Prozente verschieben konnten, ging es in der Weimarer Zeit an entscheidenden Wegmarken um so geringe Differenzen: Hindenburg gewann 1925 die Reichspräsidentenwahl gegen den Kandidaten der Weimarer Koalition, den Zentrumskatholiken Wilhelm Marx, mit nur 3 % Vorsprung. Ähnlich minimal   4 5 6

7

Merseburger (1998): Mythos, S. 312. Falter (1986): Wahlen, S. 74. In der einflussreichen Darstellung von Peukert (1987): Weimarer Republik, erscheint „Die totale Krise 1930–1933“ (S. 243–265) eher pflichtgemäß angehängt, während in jener Publikationsreihe eine nachfolgende Übergangsperiode zur Diktatur behandelt wird: Jasper (1986): Zähmung. In der Version von Rosenberg (1973): Geschichte, bedeutete die Tolerierung des Präsidialkabinetts Brüning seit Herbst 1930 „die Todesstunde der Weimarer Republik“, denn nun „stellte die Reichstagsmehrheit den Kampf gegen die verfassungswidrige Diktatur ein“ (S. 211). Rohe (1992): Wahlen.

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war auch der Unterschied im Mandatsanteil zwischen einer stabilen Weimarer Koalition in Preußen und dem überwiegenden Fehlen ihrer Mehrheitsbasis auf Reichsebene.8 Andererseits hätte auch konsequenteres Misstrauen gegenüber einer Restauration deutscher Großmachtpolitik eine konsistente Siegeroption geboten: Die Ergebnisse des kurzen preußisch-österreichischen Krieges von 1866 mochten noch eine innerdeutsche Angelegenheit gewesen sein. Aber für die Reichsgründung von 1871 als Folge der Besiegung Frankreichs galt das nicht. Sogar der Machtstaats-Befürworter Max Weber hatte in seiner akademischen Antrittsrede 1895 zu bedenken gegeben, dass ohne die anschließende imperialistische Weltpolitik dieser Weg zur Reichsgründung als besser zu unterlassender „Jugendstreich“ erscheinen konnte, „den die Nation auf ihre alten Tage beging“.9 Wenn nun aber 1918 deutsche Weltpolitik an den Westalliierten gescheitert war, durfte sich auch die Rückabwicklung des großpreußischen Angliederungswerks nicht als völlig abwegig darbieten. Es wäre dann gewissermaßen eine Berliner Republik in etwas erweiterter Nachfolge des Norddeutschen Bundes und ein süddeutscher Föderativstaat entstanden. Das hätte wohl ebenfalls dem Weg in deutsche Katastrophen vorbeugen können, die später für zwei Generationen die Teilung des Landes herbeiführten. Was die Verfassungsnormen betrifft, resümierte SPD-Parlamentspräsident Eduard David die mit Dreiviertelmehrheit erfolgte Beschlussfassung Ende Juli 1919 folgendermaßen: „Nirgends in der Welt ist die Demokratie konsequenter durchgeführt als in der neuen deutschen Verfassung. [...] Die deutsche Republik ist fortan die demokratischste Demokratie der Welt.“10 Für einen promovierten Akademiker wie David war das keine besonders elegante Formulierung, aber der Sache nach bleibt sie bedenkenswert. Wenn es keinerlei Abstufungen im Demokratie-Niveau gäbe, wäre nicht nur ein Motto wie „mehr Demokratie wagen“ sinnlos.11 Darüber hinaus müsste die Politikwissenschaft dann auch Begriffe wie unvollständige oder defekte Demokratien und erst recht detaillierte Demokratie-Indices vermeiden. Zwar lässt sich mangels historischer Umfragedaten der bekannteste DemokratieIndex, den jährlich der britische „Economist“ veröffentlicht, nicht auf die Weimarer Republik rückprojizieren. Gemessen am Optimum, dem in Europa skandinavische Länder entsprechen, werden dort aber dem heutigen Deutschland einige Defizite an politischer Teilhabe und Teilnahme bescheinigt – so wie Österreich gewisse Schwächen in der Funktion des Regierungssystems und der Politischen Kultur.12   8 9 10 11

Falter (1986): Wahlen, S. 46 u. 68–71; Möller (1985): Parlamentarismus, S. 601. Weber (1895): Nationalstaat, S. 29. Verhandlungen (1919), Bd. 329, 71. Sitzung v. 31.7.1919, S. 2195 (A). Bekanntlich ein häufig aufgegriffenes Leitmotiv der ersten Regierungserklärung Willy Brandts 1969 für eine Politik der inneren Reformen neben dem Stichwort „Volk der guten Nachbarn“, das u.a. für die neue Ostpolitik stand und wo Brandts Friedensnobelpreis 1971 demjenigen Stresemanns von 1926 folgte. Dabei bleibt zumeist unerwähnt, dass 1927 als weiterer Deutscher der gemäßigte Pazifist Ludwig Quidde, langjähriger Vorsitzender der Deutschen Friedensgesellschaft, mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden ist. 12 Democracy-Index 2015, S. 4, nach http://www.yabiladi.com/img/content/EIU-Democracy-Index-2015.pdf (alle Webquellen dieses Beitrags vom 15.4.2016).

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Solche aktuellen Hinweise führen uns auf die Geschichte zurück: Dass die Bundesrepublik im Partizipationsniveau nunmehr als unvollständigere Demokratie im Vergleich zu Weimar erscheinen mag, liegt nicht allein an der gesunkenen und dabei sozialstrukturell höchst ungleichgewichtig gewordenen Wahlbeteiligung. Darüber hinaus ergibt der – aus „Lehren Weimars“ erfolgte – Rückbau unmittelbarer Wahlvolksrechte nun Punktabzüge. Ganz ähnlich war die zunehmend kritisch betrachtete großkoalitionäre Struktur Österreichs auch die Folge einer Bürgerkriegs-Konfrontation von 1934 der Vorgänger beider Großparteien. Der Chefredakteur des SPD-„Vorwärts“ Friedrich Stampfer, wie sein USPDKollege Rudolf Hilferding für deren Zentralorgan „Die Freiheit“ ursprünglich aus Altösterreich stammend, hat 1919 eine werbende Broschüre zu „Verfassung, Arbeiterklasse und Sozialismus“ vorgelegt.13 Darin warnte er trotz der auf Stabilisierung der Nachkriegsverhältnisse gerichteten Amtsführung Eberts und einer Bekräftigung, „die Verfassung der deutschen Republik als demokratischste der Welt zu bezeichnen“ (S. 27), frühzeitig vor einer möglichen inneren Demontage des politischen Systems: „Wenn ein Reichspräsident gewählt wird, der kein zuverlässiger Republikaner ist, so kann durch ihn die ganze Grundlage des Staatsaufbaus in Gefahr geraten“ (S. 9). Das Hauptaugenmerk galt aber dem Nachweis, dass die Weimarer Verfassung bei vorhandenen Mehrheiten den Weg zu weit gesteckten sozialdemokratischen Zielen ermöglichte. So zitierte Stampfer den Art. 153, dass Entschädigung Privater für Enteignung nur die Norm war, „soweit nicht ein Reichsgesetz etwas anderes bestimmt“ (S. 12). Auch gewähre Art. 165 schon bei fortbestehendem bürgerlichen Eigentum an Produktionsmitteln die Chancen zur Mitbestimmung: „Es ist möglich, daß die Betriebsräte wirklich zu einem Hebel des revolutionären Fortschritts werden, doch wird sich das dann in ganz anderer Weise vollziehen, als es sich die Propheten des Rätewesens heute vorstellen. Es wird sich darum handeln, ob die Arbeiterschaft der einzelnen Betriebe imstande sein wird, nach und nach aus sich selbst heraus Organe zu entwickeln, die einen immer stärkeren Einfluß auf die Betriebsleitung nehmen (S. 24).“

Stampfer betonte, dass bereits die Revolutionsregierung per „Verordnung vom 23. Dezember 1918“ die Schwelle für „Arbeiter- und Angestelltenausschüsse“ von Betrieben mit 50 auf 20 Beschäftigte gesenkt hatte; sie folgte darin zugleich parteieigenen Vorschlägen zu „Gewerbe- oder Arbeitskammern“ seit 1877 bzw. 1885/86. Umso mehr sei klar, „daß der Artikel 165 der Verfassung, der vom Rätewesen handelt, in keiner Weise eine Übernahme der höchst zweifelhaften russischen Errungenschaften darstellt“ (S. 22). Das Fazit seiner die Kompromisse (z.B. im Schulwesen und zur Protektion des alten Mittelstands) nicht verleugnenden Schrift lautete: „Das Wissen, das die Arbeiter jetzt am allernotwendigsten brauchen, ist das Wissen von der Verfassung. Nur dieses Wissen macht sie zu bewußten Trägern der Volksgewalt“ (S. 32). Der Soziologe Ulrich Beck hat für die Suche nach einem Kern des Politischen im 19. Jahrhundert mehr ein „entweder-oder“ und im 20. Jahrhundert die „Arbeit   13 Stampfer (1919): Verfassung (daraus Seitenzahlen im Text bis vor Anm. 14).

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am und“ kontrastiert.14 Das steht in Spannung zur Charakterisierung des kurzen 20. Jahrhunderts als „Zeitalter der Extreme“15, mit dessen erster Generationsspanne von 1914 bis 1945 gar als „Zweiter Dreißigjähriger Krieg“16. Mehr „Sowohl-alsauch“ konnte aber die zuvor noch zuweilen in Carl Schmittscher Antithetik befangene Weimar-Forschung voranbringen. Das gilt zunächst für den negativen Mythos des Versailler Friedensvertrags – als vermeintlich schon die Weimarer Republik am Lebensnerv treffend.17 Frühere Legenden des nur wegen französischer Rachsucht verpassten milden „Wilson-Friedens“ hat jüngst der britische Historiker Adam Tooze weiter demontiert. Er hält aus Dokumenten einer an Eigensicht orientierten US-Politik folgende Kontrastfolie entgegen: „Eine wirklich internationalistische Vision des Völkerbunds wurde also Anfang Februar 1919 in der Kommission nicht von Wilson, sondern von Vertretern der französischen Republik vorgebracht.“ Von dort her wurde argumentiert, dass der Völkerbund „eine multilaterale demokratische Allianz mit starken kollektiven Sicherheitsvorkehrungen werden müsse“.18 Erst nach dem Scheitern derartiger Neuordnungspläne verhärtete sich zusehends die französische Position.19 Diese Neuansätze sind heute vergessen, obwohl nach dem US-Präsidenten Wilson für 1919 der französische Völkerbundrats-Präsident Léon Bourgeois20 1920 den Friedensnobelpreis erhalten hat. Dieser ehemalige Ministerpräsident war zuvor mit seiner Konzeption des „Solidarismus“, einer sozialphilosophischen Ausarbeitung des dritten Grundmotivs „Fraternité“ aus dem Revolutionserbe, ein hochrangiger französischer Linksrepublikaner.21 Diese Pariser Verträge führten „das Programm der Gesellschaftsreform und der Sozialpolitik in die internationale Politik ein, sichtbar in Gestalt der Internationalen Arbeitsorganisation“.22 Auch dort war ein Franzose maßgebend beteiligt: nämlich als Gründungsdirektor und dann bis zu seinem Tod 1932 der Ex-Minister und reformistische Sozialist Albert Thomas. So sehr die Inszenierung von Versailles als Diktat und einzelne Bestimmungen in der deutschen Öffentlichkeit fast einhellig abgelehnt wurden, kann doch von unmittelbar nachfolgender Revanchestimmung nicht die Rede sein. „Nie wieder Krieg!“ lautete vielmehr Anfang August 1919 die Schlagzeile   14 Beck (1993): Erfindung, S. 9 (Bezug nehmend auf Wassily Kandinsky). 15 Hobsbawn (2014): Zeitalter der Extreme, spricht dort auch von einer „Geschichte des einunddreißigjährigen Weltkriegs“ (S. 38). 16 Wehler (2004): Krieg; Wehler (2003): Gesellschaftsgeschichte 4, S. XIX u. 985. Tatsächlich gab es aber in jedem einzelnen Jahr von 1919 bis 1936 global betrachtet stets weniger Kriegstote als in der Zeit des Korea- und Vietnamkriegs, dazu Leonhard (2014): Büchse der Pandora, S. 21 (Schaubild). 17 Ausführlich MacMillan (2015): Friedensmacher; komprimiert Kolb (2005): Frieden. 18 Tooze (2015): Sintflut, S. 320. 19 Ebd., S. 327. 20 Zu seinen Vorschlägen, aber die andere Haltung des Regierungschefs Clemenceau betonend, auch MacMillan (2015): Friedensmacher, S. 141 f., wobei die Beteiligung des späteren E(W)GGründervaters (und stellv. Völkerbund-Generalsekretärs 1920–1923) Jean Monnet im damaligen französischen Handelsministerium wohl nur sehr entfernt als bereits zukunftsverweisend gelten kann (S. 254). 21 Bourgeois (1896): Solidarité; Audier (2007): Léon Bourgeois. 22 Müller (2014): Nach dem Ersten Weltkrieg, S. 35.

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zum 5. Jahrestag des Kriegsausbruchs in der DDP-nahen Berliner Volks-Zeitung – und lange Verse standen darunter zur „Abkehr vom Krieg!“, die in den Leitsatz mündeten: „Heilig der Mensch und dreimal heilig das Leben!“23 2. FRAUEN- UND JUNGMÄNNER-STIMMRECHT NACH EINER ARBEITER- UND SOLDATENREVOLUTION Die Einführung des Frauenstimmrechts mit revolutionärer Proklamation der sozialdemokratischen Regierung der Volksbeauftragen am 12. November 191824 wird zwar häufig erwähnt, aber seltener zum Anlass von konkreten Analysen genommen. Das liegt u.a. daran, dass sich die „Gender Studies“ wenig für Wahlen und die historische Wahlforschung auch nicht viel mehr für Besonderheiten bei Frauen interessierten. Das geschlechtsspezifisch unterschiedliche Wahlverhalten ist zwar in Grundzügen bekannt: Vom Frauenstimmrecht profitierten zunächst (und bis in die 1960er Jahre) vor allem christlich-konservative Parteien, gegen deren Vorbehalte es von Sozialdemokraten aus deren Erfurter Programm von 1891 in den Weimarer Neubeginn umgesetzt wurde. Aber für die Wahlen Anfang 1919 wurde der naheliegende Umkehrschluss dieses Befunds kaum bedacht. Nicht die sicher unter 40 % aller Frauenstimmen für SPD und USPD – aber deutlich mehr als der kaiserzeitliche Höchstwert von knapp 35 % der Männerstimmen zum Reichstag 1912 – sind dabei vorrangig zu erklären. Eine politische Sensation waren vielmehr die nun zu über 50 % sozialdemokratisch angekreuzten Stimmzettel der Männer. Dies geschah, obwohl ein nicht unbeträchtlicher Teil der (stark in diese Richtung tendierenden) Kriegsteilnehmer nicht rechtzeitig zu den Wahlurnen gelangte. Dass bei Männerstimmrecht und sonst gleichen Wahlregularien eine absolute Mehrheit für SPD und USPD das Ergebnis gewesen wäre, ist historisch-politisch ohne ersichtliche Bedeutung. Denn Sozialdemokraten konnten nicht ausgerechnet in einer Revolution die Stimmrechtsparole auch für die Frauen verleugnen; überdies wäre bei dem Ausmaß des Konflikts zwischen beiden Parteien eine „rote“ anstelle einer „schwarz-rot-goldenen“ Koalition dennoch unwahrscheinlich geblieben oder wohl rasch zerbrochen. Eher noch für die Verfassungsberatungen, bei denen zuweilen eine „bürgerliche Mehrheit“ immerhin erreichte sozialdemokratische Gestaltungsziele eingrenzte25, hätte die eigene „rote“ Mehrheit wirksam sein können. Doch nicht bloßen Gedankenexperimenten soll hier die überschlägige Auswertung der verfügbaren Sonderauszählungen dienen. Verlässlich zu ermitteln ist zunächst mit den bekannten Ziffern von 45,5 % SPD/USPD-Stimmen und 18 % Frauenüberschuss der Abstimmenden die 50 %-Schwelle der Männerstimmen: Diese   23 Berliner Volks-Zeitung Nr. 356 v. 3.8.1919. 24 Es ist dort „mit Gesetzeskraft“ u.a. „verkündet“ worden: „Alle Wahlen zu öffentlichen Körperschaften sind fortan nach dem gleichen, geheimen, direkten, allgemeinen Wahlrecht auf Grund des proportionalen Wahlsystems für alle mindestens 20 Jahre alten männlichen und weiblichen Personen zu vollziehen“; Reichs-Gesetzblatt 1918, S. 1303 f. 25 Potthoff (1972): Verfassungswerk.

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wurde schon bei unterstellten 41,7 % Frauenstimmen erreicht, was zu der gesicherten Aussage führt, dass bei jeglicher Überschreitung von insgesamt 1,2-fachen Männer- gegenüber Frauenanteilen sozialdemokratischer Stimmen von einer absoluten Mehrheit für SPD/USPD bei den Männerstimmen der Wahl zur Nationalversammlung (NV) auszugehen ist. Die aus dem Januar 1919 überlieferten Relationen liegen sogar weitaus höher: Teilergebnisse aus Bayern 1,52 (Landtag), Bruchsaal 1,84 (NV), Köln 1,43 (NV) und 1,26 Neustadt/Holstein (NV); dabei erklärt sich die letztere moderate Verhältniszahl aus der Konkurrenz vornehmlich nur der DDP und damit einer nicht besonders mit dem (kirchennahen) Frauenbonus ausgestatteten Partei.26 Für Bayern zeigt eine Differenz von 1,66 für das katholische Regensburg gegenüber 1,43 des evangelischen Ansbach27 zwar den hinlänglich bekannten stärkeren Einfluss des katholischen Milieus. Aber beide Werte liegen so weit vom Schwellenwert 1,2 entfernt und werden von etwas späteren Ziffern der hier fehlenden evangelischen Großstädte nicht dementiert28, dass kaum begründeter Zweifel an oben genannter Schätzgröße möglich ist: Unter 40 % SPD/USPD-Stimmen der Frauen standen (deutlich) über 50 % SPD/USPD-Stimmen der Männer gegenüber. Für die Erklärung des nur im Männerwahlsektor erstaunlichen Befunds liegt ein zusätzliches Ergebnis vor, das bislang zu wenig beachtet wurde: Es gab noch ein Sondervotum der „im Osten stehen Truppenverbände“, wodurch Anfang Februar 1919 zwei Abgeordnete zur Nationalversammlung hinzu kamen. Dabei er-oberten SPD und USPD zusammen exakt 75 % der abgegebenen Stimmen.29 Auch wenn dort regional bedingt der Katholikenanteil deutlich unterrepräsentiert lag und auch deshalb rechts von der DDP (13 %) wesentlich nur eine „parteilose“ Sammelliste zustande gekommen war: Es blieb auch die erheblich schwächere DDP-Vertretung gegenüber einer weitaus dominierenden Sozialdemokratie ein klarer Indikator für deren Bevorzugung durch jüngere Männer, zumal im Soldatenstatus. Die bei der letzten Reichstagswahl im Januar 1912 noch nicht stimmberechtigten zwölf Geburtsjahrgänge 1887 bis 1898 konnten aber nicht nur bei der Nationalversammlungswahl 1919 erstmals teilnehmen, sondern bildeten auch einen Kern der Kriegsdienstjahrgänge. Insofern muss bei insgesamt historisch fraglos größerer Bedeutung des Frauenstimmrechts der Absenkung des Wahlalters auch der Männer von 25 auf 20, zusätzlich verbunden mit einer Zeitspanne von sieben Jahren seit dem letzten Urnengang, mehr Beachtung als – freilich bald volatiler – Impuls des Weimarer Neubeginns geschenkt werden.30   26 Ermittelt nach Daten bei Bremme (1956): Rolle der Frau, S. 243, 246, 248 u. 251. 27 Ebd., S. 251 u. 246. 28 Ebd., S. 245 zeigt noch für die preußischen Landtagswahlen Anfang 1921 (frühere Zahlen sind nicht verfügbar) zwar mit 1,13 für die SPD eine verminderte Differenz, aber nun 1,40 bei der KPD; umgekehrt war beim minoritären katholischen Zentrum eine 1,61-fache und bei (erstarkten) evangelischen Deutschnationalen eine 1,36-fache Frauenüberschuss-Relation zu verzeichnen. 29 http://www.gonschior.de/weimar/Deutschland/NV.html – im Verweis auf die Statistik des Deutschen Reichs 1920, I, S. 96 ff. 30 Diese Pointe geht verloren, wo das Wahlalter der Frauen zur Nationalversammlung fehlerhaft mit „25 Jahre“ angegeben wird bei Winkler (2015): Geschichte des Westens, S. 142.

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Im Dezember 1918 wurden nur zwei Frauen unter den – gerade bei Soldaten auffällig jungen – knapp 500 Delegierten zum Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte gezählt.31 So bedeutete dessen überwältigender Mehrheitsbeschluss (ca. 400 zu 50 Stimmen) zugunsten der Nationalversammlungswahl am 19. Januar 1919 faktisch auch: Dies war die Entscheidung zum gleichen politischen Recht der Frauen in deren jeweiliger Lebenssphäre und gegen eine fortgesetzte Hegemonie zunächst allein der Militär- und Betriebswelt. 3. ZÄSUR IN DER POLITISCH-ÖKONOMISCHEN KRISENENTWICKLUNG 1922/23 Zwar wurde Außenminister Rathenau im Juni 1922 von Rechtsradikalen wegen seiner Politik der Erfüllung des Versailler Vertrags ermordet. Aber die breite Empörung über den ersten politischen Mord an einem amtierenden Reichsminister verschaffte den republiktragenden Kräften sogar deutlichen Auftrieb. Mit noch immer über acht Millionen Mitgliedern der Freien Gewerkschaften im Rücken stellte nach Vereinigung von SPD und Rest-USPD die sozialdemokratische Reichstagsfraktion nun wieder stattliche 36 % der Mandate. Zusammen mit 23 % von DDP und Zentrumspartei hätte die Weimarer Koalition für den Rest der Legislaturperiode ein Programm der politischen und ökonomischen Stabilisierung der Republik durchsetzen können. Deren knapp 60 % der Mandate auch noch die 14 % der weiter rechts stehenden DVP zur Großen Koalition hinzuzufügen, konnte als Verkennung der Logik des parlamentarischen Systems erscheinen. Wenn man zu diesem Zeitpunkt die DVP als republiktragend einstufte, woran es durchaus Zweifel gab, machte anderes mehr Sinn: nämlich das politische Talent Stresemanns sich zunächst als Oppositionsführer entfalten zu sehen. So hätten sich nationalistische Stimmungslagen im Bürgertum wohl auch moderater als bei den Deutschnationalen binden lassen. Es war eine bis heute unterschätzte Zäsur, dass der Zentrumskanzler Joseph Wirth auch über verschiedene Optionen der Außenpolitik stürzte, die ein Staat unter der Versailler Ordnung vollgültig noch gar nicht hatte. Nach Ermordung des bereits von deutschnationalen Kampagnen aus der Regierung verdrängten Finanzministers Erzberger ein Jahr zuvor galt: Für die Gesinnungsrepublikaner in SPD und DDP konnte es keinen Zentrumskanzler mehr geben, von dem sie innenpolitisch so weitgehend mit vertreten worden sind wie durch Wirth in seinem Bekenntnis zu „In jeder Stunde ... Demokratie!“ und direkt anschließend der Kampfansage im Reichstag an das deutschnationale Umfeld des

  31 Roß (1999): Politische Partizipation, S. 85 u. 331; das Durchschnittsalter der Soldatendelegierten des Dezemberkongresses betrug 32 Jahre (S. 67). Wer annimmt, dass zu wenige Wochen seit Revolutionsbeginn der Grund für die Nichtwahl von Frauen gewesen sei, findet im zweiten Rätekongress vom April 1919 (und somit nach der Nationalversammlungswahl des Januar mit immerhin 37 gewählten Frauen) die Widerlegung: Nun gab es keine einzige Frau unter den Räte-Delegierten (S. 82, Anm. 109 u. S. 331).

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Mordterrors: „dieser Feind steht rechts!“32 Reichspräsident Ebert hätte nunmehr darauf insistieren sollen, gestützt auf die republiktragende Massenstimmung nach dem Rathenau-Mord ein Volkswahlmandat zu erhalten. So war das nämlich in Artikel 41 der Weimarer Verfassung vorgesehen, weshalb zu verbreiteter Sicht eine Gegenthese lauten kann: Nicht die 1919 normierte Volkswahl des Reichspräsidenten, sondern deren mit Zweidrittelmehrheit beschlossene verfassungsdurchbrechende Umgehung 1922 war die verfehltere Entscheidung. Sogar der im Kaiserreich noch freikonservative, nunmehr vernunftrepublikanische Historiker Hans Delbrück äußerte in einem Brief an Reichskanzler Wirth im Juli 1922 folgende Überzeugung: „Während es bisher sehr zweifelhaft war, ob Herr Ebert im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit gewinnen würde, wäre ihm diese jetzt sicher.“ Und das würde „mit einem Schlage das jetzt so schwer erschütterte internationale Ansehen Deutschlands wiederherstellen“.33 Nach Bildung des nur halbparlamentarischen Kabinetts des Nichtpolitikers Wilhelm Cuno im November 1922 geriet die Weimarer Republik schrittweise aus ihrer Verfassungsspur.34 Nur wenige Tage zuvor war Mussolinis Machtübernahme im „Marsch auf Rom“ als politische Gefahrenmeldung zu lesen. Der „verspielten Freiheit“35 zur tatkräftigen Festigung der Republik folgten die anderthalb folgenschwersten Jahre vor der Weimarer Endkrise: Der aussichtslose Ruhrkampf, in dem auch das französische Mitte-Rechts-Kabinett den Bogen des Versailler Vertrags überspannte, trieb nicht allein die Hyperinflation auf zuletzt Billionenhöhe, sondern parallel nationalistische Stimmungen in seit Kriegsende nicht gekannte Dimensionen. Der gescheiterte Hitler-Ludendorff-Putsch im November 1923 war der Eskalationsgipfel verfassungsfremder Entwicklungen ganz besonders in Bayern. Gegen die Linksregierungen in Sachsen und Thüringen wurde hingegen Militärgewalt eingesetzt, unter wesentlicher Verantwortung des kurzzeitigen Reichskanzlers Stresemann und einen fragwürdigen Präzedenzfall für den „Preußenschlag“ von 1932 setzend.36 In Reichstagswahlen vom Mai 1924 ernteten die faulig-reifen Früchte von alldem neben den völkischen Rechtsradikalen die republikfeindlichen Deutschnationalen: Als zusammen mit Landbund-Mandanten stärkste Fraktion stellten sie nun gar den Reichstagspräsidenten. Das blieb die einzige Wahlperiode seit 1920 vor der   32 Verhandlungen des Reichstags, Bd. 356, 236. Sitzung v. 25.6.1922, S. 8058 (A). 33 Zit. nach Mühlhausen (2006): Friedrich Ebert, S. 538, was der Autor als „eine präzise Lagebeurteilung“ bezeichnet. 34 Als Beispiel für das nahezu einhellig negative Urteil über Cunos Kanzlerschaft Büttner (2008): Weimar, S. 151: „Tatsächlich brachte Cunos politische Unerfahrenheit Deutschland an den Rand der Katastrophe. [...] Dieses Unverständnis für die Bedingungen von Politik ließ ihn auf allen Gebieten scheitern.“ Allerdings stand er wohl auch nach seinem DVP-Austritt 1920 wegen unklarer Haltung zum Kapp-Putsch trotz katholischer Konfession nicht „dem rechten Flügel des Zentrums nahe“ (ebd.), sondern bewirkte mit seiner wirtschaftsbürgerlichen Parteiendistanz, dass ihm gleichzeitig „eine gewisse Nähe zu DVP, Zentrum und auch DNVP nachgesagt“ wurde: Raithel (2005): Spiel des Parlamentarismus, S. 178 (mit zeitgenössischen Belegen). 35 Mommsen (1989): Freiheit. 36 Zur Bedeutung der Landesregierungen John (2012): Bundesstaat, dort zum Sachsenkonflikt 1923 mit Literatur: S. 316–320.

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NSDAP-Dominanz ab 1932, in der nicht Paul Löbe als über Fraktionsgrenzen hinweg anerkannter Parlamentspräsident amtierte. Wer den Richtungswechsel vom Spätherbst 1922 bis zur Maiwahl 1924 als hochbedeutsam für den weiteren Kurs der Republik einschätzt, wird nach anderen Möglichkeiten auch jenseits der Regierungsstruktur fragen. Die insgesamt ökonomisch zumeist überschätzten Reparationslasten können dabei weitgehend ausscheiden:37 Sie betrugen für Deutschland 1919 bis 1931 im Durchschnitt nur jene gut 3 % des Bruttosozialprodukts, die vor dem Ersten Weltkrieg an Rüstungsausgaben anfielen, was nun auf ein Drittel reduziert war. Im Vergleich mit Rüstungsanteilen im letzten Vorkriegsjahr 1938 von 14,6 % in Hitler-Deutschland sowie 10,7 % in Stalins Sowjetunion – und gar 23 % im kaisermilitaristischen Japan – konnten 3 % für sich genommen die Volkswirtschaft nicht aus dem Gleichgewicht werfen. Zwar befeuerte eine singuläre Spitze von 8,2 % deutscher Reparationskosten 1921 das Inflationsniveau. Dieses war aber vor dem Rathenau-Mord mit zunächst einer Vervierfachung innerhalb von zwei Jahren vom 10- auf 40-fachen Vorkriegsstand38 sogar den Belangen der Republik förderlich: Unbezahlbare innere Kriegsschulden wurden auf diese Weise entwertet, und die noch nicht völlig überdrehte Preis-LohnSpirale sorgte für starke Gewerkschaften. Nur in Deutschland und Österreich ist auch 1921 noch ein Jahr steigender Anzahl von Streiks gewesen.39 Sonst war überall jene „weltweite Depression“ zu verzeichnen, die Adam Tooze als „das bis heute wahrscheinlich am meisten unterschätzte Ereignis in der Geschichte des 20. Jahrhunderts“ jüngst in Erinnerung rief. Dabei wurde 1921 in den USA eine Arbeitslosigkeit unter Industriearbeitern von 20 % und in Großbritannien unter Gewerkschaftsmitgliedern von 23 % registriert.40 Das war ein auf der britischen Insel auch in der Weltwirtschaftskrise eine Dekade später nicht mehr überschrittener Höchststand. Zuvor hatte in der ersten Jahreshälfte 1920, wohl nicht zufällig beginnend kurz vor Ende eines großen Stahlarbeiterstreiks, eine Schockwelle von Zinserhöhungen der US-Notenbank die Nachkriegskonjunktur ausgebremst.41 Das wirkt als Depressionstrauma der USA im Unterschied zum deutschen Inflationstrauma von 1923 nach. In der Suche nach verpassten deutschen Chancen kann ein Seitenblick auf Österreich gerichtet werden: Dort betrieb man 1922 mit dem Genfer Vertrag konsequentere Erfüllungspolitik42 gegenüber den Siegermächten und erreichte so   37 38 39 40 41

Die folgenden Daten bei Tooze (2015): Sintflut, S. 459 u. 636 f. Statistisches Reichsamt (1925): Geldentwertung, S. 33. Tooze (2015): Sintflut, S. 308. Ebd., S. 41 u. 441 (Zitate), 430 u. 446 f. (Daten). Ebd., S. 424 u. S. 428 f., mit der Gesamtbeurteilung: „Die abrupte Anhebung der zentralen Zinssätze der Federal Reserve um 50 Prozent versetzte der ganzen Weltwirtschaft einen deflationären Schock“ (S. 435). 42 Auch gemäßigter Überhang kaiserzeitlichen Prestigedenkens wie im Auftreten des deutschen Außenministers Brockdorff-Rantzau war hingegen auf der Versailler Konferenz nicht nur angesichts der Niederlage (un)diplomatisch kontraproduktiv, sondern zugleich wegen der Moralisierung des primär haftungsbezogenen angeblichen „Kriegsschuld“-Artikels 231 teilweise eine Selbstdemütigung: „Ähnliche Klauseln waren auch in den Verträgen mit Österreich und Ungarn enthalten, wo sie nie zu einem Problem wurden, in erster Linie deshalb nicht, weil die

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ein Jahr vor Deutschland das Ende der Hyperinflation. Beides waren Voraussetzungen für die Sanierungspolitik der „schwarzen“ Bundeskabinette ebenso wie des „Roten Wien“ mit seinem Wohnbauprogramm auf Luxussteuerbasis bei stets ausgeglichenem Landeshaushalt.43 Die Anfang 1923 die Ruhrbesetzung eskalierende französische Regierung stand nicht allein im Einflussbereich nationalistischer Stimmungslagen, sondern auch unter Druck des Finanzbedarfs zum Wiederaufbau. Allein die USA hatten mit einem Staatsschuldenanteil von nur 10 % zusätzliche Reserven. Doch in Europa betrug diese Quote bezogen auf das Volksvermögen aller Art länderübergreifend rund 50 %.44 Staatsverschuldung konnte man aber in Deflationszeiten gerade nicht unter Kontrolle bringen. So hatte die in eine Weltrezession entgleiste US-Hochzinspolitik ihren Anteil am ökonomischen Druck, der von Frankreich bis hin zur Ruhrbesetzung an Deutschland weitergereicht wurde.45 Sobald galoppierende Inflation bereits innerhalb eines Monats die Kaufkraft massiv entwertete, konnte sie keine positiven Effekte mehr bewirken: „Im Gegensatz zu der zweistelligen Inflation, die mit dazu beigetragen hatte, Deutschland seit 1921 vor der globalen Rezession zu bewahren, hatte die Hyperinflation von 1923 eine lähmende Wirkung.“46 Das deutsche Katastrophenjahr 1923 mit seiner gravierenden Mittelfristwirkung auf die Ausgangslage der erneuten Weltwirtschaftskrise ab 1929 war aber keine Schicksalsmacht. Vielmehr hatte dies alles seine Ursprünge auch in getroffenen und versäumten Entscheidungen in mehreren Ländern. 4. REVITALISIERUNGSCHANCEN NACH DEN REICHSTAGS- UND PREUßENWAHLEN 1928? Der verfügbare Raum gestattet nur kurze Blicke auf Möglichkeiten, die nach dem Doppelwahltag am 20. Mai 1928 auf Reichsebene und in Preußen wohl letztmalig im Sinne der Verfassungsnormen von 1919 bestanden haben. Im Herbst 1928 wurden dann bereits Weichen gestellt, die in Folgejahren den durch Krisenlandschaften rollenden Zug der Zeit auf andere Gleise als die von „Weimar“ lenkten. Die Gegenreaktionen auf den Wahlerfolg der SPD – mit 1928 wieder 30 % – beinhalteten dabei nicht nur eine sonstige Verschiebung nach rechts. Es fehlte diesen Tendenzen auch jegliches Verständnis für Erfordernisse demokratischer Massenpolitik: Das galt für den Konzernchef Hugenberg an der DNVP-Spitze wie für den Prälaten Kaas als Zentrumsvorsitzender. Mit Stresemann verstarb im Herbst 1929 der einzige öffentlichkeitswirksame DVP-Politiker. Aber vielleicht bewahrte ihn der Tod sogar davor, anstelle Brünings nach Annahme der Young-Plan-Gesetze im Frühjahr 1930   43 44 45 46

dortigen Regierungen sie nicht zu einem solchen machten“; so MacMillan (2015): Friedensmacher, S. 610. Lehnert (1991): Kommunale Politik. Tooze (2015): Sintflut, S. 311. Ebd., S. 456. Ebd., S. 533.

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mit Hindenburgs Präsidialkabinett noch seinen historischen Namen zu beschädigen. Die DDP hatte sich zwar 1924 kurz nach der Inflation noch selbstbewusst mit folgenden Versen des Reichsbankpräsidenten bedient: „Die Hausfrau endlich wieder lacht / Wer hat Befreiung ihr gebracht / Von Geld und Lebensmitteljagd? –/ Die Rentenmark von unserm Schacht!“47

Abbildung 1: Wahlplakat der DDP (1924) Quelle: Stadtarchiv Landeshauptstadt Düsseldorf, Archivsignatur 5-4-0-1323.0000

Dieser Ex-Nationalliberale Hjalmar Schacht ist jedoch 1926 aus der DDP wieder ausgetreten; er reihte sich auf seinem nicht untypischen Rechtsabmarsch aus der Republik 1931 in die Harzburger Front von Hitler und Hugenberg ein. Der Anlass des Parteiaustritts von Schacht war die teilweise unterstützende Haltung der DDP und ihrer Presse beim Volksentscheid zur Fürstenenteignung: Im Juni 1926 wurde diese linksrepublikanische Initiative von ebensolchen 14 ½ Millionen Ja-Stimmen getragen, die ein Jahr zuvor für die Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten gereicht hatten. Wohl lässt sich die enorme Resonanz auf die Kampagne der Fürstenenteignung zu großen Teilen als Sozialprotest deuten. Dieser war aber im Anteil der Wahlberechtigten immerhin mehr als zweieinhalbmal so stark wie Ende 1929 der Nationalprotest gegen den Young-Plan zur Streckung der Reparationslasten.   47 https://www.duesseldorf.de/stadtarchiv/inhalt/5_4_plakate.html.

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Die alltäglichen sozialen Fragen waren der Masse des Stimmvolkes offenbar wichtiger als die emotional aufgeladenen „nationalen“. Dies alles zusammengenommen bleibt es noch eine Überlegung wert, ob nach den Maiwahlen 1928 eine wohl letzte Chance verpasst wurde, die Republik bestandsfester gegen die Umformung zum Präsidialregime zu gestalten. Wenn nun ohnehin, wie auch schon im Dezember 1924, am gleichen Tag auf Reichsebene und in Preußen gewählt wurde, machte es vielleicht Sinn, das Amt des Reichskanzlers und preußischen Ministerpräsidenten in einer Person zu bündeln. Das Reich-Länder-Verhältnis ist eine jener unterschätzten Strukturfragen, die mit Verfassungsnormen allein nicht zu regeln waren. Zugunsten balancierterer Bundesstaatlichkeit wäre es zuvor erwägenswert gewesen, das mit 60 % der Bevölkerung übergroße Preußen in seine drei Hauptbestandteile zu gliedern: das östliche, vorwiegend ostelbische Altpreußen, das westliche Neupreußen links und rechts des Rheins, und dazwischen hannoversche Territorien, denen sich auch diverse Kleinstländer hätten anfügen lassen. Aber das war bereits zur Jahreswende 1918/19 mit Ansetzung eigener Preußenwahlen, nur eine Woche nach Stimmabgabe zur Nationalversammlung, anders entschieden. Zumal Regierungsbildungen im demokratischen Preußen rein parlamentarisch erfolgten, hätte die SPD mit Nominierung des Ministerpräsidenten Otto Braun auch zum Reichskanzler ihren doppelten Wahlerfolg politisch offensiver nutzen können. Die Zentrumspartei musste das nicht brüskieren, denn sie akzeptierte dann auch einen SPD-Kanzler Hermann Müller und arbeitete mit Otto Braun in Preußen konstruktiv zusammen. Sogar der inzwischen über 80jährige Hindenburg hatte von allen republiktragenden Spitzenpolitikern noch am ehesten Otto Braun zu respektieren.48 Dies auch deshalb, weil Braun als preußischer Kontinuitätsfaktor neben häufig stürzenden Reichskanzlern immerhin legitimierte Staatsautorität verkörperte. Selbst wenn sich Hindenburg solchem Zugriff verschlossen und entgegen dem Wahlergebnis ein rechtsgerichtetes Kampfkabinett eingesetzt hätte, könnte dieses im vorhersehbaren Scheitern die autoritäre Option weitgehend schon verbraucht haben. Denn auch zum 10. Jahrestag der Weimarer Verfassung im August 1929 wurde die Republik trotz erwähnter Gegenkräfte zeitgenössisch als relativ gefestigt beschrieben. Die NSDAP war damals noch immer eine Splitterpartei und die Deutschnationalen zerstritten wie seit ihrer gespaltenen Dawes-Plan-Abstimmung 1924 nicht mehr. Das übertönten sie auch schon vor dem Wechsel in der Parteiführung zu Hugenberg mit einer grotesken Propaganda wie in der parteinahen Zeitung „Der Tag“ im Kommentar zum eigenen Wahldebakel im Mai 1928: „Nimmt man Kommunisten, Sozialdemokraten und Demokraten auf der einen Seite als international-sozialistischen Rotblock auf der Linken und alle die staatserhaltenden Kräfte vom

  48 Schulze (1977): Otto Braun, S. 489–493, wo von Friedrich Stampfer eine Äußerung Hindenburgs überliefert wird, es könnte ggf. „Herr Braun ein paar Polizisten über die Straße schicken und mich verhaften lassen“ (S. 492 u. S. 962, Anm. 84).

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Detlef Lehnert Zentrum bis zu den Nationalsozialisten auf der anderen Seite, dann ergibt sich, daß die Rote Internationale sowohl im Reich wie in Preußen erheblich in der Minderheit ist.“49

Das war im Agitationsstil gegen eine „Linke“ von der KPD bis zur DDP und der Eingemeindung der NSDAP als „staatserhaltend“ ein Vorgeschmack auf die kommende antidemokratische Rechtsblockstrategie. Aber erst die politisch nicht beherrschte Weltwirtschaftskrise seit dem Spätherbst 1929 unterspülte der Weimarer Demokratie die Fundamente bis zum Einsturz. 5. WEIMARER JUBILÄUMSBETRACHTUNGEN – SCHON DAMALS AMBIVALENT Ähnlich wie diese Publikation bereits auf 100 Jahre Republik- und Demokratiegründung 1918/19 zielt, sind 1928/29 sogar offiziöse Sammelbände im Rückblick auf die ein Jahrzehnt zurückliegende historische Zäsur veröffentlicht worden. Das 1929 erschienene „Gedenkbuch der Reichsregierung zum 10. Verfassungstag“50 wurde in hoher Auflage gezielt an Schulen verteilt; es hatte im längeren ersten Teil den Charakter einer historischen Quellensammlung und enthielt im zweiten Teil kurze Stellungnahmen bekannterer Politiker von der SPD (Reichstagspräsident Löbe und Reichsinnenminister Severing) bis zur DNVP (Frhr. v. Gayl, der als Innenminister unter Reichskanzler v. Papen an der finalen Zerstörung der Weimarer Demokratie mitwirkte).51 Zuvor war 1928 mit deutlich längeren und materialreichen Abhandlungen sowie dem wohl bewusst politisch blassen Titel „Zehn Jahre Deutsche Geschichte“ ein gewichtiges Sammelwerk präsentiert worden. Dieses kennzeichnete die Besonderheit, noch vom „Amtsvorgänger eingeleitet und gefördert worden“ zu sein, worauf der inzwischen amtierende SPD-Reichskanzler Hermann Müller eingangs verwies; er hat vielleicht deshalb nur vorsichtig die „Neuordnung unseres Staatswesens auf republikanischer Grundlage“ erwähnt, neben allerlei zeittypischer Phraseologie wie dem „Stahl der deutschen Volksgemeinschaft“ und die „starke Führerhand in selbstloser Pflichterfüllung und festem Glauben an die deutsche Zukunft“.52 Als prominente Brückenperson von der vorigen Mitte-Rechts- zur neuen Mitte-Links-Regierung kam unmittelbar folgend Stresemann ausführlicher zu Wort; er bekräftigte immerhin die nun regierungstragende Auffassung, dass „ein Fortschreiten auf dem alten Wege der Bündnisse und Gegenbündnisse, der wirtschaftlichen Staatenkämpfe und der offenen oder versteckten Rüstungen angesichts der engen Verflechtung des internationalen Wirtschaftslebens und andererseits der rapiden Entwicklung der Zerstörungstechnik für das alte Europa mit seinen tief verwurzelten nationalen Gegensätzen

  49 Der Tag v. 22.5.1928, zit. nach Lehnert (1998): Erfolgsspirale, S. 50 f. (zur Wahl 1928 insgesamt: S. 47–56). 50 o.A. (1929): Deutsche Einheit. 51 Diese mehr der politischen Bildung dienende Publikation wurde schon knapp mit herangezogen bei Lehnert (2009): Verfassungsfragen, S. 86 f. 52 o.A. (1928): Zehn Jahre, S. VII (Seitenzahlen dieses und folgender Absätze aus jenem Buch).

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unfehlbar die völlige gegenseitige Zerfleischung und damit die Zerstörung seines wirtschaftlichen und zivilisatorischen Standards bedeuten würde“ (S. VIII).

Der wegen Aufnahme des Buchtitels als thematische Einführung zu lesende Beitrag des nationalliberalen Historikers Hermann Oncken präsentierte „Zehn Jahre Deutscher Geschichte“ unter dem „Primat der äußeren Politik“ (S. 10) – und der desinteressierten Kurzbemerkung zum Weimarer Gründungsimpuls, „daß überhaupt ein eigentlich schöpferischer Gedanke das Verfassungswerk nicht beherrschte“ (S. 8) und das „höchste Gesetz“ eine „neue Idealität der nationalen Gesinnungen und der staatlichen Lebensform“ sein müsse (S. 20). Nachdem Gustav Noske die Gründungszeit unter dem Titel „Die Abwehr des Bolschewismus“ abhandelte (S. 21), war es die Aufgabe des von Ebert zu Hindenburg übernommenen nunmehrigen Staatssekretärs Otto Meißner, die „Entstehung der Reichsverfassung von Weimar“ (S. 39) nachzuzeichnen. Das geschah fast ausschließlich deskriptiv, aber mit der Gegenüberstellung, dass die „Staatsumwälzung“ 1918 zunächst „Rechtsbruch“ und „nur Gewaltausübung“ gewesen sei, doch nach Wahl der Nationalversammlung „weder der vorläufigen Reichsverfassung, noch der späteren Weimarer Verfassung ein Makel im Rechtssinne anhaftete“ (S. 45). Insofern wurde klargestellt, „daß Angriffe gegen sie als hochverräterische Unternehmungen im Sinne des Reichsstrafgesetzbuches anzusehen sind“ (S. 53), ohne eine nicht erläuterte „Weiterentwicklung“ behindern zu wollen: „Die Weimarer Verfassung ist ein Wendepunkt und ein Markstein in der Entwicklung Deutschlands, aber kein Abschluß“ (S. 54). Das ließ sich ebenso im Sinne einer demokratisch offenen Verfassung wie eines letztlich zu überwindenden Provisoriums deuten. Wer nach Ebert auch Hindenburg diente, hielt sich – wie der seit 1926 nicht mehr der DDP angehörende Jurist Meißner – mit eigener Meinung zurück.53 Als (vormals nationalliberalem) DDP-Innenminister des Jahres 1926 erschien Wilhelm Külz in seinem Text über „Deutschlands innenpolitische Gestaltung“ (S. 55) die „Verfassung von Weimar als der Sieg des staatlichen Selbsterhaltungswillens des deutschen Volkes gegenüber dem von außen und innen andrängenden Vernichtungswillen. Die Verfassung ist also nicht ein Sanktionieren der Revolution, sondern sie ist die Überwindung der Revolution“ (S. 61). Das entsprach aber nicht der Auffassung des genuin demokratischen Verfassungsvaters Preuß, der auch noch 1923 rückblickend konstatiert hatte: „Die Reichsverfassung der Deutschen Republik vom 11. August 1919 ist der staatsrechtliche Niederschlag der Revolution vom 9. November 1918.“54 Bei Külz schimmerte ein mehr harmonie- als konfliktorientiertes Politikverständnis durch, wenn er das „Gefühl für Volkseinheit“, nämlich „daß wir alle Glieder einer großen Volksgemeinschaft sind“, gegen „staatliche,   53 Auch Meißner (1923): Staatsrecht, ist zum Auffinden eigener Auffassungen unergiebig; als profilierter „Weimarianer“ hätte er auch kaum in unauffälliger Weise noch unter Hitler weiterarbeiten können: Meißner (1950): Staatssekretär; frei von nationalpolitisch motivierter Anpassung war er dabei nicht: Meißner (1941): Elsaß. 54 Preuß (1923): Reichsverfassung, S. 308. „Niederschlag“ meint Kondensat, also verdichtetes Resultat, wie eine frühe Version von Anfang 1919 bestätigt: „Die Aufgabe, die dem Verfassungsentwurf gestellt war, läßt sich kurz dahin präzisieren: den politischen staatsrechtlichen Niederschlag der Revolution festzulegen“; Preuß (2015): Gesammelte Schriften 3, S. 164.

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wirtschaftliche und kulturelle Partikular-Interessen“ ausspielte (S. 74). Auch in den sonst mehr auf einzelne Handlungsfelder und Teilgruppen eingehenden und deshalb schon aus Umfangsgründen nicht präsentierbaren Texten jenes Bandes wurde, jenseits mindester Beteiligung anderer Milieus, eine nachwirkende Hegemonie des Nationalliberalismus im deutschen Bildungsbürgertum erkennbar. Das strahlte auf die akademisch gebildeten Funktionsträger in anderen gesellschaftlichen Sphären, gerade im Beamtenbereich auch mehr (frei-)konservativ ergänzt, teilweise ab und ließ dort schon Vertreter dezidiert linksliberaler Standpunkte als Flügelexponenten erscheinen.55 Anhand z.B. der hohen Ministerialbürokratie des Reichsfinanzministeriums kann aufgezeigt werden, dass als „Letztbegründung“ auf „den ‚Staat an sich’“ verwiesen wurde und es dort auch zu Weimarer Zeiten „nicht um die Demokratie“ ging56; so wurde eine Brücke vom Kaiserreich über den Verfassungsumbruch hinweg geschlagen. Daran ließe sich das Bonmot knüpfen, dass jenseits von Max Webers „Monopol der legitimen physischen Gewaltsamkeit“ in der Nachfolge des fürstenabsolutistischen „l‘État c‘est moi“ noch am ehesten der vom Finanzministerium zum Sprechen gebrachte Etat „Der Staat bin ich!“ ausrufen könnte: Das zielt gleichermaßen auf die ökonomische Abhängigkeit des modernen Steuerstaats, zumal in einer vielfältig belasteten Nachkriegsdekade, wie auf die Verselbständigung solcher kaum demokratisch einholbaren Expertokratien. Anders war die Konstellation in der Massenöffentlichkeit, wie Daten in der Jubiläumsschrift über die Zeitungslandschaft andeuteten (S. 503): Zwar sind die Begriffe „Konservativ“ und insbesondere „Parteilos“ dort unscharf; zudem hat, auch in der Abgleichung mit einer überarbeiteten damaligen Auswertung57, der Quellenzugriff auf insgesamt deutlich mehr als 3000 Tageszeitungen keine realistische Chance. Doch hatten die verbleibenden drei Kategorien eine klare Tendenz. Zwischen 1913 und 1928 hielt sich die zentrumsnahe katholische Presse nahezu unverändert mit 11–12 % Anteil der Einzeltitel (nicht der kaum flächendeckend zu ermittelnden Gesamtauflage) konstant; die sozialdemokratische Presse wuchs von 2,2 auf 5,1 % relativ stark, doch absolut nur begrenzt, während ein Selbstverständnis als „liberal“ von 14,4 % auf 4,35 % regelrecht eingeschmolzen ist. Knapp erwähnt wurde bereits der „Hugenbergkonzern“ mit seiner (nicht inhaltlich als parteilich deutschnational offengelegten) „Verfechtung bestimmter Meinungskomplexe“ (S. 511).   55 Dabei ist aber mit zu bedenken, dass eine nationalliberale Grundtönung auch Kompromisscharakter bei der Auswahl der Autoren hatte (Frauen wurde nur zu Frauenthemen das Wort erteilt, im hier betrachteten Sammelband „Zehn Jahre Deutsche Geschichte“ war es die ehemalige DVP-Reichstagsabgeordnete Katharina v. Kardorff, nunmehr Ehefrau des DVP-Reichstagsvizepräsidenten Siegfried v. Kardorff, S. 525–534, die u.a. S. 530 ohne konkreten Verteilungsschlüssel anregte, „in jeder Partei eine besondere Frauenliste aufzustellen“). 56 Middendorf (2015): Fundamente, S. 328. 57 Bei Dussel (2012): Pressebilder, S. 32, sind für 1928 unter Fehlerbereinigung insgesamt 219 von 3356 = 6,5 % der Zeitungstitel mit „Liberal“ (inkl. „demokratisch / republikanisch“) bzw. (selten) „DVP“ verzeichnet, während der SPD- und Zentrumsanteil (inkl. BVP) nicht oder wenig abweicht. Mit 11 % lag die DNVP (inkl. wenige Völkische) für sich genommen knapp auf Zentrumsniveau, aber unter etwa 10 % mit „Amtlich / bürgerlich“ eingestuften Blättern waren sicher viele konservative vertreten.

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Aufschlussreich sind dort präsentierte Zahlen der Auslandskorrespondenten (S. 507 f.): Wenig überraschend standen Frankreich = 39, Österreich = 34, England = 32 und die Schweiz = 21 in Kombination von (Sprach-)Nähe und außenpolitischer Bedeutung an der Spitze. Dahinter lagen mit je 20 deutschen Pressevertretern Italien und Ungarn knapp vor den global zwar nun übermächtigen, doch weit entfernten USA = 19.58 Auch deshalb kam zu wenig und jedenfalls zu spät in den Blick, was eine damals wenige beachtete Vorstudie zum wirtschaftsgeschichtlich ambitionierten Werk von Tooze gegen deutsche Tendenzen zur Fixierung auf das Versailles- und Reparationssyndrom schon vor einer Generation anmerkte – und hier nun zu einem knappen Fazit überleitet: „Erst Ende der 20er Jahre brach sich die Erkenntnis Bahn, daß die durch den Krieg verursachten weltwirtschaftlichen Verwerfungen viel tiefgreifender waren als die materiellen Zerstörungen, auf deren Beseitigung sich alle Energien konzentrierten.“59 Ein umfangreiches Wiederaufbauprogramm konnte sogar zur demokratischparlamentarischen Legitimations-Ressource werden, das hat nach 1945 die Behebung der noch weitaus verheerenderen Kriegsschäden gezeigt. Wenn aber die später zum geflügelten Wort gewordene optimistische Diagnose „Bonn ist nicht Weimar“ schon 1956 und somit nur sieben Jahre seit Gründung der Bundesrepublik gestellt werden konnte60, war das nicht nur eine zeitgenössische Momentaufnahme. Zwar erschien die materielle Situation zur Mitte der 1950er Jahre noch nicht entscheidend wohlstandsfundierter als in den Weimarer Stabilisierungsjahren. Aber danach ging es in umgekehrter Richtung weiter, nach 1929 in Weimar eben auch wegen der erwähnten „weltwirtschaftlichen Verwerfungen“ zunehmend immer dramatischer abwärts, hingegen dann in den zehn Jahren seit 1956 in der Bundesrepublik in nie zuvor gekanntem Ausmaß ökonomisch weiterhin aufwärts. „Die Wirtschaft ist das Schicksal“61 hatte Rathenau schon im September 1921 zu bedenken gegeben, knapp ein Jahr bevor ihn (nach Erzberger) allerdings gar das politische Mordschicksal traf – und zwei Jahre bevor mit der Hyperinflation 1923 die erste schwere Krise die junge demokratische Republik materiell und mental bereits tiefgreifend erschütterte.

  58 Nächstfolgend: Holland = 17 und Tschechoslowakei = 16, die von der Nachbarschaft profitierten; diese war zu Polen = 10 offenbar belasteter als dies für die entfernteren Länder Bulgarien und Rumänien (je 12) galt, die heute kaum jemand in der oberen Hälfte vermutet hätte (der Rest bewegte sich unter 10, einschließlich so großer Länder wie Rußland und Spanien). 59 Ziebura (1984): Weltwirtschaft, S. 35. 60 Allemann (1956): Bonn. Weithin unbekannt ist die Tatsache, dass der Schweizer Allemann als Student an der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin von 1930 bis 1932 persönliche Eindrücke und zeitgenössische Analysen in seine künftige publizistische Tätigkeit einbringen konnte; https://www.munzinger.de/search/portrait/Fritz+Rene+Allemann/0/7836.html. 61 Rathenau beim Reichsverband der Deutschen Industrie am 28. September 1921 in München, in: Die deutsche Industrie (1921), S. 20.

 

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DIE WEIMARER VERFASSUNG UND DAS GRUNDGESETZ Christoph Gusy Die Thematik dieses Bandes kombiniert große Fragen und schwer zu gebende Antworten. Wenn „Weimar“ eine „überforderte Republik“ war, hatte diese dann auch eine „überforderte Verfassung“? Oder war umgekehrt die Verfassung Teil jener Überforderung: Überforderte also die Verfassung der Republik eine wie auch immer zu denkende Republik ohne diese Verfassung? War die Verfassung damals also Teil der Lösung oder Teil des Problems? Und welche Herausforderungen können sich daraus für die „Demokratie im 21 Jahrhundert“ ergeben – also für eine Demokratie, in welcher eben nicht die Weimarer Reichsverfassung (WRV), sondern das Grundgesetz und zunehmend supranationales Recht die Grundordnung prägen?

1. ÜBERFORDERUNGSTHESEN IN DER WEIMARER REPUBLIK Dass die Weimarer Verfassung eine überforderte Verfassung gewesen sei, wurde schon in der Republik vielfach behauptet. Zwar fand sich damals eine andere Terminologie, doch in der Sache ging es den Kritikern damals um diesen Punkt: Die WRV werde den Anforderungen an Staatlichkeit und Staatsgewalt nicht hinreichend gerecht und sei deshalb überfordert. Unterschiedlich waren allerdings die politischen und rechtlichen Ausgangspunkte, Diagnosen und Konsequenzen jener Kritiker. In der Frühzeit der Republik sah sich die Verfassung mit ganz heterogenen, einander bisweilen nahezu ausschließenden Erwartungen und Kritikrichtungen konfrontiert. Dies entsprach der Diagnose von der schon in Monarchie und Weltkrieg zutiefst gespaltenen Gesellschaft,1 welche in Kriegsende, Kriegsniederlage, Versailler Friedensvertrag und Verfassung ihre eigene Spaltung nicht überwand, sondern unter gewandelten Vorzeichen fortsetzte und womöglich sogar noch vertiefte.2 Wo nicht gleich der Notwehrfall gegen die junge Republik ausgerufen

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Vorzüglich herausgearbeitet bei Leonhard (2014): Büchse der Pandora, S. 997 ff., 1000 ff.; s. a. Münkler (2014): Der Große Krieg, S. 563 ff., 593 ff., 790 ff. In dieser Richtung insbes. Leonhard (2014): Büchse der Pandora, S. 939 ff., 997 ff., mit der gewiss zutreffenden Feststellung, dass in Kreisen von Kriegs- und Kriegsfortsetzungsbefürwortern die Niederlage als Notwehrfall angesehen wurde; ein Notwehrfall, der sich auch gegen Regierungen und Verfassungen richtete, welche sich freiwillig oder unfreiwillig auf den Boden der Niederlage und der Friedensverträge stellten. Für die Republik Winkler (1993): Weimar, S. 285 ff.

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wurde, indem die neue Grundordnung als für die eigene Seite irrelevant und ungültig3 oder zumindest als zu bekämpfende und zu beseitigende Festlegung disqualifiziert wurde, äußerte sich die Kritik eher im Detail. In der mittleren Phase der Republik radikalisierte sich die Kritik, sie wurde historisiert und theoretisch vertieft. Im Richtungsstreit der Staatsrechtswissenschaft ging es nicht mehr um einzelne Normen oder Abschnitte der WRV, hier ging es um das Ganze. In der Konfrontation zwischen wahrer „Verfassung“ und tatsächlich geltendem positivem „Verfassungsrecht“ bzw. „Verfassungsgesetz“ blieb die Realität geradezu notwendig hinter den Idealen zurück. Die Kritik knüpfte an die genannten Diskussionen um das gespaltene Volk an und forderte von einer „geistigen Verfassung“ deren Überwindung, die Wiederherstellung des Volkes als Willensund Handlungseinheit, die „Integration“ der Gesellschaft zum Volk, und die Vorgabe einer Wertordnung, welche jene Anliegen hervorbringen oder befördern könne.4 Vor der Folie solcher Erwartungen erschienen die WRV und erst recht die von ihr verfasste Republik als Mängelwesen. Für sie charakteristisch seien politische Atomisierung der Gesellschaft, Parteienvielfalt und Parteienstreit, Parlamentszersplitterung und dadurch bedingt Schwächung der Handlungsbereitschaft und Handlungsfähigkeit des Staates. Darin lag eine Systematisierung und Vertiefung der frühen Verfassungskritik. Die Spätphase der Republik war nicht von einer weiteren Vertiefung und Systematisierung der Überforderungsdiskurse geprägt. Ihre Kennzeichen waren vielmehr politische Radikalisierung einerseits und dramatische Zunahme ihrer Anhängerschaft andererseits. Aus der Sicht der Linken wie der Rechten erschien die WRV als Verfassung der Anderen: als Verfassung, auf welche sich jede Seite allein dann berief, wenn ihre Normen im Einzelfall die eigene Position stärkten, verbunden mit der Behauptung, die jeweils andere Seite könne sich nicht auf eben jene Verfassung berufen. Nur was aus der Sicht der einzelnen Autoren und Gruppierungen als legitim angesehen wurde, galt noch als legal: Der sogenannte „Legalitätskurs“ der NSDAP wandelte sich ein weiteres Mal und zeigte jetzt ganz offen: Als „legal“ sollte fortan gelten, was im Interesse der Bewegung und ihres Führers sei, z. B. die Immunitätsgarantie für nationalsozialistische Reichstagsabgeordnete,5 rechtsstaatliche Garantie für nationalsozialistische Angeklagte und Straftäter und das durch Verfassungsnormen offenbar unbeschränkte und uneinschränkbare Recht späterer nationalsozialistischer Regimes, „Köpfe rollen“ zu lassen.6 Dass das Reichsgericht solche Ausführungen Hitlers als Beweis für die Legalität seiner Pläne und seiner Partei ansah, zeigte, wie weit die Auflösung der Republik bereits fortgeschritten war. Daraus leitete sich je länger je mehr eine eigenartige Wirkung ab: Die Verfassungskritik erlahmte, weil die Verfassung fast keine Rolle mehr spielte. Der   3 4 5 6

In diesen Formenkreis zählt auch die Diskussion um die Legitimität der Weimarer Reichsverfassung; zu ihr Gusy (1997): Weimarer Reichsverfassung, S. 382 ff. Smend (1994): Verfassung und Verfassungsrecht, S. 119, 136 ff. Goebbels, Der Angriff vom 28.5.1928. Überblick zum Thema bei Rüffler (1994): Legalitätskurs. Zu Hitlers „Legalitätseid“ vor dem Reichsgericht und dessen eigenartiger Billigung seines „Legalitätskurses“ Huber (1984): Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 688 f.

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Prozess der Ignorierung, Relativierung und sukzessiven Beseitigung der Verfassung war nicht allein auf deren radikale Gegner7 begrenzt. Ceteris paribus geschah in Regierungen, Administrationen und der Staatsrechtswissenschaft kaum Anderes. Der Niedergang der Verfassungskritik fand also parallel zum Niedergang der Reichs- und Länderverfassungen statt. An Thesen von der Überforderung der WRV bestand also in der Republik kein Mangel. Dabei ist zugleich zu betonen: Solche Verfassungskritik war auch damals keineswegs Allgemeingut. Entgegen mancher nachträglicher Behauptung war „Weimar“ keine Republik ohne Republikaner. Und es gab in ihr auch eine verfassungsloyale Staats(rechts)wissenschaft. Doch geriet sie je länger je mehr in die Minderheit und in die Defensive. Das Ende ihres Einflusses kam nicht, weil ihre Lehren falsch oder widerlegt waren; es kam, als die Gegenauffassung in den Vorhof der Macht gelangte und dort die maßgeblichen Positionen und Begriffe prägte. 2. ÜBERFORDERUNGSTHESEN NACH DEM ENDE DER WEIMARER REPUBLIK In der Frühzeit der Bundesrepublik lernte man die Weimarer Verfassung ganz überwiegend aus der Sicht ihrer (ehemaligen) Gegner kennen. Fast alle ihrer früheren Anhänger waren inzwischen verstorben, im Exil oder nicht mehr aktiv.8 Und wer seinerzeit nicht am Verfassungsleben beteiligt gewesen war, kannte die Republik ganz überwiegend aus ihrer Niedergangsphase. Rückblicke und Geschichtsbilder tradierten neben den Niedergangsszenarien auch wesentliche Teile der Weimarer Verfassungskritik. Mit der Zahl der historischen Untersuchungen stieg die Zahl der nunmehr ausgemachten Ursachen für das Scheitern der Republik steil an und ging über Fragen von Recht und Verfassung weit hinaus.9 Solche Forschungen erlangten im Hinblick auf die Überforderungsthesen eine ambivalente Wirkung. Einerseits waren sie geeignet, die Bedeutung der Verfassung als Ursache des Scheiterns zu kontextualisieren und damit in gewisser Weise zu relativieren. Die WRV erschien dann nicht als die einzige oder wichtigste Ursache für den Niedergang, sondern stand neben anderen Faktoren, welche gleichfalls in ähnliche Richtungen wirkten. Doch konnten neu entdeckte Ursachen zugleich neue Formen der Verfassungskritik   7

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Die Frage, inwieweit dazu auch einzelne Theoretiker der politischen Linken zählten, welche über die geltende Verfassung hinaus dachten (expl. Kirchheimer (1930): Weimar, S. 9) und diese am ehesten als Vehikel auf dem Weg zu einer zukünftigen anderen Staatsordnung qualifizieren wollten, könnte weitere Untersuchungen rechtfertigen. Solche Auffassungen waren jedenfalls in den früher dreißiger Jahren nicht identisch mit der verfassungspolitischen Haltung der SPD. Dazu Überblick bei Bast (1999): Franz Neumann, S. 9 ff. Ausnahmen waren R. Thoma und E. Friesenhahn; zu deren Wirken (auch) in der frühen Bundesrepublik Groh (2015): Demokratische Staatsrechtslehrer, S. 147; Dreier: Rechtsstaat, S. XIII ff, LX ff. Sehr aufschlussreich ist insoweit das Werk von Apelt (1964): Geschichte der Weimarer Reichverfassung, dessen Autor als republikanischer Beamter selbst in der Republik gewirkt hatte. In seiner Darstellung spielten Mängel der Verfassung praktisch keine Rolle. Ähnliches gilt für die Darstellung von Brecht (1948): Vorspiel zum Schweigen. Überblick bei Schulze (1984): Problem der Forschung, S. 390.

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eröffnen. Daraus entstanden jene Diskussionen, welche die WRV aus ganz entgegengesetzten Richtungen kritisch beleuchteten. War sie wirklich so wehrlos gewesen gegen ihre gefährlichsten politischen Gegner, wie es das BVerfG früh behauptete,10 oder war es umgekehrt ein Übermaß an bzw. ein Missbrauch des damaligen Notstandsrechts, welches das Ende der Republik jedenfalls beschleunigt hatte? Und wenn lange kontrovers blieb, ob Hindenburg oder Brüning mögliche „Retter“ oder aber Totengräber der Republik und ihrer Verfassung gewesen waren, so lenkte dies stets auch den Blick auf die institutionellen und damit konstitutionellen Rahmenbedingungen ihrer Ämter. Warum konnten sie sich im Rahmen der damaligen Verfassung so verhalten, wie sie sich verhielten; und wäre es möglich gewesen, mithilfe von Verfassungsrecht ihr Handeln in eine andere Bahn zu lenken? Kurz: Trotzdem verschwanden die alten Überforderungsdiskussionen dadurch nicht; im Gegenteil: Sie wurden partiell weiter verfolgt und sogar noch radikalisiert. Die WRV erschien Vielen insgesamt als falsche Verfassung zur falschen Zeit. Nunmehr konnte es kaum noch darauf ankommen, ob ihr konkrete Mängel nachgewiesen werden konnten. Als wohl einziges klar ausmachbares Kriterium für die Unangemessenheit der WRV blieb dann die Tatsache des Scheiterns der Republik: Die WRV erschien als fehlgeschlagene Verfassung einer fehlgeschlagenen Republik. Dabei wurde die Kausalitätskette von der Verfassungsordnung hin zum von ihr verfassten Staat gezogen. 3. WIRKUNGSBEDINGUNGEN UND -GRENZEN DER VERFASSUNG IN DER WEIMARER REPUBLIK Inzwischen sind die langen Schatten der untergehenden Republik11 (H. Mommsen) historisiert. Scheiterte die Republik, weil ihre Verfassung scheiterte? Oder war es vielleicht umgekehrt, dass die Verfassung scheiterte, weil die Republik am Ende war? Denn die demokratische Republik war mehr als die Summe ihrer Verfassungsnormen. Und deshalb konnte auch ihr Misslingen nicht allein aus Verfassungsfragen, sondern auch aus anderen Bedingungen resultieren. Und in ein solches Misslingen konnte dann die Verfassung hineingezogen werden. Aus einer derartigen Sichtweise würde als die Auflösung der WRV nicht zu den Scheiternsursachen, sondern zu den Folgen des Scheiterns ihrer Republik zählen. Es lohnt sich, diesem Gedanken nachzugehen.

  10 BVerfGE 5, 85, 138. 11 Dazu Ullrich (2009): Der Weimar-Komplex.

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3.1 Weimar als Verfassungslaboratorium Zur Verfassunggebung der Republik hat sich u. a. der Begriff des „Verfassungslaboratoriums“ etabliert.12 Die Terminologie geht davon aus, dass in der Nationalversammlung wie auch in der von ihr geschaffenen WRV neuartige Grundrechtskonzepte diskutiert und ausprobiert wurden; Konzepte, welche kaum auf etablierte Vorbilder zurückgreifen konnten und zudem für die Zukunft erhebliche Folgewirkungen zeitigen sollten. Für eine solche These spricht Vieles. Was in neueren Verfassungsdiskussionen und deutschen Verfassungsreformdiskussionen bis in die jüngste Zeit thematisiert wurde und wird, wie etwa Ausbau direktdemokratischer Elemente, Stärkung von Kontrollrechten, politische Partizipations- und soziale Grundrechte: Alles dies war in der Nationalversammlung diskutiert und in der WRV teils mehr, teils weniger explizit angelegt. Das Verfassungslaboratorium der Republik blieb aber nicht allein. Die Nachkriegszeit war eine große Zeit der Verfassunggebung.13 Zeitgleich wurde in zahlreichen europäischen Staaten die eigene rechtliche Grundordnung zum Gegenstand teils von Neuschöpfungen, teils von erheblichen Revisionen älterer Konstitutionen genommen. Dabei entstanden unterschiedliche Ausgestaltungen: Monarchien standen neben Republiken, eher präsidiale neben eher parlamentarischen Ordnungen, unterschiedliche Wahlsysteme, differenzierte Grundrechtsgarantien, ansatzweise auch schon erste Versuche einer Verfassungsgerichtsbarkeit und damit der Idee einer Juridifizierung von Verfassungsrecht und Verfassungsdurchsetzung.14 Die vielfältigen Verfassungslaboratorien brachten vielfältige Verfassungen hervor. Durchaus vergleichbarer war dagegen deren späteres Schicksal: 14 von ihnen scheiterten in der Zeit zwischen 1920 und 1938 rechtlich oder jedenfalls faktisch. Wo dies geschah, wurden regelmäßig demokratische Ordnungen durch autoritäre Diktaturen abgelöst. Fast genauso verbreitet wie die Verfassungsbewegung der Nachkriegszeit war demnach die Verfassungskrise der Zwischenkriegszeit. Dies lädt zu vergleichenden Ursachen-, Entwicklungs- und Folgeforschungen ein.15 Tatsächlich scheint es neben je spezifischen nationalen Besonderheiten ansatzweise vergleichbare Deutungsmuster zu geben. Hier kamen mindestens drei Faktoren zusammen. (1) Als besonders krisenanfällig erwiesen sich Verfassungen junger Staaten, die eben neu gegründet, unabhängig geworden oder erhebliche Verschiebungen hinsichtlich ihrer Bevölkerung und ihres Gebiets erlebt hatten. (2) Dies galt namentlich dann, wenn diese jungen Staaten in der Vergangenheit keine, keine hinreichend ausgebauten oder keine eigenständigen demokratischen Ordnungen und Erfahrungen aufwiesen und so deren Leistungsbedingungen und grenzen noch nicht selbst hinreichend erprobt hatten.   12 Pauly (2004): Grundrechtslaboratorium Weimar, allerdings ohne nähere Begriffserläuterung. 13 Näher Gusy (2008): Zwischenkriegszeit, S. 15 ff. 14 Zum avancierten Modell in Österreich näher Heller (2010): Der Verfassungsgerichtshof. Zum Weimarer StGH als Verfassungsgericht Dreier (2014): Verfassungsgerichtbarkeit, S. 318. 15 Wichtig: Wirsching (2007): Herausforderungen.

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(3) Der Keim des Scheiterns war dabei insbesondere in solchen neuen Staaten gelegt, welche sich als Kriegsverlierer oder Opfer der Pariser Friedensverträge sahen. In nahezu allen europäischen Staaten, die bei Kriegsende auf der Verliererseite standen und in der Folgezeit demokratische Verfassungen erhielten, scheiterten diese Ordnungen bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs.16 Für unseren Diskussionszusammenhang kann daraus hergeleitet werden: Die (verfassungs-)historische Komparatistik kann starke Hinweise dafür liefern, dass die Ursachen für das Scheitern zahlreicher europäischer Demokratien tiefer lagen als in den nationalen Verfassungen und ihren konkreten Ausgestaltungen, Stärken und Schwächen. Gewiss: Einzelne rechtliche Details mögen Wege und Formen des Niedergangs begünstigt haben; sie können ihn mehr oder weniger beschleunigt oder retardiert haben. Doch spricht viel dafür: Wenn in den betroffenen Verfassungen im Detail andere Regelungen gegolten hätten, wären die jungen Staatsordnungen dennoch gescheitert, nur eben unter Instrumentalisierung oder Umfunktionierung anderer Wege und Regeln. Daraus folgt umgekehrt nicht, die Bedeutung der Verfassungen für das Ende der Demokratien vollständig zu negieren. Jedoch kann ein vergleichender Blick helfen, die Bedeutung der Verfassungen in den jeweiligen Niedergangsszenarien realistischer einzuschätzen. 3.2 Die Weimarer Reichsverfassung im Verfassungslaboratorium Zurück zum Verfassungslaboratorium von Weimar: Hier war die Verfassunggebung in besonders hohem Maße experimentell, weil die staatsrechtliche Situation mit dem Ende der Monarchie in Deutschland und Preußen ebenso neu wie überraschend aufgetreten war. Für einen solchen Fall hatten aus früherer Zeit keine Pläne vorgelegen. Verfassungsreformpläne aus Kaiser- und Weltkriegszeit gingen sämtlich vom Fortbestand des Kaiserreichs und des Kaisertums aus. Als dieser politische Fixpunkt der Verfassungsdebatten plötzlich wegfiel, gab es hierfür keine elaborierten Planungen. In der Rückschau lässt sich festhalten: Dies ist der Weimarer Konstituante gut gelungen. Die WRV war eine Verfassung aus einem Guss. Die Widrigkeiten der Nachkriegszeit, Zeitdruck und hohe Beanspruchung der Nationalversammlung mit anderen Aufgaben als der Verfassunggebung schlagen sich in ihr nicht nieder.   16 Ebenso interessant wie dieser Zusammenhang war demgegenüber die Ausnahme, nämlich die Tschechoslowakei, welche eigener Erforschung bedürfte; s. etwa Anders (2008): Verfassungswirklichkeit, S. 229 ff. Umkehrt fällt die bemerkenswerte Instabilität der französischen Republik auf, welche über (allerdings ebenfalls krisenanfällige) republikanisch-demokratische Verfassungstraditionen verfügte, bei Kriegsende nicht auf der Verliererseite gestanden hatte und sich durchaus als Siegerin der Pariser Verträge verstehen konnte. Siehe näher Schönberger (2008): Dritte Republik, S. 263. Zur französischen Verfassungsentwicklung allgemein Raithel (2007): Parlamentarismus in Frankreich, S. 87; Nicklas (2012): Konstitutionelle Metamorphosen, S. 225; s.a. Leonhard (2010): Grammatik der Gesellschaft, S. 49. Reiches Anschauungsmaterial bei Wirsching (1999): Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg?; Raithel (2005): Parlamentarismus.

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Die Mehrheits-, Kompromiss- und Konsensbildung in der Nationalversammlung brachte es mit sich, dass sie Elemente verschiedener Strömungen integrierte und schon Zeitgenossen, erst recht aber der Nachwelt als hochgradig kompromisshaft erschien. Dies hat ihre Akzeptanz bei den Abgeordneten partiell beeinträchtigt.17 Gegen manche vorschnelle Kritik ist hier gleich festzuhalten: Kompromisshaftigkeit ist in einer pluralistischen Demokratie nicht notwendigerweise ein Mangel, sondern vielfach unentbehrlicher Modus von Konsensfindung, Mehrheitsbildung und -erhaltung. Ob ein Kompromiss gut oder schlecht ist, hängt dann entweder von inhaltlichen Kriterien oder davon ab, ob das Ergebnis die an ihn gerichteten Erwartungen erfüllen konnte oder nicht. Solche Erwartungen können von inhaltlichen Fragen durchaus unabhängig sein und sich etwa darauf beziehen, ob der Kompromiss Widerstände abbauen, die Akzeptanz Betroffener fördern oder jedenfalls eine weitere Desintegration neuer Minderheiten verhindern konnte. Ganz in diesem Sinne war die WRV inhaltlich auf Inklusion heterogener Richtungen angelegt. Ein zentrales Element war ein vergleichsweise hohes Maß an inhaltlicher Offenheit der WRV. Zu Beginn war die neue Verfassung ein bloßer Text, dessen Auslegung und Anwendung noch wenig präjudiziert war. Wo jener Text an überkommene Formulierungen der deutschen Verfassungstradition anknüpfte, standen seine Formeln doch in z. T. erheblich gewandelten verfassungsrechtlichen Kontexten. Ob etwa die Vorschriften über Reichstag und Reichsregierung trotz zahlreicher Anleihen an ältere Konstitutionen unter den nunmehr neuen Bedingungen der demokratischen Republik denselben oder doch einen neuen Bedeutungsgehalt erlangen könnten, war keineswegs sicher und auch nicht sicher prognostizierbar. Die zahlreichen Gesetzgebungsaufträge und Gesetzesvorbehalte zeigten auch hier deutlich an: Die WRV war auf Ergänzung, Ausgestaltung und Fortentwicklung durch den demokratischen Gesetzgeber angelegt. Hinter ihm blieb der Auftrag zur Verfassungskonkretisierung durch die Justiz zurück. Dabei stellten die Schaffung des Staatsgerichtshofes sowie paralleler Instanzen in zahlreichen Ländern18 und die ihm – und nicht mehr wie zuvor Regierungsinstanzen – zugewiesenen Aufgaben der Verfassungsrechtsprechung bereits eine wesentliche Kompetenzverschiebung in Richtung justizieller Verfassungskonkretisierung und -durchsetzung dar. Der Schritt zur Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland war weitreichend und zurückhaltend zugleich: Die Begrenzung der Antragsmöglichkeiten und der Prüfungsgegenstände ließ Einflüsse der Staatsgerichtsbarkeit auf einzelne wichtige Segmente begrenzt bleiben. In der übrigen Rechtsprechung blieben Verfassungsfragen bis auf einzelne Erkenntnisse zu Eigentumsfragen und Gleichheitsfragen nahezu ausgespart.19 Konkret bedeutet dies: Was in der Republik geltendes Verfassungsrecht war, war durch den Text der WRV nur ansatzweise festgelegt. Ihre auf Konkretisierung,   17 Daraus resultierte wohl auch die später viel thematisierte, vergleichsweise geringe Zustimmungsquote in der Schlussabstimmung; dazu Gusy (1997): Weimarer Reichsverfassung, S. 77. 18 Zum Stand der Staatsgerichtsbarkeit Anfang der 30er Jahre Friesenhahn, in: Anschütz / Thoma (1932): Handbuch des Deutschen Staatsrechts, S. 523. 19 Gusy (1993): Grundrechte.

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Ausgestaltung und Ausführung angelegten Vor- und Aufgaben waren in hohem Maße Ergebnisse eines Zusammenspiels von unterschiedlichen Instanzen, Verfahren und Interpreten. Die meisten Verfassungsnormen waren also im Jahre 1919 nicht einfach „fertig“. Was die Verfassung anordnete, war sowohl Ergebnis eines 1919 abgeschlossenen Verfahrens wie auch des nachfolgenden Verfassungslebens. Was also aus einer Verfassungsnorm „gemacht“ werden konnte, wie sie auf Stabilisierung oder Destabilisierung der Republik wirken konnte oder würde, ließ sich aus der Perspektive der Verfassunggeber ebenso wenig absehen wie aus dem Text der meisten Regelungen der WRV. 3.3 Verfassungswandel im Verfassungslaboratorium Aus der Rückschau erscheint der Befund überraschend. Die Republik dauerte nur 14 Jahre. Die Geltungsdauer ihrer Verfassung war sogar noch ein wenig kürzer. Doch in dieser knappen Zeit zeichnete sich die WRV durch einen geradezu stürmischen Verfassungswandel und Verfassungsentwicklung aus. Selbst in der kurzen ersten deutschen Republik sah die Verfassung in verschiedenen Phasen ganz unterschiedlich aus. Man kann jedenfalls von mehreren Verfassungsschichten sprechen, welche zeitlich aufeinanderfolgend, aber z. T. asynchron sich wechselseitig bedingten, überlagerten oder einander folgten. Aus der Sicht der Verfassungsauslegung und -anwender sah jedenfalls das Verfassungsrecht des Jahres 1932 erheblich anders aus als dasjenige des Jahres 1920. Namentlich die Nationalversammlung, ihre Ideen und Debatten, Pläne und Regelungsintentionen wirkten am Ende der kurzen Republik vielfach schon wie Leuchtfeuer, um nicht zu sagen Irrlichter aus einer längst vergangenen und von manchen schon fast vergessenen Zeit. Gemessen an der kurzen Dauer der Republik war jener Verfassungswandel dramatisch. Für unsere Fragestellung bedeutet dies: Die „Mängel der WRV“ waren in besonders hohem Maße Mängel desjenigen Rechts, das aus der WRV gemacht worden war. Und sie waren damit je länger je mehr nicht solche des Textes, sondern solche der Interpretationen und Interpreten. Zahlreiche Kritiker, die „die WRV“ für den Untergang der Republik verantwortlich machten, sprachen zugleich von sich selbst und ihren früheren Werken. Ex post erscheint die Diagnose von Mängeln der WRV als Ursache des Endes der Republik und ihrer Verfassung allzu oft als Fortsetzung der Verfassungskritik vor 1933. 4. VERFASSUNGSVORAUSSETZUNGEN DAMALS UND HEUTE Warum entwickelten sich Staatspraxis, Verfassungsauslegung und -anwendung damals so, wie sie sich entwickelten? Verfassungstheorie und -dogmatik werden niemals allein aus einem Text oder einer Urkunde entwickelt, sondern von außen an sie herangetragen und an ihren Maßstäben gemessen. Und damit geraten sie in Ab-

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hängigkeit nicht nur von rechtlichen, sondern auch von rechts- und verfassungskulturellen Erwartungen und Einflüssen,20 geistigen Zeitströmungen21 und politischen Voreinstellungen. Sie oder jedenfalls nicht unwesentliche Teile davon stellten Weichen, welche in den Untergang der Republik führten, diesen legitimierten bzw. nicht aufhielten. Dass solche Ansätze in der Zwischenkriegszeit Hochkonjunktur hatten und sich zudem als akzeptable Theorieentwürfe bei der Auslegung, Fortentwicklung und Umbildung der Verfassung Gehör verschaffen konnten, lenkt den Blick auf die Verfassungsvoraussetzungen demokratisch-republikanischer Verfassungen, ihre Funktionsbedingungen und gegebenenfalls Gefährdungen. Und hier kann sich tatsächlich der Kreis unseres Themas schließen: Lassen sich Faktoren, welche zur Überforderung der Weimarer Verfassung geführt haben, auch als Herausforderungen für die Gegenwart des 21. Jahrhunderts verstehen?22 Unser Wissen über derart notwendige Verfassungsvoraussetzungen ist allerdings begrenzt.23 Fest steht: Verfassungs- und andere Rechtsnormen allein sind nicht ausreichend, um eine funktionierende demokratische Republik hervorzubringen, mit Leben zu erfüllen und zu stabilisieren.24 Als notwendige Voraussetzungen werden genannt: - ein Mindestmaß an sozialer Homogenität der Bevölkerung,25 welche nicht durch innere Spaltungen ethnischer, religiöser, sozialer oder ökonomischer Art an einer Teilnahme an der demokratischen Meinungs- und Willensbildung gehindert wird. - ein elementarer Basiskonsens über die Möglichkeit und Notwendigkeit friedlicher Konfliktaustragung nach Regeln. - ein elementarer Grundkonsens über Regeln der politischen Konfliktaustragung. Dass die Möglichkeit einer eigenen Teilnahme an der politischen Willensbildung zugleich die Möglichkeit der Teilnahme der Anderen an diesen Prozess bedingt und diese allseitige, rechtlich gleiche Mitwirkungsmöglichkeit anderen Formen politischer Aushandlung und Herrschaftslegitimation tendenziell überlegen ist – wenn nicht für jeden Einzelnen, so doch für das Volk insgesamt. - eine hinreichende Responsivität des politischen Systems, welche Ein- und Mitwirkungsmöglichkeiten sowie Opposition nicht allein als Fassade bzw. geduldetes abweichendes Verhalten erscheinen lässt, sondern auch der tatsächlichen   20 Zu Verfassung und Verfassungskultur der Zwischenkriegszeit Wirsching (2008): Verfassung und Verfassungskultur, S. 371. 21 Am Beispiel des Einflusses von O. Spengler auf die Rechtsprechung in der Republik Keppeler (2014): Oswald Spengler. 22 Theoretisch geleitete Fragestellungen bei Schröder / Ungern-Sternberg (2011): Weimarer Staatsrechtslehre. 23 Vergleichende Aspekte bei Gusy (1997): Zwischenkriegszeit, S. 417. 24 Zu Leistungsmöglichkeiten und Grenzen demokratischer Verfassungen Morlok (1997): Demokratische Verfassungen, S. 390. 25 Dazu schon unter Weimarer Reichsverfassung grundlegend Heller (1928): Gesammelte Schriften, S. 421.

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Mitwirkungschance an der Willens- und Entscheidungsbildung im politischen Prozess Ausdruck verleiht. - Selbstbeschränkung und -begrenzung demokratischer Mehrheitsherrschaft im Sinne der Anerkennung der eigenen Begrenztheit, Vorläufigkeit und Revisibilität durch neue Abstimmungsergebnisse, Mehrheitsbildungen und Änderungsmöglichkeit hinsichtlich getroffener Entscheidungen und eingeschlagener „Pfade“. Wenn Verfassungen ihre eigenen Voraussetzungen nicht garantieren können, bedeutet dies noch lange nicht, dass sie sich darum nicht kümmern sollten oder gar dürften. Ein Blick in die Vergangenheit lehrt uns Distanz und Bescheidenheit. Wir wissen, dass es in Weimar an jenen Voraussetzungen gefehlt hat. Aber wir können daraus nicht einfach ableiten, was heute zu geschehen hat, um vergleichbare Entwicklungen möglichst schon im Ansatz zu vermeiden. Jede Zeit hat ihre eigenen Verhältnisse. Das Grundgesetz hält dafür die notwendigen Mittel bereit oder lässt sie jedenfalls zu – wie übrigens die Weimarer Verfassung auch.26 Sie richtig anzuwenden kann allerdings nicht durch den Blick in die Vergangenheit gelernt werden. Weimar, seine Verfassung und ihr Ende begründen eine besondere Verantwortung, aber keine Lösungen und erst recht keine Patentlösungen. Der Blick zurück kann nicht nur hilfreich sein, sondern auch ablenken. Die Herausforderungen von heute sind von heute, nicht von früher – auch Berlin ist nicht Weimar!27 LITERATUR Allemann, Fritz René: Bonn ist nicht Weimar. Köln 1956. Anders, Freia: Verfassungswirklichkeit und Verfassungskritik in der ersten Tschechoslowakischen Republik. In: Gusy, Christoph (Hrsg.): Demokratie in der Krise – Europa in der Zwischenkriegszeit. Baden-Baden 2008, S. 229–263. Apelt, Willibald: Geschichte der Weimarer Verfassung. 2. Aufl., München 1964. Brecht, Arnold: Vorspiel zum Schweigen. Das Ende der deutschen Republik. Wien 1948. Dreier, Horst: Rechtsstaat – Demokratie – Grundrechte. Tübingen 2008. Ders.: Verfassungsgerichtbarkeit in der Weimarer Republik. In: Simon, Thomas / Kaldowa, Johannes (Hrsg.): Schutz der Verfassung: Normen, Institutionen, Höchst- und Verfassungsgerichte. Berlin 2014, S. 317–372. Friesenhahn, Ernst: Die Staatsgerichtsbarkeit. In: Anschütz, Gerhard / Thoma, Richard: Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 2. Tübingen 1932, S. 523–545. Grünthaler, Mathias: Parteiverbote in der Weimarer Republik. Frankfurt a.M. 1995. Gusy, Christoph: Die Grundrechte in der Weimarer Republik. In: Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte 1993, S. 163–183. Ders.: Die Weimarer Reichsverfassung. Tübingen 1997. Ders. (Hrsg.): Demokratie in der Krise – Europa in der Zwischenkriegszeit. Baden-Baden 2008. Heller, Hermann: Gesammelte Schriften. 2. Aufl., Tübingen 1992. Heller, Kurt: Der Verfassungsgerichtshof. Die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Österreich von den Anfängen bis zur Gegenwart. Wien 2010. Huber, Ernst Rudolf: Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 7. Stuttgart 1984.

  26 S. z. B. Grünthaler (1995): Parteiverbote. 27 Im Anschluss an den Titel des Werks von Allemann (1956): Bonn ist nicht Weimar.

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Jürgen Bast: Totalitärer Pluralismus. Zu Franz L. Neumanns Analyse der politischen und rechtlichen Struktur der NS-Herrschaft. Tübingen 1999. Keppeler, Lutz Martin: Oswald Spengler und die Jurisprudenz. Die Spenglerrezeption in der Rechtswissenschaft zwischen 1918 und 1945, insbesondere innerhalb der „dynamischen Rechtslehre“, der Rechtshistoriographie und der Staatsrechtswissenschaft (Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts, 76). Tübingen 2014. Kirchheimer, Otto: Weimar - und was dann? Analyse einer Verfassung. In: Ders.: Politik und Verfassung. Frankfurt a.M. 1964, zuerst 1930. Leonhard, Jörg: Die Grammatik der Gesellschaft. Perspektiven der Verfassungsgeschichten Frankreichs und Großbritanniens seit dem 19. Jahrhundert. In Neuhaus, Helmut (Hrsg.): Verfassungsgeschichte in Europa. Berlin 2010, S. 49–70. Ders.: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs. 4. Aufl., München 2014. Morlok, Martin: Demokratische Verfassungen: Leistungsmöglichkeiten und Grenzen: In: Gusy, Christoph (Hrsg.): Demokratie in der Krise – Europa in der Zwischenkriegszeit. Baden-Baden 2008, S. 390–416. Münkler, Herfried: Der Große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918. 4. Aufl., Berlin 2014. Nicklas, Thomas: Konstitutionelle Metamorphosen. Verfassungsänderung und Systemstabilisierung in den fünf französischen Republiken. In: Neuhaus, Helmut (Hrsg.): Verfassungsänderungen. Beihefte zu „Der Staat“, Heft 20, 2012, S. 225–245. Pauly, Walter: Grundrechtslaboratorium Weimar. Zur Entstehung des Zweiten Hauptteils der Reichsverfassung vom 14. August 1919. Unter Mitarb. v. Olaf Hünemörder. Tübingen 2004. Raithel, Thomas: Das schwierige Spiel des Parlamentarismus. Deutscher Reichstag und französische Chambre des Députés in den Inflationskrisen der 1920er Jahre. München 2005. Ders.: Krise und Stabilisierung des Parlamentarismus in Frankreich 1918 bis 1926. In: Wirsching, Andreas (Hrsg.): Herausforderungen der parlamentarischen Demokratie. Die Weimarer Republik im europäischen Vergleich. Schriftenreihe der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-EbertGedenkstätte, Bd. 13. München 2007, S. 87–110. Rüffler, Klaus: Vom Münchener Landfriedensbruch bis zum Mord vom Potempa: Der Legalitätskurs der NSDAP. Frankfurt a.M. 1994. Schönberger, Christoph: Die Krise der parlamentarischen Demokratie in der Zwischenkriegszeit: Französische Dritte Republik und Weimarer Republik im Vergleich. In: Gusy, Christoph (Hrsg.): Demokratie in der Krise – Europa in der Zwischenkriegszeit. Baden-Baden 2008, S. 263–279. Schröder, Ulrich Jan / Ungern-Sternberg, Antje von (Hrsg.): Zur Aktualität der Weimarer Staatsrechtslehre. Tübingen 2011. Schulze, Hagen: Das Scheitern der Weimarer Republik als Problem der Forschung. In: Erdmann, Karl Dietrich / Ders. (Hrsg.): Weimar. Selbstpreisgabe einer Demokratie. Düsseldorf 1980, S. 23–42. Smend, Rudolf: Verfassung und Verfassungsrecht. In: Ders.: Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze. 3. Aufl., Berlin 1994, zuerst 1928, S. 119–276. Ullrich, Sebastian: Der Weimar-Komplex. Göttingen 2009. Winkler, Heinrich August: Weimar 1918–1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie. München 1993. Wirsching, Andreas: Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg? Politischer Extremismus in Deutschland und Frankreich 1918–1933 / 39. Berlin und Paris im Vergleich. München 1999. Ders.: Herausforderungen der parlamentarischen Demokratie. Die Weimarer Republik im europäischen Vergleich (Schriftenreihe der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte, Bd. 13). München 2007. Ders.: Verfassung und Verfassungskultur der Zwischenkriegszeit. In: Gusy, Christoph: Demokratie in der Krise – Europa in der Zwischenkriegszeit. Baden-Baden 2008, S. 371–389.

WEIMAR UND DIE ORGANISATION DER ARBEIT Franz Josef Düwell 1. AUSGANGSLAGE: DAS LÜCKENHAFTE BÜRGERLICHE RECHT 1.1 Die Ausklammerung des Arbeitsvertrags aus dem BGB Im Juni 1896 schloss der Deutsche Reichstag nach Jahrzehnte langer Vorbereitung die Beratung an der Kodifikation des Bürgerlichen Gesetzbuches ab.1 Der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Stadthagen hatte zuvor im März erfolglos in der XII. Reichstagskommission darauf gedrungen, für Industriearbeiter und Gesinde ein einheitliches Arbeitsvertragsrecht aufzunehmen. Er bemängelte, dass das Recht der abhängigen Arbeit nur unzureichend geregelt sei. Die Mehrheit in der Kommission lehnte ab. Sie argumentierte, dies „greife in Materien ein, die „zu einem erheblichen Teile Gegenstand der Spezialgesetzgebung (Gewerbeordnung, Handelsgesetzbuch, Binnenschiffahrtsgesetz u.a.)“ seien.2 Wesentliches Motiv war wohl, dass die Kommission noch vor der Sommerpause zum Abschluss kommen wollte und annahm, dass die Einarbeitung des Arbeitsvertrags in das BGB noch mindestens vier Monate Zeit kosten würde.3 Auf Antrag von Stadthagen fasste die Kommission am 11.3.1886 einstimmig den Beschluss, dem Reichstag einen Resolutionsentwurf vorzulegen. Die Resolution wurde am 11.12.1886 vom Reichstag mit Mehrheit verabschiedet. Sie forderte in mehreren Punkten, darunter auch für Arbeitsverträge eine Ergänzung der Kodifikation: „daß die Arbeitsvertr,äge, durch welche Jemand sich verpflichtet, einen Theil seiner geistigen oder körperlichen Arbeitskraft für die häusliche Gemeinschaft, ein wirthschaftliches oder ein gewerbliches Unternehmen gegen einen vereinbarten Lohn zu verwenden […] baldthunlichst für ganz Deutschland einheitlich geregelt werde“.4

Zu einer Umsetzung der Resolution kam es noch nicht einmal im Ansatz.5 Der Rechtsfortschritt bewegte sich im Schneckentempo. 1903 wurde in Fortentwick-

  1 2 3 4 5

Vgl. die ausführliche Darstellung bei Repgen (2001): Die soziale Aufgabe des Privatrechts. Heller (1978): Bericht, S. 755 f. Bericht über die Debatte in der Sitzung vom 11.03.1986, Stenografische Berichte über die Verhandlungen des deutschen Reichstags IX Legislaturperiode IV Session 1895 / 1897, 5. Band. Berlin 1897, D. 3821, 3837. Protokoll der Sitzung vom 11.12.1986, Stenografische Berichte über die Verhandlungen des deutschen Reichstags, IX Legislaturperiode IV. Session 1895 / 1897, 5. Band. Berlin 1897, S. 3821. Zur Geschichte der Kodifikationsversuche: Düwell (1992): Arbeitsgesetzbuch, S. 65.

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lung des Kinderarbeitsverbots nach dem preußischen Regulativ von 1838 das Kinderschutzgesetz erlassen. 1911 kam zur Regulierung der Heimarbeit das Hausarbeitsgesetz hinzu. 1.2 Die Revolution stellt erneut die Regelungsfrage Die Ausrufung der Republik am 9. November brachte die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen. Am 15. November 1918 unterzeichneten Hugo Stinnes, der KonzernChef von der Ruhr, und Carl Legien, Vorsitzender der Generalkommission der Freien Gewerkschaften, ein Abkommen, das für den Verzicht auf Sozialisierung die Sozialpartnerschaft mit folgenden Errungenschaften versprach: Tarifautonomie, Gründung einer paritätisch besetzten Zentralen Arbeitsgemeinschaft der Arbeitgeberverbände und der Gewerkschaften als Schlichtungsstelle, Begrenzung der täglichen Arbeitszeit auf acht Stunden bei vollem Lohnausgleich, Wiedereinstellung der Kriegsheimkehrer und Bildung von Betriebsräten.6 Am 23. Dezember 1918 wurde die „Verordnung über Tarifverträge, Arbeiter- und Angestelltenausschüsse und Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten" erlassen, deren wichtigster Verfasser Hugo Sinzheimer war.7 Die Verordnung war als Provisorium angelegt und sollte später durch ein Arbeitstarifgesetz abgelöst werden. Sie ordnete die normative Wirkung der schriftlich abgeschlossenen Tarifverträge zwischen den kraft Organisationszugehörigkeit gebundenen Mitgliedern der Tarifvertragsparteien an, statuierte das Günstigkeitsprinzip und führte die staatliche Erklärung der Allgemeinverbindlichkeit für Außenseiter ein.8 Diese partiellen Regelungen sollten nur Vorstufen zu einer umfassenden Kodifikation sein. Die Reichsregierung verhieß in ihrem Aufruf vom 2. März 1919 ein „Gesetzbuch der sozialen Demokratie: Das einheitliche sozialistische Arbeiterrecht auf freiheitlicher Grundlage“.9 1.3 Der Beitrag Hugo Sinzheimers zur Entwicklung des Arbeitsrechts Während die neue Reichsregierung noch der traditionellen Begrifflichkeit der Lösung der „Arbeiterfrage“ verhaftet war, beschritt der am 12. April 1875 als Sohn eines jüdischen Fabrikanten in Worms am Rhein geborene Hugo Daniel Sinzheimer neue Wege.10 Er lernte die „soziale Frage“ durch die Vorlesungen Lujo Brentanos kennen. Anders als die Reichstagskommission erkannte Lujo Brentano, dass die Lösung der „Arbeiterfrage“ mit der sachgemäßen Regelung des Arbeitsvertrags verbunden sei.11 Nach Studium und Referendariat ließ sich Sinzheimer in Frankfurt am Main als Anwalt nieder. Er vertrat Gewerkschaftsmitglieder vor den Gewerbe  6 7 8 9 10 11

Düwell (2014): Handkommentar Betriebsverfassungsgesetz, S. 75 m.w.N. Hainke (1987): Tarifverordnung, S. 91. Giesen (2002): Tarifvertragliche Gestaltung, S. 42. Deutsche Allgemeine Zeitung vom 02.03.1919, Nr. 106. Albrecht (1970): Hugo Sinzheimer, S. 3, und Kubo (1995): Hugo Sinzheimer, S. 17 ff. Vgl. Brentano (1980): Fortbildung des liberalen Arbeitsvertrages, S. 165 ff.

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und Kaufmannsgerichten und in Strafprozessen. Er entdeckte das Neuland des Kollektiven Arbeitsrechts. Er wandte sich der Rechtstatsachenforschung zu. Als Ergebnis seiner Forschung erschien 1907 und 1908 in zwei Bänden das grundlegende Werk zum Tarifvertragsrecht: „Der korporative Arbeitsnormenvertrag“. Sinzheimer stand zunächst den Liberalen um Friedrich Naumann nahe. Über seine Mandanten stieß er zur Sozialdemokratie und wurde 1917 Abgeordneter des Frankfurter Stadtparlaments. Im Januar 1919 wurde er im Wahlkreis Hessen-Nassau in die verfassungsgebende Nationalversammlung gewählt. Dort war er Berichterstatter des achten Ausschusses, der den Grundrechtskatalog erarbeitet hat. Er hat alle arbeitsund sozialrechtlichen Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung (WRV) geprägt. Er gilt deshalb als der Vater des deutschen Arbeitsrechts.12 Trotz seiner Verdienste wurde er von der sozialdemokratischen Fraktion bei der Bildung der Regierung Bauer im Juni 1919 übergangen, weil die Fraktion lieber Alexander Schlicke, einen Funktionär der Metallarbeitergewerkschaft, als Arbeitsminister wollte.13 Sinzheimer verließ darauf die politische Bühne. Er wurde Universitätsprofessor an der Frankfurter Universität und gründete dort die Akademie für Arbeit. Als einer der Ersten der republikanischen Professoren musste er erleben, dass seine Veranstaltungen von rechtsradikalen Studenten gestört wurden.14 1923 schloss er sich dem Hofgeismarer Arbeitskreis an, dessen Tagungen er zusammen mit Gustav Radbruch organisierte.15 1933 wurde er in die Emigration nach Holland getrieben. Dort lehrte er an der Universität Leiden als außerordentlicher Professor Rechtssoziologie und Arbeitsrecht. Er tauchte nach der Besetzung Hollands unter und konnte sich so dem Zugriff des NS-Regimes entziehen. Er verstarb nach der Befreiung gesundheitlich geschwächt, ohne nach Deutschland zurückkehren zu können, siebzigjährig am 16. September 1945 im holländischen Exil. 1.4 Die Konstituierung des Arbeitsrechts als eigener Rechtsdisziplin Die Weimarer Republik hat das Recht der abhängigen Arbeit aus der Zuordnung zum bürgerlichen Dienstvertragsrecht gelöst.16 Nach der Nationalversammlung wurden an fast allen Rechtsfakultäten Lehrstühle für Arbeitsrecht errichtet. Es herrschte die allgemeine Überzeugung, dass das Arbeitsrecht kein Teilgebiet einer anderen Rechtsdisziplin, sondern „eine eigene Rechtsdisziplin“, ein „Sonderrechtsgebiet“ sei.17 An diesem Durchbruch hatte vor allem das Mitglied der Weimarer Nationalversammlung Hugo Sinzheimer Anteil. Zusammen mit Heinz Potthoff, dem Herausgeber der Zeitschrift „Arbeitsrecht. Zeitschrift für das gesamte Dienstrecht der Arbeiter, Angestellten und Beamten“, übte er maßgeblichen Einfluss auf   12 So Meissinger (1952): Reliefbild des Arbeitsrechts, S. 38; dem folgend: Kubo (1995): Hugo Sinzheimer, S. 16. 13 Albrecht (1970): Hugo Sinzheimer, S. 8. 14 Bericht von Fraenkel (1958): Hugo Sinzheimer, S. 460. 15 Kubo (1995): Hugo Sinzheimer, S. 146 ff. 16 Düwell (2010): Das Erbe von Weimar, S. 129. 17 So Kaskel-Dersch (1932): Arbeitsrecht, S. 1.

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die arbeitsrechtliche Gesetzgebung der Weimarer Republik aus.18 Gemeinsam mit den Schülern Ernst Fraenkel19, Franz Leopold Neumann20 sowie Otto KahnFreund21 bildeten sie die sozialdemokratisch geprägte arbeitsrechtliche Avantgarde, die weltweit, insbesondere auch in Japan, Beachtung fand.22 Die „bürgerliche“ Arbeitsrechtswissenschaft hielt Distanz. Allein Hugo Sinzheimer gelang es, zum Ordinarius in Frankfurt berufen zu werden. An der Universität Jena bildete sich mit Alfred Hueck und Hans Carl Nipperdey ein Gegenpol, der zwar den bürgerlichen Parteien nahestand, aber dennoch die Eigenständigkeit des Arbeitsrechts lehrte. Der Ort war kein Zufall; denn in Jena war von dem Rechtshistoriker Eduard Rosenthal, der 1889 an der Gründung der Carl-Zeiss-Stiftung beteiligt war, seit 1914 begonnen worden, Juristen im Recht der Sozialversicherung und Arbeitsverhältnisse auszubilden.23 Ein weiterer Beitrag zur Ausprägung der Eigenständigkeit des Arbeitsrechts kam aus Freiburg. Dort war 1919 Heinrich Hoeniger zum ordentlichen Universitätsprofessor mit der Venia für Handelsrecht ernannt worden. Sein wesentlicher Schwerpunkt lag jedoch im Arbeitsrecht. Heinrich Hoeniger brachte zusammen mit Emil Wehrle eine in der Weimarer Zeit häufig aufgelegte Textsammlung zum Arbeitsrecht heraus.24 Ihr war eine Einführung vorausgeschickt, die systematisch in das neue Rechtsgebiet „Arbeitsrecht“ einführte. Hoeniger unterschied darin den Arbeitsvertrag vom Dienstvertrag des Selbständigen dadurch, dass im Arbeitsvertrag die zu leistenden Dienste allein der Gattung nach umschrieben sind und dass die nur gattungsmäßig zugesagte Arbeitsleistung im Einzelfalle dann durch die Weisungen des Arbeitgebers bestimmt wird. Damit beschrieb Hoeniger die Fremdbestimmung als die charakteristische Besonderheit des Arbeitsrechts. Die Rechtsprechung erkannte sie unter den Bezeichnungen „Direktionsrecht“ oder „Weisungsrecht“25 an. Erst 2002 hat der Gesetzgeber das Bestimmungsrecht des Arbeitgebers im § 106 GewO gesetzlich festgeschrieben.26

  18 Ramm (1966): Arbeitsrecht und Politik, Vorwort S. XI. 19 Promotion 1924 an der Universität Frankfurt „Der nichtige Arbeitsvertrag“, bis 1938 als Rechtsanwalt am Kammergericht zugelassen. 20 Promotion 1923 an der Universität Frankfurt „Rechtsphilosophische Einleitung zu einer Untersuchung über das Verhältnis von Staat und Strafe“, Arbeitsrechtslehrer an der Akademie für Arbeit und an der Hochschule für Politik, Syndikus der Metallarbeitergewerkschaft. 21 Promotion 1925 an der Universität Frankfurt „Umfang der normativen Wirkung des Tarifvertrags und der Wiedereinstellungsklausel“, Assistent am Lehrstuhl Sinzheimer, 1929 bis 1933 Vorsitzender am Arbeitsgericht Berlin, später in der englischen Emigration zum Professor an der London School of Economics berufen und wegen seiner Verdienste zum Sir geadelt. 22 Ramm (1966): Arbeitsrecht und Politik, S. XI. 23 Eichenhofer (2014): 1914 und das Sozialrecht, unter: http://www.DieSozialgerichtsbarkeit.de/SGb.05.2014.249 (abgerufen am: 16.8.2016). 24 Hoeninger / Wehrle (1928): Arbeitsrecht. 25 Vgl. BAG 14.10.1954 – 2 AZR 30/53 –, BAGE 1, 140. 26 Drittes Gesetz zur Änderung der GewO und sonstiger gewerberechtlicher Vorschriften v. 24.08.2002 m.W.v. 1.1.2003, BGBl I 2002 S. 3412.

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2. DIE ORGANISATION DER ARBEIT IN DER WRV 2.1 Arbeitsrecht als Zuständigkeit und als Regelungsaufgabe Während die Reichsverfassung von 1871 das Arbeitsrecht überhaupt nicht erwähnt, taucht im Zuständigkeitskatalog der Weimarer Verfassung das „Arbeitsrecht" als besonderes Rechtsgebiet auf: Art. 7 WRV „(1) Das Reich hat die Gesetzgebung über: 1. das bürgerliche Recht; […] 9. das Arbeitsrecht, die Versicherung und den Schutz der Arbeiter und Angestellten sowie den Arbeitsnachweis;“27 Art. 157 WRV „(2) Das Reich schafft ein einheitliches Arbeitsrecht.“

Die Aufnahme dieses Gesetzgebungsauftrags ist kein Zufall. Sie entspricht dem Geist der WRV, wie er in der Präambel zum Ausdruck kommt: „Das Deutsche Volk […] von dem Willen beseelt, dem gesellschaftlichen Fortschritt zu dienen, hat sich diese Verfassung gegeben.“ Nach den Worten des Entwurfsverfassers Hugo Preuß sollte die Verfassung „formal demokratisches Recht mit sozialem Geiste erfüllen“.28 Die Ablösung des damals gebräuchlichen standesrechtlichen Begriffs „Arbeiterrecht“ durch „Arbeitsrecht“ ist Hugo Sinzheimer zu verdanken. Ihm gelang es, diese Formulierung durchzusetzen.29 Seitdem ist der Begriff einschlägig. 2.2 Verfassungsauftrag für die Ordnung der Arbeit Nachdem der Verfassungsausschuss am 31. Mai 1919 den Antrag zu Art. 157 angenommen hatte, veröffentlichte Sinzheimer das an den Gesetzgeber gerichtete Programm „Die Neuordnung des Arbeitsrechts“.30 Damit war der Verfassungsauftrag in Art. 157 Abs. 2 WRV mit einem detaillierten Arbeitsprogramm verbunden. So wurde es auch von den Kommentatoren der WRV verstanden: Zusammenfassung aller Vorschriften, die die abhängige Arbeit betreffen, zu in einem „einheitlichen, großen Gesetz“.31 Nach Sinzheimer sollte Ausgangspunkt ein Gesetz zum Allgemeinen Arbeitsvertragsrecht sein. Auf diesen allgemeinen Teil sollten dann in einem zweiten Hauptteil die verschiedenen Sonderregelungen folgen. In einem drit  27 Im Bonner Grundgesetz erstreckt sich in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 die konkurrierende Gesetzgebung auf „das Arbeitsrecht einschließlich der Betriebsverfassung, des Arbeitsschutzes und der Arbeitsvermittlung sowie die Sozialversicherung einschließlich der Arbeitslosenversicherung“. 28 Lehnert (1999): Die Weimarer Republik, S. 52 m.w.N. 29 Albrecht (1970): Hugo Sinzheimer, S. 70. 30 Juristische Woche 1919, S. 465 f. 31 Anschütz (1933): Kommentar zur Weimarer Reichsverfassung, Anm. 2 zu Art. 157.

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ten Hauptteil sollte das Kollektive Arbeitsrecht mit Betriebsverfassung, Schlichtung bei Arbeitskämpfen, Tarifvertragsrecht und ein neuartiges Berufsorganisationsrecht nach Art der in Art. 165 WRV in Aussicht gestellten Wirtschaftsräte folgen. Die Neuordnung sollte sich nicht auf das materielle Recht beschränken, sondern auch die Durchsetzung der Rechte vor den neu zu bildenden Arbeitsgerichten einbeziehen.32 Der Plan wurde nur unzureichend erfüllt. Die parlamentarische Mehrheit der Weimarer Koalition zerfiel. Im Sommer 1919 berief Reichsarbeitsminister Bauer einen „Arbeitsausschuss für ein einheitliches Arbeitsrecht“. Ihm gehörten unter anderem an: Hedemann, Kaskel, Oertmann, Sinzheimer und Potthoff.33 Er tagte bis 1923 und entwarf zahlreiche Einzelgesetze. Lediglich der Entwurf eines Arbeitsgerichtsgesetzes erhielt nach zähem Ringen am 23. Dezember 1926 Gesetzeskraft.34 Da der Gesetzgeber nicht in der Lage war, das arbeitsverfassungsrechtliche Programm der Reichsverfassung von 1919 umzusetzen, gewannen Rechtsprechung und Lehre an Bedeutung. Bald waren an allen Universitäten Lehrstühle für Arbeitsrecht eingerichtet, die eine rege Publikationstätigkeit entfalteten. Angesichts der unsystematischen Gelegenheitsgesetzgebung wurde der Arbeitsrichter damals zur „beherrschenden Figur“ im Arbeitsrecht. Er geriet in die Rolle des Ersatzgesetzgebers. Dafür wird noch heute gerne das Bild vom „Richterkönig“ benutzt.35 Das geschah nicht aus Überheblichkeit, sondern entsprang der Auffassung, nach dem Geist der WRV36 könne man zur Lösung der Rechtsfragen „nicht vom BGB ausgehen“, sondern müsse „vielmehr die sozialen Verhältnisse ins Auge fassen“.37 In ständiger Auseinandersetzung mit der akademischen Lehre wurde dann ab 1926 in der jungen Arbeitsgerichtsbarkeit, die besonders die intellektuellen Köpfe unter den Juristen anzog, um die angemessene Lösung gerungen. Zugleich gewannen auch die Arbeitsverbände an Bedeutung. Der ADGB als Dachverband der freien Gewerkschaften verdreifachte 1919 seine Mitgliedschaft auf 7,3 Mio. Bei den christlichen Gewerkschaften stieg die Mitgliedschaft von 0,3 auf 1 Mio.38 Die Zusammenarbeit der Arbeitgeberverbände und der Gewerkschaften war in einem Bereich überraschend eng. So fungierte Hermann Meissinger trotz seiner Position als Geschäftsführer der Vereinigung deutscher Arbeitgeberverbände (VDA) gemeinsam mit dem führenden Gewerkschafter Heinz Potthoff als Herausgeber der Zeitschrift „Arbeitsrecht“.39 Heute geben DGB und BDA getrennt voneinander mit „Arbeit und Recht“ sowie „Zeitschrift für Arbeitsrecht“ eigene arbeitsrechtliche Zeitschriften heraus. Bezeichnend für die in der Adenauer-Zeit herbeigeführte Trennung der beiden arbeitsrechtlichen Lager ist folgende Begebenheit. Der erste Präsident des   32 33 34 35 36 37 38 39

Albrecht (1970): Hugo Sinzheimer, S. 72. Bohle (1990): Einheitliches Arbeitsrecht in der Weimarer Republik, S. 7–9. Ebd., S. 73. Steiner (2007): Richter und Reformen, S. 4. Potthoff (1966): Die Einwirkung der Reichsverfassung auf das Arbeitsrecht, S. 1, 3. RG 6.Februar 1923 -III 93/23- Reichsarbeitsblatt 1928, 337. Lehnert (1999): Die Weimarer Republik, S. 56. Kubo (1995): Hugo Sinzheimer, S. 15, 16.

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Bundesarbeitsgerichts verbot seinem Assistenten Gerhard Schnorr bei der Strafe der Entlassung, in der Gewerkschaftszeitschrift zu veröffentlichen.40 2.3 Koalitionsfreiheit und Tarifvertragssystem Art. 159 WRV „Die Vereinigungsfreiheit zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Alle Abreden und Maßnahmen, welche diese Freiheit einzuschränken oder zu behindern suchen, sind rechtswidrig.“ Art. 165 WRV „Die Arbeiter und Angestellten sind dazu berufen, gleichberechtigt in Gemeinschaft mit den Unternehmern an der Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen sowie an der gesamten wirtschaftlichen Entwicklung der produktiven Kräfte mitzuwirken. Die beiderseitigen Organisationen und ihre Vereinbarungen werden anerkannt.“

Die WRV brachte den Gewerkschaften 1918 einen Machtzuwachs. Ihre Organisation wurde anerkannt. Es fehlte jedoch die ausdrückliche Anerkennung des Streikrechts. Die Gewerkschaften begnügten sich damit, dass als Inhalt der Vereinigungsfreiheit auch das Streikrecht angesehen wurde.41 Es kam zu einem Ausmaß an Tarifbindung, das erheblich höher war als heute. Für 75 % aller Arbeitnehmer galten damals Tarifverträge.42 Heute sind nur 57% der Arbeitsverhältnisse tarifgebunden.43 Das Bonner Grundgesetz (GG) knüpft an Art. 159 und 165 WRV an: Art. 9 GG „(1) Alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden. (2) Vereinigungen, deren Zwecke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, sind verboten. (3) Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig.“

Durch Gesetz vom 24. Juni 1968 wurde dem Absatz 3 folgender Satz angefügt: „Maßnahmen nach den Artikeln 12a, 35 Abs. 2 und 3, Artikel 87a Abs. 4 und Artikel 91 dürfen sich nicht gegen Arbeitskämpfe richten, die zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen von Vereinigungen im Sinne des Satzes 1 geführt werden.“

  40 41 42 43

Meißner (2014): Campus Arbeitsrecht, S. 75f.; Schnorr (1988): Von mir über mich. Däubler (2006): Tarifvertragsgesetz, S. 41. So BVerfG 22. April 1958 - 2 BvL 32/56. Für das Jahr 2015 deutschlandweit nach dem IAB-Betriebspanel errechnet vom WSI Tarifarchiv, veröffentlicht unter: http://www.boeckler.de/pdf/ta_tarifbindung_beschaeftigte_2015_cd.pdf (abgerufen am 16.8.2016).

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Damit ist jetzt endlich auch die Frage des Rechts auf Arbeitskampf verfassungsrechtlich anerkannt. Allerdings bleibt den Gerichten die Aufgabe vorbehalten, Voraussetzungen, Inhalt und Grenzen im Einzelfall zu bestimmen. Sowohl in der WRV als auch im Bonner GG findet sich hier eine Bestimmung mit Drittwirkung eines Grundrechts. Nicht nur gegen den Staat ist die Koalitionsfreiheit gerichtet, sondern auch gegen den sozial mächtigeren Arbeitgeber. Schwarze Listen sind deshalb rechtwidrig. Ein Arbeitgeber, der die Einstellung von Bewerbern vom Austritt aus der Gewerkschaft abhängig macht, greift unmittelbar in das verfassungsrechtlich geschützte Recht einer Koalition auf Bestand und Betätigung ein. Die betroffene Gewerkschaft kann sich gegen diesen rechtswidrigen Angriff auf ihr Koalitionsbetätigungsrecht mit einer Unterlassungsklage wehren.44 Das Verdienst für den Durchbruch zur Drittwirkung kommt Sinzheimer zu. Er hat die Formulierung vorgeschlagen.45 2.4 System der Betriebsverfassung Art. 165 WRV „(2) Die Arbeiter und Angestellten erhalten zur Wahrnehmung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Interessen gesetzliche Vertretungen in Betriebsarbeiterräten sowie in nach Wirtschaftsgebieten gegliederten Bezirksarbeiterräten und in einem Reichsarbeiterrat.“

In dieser mehrdeutigen Bestimmung war vieles angelegt. Einmal eine öffentlichrechtlich organisierte Standesvertretung. Damit sollte die Arbeiterschaft mit den ständischen Organisationen von Industrie und Handel, noch heute verkörpert in den Industrie- und Handelskammern, gleichziehen. Zum anderen war die Ablösung der seit dem Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst vom 5. Dezember 1916 obligatorischen Arbeiterausschüsse46 durch ein System der Betriebsverfassung beabsichtigt. Das Betriebsrätegesetz vom 4. Februar 1920 brachte die im Kampf zwischen USPD und KPD einerseits und SPD andererseits umstrittene Konkretisierung. Es sind seitdem Betriebsräte als Interessenvertretungen der Arbeitnehmer zu wählen. Damals wurden noch getrennt Arbeiter- und Angestelltenräte gewählt. Dieses System der betrieblichen Mitbestimmung war auch innerhalb der Sozialdemokratie nicht unumstritten, weil man eine Spaltung in Gewerkschaften und Räte fürchtete. Es hat sich bewährt und ist mit dem Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) 1954 und 1972 in der Bonner und 2001 in der Berliner Republik weiterentwickelt worden.47 Allerdings findet sich im GG im Gegensatz zur WRV keine verfassungsrechtliche Erwähnung.

  44 45 46 47

BAG 2. Juni 1987 - 1 AZR 651/85 - BAGE 54, 353. Albrecht (1970): Hugo Sinzheimer, S. 84 m.w.N. Düwell (2014): Handkommentar Betriebsverfassungsgesetz, S. 75. Ebd,, S. 76 ff.

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2.5 Wirtschaftsethik Art. 151 WRV „(1) Die Ordnung des Wirtschaftslebens muß den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen. In diesen Grenzen ist die wirtschaftliche Freiheit des Einzelnen zu sichern.“ Art. 152 WRV „(1) Im Wirtschaftsverkehr gilt Vertragsfreiheit nach Maßgabe der Gesetze. (2) Wucher ist verboten. Rechtsgeschäfte, die gegen die guten Sitten verstoßen, sind nichtig.“

Anders als im Bonner GG ist hier ein wirtschaftsethischer Ansatz niedergelegt. Unter der Geltung der WRV wäre es problematisch gewesen, Hungerlöhne zu verabreden. Zumindest hätte die Gesetzgebung Vorkehrungen treffen müssen, dass durch Erwerbsarbeit die Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins gesichert werden könnte. Damit ist das in der Berliner Republik noch vor Kurzem sehr umstrittene Thema der Mindestlöhne angesprochen. 2.6 Freie Meinungsäußerung Art. 118 WRV „Jeder Deutsche hat das Recht, innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze seine Meinung durch Wort, Schrift, Druck, Bild oder in sonstiger Weise frei zu äußern. An diesem Rechte darf ihn kein Arbeits- oder Anstellungsverhältnis hindern, und niemand darf ihn benachteiligen, wenn er von diesem Rechte Gebrauch macht.“

In Art. 5 des Bonner GG finden wir: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.“

Beide Bestimmungen unterscheiden sich in einem Punkt. Die WRV schützt ihrem Wortlaut nach nicht nur gegen den Staat, sondern auch gegen den Arbeitgeber. Allerdings verneinte das Reichsarbeitsgericht (RAG) zunächst eine unmittelbare Anwendung auf das Arbeitsverhältnis. Erst 1931 wurde unter Hinweis darauf, wie Sinzheimer den Antrag im Verfassungsausschuss der Nationalversammlung begründet hatte, eine dem Wortlaut folgende unmittelbare Drittwirkung anerkannt.48 2.7 Freistellung für öffentliche Ehrenämter Vorbildlich ist auch die hohe Wertschätzung der ehrenamtlichen Tätigkeit:   48 RAG 24. Februar 1932 - 523/31 - RAGE 10, 275, 280.

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Franz Josef Düwell Art. 160 WRV „Wer in einem Dienst- oder Arbeitsverhältnis als Angestellter oder Arbeiter steht, hat das Recht auf die zur Wahrnehmung staatsbürgerlicher Rechte und, soweit dadurch der Betrieb nicht erheblich geschädigt wird, zur Ausübung ihm übertragener öffentlicher Ehrenämter nötige freie Zeit. Wieweit ihm der Anspruch auf Vergütung erhalten bleibt, bestimmt das Gesetz.“

Auch hier enthält die Verfassung bereits eine unmittelbare Drittwirkung des Grundrechts. Das Bonner GG ist sowohl in der Freistellungsfrage als auch in der Drittwirkung zurückhaltend. Die Regelung der Freistellung ist dort unberücksichtigt geblieben. Diese Frage ist der Landes- und Bundesgesetzgebung überlassen worden. So ist zum Beispiel in § 26 Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG) der Schutz der ehrenamtlichen Richter in der Übernahme oder Ausübung des Amtes vor Benachteiligung geregelt. Das mag rechtstechnisch zweckmäßig sein, sagt aber auch etwas über Wertschätzung für die Bürgerinnen und Bürger aus, die sich in Ausübung staatsbürgerlicher Pflichten ehrenamtlich zum Beispiel als Richter zur Verfügung stellen. 2.8 Arbeitsschutz und Sozialversicherung Arbeitsschutz und soziale Fürsorge sind in der WRV nicht zusammenhängend geregelt. Art. 119 WRV „(3) Die Mutterschaft hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge des Staats.“ Art. 157 WRV „(1) Die Arbeitskraft steht unter dem besonderen Schutz des Reichs.“ Artikel 122 WRV „(1) Die Jugend ist gegen Ausbeutung sowie gegen sittliche, geistige oder körperliche Verwahrlosung zu schützen. Staat und Gemeinde haben die erforderlichen Einrichtungen zu treffen.“ Art. 161 WRV „(1) Zur Erhaltung der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit, zum Schutz der Mutterschaft und zur Vorsorge gegen die wirtschaftlichen Folgen von Alter, Schwäche und Wechselfällen des Lebens schafft das Reich ein umfassendes Versicherungswesen unter maßgebender Mitwirkung der Versicherten.“

Zur Umsetzung wurde am 6. April 1920 das Schwerbeschädigtengesetz und am 16. Juli 1927 das Gesetz über die Beschäftigung vor und nach der Niederkunft (Mutterschutzgesetz) erlassen. Bereits mit dem Arbeitsnachweisgesetz von 1922 war im Deutschen Reich eine dreistufige Arbeitsverwaltung aufgebaut worden. Das Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) von 1927

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brachte als Neuerung nicht nur die Arbeitslosenversicherung, sondern gegen erheblichen Protest der Gemeindeverbände auch die Verlagerung der Zuständigkeiten der Arbeitsvermittlung zugunsten der Errichtung einer zentralen Reichsanstalt. 49 Das Bonner Grundgesetz ist noch sparsamer. Es enthält nur eine Norm, die vor allem der Gewährleistung der Reproduktion und daneben auch dem Schutz der arbeitenden Bevölkerung dient. Art. 6 GG „(4) Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft.“

Der Gesetzgeber der Bonner Republik hat allerdings im Vergleich zur Weimarer Republik das soziale Schutznetz bedeutend ausgeweitet. Zu nennen sind: Bundesurlaubsgesetz (BUrlG), Arbeitszeitgesetz (ArbZG), Mutterschutzgesetz (MuSchG), Jugendarbeitsschutzgesetz (JArbSchG), Gesetz über die Durchführung von Maßnahmen des Arbeitsschutzes zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Beschäftigten bei der Arbeit (ArbSchG) und die Ausweitung des Schwerbeschädigtenschutzes auf alle Behinderungsarten mit dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) von 1974 sowie später mit der Kodifikation des Rehabilitations- und Schwerbehindertenrechts im Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX). Den größten Fortschritt im Recht der sozialen Sicherheit brachte die sukzessive Schaffung des Sozialgesetzbuches mit zwölf Büchern: (SGB I) – Allgemeiner Teil –, in Kraft seit 1. Januar 1976, enthält die grundlegende Programmatik des SGB sowie Definitions- und Verfahrensvorschriften; (SGB II) – Grundsicherung für Arbeitsuchende –, in Kraft seit 1. Januar 2005; (SGB III) – Arbeitsförderung –, in Kraft seit 1. Januar 1998; (SGB IV) – Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung –, in Kraft seit 1. Januar 1977; (SGB V) – Gesetzliche Krankenversicherung – in Kraft seit 1. Januar 1989; (SGB VI) – Gesetzliche Rentenversicherung –, in Kraft seit 1. Januar 1992; (SGB VII) – Gesetzliche Unfallversicherung –, in Kraft seit 1. Januar 1997; (SGB VIII) – Kinder- und Jugendhilfe –, in Kraft seit 1. Januar 1991; (SGB IX) – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen –, in Kraft seit 1. Juli 2001; (SGB X) – Verwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz –, in Kraft seit 1. Januar 1981 / 1. Januar 1983; (SGB XI) – Pflegeversicherung –, in Kraft seit 1. Januar 1995; (SGB XII) – Sozialhilfe – , in Kraft seit 1. Januar 2005. Bislang hat der Gesetzgeber keine vergleichsweise Anstrengung zur Schaffung eines Arbeitsgesetzbuches unternommen. 2.9 Gebot der Sonn- und Feiertagsruhe Der Sonntag war im Zuge der Industrialisierung zunehmend zum Arbeitstag geworden. Unter dem Eindruck der 1889 stattgefundenen großen Bergarbeiterstreiks erkannte Wilhelm II. die Notwendigkeit eines neuen Kurses in der Arbeiterfrage. Im offenen Widerspruch zu seinem Kanzler Bismarck kündigte er mit seinen Erlassen   49 Maier (2006): Gründung der Reichsanstalt, S. 257.

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vom 4. Februar 189150 die Ausarbeitung einer Arbeitsschutzgesetzgebung an. Diese erfolgte insbesondere durch das Gesetz betreffend Abänderung der Gewerbeordnung vom 1. Juni 1891.51 Als neue Bestimmung wurde unter §105a in die Gewerbeordnung eingefügt: „Zum Arbeiten an Sonn- und Festtagen können die Gewerbetreibenden die Arbeiter nicht verpflichten. Arbeiten, welche nach den Bestimmungen dieses Gesetzes auch an Sonn- und Festtagen vorgenommen werden dürfen, fallen unter die vorstehende Bestimmung nicht.“ Die Liste der Ausnahmen war lang. Erst die Weimarer Reichsverfassung erhob die Sonn- und Feiertagsruhe zum allgemeinen Prinzip: Art. 139 WRV „Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt“.

Seitdem genießen Sonn- und Feiertage ausdrücklich verfassungsrechtlichen Schutz. Das Bonner Grundgesetz lässt diese Bestimmung in unveränderter Fassung über Art. 140 GG weiter gelten. Es handelt sich nicht um ein jedermann zustehendes subjektives Recht auf Sonntagsruhe.52 Das war schon Stand der herrschenden Meinung in der Wissenschaft zur Zeit der Weimarer Republik.53 Art. 139 WRV sollte die Funktion einer institutionellen Garantie haben.54 Darunter wurde verstanden, dass „Vorschriften, die den Charakter des Sonntags entkleiden“, als „nicht beständig“ gelten.55 Durch die verfassungsmäßige Verankerung ist sichergestellt, dass eine Abschaffung der Arbeitsruhe oder eine den Sonntag in dieser Funktion grundsätzlich in Frage stellende Regelung, sich der Kompetenz des Gesetzgebers und „sich daher erst recht einer umfassenden Regelung durch die (nach dem GG zuständigen) Landesparlamente“ entzieht.56 Der Kernbestand an Sonn- und Feiertagsruhe ist unantastbar, im Übrigen besteht Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers.57 Bei der Beschränkung der Freiheit der Berufsausübung durch die Ladenschlussgesetzgebung ist dem Gesetzgeber ein Ausgleich zwischen Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 139 WRV einerseits und Art. 12 Abs. 1 GG andererseits aufgegeben. Zu schützen ist in der säkularisierten Gesellschafts- und Staatsordnung auch die Verfolgung profaner Ziele wie die der persönlichen Ruhe, Besinnung, Erholung und Zerstreuung. Deshalb soll an den Sonn- und Feiertagen grundsätzlich die Geschäftstätigkeit in Form der Erwerbsarbeit, insbesondere der Verrichtung abhängiger Arbeit, ruhen. Jeder soll allein oder in Gemeinschaft mit anderen diese Tage ungehindert von

  50 vgl. o.A. (2003): Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914. II. Abteilung, Nr. 102, S. 105–106, 109, 112–115, 127–128, 130–134, 137–138. 51 Deutsches Reichsgesetzblatt Band 1891, Nr. 18, S. 261. 52 Mattner (1988): Sonntagsruhe, S. 2207. 53 Vgl. Kaisenberg (1930): Art. 139 Feiertagsschutz, S. 430 m.w.N. 54 Anschütz / Thoma (1930): Handbuch des deutschen Staatsrechts, S. 430. 55 Kaisenberg (1930): Art. 139 Feiertagsschutz, S. 430. 56 BVerfG 09.06.2004 -1 BvR 636/02- BVerfGE 111, 10. 57 Ebd.

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werktäglichen Verpflichtungen und Beanspruchungen nutzen können.58 In Konkretisierung dieser Vorgabe ordnete § 3 des Gesetzes über den Ladenschluss in der Fassung vom 7. Juli 2005 an, dass Verkaufsstellen für den geschäftlichen Verkehr mit den Kunden an Sonn- und Feiertagen geschlossen sein müssen. Diese Regelung ist vom Bundesverfassungsgericht trotz des Eingriffs in die Unternehmerfreiheit als mit der Verfassung vereinbar bestätigt worden.59 Im Zuge der so genannten Föderalismusreform I wurde 2006 das Recht des Ladenschlusses aus dem Katalog der Gegenstände der konkurrierenden Gesetzgebung für das Recht der Wirtschaft (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG) herausgenommen und die Gesetzgebungskompetenz auf die Länder übertragen. Die Länder haben intensiv von der neuen Zuständigkeit Gebrauch gemacht und die Öffnungszeiten auf eine Vielzahl von Sonntagen ausgeweitet. Dagegen sind die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und das Erzbistums Berlin mit Verfassungsbeschwerden vorgegangen.60 Sie haben geltend gemacht, „verfassungsrechtlich vorgegebene Schutzpflichten – vor allem der Schutz der körperlichen Unversehrtheit durch Nachtarbeit und der Schutz von Ehe und Familie“ werden verletzt, weil der Bund nicht gegen die maßlose Erweiterung der Ladenöffnungszeiten am Sonntag vorgehe.61 Darauf hat das Bundesverfassungsgericht erkannt, die aus Art 4 Abs.1 und 2 GG folgende Schutzverpflichtung des Gesetzgebers werde durch den objektivrechtlichen Schutzauftrag für die Sonn- und Feiertage aus Art. 139 WRV in Verbindung mit Art. 140 GG konkretisiert.62 Die Ladenöffnung an den Adventssonntagen in § 3 Abs. 1 des Berliner Ladenöffnungsgesetzes ist deshalb für unvereinbar mit der Gewährleistung der Arbeitsruhe an Sonn- und Feiertagen erklärt worden. Das zeigt, wie aktuell das Sonn- und Feiertagsgebot der WRV noch heute ist. 2.10 Arbeitsrechtliche Autonomie der Religionsgesellschaften Art 137 „(3) Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Sie verleiht ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde.“

In Art 140 GG sind die Bestimmungen aus Art. 137 der WRV „zum Bestandteil dieses Grundgesetzes“ gemacht worden. Daraus folgert die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass zwar die religionsgesellschaftlichen Arbeitsverhältnisse auch dem staatlichen Arbeitsrecht unterliegen, aber deren Zugehörigkeit   58 59 60 61

Ebd. Ebd. Aktenzeichen des BVerfG 1 BvR 2857/07 und 1 BvR 2858/07 Einleitendes Votum bei der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht zum Berliner Ladenöffnungsgesetz von Bischof Dr. Wolfgang Huber am 23. Juni 2009, veröffentlicht unter: www.presseportal.de/.../ekd_evangelische_kirche_in_deutschland (abgerufen am 14.9.2009). 62 BVerfG 01.12.2009 – 1 BvR 2857/07, 1 BvR 2858/07 –, BVerfGE 125, 39.

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zu den eigenen Angelegenheiten der Religionsgesellschaft nicht aufgehoben wird.63 Danach sichert Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV mit Rücksicht auf das friedliche Zusammenleben von Staat und Religionsgesellschaften sowohl das selbständige Ordnen und Verwalten der eigenen Angelegenheiten durch die Religionsgesellschaften als auch den staatlichen Schutz der Rechte anderer und für das Gemeinwesen bedeutsamer Rechtsgüter. Der sich daraus ergebenden Wechselwirkung muss der Richter durch eine entsprechende Güterabwägung Rechnung tragen.64 Dabei räumt das Bundesverfassungsgericht zu allen Maßnahmen, die der Sicherstellung der religiösen Dimension des Wirkens im Sinne kirchlichen Selbstverständnisses und der Wahrung der unmittelbaren Beziehung der Tätigkeit zum kirchlichen Grundauftrag dienen, den Religionsgesellschaften das Recht auf Selbstbestimmung ein. Die Formulierung des „kirchlichen Proprium“ soll allein ihnen obliegen. Die staatlichen Gerichte dürfen deshalb auf der Grundlage des glaubensdefinierten Selbstverständnisses der verfassten Kirche nur im Rahmen einer Plausibilitätskontrolle überprüfen, ob eine Organisation oder Einrichtung an der Verwirklichung des kirchlichen Grundauftrags teilhat, ob eine bestimmte Loyalitätsobliegenheit Ausdruck eines kirchlichen Glaubenssatzes ist, und welches Gewicht dieser Loyalitätsobliegenheit und einem Verstoß hiergegen nach dem kirchlichen Selbstverständnis zukommt. Sie haben sodann unter dem Gesichtspunkt der Schranken des „für alle geltenden Gesetzes“ eine Gesamtabwägung vorzunehmen, in der die – im Lichte des Selbstbestimmungsrechts der Kirchen verstandenen – kirchlichen Belange und die korporative Religionsfreiheit mit den Grundrechten der betroffenen Arbeitnehmer und deren in den allgemeinen arbeitsrechtlichen Schutzbestimmungen enthaltenen Interessen auszugleichen sind. Ausgehend von dieser verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung hat das Bundesarbeitsgericht auch den so genannten „Dritten Weg“ als zulässigen Sonderweg der Kirchen im kollektiven Arbeitsrecht anerkannt.65 Danach gilt: Verfügt eine Religionsgesellschaft über ein am Leitbild der Dienstgemeinschaft ausgerichtetes Arbeitsrechtsregelungsverfahren, bei dem beide Seiten in einer paritätisch besetzten Kommission die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten gemeinsam aushandeln und einen Konflikt durch den neutralen Vorsitzenden einer Schlichtungskommission lösen, so dürfen Gewerkschaften nicht zu einem Streik aufrufen. Voraussetzung ist jedoch, dass die Gewerkschaften in dieses Verfahren organisatorisch eingebunden sind und das Verhandlungsergebnis für die Arbeitgeberseite als Mindestarbeitsbedingung verbindlich ist.66 Die dagegen eingelegte Verfassungsbeschwerde ist verworfen worden.67  

  63 64 65 66 67

BVerfG 25.03.1980 – 2 BvR 208/76 –, BVerfGE 53, 366. vgl. BVerfG 22.10.2014 - 2 BvR 661/12 - Rn. 110 f, BVerfGE 137, 273. BAG 20.11.2012 – 1 AZR 179/11 –, BAGE 143, 354. Ebd. BVerfG 15.07.2015 – 2 BvR 2292/13 –, NZA 2015, 1117.

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3. DIE ARBEITSGERICHTSBARKEIT ALS SCHLUSSSTEIN 3.1 Errichtung der Arbeitsgerichte in der Weimarer Republik In der Weimarer Zeit des Aufbruchs war nicht selten vom „Haus der Arbeit“ die Rede, das mit den Neuerungen im Arbeits- und Sozialrecht gefüllt werden sollte. Dazu gehörte auch die eigene Gerichtsbarkeit; denn Gewerkschaften und Sozialdemokratie forderten von der Justiz getrennte Arbeitsgerichte. Dagegen gingen die Vorstellungen der Unternehmerverbände sowie der Juristen- und Richtertage dahin, die Arbeitsgerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit einzugliedern. Das Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG) vom 23. Dezember 1926 enthielt eine Kompromisslösung. Die erstinstanzlichen Arbeitsgerichte wurden als selbständige staatliche Gerichte eingerichtet. Dagegen waren die Landesarbeitsgerichte als Berufungsinstanz den Landgerichten sowie das Reichsarbeitsgericht als Revisionsinstanz dem Reichsgericht angegliedert. Die Kammern der Arbeitsgerichte und der Landesarbeitsgerichte verhandelten wie noch heute in der Besetzung mit einem Vorsitzenden und je einem Arbeitgeber- und einem Arbeitnehmervertreter. Die Vorsitzenden mussten nun bereits in erster Instanz Juristen mit der Befähigung zum Richteramt sein. Die ehrenamtlichen Richter wurden nicht mehr gewählt, sondern auf Vorschlag der Arbeitgeberverbände und der Gewerkschaften für drei Jahre berufen. Das Reichsarbeitsgericht bestand bis zu seinem Ende nur aus einem dem III. Zivilsenat des Reichsgerichts angegliederten Senat. Dieser hatte bei seiner Einrichtung acht berufsrichterliche Mitglieder, verhandelte aber jeweils nur mit drei Berufsrichtern sowie je einem Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeisitzer. Durch das ArbGG 1926 wurde die Zersplitterung der gerichtlichen Zuständigkeiten in arbeitsrechtlichen Streitigkeiten beseitigt. Zugleich wurde mit dem 1927 verwirklichten dreistufigen Gerichtsaufbau in Form von Arbeitsgericht, Landesarbeitsgericht und Reichsarbeitsgericht ein Modell geschaffen, das sich langfristig bewähren sollte. Wesentliche Neuerung war die – bereits 1922 durch Verordnung eingeführte – Vertretungsbefugnis von Gewerkschafts- und Arbeitgeberverbandsvertretern.68 Dies und die paritätische Vertretung von erfahrenen Praktikern auf der Richterbank machten die Arbeitsgerichtsbarkeit zur „Vertrauensgerichtsbarkeit“ der Arbeiterschaft; denn der rechtsschutzsuchende Arbeiter konnte Vertrauen in ein Gericht haben, vor dem er von einem Gewerkschaftskollegen vertreten wurde und an dessen Richterbank auch ein Arbeitskollege mitsaß. 6970 Die Schaffung der Arbeitsgerichtsbarkeit bildete einen Meilenstein des sozialen Fortschritts. Allerdings missverstand der Gesetzgeber die Funktion der Rechtsprechung. Nach der Errichtung des Reicharbeitsgerichts zog er sich weitgehend aus dem Tagesgeschäft der arbeitsrechtlichen Gesetzgebung zurück und griff

  68 Weitere Einzelheiten Düwell (2000): Einleitung - Die Verfahren zur Streitbeilegung in Arbeitssachen, S. 33 ff. 69 Söllner (1994), Die Arbeitsgerichtsbarkeit im Wandel der Zeiten, S. 5. 70 Gusy (1997): Die Weimarer Rechtsverfassung, S. 355.

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nur noch im Krisenfall ein.71 Diese Entwicklung ist für das Verhältnis von Gesetzgebung und Rechtsprechung noch heute nicht untypisch: Abwälzen von Rechtssetzungsproblemen auf die Rechtsprechung und spätere konfliktlose Übernahme der Rechtsprechungsergebnisse in das Gesetz.72 3.2 Bonner GG und parlamentarische Richterwahl Im Unterschied zur WRV ist im GG ein stärkerer Einfluss des Parlaments auf die Bundesrichterernennung sichergestellt. Es sollte vermieden werden, dass eine homogene konservative Richterschaft sich selbst ergänzt. Die schlechten Erfahrungen der Weimarer Koalition von SPD, Liberalen und Zentrum mit ihrem erfolglosen Bemühen, auch einige republiktreue Richter durch den Justizminister zu berufen, waren niederschmetternd.73 Deshalb enthält Art. 95 GG (in der derzeit geltenden Fassung) eine zwingende parlamentarische Beteiligung an der Wahl der Bundesrichter: „(2) Über die Berufung der Richter dieser Gerichte entscheidet der für das jeweilige Sachgebiet zuständige Bundesminister gemeinsam mit einem Richterwahlausschuß, der aus den für das jeweilige Sachgebiet zuständigen Ministern der Länder und einer gleichen Anzahl von Mitgliedern besteht, die vom Bundestage gewählt werden.“

Das Verfahren läuft so ab, dass der zuständige Bundesminister oder die Mitglieder des Richterwahlausschusses Wahlvorschläge machen. Zu den Vorschlägen äußert sich nach § 57 Deutsches Richtergesetz (DRiG) schriftlich der Präsidialrat des Gerichts, bei dem der Richter verwendet werden soll. Die Personalakten der Vorgeschlagenen werden dem Ausschuss mit der Stellungnahme des Präsidialrats vorgelegt. Der Ausschuss prüft, ob die Vorgeschlagenen die sachlichen und persönlichen Voraussetzungen erfüllen. Er entscheidet in geheimer Abstimmung mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Der Bundesminister hat die Ernennung der Gewählten beim Bundespräsidenten zu beantragen. Dieser nimmt nach Art. 60 Abs. 1 GG, 58 Satz 1 GG unter Gegenzeichnung durch den Bundeskanzler oder durch den zuständigen Bundesminister den Ernennungsakt vor. 3.3 Bonner GG und Arbeitsgerichtsbarkeit Das Bonner GG ist bewusst von der Konstruktion des Reichsgerichts als eines einzigen obersten Gerichts zugunsten von Fachgerichtsbarkeiten mit eigenständigen Instanzenzügen abgewichen. Zwar hieß es missverständlich in Art. 95 GG in der Fassung vom 24. Mai 1949: „(1) Zur Wahrung der Einheit des Bundesrechts wird ein Oberstes Bundesgericht errichtet.“

  71 Nörr (1988): Zwischen den Mühlsteinen, S. 218. 72 Dazu Düwell (2013): Praxis des Arbeitsrechts, S. 115, 116 ff. 73 Vgl. Perels (2005): Gustav Radbruch, S. 407 ff.

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Damit war jedoch kein neues Reichsgericht, sondern nur ein Organ gemeint, wie es jetzt der Gemeinsame Senat der Obersten Gerichtshöfe des Bundes darstellt, der Divergenzen in der Rechtsprechung zwischen den Gerichtshöfen vermeiden soll. Der Wortlaut von Art. 96 des GG in der Fassung vom 24. Mai 1949 ist eindeutig: „(1) Für das Gebiet der ordentlichen, der Verwaltungs-, der Finanz-, der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit sind obere Bundesgerichte zu errichten.“

Damit wurde das Tor für die Vollendung einer eigenständigen dreistufigen Arbeitsgerichtsbarkeit geöffnet. Umgesetzt ist der grundgesetzliche Auftrag für die Arbeitsgerichtsbarkeit mit dem am 1. Oktober 1953 in Kraft getretenen Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG). Nach der Gesetzesbegründung handelt es sich im Wesentlichen um eine Neufassung des Gesetzes von 1926.74 Wie schon nach dem ArbGG der Weimarer Republik blieb die Unterscheidung nach zwei Verfahrensarten bestehen. Individualstreitigkeiten werden in dem aus sozialen Gründen gebührenreduzierten Urteilsverfahren ausgetragen. Für die Entscheidung kollektiver Streitigkeiten steht weiterhin das kostenlose Beschlussverfahren zur Verfügung. Die Änderung brachte neue Strukturen für die zweite und dritte Instanz. Die Berufungskammern wurden aus den Landgerichten ausgegliedert. In den Bundesländern bestehen seitdem nicht zur Justiz gehörende Landesarbeitsgerichte. Deren Spruchkörper werden ebenso wie die Arbeitsgerichte mit je einem Berufsrichter und jeweils zwei ehrenamtlichen Richtern besetzt. Die ehrenamtlichen Richter sind anders als bei den ordentlichen Gerichten keine Laien. Sie werden paritätisch aus dem Kreis arbeitsrechtlich erfahrener Praktiker beider Sozialpartner berufen. Das als Revisionsinstanz geschaffene Bundesarbeitsgericht hat nach § 41 ArbGG Senate, die mit je einem Vorsitzenden, zwei berufsrichterlichen Beisitzern und je einem ehrenamtlichen Richter aus den Kreisen der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber zusammengesetzt sind. Voraussetzung für die Berufung als ehrenamtlicher Richter sind unter anderem besondere Kenntnisse und Erfahrungen sowie mindestens fünf Jahre Amtszeit bei einem Gericht für Arbeitssachen(§ 43 ArbGG). Zum Sitz des neu zu errichtenden Bundesarbeitsgerichts bestimmte der Gesetzgeber damals Kassel. Das Bundesarbeitsgericht nahm im April 1954 seine Rechtsprechungstätigkeit unter seinem Präsidenten Prof. Hans Carl Nipperdey auf. Nipperdey war ein bekannter Arbeitsrechtsprofessor, der seine bemerkenswerte Karriere, die noch in der Kaiserzeit begann, trotz einer „jüdischen Urgroßmutter“ im Dritten Reich fortsetzen konnte.75 Er wurde am 21. Januar 1895 in Bad Berka geboren und lehrte lange Zeit in Jena. In der Weimarer Zeit stieg er zu einem der führenden Arbeitsrechtler auf. In der politisch umkämpften Frage, ob angesichts der Weigerung der Arbeitgeber, Tarifverträge abzuschließen, die Zwangsschlichtung geboten sei, stand er in Opposition

  74 Bundestagsdrucksache I 3516, S. 4372 und 4657. 75 Klee (2005): Das Personenlexikon zum Dritten Reich, S. 437.

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zu Sinzheimer.76 Nach der Hitlerschen Machtübernahme gehörte er zu den Herausgebern des auflagenstärksten Arbeitsrechtskommentars77, der die nationalsozialistische Arbeitsverfassung so überzeugend erläuterte, dass der spätere Präsident des Volksgerichtshofs Roland Freisler gemeinsam mit ihm als Herausgeber einer Festschrift fungierte.78 Nach dem Zusammenbruch des NS-Staates konnte er sein vielseitiges Talent erfolgreich für den ‚Wiederaufbau‘ nutzbar machen. Er beriet zunächst den DGB in verfassungs- und arbeitsrechtlichen Fragen.79 Das hinderte ihn nicht, auch für die Arbeitgeberverbände tätig zu werden. Bekannt ist sein Auftragsgutachten: „Die Ersatzansprüche für Schäden, die durch den von den Gewerkschaften gegen das geplante Betriebsverfassungsgesetz geführten Zeitungsstreik vom 27. - 29. Mai 1952 entstanden sind.“80 Nipperdey leitete bis 1963 das BAG. Er veröffentlichte gemeinsam mit Hueck das dreibändige „Lehrbuch des Arbeitsrechts“, das bis 1967 in siebenter Auflage erschien und somit zwei Jahrzehnte das Standardwerk des Arbeitsrechts war. Zusammen mit dem Sinzheimer-Schüler Franz L. Neumann gab er zudem ein Handbuch der Theorie und Praxis der Grundrechte heraus. Entsprechend dem Vorbild der Weimarer Reichsverfassung vertrat er dort erneut die These von der Drittwirkung der Grundrechte. Unter seiner Präsidentschaft entwickelte sich das Bundesarbeitsgericht zu einem hoch geachteten obersten Gerichtshof. Während das Reichsgericht und das Reichsarbeitsgericht scharf kritisiert worden sind, weil sie in ihren grundsätzlichen Wertentscheidungen mit der faschistischen Arbeitsgesetzgebung im Italien Mussolinis übereinstimmten,81 fiel die „linke“ Analyse der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts milde aus. Es wurde für die Rechtsprechung von 1954 bis 1973 nur ein vorrangiges Bemühen festgestellt, die bestehende Ordnung zu erhalten.82 Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts hat sowohl bei den Gewerkschaften als auch bei den Arbeitgebern ein hohes Maß an Akzeptanz gefunden. Als auf dem Höhepunkt der Deregulierungsdebatte ein Teil der Wirtschaft die Abschaffung des Bundesarbeitsgerichts forderte,83 trat dem der Bundesverband Deutscher Unternehmensberater BDU entgegen. Er bemängelte, die neoliberalen Kritiker des Gerichts würdigten nicht in ausreichendem Maße die Vorzüge der höchstrichterlichen Rechtsprechung für den   76 Vgl. die Reform des Schlichtungswesens: Bericht über die Verhandlungen der XI. Generalversammlung der Gesellschaft für soziale Reform in Mannheim am 24. und 25.10.1929 (dort Grundsatzdiskussion zwischen Sinzheimer – pro Zwangsschlichtung – und Nipperdey– contra). 77 Kommentar des Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit, gemeinsam herausgegeben mit Alfred Hueck und Rolf Dietz, zuletzt: 4. Aufl. München und Berlin 1943 78 Vgl. Freisler et al. (1938): Festschrift. 79 Vgl. den von Nipperdey für den Bundesvorstand des DGB verfassten Entwurf „Zur Verfassungsfrage. Grundsätzliche Forderungen der Gewerkschaften zum Abschnitt Arbeit und Wirtschaft in den neuen Landesverfassungen“, abgedruckt in Weber / Mielke (1991): Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, S. 851 ff. 80 Rechtsgutachten veröffentlicht in der Schriftenreihe der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Heft 9 (1953). 81 Vgl. dazu Kahn-Freund (1966): Ideal des Reichsarbeitsgerichts, S. 113 ff. 82 So Däubler (1975): Ideal, S. 126 f. 83 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.05.2002.

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Wirtschaftsstandort Deutschland.84 Eine umfassende wissenschaftliche Analyse der politischen Funktion des Bundesarbeitsgerichts steht noch aus.85 4. DIE ANSCHRIFT DES BUNDESARBEITSGERICHTS – EINE ZUFÄLLIGE REMINISZENZ? Die unabhängige Föderalismuskommission empfahl am 27. Mai 1992, das Bundesarbeitsgericht (BAG) nach Thüringen zu verlegen. Diese Empfehlung wurde vom Bundeskabinett bestätigt und am 26. Juni 1992 in einem Beschluss vom Deutschen Bundestag zur Kenntnis genommen. Die Ansiedlung in Thüringen erfolgte zwar aus politischem Kalkül, aber nicht zielgerichtet, um an die Geburtsstätte des Arbeitsrechts in Weimar zu erinnern. Nach dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes wollte die Bundesregierung einige Bundesbehörden und mindestens zwei oberste Gerichte im Beitrittsgebiet ansiedeln. Das Bundesverwaltungsgericht wurde von Berlin nach Leipzig verlegt. Das bis dahin als Museum genutzte Gebäude des Reichsgerichts konnte so wieder seine alte Funktion als Gerichtssitz erfüllen. Das Bundesarbeitsgericht als kleinstes der obersten Gerichtshöfe des Bundes wurde als zweites Gericht für die Standortverlegung in ein junges Bundesland ausgewählt. Die Wahl fiel nicht zufällig auf Thüringen. Der Grund war leicht durchschaubar. Bernhard Vogel, Nachfolger des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl im Mainzer Regierungsamt, war in Thüringen Ministerpräsident geworden und Thüringen brauchte eine Bundeseinrichtung mit der Funktion eines „Leuchtturms“. Mehrere Standorte standen zur Auswahl: Altenburg, Gotha und Erfurt. In Absprache mit dem Richterkollegium wurde die Landeshauptstadt Erfurt ausgewählt. Dort erhielt das Gericht einen Neubau, den es im November 1999 bezog. Durch das Gesetz vom 11. März 1996 wurde Erfurt als Sitz des Bundesarbeitsgerichts festgelegt. Der endgültige Zeitpunkt der Verlegung, der 22. November 1999, wurde nach der Fertigstellung des neuen Dienstgebäudes durch eine Rechtsverordnung, die vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung erlassen wurde, bestimmt. Erst als die Frage anstand, welche Anschrift das BAG auf dem Petersberg in Erfurt erhalten sollte, zeigte sich die List der Geschichte. Der damalige Präsident Thomas Dieterich äußerte die Absicht, den Namen des ersten BAGPräsidenten Hans Carl Nipperdey für die Straßenbezeichnung zu wählen. Die Richterschaft sah das anders. Sie entschied sich in bewusster Abkehr für Hugo Preuß, den Verfasser des Entwurfs der Weimarer Reichsverfassung. Mit diesem Namensgeber hat sie ihre geistige Nähe zu Weimar zum Ausdruck gebracht und zugleich ein Bekenntnis zu den Wurzeln des Arbeitsrechts in der WRV abgelegt. Das erschließt sich jedem, der bewusst die Anschrift des BAG liest: Hugo-Preuß-Platz 1. Bedauerlich ist nur, dass sich das Bekenntnis zu dieser Tradition bislang nur in der Anschrift niederschlägt. Für das Anknüpfen an den Geist des Weimarer Aufbruchs   84 Presseerklärung des BDU-Präsidenten Redley Berlin / Bonn vom 14. Mai 2002 85 Einen ersten Versuch unternommen: Rehder (2011): Politik der Rechtsprechung.

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könnte das neunzigjährige Bestehen eines obersten Gerichts in Arbeitssachen Anlass für einen historischen Rückblick sein. Denn im Juli 2017 kann der neunzigste Jahrestag der Errichtung des Reicharbeitsgerichts begangen werden. 5. RESÜMEE Die WRV war ein Meilenstein für die Demokratie und den sozialen Fortschritt. Sie strahlte auf viele Länder aus. So sind wichtige Teile des Arbeitsrechts in Japan übernommen worden.86 Die WRV hat den Durchbruch für die verfassungsrechtliche Garantie der Koalitionsfreiheit, für die Tarifautonomie, für die Mitbestimmung durch Betriebsräte und für den sozialen Arbeitsschutz (Achtstundentag) und die verfassungsrechtliche Absicherung der Sonntagsruhe gebracht. Auf sie geht der noch heute unerfüllte Auftrag zurück, ein einheitliches Arbeitsgesetzbuch zu schaffen. Und nicht zuletzt: Sie hat auch den Grundstein für die Errichtung einer eigenständigen Arbeitsgerichtsbarkeit gelegt. Aus der Sicht des Arbeitsrechtlers ist daher die 1919 in Weimar beschlossene Verfassung besser als ihr Ruf. Wenn die WRV im August 2019 einhundert Jahre alt wird, sollte auch Ihrer Bedeutung für die Entwicklung unserer heutigen Arbeitsrechtsordnung gedacht werden. LITERATUR Albrecht, Klaus: Hugo Sinzheimer in der Weimarer Nationalversammlung. Berlin 1970. Anschütz, Gerhard / Thoma, Richard: Handbuch des deutschen Staatsrechts, Bd. 1. Tübingen 1930. Anschütz, Gerhard: Kommentar zur Weimarer Reichsverfassung. 14. Aufl., Berlin 1933. Brentano, Lujo: Arbeitseinstellungen und Fortbildung des liberalen Arbeitsvertrages. In: Verhandlungen der am 26. und 27. September 1890 in Frankfurt am Main abgehaltenen Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik. Hrsg. vom Ständigen Ausschuss. Leipzig 1890. Bohle, Thomas: Einheitliches Arbeitsrecht in der Weimarer Republik. Bemühungen um ein deutsches Arbeitsgesetzbuch. Tübingen 1990. Däubler, Wolfgang: Das soziale Ideal des Bundesarbeitsgerichts. Frankfurt 1975. Ders.: Tarifvertragsgesetz. 2. Aufl., Baden-Baden 2006. Düwell, Franz Josef: Arbeitsgesetzbuch – Blockade statt Brückenschlag. In: Das Arbeitsrecht der Gegenwart, Bd. 30 (1992), S. 65–72. Ders.: Das Erbe von Weimar: Unser Arbeitsrecht und seine Gerichtsbarkeit. Recht der Arbeit (2010), S. 129–135. Ders.: Die Praxis des Arbeitsrechts – Akteure und Rechtsentwicklung. In: Ders. / Löwisch, Manfred / Waltermann, Raimund / Wank, Rolf: Das Verhältnis von Arbeitsrecht und Zivilrecht in Japan und Deutschland. Frankfurt a.M. 2013, S. 115–152. Ders.: Handkommentar Betriebsverfassungsgesetz. 4. Aufl., Baden-Baden 2014. Ders.: Einleitung - Die Verfahren zur Streitbeilegung in Arbeitssachen. In: Ders. / Lipke, Gert-Albert: Arbeitsgerichtsverfahren - Kommentar für die Praxis. Frankfurt a.M. 2000. Eichenhofer, Eberhard: 1914 und das Sozialrecht. Unter: http://www.DieSozialgerichtsbarkeit.de/SGb.05.2014.249 [16.8.2016]. Fraenkel, Ernst: Hugo Sinzheimer. In: Juristenzeitung, Heft 15 (1958), S. 460.

  86 Kubo (1995): Hugo Sinzheimer, S. 213 ff.

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Freisler, Roland / Löning, Georg Anton / Nipperdey, Hans: Festschrift für Justus Wilhelm Hedemann zum sechzigsten Geburtstag. Jena 1938. Giesen, Richard: Tarifvertragliche Gestaltung für den Betrieb. Tübingen 2002. Gusy, Christoph: Die Weimarer Rechtsverfassung. Tübingen 1997. Hainke, Stefan: Vorgeschichte und Entstehung der Tarifverordnung vom 23. Dezember 1918. Darmstadt 1987. Heller, Wilhelm von: Bericht über die Sitzung vom 11.3.1986. In: Jakobs, Horst / Schubert, Werner (Hrsg.): Die Beratung des BGB in systematischer Zusammenstellung der unveröffentlichten Quellen. Berlin 1978. Hoeninger, Heinrich / Wehrle, Emil: Arbeitsrecht: Die reichsrechtlichen Vorschriften über das Arbeitsverhältnis. 4. Aufl., Leipzig 1928. Kahn-Freund, Otto: Das soziale Ideal des Reichsarbeitsgerichts. In: Ramm, Thilo: Arbeitsrecht und Politik. Neuwied 1966. Kaisenberg, Georg: Art 139. Feiertagsschutz In: Nipperdey, Hans: Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. II. Berlin 1930, S. 428–439. Kaskel, Walter / Dersch, Hermann: Arbeitsrecht. 4. Aufl., Berlin 1932. Klee, Ernst: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. 2. aktual. Aufl., Frankfurt a.M. 2005. Kubo, Keiji: Hugo Sinzheimer – Vater des deutschen Arbeitsrechts. Köln 1995. Lehnert, Detlef: Die Weimarer Republik - Parteienstaat und Massengesellschaft. Stuttgart 1999. Maier, Dieter: Ein Prüfbericht von 1926 führte zur Gründung der Reichsanstalt. Das AVAVG beseitigte den „kommunalen Partikularismus“ in der deutschen Arbeitsverwaltung. In: arbeit und beruf, Heft 9 (2006), S. 257–260. Mattner, Andreas: Sonntagsruhe im Spiegel des Grundgesetzes und der Feiertagsgesetze der Länder. Neue Juristische Wochenschrift, Heft 36 (1988), S. 2207– 2213. Meißner, Doris: Campus Arbeitsrecht – 60 Jahre AuR. In: Arbeit und Recht 62 (2014), Nr. 2, S. 7576. Meissinger, Hermann: Reliefbild des Arbeitsrechts. München 1952. Nipperdey, Hans: Zur Verfassungsfrage. Grundsätzliche Forderungen der Gewerkschaften zum Abschnitt Arbeit und Wirtschaft in den neuen Landesverfassungen. In: Weber, Hermann / Mielke, Siegfried: Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung im 20. Jahrhundert, Bd. 7. Köln 1991. Nörr, Knut Wolfgang: Zwischen den Mühlsteinen: Eine Privatrechtsgeschichte der Weimarer Republik. Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Bd.1. Tübingen 1988. o.A.: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914. II. Abteilung. Von der Kaiserlichen Sozialbotschaft bis zu den Februarerlassen Wilhelms II. (1881–1890), 1. Bd.: Grundfragen der Sozialpolitik. Bearbeitet von Wolfgang Ayaß, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Darmstadt 2003. Perels, Joachim: Sozialistische Rechtspolitik im Angesicht der Konterrevolution: Reichsjustizminister Gustav Radbruch. In: Kritische Justiz, Heft 4 (2005), S. 407–417. Potthoff, Heinz: Die Einwirkung der Reichsverfassung auf das Arbeitsrecht. In: Ramm, Thilo: Arbeitsrecht und Politik. Neuwied 1966. Ramm, Thilo: Arbeitsrecht und Politik. Neuwied 1966. Rehder, Britta: Die Politik der Rechtsprechung - Der Beitrag des Bundesarbeitsgerichts zum Werden und Wandel des deutschen Kapitalismus. Habilitationsschrift. Münster 2011. Repgen, Tilman: Die soziale Aufgabe des Privatrechts: Eine Grundfrage in Wissenschaft und Kodifikation am Ende des 19. Jahrhunderts. Tübingen 2001. Schnorr, Gerhard: „Von mir über mich“. In: Martinek, Oswin / Wachter, Gustav (Hrsg.): Arbeitsleben und Rechtsordnung. Festschrift Gerhard Schnorr zum 65. Geburtstag. Wien 1988, S. XXV. Söllner, Alfred: Die Arbeitsgerichtsbarkeit im Wandel der Zeiten, S. 1–17. In: Die Arbeitsgerichtsbarkeit: Festschrift zum 100jährigen Bestehen des deutschen Arbeitsgerichtsverbandes, Neuwied 1994. Steiner, Udo: Richter und Reformen. In: Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht, Heft 4 (2007), S. 4–7.

WEIMARER BIOGRAFIEN FÜR DAS 21. JAHRHUNDERT

FRIEDRICH EBERT IN DER POLITISCHEN ERINNERUNG UND IN DER HISTORISCHEN FORSCHUNG Walter Mühlhausen Im Herbst 2003 ließ das ZDF durch seine Zuschauer in der Fernsehreihe „Unsere Besten“ die wichtigsten Persönlichkeiten aus Geschichte und Gegenwart Deutschlands wählen. Das Ergebnis überraschte kaum: Zum größten Deutschen wurde mit weitem Vorsprung Bundeskanzler Konrad Adenauer erkoren, gefolgt von Martin Luther und Karl Marx, der in allen ostdeutschen Ländern auf Platz 1 rangierte. Unter den Top Ten befanden sich mit Willy Brandt (5.) und Otto von Bismarck (9.) zwei weitere Kanzler, die wie Adenauer auch Namensgeber von Bundesstiftungen sind.1 Die Liste der 200 großen Deutschen2 nennt auch seinerzeitige (und mittlerweile wieder in der Versenkung verschwundene) Teenager-Idole wie den damals 18-jährigen Daniel Küblböck, Paradiesvogel einer Castingshow, auf Platz 16 und prominente Sportler wie Michael Schumacher (26), Steffi Graf (32) und Dirk Nowitzki (64). Der erste Bundespräsident Theodor Heuss, dem ebenfalls eine Bundesstiftung (an seinem letzten Wohnort Stuttgart) gewidmet ist, rangiert auf 144, unmittelbar hinter Rosa Luxemburg und Bertolt Brecht, aber direkt vor Kaiser Otto I. und (dem Österreicher) Sigmund Freud. Der „Kanzler der Einheit“ Helmut Kohl liegt mit Platz 13 im vorderen Feld, sein sozialdemokratischer Nachfolger Gerhard Schröder als damals amtierender Regierungschef logiert im Mittelfeld auf Rang 82. Und Kaiser Wilhelm II. schafft es immerhin auf Platz 130. Genauso erhellend wie ein Blick auf die Platzierung der Einzelnen ist es, jene zu erwähnen, die es eben nicht bis in die Hitparade der 200 größten Deutschen geschafft haben. Unter denen, die nicht genannt wurden, befindet sich immerhin der erste Reichspräsident Friedrich Ebert, der von 1919 bis 1925 an der Spitze der Weimarer Republik gestanden hatte. Ihn hatten die Redakteure der Sendung zwar als   1

2

Zur Entstehung der fünf Politikergedenkstiftungen (Adenauer, Brandt, Bismarck, Ebert und Heuss) vgl. Dowe (2009): Errichtung. Der vorliegende Beitrag ist eine überarbeitete und aktualisierte Fassung von Mühlhausen (2009a): Erinnerung; erste Gedanken bei Mühlhausen (2007b): Memory. Liste in: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Unsere_Besten&oldid=21541351 (alle Webquellen dieses Beitrags vom 17.3.2016), und in: http://www.klartextsatire.de/kultur/ 100besten-001-010.htm (ff.); s. a. den entsprechenden Teil im ZDF-Jahrbuch unter: httwww.zdf-jahrbuch.de/2003/programmarbeit/arens.htm; das Buch zur Sendung von Knopp / Arens (2003): Unsere Besten, enthält, weil es bereits vor der Ausstrahlung der Reihe (verkaufsträchtig) fertiggestellt wurde, keine Liste und auch nicht die Kurzbiographien aller hundert Erwählten.

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einen von 300 auf die Vorschlagsliste der vom Publikum unter die ersten 200 wählbaren großen Deutschen gesetzt. Doch gelangte Ebert nicht in die engere Wahl der schließlich von den Zuschauern nominierten 200 Kandidaten. Woran liegt es, dass das erste demokratische Staatsoberhaupt in der deutschen Geschichte seinerzeit so wenig im Bewusstsein der Deutschen verankert war (und vielleicht auch noch ist) und dass seine historische Leistung als zu gering geachtet wird, um ihn unter die 200 „Besten“ zu hieven? Zu allererst: Nach wie vor ist Ebert keine unumstrittene historische Persönlichkeit. Das war er auch nicht für die Zeitgenossen. Die Spannbreite der Wertungen reichte vom Arbeiterverräter, den er für die radikale Linke (und auch Linkssozialdemokraten) darstellte, bis hin zum Landesverräter, was ihm die antirepublikanische Rechte ans Revers heftete. Abgesehen von solchen extremen (Negativ-) Wertungen blieb das Bild Eberts in der zeitgenössischen Öffentlichkeit Weimars insgesamt blass. Daran besaß Ebert selbst erheblichen Anteil, denn er tat als Staatsoberhaupt nichts, um am Geschichtsbild seiner Person zu feilen. Er war eben nicht wie Kaiser Wilhelm II. zuvor oder sein Nachfolger Paul von Hindenburg intensiv darum bemüht, zu posieren und sich zu präsentieren. Friedrich Ebert trat nüchtern und schlicht auf. Äußerungen über politische Strategien und Vorstellungen sind rar, Aktionen in Wort und Schrift, die stimulierend und prägend über den Tag hinaus hätten sein können, gibt es von ihm nicht, sieht man einmal von der floskelhaften Einforderung von Solidarität und der gebetsmühlenartig vorgetragenen Forderung nach einer einig agierenden demokratischen „Volksgemeinschaft“ ab.3 Der Sozialdemokrat Ebert besaß keinen Hang zur Selbstdarstellung und zur bildlichen Fixierung. Der ehrliche Makler der Republik erschien bieder und blass. Von ihm ging keine Aura aus. Insgesamt nutzten er und sein Beraterstab im Präsidentenpalais den Markt der Massenmedien nicht offensiv zu einer Profilierung des Staatsoberhaupts im politischen Bewusstsein seiner Zeit. Bei aller Modernität des ersten Reichspräsidenten: Auf dem Feld der medialen Symbolpolitik wird man ihm ein aus der Zeit und den Vorbedingungen zu erklärendes „Zuwenig“ ausstellen müssen.4 Die mangelnde öffentliche Präsenz und die daraus resultierende doch eher rudimentäre zeitgenössische Verankerung in symbolischer Hinsicht sind Erklärungsmomente, warum er nach seinem frühen Tod im Alter von 54 Jahren nicht zu einer weithin anerkannten memorablen Figur wurde, wie es Bismarck oder Hindenburg schon zu Lebzeiten gewesen waren. Ein Rummel wie um den Eisernen Kanzler, der sich in einer Unzahl von Bismarck-Vereinen und Bismarck-Türmen manifestierte, entstand um Friedrich Ebert nicht. Bismarck war der Mann der Reichsgründung, der auch weit in die erste Republik strahlte,5 Ebert der Konkursverwalter des in seinem Geburtsjahr 1871 in Versailles aus der Taufe gehobenen Deutschen Kaiserreiches. Der Sozialdemokrat war Staatsoberhaupt in Krisenzeiten; mit seinem Na  3 4 5

Die Reden als Reichspräsident dokumentiert in Mühlhausen (2017): Reden. Mühlhausen (2007a): Reichspräsident, S. 775 ff.; auch Mühlhausen (2009b): Visier. S. a. Gerwarth (2008): Bismarck.

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men war keine Periode der wirtschaftlichen Prosperität und der politischen Stabilität oder gar der Weltgeltung verbunden. Mit ihm verknüpft war eine von äußeren Belastungen bedrückte, sich in inneren Kämpfen zerfleischende Republik, die unter den Folgelasten des Ersten Weltkrieges und den friedensvertraglichen Knebeln zu leiden hatte. Insofern stand er für eine Staatsordnung, die im Widerstreit der Meinungen blieb, die nach wie vor von vielen angefeindet wurde, gerade von jenen, die im Kaiserreich in den Sozialdemokraten vom Schlage Eberts nichts weiter als verdammungswürdige Vaterlandsverräter und dem internationalen Sozialismus frönende Reichsfeinde erblickt hatten.6 Das Verdikt vom Landesverräter wurde gar in einem der über 200 Prozesse, die Ebert gegen Verleumdungen führte, höchstrichterlich bestätigt: Im Verfahren vor dem Magdeburger Landgericht, das am 23. Dezember 1924 in einem Skandalurteil endete, stellten die Richter fest, dass Eberts Beteiligung am großen Berliner Munitionsarbeiterstreik im Januar 1918 den Tatbestand des Landesverrats erfüllte. Dieses Ebert tief verletzende Urteil bewirkte wiederum eine Annäherung der SPD an ihren einstigen Vorsitzenden, zu dem die Beziehungen vor allem nach der von Ebert verfügten Reichsexekution gegen Sachsen im Oktober 1923 doch merklich frostiger geworden waren.7 Der Richterspruch führte am Lebensende Eberts doch noch zu einem engen Schulterschluss zwischen Präsident und Partei. Sogleich rief die SPD nach seinem Tod am 28. Februar 1925 die „FriedrichEbert-Stiftung“ zur Förderung studierender Arbeiterkinder ins Leben.8 Im Zentralorgan „Vorwärts“ forderte der SPD-Vorstand im „Einverständnis mit der Familie“ dazu auf, von Kranzspenden abzusehen und die „dafür vorgesehenen Beiträge der Stiftung zuzuführen“.9 Damit war der Grundstein für die heute größte parteinahe politische Stiftung gelegt. Sie trug ihren Teil dazu bei, dass Ebert in der Erinnerung der Sozialdemokratie von Weimar zum Symbol, ja gar zum Märtyrer der Republik wurde, den die Partei auf jährlichen Feiern ehrte. Aber zu einem parteiübergreifenden Mythos entwickelte er sich nicht. Die Nationalsozialisten tilgten nach ihrer Machtergreifung 1933 den Namen des ersten Reichspräsidenten rigoros aus der deutschen Geschichte und der Erinnerungskultur. Für die Hakenkreuzträger war der „November-Verbrecher“ Ebert das Sinnbild der verhassten Republik von Weimar: Ebert-Straßen wurden umbenannt, Ebert-Denkmäler durchweg zerstört. Der Name Ebert lebte jedoch in den Kreisen des Widerstandes und im Exil fort. Zu seinem 10. Todestag 1935 wurde von sozialdemokratischen Widerstandskämpfern ein illegales Flugblatt „Friedrich Ebert zum Gedächtnis“ verbreitet, das an den ersten Reichspräsidenten als „Mann des   6 7 8 9

Mühlhausen (1993): Strategien. Vgl. Mühlhausen (2007a): Reichspräsident, S. 911 ff. (für den Prozess) und S. 901 ff. (für die Beziehungen zur SPD). Siehe die Ausstellungsbroschüre der Friedrich-Ebert-Stiftung unter dem Titel „Demokratie braucht Demokraten“, o.A. (2015), ein Ebert direkt zugeschriebener Satz, den dieser so aber nie in irgendeiner Form geprägt oder niedergelegt hat. „Vorwärts“ vom 2. März 1925, zitiert bei Braun (2005): Wie alles begann, S. 26; vgl. Mühlhausen (2005): Trauer, S. 56.

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Volkes“ erinnerte.10 Und zum 20. Todestag veranstalteten Emigranten – nicht nur sozialdemokratische – im März 1945 in New York eine Gedenkfeier zu Ehren Friedrich Eberts.11 Der Umgang mit Friedrich Ebert als geschichtsmächtiger Persönlichkeit in der Zeit der ersten deutschen Republik, die Ausradierung seines Namens durch die Nationalsozialisten und die Rückbesinnung auf ihn beim Aufbau der zweiten Demokratie auf deutschem Boden, spiegelt sich sinnfällig im Werdegang des Ebert-Denkmals an der Frankfurter Paulskirche wider: Unmittelbar nach Eberts Tod hatte der Magistrat der Stadt beschlossen, eine Gedenktafel an der Paulskirche anzubringen. Die Enthüllung des Standbildes – mit dem falschen Todesjahr Eberts (1924) als Inschrift – fand zum Verfassungstag am 11. August 1926 statt. Umgehend nach ihrer Machtergreifung ließen die Nationalsozialisten das Denkmal verhüllen, dann entfernen und einlagern. Fünf Jahre nach der Befreiung, zum 25. Todestag Eberts 1950, wurde dann ein neues Denkmal im Beisein von Eberts Ehefrau Louise errichtet.12 Nach dem Zweiten Weltkrieg rückte Eberts Name wieder stärker in das politisch-historische Bewusstsein, ohne dass er breite Bekanntheit erlangte. Die junge Bundesrepublik besann sich jedoch auf den ersten Reichspräsidenten. Es wurde zuvorderst Eberts staatsmännische Leistung als Republikgründer und sozialer Demokrat von allen demokratischen Parteien gewürdigt. Es gab Gedenkfeiern an Erinnerungstagen, zum Todes- oder Geburtstag. Briefmarken und Gedenkmünzen wurden herausgegeben, aber Friedrich Ebert setzte sich doch nicht tiefgreifend im politischhistorischen Bewusstsein der Deutschen fest. An ihn wurde als Wegbereiter der Demokratie gedacht. Der erste Bundespräsident Theodor Heuss stilisierte Ebert zum „Abraham Lincoln der deutschen Geschichte“.13 Heuss machte den Vergleich Eberts mit Lincoln, den er in einem Nachruf auf Ebert kurz nach dessen Tod verwandt hatte, durch seine Rede zum 25. Todestag 1950 populär. Die Urheberrechte für den bald zum geflügelten Wort werdenden Vergleich liegen allerdings nicht bei ihm, sondern beim britischen „Observer“, der bereits im November 1923, auf dem Höhepunkt der Staatskrise, den „Sattler-Präsidenten“ in eine Linie mit dem mystifizierten Lincoln stellte und dabei die Bemühungen des deutschen Staatsoberhauptes um den Erhalt des Reiches mit denen des US-Präsidenten um die Einheit der Vereinigten Staaten in der Sezessionszeit verglich.14 Treffender als der Vergleich mit Lincoln passte der zu George Washington, dem Gründungsvater der Vereinigten Staaten, den Hermann Molkenbuhr, Eberts einstiger Kollege im SPD-Parteivorstand, bei einer Erinnerungsfeier am Grab auf dem Bergfriedhof in Heidelberg anlässlich des dortigen SPD-Parteitages im September 1925 prägte.15   10 11 12 13

In Mühlhausen (1999): Leben, S. 351. Dokumentiert bei Richter (1995): Rückbesinnung. Abbildungen von den Ereignissen in Rebentisch (1998): Paulskirche. Heuss (1965): Reden, S. 118; auch im Anhang von Peters (1961): Ebert, S. 169, dort gleich zur Überschrift des Redeabdrucks gemacht: „Der Abraham Lincoln der deutschen Geschichte“. 14 „The Observer“, vom 11. November 1923. 15 Mühlhausen (2009a): Erinnerung, S. 31.

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Ebert wurde zuvorderst als derjenige gesehen, der in der Revolution den Weg zur Demokratie gebahnt und Deutschland von einer „Bolschewisierung“, einer Rätediktatur nach russischem Vorbild, bewahrt hatte. Es sei um ein klares EntwederOder gegangen: parlamentarische Demokratie oder bolschewistische Parteiherrschaft. Solches Urteil von einer – in erster Linie von Ebert zu verantwortenden – erfolgreichen Abwehr des drohenden kommunistischen Unrechtsregimes untermauerte die in der Nachkriegszeit dominierende konservativ ausgerichtete Forschung, die den sozialdemokratischen Führer der Revolutionsregierung durchweg positiv bewertete, mitunter gar idealisierte.16 Dies fand ihren Niederschlag in den Handbüchern zur Geschichte und in den westdeutschen Schulbüchern bis weit in die 1980er Jahre hinein. Jenseits der wissenschaftlichen Forschung blieb Ebert in der Öffentlichkeit als Demokrat und Staatsmann in Erinnerung, der in schwerster Zeit Verantwortung übernommen hatte. Diese Wertschätzung galt auch gemeinhin im bürgerlichen Spektrum der Bundesrepublik. Dabei wurde Ebert von der CDU als Kronzeuge gegen die Ostpolitik der sozialliberalen Bundesregierung Brandt / Scheel ins Feld geführt: Indem die CDU betonte, dass sie an Ebert als den Mann gedenke, der unter extremer Ausgangssituation und in Zwangslagen die Einheit der Nation bewahrt hatte, warf sie der SPD vor, diese durch die neue Ostpolitik aufgegeben zu haben. Andersherum erinnerte die SPD in Abwehr der Kritik am sozialdemokratischen Bundespräsidenten Gustav Heinemann daran, dass mit Ebert bereits schon einmal ein deutsches Staatsoberhaupt Opfer einer Verleumdungskampagne geworden sei. Auslöser der christdemokratischen Attacken: Heinemann hatte eine in den Augen bürgerlich-konservativer Zeitgenossen bedenkliche Rede zum 100. Geburtstag der Reichsgründung von 1871 gehalten, bei der er herausgestellt hatte, die Bundesrepublik stehe nicht in der Tradition von Bismarcks Reich.17 Und noch ein politisch motivierter Rückgriff auf Ebert, ganz anderer Art: Der SPD-Fraktionsvorsitzende Helmut Schmidt verglich im März 1968 die Kampagne der DDR gegen Bundespräsident Heinrich Lübke als „KZ-Baumeister“ mit der Hetze gegen Ebert, der am „Gift der Verleumdung“ gestorben sei.18 Die rechtsradikale Deutsche Volksunion (DVU) trieb es mit der politischen Annektierung Eberts auf die Spitze, als sie 1991 im Bremer Wahlkampf hunderttausendfach Flugblätter verteilte, in denen sie behauptete, der Patriot Ebert würde – wie andere verstorbene sozialdemokratische Parteiführer auch – DVU wählen. Das war ein groteskes Extrem der Vereinnahmung, gegen das juristisch vorgegangen wurde, letztlich jedoch erfolglos. 19   16 Vgl. zuletzt den feinen Überblick zur historiografischen Entwicklung des Ebert-Bildes in der Bundesrepublik von Grebing (2011): Rezeption. Helga Grebing selbst hat in den 1990er Jahren einen Wandel in der Bewertung Eberts im Vergleich zu ihrem kritischen Urteil 25 Jahre zuvor vollzogen; siehe Grebing (1971): Gedanken; dazu wesentlich positivere Betrachtung in ihrer späteren Schrift: Grebing (1996): Verantwortung; früherer Forschungsüberblick bei Witt (1991): Stadien. 17 Mit weiteren Verweisen Mühlhausen (2009a): Erinnerung, S. 37. 18 Meyer (2015): S. 322 f. 19 Mühlhausen (2009a): Erinnerung, S. 37.

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In der DDR wurde Ebert – ganz in der Tradition der kommunistischen Verdammung zu seinen Lebzeiten – aufgrund seines Kampfes gegen eine Räterepublik und für die parlamentarische Demokratie sowie wegen der Kooperation mit den alten Eliten als „Arbeiterverräter“ verunglimpft. Das war im Grunde genommen das Zerrbild, das die Kommunisten bereits vom politisch aktiven Ebert gezeichnet hatten. Sein Name wurde zum Inbegriff für die ideologisch verdammte Sozialdemokratie der ersten Republik. Die Geschichte des 1929 im Ebert-Hof von Cottbus aufgestellten Ebert-Brunnens versinnbildlicht den Umgang mit seiner Person in der deutschen und der DDR-Geschichte: Die Bronze-Plakette mit seinem Porträt wurde 1933 entfernt, von Sozialdemokraten während der nationalsozialistischen Diktatur verborgen, nach 1945 aber nicht wieder angebracht. Der Stadtrat ließ 1952 den Brunnen mit der Begründung abtragen, Ebert habe „nicht die Rolle eines fortschrittlichen Kämpfers“ gespielt: „Im Gegenteil – er hat das deutsche Volk an die imperialistischen Mächte verraten.“20 Das blieb eine Konstante, wenn auch mit zyklisch unterschiedlicher Intensität vorgetragen. Der Sohn des ersten Reichspräsidenten, Friedrich Ebert jr., führendes SED-Mitglied und langjähriger Oberbürgermeister von Ost-Berlin, teilte zwar die kritische Einschätzung der Rolle seines Vaters, vor allem für die Revolutionszeit 1918/19, wies aber das Verdikt vom „Arbeiterverräter“ strikt zurück.21 Während die Nachfahren im Osten Deutschlands nicht auf das Urteil über Ebert in der DDR einwirken konnten, gab es vom westdeutschen Zweig der Familie, der in Heidelberg lebendenden Witwe Louise und dem jüngsten Sohn Karl, keine nachhaltigen Bemühungen, das Bild Friedrich Eberts zu prägen oder zu beeinflussen. In der Bundesrepublik wandelte sich im Zuge einer intensiven Betrachtung der Revolutionsperiode die Beurteilung Eberts. Die in den 1960er Jahren einsetzende, in erster Linie (links-)sozialdemokratische Forschung förderte zutage, dass die bis dahin als radikal oder gar bolschewistisch-kommunistisch eingestuften Arbeiterund Soldatenräte in der Mehrheit sozialdemokratisch orientiert gewesen waren und Eberts Weg in die parlamentarische Demokratie mitgetragen hatten.22 Eine Umformung nach sowjetrussischem Vorbild habe in den Revolutionsmonaten daher gar nicht auf der Tagesordnung gestanden; es sei eben nicht um die Alternative zwischen Demokratie oder Rätediktatur gegangen. Unter diesem Blickwinkel, mit einer „Entmythologisierung“23 der Arbeiter- und Soldatenräte als Kräfte eines kommunistischen Umbruchs, wurde Eberts Politik in ein vollkommen anderes Licht gestellt. Er verlor seinen Nimbus als Retter vor dem Bolschewismus, aber auch die Stigmatisierung als „Arbeiterverräter“ war im Lichte dieser Erkenntnisse nicht mehr haltbar. Diese neue Forschung hingegen machte, immer nach Erklärungen für das Ende der Republik 1933 suchend, Versäumnisse der Revolutionsregierung bei der   20 Quellen hierzu bei Mühlhausen (2009a): Erinnerung, S. 38. 21 Interview mit Georg Ebert, Sohn von Friedrich Ebert jr., in „Neues Deutschland“ vom 19. November 2004. 22 Vgl. generell Witt (1991): Stadien; Grebing (2011): Rezeption. 23 Begriff von Schildt (2010): Historisierung, S. 237.

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Grundsteinlegung der Demokratie aus. Ungeachtet vieler spekulativer Folgerungen wurden weit über die historische Wissenschaft hinaus Unterlassungen Eberts und der Volksbeauftragten zu entscheidenden Fehlern der Republik erklärt und für ihren Untergang in die Diktatur verantwortlich gemacht. Die Sozialdemokratie, insbesondere ihre Galionsfigur Ebert, habe es verpasst, in der gemeinhin als „offen“ bezeichneten Zeit nach dem 9. November 1918 vorbeugende Strukturmaßnahmen zur Absicherung der parlamentarischen Demokratie in Angriff zu nehmen. Ebert sei zu sehr in einem überzogenen Ordnungsdenken gefangen gewesen, als dass er grundlegende Neuerungen hätte in Angriff nehmen können. Ihm habe die in Revolutionszeiten hierfür unentbehrliche politische Phantasie und eine klare Zukunftsperspektive gefehlt. Leitmotivisch ging es um die Untermauerung der These, dass in der Phase des Umbruchs zu wenig Reformen verwirklicht worden waren, um der ersten deutschen Demokratie ein solideres Fundament zu geben. So sei die Zusammenarbeit mit den alten Kräften in Verwaltung und Militär weit über das erforderliche Maß hinausgegangen und kein Versuch unternommen worden, die als notwendig angesehenen Strukturreformen in die Wege zu leiten. Unter der Formel von den verpassten Chancen wurden – mitunter in romantischer Verklärung der als basisdemokratisch charakterisierten Rätebewegung – die Arbeiter- und Soldatenräte als ein wirkungsmächtiges, mehrheitlich auf parlamentarische Demokratie ausgerichtetes Potential gesehen, das Ebert und die Revolutionsregierung nachgerade fahrlässig nicht für eine unerlässlich erachtete Erneuerung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in die Waagschale geworfen hätten. Diese neue Interpretation griff weit, doch vermochte die neue Forschung zentrale Fragen nicht zu beantworten. Wie hätte dieses Potential, das nun keineswegs demokratisch legitimiert war, eingesetzt werden sollen? Waren Reformen wie die Sozialisierung der Großindustrie tatsächlich unabdingbar für das Überleben der Republik? Offen blieb auch die zentrale Frage, ob eine konsequentere Reformpolitik in der Revolution die Republik wirklich stabiler gemacht hätte. Es gibt gute Gründe für die Ansicht, dass bei massiven Eingriffen in Wirtschaft und Gesellschaft eine Gegenrevolution die Demokratie erstickt hätte, bevor diese überhaupt das Licht der Welt hätte erblicken können. So ist vieles Hypothese. Die Frage „Was wäre wenn?“ lässt sich nicht allgemeingültig beantworten. Die neuen Forschungsergebnisse wurden auch popularisiert. So stellte der SPD-Ehrenvorsitzende Willy Brandt in einer Rede 1988 heraus, dass man den Untergang der ersten Republik 1933 nicht ohne die unzureichenden Weichenstellungen von 1918/19 sehen könne. Er sprach gar von der Legende einer bolschewistischen Gefahr in der Revolution. Er warf – in Überschätzung der von Krieg und dessen Folgen begrenzten Handlungsspielräume und in Unterschätzung der latenten Bürgerkriegsgefahr in der Revolutionszeit – der SPD und insbesondere Ebert vor, geglaubt zu haben, dass die junge Republik nicht überleben könne, wenn sie nicht

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die Unterstützung der monarchischen Rechten erhalte.24 Bereits zum 100. Geburtstag Eberts 1971 hatte Brandt diese Kritik anklingen lassen und damit eine frappierend distanzierte Haltung zu seinem Vorgänger an der Spitze der SPD an den Tag gelegt.25 Die neue Sicht gewichtete die Rahmenbedingungen in der Revolutionszeit und das enge zeitliche Korsett zu gering, ignorierte vollkommen Eberts demokratisches Grundprinzip, allen Bürgern Mitentscheidungsrechte einzuräumen, und seine politische Vision, die parlamentarische Republik, die nach der Grundlegung auf dem Weg der von einer Mehrheit, dem Bündnis von Arbeiterschaft und Bürgertum, getragenen Reform zum vollkommenen demokratischen System ausgebaut werden sollte. Trotz einer doch unterschiedlichen Bewertung von Eberts Agieren in der Revolution: Ein „Historikerstreit um Friedrich Ebert“, den die sozialdemokratische Wochenzeitung „Vorwärts“ am 70. Jahrestag der Wahl des ersten Reichspräsidenten am Horizont heraufziehen sah,26 brach nicht aus. Dazu eignen sich Ebert und sein politisches Wirken nicht, wenngleich von einer einmütigen Beurteilung nicht die Rede sein kann, auch nicht des Reichspräsidenten Ebert, dessen Bild in den wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Darstellungen zur Republik zumeist grobkörnig und unterbelichtet blieb. Denn während bei einer intensiven Betrachtung der Revolutionsmonate Politik und Strategie Eberts in dieser Phase weitgehend ausgeleuchtet und – wenn auch uneinheitlich – beurteilt wurden und auch sein Weg in die Verantwortung 1918/19 über biographische Teilstudien als hinreichend erforscht gelten darf, blieb die Darstellung des Reichspräsidenten auffallend blass. Wissenschaftlich stand Friedrich Ebert bis auf wenige lebensgeschichtliche Annäherungen und populärwissenschaftliche Studien lange im Schatten anderer Politiker wie etwa Stresemanns, der selbst im Ausland als „Weimar’s greatest Statesman“ verklärt werden sollte.27 Erst zu Eberts 100. Geburtstag 1971 erschien eine erste, auf breiterer Quellengrundlage beruhende Gesamtbilanz von Leben und Werk, vom Autor Peter-Christian Witt als biographischer Versuch annonciert.28 Wie jeder andere 100. Geburtstag eines Politikers wurde auch der von Friedrich Ebert Anlass zur wissenschaftlichen Betrachtung. So erschien zu diesem Zeitpunkt, mehr als 50 Jahre nach seiner Wahl zum Reichspräsidenten, neben Aufsätzen, die Eberts gesamte Biographie in das Blickfeld nahmen, ein Beitrag von Hans Mommsen, der in hoher Dichte den Reichspräsidenten Ebert auf den entscheidenden Handlungsfeldern vorstellte und seine Einflussnahme auf die Politik der frühen

  24 Willy Brandt: Deutsche Wegmarken (Rede vom 11. September 1988). Wieder abgedruckt in Brandt (2012): Zweifel, S. 770–792. Diesbezüglich auch die dortige Einleitung von Schönhoven, S. 21. 25 Rede am 4. Februar 1971 in Bonn; Brandt (2012): Zweifel, S. 224–227. 26 „Vorwärts“ vom 11. Februar 1989. 27 Titel der Biographie von Wright (2002): Stresemann. 28 Mittlerweile in 4. Aufl.; Witt (2008): Ebert.

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Weimarer Republik vor dem Hintergrund der innenpolitischen Entwicklungen festmachte.29 Hier wurde das Gerüst für eine tiefgehende Betrachtung der präsidialen Handlungsfelder geliefert, doch wurde Ebert, obwohl sich seit den Schriften zum Jubiläum zwar einiges getan hatte, nicht zum Gegenstand einer breit angelegten wissenschaftlichen Biographie. Das lag zum einen an dem Fehlen eines Nachlasses, zum anderen an der Persönlichkeit. Eine überragende, weithin strahlende Gestalt, deren Weg durch Brüche und Wandel gekennzeichnet ist und die zu einer historischen Analyse reizt wie etwa Gustav Stresemann oder Walther Rathenau, war Friedrich Ebert nicht. Auf seinem Weg gibt es keinen fundamentalen Wechsel seiner Politik. Er besaß nicht das Charisma eines großen Politikers, das Historiker an prägenden geschichtlichen Figuren gemeinhin so fasziniert. Neben der zu einer historischen Betrachtung wenig reizenden Persönlichkeit wirkte es sich als hemmend aus, dass kaum persönliche Dokumente überliefert sind, die Aufschluss über Handeln und Denken Eberts geben. Er hatte in den 1920er Jahren einen Großteil seiner Papiere selbst vernichtet. Der Rest verbrannte in einer Bombennacht 1943, als die Wohnung seiner Witwe zerstört wurde.30 So blieb Ebert bis in die heutigen Tage weniger als Reichspräsident, sondern vielmehr als Politiker der Revolutionszeit in Erinnerung. Seine historische Einordung wurde und wird auch heute noch weithin von den tradierten Klischeebildern seiner Haltung in den Monaten der Revolution dominiert. Eben weil eine in die Tiefe gehende wissenschaftliche Auseinandersetzung über die Präsidentenzeit nicht erfolgte, konnte Ebert zu einer Chiffre für die Sozialdemokraten und die Sozialdemokratie von Weimar reduziert werden, die den gestellten Herausforderungen nicht gewachsen gewesen sei, also schlichtweg versagt habe. Mitunter galt Ebert in der historisierenden Publizistik als das typische Beispiel für den kleingeistigen, phantasiearmen sozialdemokratischen Biedermann im Regierungsamt. Sebastian Haffners scharfes Urteil über Ebert ist bekannt.31 In seiner als Lebenserinnerungen apostrophierten Schilderung der deutschen Geschichte von 1914 bis 1933 formulierte der früh gereifte Analytiker der Zeitgeschichte, das penetrante „Aroma von Verrat“, das Ebert und Noske in der Revolution angehaftet habe, sei damals schon bis in die „Nasen der Zehnjährigen“ (Haffner war 1918/19 elf Jahre alt) gedrungen.32 Die Hartnäckigkeit solcher Verdikte demonstrierte der ehemalige SPD-Bundesvorsitzender Oskar Lafontaine, der im expliziten Rückgriff auf Haffner noch auf dem Parteitag „Der Linken“ 2008 in Cottbus meinte, Ebert habe in der

  29 Mommsens Beitrag von 1971 wieder abgedruckt in Mommsen (1979): Arbeiterbewegung. 30 Mühlhausen (2007a): Reichspräsident, S. 30 ff. 31 Vgl. den 1969 unter dem Titel „Die verratene Revolution – Deutschland 1918 / 19“ erschienenen, stets wieder aufgelegten Band (unter wechselnden Titeln), zuletzt als Haffner (1993): Verrat, über Ebert u. a. S. 196. 32 Haffner (2011): Geschichte, S. 35.

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Revolution die „Weichen für die unselige Geschichte der Weimarer Republik“ gestellt und eine Politik betrieben, die letztlich „zur endgültigen Spaltung der Arbeiterbewegung“ geführt habe.33 Es tauchten zyklisch aufgrund ihrer Prägnanz immer wieder gern verwandte plakative Etikettierungen auf: „Ein deutscher Lincoln oder der Stalin der SPD“34 – titelte die Wochenzeitung „Die Zeit“ zum 50. Todestag Eberts 1975. Diese Charakterisierungen waren ebenso griffig wie falsch. Solche Vergleiche mit anderen historischen Persönlichkeiten dienten lediglich der Festlegung Eberts auf eine möglichst einprägsame Formel. Wissenschaftlich war, soweit es die Reichspräsidentschaft betraf, lange Zeit Fehlanzeige zu vermelden. So musste Eberhard Kolb 1997 einführend zu einem Sammelband von Studien über Amtsführung und Amtsverständnis Eberts konstatieren, dass der erste Reichspräsident noch nicht zum Gegenstand einer breit angelegten wissenschaftlichen Untersuchung geworden war.35 Eberts Präsidentschaft verblieb – wie Wolfram Pyta 2004 noch feststellte – bis auf wenige Annäherungen im historiographischen Schatten.36 Erst 2006 erschien eine umfassende, auf der Basis weit verstreuter Quellen angefertigte biographische Studie mit den Jahren als Staatsoberhaupt im Zentrum, die mit vielen der liebgewordenen Legenden aufräumte.37 Bei der Bewertung Eberts und seiner Politik floss vor allem auch die Betrachtung von Umbrüchen neuerer Zeit ein. Denn die Dauerhaftigkeit der Probleme im Zuge der Wiedervereinigung Deutschlands nach 1990 schärfte den Blick für die ungleich schwierigen Problemlagen am Ende des Ersten Weltkrieges mit all seinen Verwerfungen, auf den hohen Entscheidungsdruck in der Revolution 1918/19 und die fragilen Anfangsjahre der Republik, zu deren Akzeptanz die zügigen wirtschaftlichen und politischen Erfolge eben fehlten, die die Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg, auch unter dem Schutzschirm der (westlichen) Siegermächte, vorweisen konnte. Viel stärker wurden nun – über die Biographie Eberts hinaus – in den Darstellungen zur Geschichte der Weimarer Republik die Handlungszwänge bei der Einordung der von Ebert dominierten mehrheitssozialdemokratischen Politik in Rechnung gestellt. Damit erscheint auch der Volksbeauftragte und erste Reichspräsident positiver. Es wird nun vor allem hervorgehoben, dass es trotz der desolaten Situation am Ende des Krieges gelungen war, nicht nur die drohende Katastrophe abzuwenden, sondern auch den   33 Rede dokumentiert in „Disput“ (Mitgliederzeitschrift der Partei Die Linke) Juni 2008, S. 16; vgl. Gallus (2010): Erinnerungen, S. 20. 34 Das Wort vom „Stalin der deutschen Sozialdemokratie“ stammt vom US-amerikanischen Historiker Schorske (1981): Spaltung, S. 167, der damit Eberts Rolle im Parteivorstand und als Parteivorsitzender auf einen Nenner zu bringen versuchte. 35 Eberhard Kolb im Vorwort zum Sammelband: Kolb (1997): Reichspräsident, S. 7. 36 Pyta (2004): Präsidialgewalt, S. 66. 37 Siehe aber auch die Kritik von Volker Ullrich („Die Zeit“ vom 4. April 2007), der dort die großzügig gesetzte und reich bebilderte Ebert-Biographie mit 1064 Seiten als überdimensioniert bezeichnet, was ihn nicht davon abhielt, nunmehr selbst einen ersten Teil (!) einer auf zwei Bände angelegten Hitler-Biographie mit 1083 Seiten, in kleiner Schrifttype eng gesetzt und wenig bebildert, zu präsentieren und damit den zahllosen Hitler-Studien eine weitere hinzuzufügen, die mitunter als wenig nutzbringend bezeichnet worden ist.

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Grundstein für eine parlamentarische Demokratie zu legen.38 Betont wird ebenfalls, dass die Republik am Ende seiner Präsidentschaft durchaus die Chance hatte, sich zu einer stabilen Demokratie fortzuentwickeln – kurzum: Der Untergang der Republik 1933 war nicht zwangsläufige Folge von 1918/19. Die Sozialdemokraten vom Schlage Eberts „galten nun nicht mehr als eine Ansammlung von roten Hochverrätern“, sondern wurden als „Träger der beginnenden Demokratisierung der alten Klassengesellschaft“ gesehen,39 wobei der erste Reichspräsident – am Lebensende der letzte noch im Amte befindliche Mohikaner40 aus der Phalanx der sozialdemokratischen Regierungsmitglieder der Umbruchszeit – herausragte, da er in der schwierigsten Phase deutscher Geschichte der Neuzeit Verantwortung übernommen und schließlich auch sechs Jahre lang getragen hatte. Nebenbei: Dass die Weimarer Reichskanzler in der Erinnerungskultur der Deutschen nur einen geringen Stellenwert einnehmen, lag zum Großteil an ihren allzu kurzen Amtszeiten.41 Da war Ebert doch viel länger im Amt geblieben. Kurz vor dem Untergang der DDR wurde die Ausstellung in der Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte eröffnet. Damit fanden Pläne ihren Abschluss, die 1957 öffentlich geworden waren. Im Juli des Jahres ließ der baden-württembergische Ministerpräsident Gebhard Müller (CDU) verlautbaren, dass das Geburtshaus mit Mitteln des Landes, der Stadt und des Bundespräsidenten instand gesetzt und zu einer Erinnerungsstätte ausgebaut werde.42 „Warum ist nicht längst das Haus von der Stadt würdig zu einer Erinnerungs- und Forschungsstätte für die Weimarer Republik hergerichtet worden?“, hatte Arno Scholz im Berliner „Telegraf“ zwei Jahre zuvor in einem Artikel über die Trauerfeier für Louise Ebert bemängelt.43 Schon in der Weimarer Zeit waren zahlreiche Besucher in die Geburtswohnung gekommen, auch führende Politiker des Reiches. Im Mai 1962 wurde dann auf Initiative der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Stadt Heidelberg in der engen, 45 qm umfassenden Geburtswohnung Eberts eine Erinnerungsstätte errichtet und im Beisein von Bundespräsident Heinrich Lübke der Öffentlichkeit übergeben. 1982 setzten – wiederum von der Stadt Heidelberg und der Friedrich-Ebert-Stiftung getragene – Bestrebungen ein, diese zu einer nationalen Gedenkstätte zu erweitern. Im Vorfeld der Eröffnung der Gedenkstätte zeigte sich, dass Ebert nicht zu den allgemein anerkannten historischen Persönlichkeiten gehörte. So urteilte der spätere langjährige Vorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Reinhard Bütikofer, seinerzeit noch eifrig-radikaler Student in Heidelberg und Vorsitzender der örtlichen Grün Alternativen Liste: „Für das Reich war Ebert

  38 So auch der Titel des resümierenden Beitrags zur ersten Tagung der Stiftung ReichspräsidentFriedrich-Ebert-Gedenkstätte von Rebentisch (1991): Chancen. 39 Fazit von Grebing (2011): Rezeption, S. 162. 40 Geprägt von Lehnert (1999): Republik, S. 132. 41 Braun (2011): Reichskanzler, S. 12. 42 „Rhein-Neckar-Zeitung“ (Heidelberg) vom 17. Juli 1957; vgl. generell dazu Mühlhausen (2009c): Entstehungsgeschichte. 43 „Telegraf“ vom 23. Januar 1955.

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ein Held, für die Demokratie eine Flasche.“44 Das sorgte für Wirbel und für ein erhebliches Rauschen im regionalen Blätterwald – und darüber hinaus. Ganz in diesem Sinne stimmten die Grünen im Bundestag im Dezember 1986 gegen das Gesetz zur Errichtung der Stiftung-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte. Bei der Debatte sprach dann Christian Ströbele für die Grünen im Rückgriff auf die verklärte Verabsolutierung der basisdemokratischen Kräfte durch die 1968er Bewegung von der Möglichkeit einer „aktiven Selbstregierung des Volkes, getragen von Arbeiter- und Soldatenräten“, die Ebert verhindert habe, was mitverantwortlich für das Scheitern der Weimarer Republik gewesen sei.45 Dass auch in der Geschichtswissenschaft die ahistorische Polemisierung keineswegs überwunden ist, belegt die Empfehlung von Karl Heinz Roth und Klaus Gietinger an die Adresse der Friedrich-Ebert-Stiftung, ihren Namen zu ändern. Dies leiten sie aus der unbelegbaren Behauptung ab, Ebert, von ihnen zum „Hauptexponenten“ der „rechtsextremistischen Phase“ der SPD deklariert, hätte im Verein mit Noske seine Zustimmung zur Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht gegeben.46 Dass Ebert die von vielen als Skandal empfundenen überaus milden Militärgerichtsurteile gegen die Mörder von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht nicht bestätigt sehen wollte und in der Kabinettsrunde dafür plädierte, die Verfahren neu aufzurollen, wird dabei übersehen. Würde ein Mitschuldiger an einer abscheulichen Tat diese erneut untersuchen lassen und sich damit vielleicht gar selbst ins Visier der Untersuchungen manövrieren? Schwerlich vorstellbar. Dass Ebert sich aber der Mehrheit im Kabinett fügte, den Fall ad acta zu legen, so dass der zuständige Reichswehrminister Noske den Urteilen Rechtskraft verleihen konnte, steht auf einem anderen Blatt. Solches dokumentiert, dass sich Ebert am Kabinettstisch als kollegialer Mitspieler bewies, anstatt hier entschieden auf seinem Standpunkt zu beharren. Die Chance für eine gerechte Sühne war somit vertan.47 Es muss allerdings verwundern, dass solche, auf der Basis bislang unerschlossener Quellen geschöpften neuen Erkenntnisse beim Aufwärmen der doch gravierenden Anschuldigungen nun so gar nicht rezipiert wurden, nicht einmal der Versuch gemacht wurde, sie zu widerlegen. Da ist es leichter, einmal gefasste (Vor-) Urteile aufzukochen, auch wenn die (neuen) Quellen andere Interpretationen nahelegen oder zumindest zu einer Prüfung der eigenen Wertungen anregen müssten. Aber Geschichtswissenschaft kann träge sein. Noch ein Beispiel: Es befördert ein

  44 „Rhein-Neckar-Zeitung“ (Heidelberg) vom 25. Oktober 1985. Die Aufregung hielt lange an, im Raum standen Strafantrag und Verleumdungsklage. 45 Gesetzentwurf in: Verhandlungen des Deutschen Bundestages. 10. Wahlperiode, Drucksachen, Bd. 341, Bonn 1986 (Drucksache Nr. 6215); die erste Lesung ebd. Stenographische Berichte, Bd. 139, Bonn 1986, S. 18669 ff. Die zweite und dritte Lesung fanden am 10. Dezember 1986 statt; ebd., Bd. 140, S. 19892 f. 46 Gietinger / Roth (2007): Verantwortung, S. 90; dazu der überaus gerechtfertigte Bannstrahl von Grebing (2011): Rezeption, S. 162; s. a. Gallus (2010): Erinnerungen, S. 22 f. 47 Mühlhausen (2007a): Reichspräsident, S. 149.

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befremdliches Erstaunen, dass neueste Literatur auf den Stand der 1970er Jahre zurückfällt, wenn ausdrücklich bei der Beurteilung Eberts in der Revolutionszeit der Aufsatz von Richard N. Hunt von 1972 als einzige Referenz genannt wird.48 Mit der Begründung der Bundesstiftung 1986 und der Öffnung der Gedenkstätte am 11. Februar 1989, zum 70. Jahrestag der Wahl Friedrich Eberts zum Reichspräsidenten, nahm sich die Bundesrepublik Deutschland institutionell der Erinnerung an Friedrich Ebert an – auch wenn er in der eingangs erwähnten Umfrage von 2003 nicht zu den 200 bedeutendsten Deutschen gezählt worden ist. Dieses Zuschauervotum war jedoch nur ein Ausschnitt einer momentanen Stimmung. Dass Ebert nicht zu den 200 größten Deutschen gewählt wurde, lag vor allem daran, dass er ein Politiker der nach seinem Tod letztlich gescheiterten Weimarer Republik war. Er ist nicht wie Adenauer der Gründungsvater und Wegbereiter einer erfolgreichen Demokratie auf deutschem Boden. Ebert ist im Bewusstsein der meisten Deutschen nicht wie Adenauer oder Bismarck verhaftet – das wird er auch nie sein. Ungeachtet dessen: Der Sozialdemokrat Friedrich Ebert gilt immer mehr als Gründer und Garant der ersten Demokratie in Deutschland. Das zeigt sich auch an einigen Initiativen vor Ort auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, einstige Ebert-Gedenksteine, die zwischenzeitlich zerstört worden waren, neu aufzurichten, so wie in Schwarzburg 1994 anlässlich des 75. Jahrestages der Unterzeichnung der Reichsverfassung durch Friedrich Ebert in seinem thüringischen Urlaubsort49 oder jüngst zum 90. Todestag Eberts im ostthüringischen Kahla: Dort wurde im Februar 2015 ein 1928 mit einer Festrede von Otto Hörsing, dem Vorsitzenden des republikanischen Kampfverbandes „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“, eingeweihtes, von den Nationalsozialisten kurzerhand umfunktioniertes Ebert-Denkmal in neuer Form wieder errichtet.50 Auch wenn ein aktuelles Barometer zum Stellenwert von Personen in der demokratischen Erinnerungskultur nicht vorliegt, so hat Ebert seinen Platz ganz vorn im historisch-politischen Traditionshaushalt der Bundesrepublik Deutschland gefunden. Dazu beigetragen haben dürfte auch die Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte, deren Herzstück die kleine Wohnung ist, in der Friedrich Ebert als Sohn eines Schneidermeisters 1871 geboren worden war. Mit 60.000 bis 70.000 Besuchern, die pro Jahr die Geburtswohnung und die 2007 erneuerte Dauerausstellung aufsuchen,51 hat sich das Friedrich-Ebert-Haus in Heidelberg als ein hoch frequentierter Lernort der deutschen Demokratiegeschichte etabliert. Mit ihren vielfältigen Aktivitäten am Stammsitz in Heidelberg und auch jenseits des   48 Heither / Schulze (2015): Mechterstädt, S. 94 f., beziehen sich dabei allein auf Hunt (1972): Ebert. 49 Mühlhausen (1995): Unterzeichnung; Mühlhausen (2010): Schwarzburg; s. a. die Broschüre: o.A. (1994): Friedrich Ebert in Schwarzburg. 50 „Ostthüringer Zeitung“ (Jena) vom 11. Februar und 28. Februar 2015. 51 Vgl. Braun / Mühlhausen (2012): Arbeiterführer. Zur Entstehungsgeschichte vgl. die den Anteil der Gremien an der neuen Ausstellung überhöhenden und die eigentliche Leistung der verantwortlichen Mitarbeiter – die auch den Anstoß zur Neuerung gaben und dabei keineswegs „über ihren Schatten“ springen mussten – wenig honorierenden Beitrag von Hoesch (2008): Ebert.

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Neckars, u. a. mit drei erfolgreichen Wanderausstellungen, fördert die Stiftung die Erinnerung an Ebert und seine Zeit.52 Mit ihren Publikationen hat die Stiftung, so urteilt Helga Grebing 2011, Schluss-Steine des historiografischen Bemühens gesetzt, „Friedrich Ebert nicht aus dem Sozialismus auszubürgern.“53 Nicht zuletzt die bevorstehenden runden Jubiläen – 100 Jahre Revolution 2018, 100 Jahre Demokratiegründung in Weimar und 100 Jahre Wahl Eberts zum Reichspräsidenten 2019, und auch sein 150. Geburtstag 2021 – werden dafür Sorge tragen, ihn als Mann der deutschen Demokratie noch stärker im öffentlichen Bewusstsein zu verankern. LITERATUR Brandt, Willy: Im Zweifel für die Freiheit. Reden zur sozialdemokratischen und deutschen Geschichte. Hrsg. und eingeleitet von Klaus Schönhoven (Willy-Brandt-Dokumente, Bd. 2). Bonn 2012. Braun, Bernd: Wie alles begann. 80 Jahre Friedrich-Ebert-Stiftung – eine Außensicht. In: Info der Friedrich-Ebert-Stiftung. Hrsg. von der Presse und Öffentlichkeitsarbeit der Friedrich-EbertStiftung. Bonn 2005, S. 26–28. Ders.: Die Weimarer Reichskanzler – Zwölf Lebensläufe in Bildern. Düsseldorf 2011. Ders. / Mühlhausen, Walter: Vom Arbeiterführer zum Reichspräsidenten. Friedrich Ebert (1871– 1925) (Katalog zu ständigen Ausstellung in der Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte). Heidelberg 2012. Dowe, Dieter: Die Errichtung von Politiker-Gedenkstiftungen in Deutschland. In: Mühlhausen, Walter (Hrsg.): Erinnern und Gedenken – 20 Jahre Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte. Heidelberg 2009, S. 45–62. Gallus, Alexander: Die vergessene Revolution von 1918/19 – Erinnerungen und Deutung im Wandel. In: Ders. (Hrsg.): Die vergessene Revolution von 1918/19. Göttingen 2010, S. 14–38. Gerwarth, Robert: Bismarck und die Weimarer Republik. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 50–51 (2008). S. 19–25. Gietinger, Klaus / Roth, Karl Heinz: Die Verantwortung der Mehrheitssozialdemokratie für die Morde der deutschen Gegenrevolution im Jahr 1919. Eine Dokumentation. In: Sozial.Geschichte 22 (2007), Heft 3, S. 82–102. Grebing, Helga: Friedrich Ebert. Kritische Gedanken zur historischen Einordnung eines deutschen Sozialisten (Schriften der Bundeszentrale für politische Bildung). Bonn 1971. Dies.: Friedrich Ebert: Von der Verantwortung für die Demokratie in Deutschland (Kleine Schriften der Stiftung Reichspräsident Friedrich-Ebert-Gedenkstätte 24). Heidelberg 1996. Dies.: Die Rezeption Eberts im Wandel: Historiografische und persönliche Rückblicke. In: Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen 45 (2011), S. 153–162. Haffner, Sebastian: Der Verrat. Berlin 1993. Ders.: Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914–1933. 11. Aufl., Stuttgart / München 2001. Heither, Dietrich / Schulz, Adelheid: Die Morde von Mechterstädt 1920. Zur Geschichte rechtsradikaler Gewalt in Deutschland. Berlin 2015. Heuss, Theodor: Die großen Reden. Der Staatsmann. Tübingen 1965.

  52 Siehe dazu die Jahresberichte der Stiftung, zuletzt für 2015; Aktuelles findet sich unter: http://www.ebert-gedenkstaette.de/pb/,Lde/62477.html. 53 Grebing (2011): Rezeption, S. 160.

Friedrich Ebert in politischer Erinnerung und historischer Forschung

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MATTHIAS ERZBERGER – DER VERGESSENE MÄRTYRER Torsten Oppelland Der von den Herausgebern vorgeschlagene Titel dieses Essays enthält zwei Behauptungen, erstens, dass Erzberger ein Märtyrer gewesen sei, und zweitens, dass er heute weitgehend vergessen ist. Beides ist nicht völlig selbstverständlich. Der Begriff des Märtyrers, der ursprünglich aus dem religiösen Kontext stammt und Menschen bezeichnet, die aufgrund ihres Glaubensbekenntnisses einen gewaltsamen Tod erlitten, existiert auch in einer säkularisierten Form. Er beschreibt dann Menschen, die für bestimmte Ideen oder politische Überzeugungen gestorben sind. Ein klassisches Beispiel sind Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, die 1919 von Freikorps-Einheiten weder um ihrer Person willen noch wegen der von ihnen ausgehenden Gefahr ermordet wurden, sondern weil sie Symbole für die verhasste November-Revolution und die noch weitergehende sozialistische Revolution waren. Standen Luxemburg und Liebknecht symbolisch für die politische Überzeugung, dass nicht nur das Kaiserreich, sondern auch die entstehende bürgerlich-demokratische Ordnung revolutionär überwunden werden mussten, so stand Erzberger, der im August 1921 ebenfalls von rechtsextremen ehemaligen Freikorps-Kämpfern ermordet wurde, im Gegenteil gerade für die neue Ordnung, die demokratische Republik. Dieser hatte er schon im Juli 1917, als eine von seiner Zentrumsfraktion über die Linksliberalen bis zur Sozialdemokratie reichende Mehrheit der Reichstagsabgeordneten für die Friedensresolution gestimmt hatte, den Weg gebahnt. Denn damit waren die Grundlagen für die in der Nationalversammlung wirksame Weimarer Koalition gelegt. Vor allem aber war Erzberger derjenige, der anstelle der militärischen Führung und im Auftrag der revolutionären Regierung im November 1918 den Waffenstillstandsvertrag unterzeichnet hatte und der 1919 nachdrücklich für die Unterzeichnung des Versailler Vertrages eingetreten war. Beides war mehr als genug in den Augen der radikalen Rechten, um ihn – darin Luxemburg und Liebknecht vergleichbar – zu einer der wichtigsten Symbolfiguren der revolutionären Umwälzung zu machen. Insofern kann man ihn sicher als Märtyrer bezeichnen, denn er starb 1921 für seine politischen Überzeugungen und die daraus folgenden Handlungen.1 Ein Märtyrerkult, wie er um Luxemburg und Liebknecht entstand, deren Grabmal seit ihrer Beisetzung bis heute jedes Jahr am zweiten Sonntag im Januar zum Ziel einer sozialistischen Gedenkkundgebung wird,2 hat sich um Erzberger freilich nie entwickelt. Vielleicht, weil Demokratien und demokratische Weltanschauungen solcher Rituale weniger bedürfen.   1 2

Vgl. mit ähnlicher Wertung Lutum-Lenger (2007): Märtyrer, S. 201. Oppelland (2012): Rituals of Commemoration, S. 432–434.

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Aber bedeutet das Fehlen eines solchen Märtyrerkults um Erzberger, dass er vergessen ist? Ganz vergessen – im buchstäblichen Sinne – ist er natürlich nicht (denn sonst würde dieser Text nicht geschrieben werden). Es gibt eine ganze Reihe von wissenschaftlichen, zum Teil eher kleinformatigen Biographien und biografischen Sammelbänden über Erzberger,3 sogar ein auch für den Schulunterricht geeignetes Porträt von einem Jugendbuchautor4 und natürlich zahlreiche wissenschaftliche Dissertationen über ihn.5 Im Jahr 2004 wurde Erzbergers Geburtshaus als eine Erinnerungsstätte eröffnet, die gemeinsam vom Haus der Geschichte Baden-Württembergs und der Stadt Münsingen unterhalten wird. Dort wird eine sehr aktive, besonders an die Schulen des Landes gerichtete politische Bildungs- und Erinnerungsarbeit betrieben, die zumindest in Erzbergers südwestdeutschen Heimat dafür sorgt, dass er nicht ganz vergessen wird.6 Auch in der staatsoffiziellen Erinnerungskultur taucht Erzberger gelegentlich auf. So wurde etwa anlässlich seines einhundertsten Geburtstages 1975 eine Briefmarke mit seinem Porträt aufgelegt. Zudem wurden insgesamt 105 Straßen, Plätze, Wege, Brücken nach ihm benannt, davon immerhin 14 in den neuen Bundesländern.7 Interessant ist der Vergleich zu Rosa Luxemburg: Nach ihr sind insgesamt 235 Straßen etc. benannt, davon in Westdeutschland ganze 17.8 Das Verhältnis ist also genau spiegelverkehrt; während es in der DDR auch in kleinsten Gemeinden eine nach der kommunistischen Märtyrerin benannte Straße gab, wurde in der „alten“ Bundesrepublik eher Erzberger – wenn auch bei weitem nicht in demselben Umfang – mit Benennungen in die offizielle Erinnerung aufgenommen. Historiker und politische Bildner sind gewissermaßen professionelle Erinnerungsarbeiter, durch deren Bemühen eine Persönlichkeit wie Erzberger – in der Begrifflichkeit von Jan Assmann – ins „kulturelle Gedächtnis“ überführt wird.9 Der Verfasser dieses Essays ist in Kiel unweit der Beselerallee aufgewachsen; dass die Straße nach dem Präsidenten der provisorischen schleswig-holsteinischen Regierung von 1848/49 benannt war, ist ihm erst während des Geschichtsstudiums klar geworden. Es ist gewiss nicht unwahrscheinlich, dass es den meisten Menschen, die in einer Erzbergerstraße oder in deren Nähe wohnen, genauso geht. Mit anderen Worten, Erzberger ist zwar ein Gegenstand des kulturellen Gedächtnisses, aber nicht (mehr) im lebendigen, kommunikativen Gedächtnis der Nation enthalten;10 er   3

Um nur die wichtigsten zu nennen: Epstein (1976): Dilemma; Eschenburg (1973): Der große Mann; Dowe (2011a): Leben für die Demokratie; Palmer / Schnabel (Hrsg.) (2007): Patriot und Visionär; Haus der Geschichte Baden-Württemberg (Hrsg.) (2013): Demokrat in Zeiten des Hasses; selbst in der DDR wurde er mit einer Biografie gewürdigt: Ruge (1976): Politische Biographie. 4 Krausnick / Randecker (2005): Konkursverwalter. 5 Zum Beispiel: Leitzbach (1998): Kritischer Beobachter; Siegel (2003): Ideen zur Friedensgestaltung; Emse (2007): Finanzverfassung. 6 Dowe (2011b): Buch zur Dauerausstellung; Dowe (2012): Orte der Erinnerung. 7 Eigene Zählung mit den Stichworten „Erzberger“ und „Matthias Erzberger“ in: http://www.strassen-in-deutschland.de/ (alle Webquellen dieses Beitrags vom 23.8.2016). 8 Eigene Zählung nach ebd. 9 Assmann (1988): Kollektives Gedächtnis, S. 12 ff. 10 Ebd., S. 10 f.

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ist kein „household name“ wie beispielsweise Willy Brandt, Konrad Adenauer oder eben, um zeitlich dichter bei Erzberger zu sein, Rosa Luxemburg, an die entweder in der direkten mündlichen Kommunikation der Generationen oder aber vielfach in populären Medien erinnert wird. In diesem Sinne stimmt die Behauptung des Titels, Erzberger sei vergessen, dann doch. Selbst am zentralen Erinnerungsort, der Erinnerungsstätte in seinem Geburtsort Buttenhausen, wird er als „Stiefkind der Erinnerungskultur“ beschrieben11 – der zweite Untertitel des Buches zur Ausstellung lautet bezeichnenderweise: „verhasst, ermordet, vergessen“.12 Die entscheidende Frage ist, woran das liegt. Die Antwort lautet, dass es anders als bei Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, deren den Parteimitgliedern und anhängern als Identifikationsanker dienender Märtyrerkult von der KPD aktiv betrieben wurde, bei Erzberger keine Deutungselite gab, in deren Interesse es lag oder die genug Sympathie für ihn hatte, um die Erinnerung wach zu halten.13 Im Folgenden werden einige Gruppen, die prädestiniert oder zumindest in der Lage gewesen wären, die Erinnerung an Erzberger zu pflegen, daraufhin untersucht, warum sie es nicht taten. 1. DIE ZENTRUMSPARTEI BEZIEHUNGSWEISE DEREN FÜHRUNG Die Zentrumspartei war eine schichtenübergreifende Volkspartei, deren Anhänger nur durch ihren katholischen Glauben und die damit verbundene Milieuzugehörigkeit zusammengehalten wurden. In der Partei gab es katholische Hochadlige ebenso wie katholische Industriearbeiter, katholisches Stadtbürgertum ebenso wie katholische Bauern – und deren politische und soziale Interessen deckten sich nur dort, wo es darum ging, die Katholiken und die katholische Kirche gegen jedwede Diskriminierung zu verteidigen.14 Wilfried Loth hat vier Hauptgruppierungen innerhalb der Partei ausgemacht: die eher konservativen Kräfte aus dem Adel und der kirchlichen Hierarchie, bürgerlich-mittelständische Kräfte, die in der 1890er Jahren die Führung im Zentrum übernahmen, populistische Kräfte aus dem alten Mittelstand von Handwerkern und Bauern, deren geografischer Schwerpunkt in Süd- und Südwestdeutschland lag, sowie schließlich die demokratisch gesinnte katholische Arbeiterbewegung.15   11 Lutum-Lenger (2007): Märtyrer, S. 201. 12 Dowe (2011b): Buch zur Dauerausstellung. 13 Zum Begriff der Deutungselite s. Rohe (1994): Politik, S. 168 ff. Zwar hatte es in der Weimarer Republik neben regional und konfessionell begrenztem Gedenken besonders beim Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold Ansätze gegeben, die Erinnerung an die Märtyrer der Republik Erzberger, Rathenau und Ebert wach zu halten, aber diese wurden nach der nationalsozialistischen Machtergreifung brutal abgebrochen; anders als bei Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht fand sich nach 1945 niemand, der – zumindest überregional – an diese Traditionsansätze des Gedenkens anknüpfte (Dowe (2011a): Erzberger, S. 8–13). 14 Die gegensätzlichen Interessen etwa in der Schutzzollpolitik beschreibt Nonn (1996): Verbraucherproteste. 15 Loth (1984): Katholiken, S. 382 ff.

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Die Führungsfiguren der bürgerlichen Zentrumsgruppe im Reichstag, die am ehesten die Möglichkeit gehabt hätten, Erzberger zu einem Märtyrer der Partei zu machen, hatten auffällig ähnliche Karriereverläufe. Peter Spahn, geboren 1846, studierte Rechtswissenschaft in Würzburg, Tübingen und Berlin und machte – als Katholik – eine eindrucksvolle Karriere im preußischen Justizdienst, die 1905 mit seiner Ernennung zum Präsidenten des Oberlandesgerichts in Kiel und 1910 in Frankfurt am Main gekrönt wurde. Erstmals 1882 wurde er in den Reichstag gewählt, dem er mit Unterbrechungen bis 1917 angehörte; von 1912 bis 1917 war er Vorsitzender der Zentrumsfraktion. Adolf Gröber, Zentrumsführer in Württemberg und Nachfolger Spahns als Fraktionsvorsitzender der Zentrumsfraktion im Reichstag, 1854 geboren, war ebenfalls Jurist und brachte es bis zum Landgerichtsdirektor in Heilbronn. Konstantin Fehrenbach (1852-1926) schließlich – die Liste der Beispiele ließe sich unschwer fortsetzen – war ebenfalls Jurist, allerdings kein Richter, sondern Anwalt in seiner Heimatstadt Freiburg i. Br. Er gehörte dem badischen Landtag und seit 1903 dem Reichstag an, war 1918 Reichstagspräsident, 1920 bis 1921 Reichskanzler und von 1923 bis zu seinem Tode 1926 Vorsitzender der Zentrumsfraktion im Reichstag.16 Wie anders war dagegen der biografische Hintergrund von Matthias Erzberger, der nicht nur mehr als zwanzig Jahre jünger als die bürgerlichen Zentrumsführer dieser Zeit war, sondern auch aus sehr einfachen Verhältnissen stammte und kein akademisches Studium, sondern lediglich die Ausbildung zum Volksschullehrer an der katholischen Akademie Saulgau genossen hatte.17 Dieser Homo Novus, der sich durch seine Organisationsarbeit im württembergischen Vereins- und Verbandskatholizismus als „Anwalt der kleinen Leute“18 und durch seine journalistische Tätigkeit bekannt gemacht und bei der Reichstagswahl 1903 das Mandat von Biberach, einem sicheren Zentrumswahlkreis, gewonnen hatte, stellte in mehrfacher Hinsicht eine Herausforderung für die bürgerlichen Zentrumsführer dar. So traf er – ganz anders als sie, die ihre bürgerlich-berufliche Karriere ohne Unterbrechung fortsetzten – unmittelbar nach seiner Wahl in den Reichstag die Entscheidung, seinen Lebensmittelpunkt nach Berlin zu verlagern und Berufspolitiker zu werden.19 Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich mit Herausgabe einer Pressekorrespondenz, d.h. einer Art Nachrichtenagentur, für das katholische Pressewesen. Auf diese Weise erwarb er sehr schnell einen großen Einfluss darauf, wie die Ereignisse im Berliner Reichstag in der katholischen Provinz wahrgenommen wurden; in gewisser Weise entsprach er bereits nicht nur dem modernen Typus des Berufspolitikers, sondern auch dem des Medienpolitikers, der der Sicht auf die Dinge einen spezifischen „Spin“ zu geben versteht.20 In der Fraktion machte er sich in kürzester Zeit mit seinem Bienenfleiß unentbehrlich, den er nutzte, um sich in die sperrige Materie   16 Kurzbiografien finden sich auf der von der Konrad-Adenauer-Stiftung betriebenen Webseite „Geschichte der CDU“, http://www.kas.de/wf/de/194.5/. 17 Vgl. Epstein (1976): Dilemma, S. 18 ff. 18 Dowe (2007): Anwalt. 19 Biefang (2013): Berufsparlamentarier. 20 Bösch (2013): Ankläger, S. 61 f.

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der Haushaltsgesetzgebung einzuarbeiten.21 Das alles reichte schon, um ihm bei den älteren, etablierten Zentrumspolitikern wenig Wohlwollen zu verschaffen: „Den Parteiführern missfielen junge Politiker, die ihre Positionen bedrohten, und Erzberger missfiel ihnen besonders, weil seine Persönlichkeit nicht dem üblichen parlamentarischen Typ entsprachen. Sie sahen mit kritischen Augen auf seinen Mangel an akademischer Bildung, an Berufserfahrung und an geschliffenen Umgangsformen.“22 Schlimmer noch als dies war die Tatsache, dass er sich immer wieder als politisch überlegen erwies und wenig Respekt vor dem Urteil der Älteren an den Tag legte, diese vielmehr durch sein eigenwilliges Vorgehen vor sich her trieb. Die Kolonialfrage 1905/06 und die Juli-Krise 1917 sind nur die auffälligsten Beispiele dafür.23 Die Zentrumsführer hatten keinerlei Möglichkeit, Erzberger zu disziplinieren, da er in seinem Wahlkreis über einen sicheren Rückhalt verfügte und gerade die Kolonialkritik dort ausgesprochen populär war. Und diese Leute, die durch Erzberger ein ums andere Mal düpiert worden waren, sollten nach seiner Ermordung dafür Sorge tragen, dass die Erinnerung an den „Märtyrer für die Sache der deutschen Republik“24 bzw. der Zentrumspartei wachgehalten würde? 2. DER SÜDDEUTSCH-DEMOKRATISCHE ZENTRUMSFLÜGEL Matthias Erzberger ist in Buttenhausen, einem ländlichen Ort auf der Schwäbischen Alb, der zur Hälfte von Protestanten und zur anderen Hälfte von Juden bewohnt wurde, als Sohn eines katholischen Schneidermeisters mit sechs Kindern aufgewachsen. Insofern entstammte er dem abstiegsbedrohten alten Mittelstand in einer ausgesprochenen katholischen Diasporagemeinde. Daher war schon von seiner sozialen und konfessionellen Herkunft her politisches Engagement, das bei ihm offenbar frühzeitig erkennbar war, kaum in anderen Bahnen als im demokratischen Flügel der Zentrumspartei möglich.25 Dieser Parteiflügel hatte seinen Rückhalt zum einen in der vorwiegend aus der katholischen Landbevölkerung und dem alten Mittelstand gespeisten populistischen Bewegung, deren hoch emotionaler, politischer Protest sich nach Wilfried Loth in den 1890er Jahren gegen alle möglichen Elemente des modernen Industriekapitalismus richtete: „…gegen das ‚freie Spiel der Kräfte‘ des Liberalismus, das sie unter Druck setzte; gegen moderne Wissenschaft und Technik, die ihre Kenntnisse entwerteten; gegen Industrieherren, Börsenjobber und Bankiers, die von der Entwicklung profitierten, unter der sie zu leiden hatten;

  21 Den Sitz in der Budgetkommission des Reichtags verdankte er Gröber, der ihn anfangs durchaus gefördert hatte; Epstein (1976): Dilemma, S. 56. 22 Ebd., S. 55 f. 23 Zu Erzbergers Kolonialkritik, die mit den etablierten Zentrumsführern nicht abgesprochen war, s. zuletzt Bösch (2013), Ankläger und zu seiner Rolle in der Juli-Krise s. Oppelland (1995a): Reichstag, S. 235 ff., bes. 253 f. 24 So die Würdigung Erzbergers nach dessen Ermordung durch den Zentrumspolitiker und damaligen Reichskanzler Joseph Wirth, zitiert nach Lutum-Lenger (2007): Märtyrer, S. 201. 25 Epstein (1976): Dilemma, S. 17 ff.

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Torsten Oppelland gegen die Juden, die unter den Nutznießern des kapitalistischen Systems eine prominente Rolle spielten; gegen Bürokratie und Aristokratie, die statt das ‚Volk‘ gegen die Kräfte des modernen Industriekapitalismus zu beschützen, sich offensichtlich mit ihnen verbündet hatten; gegen die Honoratioren in den Verbänden, Parteien und Parlamenten, die sich als unfähig erwiesen hatten, sie vor dem wirtschaftlichen und sozialen Abstieg zu schützen.“26

Diese Grundemotionen hätten sich politisch allerdings „eher in sozialstaatlicher und partizipatorischer als in illiberaler und autoritärer Richtung“ konkretisiert.27 In exakt diesem vorwiegend in Süd- und Südwestdeutschland verbreitetem Milieu spielte sich Erzbergers politischer Aufstieg als „Anwalt der kleinen Leute“28 ab und auf der Klaviatur solcher Grundemotionen hat er in dieser Phase zu spielen gelernt. Hier rief beispielsweise seine anti-elitäre und antibürokratische Kolonialkritik im Reichstag große Begeisterung hervor. Hier sowie zum anderen in der ebenfalls sozialstaatlich und partizipatorisch ausgerichteten katholischen Arbeiterbewegung hatte er den Rückhalt für seine Politik. Insofern wäre anzunehmen, dass in diesen Kreisen auch am ehesten die Bereitschaft zu erwarten gewesen wäre, die Erinnerung an Erzberger nach dessen Ermordung wach zu halten und eine Art Märtyrerkult zu betreiben.29 Es lassen sich jedoch einige Gründe ausmachen, warum das nicht der Fall war. Zum einen hatte sich Erzberger natürlich in seiner Berliner Reichstagszeit, in der er schließlich in die Führung der Zentrumsfraktion und nach dem Krieg in die Reichsregierung aufstieg, auch wenn dieser Aufstieg von den Honoratioren stets mit Skepsis betrachtet und er nicht als einer der Ihren gesehen wurde, von seinen sozialen Wurzeln ein Stück weit entfernt. Darüber hinaus – und das war sicher der wichtigere Grund – hatten sich Erzberger und der katholische Populismus sowie zumindest zum Teil auch die katholische Arbeiterbewegung während des Ersten Weltkrieges in verschiedene Richtungen entwickelt. Eine der besonderen Eigenschaften Erzbergers war seine zugleich äußerst selbstbewusste und unvoreingenommene Bereitschaft, „so emotionslos wie möglich die Lage zu analysieren und zu reagieren. So naheliegend uns heute ein solcher Realitätssinn und eine solche Lernfähigkeit erscheinen, so strittig war eine solche Haltung zu Erzbergers Zeiten.“30 Während des Ersten Weltkriegs führte ihn dieser Realitätssinn dazu, sich von einem Annexionisten reinsten Wassers hin zu einem leidenschaftlichen Befürworter eines Verhandlungsfriedens zu entwickeln.31 Der autoritäre und illiberale Grundzug im katholischen Populismus, den Loth für die 1890er Jahre noch hinter dem Eintreten für Sozialstaatlichkeit und Partizipation hatte zurückstehen sehen, gewann während   26 27 28 29

Loth (1984): Katholiken, S. 46. Ebd. Dowe (2007): Anwalt. Zumindest auf regionaler Ebene war das durchaus der Fall, vgl. Lutum-Lenger (2007): Märtyrer, S. 202. 30 Dowe (2013): Antisemitismus, S. 96 f. 31 Oppelland (1995b): Anfänge, S. 35ff. Was den Antisemitismus betrifft, den Erzberger als Grundemotion seiner Wählerklientel zuweilen bedient hatte, auch wenn er sich stets gegen religiöse Diskriminierung von Juden gewandt hatte, konstatiert Dowe (2013): S. 97, eine ähnliche Entwicklung.

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des Ersten Weltkriegs an Bedeutung. Insofern kann man davon ausgehen, dass die radikalnationalistische Hetze gegen Erzberger aus dem Umkreis der Vaterlandspartei, die seit der Friedensresolution von 1917 immer schärfer wurde und Erzbergers Wende in der Kriegspolitik als Opportunismus und Verrat brandmarkte, auch in Erzbergers Herkunftsmilieus nicht ohne Wirkung geblieben ist.32 Insbesondere der süddeutsch-katholische Populismus, der sich in eine heftig anti-sozialistische Richtung entwickelt hatte, nahm ihm zudem die enge Kooperation mit der Mehrheitssozialdemokratie übel.33 Ein besonderer Aspekt der Hetze gegen Erzberger war das ausgestreute Gerücht, er sei in Wahrheit unehelich geboren und sein Vater sei ein Jude gewesen.34 Die Deutschnationale Volkspartei griff Erzberger im Wahlkampf zur Nationalversammlung 1919 „mit einem antisemitischen Plakat an. Überall in Deutschland aufgehängt zeigte es unter der Parole ‚Umsturz ihr Stern! Bleiben sie Herr’n?‘ zwölf gezeichnete Köpfe von vorwiegend linken Politikern. Ihre Gesichter waren unter Rückgriff auf antisemitische Stereotype gezeichnet und sollten die Dargestellten als Juden in Misskredit bringen. Erzberger war hier eingereiht. Einzig die klein hinzugefügte Bemerkung ‚Christ!‘ unterschied seine Präsentation von der der anderen Politiker, deren Jüdischsein für die Plakatmacher feststand.“35

Erzberger wurde so buchstäblich mit Politikern wie Kurt Eisner und Eugen LevineNissen in eine Reihe gestellt, die während der November-Revolution in München eine prominente Rolle gespielt hatten. Damit wurde auf ziemlich plumpe und drastische Weise suggeriert, dass Erzberger nicht nur möglicherweise jüdischer Herkunft, sondern zudem wie zahlreiche „marxistische“ Juden ein Revolutionär gewesen sei. Derartiges wird – aliqid semper haeret – gerade im süddeutsch-katholischen Populismus, der nie ganz frei von antisemitischen Tendenzen gewesen war, in dieser Zeit des anti-revolutionären Rollbacks nicht ohne Wirkung geblieben sein. Erzberger ist freilich nicht während der Revolutionszeit, sondern im August 1921 ermordet worden. In dieser Zeit seines Schaffens trat er vor allem durch die Reichsfinanzreform hervor, die zwar aus heutiger Sicht ein unbestreitbar wichtiger, wenn auch nicht hinreichender Beitrag zur Lösung der aus dem Weltkrieg resultierenden Finanzprobleme des Deutschen Reiches gewesen war. Insbesondere die Zentralisierung der Finanzhoheit beim Reich war bei süddeutschen Föderalisten in höchstem Maße unbeliebt, aber natürlich waren auch „Erzbergers Steuern“ – auch wenn sie sich in erster Linie auf Kriegsgewinne bezogen – nicht besonders populär.36 Das alles zusammen genommen erklärt durchaus, warum Erzbergers Ermordung nicht dazu führte, dass er außerhalb Württembergs als Märtyrer der Zentrumspartei wahrgenommen wurde.   32 Darauf deutet auch die Tatsache hin, dass es 1925 noch keine Mehrheit im Stadtrat von Biberach dafür gab, eine Straße nach ihm zu benennen; vgl. Lutum-Lenger (2007): Märtyrer, S. 202. 33 Loth (1984): Katholiken, S. 379. 34 Epstein (1976): Dilemma, S. 18. 35 Dowe (2013): Antisemetismus, S. 97. 36 Epstein (1976): Dilemma, S. 377 f., 383 f.

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3. DIE KATHOLISCHE KIRCHE UND DIE KIRCHLICHE HIERARCHIE Matthias Erzberger war ein glaubensfester Christ, der zeit seines Lebens niemals Zweifel hatte oder eine Glaubenskrise durchlebte, und ein treuer Sohn seiner römisch-katholischen Kirche.37 Insofern wäre es naheliegend, dass die Kirche bzw. deren Führung eine Deutungselite hätte sein können, die ein Interessen daran hätte haben können, die Erinnerung an Erzberger wachzuhalten und die auch die Mittel dazu gehabt hätte. Dennoch ist nichts dergleichen zu erkennen, so dass sich erneut die Frage stellt, warum das so ist. Die Beantwortung der Frage ist jedoch dadurch erschwert, dass es nur sehr wenig Forschung zu dem Thema von Erzbergers Verhältnis zu Klerus, Kirche und kirchlicher Hierarchie gibt, auf die man zurückgreifen könnte. Deshalb sind die folgenden Thesen eher Vermutungen als gesicherte Erkenntnisse. Erzberger kam, wie bereits mehrfach erwähnt, ursprünglich aus dem linken Zentrumsflügel, zu dem ein gewisses Spannungsverhältnis der mehrheitlich konservativen Hierarchie bestand. In den internen Auseinandersetzungen der Vorkriegszeit über die Frage, wie katholisch die Zentrumspartei sein müsse und wie weit die Kooperation mit evangelischen Christen gehen dürfe, hat er eine vermittelnde Position eingenommen, die lediglich bei den „Fundamentalisten“ des katholischen Integralismus auf Ablehnung gestoßen sein dürfte.38 Eine Besonderheit des politischen Wirkens von Erzberger ist der enge Kontakt, den er insbesondere während des Ersten Weltkriegs zum Vatikan bzw. zur Nuntiatur in Deutschland (bzw. genau genommen in München) gehalten hatte.39 Er war einer der wichtigsten Informanten der Nuntiatur über die innenpolitischen Vorgänge in Deutschland und innerhalb der Zentrumspartei, eine Position, die Erzberger zuweilen nutzte, um die Position des Vatikans in seinem Sinne zu beeinflussen. Diese besondere Zusammenarbeit hatte sich während Erzbergers letztlich gescheiterter Italien-Missionen intensiviert und im Vorfeld der ebenfalls erfolglosen päpstlichen Friedensvermittlung des Jahres 1917 einen Höhepunkt erreicht. Im Hinblick auf unsere Fragestellung erweist sich dieser enge Kontakt Erzbergers zur Nuntiatur und zum Vatikan aber letztlich doch als wenig bedeutsam, denn spätestens 1920, mit dem Erscheinen seiner autobiografischen „Erlebnisse im Weltkrieg“, in denen aus Sicht des Vatikans allzu viele Details über die päpstliche Vermittlungsinitiative enthüllt wurden, wurde Erzberger „zu einer politischen Belastung“ für den Vatikan im Allgemeinen und für Nuntius Pacelli im Besonderen.40 Insofern ist durchaus erklärbar, dass weder von vatikanischer Seite noch von der deutschen Hierarchie besondere Anstrengungen unternommen wurden, um Erzbergers zu gedenken und seine Märtyrerrolle zu betonen.   37 Ebd., S. 20. 38 Ebd., S. 85 f. sowie zur allgemeinen Situation im politischen Katholizismus Loth (1984): Katholiken, S. 235–270. 39 Siehe hierzu und zum Folgenden Wolf (2013): Nuntius Pacelli, passim. 40 Wolf (2013): Nuntius Pacelli, S. 154.

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4. (LINKE) REPUBLIKANISCHE INTELLEKTUELLE Intellektuelle sind gewissermaßen professionelle Deutungseliten. Dennoch gab es in diesen Kreisen in den ersten Jahren der Weimarer Republik wenig Sympathie für Erzberger, was hier nur an zwei Beispielen verdeutlicht werden kann. Vom 25. Juli 1919 überliefert der Diplomat Harry Graf Kessler folgende Szene aus der Weimarer Nationalversammlung: „Der Deutschnationale Graefe, eine schlanke, feine, etwas spanisch-nervöse Erscheinung mit einem vornehmen und blassen Gesicht und schon leicht ergrauendem Spitzbart, griff Erzberger und die Revolution an, indem er sie für die Katastrophe verantwortlich machte; […] Graefes Rede war rhetorisch äußerst wirksam, das blasse, feine, ernste Gesicht, die schöne, gepflegte Stimme, der schwere Vorwurf, dass durch Erzbergers Indiskretion der Frieden im Jahre 1917 verhindert worden sei, dann ein Zitat aus einer Rede von Bismarck, durch das angedeutet wurde, Erzberger sei vielleicht bestochen gewesen von Österreich oder Frankreich. Erzberger, der am Ministertisch bis dahin vollmondartig gelacht hatte, wurde ganz blass und rot und schrie: »Unverschämtheit, was meinen Sie damit?« Graefe ließ sich aber nicht aus dem Konzept bringen, sondern wiederholte das Zitat. Man fühlte von diesem Augenblick an, dass es ein Ringen auf Tod und Leben war, dass zwei riesenhafte, weit über die Mauern des Theatersaales hinausreichende Gewalten einander an der Kehle hatten. Als Graefe sich setzte, hatte man das Gefühl, dass die Situation rhetorisch nicht mehr gesteigert werden könne. Erzberger mit seiner Spießergestalt, seinem klobigen Dialekt, seinen grammatischen Sprachfehlern fiel zunächst ganz ab, obwohl er sehr geschickt und dramatisch anfing mit: »Ist das alles?« Ich stand unmittelbar hinter ihm an der Rednertribüne, sah seine schlecht gemachten, platten Stiefel, seine drolligen Hosen, die über Korkzieherfalten in einem Vollmondhintern münden, seine breiten, untersetzten Bauernschultern, den ganzen fetten, schwitzenden, unsympathischen kleinstbürgerlichen Kerl in nächster Nähe vor mir: jede ungelenke Bewegung des klobigen Körpers, jeden Farbenwechsel in den dicken, prallen Wangen, jeden Schweißtropfen auf der fettigen Stirn. Aber allmählich wuchs aus dieser drolligen, schlecht sprechenden, ungeschickten Gestalt die furchtbarste Anklage empor, die schlecht gemachten, schlecht gesprochenen Sätze brachten Tatsache auf Tatsache, schlossen sich zu Reihen und Bataillonen zusammen, fielen wie Kolbenschläge auf die Rechte, die ganz blass und in sich zusammengeduckt und immer kleiner und isolierter in ihrer Ecke saß. [...] Dann ging es wie ein Gemurmel und dann wie ein Meerestosen durch das Haus. Die ganze Linke, drei Viertel des Hauses, war auf den Beinen und gegen die kleine, vor Wut bebende und blasse Rechte gewendet. Man schrie: »Mörder, Mörder!« Es sah aus, als ob sich der ganze Block der Linken zusammengeballt auf die Rechte stürzen und sie auf ihren Sitzen erwürgen würde. Blut lag in der Luft. Einzelne riefen: »Staatsgerichtshof«; Erzberger antwortete: »Wird schon kommen!« Als er geendet hatte und schwitzend sich an mir vorbeidrängte, sprang die Rechte auf, Hugenberg, Semler, Roesicke, Graefe! Ein jeder meldete sich zu persönlichen Bemerkungen; […]

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Torsten Oppelland Das ungeheure Pathos der Situation – ein Volk, das zum ersten Male die Wahrheit sieht – wuchs gigantisch über die Äußerungen der Erregung empor und schien sogar deren Wirkung zu dämpfen. Etwas weniger, und ich glaube, es wäre wirklich Blut geflossen. Gesamteindruck aber doch, dass Erzberger und seine Gegner einander ungefähr wert sind.“41

Die Aufzeichnung, die vor allem im Hinblick auf Kesslers Eindrücke von der Debatte aufschlussreich ist, bleibt insgesamt ambivalent. Auf der einen Seite steht die Herablassung, mit der der (schwerreiche) Snob und Dandy, Graf Kessler, den kleinbürgerlichen Politiker beschreibt, dessen schlecht sitzende Kleidung und sein Schwitzen, seinen Dialekt und die mangelnde Rhetorik,42 während sein Widerpart Graefe, unzweifelhaft einer der übelsten Kriegszielpropagandisten und nur wenige Jahre später Teilnehmer am Hitler-Ludendorff-Putsch, als feine, vornehme Erscheinung beschrieben wird. Ganz abgesehen davon, dass Kessler einfach neidisch auf Erzberger war, dessen Völkerbundsschrift von 1918 der von Kessler zuvorgekommen war43 und der die politisch bedeutende Rolle spielte, die Kessler für sich selbst erwartet hatte, kommt hier ein ästhetisch geprägtes Politikverständnis zum Ausdruck: Die Bedeutung der Politik müsse sich in der äußeren Form widerspiegeln. Ein derartiges Politikbedürfnis konnte natürlich jemand mit dem sozialen Hintergrund Erzbergers ebenso wenig befriedigen wie etwa Friedrich Ebert als Reichspräsident. Auf der anderen Seite zeigt das Zitat aus Kesslers Tagebüchern, dass dieser geradezu unfreiwillig beeindruckt von Erzbergers Rede und deren Wirkung war – um dann am Ende doch wieder Erzberger auf dasselbe Niveau wie seine Gegner von der Rechten zu bringen. Unabhängig von Kessler zeigt diese Aufzeichnung, wie sehr Erzberger diesen DNVP-Politikern verhasst gewesen sein muss, zugleich aber auch, wie sehr seine Ermordung die Bekämpfung der Dolchstoß-Legende erschwert hat. Jemand, der ein solches Bild wie Kessler von Erzberger hatte, wird sich kaum berufen gefühlt haben, die kollektive Erinnerung an den Politiker nach dessen Ermordung wachzuhalten. Ein anderer linker Intellektueller, Kurt Tucholsky, schien in einer Weise auf Erzbergers Ermordung zu reagieren, die schon eher in Richtung „Märtyrerkult“ ging: „Gehaßt, weil du Zivilcourage den Herren vom Monokel zeigst – weil du schon Siebzehn die Blamage der Ludendörffer nicht verschweigst ... Das kann der Deutsche nicht vertragen: dass einer ihm die Wahrheit sagt, dass einer ohne Leutnantskragen den Landsknechtgeist von dannen jagt“44

  41 Harry Graf Kessler, Tagebucheintrag vom 25. Juli 1919, http://gutenberg.spiegel.de/buch/4378/2. 42 Von ausländischen Beobachtern ist Erzberger übrigens schon vor dem Weltkrieg als einer der besten Redner des Reichstages bezeichnet worden, Bösch (2013): Ankläger, S. 47. 43 Zu Erzbergers Völkerbundsplänen vgl. Oppelland (2005): Außenpolitiker, S. 196 ff. 44 „Nachruf“, Theobald Tiger (= Kurt Tucholsky), Die Weltbühne, 08.09.1921, Nr. 36, S. 245.

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Doch derselbe Tucholsky hatte zwei Jahre vorher, fast zur selben Zeit wie Kesslers Tagebucheintrag, noch ganz anders über Erzberger geschrieben: „Was bist du alles schon gewesen! Ein wilder Weltannexionist (man kann es leider heut noch lesen), dann, als es schief ging, Pazifist Man sah dich stets mit wem paktieren, du machtest dich dem Reich bezahlt Wir wußten: Uns kann nichts passieren – Matthias strahlt. Du sanft Gestirn stehst nun am Himmel und – leider Gottes! – im Zenit. Gewiß, du bist in dem Gewimmel der schlimmste nicht, den man da sieht. Die Sterne in der hohen Halle, die übler Kriegsgewinst geeint, du überstrahlst sie alle, alle – – Matthias grinst. Und Deutschland weint“45

In Tucholskys Gedicht wird Erzbergers Entwicklung vom Kriegsziel- zum Verständigungspolitiker nicht als eindrucksvoller Lernprozess gesehen, den dessen konservative und nationalistische Gegner aus schierem Wunschdenken und ideologischer Verblendung verweigerten, sondern als bloßer Opportunismus. Dabei ignoriert Tucholsky, dass Erzberger schon zu einem Zeitpunkt für einen Verständigungsfrieden eintrat, als das für ihn persönlich überhaupt keinen Nutzen brachte.46 Zudem wird Erzberger nicht als ein Politiker dargestellt, der ohne zu zögern die schwere Hinterlassenschaft von Hindenburg und Ludendorff übernahm, sondern als ein Kriegsgewinnler. Auch hier wiederum eine eher verächtliche Sicht auf Erzberger, die zwar durch das spätere Nachruf-Gedicht etwas relativiert wird, aber auch nicht gerade dafür spricht, dass von dieser Seite größere Bemühungen um Erzbergers Nachruhm zu erwarten gewesen wären.  

  45 „Erzberger – Du guter Mond aus Buttenhausen“, Theobald Tiger (= Kurt Tucholsky), Ulk, 04.07.1919, Nr. 27. 46 Vgl. zum Einflussverlust von Erzberger während der Kanzlerschaft von Graf Hertling Oppelland (1995b): Anfänge, S. 38.

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5. FAZIT Es gab noch weitere Gruppen, die sich um das Andenken an Erzberger hätten bemühen können, die Sozialdemokratie beispielsweise, die vor allem ihm die Einbeziehung in die parlamentarische Mehrheitsbildung im Juli 1917 zu verdanken hatte. Auch in der sozialdemokratisch geführten Reichsregierung seit der November-Revolution arbeitete der Zentrumspolitiker loyal mit seinen SPD-Kollegen zusammen. So sehr seine Ermordung gewiss auch in der SPD bedauert wurde, so sprach doch aus sozialdemokratischer Sicht auch einiges dagegen, sich besonders für das Andenken an Erzberger einzusetzen. Er gehörte in der noch immer stark zerklüfteten deutschen Gesellschaft einem anderen Milieu an, war nicht „einer von uns“ – und man hatte durchaus genügend eigene Märtyrer. Außerdem ist unbestreitbar, dass Erzberger in seinen frühen Jahren ein antisozialistischer Propagandist gewesen war, der zuweilen sogar antisemitische Töne gebrauchte, um die SPD zu diskreditieren.47 Er hatte für einige Jahre am Anfang des Ersten Weltkrieges die Interessen der Firma Thyssen vertreten, und ihm war in der gegen ihn gerichteten Rufmordkampagne immer wieder vorgeworfen worden, seine politische Position missbraucht zu haben, um Thyssen zu nutzen, mit anderen Worten korrupt zu sein.48 Auch wenn diese Anschuldigungen nie bewiesen wurden, sondern beim Erzberger-Helfferich-Prozess weitgehend entkräftet wurden, so zeigt doch seine Tätigkeit für die Firma Thyssen, dass er in einer anderen Welt und einer anderen Klasse als die Sozialdemokraten lebte. Warum also sollten diese irgendwelche Anstrengungen unternehmen, um sein Andenken wach zu halten, wenn seine eigene Partei, das Zentrum, das nicht tat? Bleibt die Frage, ob eine Person wie Erzberger als eine Identifikationsfigur für das 21. Jahrhundert geeignet wäre.49 Tatsächlich können wir heute, da Leute mit ähnlicher Herkunft Bundeskanzler werden können, seine Leistungen und Verdienste unvoreingenommener als seine Zeitgenossen einschätzen, denn die sozialen oder – wie im Falle Kesslers – ästhetischen Vorbehalte spielen heute keine Rolle mehr.50 Auf der anderen Seite stelle man sich einmal vor, dass es in irgendeiner offiziellen Form größere Bemühungen gäbe, Erzberger zu einer Identifikationsfigur als „Wegbereiter“ und „Märtyrer“ der deutschen Demokratie zu machen. Wie lange würde es dauern, bis sich in den Feuilletons der Republik eine Debatte über seinen frühen Antisozialismus, seine Forderung nach expansiven Kriegszielen, seine lobbyistischen Verbindungen zum Hause Thyssen oder anderes entspinnen würde? Erzberger war eine schwierige, ambivalente Figur, hochgradig umstritten zu ihrer Zeit und ohne Zweifel ein faszinierender Gegenstand für Historiker und auch für   47 Beispiele bei Dowe (2013): Antisemitismus, S. 79. 48 Dazu ausführlich Epstein (1976): Dilemma, Anhang V, S. 465–473. 49 Sammelbände wie der von Palmer / Schnabel (2007) herausgegebene erwecken den Eindruck, dass es die Absicht gibt, ihn dazu zu machen. 50 Vgl. die Aufzählung der noch heute wirksamen Anstöße, die von Erzberger ausgingen bzw. von ihm unterstützt wurden bei Pflug (2007): Erinnerungskultur, S. 213.

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die politische Bildung, aber eine Identifikationsfigur für die heutige deutsche Demokratie – falls es so etwas überhaupt noch geben kann – vielleicht doch nicht. LITERATUR Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Ders. / Hölscher, Tonio (Hrsg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt a.M. 1988, S. 9–19. Biefang, Andreas: Matthias Erzberger als Berufsparlamentarier. Zur Entstehung der Lebensform »MdR« und ihrer Kritik. In: Haus der Geschichte Baden-Württemberg (Hrsg.): Matthias Erzberger. Ein Demokrat in Zeiten des Hasses. Karlsruhe 2013, S. 19–46. Bösch, Frank: Der Ankläger. Erzberger und die Kolonialpolitik im frühen 20. Jahrhundert. In: Haus der Geschichte Baden-Württemberg (Hrsg.): Matthias Erzberger. Ein Demokrat in Zeiten des Hasses. Karlsruhe 2013, S. 47–71. Dowe, Christopher: Matthias Erzberger als Anwalt der kleinen Leute. In: Palmer, Christopher / Schnabel, Thomas (Hrsg.): Matthias Erzberger 1875–1921: Patriot und Visionär. Stuttgart / Leipzig 2007, S. 53–67. Ders.: Matthias Erzberger. Ein Leben für die Demokratie. Stuttgart 2011a. Ders.: Matthias Erzberger. Ein Wegbereiter der deutschen Demokratie. Verhasst, ermordet, vergessen. Buch zur Dauerausstellung der Erinnerungsstätte Matthias Erzberger in Münsingen-Buttenhausen. Stuttgart 2011b. Ders.: Bad Griesbach, Biberach, Buttenhausen. Orte der Erinnerung an Matthias Erzberger, einen Wegbereiter der deutschen Demokratie. In: Weber, Reinhold / Steinbach, Peter / Wehling, Hans-Georg (Hrsg.): Baden-Württembergische Erinnerungsorte. Stuttgart 2012, S. 418–427. Ders.: Matthias Erzberger und sein Verhältnis zu Juden und Antisemitismus. In: Haus der Geschichte Baden-Württemberg (Hrsg.): Matthias Erzberger. Ein Demokrat in Zeiten des Hasses. Karlsruhe 2013, S. 72–102. Emde, Kristin: Die Finanzverfassung der Weimarer Republik. Die Erzbergersche Reichsfinanzreform. Diss. Phil. Jena 2007. Epstein, Klaus: Matthias Erzberger und das Dilemma der deutschen Demokratie. Frankfurt a.M. / Berlin / Wien 1976 (am. Originalausgabe: Princeton 1959). Eschenburg, Theodor: Matthias Erzberger. Der große Mann des Parlamentarismus und der Finanzreform. München 1973. Haus der Geschichte Baden-Württemberg (Hrsg.): Matthias Erzberger. Ein Demokrat in Zeiten des Hasses. Karlsruhe 2013. Krausnick, Michail / Randecker, Günter: Matthias Erzberger: Konkursverwalter des Kaiserreichs und Wegbereiter der Demokratie. Norderstedt / Neckargmünd 2005. Leitzbach, Christian: Matthias Erzberger. Ein kritischer Beobachter des Wilhelminischen Reiches 1895–1914. Frankfurt a.M. 1998. Loth, Wilfried: Katholiken im Kaiserreich. Der politische Katholizismus in der Krise des wilhelminischen Deutschlands (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 75). Düsseldorf 1984. Lutum-Lenger, Paula: Matthias Erzberger »ein Märtyrer für die Sache der deutschen Republik« – Die Erinnerungsstätte in Münsingen-Buttenhausen. In: Palmer, Christopher / Schnabel, Thomas (Hrsg.): Matthias Erzberger 1875–1921: Patriot und Visionär. Stuttgart / Leipzig 2007, S. 201–210. Nonn, Christoph: Verbraucherprotest und Parteiensystem im wilhelminischen Deutschland, (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 107). Düsseldorf 1996.

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Oppelland, Torsten: Reichstag und Außenpolitik im Ersten Weltkrieg. Die deutschen Parteien und die Politik der USA 1914–1918 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 103). Düsseldorf 1995a. Ders.: Matthias Erzberger und die Anfänge demokratischer Außenpolitik. In: Historisch-Politische Mitteilungen. Archiv für Christlich-Demokratische Politik 2 (1995b), S. 25–47. Ders.: Matthias Erzberger als Außenpolitiker im späten Kaiserreich. In: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 24 (2005), S. 185–200. Ders.: Rituals of Commemoration – Identity and Conflict: The Case of DIE LINKE in Germany. In: German Politics 21 (2012), S. 429–443. Palmer, Christopher / Schnabel, Thomas (Hrsg.): Matthias Erzberger 1875–1921: Patriot und Visionär. Stuttgart / Leipzig 2007. Pflug, Konrad: Gedenk- und Erinnerungsstätten in der Demokratie. In: Palmer, Christopher / Schnabel, Thomas (Hrsg.): Matthias Erzberger 1875–1921: Patriot und Visionär. Stuttgart / Leipzig 2007, S. 211–224. Rohe, Karl: Politik. Begriffe und Wirklichkeiten. Eine Einführung in das politische Denken. Stuttgart / Berlin / Köln 1994. Ruge, Wolfgang: Matthias Erzberger. Eine politische Biographie. Berlin (Ost) 1976. Siegel, Alfons: Ideen zur Friedensgestaltung am Ende des Ersten Weltkrieges und des Ost-WestKonfliktes. Entwicklungen und Konzepte von Matthias Erzberger und Dieter Senghaas. Münster 2003. Wolf, Hubert: Matthias Erzberger, Nuntius Pacelli und der Vatikan. Oder: Warum der Vatikan nicht nach Liechtenstein verlegt wurde. In: Haus der Geschichte Baden-Württemberg (Hrsg.): Matthias Erzberger. Ein Demokrat in Zeiten des Hasses. Karlsruhe 2013, S. 134–157.

WALTHER RATHENAU – EIN REPRÄSENTANT DER REPUBLIK? Martin Sabrow Rathenau ein Republikaner?1 Bei kaum einem anderen Weimarer Politiker scheint die überzeugte Bejahung dieser Frage so selbstverständlich zu sein wie bei dem Industriellen und Intellektuellen Walther Rathenau, der in zahlreichen Schriften scharfe Kritik an der Rückständigkeit und Illiberalität des Kaiserreichs geübt hatte und sich Anfang 1919, ohne zu zögern, der neu konstituierten Nationalversammlung für politische Aufgaben zur Verfügung stellte. Als er gut drei Jahre später am 24. Juni 1922 seinen vorgefahrenen offenen Kraftwagen bestieg, der ihn von seinem Wohnhaus in Berlin-Grunewald in das Auswärtige Amt in Berlin-Mitte bringen sollte, konnte er auf eine steile politische Karriere in der Weimarer Republik zurückblicken. Die nach dem gescheiterten Kapp-Lüttwitz-Putsch auf Unterstützung angewiesene Demokratie hatte ihn, der in seinem vielgelesenen Hauptwerk „Von kommenden Dingen“ bereits 1917 die Idee eines künftigen „Volksstaates“ entfaltet hatte, und seit 1920 für die Reichsregierung national und international als Wirtschaftssachverständiger tätig war, 1921 zum Minister für Wiederaufbau und im Februar 1922 an die Spitze des Auswärtigen Amtes berufen. Damit hatte man ihm die Möglichkeit gegeben, jenen auf Ausgleich und Verständigung setzenden Politikansatz zu verfolgen, der den ganzen Hass der Republikgegner auf sich zog und der fortan mit seinem Namen verbunden blieb: die sogenannte „Erfüllungspolitik“. Als herausragenden Repräsentanten der verhassten Republik sahen Rathenau auch jene rechtsradikalen Attentäter der Organisation „Consul“, die ihm an diesem Sonnabendvormittag auf seinem Weg ins Amt in einem zweiten Kraftwagen folgten, um ihn schließlich auf offener Straße mit Maschinenpistole und Handgranate zu überfallen und zu töten. Anders als im Jahr zuvor die Ermordung Matthias Erzbergers hatte die neuerliche Bluttat die Gesellschaft bis weit in das konservative Bürgertum hinein aufgerüttelt. Friedrich Meinecke, den die Schüsse auf Rathenau „wie ein schauriges und seltsames Säkulargespenst, das Umgang hielte“, berührten, wandte sich scharf gegen „die überaus unkluge und kurzsichtige Haltung eines großen Teiles meiner Kollegen“, die die Studentenschaft in ihrer oft fanatisch rechtsgerichteten Haltung bestärkten.2 Thomas Mann tat nach dem Tode Rathenaus mit einer aufsehenerregenden Rede in Berlin seine Wandlung zum Republikaner kund   1 2

Der Beitrag nimmt Gedanken auf, die ich in früheren Studien zu Walther Rathenau ausführlicher entwickelt habe, so vor allem in: Sabrow (1998): Die Macht der Mythen; Sabrow (1999): Die verdrängte Verschwörung. Meinecke (1979): Ursachen des Rathenau-Mordes, S. 338.

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und verlangte vor einer scharrenden studentischen Zuhörerschaft „unsere noch ungelenken Zungen zu dem Rufe [zu] schmeidigen: ‚Es lebe die Republik!‘“3 Was dem lebenden Rathenau nie vergönnt war, wurde dem toten zuteil: Über die politischen Grenzen hinweg bekundeten Millionen Deutsche ihre Trauer und ihre Abscheu vor dem Mord an dem Außenminister. Hunderttausende versammelten sich in den Tagen nach dem Verbrechen auf Massenveranstaltungen der Gewerkschaften, der demokratischen Parteien und der republikanischen Verbände. Die Empörung in allen Schichten der Bevölkerung drängte das republikfeindliche Lager auf Wochen so stark in die Defensive, dass es fast scheinen mochte, als habe in der politischen Kultur des Landes ein spürbarer Wandel eingesetzt und die Republik endlich jene breite Unterstützung gefunden, die sie bisher in der unbarmherzigen Gegnerschaft von rechts und links hatte entbehren müssen. Auch ein so nüchterner Beobachter wie Harry Graf Kessler urteilte unter dem Eindruck dieser Tage: „Die Erbitterung gegen die Mörder Rathenaus ist tief und echt, ebenso der feste Wille zur Republik, der viel tiefer sitzt als der vorkriegsmonarchische ‚Patriotismus‘.“4 Selbst Hugo Stinnes, ein prononcierter Gegner der neuen Ordnung, wurde nach dem Mord mit der Äußerung zitiert, dass der Schuss auf Rathenau auch die Monarchie getötet habe: „Wir müßten nun mit der Republik regieren.“5 Doch so selbstverständlich, wie es scheinen mag, war die Identifikation Walther Rathenaus mit der ersten deutschen Republik für die Zeitgenossen allerdings keineswegs. Seit seinen ersten Schritten aus der Anonymität heraus war der 1867 als Sohn des späteren AEG-Gründers Emil Rathenau geborene Unternehmersohn, der zeitlebens zwischen Kultur und Kommerz schwankte, in der Öffentlichkeit höchst misstrauisch aufgenommen worden. Nur zeitweilig gewann das Bild des intellektuellen AEG-Lenkers und jüdischen Preußenverehrers freundlichere Züge, als nämlich Rathenau bei Kriegsausbruch 1914 die Verantwortung für eine von ihm selbst angeregte Zwangsbewirtschaftung kriegswichtiger Rohstoffe übernahm, ohne die die Mittelmächte zu einer längeren Kriegführung überhaupt nicht in der Lage gewesen wären. Doch mit den sich verdüsternden Kriegsaussichten sank auch der Stern des kurzzeitig als Retter des Vaterlandes gefeierten Rathenau wieder, der nun im Zeichen eines machtvoll sich erhebenden Antisemitismus zur Personifikation der verhassten Kriegswirtschaft im Interesse der AEG wurde. Vollends ein Aufruf zur levée en masse im Oktober 1918, der in erster Linie auf eine verbesserte Position bei den bevorstehenden Friedensverhandlungen zielte, stempelte den Mann, der den Kriegsausbruch anders als die überwältigende Mehrheit seiner Zeitgenossen mit Schmerz verfolgt und das düstere Ende vorausgesehen hatte, zum vielgeschmähten Kriegsverlängerer, der den Frieden verhindern wolle, um sich mit dem „System Rathenau“ am Leiden der Nation zu bereichern. Selbst die „Weltbühne“ empörte sich, „daß aus einer Grunewald-Villa heraus einem Volk, das fünf  3 4 5

Mann (1968): Von Deutscher Republik, S. 130. Kessler (2003): Tagebücher, S. 324. Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, MA 103160, Niederschrift des Telefonats des bayerischen Gesandten von Preger, 11.7.1922.

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zig Monate lang diese ungeheuern Opfer gebracht hat, mit künstlich hären gemachter Stimme die billige Mahnung zugeschleudert wird, zum Schutze der Kriegsgewinnler immer weiter sein Blut zu vergießen.“6 Seine politische und intellektuelle Autorität hatte Rathenau mit diesem Schritt verspielt. Als eine auslandsdeutsche Stimme in der Nationalversammlung vorschlug, Rathenau zum Reichspräsidenten zu wählen, hallte das Weimarer Nationaltheater vom brüllenden Gelächter der versammelten Abgeordneten wider. Selbst sein späterer Biograph Harry Graf Kessler fand Rathenau in dieser Zeit an seiner inneren Widersprüchlichkeit gescheitert: „Überhaupt ist er der Mann der falschen Noten und schiefen Situationen: als Kommunist im Damastsessel, als Patriot aus Herablassung, als Neutöner auf einer alten Leier.“7 Die DDP, der er sich nach einem gescheiterten Versuch zur Gründung einer eigenen Partei anschloss, gewährte ihm keinen Listenplatz für die Wahl zur Nationalversammlung. In der Anfangszeit der Republik erinnerte man sich Rathenaus als eines in sich zerrissenen Relikts einer unheilvollen Vergangenheit und verspottete ihn als „Jesus im Frack, [...] Inhaber von 39 bis 43 Aufsichtsratsstellen und Philosoph von Kommenden Dingen, Schloßbesitzer und Mehrheitssozialist, erster Ausrufer [...] für die nationale Verteidigung und beinahiges Mitglied der revolutionären Sozialisierungskommission, Großkapitalist und Verehrer romantischer Poesie, kurz – der moderne Franziskus v. Assisi, das paradoxeste aller paradoxen Lebewesen des alten Deutschlands.“8 Gerecht war dieses Urteil gewiss nicht. Aber das Empfinden der janusköpfigen Zerrissenheit eines Mannes der Gegensätze war in der Wahrnehmung der zeitgenössischen Betrachter tief verankert. Nach einem geflügelten Ausspruch des Inhabers der Berliner Handels-Gesellschaft, Carl Fürstenberg, galt Walther Rathenau unter Bankiers als guter Schriftsteller, unter Schriftstellern aber als guter Bankier. Kaum anders urteilte der mit Rathenau freundschaftlich verbundene Stefan Zweig: „Bei Rathenau spürte ich immer, daß er mit all seiner unermeßlichen Klugheit keinen Boden unter den Füßen hatte. Seine ganze Existenz war ein einziger Konflikt immer neuer Widersprüche. Er hatte alle denkbare Macht geerbt von seinem Vater und wollte doch nicht sein Erbe sein, er war Kaufmann und wollte sich als Künstler fühlen, er besaß Millionen und spielte mit sozialistischen Ideen, er empfand sich als Jude und kokettierte mit Christus. Er dachte international und vergötterte das Preußentum, er träumte von einer Volksdemokratie und war jedesmal hoch geehrt, von Kaiser Wilhelm empfangen und befragt zu werden.“9 Nicht anders zeichnete Robert Musil im Roman „Mann ohne Eigenschaften“ seine Romanfigur Paul Arnheim, die ganz unverkennbar die Züge Walther Rathenaus trägt, noch zehn Jahre nach Rathenaus Tod boshaft als Vereinigung von Kohlepreis und Seele. Schließlich hatte Rathenau selbst das Narrativ der coincidentia oppositorum aufgenommen und zu seinem autobiographischen Leitfaden erklärt. In der Rede zur Feier seines 50. Geburtstages am 29. September 1917 im Berliner Hotel Adlon kam   6 7 8 9

Die Weltbühne, 17.10.1918. Kessler (2003): Tagebücher, S. 133. Die Republik, 19.12.1918. Zweig (1960): Erinnerungen eines Europäers, S. 204 f.

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er auf seine von ihm empfundene „Vielspältigkeit“ und sein „Doppeldasein“ zu sprechen, welches er selbst ein „anstößiges Ereignis“ nannte10 und zugleich philosophisch überhöhte – wie beispielsweise in der Scheidung zwischen „Zweck“ und „Seele“ in seiner Betrachtung „Zur Mechanik des Geistes“ oder in der Unterteilung der Welt in Mut-, Zweck- und Furchtmenschen. Als er auf der erwähnten Feier als „eine Art neuen Typs von Menschentum“, als „Mensch mit dem lyrischen Herzen und dem Kaufmannskopf“ gewürdigt worden war,11 ging Rathenau sofort auf dieses Bild ein, das ihm offenbar gefiel. In seiner Antwort bemühte er Platons Gleichnis vom Wagenlenker und seinen zwei in verschiedene Richtung zerrenden Rössern: „Von meiner Jugend her ist es mir ein Erbteil gewesen [...], daß ich dem, was die Natur mir gab, mich in der Doppelheit fühle.“12 In der Tat war Rathenaus Handeln und Haltung von starken Spannungslinien durchzogen. Seine beiden Anläufe zu einer politischen Karriere unternahm er in Vorläuferparteien des heutigen Liberalismus zunächst 1911 bei der Erwägung einer ihm von den Nationalliberalen angebotenen Kandidatur für ein Reichstagsmandat und schließlich noch einmal im Jahr 1919 nach einem gescheiterten Versuch zur Gründung eines Demokratischen Volksbundes in den Reihen der DDP. Liberal waren dabei Rathenaus Vorstellungen einer Reform des konstitutionellen Regierungssystems, die auf ein allgemeines und gleiches Wahlrecht zielten; liberal war seine Kritik an Religions- und Standesschranken, die den gleichen Zugang aller zu staatlichen Ämtern verhinderte, liberal war seine Kritik an der ungleichen Verteilung sozialer Lasten; zum Liberalen wandelte Rathenau sich schließlich auch in Glaubensdingen, wenn er sich gegen die Institution einer Staatskirche wandte13 und 1922 bei seiner Ernennung zum Außenminister die geforderte Angabe seiner Religionszugehörigkeit konsequent verweigerte: „Diese Frage entspricht nicht der Verfassung.“14 Dennoch lässt sich dem Liberalen Rathenau mit gleicher Berechtigung der Illiberale gegenüberstellen. Sein gesellschaftspolitisches Zukunftsmodell, wie es in „Von Kommenden Dingen“ formuliert wird, stellte „nicht gerade ein marktwirtschaftliches Programm“ dar,15 sondern vertrat mit der Stärkung des Staates und der rigiden Lenkung von Produktion und Konsumption ein ausgesprochen antiliberales Credo. Nicht das liberale Denken eines freien Spiels der Kräfte stand hier Pate,   10 11 12 13

Rathenau (1924): Zwei Tischreden, S. 20. Rathenau (1917): Rede Bürgermeister Dr. Reicke, S. 15 f. Rathenau (1924): Zwei Tischreden, S. 17 f. „Ich will den christlichen Staat, denn auf seinem Boden sind wir und mit uns die gesamte abendländische Welt der Gedanken und Gefühle erwachsen. Ich glaube aber nicht, daß es der Staatsgewalt oder der Staatskirche bedarf, um Staaten ungezählter Millionen christlicher Bürger sich christlichem Geist zu erhalten. [...] Der Staat mag durch seine weltlichen Organe die Lehre überwachen, damit sie nichts verkünde, was der Sitte oder einem Glauben zu nahe tritt. Er mag auch die Ausübung und Annahme religiöser Unterweisung fordern und überwachen und ihr Ergebnis prüfen: ein Zwang zur Verbreitung einseitig bestimmter Glaubensformen gebührt nicht der Würde eines mündigen und gebildeten Volkes.“ Rathenau (1917): Streitschrift vom Glauben, S. 118. 14 Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, Bonn, Presseabteilung, Deutschland 9, Akten Reichsminister Dr. Rathenau, Bd. 1. 15 So mit Recht Hense (1996): Rathenau. Patriot und Visionär, S. 88.

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sondern eine rückwärtsgewandte Sozialutopie, eine Art altpreußischer Staatssozialismus, wie es wiederum aus „Von kommenden Dingen“ zu entnehmen ist: „Bis zum Mißbrauch ist unsere Zeit mit dem Begriff der Pracht vertraut, den Begriff der Vornehmheit scheint sie zu verlieren. Pracht und Repräsentation wirkt auf eine ferne, zur starren Bewunderung verdammte Menge und entfremdet; Vornehmheit drückt innern Adel in stiller Zurückhaltung aus, sie besteht im Verzicht; indem sie sanft zurückzuweichen scheint, zieht sie nach und empor. Sparta und das alte Preußen waren vornehm, Paris und das späte Rom zeigen die untrennbare Einheit von Prunk und Pöbeltum. Die unterschätzte Kunstepoche der preußischen Wiedergeburt vor hundert Jahren sei uns ein Vorbild, wie nicht aus Nachbildung des Prunkhaften, sondern aus stiller Vertiefung in die bescheidenste Aufgabe Schönheit entsteht.“16 Es nimmt nicht wunder, dass gerade diese wichtigste gesellschaftspolitische Reformschrift Rathenaus nicht nur in der Deutschen Arbeitgeber-Zeitung, dem offiziellen Organ der Vereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände, auf heftigstes Missfallen stieß, sondern gerade von liberalen Rezensenten als Verletzung ihrer Grundgedanken gelesen wurde: „Sein Staatssozialismus vernichtet die menschliche Individualität zu einem großen Teil“, lautete das vernichtende Fazit des Schweizers Eugen Geiger.17 Als Jude wiederum blieb Rathenau, der sich mütterlicherseits als Erbe einer Jahrhunderte zurückreichenden Familientradition bedeutender Kaufleute, Gelehrter und Forscher in Mainz und im Rheinland sehen konnte und darauf sein Selbstbewusstsein gründete, bis zum Ende des Wilhelminischen Kaiserreichs ein Staatsbürger zweiter Klasse. Ungeachtet seiner glänzenden Karriere als Industrieller, Bankier und später auch als Politiker hatte er stets unter den subtilen Ausgrenzungsmechanismen einer latent oder offen antisemitischen Umwelt ebenso gelitten wie unter behördlichem Antisemitismus und sollte später bekennen: „In den Jugendjahren eines jeden deutschen Juden gibt es einen schmerzlichen Augenblick, an den er sich zeitlebens erinnert: wenn ihm zum ersten Male voll bewußt wird, daß er als Bürger zweiter Klasse in die Welt getreten ist und daß keine Tüchtigkeit und kein Verdienst ihn aus dieser Lage befreien kann.“18 Diese Doppelstellung als führender Industrieller und zugleich stigmatisierter Außenseiter brachte Rathenau fünfzehn Jahre nach Erscheinen seines antisemitisch getönten Erstlingsaufsatzes „Höre, Israel!“ dazu, von seinem schroffen Assimilationsaufruf wieder abzurücken. In einer programmatisch „Staat und Judentum“ betitelten Schrift erklärte Rathenau 1911 die fortbestehende Diskriminierung der Juden in Preußen zu einem Schaden für beide Teile: „Es ist richtig, daß der preußische Adel das leider absterbende alte Preußentum geschaffen hat, [...] es ist hart, daß er seine hundertjährigen Vorrechte, mit wem es auch sei, teilen soll. [...] Tausend herrschende Familien können selbst bei hoher und spezialisierter Begabung weder an   16 Rathenau (1917): Von kommenden Dingen, S. 350. Dass Rathenaus „Staatssozialismus [...] dem Altpreußens nahe(steht)“, merkte etwa Gustav Schmoller in einer Rezension des Werkes an: Schmoller (1917): Besprechung, zit. nach Schulin (1977): Zu Rathenaus Hauptwerken, S. 566. 17 Zit. n. ebd., S. 580. 18 Rathenau (1925): Staat und Judentum, S. 188 f.

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Zahl, noch an Beschaffenheit den gewaltig gesteigerten Verbrauch an Verwaltungskräften decken. [...] Deshalb bleibe ich bei meiner Überzeugung und Zuversicht: der Staat kann auf keine seiner geistigen und sittlichen Kräfte verzichten; er muß und wird dem Bürgertum im weitesten Sinne, und somit auch den Juden, die Mitwirkung an den gemeinsamen Arbeiten zugunsten des Staatswohls gewähren, und dies in kürzerer Zeit, als die Beteiligten annehmen.“19 Rathenau wehrte sich gegen solche Exklusionsforderungen mit einer prononcierten Beteuerung seines Deutschtums – einerseits öffentlich und in Flugschriften wie im Juli 1918 in einer „An Deutschlands Jugend“ betitelten Broschüre, aber auch privat in Briefen an Freunde, die ihn mit entsprechenden Äußerungen von nationalistischer Seite konfrontierten: „Ich habe und kenne kein anderes Blut als deutsches, keinen anderen Stamm, kein anderes Volk als deutsches. Vertreibt man mich von meinem deutschen Boden, so bleibe ich deutsch, und es ändert sich nichts. [...] Meine Vorfahren und ich selbst haben sich von deutschem Boden und deutschem Geist genährt und unserem, dem deutschen Volk erstattet, was in unseren Kräften stand. Mein Vater und ich haben keinen Gedanken gehabt, der nicht für Deutschland und deutsch war; soweit ich meinen Stammbaum verfolgen kann, war es dasselbe.“20 Gegen die nach der Kriegsniederlage weiter anschwellende Judenfeindschaft halfen solche öffentlichen Abwehräußerungen wenig. Erst sein plötzlicher Tod machte Walther Rathenau über Nacht zu einem politischen Symbol der Deutschen Republik. Der Anschlag auf den Außenminister wurde in der Öffentlichkeit als dramatischer Höhepunkt einer förmlichen Mordserie wahrgenommen, mit der unbekannte Täter die Spitzen der Weimarer Politik aus dem Hinterhalt bedrohten. Den Auftakt hatte ein Mordanschlag auf den bayerischen Landtagsabgeordnete Karl Gareis (USPD) gemacht, der im bayerischen Landtag die Existenz geheimer Waffenlager von Einwohnerwehren enthüllt hatte und am 10. Juni 1921 auf dem Heimweg von einer politischen Versammlung vor seinem Haus in München erschossen wurde. Zwei Monate später erlag der katholische Zentrumspolitiker und ehemalige Reichsfinanzminister Matthias Erzberger den Schüssen zweier Mordschützen, die ihm auf einem Spaziergang am Kniebis im Schwarzwald aufgelauert hatten. Am 4. Juni 1922 attackierten wiederum zwei Männer in einem Wald bei Kassel den dortigen Oberbürgermeister und ersten Ministerpräsidenten der Republik, Philipp Scheidemann, mit einer Blausäure-Spritze, deren tödliche Wirkung sich nur infolge glücklicher Umstände nicht entfaltete. Gerade neun Tage nach dem Mord an Rathenau schließlich wurde Maximilian Harden, über viele Jahre eng mit Rathenau befreundeter Publizist und Herausgeber der von ihm selbst gegründeten Wochenzeitschrift „Zukunft“, nahe seines Berliner Hauses überfallen und schwer verletzt. Abermals lag der Tatort im Villenvorort Grunewald und wurde die Tat von zwei, diesmal mit Totschlägern bewaffneten Männern ausgeführt, die von ihrem Opfer erst abließen, als dessen unerwartet kräftiger Schrei um Hilfe die Nachbarschaft aufschreckte.   19 Ebd., S. 197 ff. 20 Walther Rathenau an Wilhelm Schwaner, 23.1.1916, in: Rathenau (2006): Briefe, S. 1503.

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Auch die Mörder Rathenaus entkamen vorerst unerkannt, und die sofort eingeleitete Fahndung, deren Intensität in der Geschichte des deutschen Polizeiwesens ohne Beispiel war, blieb trotz der fieberhaften Anteilnahme der Bevölkerung zunächst ohne jeden Erfolg. Dies und die augenfälligen Parallelen zwischen den einzelnen Überfällen, denen nacheinander nicht weniger als fünf prominente Vertreter der Republik aus Politik und Publizistik zum Opfer gefallen waren, schürten in der Öffentlichkeit das Gefühl, ohnmächtig einer unfassbaren und allmächtigen Bedrohung ausgeliefert zu sein, gegen die der Staat von Weimar keinen wirksamen Schutz zu geben vermochte. Entsprechend wurde die Beerdigung zu einem Demonstrationsstreik zugunsten der Toten. Bald aber begann das Rathenaubild sich zu wandeln. Vom politischen Kampfauftrag zum parteiübergreifenden Versöhnungsappell – so lässt sich die allmähliche Veränderung im Grundton der Botschaft überschreiben, die zumindest die republikverbundene Öffentlichkeit aus Leben und Tod des deutschen Außenministers herauslas, je weiter der Anschlag von der Gegenwart in die Vergangenheit zurücktrat. Für eine friedliche Verständigung der gespaltenen politischen Teilkulturen im Sinne des Toten hatte in den ersten Tagen und Wochen nach dem Mord in der Koenigsallee allerdings nur wenig gesprochen, umso mehr aber für einen entschlossenen Bruch der Republikaner mit allen Facetten versteckter und offener Demokratiefeindschaft. An der Spitze der Bewegung zum Schutz der Republik standen die Arbeiterorganisationen: Bereits am 25. Juni 1922 beschloss der Leipziger Gewerkschaftskongress des ADGB, den Tag der Trauerfeier für den ermordeten Minister zu einer Demonstration der gesamten Arbeiterschaft für die Republik zu nutzen. In Verhandlungen einigten sich die Gewerkschaften mit den beiden sozialdemokratischen Parteien und der KPD auf einen landesweiten Proteststreik vom Mittag des 27. Juni bis zum Morgen des darauffolgenden Tages, von dem nur Post, Eisenbahnverkehr, Stromversorgung und Notstandsarbeiten in anderen lebenswichtigen Bereichen ausgenommen waren. Der „Demonstrationsstreik“21 blieb nicht auf die Arbeitnehmer beschränkt: Die preußische Regierung schloss sich ihm für alle ihre Behörden an, die Reichsregierung ordnete für den 27. Juni 1922 die Einstellung des Büro- und Werkstättendienstes ab 14 Uhr an und erlaubte allen Beamten die Teilnahme an den Protestversammlungen, sofern ihr Dienst dies zuließ. Der Erfolg wurde den Erwartungen gerecht, ja, er übertraf sie noch: Der Tag der Trauerfeier für den ermordeten Minister wurde besonders in den größeren Städten Deutschlands zu einer nie dagewesenen Demonstration für die Republik. Eine Million Menschen folgten allein in Berlin dem Aufruf eines breiten Bündnisses der republikanischen Parteien vom Zentrum bis zur hin zur KPD, um sich vor dem Reichstag, um das Brandenburger Tor sowie im Tiergarten zu versammeln und die Straßen zu säumen, durch die der Sarg des Ministers in die Familiengrabstätte in Berlin-Oberschöneweide überführt wurde. Gewaltige Demonstrationen wurden auch aus Frankfurt, Stuttgart, Königsberg und vielen anderen deutschen Städten gemeldet; je 150 000 Menschen marschierten in München und Chemnitz; 100 000 waren es in Hamburg, Breslau, Elberfeld und Essen, die für die Republik auf die   21 Vorwärts, 26.6.1922.

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Straße gingen. Zusammen zeugten sie eindrucksvoll von einer breiten Entschlossenheit in der deutschen Bevölkerung, sich schützend vor den bedrohten Staat von Weimar zu stellen und dem Vermächtnis des Toten durch Treue zur Republik gerecht zu werden. Sie zeugten von einer kämpfenden Erinnerung. Die allmähliche Überlagerung dieses zunächst kämpferischen Gedenkens durch ein versöhnendes Gedächtnis ließ Walther Rathenau in derselben Zeit über die Parteigrenzen hinaus zum Märtyrer der Deutschen werden und stattete das Bild der Erinnerung in den Folgejahren mit immer neuen und bald auch mythischen Zügen aus, die in der Publizistik bevorzugt zu den wiederkehrenden Jahresdaten seines Geburts- und Todestages aufgerufen wurden. Angesichts dieser Entwicklung erlahmte die Entschlossenheit, das in Straßennamen und Platzbezeichnungen bewahrte Erinnerungsinventar in einer Art nachholender Symbolrevolution zu säubern und den monarchischen Geist durch eine Welle von Straßenumbenennungen aus dem Bild der deutschen Städte zu vertreiben, nicht nur auf Seiten der Linken, sondern bis weit in die Weimarer Koalition. Von dem ursprünglichen Elan zeugte etwa die nur eine Woche nach der Ermordung ihres Sohnes an Mathilde Rathenau gerichtete Aufforderung, ihr Einverständnis zu der Umbenennung des Nürnberger Hindenburgplatzes in Rathenauplatz zu geben. Die Mutter Rathenaus sprach sich vergeblich gegen den Namenstausch aus, welchen sie vermutlich ablehnte, weil sie die in diesem Antrag zum Ausdruck kommende Vereinnahmung ihres Sohnes für den tagespolitischen Kampf gegen die alten Mächte nicht zulassen wollte. Im Kölner Rathaus kam es gar zu einem Skandal, als die Stadtverordnetenversammlung über den sozialdemokratischen Antrag beriet, den dortigen Kaiser-Wilhelm-Ring und Hohenzollern-Ring in Walther-Rathenau-Ring bzw. Erzberger-Ring umzutaufen, nachdem Abgeordnete der äußersten Linken tätlich gegen ihre Kollegen von der Rechten, die den Antrag ablehnten, vorgegangen waren, musste die Sitzung geschlossen werden.22 Auch in anderen Städten verfolgten die Vorstöße zur Ehrung Walther Rathenaus im Straßenbild mit der beantragten Umbenennung das Ziel, die öffentlichen Erinnerungen an die Kaiserzeit zurückzudrängen, und setzten zugleich das Bemühen fort, den Kampf gegen die Feinde der Republik durch Eliminierung der monarchischen Traditionen zu führen. Den allmählichen erinnerungspolitischen Umschwung deutete Reichskunstwart Edwin Redslob an, als er im Spätherbst 1922 davor warnte, „beliebige Straßen auf den Namen ‚Rathenau-Straße‘ oder ‚Rathenau-Allee‘ umzutaufen“. Wenn er es stattdessen geraten fand, „die Gemeinden vor einem wahllosen Umbenennen zu warnen und vor allen Dingen in Berlin nur solche Straßen oder Plätze mit dem Namen Rathenau in Verbindung zu bringen, die auch wirklich einen inneren Zusammenhang mit dem ermordeten Minister haben“,23 hinkte diese Besorgnis allerdings dem tatsächlichen Stand im Streit der Symbole selbst bereits hinterher. In vielen Kommunen scheiterten entsprechende Anträge von sozialdemokratischer und kommunistischer Seite schließlich am örtlichen Widerstand bürgerlicher Mehrheiten,   22 Schleswig-Holsteinische Volkszeitung, 8.7.1922. 23 Bundesarchiv Berlin, [i. f. BArch], 15.07-16796, Der Reichskunstwart an den Reichsminister des Innern, 29.11.1922.

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die in Berlin sogar die zunächst als „selbstverständliche Verpflichtung“24 betrachtete Umbenennung der schicksalhaften Koenigsallee nach Rathenau attackierte, weil der tonangebende Teil der Öffentlichkeit in diesem Straßennamen fälschlicherweise nicht den Bankier Felix Koenigs, sondern die Hohenzollern geehrt sah. In der Bezirksverordnetenversammlung Berlin-Wilmersdorfer führte der Umbenennungsantrag mehrfach zu heftigen Tumulten,25 und es sollten volle vier Jahre vergehen, bis 1926 immerhin eine neugebaute Seitenstraße auf den Namen „Rathenauallee“ getauft werden konnte. Nicht diese hegemonialen Anstrengungen bestimmten den für die Weimarer Zeit gültigen Platz Rathenaus in der öffentlichen Erinnerung. Vielmehr setzte sich rasch ein konsensorientierter Gedenkstil durch, der schon zum ersten Todestag Rathenaus in einer vom Deutschen Republikanischen Reichsbund im Reichstag organisierten Feier in Szene gesetzt wurde. Auf ihr erklärte der sozialdemokratische Festredner den gewaltsamen Tod des Ministers zu einem parteiübergreifenden Teil nationaler Identität: „Rathenaus Blut soll nicht umsonst geflossen sein, es ist zum Kitt für die deutsche Republik geworden.“26 Entsprechend betonte die Feier auch in der gewählten Farbsymbolik neben der Trauer um den Ermordeten die Verbundenheit mit der demokratischen Republik: „Breit legte sich über den schwarzbekleideten Tisch des Präsidiums die Reichstrikolore, und in sanften Bogen wanden sich Florbänder an den Estraden der Regierungstische.“27 Der Grundton einer überparteilichen Eintracht bestimmte die öffentliche Erinnerung an Rathenau von nun an bis zum Ende des Weimarer Staates. Trotzdem verschwand in derselben Zeit aus den jährlichen Gedenkveranstaltungen zur Wiederkehr des Todestages allmählich die republikanische Symbolik, die den parteiübergreifenden Boden für die Ablösung der kämpferischen durch die versöhnende Erinnerung an den Verstorbenen bereitet hatte. Sie machte einer abermals gewandelten Erinnerungskultur Platz, die ihrerseits Überparteilichkeit in Parteiekel überführte. Zum sechsten Todestag 1928 war es allein das sozialdemokratische Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, das die Gedenkfeiern mit den Farben der Republik ausschmückte – und zugleich in die Ästhetik einer fortschreitenden gesellschaftlichen Militarisierung übersetzte: „An der Mordstelle in der Königsallee stand den ganzen Tag über eine Ehrenwache des Reichsbanners. Vor der Villa Rathenaus im Grunewald marschierten am Nachmittag die Kreisvereine Charlottenburg, Tiergarten und Wilmersdorf mit umflorten Fahnen auf.“28 Einen Erinnerungsstil im Übergang dokumentierte insbesondere die Feier am Grabe des Ministers auf dem Waldfriedhof von Berlin-Oberschöneweide, für die wiederum das Reichsbanner eine Fahnenabordnung zur Ehrenwache kommandiert hatte, während Georg Bernhard als Gedenkredner den Ermordeten mit Worten würdigte, die Republiktreue und Überparteilichkeit miteinander verbanden: „Rathenau war Idealist, aber kein Phantast. Alle   24 25 26 27 28

Ebd. Der Westen, 5.10.1922. Vossische Zeitung, 26.6.1923. Ebd. Vorwärts, 25.6.1928.

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seine Schriften dienen dieser Friedensliebe. Kein Zufall ist es, daß er gewissermaßen der Schutzpatron des Reichsbanners ist, denn seine Lehren enthalten das, was das Reichsbanner in jahrelanger Arbeit verwirklicht hat: Versöhnung aller Republikaner, Dienst am Volke. Darum hält das Reichsbanner auch an dieser jährlichen Gedenkfeier fest und macht Gerhart Hauptmanns Wort wahr: Es führt den Stoß der deutschen Zwietracht mitten ins Herz.“29 Den Schlusspunkt dieser Entwicklung setzte der Diplomat Gerhard von Mutius, unter Rathenau Abteilungsleiter im Auswärtigen Amt, der aus Anlass des zehnten Todestags seinen früheren Chef als Vorbild für eine Überwindung des Parteiwesens überhaupt in Anspruch nahm: „Das ist eine Frage der Selbstzucht, wenn man will, der Entsagungskraft, nämlich des Verzichts auf den Reiz der Übertreibung, von und in dem alles Parteiwesen lebt. Durch den Entschluß zur Selbstzucht, zur Hingabe, wenn es nottut, zum Opfer wollen wir zur zehnjährigen Wiederkehr seines Todestages Walther Rathenaus Gedächtnis ehren.“30 Doch es war bereits zu spät für diesen Versuch, die republikanische Imprägnierung des öffentlichen Bildes von Walther Rathenau wieder zurückzunehmen und sein Erinnerungsschicksal vom Schicksal der politischen Kultur von Weimar abzukoppeln. Im selben Jahr 1932 einigte sich das Reichskabinett darauf, mit der Kranzniederlegung ungeachtet der zehnten Wiederkehr des Tages von Rathenaus Ermordung keinen Minister zu betrauen, sondern einen Ministerialdirektor, der sich selbst zur Verfügung gestellt hatte, und auf eine Teilnahme an der vorgesehenen Feier im Rathenau-Hause geschlossen zu verzichten: „Es bestand Übereinstimmung darüber, daß die Absage auf die Einladung zur Rathenaufeier von seiten der Reichsminister allgemein gehalten werden solle.“31 Im Verlauf der wenigen Weimarer Jahre wandelte sich mit der Topik der Gedenkkultur auch das Bild Rathenaus selbst. Der Wille zur nationalen Versöhnung duldete keine Erinnerung an die Zerrissenheit und Selbstwidersprüchlichkeit, die das Bild des lebenden Rathenau über Jahrzehnte geprägt hatten. Schon unter dem unmittelbaren Eindruck des Mordes entwarf Georg Bernhard in seinem Nekrolog für die Vossische Zeitung ein Porträt des Ermordeten, in dem sich auch scheinbar gegensätzliche Charakterzüge zu einer höheren Harmonie zusammenfügten: „Antlitz, Stimme, Geste, Gestalt und Geist gehörten bei ihm untrennbar zusammen. [...] Man kann sich keiner Einzelheit erinnern, ohne daß das Ganze im Gedächtnis emportaucht. Denn bei ihm bildete alles eine Einheit. Seine Vorzüge und seine Fehler, seine Konsequenz und seine Widersprüche, seine Größe und seine Kleinheit. Diese ganze eigenartige Gegensätzlichkeit, die in Walter Rathenau zusammenstieß und sich vermischte, die Beifall erzwang oder zu Widerspruch herausforderte. All das wirkte bei ihm organisch und selbstverständlich.“32 Schon bald formte sich vor diesem Hintergrund eine teleologische Vorstellung, für die Rathenaus Ermordung der folgerichtige Höhepunkt seines Lebens und sein   29 Ebd. 30 von Mutius (1932): Gedenkrede, S. 254. 31 BArch, R 43 I/904, Auszug aus der Niederschrift über die Ministerbesprechung vom 18. Juni 1932. 32 Vossische Zeitung, 25.6.1922.

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Tod „eigentlich erst der Moment [wurde], die ganze Bedeutung seiner Gestalt zu rechter Würdigung gedeihen zu lassen“.33 Während auf der Seite der konservativen und monarchisch gesinnten „Potsdam-Deutschen“ das Bild des ermordeten Ministers – ähnlich dem Erinnerungsschicksal Matthias Erzbergers34 – nach dem Ende der republikanischen Gedenkoffensive bald wieder in den Hintergrund trat, schuf sich das kollektive Gedächtnis der republikoffenen „Weimar-Deutschen“ einen neuen Rathenau, der „in sich Schicksal trug“35 und freiwillig zum Märtyrer geworden war, um das Land zu retten. Im Sog dieses Deutungsmusters mehrten sich die Stimmen von Weggefährten, die bezeugen konnten, dass der Verstorbene sein Leben in freiem Bewusstsein seinem Land geweiht habe und sehenden Auges seinem Ende entgegengegangen sei. Zum zehnten Todestag erinnerte Rathenaus früherer Sekretär Hugo Geitner an einen „Menschen voller Nachsicht, Güte und Liebe“, der schon in seinen Schriften der „Kameradschaftlichkeit im Volks- und Staatsgemeinschaftsgefühl“ vorgearbeitet habe: „Da hier ein Seher zu seinem Volke sprach, lohnt es, diesen Gedankenreichtum in besinnlichen Stunden weiteren Kreisen zugänglich zu machen. Das wäre Dank und Rechtfertigung für das Opfer, das er mit seinem Leben seinem Lande und Volke gebracht hat.“36 Noch einen Schritt weiter ging Gerhard von Mutius, der Rathenaus Märtyrertod zum Gnadenschicksal verklärte: „Ich empfinde es als die Größe in Walther Rathenaus Schicksal, daß er der Aufgabe, der er nachstrebte, das Opfer seines Lebens bringen durfte. Vor diesem letzten Ernst der Hingabe – und er wußte wohl, daß sein Leben bedroht war, sträubte sich aber fast fatalistisch gegen die ihm angeratene Vorsicht – müssen wir alle verstummen, die wir ein solches Opfer noch nicht gebracht haben.“37 Dauerhaften Erfolg versprachen Anstrengungen, durch neugeschaffene Denkmäler Rathenaus Opfer für die Republik in der öffentlichen Erinnerung zu halten. Auch hier zeigte sich das Reichsbanner besonders rührig: So konnte 1926 in Sommerfeld in der Lausitz ein „Rathenau-Stein“ eingeweiht werden, den Mitglieder des Reichsbanners ausgegraben und in die Mitte der Stadt geschleppt hatten.38 Im selben Jahr übergab das Reichsbanner auf dem Hohenstein bei Witten ein Denkmal für Erzberger, Rathenau und Ebert der Öffentlichkeit, das unter Anwesenheit von Vertretern der Weimarer Koalitionsparteien eingeweiht wurde,39 und 1929 gestalteten wiederum Reichsbannerleute einen Wald bei Freital/Sachsen zu einem „Rathenau-Hain“ um. Erhebliche Widerstände stellten sich jedoch der Errichtung eines Mahnmals an der Mordstelle in Berlin in den Weg. Obwohl der Bildhauer Georg Kolbe bereits 1922 erste Entwürfe gefertigt hatte, verfolgte das zuständige Reichsinnenministerium den Plan eines Gedenkzeichens in der Koenigsallee erst nach dem Tode von Mathilde Rathenau, die hierfür testamentarisch 30 000 Mark zur Verfügung gestellt und folgenden Text für die Inschrift bestimmt hatte: „Hier   33 34 35 36 37 38 39

Gottlieb (1929): Walther-Rathenau-Bibliographie, S. 40. Siehe hierzu den Beitrag Torsten Oppellands in diesem Band. Kessler (1988), Rathenau, S. 12. Geitner (1932): Walther Rathenau, S. 60. Mutius (1932): Gedenkrede, S. 253. Vossische Zeitung, 18.10.1926. Berliner Tageblatt, 9.8.1926.

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wurde Walther Rathenau am 24ten Juni 1922 ermordet – ‚Deutschlands treuester Sohn‘.“40 Die Realisierung wurde allerdings von einer jahrelangen Verschleppung des Vorhabens gehemmt, nachdem die Reichsregierung die von Mathilde Rathenau erbetene Inschrift nicht akzeptiert hatte, sondern als neutraleren Wortlaut die Inschrift „Walther Rathenau / Dem treuen Sohn des deutschen Volkes / zum Gedächtnis/ † am 24. Juni 1922“ verlangte. Nur der Initiative eines Berliner DDP-Verbandes war es zu verdanken, dass anlässlich des siebten Todestages Rathenaus am 23. Juni 1929 eine Gedenktafel an der Mordstelle eingeweiht werden konnte, die die schlichte Aufschrift trug: „Walther Rathenau † 24.6.1922“. Bei der Feier zur Einweihung des bescheidenen Gedenkzeichens am 23. Juni 1929 ließ sich die Reichsregierung lediglich durch Reichswehrminister Wilhelm Groener vertreten. Die Schaffung eines auch künstlerisch aussagefähigen Rathenau-Denkmals an der Mordstelle unterblieb in der Folgezeit sogar ganz. Die nachlassende Identifikation mit dem ermordeten Reichsaußenminister wurde offenkundig mitbeeinflusst durch die sich verändernden politischen Rahmenbedingungen, die im nahenden Untergang der demokratischen Republik auch deren politische Erinnerungskultur in den Abgrund zogen. Mit dem Ende der Weimarer Republik 1933 verschwanden in Berlin und im ganzen Land Straßennamen, Gedenkzeichen und Hinweistafeln, die an Rathenau erinnerten. Der damnatio memoriae verfiel mit der „Systemzeit“ der Weimarer Republik auch der als ihr Repräsentant geschmähte Walther Rathenau. Die eingangs gestellte Frage verlangt also eine fast paradoxe Antwort: Nicht weil Rathenau in der Weimarer Republik als einer ihrer herausragenden Vorkämpfer anerkannt war, wurde er zu ihrem Repräsentanten, sondern weil sein Lebensweg und seine posthume Rezeption die Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit der Republik in so besonderer Weise spiegelten. LITERATUR Bernhard, Georg: Rathenau. In: Vossische Zeitung, 25.6.1922. Geitner, Hugo: Walther Rathenau. † 24. Juni 1922. In: Monatsblätter des Vereins der Beamten der AEG, Juni 1932, S. 60. Goldschmidt, Alfons: Retter Rathenau. In: Die Weltbühne, 17.10.1918. Gottlieb, Ernst: Walther-Rathenau-Bibliographie. Berlin 1929. Hense, Karl-Heinz: Walther Rathenau. Patriot und Visionär. In: Mut. Forum für Kultur, Politik und Geschichte 346 (1996), S. 84–95. Kessler, Harry Graf: Walther Rathenau. Sein Leben und sein Werk. Frankfurt a. M. 1988, zuerst 1928. Ders.: Tagebücher: 1918–1937. Hrsg. von Wolfgang Pfeiffer-Belli. Frankfurt a. M. 2003. Mann, Thomas: Von Deutscher Republik. Rede, gehalten am 15.10.1922 in Berlin. In: Ders.: Politische Schriften und Reden, Bd. 2. Frankfurt a. M. 1968, S.100–130. Meinecke, Friedrich: Der Geist der akademischen Jugend in Deutschland. Zur Erklärung der psychologischen Ursachen des Rathenau-Mordes. In: Ders.: Politische Schriften und Reden. Hrsg. und eingeleitet von Georg Kotowski. Darmstadt 1979, S. 338–343.

  40 BArch, 15.01-25250, Auszug aus dem Testament der Frau Mathilde Rathenau, 1.1.1926.

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Mutius, Gerhard von: Zu Walther Rathenaus Gedächtnis. Gedenkrede am zehnjährigen Todestag Walther Rathenaus (24. Juni 1932). In: Zeitschrift für Politik 22 (1932), S. 249–254. Rathenau, Walther: Eine Streitschrift vom Glauben (1917). In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 5: Wirtschaft, Staat und Gesellschaft. Berlin 1925a, S. 95–119. Ders.: Rede Bürgermeister Dr. Reicke. In: Ders. (Hrsg.): Vier Tischreden. Privatdruck 1917, S. 15 f Ders.: Von kommenden Dingen In: Ders.: Hauptwerke und Gespräche. Hrsg. von Ernst Schulin. München / Heidelberg 1977, zuerst 1917, S. 297–497. Ders.: Zwei Tischreden zur Feier des 50. Geburtstages (29. September 1917). In: Ders.: Gesammelte Reden, Berlin 1924, S. 9–26. Ders.: Staat und Judentum. Eine Polemik. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 1, Berlin 1925, S. 183–207. Ders.: Briefe, Teilband 2: 1914–1922 (Walther Rathenau-Gesamtausgabe, Bd.V/2). Düsseldorf 2006, S. 1502–1505. Sabrow, Martin: Die Macht der Mythen. Walther Rathenau im öffentlichen Gedächtnis. Sechs Essays. Berlin 1998. Ders.: Die verdrängte Verschwörung. Der Rathenau-Mord und die deutsche Gegenrevolution. Frankfurt a.M. 1999. Schmoller, Gustav: Besprechung in Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche. München 1917. Schulin, Ernst: Zu Rathenaus Hauptwerken. In: Ders. (Hrsg.): Walther Rathenau: Hauptwerke und Gespräche. München/ Heidelberg 1977, S. 499-595.. Zweig, Stefan: Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers. Frankfurt a.M. 1960.

DIE WEIMARER REPUBLIK IN MUSEALER REPRÄSENTATION, BÜRGERWISSENSCHAFT UND POLITISCHER BILDUNG

DAS MUSEALE WEIMAR IN DER HAUPTSTADT Arnulf Scriba Im März 1919 eröffnete das Städtische Museum in Erfurt eine Ausstellung über das so genannte Unionsparlament, das 1850 in der Stadt getagt hatte. Mit der Ausstellung wollte Museumsdirektor Edwin Redslob nur wenige Monate nach Beginn der Revolution von 1918/19 und angesichts der in Weimar tagenden Nationalversammlung unmissverständlich auf die demokratische Traditionsbildung in Erfurt sowie im gesamten thüringischen Raum aufmerksam machen. Für Redslob waren die Porträts der auf Deutschlands Einigung hinarbeitenden, führenden liberalen Abgeordneten im Unionsparlament wie Heinrich von Gagern, Friedrich Christoph Dahlmann oder Karl Mathy „Dokumente einer uns heute wieder lebhaft beschäftigenden Zeit“.1 Mit dem gleichen demokratischen Selbstverständnis gestaltete Redslob in der Funktion des Reichskunstwarts nur vier Jahre später die viel beachtete Gedenkfeier für die Revolution 1848 in Frankfurt am Main. Für Redslob war die schwarz-rot-goldene Fahne das Symbol des Kampfes um Grundrechte seit 1848 – oder wie es Redslob mit dem Pathos seiner Zeit sehr treffend formulierte: „Schwarz-rot-gold soll die Fahne der Verfassung sein, aus der Sehnsucht geboren, mit dem Herzblut von Märtyrern des Volkes getränkt.“2 So wie die republikanisch gesinnten Zeitgenossen Anfang der 1920-Jahre massiv auf das Erbe der Paulskirche zurückgriffen, um eine staatstragende liberal-demokratisch parlamentarische Tradition aufzubauen, so selbstverständlich ist es für uns heute, auf das Traditionselement der Weimarer Reichsverfassung und der damit erstmals in Deutschland realisierten Grundrechte aufzubauen. Wie aber kann dieser Vorbildcharakter der Weimarer Reichsverfassung und vor allem die damit Einzug gehaltene und von Millionen Menschen in Deutschland genossene liberale und demokratische Freizügigkeit auf politischer und gesellschaftlicher Ebene in einem Museum, in einer Ausstellung sichtbar gemacht werden? Erstmals wurde die Weimarer Republik in einem größeren Rahmen in Berlin im 1952 gegründeten Museum für Deutsche Geschichte (MfDG) ausgestellt. Es war das zentrale Geschichtsmuseum der DDR im historischen Zeughaus Unter den Linden, in dem seit 1990 nun das Deutsche Historische Museum beheimatet ist. Zwar wurde die dort zu sehende Dauerausstellung zu DDR-Zeiten immer wieder überarbeitet, das MfDG interpretierte die deutsche Geschichte aber stets im Sinne der marxistischen Geschichtswissenschaft als Geschichte des Klassenkampfes. Im Vorwort des kleinen Ausstellungskataloges zur Weimarer Republik von 1968 heißt es dementsprechend: „Die Geschichte der Weimarer Republik beweist, dass Herrschaft von Imperialismus und   1 2

Städtisches Museum Erfurt (Hrsg.) (1919): Erfurter Unionsparlament, S. 6. Vgl. Blume et al. (Hrsg.) (2008): Freiheit, S. 10.

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Militarismus und wirkliche Demokratie einander ausschließen, unüberbrückbare Gegensätze sind, die auch dann nicht beseitigt wurden, wenn im Rahmen des formalen bürgerlich-parlamentarischen Regimes Sozialdemokraten oder Gewerkschaftsführer in die Regierung eintraten.“3 Für die Kolleginnen und Kollegen des MfDG war allein die KPD die einzige demokratische Kraft im Deutschen Reich zwischen 1919 und 1933. Es muss nicht näher darauf eingegangen werden, dass es bei der Darstellung der Weimarer Republik in der heutigen Zeit unsere Aufgabe sein muss, die tatsächlich lebendige Demokratie der Zeit, die Neuerungen, den Willen zur Modernisierung, die Vielfalt und die unterschiedlichen Facetten in allen Lebensbereichen herauszustellen und Weimar nicht nur „von hinten“, also von 1933 aus zu betrachten. Warum aber sollte es heutzutage überhaupt noch eine umfassende Ausstellung zur Weimarer Republik geben? Warum sollte sich an die Weimarer Republik erinnert werden – außer, dass der 100. Jahrestag ihrer Gründung bevorsteht? Für viele Experten oder historisch Interessierte mögen diese Fragen irritierend sein, allerdings wissen Museumsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter aus Erfahrung, dass wir es stets mit einem ausgesprochen heterogenen Publikum mit ganz unterschiedlicher Bildung und verschiedenem Vorwissen zu tun haben. Viele Besucherinnen und Besucher – zumal wenn sie aus dem Ausland kommen – wissen nur rudimentär über die Weimarer Republik Bescheid, mit den Zwanziger Jahren verbinden sie zumeist nur die Begriffe „golden“ und „Straßenkampf“. Es muss ihnen deutlich gemacht werden, welch epochale politische Zäsur sich mit dem Ende des Ersten Weltkrieges und der Monarchie im Deutschen Reich und mit der Gründung der ersten parlamentarischen Demokratie in Deutschland mitsamt der Verankerung von Grundrechten in der Reichsverfassung verbindet. Sozialpolitische Neuerungen wie z.B. die Einführung des Achtstundentages und des Arbeitslosenversicherungsgesetzes oder der Soziale Wohnungsbau tangieren uns heute wie damals. Das Deutsche Historische Museum wird von März bis voraussichtlich September 2019 eine große Sonderausstellung zur Weimarer Republik auf mehr als 1000 m² zeigen. Zwar stand das Museum in den letzten Jahren immer wieder in der medialen Kritik, zu viele Jubiläumsausstellungen zu präsentieren. Allerdings stieße es national wie international auf Unverständnis, würde das größte Geschichtsmuseum des Landes ausgerechnet den 100. Jahrestag der Gründung der Weimarer Republik mit all ihren verfassungsrechtlichen und politischen Bezugspunkten zu unserer Bundesrepublik Deutschland unbeachtet lassen. Es liegt in der Natur der Sache, dass die Öffentlichkeit von einer Ausstellung im Deutschen Historischen Museum zu einer bestimmten Epoche der Geschichte zumeist eine umfassende Überblicksausstellung erwartet, die keine Fragen unbeantwortet lässt. Manche Besucherinnen und Besucher der für 2019 geplanten Sonderausstellung erwarten vielleicht, die Darstellung zur Weimarer Republik in unserer 2006 eröffneten Dauerausstellung nun in größerem Umfang präsentiert zu bekommen. Es kann aber nicht unser Ansatz sein, die Weimarer Republik in der Sonderausstellung chronologisch und ereignisgeschichtlich in all ihren Facetten nacherzählen zu wollen.   3

Museum für Deutsche Geschichte (Hrsg.) (1918): Weimarer Republik, S. 2.

Das museale Weimar in der Hauptstadt

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Die Ausstellung kann und soll nicht chronologisch aufgebaut sein. Unsere Überlegungen für die Ausstellung 2019 gehen momentan in die Richtung, Weimar nicht nur von seinen politischen Kämpfen und seinem Extremismus aus zu betrachten, sondern die 1920er-Jahre als das wahrzunehmen, was sie waren – zumindest in Großstädten: bunt und laut, bestimmt von Aufbruchsstimmung und kultureller Experimentierfreudigkeit, von ungestillter Vergnügungssucht und neuartiger Freizügigkeit. Wir möchten die erstaunliche Vielseitigkeit in der Alltagskultur zeigen, auch die ausländische – angefangen von amerikanischen Einflüssen bis hin zu der Bedeutung gerade der zehntausenden russischen Exilanten für die Kultur in Deutschland. Aber es gibt nicht nur diese großstädtische Seite, sondern auch die ländliche Gesellschaft, den Alltag der Kleinbürger in den Städten und die Armut, die wir nicht außer Acht lassen dürfen. Die Sonderausstellung möchte den Besucherinnen und Besuchern die Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit der Jahre zwischen 1918 und 1933 näher bringen und von Lebenswelten und der Alltagskultur der Menschen erzählen. Es war eine Zeit des „Nachholbedarfs“ einer in jeglicher Hinsicht ausgehungerten Gesellschaft im Anschluss an einen verlustreichen Krieg. Und was hat das alles mit der politischen Weimarer Republik zu tun? Fast alles, hat sich das Deutsche Reich doch 1919 eine der liberalsten und demokratischsten Verfassungen der damaligen Zeit weltweit gegeben. Die Verfassung und das Land, dessen Grundlage sie war, schufen bei Millionen Deutschen auch einen neuen Zeitgeist, der dafür sorgte, dass Frauen und Männer ungehemmt von hierarchisierten gesellschaftlichen Normen wie zu Wilhelminischer Zeit bisher weitgehend unbekannte Lebensentwürfe ausprobieren und Künstler unbeschwert von Zensur und öffentlichem Kunstgeschmack mit neuen Formen der Bildsprache experimentieren konnten. Insbesondere die „Goldenen Zwanziger Jahre“ sind heute eine Chiffre für dieses neue, auf Grundlage der Weimarer Verfassung entstandene Deutschland – modern, frei, ungezwungen, ein bisschen avantgardistisch und durchaus weltoffen. Vieles davon war von September 2015 bis Januar 2016 in der wunderbaren Ausstellung der Stiftung Stadtmuseum Berlin „Tanz auf dem Vulkan. Das Berlin der Zwanziger Jahre im Spiegel der Künste“ zu sehen. Und doch, diese Ausstellung hätte noch etwas eindringlicher Hinweise auf die politischen und verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen geben können, denn nur dort wo Freiheit dem Gesetz nach gilt, kann sich eine Gesellschaft auch freiheitlich entfalten. Dies, und genau dies muss den Besucherinnen und Besuchern bewusst werden. Wenn wir sie bei ihrer eigenen Lebenswirklichkeit erreichen, nämlich ihrem eigenen Wunsch nach individueller Entfaltungsmöglichkeit frei von Zensur und obrigkeitsstaatlicher Beeinflussung, nur dann werden sie begreifen können, was für ein schützenswertes Gut diese demokratische Weimarer Republik gewesen ist und welche Vielfalt in ihr wuchs. Dann, und auch nur dann werden sich die Besucher (zumal die Schülerinnen und Schüler) darauf einlassen können, sich auch für die Protagonisten dieser Republik zu interessieren, sei es ein Friedrich Ebert oder ein Otto Braun, die Garanten dafür waren, das Staatsschiff auf strikt demokratischen Kurs halten zu wollen. Begleitet werden wird die Ausstellung von einem bunten Rahmenprogramm, wie es bei allen Ausstellungen im Deutschen Historischen Museum der Fall ist. Filmfreunde werden sich auf ein höchst spannendes Filmprogramm in unserem

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Zeughauskino freuen dürfen – mit Filmen aus der Zeit der Weimarer Republik, aber auch mit späteren Spielfilmen über die Epoche. Neben Podiumsdiskussionen sollen wie immer auch Vorträge und Buchvorstellungen organisiert und angeboten werden. In Planung ist ebenfalls eine „Werkstatt für Demokratie“ auf rund 400 m². Hier werden unsere Museumspädagogen vom Fachbereich Bildung und Vermittlung insbesondere für Schulklassen und andere Kinder- und Jugendgruppen, aber auch generationsübergreifende Angebote und Workshops bereithalten, was z.B. für sie Demokratie und Grundrechte bedeuten und wo sie diesen im ganz Alltäglichen begegnen können.

Abbildung 1: Plakat mit Aufruf zum Eintritt in die Eiserne Front Quelle: Deutsches Historisches Museum, Berlin

Mit der Sonderausstellung und den begleitenden Angeboten muss deutlich gemacht werden, dass Demokratie und Parlamentarismus, Verfassung und Grundrechte eben nichts Abstraktes sind, sondern dass dahinter immer Menschen stehen. Diese müssen damals wie heute schnell auf Ereignisse und Veränderungen reagieren und können somit Fehler machen. Als Museum muss es unser Ziel sein, den Besucherinnen und Besuchern anhand von ganz individuellen Beispielen aus dem Alltag zu vermitteln, dass das System der Weimarer Republik trotz mancher Fehler und Unzulänglichkeiten tatsächlich der die Bevölkerung schützende Riese mit schwarz-rotgoldener Fahne hätte sein können, wie es auf diesem Plakat der Eisernen Front von 1931/32 mit der Frage „Wo bleibst du?“ eindrucksvoll zum Ausdruck kommt. Zu sehen ist das Plakat in unserer Dauerausstellung. Sollte sich tatsächlich der ein oder andere Museumsbesucher fragen: Wo bleibe ich bzw. was mache ich eigentlich heute, um die demokratische Grundordnung zu schützen? – dann haben wir als Deutsches Historisches Museum eines unserer Ziele erreicht.

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LITERATUR Blume, Dorlis / Breymayer, Ursula / Ulrich, Bernd (Hrsg.): Im Namen der Freiheit. Verfassung und Verfassungswirklichkeit in Deutschland 1849–1919–1949–1989 (Ausstellungskatalog des Deutschen Historischen Museums). Berlin 2008. Städtisches Museum Erfurt (Hrsg.): Das Erfurter Unionsparlament des Jahres 1850. Führer durch die im März und April 1919 in Verbindung mit einer dem Jahre 1848 gewidmeten Gruppe veranstaltete Ausstellung im städt. Museum zu Erfurt, Erfurt 1919. Museum für Deutsche Geschichte (Hrsg.): Die Weimarer Republik 1919–1933 (Ausstellungskatalog). Berlin (Ost) 1968.

„WEIMAR“ IN WEIMAR – DIE MÜHEN DER EBENE Alf Rößner Weimar – der Name dieser kleinen Stadt in Thüringen ist weltweit ein Begriff. Die Komplexität der kulturellen und politischen Vergangenheit des janusköpfigen Geschichtsortes löst allerdings die unterschiedlichsten Assoziationen sowie individuelle Deutungsmuster aus. In Weimars Kulturgeschichte lassen sich dichtgedrängt überregional bedeutsame Ereignisse oder große Namen finden. In der „Klassikerstadt“ besteht so selbst bei Lukas Cranach d. Ä. († 1553 in Weimar), Johann Sebastian Bach (1708 bis 1717 Hoforganist in Weimar), Franz Liszt (1848–61 und 1869–86 in Weimar) oder Friedrich Nietzsche († 1900 in Weimar) die Gefahr der Degradierung zu „Nebenfiguren“. 1. KLASSIK, BAUHAUS, BUCHENWALD Die zahlreichen in- und ausländischen Besucher Weimars sind in der Regel von einer touristischen Erwartungshaltung vorgeprägt. Im Wesentlichen besteht stetiges Interesse an vier Themenfeldern: Weimarer Klassik (Literaturgeschichte, Aufklärung, Humanismus), Bauhaus (modernes Design), Buchenwald (NS-Diktatur und Widerstand) sowie Nationalversammlung 1919 / Weimarer Republik (erste deutsche Demokratie). Während die Komplexe „Klassik“, „Bauhaus“ und „Buchenwald“ von den beiden ortsansässigen großen Stiftungen (Klassik Stiftung Weimar, Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora) bedient werden, fehlte bisher eine Institution zur Auseinandersetzung mit der Zeitebene von „Weimar“. In der namensgebenden Stadt der ersten staatlichen Demokratie in Deutschland wird das zunehmend als Manko empfunden. Mit der politischen Wende in Ostdeutschland 1989 und der anschließenden Wiedervereinigung wuchs die Erkenntnis der positiven Bedeutung der Nationalversammlung für unsere Demokratiegeschichte stetig.1 Seither gibt es in der „politischen Kulturstadt“ Bestrebungen zur Einbeziehung dieses Kapitels der Weimarer Historie in die touristischen Bildungsangebote. 2. BAULICHE GESCHICHTSZEUGNISSE Die durch die Protagonisten Goethe, Schiller, Herder und Wieland geprägte literaturhistorische Epoche der Weimarer Klassik hinterließ eine eindrucksvolle, heute   1

Siehe hierzu: Dicke / Dreyer (Hrsg.) (2006): Weimar als politische Kulturstadt.

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noch erlebbare und gepflegte Infrastruktur des „goldene Zeitalters“ mit Parkanlagen, Schlössern, Kirchen, Dichterhäusern, Bibliotheken, Grabstätten und zahlreichen Museen. Schon die durch Weimars Anschluss an das Bahnnetz ab 1846 vermehrt in die Stadt „pilgernden“ Bildungsbürger hatten eine touristische Erwartungshaltung in Bezug auf das Bild Alt-Weimars. Der „authentisch-goethezeitliche“ Reiz der berühmten Klassikerstadt ging auch von ihrem bewahrten kleinstädtischen Flair aus. Das in Weimar 1919 von Walter Gropius in Weimar aus der Taufe gehobene „Staatliche Bauhaus“ hat einige, wenn auch nur wenige Spuren hinterlassen. Der Gründungsort wird von der Bauhaus-Universität Weimar genutzt. Das 1923 von Georg Muche entworfene „Musterhaus Am Horn“ ist heute ein Museum. Die bronzene Gedenktafel zur Erinnerung an die Verabschiedung der Verfassung kennzeichnet das Deutsche Nationaltheater als einen Ort der Demokratiegeschichte und verweist zugleich auf das Wirken des Bauhauses, da der Entwurf von Gropius stammt. Dieser zeichnete auch für das expressionistische Denkmal für die Weimarer „Märzgefallenen“ des Kapp-Putsches „Der Blitz“ auf dem Hauptfriedhof verantwortlich. Bis 2018/19 bekommt Weimar ein neues Bauhausmuseum. Die Aura des Gedenkortes Buchenwald, u. a. mit Lagertor, „Bunker“, Appellplatz, Krematorium und Massengräbern, lebt von seiner Authentizität. Das ab 1937 errichtete nationalsozialistische Konzentrationslager, ein Leidensplatz der Ausgrenzung, Zwangsarbeit und tausendfachen Ermordung von Häftlingen, aber auch des Widerstandes und der Befreiung 1945, ist weltweit zu einem Synonym für das in Weimar unmittelbare Aufeinandertreffen von Barbarei und Humanität geworden. Im April 2016 wurde auf dem Ettersberg die neue Dauerausstellung „Buchenwald. Ausgrenzung und Gewalt 1937 bis 1945“ eröffnet. 3. POLITIK, KULTURSTADT UND DIE „MÜHEN DER EBENE“ Bei der angemessenen Umsetzung des Bildungsauftrages im Geburtsort der ersten deutschen Demokratie ergeben sich dagegen zahlreiche Schwierigkeiten. Hier beginnen die „Mühen der Ebene“. Die verfassunggebende Deutsche Nationalversammlung tagte in der Stadt an der Ilm vom 6. Februar bis 21. August 1919. In diesem kurzen Zeitraum von nur einem halben Jahr wurde Bahnbrechendes in der Politik zur Neuordnung Deutschlands geleistet, nämlich die Reichsverfassung erarbeitet und verabschiedet und der Friedensvertrag von Versailles angenommen. Allerdings hat die Tagung in der Stadt nichts an spezifischen Neubauten hinterlassen. Geschuldet durch die Not der Nachkriegszeit und den damaligen hohen Zeitdruck, hat man nur die vorhandene Infrastruktur wie Gaststätten, Hotels, Tagungs- und Versammlungsorte, Flugplatz, Bahnhof, ehemaliges Residenzschloss oder die Post genutzt. Provisorische Ein- und Umbauten, so das Telegrafenamt in der Aula des Sophienstifts in der Nähe des Theaters, wurden später wieder entfernt. Geblieben ist allerdings der im Umfeld des Beginns der Nationalversammlung vom Generalintendanten Ernst Hardt ausgerufene neue programmatische Name des Großherzoglichen Hoftheaters, dann Landestheaters und nun Deutschen Nationaltheaters.

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Durch Umbauten, Kriegszerstörung und verändernden Wiederaufbau ging aber hier die Innenarchitektur des Plenarsaales von 1919 verloren. Eine weitere Schwierigkeit ist die Tatsache, dass die „Weimarer Republik“ zwar 1919 in Weimar hoffnungsvoll begann, sie ihre Höhen und Tiefen aber bis 1933 reichsweit erlebte und natürlich die großen Städte und Ballungszentren besondere Brennpunkte der Ereignisse darstellten. Das programmatische „Weg mit Weimar!“ der braunen Machthaber hallt leider bis heute nach. „Weimar“ wurde zu oft von seinem Ende her betrachtet. Das vorläufige Scheitern der Demokratie, welche die sich anschließende NS-Diktatur, mündend in den Zweiten Weltkrieg, nicht verhindert hatte, dominierte das negativ gefärbte Bild und bot scheinbar hinreichende Gründe für die „Nichtbeachtung“ oder „Abwertung“ der Weimarer Republik. Buchtitel wie „Bonn ist nicht Weimar“,2 „Die großen Krisen 1917-1933“3 oder „Weimar. Die unvollendete Demokratie“4 betonen die pessimistische Sicht. Gestartet war die Republik unter schwierigsten Voraussetzungen: verlorener Weltkrieg, Revolutionsunruhen, Wirtschaftsblockade und hungernde Bevölkerung. Anfangs war noch große Hoffnung vorhanden: Ein im Bundesfilmarchiv aufbewahrtes seltenes Filmdokument („Messter Woche“) zur Nationalversammlung 1919 trägt den Titel: „Der große Tag des deutschen Volkes“.5 Eine Titelillustration von Paul Weber zum Beginn der Weimarer Nationalversammlung in der auflagenstarken Leipziger Illustrirten Zeitung6 drückt ebenfalls große Zuversicht aus. Ein Deutschland verkörpernder Jüngling mit Eichenlaubkranz hält vor sich Steintafeln in Analogie zu den biblischen Gesetzestafeln mit den zehn Geboten. Hier soll die neue rechtsverbindliche Verfassung „für die Ewigkeit“ eingemeißelt werden. Die Nationalversammlung wurde so zu einem Weiheakt mit sakralem Anspruch überhöht. Die Erwartungen waren sehr groß, als am 6. Februar 1919 die verfassunggebende Nationalversammlung in Weimar ihre Arbeit aufnahm. Bedingt durch anhaltende wirtschaftliche Not sowie durch die allgemeine Enttäuschung über den Versailler Vertrag fiel bei ihrer Verabschiedung Ende August 1919 das mediale Echo deutlich verhaltener aus. „Weimar“ litt zwischen 1919 und 1933 dann unter Putschversuchen, Attentaten auf Politiker, Wirtschaftskrisen, Hyperinflation, Massenarbeitslosigkeit, häufigem Wechsel der Regierungen, dem „Ruhrkampf“, Reparationsforderungen des Versailler Vertrages sowie dem Erstarken radikaler linker und rechter Randgruppen. Damals gelang es nicht, breite Bevölkerungsschichten dauerhaft für die Demokratie zu begeistern.

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Allemann (1956): Bonn ist nicht Weimar. Hoffmann (1975): Weltgeschichte. Möller (1993): Weimar. Die unvollendete Demokratie. Bundesarchiv, Film B 69359 Weber, A. Paul: „Die Nationalversammlung in Weimar“. Zeichnung. In: Leipziger Illustrirte Zeitung, 152. Bd., Nr. 3947, 20. Februar 1919, Titelseite.

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4. SONDERAUSSTELLUNGEN IM STADTMUSEUM WEIMAR Die vielfach ungeliebte ‚Demokratie ohne Demokraten‘ war aber viel mehr als nur ‚Zwischenkriegszeit‘. Der parlamentarische Neubeginn nach einem monarchischen Obrigkeitsstaat und einem Weltkrieg war auch ein hoffnungsvolles und mutiges Wagnis, welches nicht zwangsläufig scheitern musste. Diese Erkenntnis verpflichtet nahezu zu einem Bildungsauftrag, so auch mit dem Teil der Dauerausstellung im Stadtmuseum unter städtischer Trägerschaft „Die Geburt der ersten deutschen Demokratie – die Nationalversammlung und die ersten Jahre der Weimarer Republik“ (Kuratorin: Marina Reichardt, 1999). Im Stadtmuseum hat sich in den letzten Jahren das Konzept des Angebots zahlreicher attraktiver und teilweise parallel laufender Sonderausstellungen bewährt. Das Bertuchhaus zeigte zum 90. Jahrestag der Nationalversammlung die Sonderausstellung „Weimar 1919. Chancen einer Republik“ (Kurator: Dr. Justus H. Ulbricht, Gestaltung: Bettina Post, 2009). Vorgestellt wurden der Verlauf der Nationalversammlung, deren Ergebnisse und Chancen.7 Zum 95. Jahrestag des Beginns der Nationalversammlung, aber auch zur Erinnerung an den Ausbruch des Ersten Weltkrieges vor 100 Jahren, ist seit 2014 hier die Ausstellung „Demokratie aus Weimar. Die Nationalversammlung 1919“ zu sehen (Kurator: Dr. Alf Rößner, Gestaltung: Jürgen Postel). Sie wurde zu einem Weimarer Alleinstellungsmerkmal des Museums. Ihr schrittweiser Ausbau, so durch Audio-Guide (2015, deutsch / englisch / französisch) und Begleitbuch (2016, deutsch / englisch), soll kontinuierlich fortgesetzt werden. Daraus ergeben sich wiederum Chancen zur weiteren Profilierung des Stadtmuseums durch klare standortund zielgruppenorientierte Arbeit. Die Ausstellung richtet sich an Vorgebildete wie „Geschichtseinsteiger“ gleichermaßen. Davon künden Gästebucheinträge wie „Demokratiegeschichte hautnah erlebt!“ (27. November 2014) oder „Habe heute erst kapiert, warum die Weimarer Republik ‚Weimarer Republik‘ heißt“ (6. März 2014). 5. ZEIGEROBJEKTE Wie vermittelt man aber in einer Ausstellung das Positive einer weithin stigmatisierten politischen Zeitepoche? „Demokratie hinter Glas“ steht im Widerspruch zu einer heute für Jeden erfahrbaren, gelebten Demokratie. Bei der Überwindung dieser Schwierigkeiten helfen zahlreiche zeitgeschichtliche Originalobjekte, Filme, Plakate, Modelle, Medaillen und Dokumente, die anschaulich das damalige politische Ringen um die Zukunft Deutschlands verdeutlichen. Wichtig ist hierbei die Authentizität der Ausstellungsstücke. Vom Freistaat Thüringen finanzierte LEDStrahler ermöglichen die dauerhafte Präsentation auch von lichtempfindlichen und fragilen Druckerzeugnissen aus dem Jahre 1919. Zeitungen, Flugblätter, Wahlplakate, Passierscheine, Anwesenheitslisten und Fotografien vermitteln so die Aura des Originalen. Nicht die Geschichte der gesamten Weimarer Republik oder deren   7

Ulbricht (Hrsg.) (2009): Chancen einer Republik.

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Vorgeschichte sind Gegenstand der Ausstellung „Demokratie aus Weimar. Die Nationalversammlung 1919“, aber allgemeingültige Tendenzen für die Zeit zwischen 1918 und 1933 und ihre Aktualität bis heute können durch besondere „Zeigerobjekte“ angedeutet werden. Die Stücke in den Vitrinen, welche in ihrer Bedeutung oft mehrere Themenfelder anschneiden und wechselseitig durchdringen, müssen allgemeinverständlich „zum Sprechen“ gebracht werden.8 6. STAHLHELM Der erste weltumspannende moderne und totale Krieg des Industriezeitalters hinterließ von 1914 bis 1918 Millionen Tote und Verwundete, verwüstete Landstriche, vertriebene, verhungerte oder ermordete Zivilisten, instabile politische Verhältnisse sowie zerrüttete Volkswirtschaften. Weltkrieg und Revolutionen hatten den Sturz zahlreicher Monarchien und damit eine tiefgreifende Veränderung der politischen und geographischen Verhältnisse in Europa zur Folge. Bereits 1917 verlor das russische Zarenreich seine Existenz. Die Habsburger dankten 1918 in der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn ab. Das Osmanische Reich ging in den Nachkriegswirren unter. Am 9. November 1918 verzichtete der Hohenzoller Wilhelm II. als deutscher Kaiser und König von Preußen auf den Thron. Diese Ergebnisse des Ersten Weltkrieges, der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ (George F. Kennan), bildeten zugleich die Ausgangslage für die beginnende Demokratisierung im Deutschen Reich. Am Beginn des Rundgangs im Stadtmuseum Weimar ist eine Vitrine mit militärischen Kopfbedeckungen des Weltkrieges zu sehen. Der in den deutschen Schützengräben vor Verdun ab 1916 als Ersatz für die mit feldgrauem Tuchüberzug getarnte „Pickelhaube“ eingeführte „splittersichere“ Helm aus Chromnickelstahl sollte helfen, Kopfverletzungen zu minimieren. Die seitlichen Aussparungen eines 1918 entwickelten Helmtyps kamen der besseren Nutzung von Feldtelefonen oder Kopfhörern zugute – Ausdruck der zunehmenden Technisierung des Krieges, in dem Trommelfeuer, Giftgas, Maschinengewehre und Flammenwerfer zum Einsatz kamen. Der millionenfach produzierte Stahlhelm wurde zu einem Symbol der „Frontkameradschaft“, fand Verwendung in der Revolution 1918, wie in den Freikorps zur Bewachung der Nationalversammlung 1919. Der rechtskonservative und streng republikfeindliche „Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten“ wählte den markanten Helm zu seinem Symbol. Bei dem von den Nationalsozialisten 1933 inszenierten sogenannten „Tag von Potsdam“ waren die Helme der Reichswehr auch als Symbole des deutschen Militarismus zahlreich vertreten.

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Die folgenden Ausführungen zu ausgewählten Zeigerobjekten fußen auf den Katalogexten von Alf Rößner und Andreas Feddersen im Begleitbuch zur Ausstellung: Demokratie aus Weimar. Die Nationalversammlung 1919. Ausstellung des Stadtmuseums Weimar zur Nationalversammlung. Begleitheft. Hrsg. von Alf Rößner im Auftrag der Stadt Weimar. Stadtmuseum Weimar 2015.

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7. ERSATZKAISER Die Euphorie der Augusttage 1914, in denen sich Deutschland in einem gerechten Verteidigungskrieg sah, wich mit zunehmender Dauer des Völkerringens einer allgemeinen Ernüchterung. Hoffnungen auf einen schnellen „Siegfrieden“ hatten sich zerschlagen. Der Stellungskrieg hinterließ Millionen Tote und Verwundete, viele Soldaten kamen in Gefangenschaft, die Bevölkerung an der „Heimatfront“ war kriegsmüde, ausgehungert, demoralisiert und desillusioniert. Jahrelang hatten die Soldaten an der Front und die Frauen an der „Heimatfront“ für den Sieg Deutschlands gekämpft, ihre Gesundheit geopfert, Kriegsanleihen gezeichnet, gelitten und gehungert. Der Mangel an männlichen Arbeitskräften in der Heimat bürdete den Frauen eine immer wichtigere Rolle in der Gesellschaft auf. Sie zogen die Kinder allein groß und arbeiteten hart in den Munitionsfabriken. Deutschland war im November 1918 an den Fronten militärisch besiegt und die auf Kriegsproduktion umgestellte heimische Wirtschaft ruiniert. Viele Angehörige des angeblich an den Fronten unbesiegten Heeres konnten sich die Niederlage nicht eingestehen. Siegeszuversicht, Opferbereitschaft und starker Durchhaltewillen in „Eiserner Zeit“ sollten für sie nicht umsonst gewesen sein. Die Behauptung, die Front sei durch Ungehorsam, Verrat, Streiks und Revolution in der Heimat und durch das Zutun ziviler Politiker zusammengebrochen, fand guten Nährboden im festen kaisertreuen Glauben an „Preußens Glanz und Gloria“. Diese sogenannte „Dolchstoßlegende“ erschwerte erheblich einen demokratischen Neuanfang. In der Ausstellung wird bewusst an markanter Stelle ein Gemälde mit dem Porträt des Generalfeldmarschalls Paul von Hindenburg ausgestellt. Er war konservativer Hoffnungsträger, erst für einen „Siegfrieden“ und dann für die Wiederherstellung der alten Ordnung. Seinen Mythos hatte der Sieg in der Schlacht bei Tannenberg begründet. Der „Schlachtenlenker“ symbolisierte Kaisertreue, Pflichtbewusstsein, Liebe zum Vaterland und den unerschütterlichen Glauben an einen deutschen Sieg. Als „Vaterfigur“ stand er in Krisenzeiten für Altbewährtes, für Kontinuität. Als führender Vertreter der „Dolchstoßlegende“ schadete er der jungen Republik. Nach dem Tode Friedrich Eberts 1925 zum Reichspräsidenten gewählt, übernahm der Monarchist für viele Desillusionierte die Funktion eines „Ersatzkaisers“. Als problematisch erwies sich nun die große Machtbefugnis des Reichspräsidenten. Immer wieder gebrauchte Hindenburg den Notverordnungsartikel 48, mit dessen Hilfe das Parlament Schritt für Schritt entmachtet und schließlich aufgelöst wurde. Der monarchistische Generalfeldmarschall des Ersten Weltkrieges spielte beim Regierungsantritt der Nationalsozialisten 1933 eine unrühmliche Rolle. Kurz nach ihrer Machtübernahme inszenierten diese den sogenannten „Tag von Potsdam“ mit einem Staatsakt und einem publikumswirksamen Treffen von Hitler und Hindenburg in der Potsdamer Garnisonskirche. Durch den symbolhaft aufgeladenen Händedruck wollten die Nationalsozialisten die konservative Wählerschaft für sich gewinnen. Die Veranstaltung in Potsdam 1933 war auch als Gegenentwurf zur Weimarer Nationalversammlung im Deutschen Nationaltheater 1919 gedacht. Von den neuen Machthabern wurden Grundrechte außer Kraft gesetzt, demokratische Symbole wie „SchwarzRot-Gold“ sofort verboten. Dem humanistischen „Geist von Weimar“ wurde nun

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demonstrativ der preußisch-militaristische „Geist von Potsdam“ entgegengestellt. Am Ende des Ausstellungsrundgangs begegnet dem Besucher wieder ein Hindenburgbild, nun auf der NS-Broschüre mit dem programmatischen Titel: „Die Nationalversammlung von Potsdam“.9 8. VOM SATTLERGESELLEN ZUM REICHSPRÄSIDENTEN

Abbildung 1: Blick in die Ausstellung „Demokratie aus Weimar. Die Nationalversammlung 1919“ im Stadtmuseum

Eine Hauptachse in der Ausstellung lenkt den Blick auf ein großformatiges Porträt des Reichspräsidenten Friedrich Ebert, gedacht als Kontrapunkt zum Hindenburgbild. 10 Das Gemälde zeigt den aus bescheidenen Verhältnissen stammenden Friedrich Ebert lebensgroß als ziviles Staatsoberhaupt der Weimarer Republik vor symbolhafter Kulisse: Das Deutsche Nationaltheater (DNT) erhielt seinen Namen als Tagungsstätte der Nationalversammlung im Jahre 1919. Das ehemalige Großherzogliche Hoftheater wurde zu einem wichtigen Ort deutscher Demokratiegeschichte. Neben einer Urkunde, die Reichsverfassung symbolisierend, ist die deutsche Flagge mit den in der Verfassung festgeschriebenen Nationalfarben SchwarzRot-Gold dargestellt. Sie wehte nach Annahme der Verfassung erstmals am 31. Juli 1919 am DNT als Flagge einer staatlichen Demokratie in Deutschland. Auffallend ist der Kontrast zwischen den zwei „Gegenspielern“, dem Zivilisten und dem uniformierten Generalfeldmarschall. Die heutigen Bundespräsidenten tragen in Analogie zu Friedrich Ebert mit Selbstverständlichkeit allesamt Zivil, wobei auch die Erinnerung an den unrühmlichen „Kaiserersatz“ Hindenburg mahnt.   9 o.A. (1933): Die Nationalversammlung von Potsdam. 10 Weidenbach, Dieter M. nach Emil Orlik: Bildnis des Reichspräsidenten Friedrich Ebert vor dem Nationaltheater in Weimar. Öl auf Leinwand, 2013. (Standort des Originals von 1920: Bundespräsidialamt Berlin).

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9. „FRAUEN UND SOLDATEN ZUM ERSTEN MALE ALS WAHLBERECHTIGTE“11 In der Novemberrevolution des Jahres 1918 hatte sich die allgemein vorherrschende Verbitterung über die Führung von Staat und Armee entladen. Der entbrannte Machtkampf zwischen radikalen Sozialisten und liberaleren, reformorientierten Kräften wurde bis zum Jahresbeginn 1919 zugunsten der Befürworter einer parlamentarischen Demokratie entschieden und die Revolution damit beendet. Bereits Anfang November 1918 forderten die SPD und Vertreter bürgerlicher Parteien freie, gleiche, direkte und geheime Wahlen zur Einberufung einer Nationalversammlung. Diese Wahl zur Weimarer Nationalversammlung war die erste deutschlandweite Wahl nach der Abdankung der deutschen Bundesfürsten, die erste Wahl für eine parlamentarische Demokratie und die erste Wahl nach dem Verhältniswahlsystem. Es sah vor, dass die Wähler ihre Kandidaten über Listen wählen konnten. Mit ausreichendem Stimmenanteil kamen diese dann als Abgeordnete in die Nationalversammlung. Neu war auch, dass das Wahlalter von 25 auf 20 Jahre gesenkt wurde und mit dem erstmals gewährten Wahlrecht für Frauen und Soldaten, welche bisher aufgrund ihres Treueeids gegenüber dem Kaiser keine Stimmen abgeben konnten, mehr Menschen stimmberechtigt waren, als jemals zuvor: über 36 Millionen Deutsche kamen an die Wahlurnen. Der Erste Weltkrieg hatte die Situation für Frauen durch die kriegsbedingte Abwesenheit der Männer verändert. Auch durch die aktive Rolle an der „Heimatfront“ wurde der Weg zur Teilnahme an den Wahlen zur ersten parlamentarischen Demokratie geebnet. Das Frauenwahlrecht ist heute eine politische Selbstverständlichkeit. Und nicht nur das aktive, sondern auch das passive Wahlrecht, das Recht gewählt zu werden, wurde sofort genutzt: 300 Frauen kandidierten. Fast 83 Prozent der Wahlberechtigten beteiligen sich damals an der Wahl. Eine Postkarte aus dem Bestand des Stadtmuseums Weimar vermittelt eindrucksvoll das bahnbrechend Neue am Frauenwahlrecht: Fotografiert sind zwei der in Weimar als Kindergärtnerinnen überaus populär gewesenen Schwestern Schellhorn im hohen Alter von über 80 Jahren. Die Erstwählerinnen hatten als Schmuck für den festlichen Anlass der Teilnahme an der Wahl 1919 ihre Auszeichnungen für Lazarettdienst und Truppenbetreuung aus dem deutsch-französischen Krieg 1870/71 angelegt. Die damalige hohe Wahlbeteiligung zeigte das starke Interesse der Menschen an einer Mitgestaltung ihrer Zukunft, leider im Gegensatz zu sinkenden Beteiligungen an Wahlen der Gegenwart. Das Thema „demokratische Mitbestimmung“ in Geschichte, Gegenwart und Zukunft verlangt geradezu nach Einbeziehung der Besucher der Ausstellung. Eine Wahlkabine ermöglicht es den Benutzern, sich über die am 19. Januar 1919 wählbaren Parteien und ihre Programme zu informieren und anschließend ihr persönliches Votum per Tastatur abzugeben. In der Medienstation werden die Ergebnisse aller Besucher sofort statistisch ausgewertet, was wiederum hilft, ein sperriges Thema anschaulich aufzubereiten und Gegenwartsbezüge herzustellen.   11 Die Woche, 21. Jg., Nr. 3 u. 4, Berlin, 25. Januar 1919, S. 59.

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10. „VON BERLIN GEFLÜCHTET“ Die Nationalversammlung trat am 6. Februar 1919 unter strengen Sicherheitsvorkehrungen in Weimar zu ihrer konstituierenden Sitzung zusammen. Die Versammlung wurde mit der Wahl von Reichspräsident und Reichsregierung beauftragt. Zum ersten Reichspräsidenten wählte die Nationalversammlung Friedrich Ebert (SPD). Die wichtigste Aufgabe der „verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung“ war die Ausarbeitung und Verabschiedung einer neuen demokratischen Verfassung. Weiterhin galt es, dringend notwendige Gesetze zu beschließen und einen Friedensvertrag mit den ehemaligen Kriegsgegnern zu vereinbaren. Weimar war auch deshalb als Tagungsort ausgesucht worden, weil die Reichshauptstadt Berlin als Großstadt militärisch wie politisch zu unsicher schien. Ein Ausweichen vor unberechenbaren revolutionären Unruhen, vor Attentaten, Streiks und Massenkundgebungen schien unabdingbar. Diese Aussage wird auch durch einen Weimarer Gästebucheintrag des Zentrumspolitikers und Präsidenten der Nationalversammlung, Konstantin Fehrenbach, bestätigt: „Von Berlin geflüchtet, haben wir hier eine sichere trauliche Stätte gefunden. Mögen dem schönen Weimar und unserem lieben Vaterland bald bessere Tage werden!“12 In der zentral im Reich gelegenen, gut absperrbaren thüringischen Kleinstadt Weimar gab es kaum Industrie und somit auch nur wenig Proletariat. Gute Verkehrs-Infrastruktur und vorhandene Hotels zur Unterbringung von Abgeordneten, Reichsregierung, Journalisten, Diplomaten, Soldaten, Polizisten usw., sowie ein geeigneter Tagungsort mit feststehender Bestuhlung ließen Weimar als geeignet erscheinen. Eine spätere Berufung auf den klassischen, humanistischen „Geist von Weimar“ sollte die Wandlung der politischen Kultur sichtbar machen. Durch dieses außenpolitische Zeichen erhoffte man auch bessere Friedensbedingungen für Deutschland. 11. „MEHR LICHT“ Ein letztlich nach einem Wettbewerb nicht umgesetzter Briefmarkenentwurf auf die Nationalversammlung 1919 des Jugendstilkünstlers Marcus Behmer stellte mit dem Porträt Goethes und seinen angeblich letzten Worten „Mehr Licht“ eine deutliche Beziehung zwischen Weimarer Klassik und erhoffter demokratischer Zukunft her. Selbst auf einer Werbepostkarte des rechtsgerichteten Freikorps der „Freiwilligen Landesjäger“ fand neben den alten Reichsfarben Schwarz-Weiß-Rot ein Zitat aus Wallensteins Lager von Friedrich Schiller Verwendung: „Wer’s nicht edel und nobel treibt, lieber weit von dem Handwerk bleibt!“13 Für die Linken war es ein „Pakt mit dem Teufel“ und „Arbeiterverrat“, den Friedrich Ebert mit General Wilhelm   12 Erster Eintrag im Gästebuch des Gasthauses „Zum weißen Schwan“ vom 30. März 1919 (Gäste-Buch des Gasthaus[es] zum weissen Schwan in Weimar. Karl Ziege. goldgeprägter Ganzleder-Handeinband mit Messingknöpfen von W. Voigt, Weimar, Stadtmuseum Weimar) 13 Postkarte, gem. von Hermann Nernst, nach Angabe von Walter Spangenberg, Verlag: Walter Spangenberg, Weimar, Druck: R. Wagner Sohn, Weimar, „Der freiwillige Landesjäger als Schutz der Nationalversammlung.“

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Groener bereits am 10. November 1918 eingegangen war: Der zweithöchste Offizier der Obersten Heeresleitung hatte Ebert die Loyalität der Armeeführung bei der Wiederherstellung von „Ruhe und Ordnung“ zugesichert. Als Bedingung musste die Revolutionsregierung die innere Autonomie des Militärs respektieren. Die neue Reichsregierung war auf zuverlässige Streitkräfte angewiesen, um die Fronttruppen geordnet in die Heimat zurückzuführen und um die parlamentarische Demokratie gegen eine antidemokratische Minderheit durchzusetzen. Eine Anfangshypothek der Weimarer Republik bestand darin, dass die Verteidigung der jungen Demokratie mit Kräften durchgesetzt werden sollte, welche die neue Ordnung ablehnten.

Abbildung 2: Postkarte gem. von H[ermann]. Nernst nach Angabe von W[alter]. Spangenberg. Verlag: Walter Spangenberg, Weimar. Druck: R. Wagner Sohn, Weimar. „Der freiwillige Landesjäger als Schutz der Nationalversammlung.“ Aufschrift: „Wer’s nicht edel und nobel treibt, lieber weit von dem Handwerk bleibt!“[Schiller, Wallensteins Lager]

12. EIN VERHÄNGNISVOLLER GÄSTEBUCHEINTRAG Die Kleinstadt Weimar ermöglichte den Parlamentariern ein ruhiges, konzentriertes Arbeiten. Kurze, meist fußläufige Wege ermöglichten auch einen häufigen persönlichen Austausch unter den Abgeordneten. Man traf sich oft in den Traditionsgaststätten der Goethestadt, um den wohlverdienten Feierabend zu genießen. Die in den Versailler Vertrag mündenden Friedensverhandlungen stellten für die Nationalversammlung eine Zerreißprobe dar. Es bestand bei Ablehnung des „Diktats“ die reale Gefahr der Wiederaufnahme von Kampfhandlungen. Bei der geforderten bedingungslosen Zustimmung befürchtete man den wirtschaftlichen Ruin für das ohnehin moralisch gedemütigte deutsche Volk. In dieser bewegten Zeit wurde im Gästebuch der Weinstube „Goldener Adler“ in der Weimarer Marktstraße, einem der beliebtesten Lokale zur Zeit der Nationalversammlung, ein Spruch eingetragen, der seinem Urheber später zum Verhängnis werden sollte: „Erzberger hat es fertig ge-

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bracht, in diesen entsetzlichen Tagen in das Fremdenbuch einer Weinstube in Weimar den Spruch einzutragen: ‚Erst schaff‘ Dein Sach‘, dann trink‘ und lach‘.“14 Der Spruch war unverfänglich gemeint: Nach getaner harter Arbeit hatte man sich redlich den Feierabend verdient. Geschrieben vom Reichsfinanzminister Matthias Erzberger und von seinen Gegnern und Feinden der Demokratie im rechtskonservativen Lager böswillig und sinnentstellend ausgelegt, verbreitete sich die Nachricht über diesen Eintrag in Zeiten garantierter Pressefreiheit aber wie ein Lauffeuer. Der Zentrumspolitiker war als Leiter der Waffenstillstandskommission in Compiègne bei Paris der deutsche Unterzeichner des Waffenstillstandes von 1918. Die Oberste Heeresleitung wollte nicht die Verantwortung für die militärische Niederlage übernehmen. Der Realpolitiker galt bei den Verfechtern eines „Siegfriedens“ fortan als Vaterlandsverräter. Erzberger, Zielscheibe von zahlreichen Hetzkampagnen, wurde auch als Befürworter der Annahme des Versailler Vertrages von den Vertretern der „Dolchstoßlegende“ verleumdet und am 26. August 1921 von zwei rechtsradikalen ehemaligen Offizieren auf einem Spaziergang im Schwarzwald ermordet. 13. DIE ERSTE ZIVILE FLUGLINIE DEUTSCHLANDS UND DER WELT Die Führung der SPD um Friedrich Ebert wollte die Kriegsfolgen sowie den Neuaufbau des Landes notgedrungen unter Einbeziehung der kaiserlichen Bürokratie und der alten Militärs bewältigen. Damit deutete sich ein Geburtsfehler der politischen Ordnung der Weimarer Republik bereits zu Beginn an: Die zum Aufbau wohl benötigten Eliten aus Justiz und Verwaltung des alten Machtapparates waren selbst meist antidemokratisch eingestellt und wurden später mit zu Totengräbern der jungen Republik. Auch beim Aufbau der ersten zivilen Luftfahrtlinie Deutschlands von Berlin-Johannisthal über Leipzig nach Weimar (Flugplatz am Webicht), welche am 5. Februar 1919 eröffnet wurde, musste man auf hochdekorierte Offiziere von den Fronten des Weltkrieges zurückgreifen. Durch die Nutzung des Luftverkehrs vor allem für die Post- und Personenbeförderung kündigt sich bereits die enorme Technikbegeisterung der Weimarer Republik an. 14. „MEINE HERREN UND DAMEN!“ Der Weimarer Nationalversammlung gehörten 421 Abgeordnete an. Darunter befanden sich erstmals auch 37 Frauen. Eine von ihnen war das Mitglied der SPDFraktion und spätere Gründerin der Arbeiterwohlfahrt Marie Juchacz. Sie sprach am 19. Februar 1919 als erste Frau in der deutschen Geschichte gleichberechtigt vor einem deutschen Parlament. Die Sozialreformerin und Frauenrechtlerin begrüßte damals die Anwesenden mit der Anrede: „Meine Herren und Damen!“ In den stenographischen Protokollen der Nationalversammlung ist als Reaktion aus   14 Maercker (1921): Vom Kaiserheer zur Reichswehr, S. 291.

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dem Publikum „Heiterkeit“ überliefert.15 Der bedeutenden Politikerin und Frauenrechtlerin zu Ehren heißt der Plenarsaal des Weimarer Stadtrates seit dem Jahre 2009 „Marie-Juchacz-Saal“. Zur Erinnerung an das geschichtsträchtige wie gleichermaßen zukunftsorientierte Ereignis der Verabschiedung der Weimarer Verfassung am 31. Juli 1919 wurde eine Gedenkmedaille aus Bronze nach einem Entwurf von Heinrich Wadere gegossen. Für das Bildnis „eines jungen Arbeiterweibs mit einer leichten Sorgenlinie als Verkörperung der Arbeit, der Jugend, der Zukunft, der Schönheit, des Frauenwahlrechts u. der Sorge“16 stand die Abgeordnete Marie Juchacz Modell. Die Darstellung orientiert sich an der „Marianne“ – der Nationalfigur der französischen Republik und einem Symbol der Freiheit. Auf der Rückseite wird das Rutenbündel (Fascis) der Amtsträger der römischen Republik mit einer flammenden Fackel kombiniert. 15. GROßHERZOGLICHES HOFTHEATER, LANDESTHEATER, DEUTSCHES NATIONALTHEATER Bereits am 19. Januar 1919, dem Tag der Wahlen zur Nationalversammlung, Weimar war als späterer Tagungsort noch nicht bekannt, hatte der neue Generalintendant Ernst Hardt das Landestheater und vormalige Großherzogliche Hoftheater zum „Deutschen Nationaltheater“ deklariert. Als geeigneten Tagungsort der Nationalversammlung wählte man den Zuschauerraum mit fest montierten Sitzplätzen sowie die Ränge und die Bühne des Theaters. In großer Eile wurde der Bau den neuen Bedürfnissen angepasst: Die Sitzreihen im Parterre wurden durch Gänge für die einzelnen Fraktionen unterbrochen. Für das Podium nutzte man extra aus Berlin herangeschafftes repräsentatives Gestühl des Reichstages. Ein roter Teppich schmückte nun die Bühne, auf der die Regierungsvertreter, die Vertreter der Länder sowie das Präsidium Platz nahmen. Das Foyer diente den Abgeordneten in den Pausen zur Erholung. Die Nebenräume wurden zu Besprechungs-, Bibliotheks- und Leseräumen. Für die nationale und internationale Presse wurden die erste Reihe des ersten Rangs sowie der gesamte zweite Rang vorgesehen. Die Garderoben in den Rängen baute man zu Telefonzellen um. Die Eintrittskarten für Zuschauer auf dem ersten und dritten Rang waren sehr begehrt. Vom 6. Februar bis 21. August 1919 fanden im DNT 86 Sitzungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung statt. Die 1908 fertiggestellte schlichte neuklassizistische Fassade des Nationaltheaters gilt heute schlechthin als „ein Symbolbau der ‚Weimarer Republik’“.17 Der Stil des Neoklassizismus galt mit Blick auf die Antike ohnehin als „de  15 Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Stenographische Berichte (Sten. Ber.), Bd. 326. Von der 1. Sitzung am 6. Februar 1919 bis zur 26. Sitzung am 12. März 1919. Berlin 1920, S. 177. 16 Conrad Haußmann. Zit. n.: Wilderotter / Dorrmann, (1999): Wege nach Weimar, S. 35f. 17 Hecht (2005): Streit um die richtige Moderne, S. 33.

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mokratisch“. In zahlreichen künstlerischen Darstellungen wurde der Theaterbau daher als ‚Ikone der Demokratie‘ gefeiert. Am Ostgiebel des Theaters wurden am 31. Juli 1919 die mit Verabschiedung der Verfassung in diesem Hause beschlossenen schwarz-rot-goldenen Farben zum ersten Mal als deutsche Staatsflagge gehisst. Der Architekt Walter Gropius wurde am 11. April 1919 zum Direktor des Staatlichen Bauhauses in Weimar berufen und damit zum Gründer einer Einrichtung, die als moderne Kunstschule für Gestaltung Weltbedeutung erlangte. Gropius erhielt Ende Oktober 1920 von der Gebietsregierung den Auftrag zum Entwurf einer Gedenktafel zur Erinnerung an die Verabschiedung der ersten demokratischen Verfassung Deutschlands durch die Nationalversammlung. Das seltene Zeugnis der Geschichte des Weimarer Bauhauses an der Ostseite des Deutschen Nationaltheaters wurde in der Glockengießerei Gebrüder Ulrich in Apolda gegossen. Man enthüllte die Bronzetafel am dritten Jahrestag der Verfassungsverabschiedung (Verfassungstag), dem 11. August 1922. Auch eng mit dem Bauhaus verbundene Weimarer Künstler wie Max Thalmann und Max Nehrling schufen auflagenstarke „Offizielle Postkarten“ zur würdevollen Erinnerung an die Nationalversammlung.

Abbildung 3: Offizielle Postkarte. Deutsche Nationalversammlung in Weimar 1919. Entwurf: Max Nehrling, Weimar. Verlag der Buchbinder-Innung, Weimar. Druck: Reineck & Klein, Weimar.

16. „WEG MIT WEIMAR!“ Den Brandruf „Weg mit Weimar“ plakatierte bereits 1924 der Bayernbund. Die Erinnerung an die Demokratie von Weimar war den Nationalsozialisten ein Dorn im Auge. Die Kulturstadt Weimar war für sie von besonderer symbolischer und strategischer Bedeutung. Sie wollten von Anfang an die ihnen verhasste Republik beseitigen, deren Gründung eng mit der Stadt und ihrem Namen verbunden war und die Kultur für ihre Zwecke vereinnahmen. 1926 hielten sie ihren ersten Reichsparteitag nach der Neugründung der NSDAP in Weimar ab, am Entstehungsort der

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Demokratie, im Deutschen Nationaltheater. Um es für ihre Zwecke zu instrumentalisieren, stand das Theater auch nach 1933 im Zentrum des Interesses der neuen Machthaber. Sie demontierten die Verfassungs-Gedenktafel im Jahr der Machtübernahme. Noch im Kriegsjahr 1940 erfuhr das Theater hauptsächlich im Inneren massive Umgestaltungen. Zum Versuch der Tilgung der Erinnerung an einen herausragenden Ort deutscher Demokratiegeschichte gehörte nunmehr auch die Aufstellung einer „Führerbüste“. Eine Fotografie vom Juni 1942 zeigt das zum Schutz vor Fliegerangriffen eingemauerte Goethe- und Schiller-Denkmal. Das DNT im Hintergrund wurde mit Hakenkreuzfahnen beflaggt. Das Deutsche Nationaltheater schloss im September 1944. Nach einem Luftangriff am 9. Februar 1945 brannte es aus. Der von deutschem Boden ausgegangene Krieg war zurückgekommen. Erst nach 1945 fand die Erinnerungstafel zu Ehren der Verfassung wieder ihren ursprünglichen Platz an der Fassade des wiederaufgebauten Theaters. 17. „DEN SCHÜLERN UND SCHÜLERINNEN ZUR SCHULENTLASSUNG“ „Nirgends in der Welt ist die Demokratie konsequenter durchgeführt als in der neuen deutschen Verfassung […] Die deutsche Republik ist fortan die demokratischste Demokratie der Welt.“18 Artikel 148 der Weimarer Verfassung bestimmte u. a., dass die Verfassung jedem Schüler bei Beendigung seiner Schulpflicht überreicht wurde – ein Versuch der Erziehung der Jugendlichen zu demokratischen Staatsbürgern. Ein schwarzer Adler als Wappentier des Deutschen Reiches wurde auch in der Weimarer Republik beibehalten. Entwürfe stammten u. a. von Emil Döpler d. J. Krone, Brustschild und Ordenskette als Zeichen der Monarchie entfielen. Ein Entwurf des Expressionisten Karl Schmidt-Rottluff für das Wappentier aus dem Jahre 1920 ging auf die Anregung des aus Weimar stammenden Reichskunstwarts Edwin Redslob zurück, der auch für die Ausgestaltung der Feiern zum Verfassungstag (seit 1921 Nationalfeiertag, 11. August 1922 erste Verfassungsfeier) verantwortlich zeichnete. Der neue Adler fand kaum Befürworter. Als „erschrockener Papagei“ kritisiert, wurde der Vogel eher als Karikatur empfunden und fand keine weitere Verwendung. Die in der Weimarer Republik entwickelte Symbolik prägt heute wieder die bundesdeutsche Gegenwart: Der ab 1928 verwendete Reichsadler entspricht dem Bundesadler der Bundesrepublik ab 1950 (Bundeswappen Deutschlands).

  18 Dr. Eduard David, Reichsminister des Innern. In: Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Sten. Ber, Bd. 329, 71. Sitzung, 31. Juli 1919, S. 2195.

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18. DIE FARBEN DER DEMOKRATIE Am 2. Juli 1919 wurde in der Nationalversammlung über die zukünftigen Nationalfarben Deutschland debattiert. Die Festlegung der neuen Reichsfarben war mit einer der heftigsten Kontroversen der jungen Republik verbunden. Im sogenannten „Flaggenstreit“ offenbarte sich die tiefe politische Spaltung des Landes. Die langwierigen Auseinandersetzungen um die Symbolik des Reiches wurden deshalb so erbittert geführt, weil die Parteien mit den unterschiedlichen Farben ihre jeweiligen Überzeugungen verbanden. Die schwarz-weiß-rote Flagge stand für ein starkes und einiges Kaiserreich. Unter diesem Symbol der Monarchie war man im patriotischen Taumel 1914 in einen vermeintlichen Verteidigungskrieg gezogen und hatte große Opfer gebracht. Befürworter der roten Fahne als Banner der sozialistischen Revolution lehnten sie vehement ab. Die Redner von SPD und Zentrum sprachen sich für Schwarz-Rot-Gold, DVP und DNVP hingegen für die alten Farben des Kaiserreichs aus. Die USPD verlangte für Deutschland die rote Fahne als Zeichen der Revolution. Bei der DDP trat zwar die Mehrheit für die bisherige Flagge ein, aber eine große Minderheit sprach sich für die neuen Farben aus. Auf eine eindeutige Empfehlung konnte sich der Verfassungsausschuss nicht einigen. Die Verfassung enthielt im Artikel 3 dann den Kompromiss: „Die Reichsfarben sind schwarz-rotgold. Die Handelsflagge ist schwarz-weiß-rot mit den Reichsfarben in der oberen inneren Ecke.“ Die mehrheitlich beschlossenen neuen Farben mit Verfassungsrang wurden zu einem Synonym für das neue, demokratische Deutschland. Von den Nationalsozialisten diffamiert und ab 1933 verboten, wurde „Schwarz-Rot-Gold“ mit der Verkündung des Bonner Grundgesetzes am 23. Mai 1949 zu den alleinigen Farben der Nationalflagge der Bundesrepublik Deutschland bestimmt. Nach den Ereignissen in Leipzig (friedliche Revolution 1989) und Berlin („Mauerfall“ 1989) gilt sie seit 1990 als Flagge des wiedervereinigten Deutschlands.

Abbildung 4: Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (mit schwarz-rot-goldenem Einband). Kevelaer 1949

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19. SCHWARZ-ROT-GOLDENES „FUßBALL-SOMMERMÄRCHEN“ Auch die Demokratie brauchte und braucht Identifikationssymbole. Zu welcher Farbe bekennt man sich? Der Reichsminister des Innern, Dr. Eduard David (SPD), äußerte über „Schwarz-rot-gold als Reichsfahne“: „Wir müssen es doch erreichen, ein Symbol zu haben, zu dem sich mit Freuden das ganze Volk bekennt.“19 Der deutsch-französische Politikwissenschaftler Alfred Grosser hatte mit den schwarzrot-goldenen Fahnen zur Fußball-WM 2006 kein Problem: „Ist doch schön: Das sind schließlich die Farben des Hambacher Fests und der Weimarer Republik.“20 Als sich Deutschland im „Fußball-Fieber“ der Weltmeisterschaft 2006 befand, bekannte man sich allerorts wieder zu den deutschen Nationalfarben, u. a. auf allerlei „Fan-Artikeln“. Steht „Schwarz-Rot-Gold“ für ein einendes Nationalgefühl oder für abgrenzenden Nationalismus? Der eher „unverkrampfte“ Umgang mit den Nationalfarben, bedingt durch das einende „Wir-Gefühl“ eines großen Sportereignisses, galt vielen als glückliche Rückkehr zu einer deutschen Identität. Wie politisch sind aber die „deutschen Fußballfarben“? Oftmals wird vergessen, dass die Flagge, für welche Demokraten kämpften und starben, eine lange Tradition hat. Mit „Schwarz-Rot-Gold“ war 1817, 1832, 1848/49, 1919, 1949 und 1989/90 immer das Bekenntnis zur Freiheit, zur Einheit, zur Demokratie und zur Republik verbunden. Unter der nationalsozialistischen Diktatur waren die demokratischen Farben streng verboten. Unsere heutige gesamtdeutsche Flagge ist das Bindeglied zwischen der bürgerlichen Demokratiebewegung des 19. Jahrhunderts, der Weimarer Republik und der Gegenwart. Die Nationalfarben stehen für ein demokratisches Deutschland in einem zusammenwachsenden Europa. 20. DEMOKRATIE LEHREN UND LERNEN Der Meilenstein „Weimar“ gehört in die „Perlenkette“ deutscher Demokratie-Geschichte, wenn man die Republik vom Anfang her denkt und als Chance begreift, bei der das Scheitern nicht zwangsläufig vorprogrammiert war.21 Die bundesdeutsche politische Aktualität in einem vereinigten Europa wurzelt auch in Weimar. Somit ist die Klassikerstadt auch ein Ort der Demokratie-Gegenwart. Das GoetheZitat aus Fausts letzten Worten: „Das ist der Weisheit letzter Schluß: Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, Der täglich sie erobern muß“ hat seine Aktualität behalten. Die Ausstellung „Demokratie aus Weimar. Die Nationalversammlung 1919“ möchte einen Beitrag zur Vorbereitung des 100jährigen Jubiläums im Jahre 2019 leisten: Das Stadtmuseum Weimar soll zu einem lebendigen Kommunikations- und Bildungszentrum vor allem für Schulklassen ausgebaut werden, zu einem Ort der   19 Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Sten. Ber., Bd. 327, 44. Sitzung, 2. Juli 1919, S. 1225. 20 Zit. n.: Brandt (2013): Europäer. 21 Siehe hierzu: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.) (2009): Die Weimarer Verfassung.

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Demokratieforschung, an dem die Geschichte der Demokratie vermittelt und deren Chancen und Bedrohungen in der Gegenwart analysiert werden, um die Zukunft vorzubereiten. Aus „Weimar“ zu lernen heißt auch, verantwortungsvoll eine mündige Jugend politisch zu bilden. Der „Gedenkort“, „Denkort“ und „Lernort“ Weimar ist als authentische Geschichtsstätte mit überregionaler Ausstrahlung für die Wissensvermittlung besonders geeignet. In einem für die Museumspädagogik nutzbaren „Theaterraum“, in seiner Gestaltung angelehnt an den Plenarsaal im Deutschen Nationaltheater, können von Schulklassen parlamentarische Debatten nachgespielt werden. Hier soll die Aktualität von „Weimar“ angemahnt und Demokratie als Prozess vermittelt werden. Damalige Instabilitäten und Krisen kann man immer mit Gegenwartsbezug analysieren. Wichtig für das Angebot von breitgefächerten museumspädagogische Begleitprogrammen ist die Zusammenarbeit mit Institutionen der Jugendbildung sowie der politikwissenschaftlichen und historischen Forschung, wobei an erster Stelle der Verein „Weimarer Republik“ zu nennen ist. Chancen für das Stadtmuseum Weimar ergeben sich auch aus der Vernetzung auf einer entstehenden „Museumsmeile“, von der Weimarer Kunsthalle „Harry Graf Kessler“ bis zum neuen Bauhausmuseum. Ein Gästebucheintrag (6. Januar 2015) stimmt optimistisch, dass sich die Überwindung der „Mühen der Ebene“ lohnt: „Danke, es lebe die Demokratie.“ LITERATUR Allemann, Fritz René: Bonn ist nicht Weimar. Köln / Berlin 1956. Brandt, Sabine: Ein Europäer und Schwarz-Rot-Gold. In: Thüringer Allgemeine. Weimarer Allgemeine, 28.11.2013. Dicke, Klaus / Dreyer, Michael (Hrsg.): Weimar als politische Kulturstadt. Ein historisch-politischer Stadtführer. Berlin 2006. Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.): Die Weimarer Verfassung – Wert und Wirkung für die Demokratie. Hrsg. von der Friedrich-Ebert-Stiftung, Landesbüro Thüringen. Erfurt 2009. Hecht, Christian: Streit um die richtige Moderne. Henry van de Velde, Max Littmann und der Neubau des Weimarer Hoftheaters. Hrsg. vom Kreis der Freunde und Förderer des Stadtmuseums Weimar mit Unterstützung der Stadt Weimar. (Weimarer Schriften, Heft 59), Weimar 2005. Hoffmann, Joachim: Die großen Krisen 1917–1933. Bilder aus der Weltgeschichte. Historische Szenen, Quellen und Begriffe. Hrsg. von Rudolf Stielow. 6. Aufl., Frankfurt a.M. / Berlin / München 1975. Maercker, Georg: Vom Kaiserheer zur Reichswehr. Geschichte des freiwilligen Landesjägerkorps. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Revolution. 2. Aufl., Leipzig 1921. Möller, Horst: Weimar. Die unvollendete Demokratie. Deutsche Geschichte der neuesten Zeit vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hrsg. von Martin Broszat, Wolfgang Benz und Hermann Graml in Verbindung mit dem Institut für Zeitgeschichte, München. 4. Aufl., München 1993. o.A. Die Nationalversammlung von Potsdam. Deutschlands große Tage. 21. bis 23. März 1933. Mit verbindendem Text von Hans Wendt. Berlin 1933. Rößner, Alf (Hrsg.) Demokratie aus Weimar. Die Nationalversammlung 1919. Ausstellung des Stadtmuseums Weimar zur Nationalversammlung. Begleitheft. Hrsg. im Auftrag der Stadt Weimar. Weimar 2015.

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Ulbricht, Justus H. (Hrsg.): Weimar 1919. Chancen einer Republik. Hrsg. im Auftrag der Stadt Weimar. Begleitband zur Ausstellung „Weimar 1919 – Chancen einer Republik“ der Stadt Weimar. Köln / Weimar / Wien 2009. Wilderotter, Hans / Dorrmann, Michael (Hrsg.): Wege nach Weimar. Auf der Suche nach der Einheit von Kunst und Politik. Eine Ausstellung der Regierung des Freistaats Thüringen in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Historischen Museum Berlin. Berlin 1999.

ES „WEIMART“ SCHON SEHR. Hinweise auf ein Verbundprojekt im Westen anlässlich der Jubiläen von „Bauhaus“ und „Weimarer Republik“ Thomas Schleper Trotz immer neuer Museumsgründungen, heißlaufenden Ausstellungsbetriebs und insgesamt steigender Besuchszahlen, doch bereits seit langem konfrontiert mit wachsenden Kosten und Konkurrenzen, kämpfen Museen um die Aufmerksamkeit des Publikums. Das freundet sich nämlich zunehmend mit anderen Medien der Bildung wie der Unterhaltung an und zwingt zu Innovationsoffensiven. Wie demokratisch zugänglich können heute die traditionsbelasteten Bildungseinrichtungen sein, wollen und können oder sollten sie doch nicht mehr wie einst als Stätten bürgerlicher Selbstanbetung figurieren?1 Wie barrierefrei, integrativ und interaktiv sollen sie werden, um auch in Zukunft ihren Bildungsauftrag zu erfüllen bzw. dafür noch genügend Anerkennung zu erfahren: angesichts kursierender Schlagworte von der „unendlichen Gegenwart im Digitalen Zeitalter“?2 Was können Museen heutzutage besser als andere Anbieter? Worin liegt ihr „Versprechen“?3 Ähnlich wurde in der Weimarer Republik, und zwar erstmals mit systematisch museumspädagogischem Anspruch, gefragt.4 Insofern brennt das Thema Weimar aus mehreren Gründen auf den Nägeln. 1. BAUHAUS AN RHEIN UND RUHR „Wiege, Labor und Metropole der Moderne“. In diesem Dreiklang treten Weimar, Dessau und Berlin mit starker Geste auf, um das Gedenkjahr der deutschen Weltmarke „Bauhaus“ als Zentralakkord der Moderne zu begehen. Neil MacGregors „Deutschland. Erinnerung einer Nation“ beginnt beim Thema Bauhaus ebenfalls mit einer Wiege. Es ist die von Peter Keler. So beschwört der englische Freund des Bauhauses den Geist desselben als „Verbindung von philosophischen, technischen, praktischen, geistigen, sozialen und ästhetischen Fragen“.5 Deren Attraktivität lässt,   1 2 3 4 5

Vgl. Kohl (2003): Macht der Dinge, S. 260. Vgl. Apel (2015): Mehr Wissen; Belinda (2015): Unendliche Gegenwart. Vgl. Gropp / Voss (2016): Mäzene statt Spekulanten; die Vermehrung der Kunstmuseen mit größerer Nähe zum Markt, die Zunahme der Ausstellungsaktivitäten und die Digitalisierung werden zu den drei strukturellen Veränderungen im (Kunst-)Museumsbetrieb gezählt. Vgl. Dech (2003): Sehenlernen im Museum, S. 19 mit Literaturangabe. MacGregor (2014): Erinnerung einer Nation, S. 396–417.

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wie er zeigt, selbst einen Hitler im Bauhaussessel halb berechnend, halb unwissentlich Platz nehmen, was sich dessen Konstrukteur vielleicht nicht hätte träumen lassen. Trotz aller Beschwörung einer Verbindung von Handwerk und Kunst wird das Bauhaus als Meilenstein in der Entfaltung der industriellen Moderne internationaler Reichweite gehandelt, der sich eben auch die Nazis bedienten. MacGregor aber weiß, wovon das Bauhaus träumte: sein wahrer Erbe sei nämlich der schwedische Möbelhersteller IKEA, frei nach dem Motto: „Lebst Du schon – oder träumt du noch?“. Auch von daher die Frage: Eignet sich das Bauhaus-Jubiläum zum nationalen Gedenken? Jedenfalls war das Bauhaus von Beginn an und ganz real transnational aufgestellt. Auf dem berühmten Foto der Bauhausmeister von 1926 auf dem Bauhausdach, jenem Gruppenbild mit der Dame Gunta Stölzl, zeigen sich ein Schweizer (Paul Klee), zwei Ungarn (Marcel Lajos Breuer und László Moholy-Nagy), ein Österreicher (Herbert Bayer), ein Russe (Wassily Kandinsky) und ein Amerikaner (Lyonel Feininger). Das Bauhaus lebte aus dem Geiste eines, bescheinigt MacGregor weiter, „kosmopolitischen Humanismus“6 und verdankte seinen Erfolg nicht zuletzt der Internationalität ihrer Protagonisten und ihrer von den Nazis erzwungenen Exilierung. Das Bauhaus, auf den sich der „internationale Stil“ beruft, lässt sich also national gar nicht einfangen. Philipp Oswalt, bis zum 1.3.2014 Direktor der Stiftung Bauhaus Dessau und scharfer Kritiker MacGregors, vermisst an dessen Darstellung entsprechend noch “die prägenden Einflüsse der europäischen Avantgardebewegung auf das Bauhaus, ob Art and Crafts, Dadaismus oder De Stijl, ob russischer Konstruktivismus oder auch der Arbeitsrat für Kunst der Novemberrevolution“.7 So heißt es wohl auch in der „Triennale Moderne“ und unter dem Motto „Die Welt neu denken“, es werde der Verbund „Bauhaus 2019“ das Jubiläumsjahr „als nationales und internationales Ereignis einer breiten Öffentlichkeit nahebringen“.8   6 7 8

Ebd., S. 397. Oswald (2016): „Museums-Messias“, S. 2, unter: http://www.faz.net/-gqz-8e3dn (alle Webquellen dieses Beitrags vom 22.4.2016). Mit dem Suchbegriff „Bauhaus-Kooperation“ findet man im Netz folgende Erläuterung mit weiteren Links: Unter dem Titel „Bauhaus-Kooperation Berlin Dessau Weimar“ arbeiten die sammlungsführenden Bauhaus-Institutionen Deutschlands zusammen: die Stiftung Bauhaus Dessau, die Klassik Stiftung Weimar und das Bauhaus-Archiv / Museum für Gestaltung, Berlin. Ein erstes sehr erfolgreiches Ergebnis dieser Kooperation war die Jubiläumsausstellung „Modell Bauhaus“ 2009 im Berliner Martin-Gropius-Bau. 2011 ging das Webportal der drei Institutionen online. Unter bauhaus-online.de finden Bauhaus-Interessierte Wissenswertes zu Geschichte und Gegenwart der Hochschule. Ein umfangreicher Atlas führt in Orte, Werke und Personen ein. Außerdem wurde 2012 in Zusammenarbeit das Bauhaus-Reisebuch inklusive App zu den Bauhausorten herausgegeben. 2013 wird mit der Initiative „Triennale“ der Moderne das Netzwerk der Bauhausstätten weitergepflegt. Dieses Projekt ist ein erster Schritt auf dem Weg zum 100-jährigen Bauhausjubiläum 2019, für das es ab 2015 unter dem Motto „Die Welt neu denken“ ein umfangreiches, gemeinsames Programm mit Forschungsprojekten und länderübergreifenden Ausstellungen zur globalen Wirkungsgeschichte des Bauhauses geben wird. Verantwortlich für die Planung und Durchführung ist der 2012 von den Bundesländern

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Doch die neu zu denkende Welt war und ist auch vielfach eine der Regionen. Unter ihnen sticht u. a. die Rhein-Ruhr-Region hervor. Auch wenn auf besagtem Foto, das, anders als MacGregor ausweist, nicht aus Weimar, sondern aus Dessau stammt, der aus Bottrop stammende Josef Albers außen angeschnitten und etwas verloren aus der Gruppe zu schauen scheint. Tatort im Westen: Einen völlig neuen „Typus des Bureaugebäudes“ entwirft, so Max Osborn, berühmter Kunstkritiker und Journalist der „Vossisches Zeitung“, der zuvor in Düsseldorf, nun in Berlin arbeitende Architekt Peter Behrens: nicht etwa für die Hauptstadt oder seinen Arbeitgeber AEG, sondern für die Firma Mannesmann in Düsseldorf.

Abbildung 1: Mannesmann Röhrenwerke, Hauptverwaltung, 1911. © Salzgitter AG-Konzernarchiv/Mannesmann-Archiv, Mülheim an der Ruhr

Noch vor dem Ersten Weltkrieg werden hier die folgenreichen Anforderungen eines modernen Verwaltungsbaus umgesetzt: „Neu ist, daß Behrens die baulichen Anforderungen eines Bürohauses nach 1. beliebiger Variationsmöglichkeit der Büroeinteilung, 2. größtmöglicher Belichtung der Räume und 3. optimaler Ausnutzung der bebauten Fläche durch Arbeitsplätze seinem Konstruktions- und Raumkonzept sowie der Fassadengestaltung konsequent zugrunde gelegt hat.“9 In der Düsseldorfer Stahlskelettkonstruktion mit Mauerwerksausfachung fällt im Vergleich zu anderen Verwaltungsbauten die Reduktion traditioneller Architekturformen auf. Den Zweck  

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Baden-Württemberg, Berlin, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen und den Bauhausinstitutionen gegründete Bauhausverbund. Einen entsprechenden „Letter of intent“ haben mittlerweile auch die Länder Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen unterzeichnet. Schlüter (1994): „Ein neuer Typus des Bureaugebäudes“, hier S. 279. Das Zitat setzt der besseren Lesbarkeit wegen an die Stelle der von Schlüter verwendeten Gedankenstriche Kardinalzahlen.

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des Baus, schreibt Brigitte Schlüter weiter, veranschaulichen ausschließlich die engen Fensterreihen. Auf Balkone, Türme, Erker und Schmuckwerk als Ausdruck der repräsentativen Firmendarstellung im alten Stil, zur optischen Verdeutlichung der Bel Etage mit Direktorenzimmern und Sitzungssälen, verzichtet er. Sie reihen sich anonym „als Glieder einer Funktionskette“10 in die durch die enge Pfeilerstruktur gekennzeichneten Hauptbürogeschosse ein. Wenn auch weder das Behrenssche Raumplanungs- und Konstruktionskonzept noch die kompakte äußere Gestaltung gänzlich neuartig waren, Schlüter erinnert an die „Chicago School“ und ihren Protagonisten Louis Henry Sullivan sowie an das „Turmhaus“ der Firma Krupp in Essen von Alfred Schmohl,11 so darf man gleichwohl festhalten: Wir haben es in Düsseldorf, wie im prononcierten Vergleichsfall des von Walter Gropius fast zeitgleich gestalteten Fagus-Werks im Niedersächsischen Alfeld, mit einer Art Bauhaus-Bau ante letteras zu tun.

Abbildung 2: Mannesmann Röhrenwerke, Hauptverwaltung, 1911, Entwurf eines „Normalbüros“ © Archiv des LVR-Industriemuseums

Das trifft erst recht für die Kölner Werkbund-Ausstellung zu, die 1914 die modernen Architekten versammelte und den Glaspavillon von Bruno Taut, die Maschinenfabrik von Walter Gropius und Adolf Meyer sowie das Werkbundtheater von Henry van der Velde als Ikonen der Moderne anzubieten hatte.12 Dass sich Köln neben dem berechtigten Titel einer „Metropole im Westen“ damit sogleich den ei  10 Zitat ebd., S. 284. 11 Vgl. Schlüter (1994): „Ein neuer Typus des Bureaugebäudes“, S. 283 f. 12 Vgl. Staroste (2014): „Cöln rief, und Alle kamen.“

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ner der Moderne als Alleinstellungsmerkmal verdient hätte, würden vor allem andere Großstädte am Rhein gerne bestreiten wollen. Tritt die metropolitane Moderne im Rhein- und Ruhr-Raum doch eher im de- bzw. poli-zentralen Clusterformat des gleichnamigen Industriereviers auf. An Rhein und Ruhr scheinen sich also so manche Wiegen bzw. Labore der Moderne zu befinden. So errichtet Peter Behrens in den frühen Jahren der Weimarer Republik erneut ein bedeutendes Gebäude, diesmal als Hauptlager eines Weltkonzerns im Stahl- und Anlagenbau, nämlich der Gute-Hoffnungs-Hütte (GHH) in Oberhausen.

Abbildung 3: Peter-Behrens-Bau, Heute Depot und Ausstellungshaus des LVR-Industriemuseums, © LVR-Industriemuseum, 2000.

Hier verwendet Behrens nicht nur Elemente der zeitgenössischen holländischen Architektur und der Bauten des Amerikaners F. L. Wright, er baut vor allem wieder „ganz im Zeichen der Rationalisierung“.13  

  13 Landschaftsverband Rheinland. Rheinisches Industriemuseum Oberhausen (Hrsg.) (1998): Hauptlagerhaus, S. 37.

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In Düsseldorf wiederum, seit den 1920er Jahren als Schreibtisch des Ruhrgebiets tituliert,14 entsteht Mitte der 1950er Jahre direkt neben dem Mannesmann-Bau von Behrens und einmal mehr im programmatischen Versuch, die Welt neu zu denken, wieder ein Verwaltungsbau von Mannesmann. In ganz anderer Weise wächst hierbei „ein ausgereiftes Ergebnis hinsichtlich der miteinander verquickten Planungselemente – Raumzelle, Konstruktion und Fassade“ empor: hochaufgeschossenes Exemplar abermals republikanischen Aufbruchs, das u. a. der Düsseldorfer Architekt Paul Schneider-Esleben zu verantworten hat und sich dabei an der internationalen Avantgarde orientierte.

Abbildung 4: Altes und neues MAN-Verwaltungsgebäude am Rheinufer. Aufnahme von 1958, entworfen und gebaut 1956 bis 1958 von den Architekten Egon Eiermann und Paul Schneider-Esleben, nach gewonnenem Wettbewerb 1954. © Salzgitter AG-Konzernarchiv/Mannesmann-Archiv.

Standen doch der benachbarten, eher stämmig gebauten Wiege der Büro-Bau-Moderne schon alle großen Paten der damaligen Avantgarde zur Seite. Sie waren dazumal gemeinsam im Berliner Büro von Behrens tätig. Das geht aus einem Gespräch hervor, das der in Aachen geborene und u. a. in Krefeld tätige Ludwig Mies van der Rohe bei einem Besuch des Behrensbaus am Rhein mit Schneider-Esleben führte. Dies wohl im Zusammenhang der Einweihung des Hochhauses. Im Marmortreppenhaus des Behrensbaus meinte nämlich van der Rohe: „Das Ding habe ich bei Behrens, als wir das Mannesmann-Haus für Düsseldorf planten, vor fast   14 Baukünstlerisch bestätigt dies das expressionistische „Stummhaus“, gleichfalls ein Wirtschaftsbau, diesmal von Paul Bonatz, und ab 1926 Sitz der Führungszentrale des Zusammenschlusses der westdeutschen Stahlindustrie zu den Vereinigten Stahlwerken AG (Vestag), was besagten Ruf Düsseldorfs als „Schreibtisch des Ruhrgebiets“ begründete.

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einem halben Jahrhundert gezeichnet. Der Gropius befaßte sich dabei mit den neuen Grundriß-Variationen“. Und über Le Corbusier: „Der Corbusier war – wie wir alle – sehr stark in der Klassik befangen, aber mir erschienen damals stark die Details der Fassade zu plastisch.“15 Dieses Gespräch enthält bereits Antworten auf die Frage, ob das Bauhaus, das, wie erwähnt, MacGregor, ehemaliger Direktor des British Museum in London und designierter Intendant des Berliner Humboldt Forums, aus Flüchtigkeit mit dem Standort Weimar synonym setzte, nicht auch am Rhein liegen könnte: dass es nämlich, erstens, zumindest was die Wiege und das Labor der Moderne betrifft, auch an Rhein und Ruhr wohl kräftig „geweimart“ hat. Zeitpunkt und Anlass des Gesprächs am Rhein aber weisen, zweitens, auf den Umstand, dass die Bauhaus-Triennale Weimar-Dessau-Berlin mit einem Ante und einem Post zu versehen ist. In Verbindung damit und schließlich drittens möchte ich zurück zu MacGregor, um über ihn hinauszugelangen. Der spricht, wenn auch ergänzungsbedürftig, vom Bauhaus als einer interdisziplinären Veranstaltung, die gleichwohl vorrangig kunst- und kulturgeschichtlich rezipiert wird. Diesem insgesamt noch beschränkten Blick zu entkommen, bieten wiederum die Ufer des großen Transportstroms Gelegenheit. Denn die neuen schlanken Hochhäuser, die nicht nur, aber eben nicht zuletzt in Düsseldorf in den Himmel wachsen, stehen auch für erstrebte Eleganz und gewonnene Stabilität der Bonner Republik mit ihren neuen Wirtschaftswunder-Wachstumszahlen. Von hier oben aus bleibt Weimar lange das Davor eines Desasters von NS-Schrecken, Zweitem Weltkrieg und Holocaust, Bonn ein Danach mit gebanntem Blick nach vorn. An Rhein und Ruhr liegt es insofern nahe, anlässlich des Bauhaus-Jubiläums nach den Verbindungen des kulturellen mit dem gesellschaftlichen und politischen Weimar zu suchen, auch nach dessen Vorgeschichte,16 sowie nach den sich darin spiegelnden verschiedenen Modi einer Liaison von Kapitalismus und Demokratie. Insbesondere gilt es danach zu fragen, was nur vermeintlich oder auch tatsächlich neu war an Weimar im Sinne von kulturell und gesellschaftlich vorbildlich und nachhaltig: für die Bonner und schließlich jüngste Berliner Republik, in der es wieder schrecklich zu „weimaren“ scheint.17 2. AUSGANGSBEDINGUNGEN FÜR EIN VERBUNDPROJEKT Dieses Fragen im Rück- und Vorausblick soll in einer Reihe von Ausstellungen mit Rahmenprogrammen geschehen, die in Gestalt eines Verbundes konfiguriert sind. Die Initiative ergreift der Landschaftsverband Rheinland (LVR). Es sei hervorgehoben, dass der LVR, spiegelbildlich zum Landschaftsverband Westfalen-Lippe   15 Zitiert nach Schlüter (1994): „Ein neuer Typus des Bureaugebäudes“, S. 286. 16 Vgl. Erenz (2016): Mutmaßungen, unter: http//www.zeit.de/2016/13/demokratie-deutschlandfranzoesische-revolution-geschichte-urspruenge. 17 Vgl. Nass: Gespräch mit Norbert Frei.

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(LWL), im Landesteil Rheinland des Bindestrich-Bundeslandes Nordrhein-Westfalen (NRW) nach der Verbandsordnung als öffentlicher Dienstleister u.a. Aufgaben der kulturellen Versorgung für ein Gebiet mit rund 10 Millionen Einwohnern übernimmt. Es ist auch nicht das erste Mal, dass seitens des LVR ein Verbundprojekt anlässlich eines großen Themas aufgelegt wird, vielmehr von Vorteil für das kommende Vorhaben, dass bereits in Erinnerung an den 100 Jahre zurückliegenden Ersten Weltkrieg erstmals eine Konstellation von rheinlandweiten Veranstaltungen erprobt wurde, deren Ergebnisse jetzt vorliegen. Sie können zu Rate gezogen werden. So wurde zwischen 2013 und 2015 erstmals ein „durchkuratierter“ Veranstaltungsreigen im Verbandsgebiet mit u. a. mehr als ein Duzend Ausstellungen in Kunst- wie Industrie-, Landes- oder Freilichtmuseen, in Denkmalbeständen und selbst in Kliniken durchgeführt und dabei auch externe Partner hinzugezogen. Darunter das Lehmbruck-Museum Duisburg, das Kölnische Stadtmuseum und das Museum für Angewandte Kunst in Köln, das Ruhr Museum in Essen, das MackeHaus in Bonn, das Leopold-Hoesch-Museum & Papiermuseum in Düren und das Denkmalensemble der ehemaligen Konsumgenossenschaft Vorwärts e.V. in Wuppertal. Auch die LVR-Bodendenkmalpflege, das LVR-Amt für Denkmalpflege im Rheinland, das LVR-Archivberatungs- und Fortbildungszentrum sowie das LVRZentrum für Medien und Bildung wie zudem das Rheinisch-Westfälische Wirtschaftsarchiv zu Köln traten dabei mit auf den Plan.18

  18 Zur Auswertung des Projektes ist 2015 eine Dokumentation „1914 – Mitten in Europa. Das Rheinland und der Erste Weltkrieg. Abschlussdokumentation“ des Dezernats „Kultur und Landschaftliche Kulturpflege“ erschienen und eine Publikation beim Klartext-Verlag in Vorbereitung: Schleper, Thomas (Hrsg.): Erinnerung an die Zerstörung Europas. Rückblick auf den Großen Krieg in Ausstellungen und anderen Medien. Essen 2016.

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Abbildung 5: LVR-Verbands-Gebiet mit den Orten der Ausstellungen Was aus dieser Übersichtskarte nicht hervorgeht: In Bonn wurde ab dem 26.9.2014 noch die Ausstellung »Das (verlorene) Paradies« im August Macke Haus eröffnet. Der Dürener Verbund bestand aus dem Doppelprojekt von LVR-Klinik Düren und Leopold-HoeschMuseum & Papiermuseum Düren. Die Kölner Schau war eine Trilogie mit dem Kölnischen Stadtmuseum, dem Museum für Angewandte Kunst und dem Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsarchiv. Ab dem 1. März 2015 startete im Düsseldorfer Theatermuseum und unter der Regie des Instituts „Moderne im Rheinland“ das digital-analoge Projekt »Orte der Utopie. Theater- und Raumkonzepte in Zeiten des Kriegs«. Zu erwähnen sind noch die »Tage der offenen Tür« mit öffentlich präsentierten Ausgrabungen der LVR-Bodendenkmalpflege in Windeck, Düren, Grevenbroich und Emmerich sowie die im Sommer 2016 in Köln startende Präsentation »Mensch und Landschaft am Vorabend des ersten Weltkrieges – eine Zeitreise in der Region Düren/Monschau« des Fachbereichs Regionale Kulturarbeit des LVR © Bosbach, Kommunikation & Design GmbH

In Regionalkonferenzen und Beiratssitzungen wurde das gemeinsame Zentral-Narrativ einer kulturgeschichtlichen Dialektik von Aggression und Avantgarde in der Zeit von etwa 1900 bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, teilweise auch darüber

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hinaus, besprochen und in je fach-, standort- und hausspezifischen Auslegungen entwickelt. Das Motto verdankt sich einer Sentenz aus Walter Benjamins geschichtsphilosophischen Thesen, wonach es, so die These Nr. 7, „niemals ein Dokument der Kultur“ gebe, „ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein“.19 Dieses Zentral-Narrativ kam auf Seiten der Direktoren und Kuratoren aller Verbundpartner als konstitutive, d. h. Themen einfordernde, wie konstellative, d. h. Kooperationen bildende Super-Hypothese zum Einsatz. Sie war Auswahlkriterium für die Teilnahme am Verbund und die „heimliche“ Headline aller durchgeführten Veranstaltungen. Aber sie wurde durch die verschiedenen Einzelbeiträge, d. h. ihre interdisziplinäre Streuung, auch auf den empirischen Prüfstand gestellt. Sie diente nicht zuletzt dem Publikum als synthetisierendes Erfahrungsangebot: Reichten die beschäftigten und interagierenden Disziplinen doch von der Archäologie bis zur Medizingeschichte, von der Stadtgeschichte bis zur Landeskunde, von der Ethnologie bis zur Industriekultur, von der alltagskundigen Kulturgeschichte bis zu avantgardistischen Höchstleistungen der Kunstgeschichte. Zu den Ergebnissen der dabei realisierten Indoor- und Outdoor-Präsentationen sind aufeinander abgestimmte Veröffentlichungen erschienen. Der Verbund umfasste also auch ein ambitioniertes Publikationsprojekt. Auf der Ebene des Managements und der sogenannten Umsetzungstechnik ist es gelungen, über Instrumente des Marketings, über koordinierte Pressearbeit, einen gemeinsamen Veranstaltungskalender und standardisierte Orientierungssäulen zum Gesamtprojekt in allen Häusern über mehr als zwei Jahre einen Spannungsbogen zu entfalten: mit Auftakt, Höhepunkt und Abschlussveranstaltung. Hierbei stach der Internationale Kongress zu Beginn,20 die Zentralausstellung auf dem Weltkulturerbe Zeche Zollverein in Essen21 und die als Verbund von Wissenschaftlichem Kongress und Schülerkonvent konzipierte „Eurovision“ mit rund 20 Schulprojekten aus 10 verschiedenen europäischen Ländern besonders hervor. Das Verbund-Management ruhte nicht zuletzt auf einem für den LVR organisationslogischen Novum, nämlich unter dem Motto eines sogenannten „lateralen Denkens“ im Sinne Richard Sennetts die für gewöhnlich auf Einzeldarstellung und konkurrierende Performances ausgerichteten Institutionshierarchien zugunsten von Abstimmung und Konzertanz zu durchbrechen, bzw. zu relativieren. Dabei half ein spezielles Projekt-Management, ein zentrales Controlling und eine wissenschaftliche Begleitung im Rahmen eines international besetzten Beirates. Regionalkonferenzen dienten insbesondere dem lateralen Ideen-, Programm- und selbst Objektaustausch. Eine hierzu durchgeführte, mehrstufige Evaluation kam zu sehr positiven Ergebnissen im Blick auf all die fruchtbaren Lektionen, die wir, wenn möglich, für   19 Sie gewann in These Nr. 9 durch die Übersetzung des Klee´schen Angelus Novus in den „Engel der Geschichte“, der zurückblickt auf einen zum Himmel wachsenden „Trümmerhaufen“, an dramatischer Anschaulichkeit. Vgl. dazu Anm. 56. Im Gefolge eines eigentlich ernüchternden Karl Popper bekommt man es noch mit dem „Teufel“ zu tun: „Die Aufklärung wird die Barbarei nicht los. Sie hängt an ihr wie der Teufel; das ist ihre Dialektik.“ (Hank (2015): Trost). 20 Vgl. u.a. Schleper (Hrsg.): Aggression und Avantgarde. 21 Vgl. Grütter / Hauser (Hrsg.): Mitten in Europa.

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weitere Projekte beherzigen können. Hinsichtlich Besuchszahlen, Medienresonanz und Reichweite öffentlicher Anerkennung gilt das Projekt dem anfangs noch skeptisch-abwartenden Verband mittlerweile als Modell und Maßstabsvorgabe.22 Im gemeinsamen Sponsoring, in der koordinierten Marketing-Plattform mit eigenem Corporate Design und der in Inhalt und Programmverzweigung analog und digital Orientierung bietenden Serviceleistung lassen sich tatsächlich die positiven Effektivwerte der Verbundveranstaltung benennen. Die amts-, instituts- und fachübergreifenden Begegnungen und Diskussionen zählten, wie mehrfach geäußert, zu den horizonterweiternden und auch persönlich bereichernden Erfahrungen des Projektes auf Seiten der aktiv Beteiligten. Ein gewisses Unbehagen bzw. Ungenügen verbindet sich für mich als dem Projektleiter mit der im Großen und Ganzen bestätigten Zentralthese einer abgründigen Ambivalenz der Moderne, von „Aggression und Avantgarde“.23 Deren geschichtsphilosophischer Thrill lag nicht zuletzt in einem dramaturgisch inszenierten Kontern nicht nur einer allzu schlichten Zukunftszuversicht, sondern auch eines politischen Optimismus im Blick auf Entwicklungschancen für eine aufgeklärte Gesellschaft. So pädagogisch wertvoll und bildungspolitisch notwendig alle aktualisierten Warnungen und Ermahnungen zur Wach- und Achtsamkeit waren, die von unseren Präsentationen ausgingen und überzeugend vorgetragen wurden, so sehr der wissenschaftlich fundierte Aufweis von Zwiespältigkeit stets auf die moralisch-ethische Verantwortung eines jeden abzielte: So unbeantwortet blieben Fragen nach der historischen Perspektive. Vielleicht leistete die Oberhausener „Eurovision“, die Abschlussveranstaltung im Februar 2015, so etwas wie eine zumindest von Schülerinnen und Schülern getragene „Visionierung“ hin auf Bedingungen der Möglichkeit eines friedfertigen Europa hin. Doch die gegenwärtig vielfältigen Krisen des „alten Kontinents“ bestätigen mich eher in der Annahme, dass auf diesem Gebiet noch viel mehr geschehen müsste24 und von Seiten der Kulturvermittlung mehr geschehen könnte. Die Themen „Bauhaus“ und „Weimar“ bieten womöglich die nächste beste Gelegenheit. 3. ANBAHNUNGEN ZU „WEIMAR IM WESTEN" Wie es schon im Rahmen der Vorbereitungen und der Durchführung der erinnerungskulturellen Projekte zum Ersten Weltkrieg in Sachen Krieg und Frieden der   22 Vgl. Landschaftsverband Rheinland, LVR-Fachbereich Kommunikation (Hrsg.): Pressespiegel. Eine komprimierte Medienresonanzanalyse ist auf S. 856 zu finden. 23 Während der zunächst vorgeschlagene Zentraltitel „Aggression und Avantgarde“ wegen seiner von Museumsleuten vorab vermuteten abschreckenden Wirkung zugunsten von „1914 – Mitten in Europa“ für das Verbund-Marketing fallen gelassen wurde, hätten die Verantwortlichen der Zentralausstellung in Essen gerne wieder darauf zurückgreifen. Einer zudem zugkräftig zur Alliteration gesteigerten Janusköpfigkeit der behandelten Epoche bediente sich auch schon die Publikation Englund (2011): Schönheit und Schrecken. 24 Vgl. Habermas (2011): Zur Verfassung Europas. Vgl. auch eine vergleichende Reflexion des LVR-Projektes: Schleper (2016): Erinnerung an die Zerstörung Europas.

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Fall war, dürfte auch die gesellschaftspolitische Aktualität der „Weimarer Republik“ kaum in Frage stehen. Ebenso leicht könnte sich dann aber auch ein schon eingeübter Desaster-Diskurs fortspinnen lassen, wie dies etwa ein Philipp Blom vom „Taumelnden Kontinent“ zu den „Zerrissenen Jahren“ publikumsträchtig vorgeführt hat.25 Im Kontext von Schul-Curricula und bezogen auf Themenfelder und zu erwerbende Sachkompetenzen wird noch immer das traditionelle Weimarbild kolportiert. Überspitzt formuliert: An der „Weimarer Republik“ wird immer wieder und vorrangig deren „Zerstörung“ und „Scheitern“ gelehrt und gelernt. Es wird die Republik als schwaches Opfer aus einer Perspektive des unmittelbaren ex-post ins Visier genommen. Typisch auch die Formulierung, wie sie einem Begleitbuch der momentan in Überarbeitung befindlichen Dauerausstellung des LVR-LandesMuseums Bonn zum vergleichsweise spärlichen Abschnitt „Weimarer Republik“ knapp und bündig zu entnehmen ist: „In Germany the republic was proclaimed but it enjoyed no stability. Inflation and unemployment were the breeding ground for the National Socialists who assumed power in Germany in 1933.”26 Würde es sich nicht lohnen, wieder einmal gegen den Strich tradierter Erinnerungskultur zu arbeiten? Wie es nicht nur mit Projekten aus dem Rheinland gelungen ist, den Erste Weltkrieg aus dem Erinnerungs- und Lernstoff-Schatten des Zweiten Weltkrieges zu holen, dürfte man jetzt vielleicht auch stärker die progressiven Aspekte der Weimarer Republik ausleuchten, freilich ohne ihre Krisen und ihr Scheitern völlig auszublenden. Ein Perspektivwechsel wäre immerhin vorzunehmen, der ihre Geschichte, ihr kulturgeschichtliches Potenzial, nicht so sehr von ihrem desaströsen Ende her, nicht nur als Vorspann der größten abendländischen Barbarei betrachten, sondern ihren vielversprechenden Ansatz und Anfang stärker in den Blick nehmen würde, nämlich den der ersten parlamentarisch verfassten Republik ganz Deutschlands samt „Möglichkeitsstrukturen“ (Reinhard Koselleck) mit beachtlichen Exportqualitäten und noch oft unterschätzter Wehrhaftigkeit.27 Wenn Walter Benjamins Geschichtsphilosophische Thesen beim ersten LVRVerbundprojekt eher in ihrem apokalyptischen Tenor, in ihrer dunklen Trümmerund Bruch-Narration in Anspruch genommen wurden, so würde man nun die Einladung annehmen, ein helleres politisches, wenn sicherlich auch messianisch-heliotropistisch blendendes Motto zu überprüfen: dass nämlich Vergangenheit einen „zeitlichen Index“ mit sich führe, der sie auf „Erlösung“ verweise. Dazu böte sich für das Rheinland – und wohlgemerkt mit aller fälligen Ernüchterung und Entzauberung – die sprichwörtlich naheliegende Vergleichsfolie der Bonner Republik samt Rheinischem Kapitalismus an, zu dem sich im Zuge der sogenannten Eurokrise etwa der italienische Schriftsteller Claudio Magris hingezogen fühlt.28   25 Vgl. Blom (2009): Der Taumelnde Kontinent; Blom (2015): Die Zerrissenen Jahre. 26 Zehnder (Hrsg.) (2003): The Nine Themes, S. 25–26. 27 Inwieweit es gelingt, den neuen Forschungsschwerpunkt zur Demokratiegeschichte Weimars regional und international zu integrieren, eine „europäische Intertextualität“ im Sinne des Reichskanzlers Gustav Bauer aufzuzeigen, bleibt abzuwarten. Vgl. Müller (2015): Demokratie, S. 265. 28 Magris (2014): Kapitalismus.

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Republik und Kapitalismus profitierten mehr als bislang bewusst von den gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Aufbrüchen von Weimar. Wir denken zudem, dass die Aktualität Weimars nun eher in der Behandlung ihrer Werte, Normen und Prinzipien im Sinne eines demokratischen Zusammenlebens bestehen könnte, um zu einer Diskussion von „Leitbildern“29 beizutragen, an die gerade kulturelle Einrichtungen nicht mehr vorbeikommen. Gemeint sind Fragen zu den historischen Errungenschaften des transnational konzipierten Europa, die angesichts sich auftürmender Probleme einer sogenannten „Integration“ von Flüchtlingen akut werden. Mit ihnen wird gerade das bevölkerungsstärkste Bundesland der Einwanderungs-Republik Deutschland sicherlich und auf lange Sicht zu tun haben.30 Kann man vielleicht schon von einem „Streit der Kulturen“ sprechen, wenn der kulturhistorisch orientierte „Bauhausverbund 2019“ mit der eher von der Community der Historiker bearbeiteten „Weimarer Republik“ nicht recht zusammenfinden?31 Mag auch die „Frage der Kausalitäten“ geklärt sein. Wie schon erwähnt war das Bauhaus nur mit der Weimarer Republik zu haben. Am Ende der Weimarer Republik gab es dann auch kein Bauhaus mehr. Doch statt zu priorisieren käme es auf eine synergetisch wirksame Verbindung der beiden sich jetzt herausschälenden Grundausrichtungen des Gedenkens an. Das versuchen wir im Westen unserer Republik, wo auf Landesebene seitens des Ministeriums für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport sowie initiiert vom LVR Sondierungsrunden stattfanden, um das Thema „Bauhaus 100“ und „Weimarer Republik“ unter dem Arbeitstitel „Weimar im Westen“ zu konfigurieren. Hierzu und in aller Vorläufigkeit eine Skizze zur in Anbahnung befindlichen Gesamtfiguration eines Verbundprojektes, das folgende Grundstruktur aufweisen könnte:  

  29 Das „Leitbild“ als Wegweiser in die Zukunft unterscheidet Naika Foroutan von der „Leitkultur“, die „fast immer in die Vergangenheit verweist.“ Foroutan (2015): Leitbild. 30 Zur aktuellen Debatte um eine „Willkommens- und Respektkultur“ vgl. u.a. Winkler (2015): Sinnkrise. Vgl. ebenso Strenger (2015): Zivile Verachtung. 31 Ein kürzlich im Deutschen Historischen Museum veranstalteter Workshop zur „Weimarer Republik“ bestätigte m.E. eher diesen Verdacht: „Workshop über Projektideen im Hinblick auf den 100. Jahrestag der Gründung der Weimarer Republik“, 8. 4. 2016. Die jüngste Sonderausstellung in der Bundeskunsthalle Bonn: “Das Bauhaus. Alles ist Design“, 1.4.-14.8.2016, Übernahme aus dem Vitra-Museum aus Weil am Rhein, folgt gleichfalls der eingefahrenen binnenkulturellen Auslegung eines „Alles.“ Vgl. Burgmer (2016): Gutes Design.

 

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Entwurfsskizze zur Konfiguration eines landesweiten Verbundprojektes 1. Organisation: ● Es gibt einen NRW-weiten Verbund von Ausstellungen und Programmen. ● Darin finden sich eine LVR-Gruppe, angekoppelte Kooperationen sowie weitere Initiativen. 2. Inhaltliche Bezüge des NRW-Verbundes: ● Das Projekt greift die Bauhausidee auf und verfolgt ihre (auch noch vielfach unbekannten) Spuren und Ursprünge im „Westen“ ● Der Verbund weist kultur-, sozial- und politikgeschichtlich über das architekturund designhistorische Thema „Bauhaus“ hinaus und öffnet sich zur Thematik „Weimarer Demokratie“ mit ihren Voraussetzungen und Folgen an Rhein und Ruhr in Stichworten wie Alltagskultur, Bildung, Partizipation und Sozialstaat. ● Zentralnarrativ um die erste gesamtdeutsche Republik: vermeintlicher, erhoffter und tatsächlicher kultureller und demokratischer Neubeginn im Westen (H. Arendt: „Natalität“) 3. Der LVR-Kernbereich sucht darüber hinaus ● die Aktualisierung im vergleichenden Bezug auf die Bonner Republik und ● greift dabei die demokratie-akute Thematik der Integration auf. Als schon zu diesem Zeitpunkt mit Museen und Universitäten sondierte bzw. verabredete Projekte, die für 2018-2020 geplant sind, freilich z.T. noch Forschungsarbeit voraussetzen und weiter aufeinander abzustimmen sind, seien schlaglichtartig folgende Hinweise aus den jeweiligen Projektskizzen und Besprechungen in lockerer Verbindung aufgeführt. Die Formate ihrer organisatorischen Konfigurierung, performativen Kohärenz und dramaturgischen Platzierung im Sinne eines etwa zweijährigen Spannungsbogens hängen nicht zuletzt vom Fortgang der angestoßenen Gespräche, den finanziellen Rahmenbedingungen und den Konditionen avisierter Förderung ab. Alte Schlachten, neue Kämpfe Das LVR-Preußen-Museum in Wesel erarbeitet eine Ausstellung, die sich als Bindeglied zwischen den beiden großen LVR-Verbundprojekten „1914 Mitten in Europa“ und „Weimar im Westen“ versteht. Zeitlich steckt die Ausstellung den Rahmen mit dem Regierungsantritt Wilhelms II. 1888 und dem Scheitern des sogenannten „Roten Ruhraufstandes“, des großen Arbeiteraufstandes an Rhein und Ruhr 1920 ab. Als übergeordnete Fragestellung wird die nach der Vorbereitung von Verfassung und politischer Kultur von Weimar in der wilhelminischen Ära des Rheinlands das ganze Projekt durchziehen. Wirtschaftsstrukturen und Sozialpolitik des

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Kaiserreiches wurden durch Anstöße und Entwicklungen aus dem Rheinland entscheidend geprägt. Hier führte eine stärkere Politisierung als anderorts zu einer starken Parteien- und Verbandslandschaft. Während in anderen Provinzen Preußens noch ein starkes, oft regional begrenztes, betont preußisches Selbstverständnis vorherrschte, entwickelten sich im Rheinland ein rheinisch eingefärbtes Reichsbewusstsein und eine Art Konsenskultur, die nach Weimar weiterwirken.32

Abbildung 6: Mitglied der Roten Ruhrarmee bei den Kämpfen in Dinslaken 1920, © LVR-Preußen-Museum Wesel

Neue Aufgaben und neue Formen: 1. Museum für Angewandte Kunst Köln 2018 jährt sich der Geburtstag von Peter Behrens (1868-1940) zum 150. Mal. Der ausgesprochen vielseitige Künstler, der als Architekt, Maler, Produktgestalter und Typograf tätig war, gilt als Begründer des modernen Industriedesigns in Deutschland. Das Museum für Angewandte Kunst Köln (MAKK) besitzt bedeutende Zeugnisse seines Schaffens mit Möbeln, Keramik, Glas, Stoffdessins und elektrischen Haushaltegeräten. Kernstück dieser Sammlung ist der einzigartige SchiedmayerFlügel (1901), den Behrens für das Musikzimmer seines Wohnhauses auf der Darmstädter Mathildenhöhe entworfen hatte. Der Salonflügel konnte 2014 von der Stadt Köln und der Kulturstiftung der Länder für das Museum erworben werden und ergänzt in idealer Weise diesen Sammlungsschwerpunkt des MAKK, der in der Zeit des stilistischen Übergangs vom Jugendstil zum Industriedesign liegt. Zu Ehren des großen Pioniers der Gestaltung realisiert das MAKK in Kooperation mit dem Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg und der Kunstbibliothek Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz eine Sonderschau, die mittels Themenräumen der Vielfalt des Schaffens von Peter Behrens Rechnung trägt. Zugleich   32 Vgl. Veltzke (2016): Konzeptpapier, LVR-Preußenmuseum, Wesel.

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arbeitet das LVR-Industriemuseum Oberhausen in seinem Peter-Behrens-Bau seine Präsentation zu Peter Behrens auf.33 Neue Aufgaben und neue Formen: 2. Museum für Angewandte Kunst, Köln Das MAKK – Museum für Angewandte Kunst Köln konnte 2015 ein größeres und bedeutendes Konvolut Keramiken der avantgardistischen Künstlerin Margarete Heymann-Loebenstein (1899-1990) erwerben. Die gebürtige Kölnerin aus jüdischer Familie wurde 1920 am Bauhaus zum Vorstudium bei Johannes Itten zugelassen. Obwohl Heymann-Loebenstein das Bauhaus nach einem Jahr wieder verließ, um dann 1923 gemeinsam mit ihrem Mann Gustav Loebenstein die HaëlWerkstätten zu gründen, prägte die Bauhaus-Zeit ihr Schaffen. Dies zeigt sich besonders in den abstrakten und reduzierten Formen ihrer Gebrauchskeramik in Kombination mit experimentellen, farbenfrohen Glasuren und Dekoren. Zwischen 1924 und 1930 entstand eine große Vielfalt hochwertiger Steingut- und Fayence-Produkte, die international gefragt waren. Die Haël-Werkstätten galten als eine der kreativsten Keramik-Werkstätten dieser Zeit. Die Ausstellung im MAKK würdigt das Schaffen der außerordentlich kreativen Keramikkünstlerin in Kombination mit Bühnenentwürfen ihrer Cousine Marianne Ahlfeld-Heymann (1905-2003), die 1923 ebenfalls ans Bauhaus ging. Ihr künstlerischer Nachlass befindet sich heute in der Theaterwissenschaftlichen Sammlung auf Schloss Wahn, Köln.34 Neue Aufgaben und neue Formen: 3. LVR-Industriemuseum, Oberhausen Im Peter-Behrens-Bau des LVR-Industriemuseum wird in Kooperation mit dem Deutschen-Kunststoff-Museums-Verein e.V. Düsseldorf eine Schau zum neu aufkommenden Industriedesign geplant: Neben der Avantgarde des Bauhauses setzte sich in den 1920er Jahren insgesamt eine moderne Formensprache in der Produktgestaltung von Konsum- und Investitionsgütern durch. Die Ausstellung zeigt, wie sich die Warenwelt zunehmend veränderte, die Eleganz und Schlichtheit der Form an Bedeutung gewann und neue und hochwertige Materialien ihren Siegeszug antraten. So zeigten sich nun nicht nur Fahrzeuge, sondern auch Haushaltsgeräte stromlinienförmig „gestylt“. Mit Reptilien-Leder, Samt und Satin verarbeitete Schuhe vermittelten den Frauen ein neues Lebensgefühl. Und Produkte des täglichen Lebens aus neuartigen Metalllegierungen und Kunststoffen, die aufgrund ihrer Massenherstellung preisgünstig waren, wurden zur Selbstverständlichkeit35.

  33 Vgl. Breuer (2016): Konzeptpapier, Museum für Angewandte Kunst, Köln; Sondierungsgespräche mit Michael Gaigalat und Walter Hauser vom LVR-Industriemuseum. 34 Vgl. Breuer (2016): Konzeptpapier, Museum für Angewandte Kunst, Köln. 35 Vgl. Gaigalat (2016): Konzeptskizze, LVR-Industriemuseum, Oberhausen.

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Abbildung 7: Damenschuhe, Echsenleder, 1920. © LVR-Industriemuseum, Ra 060376

Neues Bauen: 1. Rheinisches Amt für Denkmalpflege Das Rheinisches Amt für Denkmalpflege des LVR hat sich vorgenommen, zusammen mit ihrem westfälischen Schwesterverband die innovativen, während der Weimarer Republik entstandenen Siedlungs-, Wirtschafts- und Bildungsbauten für eine Wanderausstellung aufzubereiten und dabei auch das aktuelle Problem der Erhaltung und (Um)-Nutzung im Rahmen praktischer Denkmalpflege aufzugreifen.36 Neues Bauen: 2. Alte Synagoge, Essen Die Alte Synagoge Essen ist vor allem jüdischen Architekten auf der Spur. Josef Rings etwa setzte als künstlerischer Leiter der Allbau AG 1919-1934 wichtige städtbauliche Akzente im Bauhaus-Stil in Essen und Umgebung. Erich Mendelsohn errichtete in Essen 1932 ein Jüdisches Jugendheim, das die Hitlerjugend 1938 zerstörte. Er baute auch an anderen Orten im Rheinland, wie z. B. in Köln. Nach 1933 galt diese Architektur in Deutschland als „entartet“. In Israel, insbesondere in Tel Aviv, wurde in diesem Stil weitergebaut. Josef Rings emigrierte 1934 mit seiner jüdischen Ehefrau dorthin und errichtete Häuser und ganze Siedlungen. U. a. sollen sein bislang kaum erforschtes Wirken und die Frage, welche Bauten bis heute   36 Vgl. Sondierungsgespräche mit dem Amt für Rheinische Denkmalpflege des LVR.

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existieren, beleuchtet werden und in eine Wanderaustellung „Bauhaus im Rheinland, Bauhaus in Tel Aviv“ einmünden.37 Neue Metropole Anschlussfähig an das Thema „Neues Bauen“ ist das Vorhaben des Ruhr Museums, das zur Infrastrukturentwicklung vor allem die während der 1920er Jahre sich entwickelnde Großagglomeration der „Alternativen Metropole Ruhr“ behandlen wird, just zum 100. Geburtstag des Regionalverbandes: „100 Jahre Ruhrgebiet. Die andere Metropole“. Im Mai 1920, unmittelbar zu Beginn der Weimarer Republik, entstand im Ruhrgebiet der Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk, der nach der Auflösung des Berliner Kommunalverbandes 1926 der einzige überkommunale Zusammenschluss in Deutschland war. Die Pläne für diesen Verbund, der vom Essener Baudezernenten Robert Schmidt konzipiert und geleitet wurde, gehen auf die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurück, sie konnten aber erst in der neuen politischen Situation der Weimarer Republik verwirklicht werden. Mit dem Siedlungsverbund Ruhrgebiet wuchs die bis dahin unverbundene Industrieregion an Rhein und Ruhr zu einer Einheit zusammen, die sie heute noch darstellt. Die Ausstellung will unterschiedliche Bereiche wie die Infrastruktur und die Mobilität, das Kulturleben und die moderne Architektur, die sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse aufzeigen, die der Montanregion in den 1920er Jahren eine neue, moderne Struktur gaben, die die Metropole Ruhr bis heute prägen.38 Auch hierbei soll auch auf die gewährte Zusammenarbeit mit dem LVR-Industriemuseum Oberhausen zurückgegriffen werden. Das Ruhr Museum schließt sich zugleich der Initiative der VHS Essen an, die aus Anlasse ihres 100-jährigen Bestehens mit dem Titel „‚Aufbrüche‘ – 100 Jahre VHS Essen (1919–2019)“ einen eigenen Verbund der Essener Kulturinstitute organisiert. Volkshochschule und Stadtbibliothek, Ruhr Museum und Museum Folkwang, Alte Synagoge und Historischer Verein – die verschiedenen Sichtweisen, historischen und aktuellen Bezüge aller Beteiligten zu Kultur, Bildung, Politik werden eine facettenreiche Gesamtsicht bilden.39  

  37 Vgl. Kaufmann (2016): Konzeptskizze, Alte Synagoge Essen. 38 Vgl. Grütter (2016): Konzeptpapier, Ruhr Museum Essen. 39 Vgl. Seibel (2016): Konzeptskizze, VHS-Essen.

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Neue Frauen (und Männer) In städtischer, wenn nicht metropolitaner Umgebung ist der radikale Wandel der Mode zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Ausdruck gesellschaftlicher Umbrüche leicht zu beobachten. Er steht im Mittelpunkt der Ausstellung „Die Macht der Mode. Zwischen Kaiserreich, Weltkrieg und Republik“. Mehr als 130 Originalkostüme und viele weitere historische Exponate lassen die Zeit zwischen 1900 und 1930 wieder lebendig werden. Die 2016 erstmals in Ratingen präsentierte Ausstellung wird 2019 in überarbeiteter Form für das LVR-Industriemuseum in Euskirchen neu aufgelegt. Der Fokus wird dabei auf der Entwicklung nach 1919 liegen, die aber nur vor dem Hintergrund der radikalen Modernisierung aller Lebensbereiche in der Vorkriegszeit – neue Mobilitätsanforderungen, veränderte Arbeitswelt – zu verstehen ist, wie auch der Auswirkungen von Kriegs- und Mangelwirtschaft. Zweckmäßigkeit, Bewegungsfreiheit, Sparsamkeit beim Einsatz der Stoffe prägten den modischen Stil der Republik.40

Abbildung 8: Josef Albers, Selbstporträt. 1917/18. Lithographie auf Papier. © Josef Albers Museum Quadrat, (Inv. Nr. 9/189).

Neues Sehen, neue Medien: 1. LVR-LandesMuseum Bonn Architektur, Design und Mode haben auch mit einer neuen Wahrnehmung zu tun und neuen Formen der „Aufzeichnungstechnik“ und (bildlichen) Kommunikation. Das LVR-LandesMuseum Bonn widmet sich in Kooperation mit der Deutschen Fo  40 Gottfried (2016): Konzeptskizze, LVR-Industriemuseum, Ratingen.

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tothek in der SLUB Dresden und der Stiftung F.C. Gundlach Hamburg der Fotografie in der Weimarer Republik. Die Ausstellung nimmt alle Facetten des erfolgreichen Mediums „Fotografie“ in diesem Zeitraum in den Blick, dabei steht nicht nur die künstlerische Fotografie des „Neuen Sehens“ oder der „Neuen Sachlichkeit“, sondern vor allem der durch technische Neuerungen beflügelte innovative Fotojournalismus und die Dokumentarfotografie im Mittelpunkt. Die umfassenden Archive der Kooperationspartner und ausgewählte Leihgaben, u. a. aus dem Ullstein-Archiv, ermöglichen einen neuen Blick auf die Vielschichtigkeit des Weimarer Alltags mit besonderem Fokus auf den Westen. In der Ausstellung werden Fotografien u. a. von Martin Munkácsi, August Sander, Hugo Erfurth, Alfred Eisenstaedt, Lotte Jacobi, Alfred Renger-Patzsch, Erich Salomon, Giselle Freund, Felix H. Man, Ilse Bing, Paul W. John gezeigt.41 Eine Kooperation mit dem Filmmuseum Düsseldorf ist projektiert.42 Neues Sehen, neue Medien: 2. Ruhr Museum Essen Albert Renger-Patzsch gehört mit August Sander oder Heinrich Zille zu den bedeutendsten Dokumentarfotografen der Weimarer Republik. Er kam 1929 nach Essen, wohnte in der Künstlersiedlung Margarethenhöhe und hatte sein Atelier im Museum Folkwang. Seine Ruhrgebietsfotografien entstanden in den Jahren zwischen 1927 und 1935 und waren stilbildend für die Fotografie im Ruhrgebiet im speziellen und die Industriefotografie im Allgemeinen. Seine menschenleeren Bilder zeigen jenes widersprüchliche Nebeneinander von Industrieanlagen, Wohnbebauung und Landwirtschaft für die später der Begriff ‚Zwischenstadt‘ gefunden wurde. Die Ruhrgebietsfotografien Renger-Patzsch befinden sich in der Sammlung der Stiftung Wilde an der Pinakothek der Moderne in München. Sie sind noch nie in einer Ausstellung zusammen gezeigt worden und sollen zunächst in München und Paris und dann 2018 in Essen gezeigt werden. Im Ruhr Museum werden sie um Fotografien der Ruhrgebietsfotografen ergänzt werden, die sich bis in die Gegenwart explizit oder formal auf Renger-Patzsch beziehen.43 Neue Kunst: 1. Museum Kunstpalast in Düsseldorf Es finden Formierung-, Findungs- und Fundierungsprozesse der nicht zuletzt durch neue Wahrnehmungsschulen und Medientechniken herausgeforderten Kunst statt. In Düsseldorf erinnert man sich 2019 der Gründung der Künstlervereinigung „Das Junge Rheinland“ vor 100 Jahren. Hier versammelten sich Künstler und Intellektuelle der verschiedensten Fachrichtungen, um der Kulturszene nach dem verlorenen   41 Vgl. Altringer (2016): Konzeptskizze, LVR-LandesMuseum Bonn. 42 Vgl. Sondierungsgespräche mit Michael Thessel, Zentrum für Medien und Bildung des LVR und Matthias Knop, Filmmuseum Düsseldorf, im Mai und August 2016. 43 Vgl. Grütter (2016): Konzeptpapier, Ruhr Museum Essen.

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Krieg ein wirksames Forum zu bieten und die Vernetzung mit Künstlern anderer Regionen in Deutschland und Europa zu befördern. Das Junge Rheinland bestand zwischen 1919 und 1932 und war ein Sammelbecken für zeitweise bis zu 300 Künstler und Künstlerinnen, die zumeist aus Düsseldorf und der näheren Umgebung stammten. Verbindungen bestanden unter anderem nach Berlin, München und Weimar. Zu den wichtigsten Protagonisten gehörten die Maler Gert Wollheim, Arthur Kaufmann, Adolf Uzarski, Max Ernst und Otto Dix, die Dichter Herbert Eulenberg und Theodor Däubler. Kunsthistoriker wie Karl Koetschau und Walter Cohen sowie die Kunsthändler Alfred Flechtheim, Johanna Ey u. a. standen in engem Kontakt zu dieser Vereinigung. Das Projekt wird in enger Kooperation mit dem Kunsthistorischen Institut der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf entwickelt. Bereits seit 2015 werden Lehrveranstaltungen zum Thema angeboten.44 Neue Kunst: 2. Josef Albers Museum Quadrat Bottrop Das Josef Albers Museum in Bottrop umfasst die weltweit umfangreichste öffentliche Sammlung von Werken des 1888 in Bottrop geborenen Malers und Bauhausmeisters. Ausgehend von einer Reihe früher Arbeiten, die das Albers Museum derzeit besitzt (Papierarbeiten, Fotomontagen, Druckgrafik aus der Bauhauszeit und Glasarbeiten) und aufgrund von Recherchen zu seiner Ausbildung zum Kunstlehrer und am Bauhaus ist danach zu fragen, welchen Begriff von Moderne Albers in dieser Zeit entwickelte. Welche Prägungen erfuhr er in Bottrop und dem näheren Umfeld bis Hagen, Essen, Duisburg und Düsseldorf? Welche Kontakte bestanden zum Folkwang Museum in Hagen, was bedeutete ihm der Unterricht bei Johann ThornPrikker in Essen, um nur einige Einflüsse zu nennen. Es gehören dazu weitere Werke der französischen Moderne, die außereuropäische Kunst, aber auch Werke des vorherrschenden Expressionismus in der bildenden Kunst und Literatur. Wie entwickelten und prägten diese sein Sehen, mit welchen Medien setzte er sich auseinander und antwortete auf die Fragen der Zeit?45

  44 Vgl. DuBois (2016): Konzeptskizze, Museum Kunstpalast Düsseldorf. 45 Vgl. Growe (2016): Konzeptskizze, Josef Albers Museum Quadrat.

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Abbildung 9: Plakat zur Ausstellung „Die Macht der Mode“. © LVR-Industriemuseum, Ratingen.

Neue Kunst: 3. Lehmbruck Museum Duisburg Der Architekt Ludwig Mies van der Rohe (1886-1969) war seit 1912 eng mit Wilhelm Lehmbruck (1881-1919) befreundet. In einer Reihe von Entwürfen hat der Architekt Werke des Bildhauers vorgesehen und auch in die realisierten Objekte einbezogen. Die folgenden Architekturentwürfe von Mies van der Rohe sehen Skulpturen von Wilhelm Lehmbruck vor: Museum und Wohnhaus Kröller-Müller in Otterlo (1912; nicht realisiert), Haus Lange in Krefeld (1927-30; realisiert), Glasraum für die Werkbundausstellung Stuttgart 1927 (realisiert), Barcelona Pavillon (1929; realisiert), Haus Tugenthat, Brünn (1929-30; realisiert). Geplant ist eine Ausstellung, die eine Präsentation dieser Bauten mit Fotos und Modellen in den Mittelpunkt stellt. Skulpturen von Lehmbruck könnten im Original präsentiert werden. In einem zweiten Teil soll die Rolle der Skulptur im Kontext der Gebäude von Bauhaus-Architekten untersucht werden. Ein weiterer Aspekt der Ausstellung könnte die Bauhaus-Rezeption nach 1945 bzw. in den 1960er Jahren anhand der Architektur des Lehmbruck Museums untersuchen.46 Inwieweit es gelingt, die zahlreichen Programmpunkte des Krefelder Projekts „Mies in Krefeld“ (MIK) damit zu verbinden, wird zurzeit noch untersucht. Auch gibt es konkrete Anknüpfungspunkte zur schon vorgestellten Thematik „Neues Bauen“.47   46 Vgl. Mascherrek (2016): Konzeptskizze, Lehmbruck Museum Duisburg. 47 Das Krefelder Vorhaben „map 2019“ hatte sich schon unabhängig von der LVR-Initiative positioniert und versteht sich als Forschungs-, Ausstellungs- und Veranstaltungsprojekt für Bauhaus 100, Krefeld 2017–2019. Es legt den Fokus auf 25 „Bauhäusler“, die seit den frühen 1920er Jahren bis in die sechziger Jahre in Krefeld, dem rheinischen Zentrum der Seidenindustrie, in unterschiedlicher Art und Dauer gewirkt und zum größeren Teil auch gelebt haben. Die bekanntesten von ihnen, die Architekten, Innenarchitekten und Ausstellungsdesigner Ludwig Mies van der Rohe und Lilly Reich, haben nachhaltige Spuren in Form von Architektur

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Neue Politik48: 1. Leopold-Hoesch-Museum & Papiermühle Düren / Institut der Moderne im Rheinland, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Wie sich Politik und Kunst kulturgeschichtlich verbinden, lässt sich u. a. an einem extravaganten Beispiel festmachen. Im Frühjahr 1919 begab sich eine Gruppe junger Künstler aus Köln in die Eifel nach Simonskall, um sich fernab der Metropolen den Traum vom einfachen und wahren Leben zu erfüllen und die Utopie „Von der Gesellschaft zur Gemeinschaft“ Wirklichkeit werden zu lassen. Die Gruppe, die sie nun bildeten, nannten sie nach der Umgebung des Ortes “Kalltalgemeinschaft“. Ziele dieses Gemeinschaftsexperiments waren die kommunitäre Wohnerfahrung und Experimente auf dem Gebiet der individuellen bzw. gemeinschaftlichen künstlerischen Produktion. Die Kalltalgemeinschaft bildeten u. a. Franz Wilhelm Seiwert (Graphiker, Maler), Franz Nitsche (Bühnenbildner, Graphiker, Maler), Otto Freundlich (Maler, Bildhauer), Angelika Hoerle (Malerin), Heinrich Hoerle (Maler, Graphiker), Marta Hegemann (Malerin, Graphikerin), Anton Räderscheid (Maler), B. Traven (Schriftsteller). Das gemeinsame Forschungsprojekt soll in eine Ausstellung münden.49 Neue Politik: 2. LVR-Freilichtmuseum Lindlar Der Beitrag des LVR-Freilichtmuseums Lindlar widmet sich eher weniger auffälligen, gleichwohl relevante Veränderungen in der Bewältigung des Alltags und im Selbstverständnis der Betroffenen. Im Fokus stehen die (rechtliche) Gleichberechtigung der Frau in der (ländlichen) Gesellschaft und ihre nun mögliche Teilhabe an Bildung, Kultur und Politik. Vieles, wie die ab 1925 vorgeschriebene Ausbildung der weiblichen Jugend an Landwirtschaftsschulen des Rheinlandes (Hauswirtschaft) oder die neuen Aufgaben der Frauen in Gemeindeparlamenten und Verwaltungen (Fürsorge und Jugend) erscheinen aus heutiger Sicht zwar wenig innovativ   hinterlassen. Die Maler und vormaligen Bauhauslehrer Johannes Itten und Georg Muche sowie mehrere ihrer Schüler beeinflussten maßgeblich die Gestalterausbildung an den Krefelder Fachschulen bis in die sechziger Jahre. Andere, darunter auch Gunta Stölzl, die spätere Leiterin der Bauhaus-Weberei, ergänzten ihre Ausbildung am Bauhaus mit Praktika oder Spezialkursen an den Krefelder Textilfachschulen. Fast alle Kontakte stehen in direkter Verbindung zur Seidenindustrie. Im Rahmen von „map 2019“ sollen dieses industriell-kulturelle Netzwerk erforscht werden. Ort und Ausgangspunkt aller Veranstaltungen im Jubiläumsjahr wird eine begehbare Skulptur des Düsseldorfer Künstlers Thomas Schütte sein. Sie ist auch Ausgangspunkt der Architekturpfade, welche die in die Architektur der Stadt eingeschriebene Geschichte vom wirkungsreichen Zusammentreffen des Bauhauses und der rheinischen Seidenindustrie erfahrbar machen. Koordination, Veranstalter: Projekt MIK e.V. in Kooperation mit dem Bauhausverbund, dem Land NRW und der Stadt Krefeld. Weitere Informationen: www.bauhaus100.de, www.projektmik.com, [email protected]. 48 Unter „Politik“ wird nicht konkrete Parteipolitik, sondern allgmeiner das im jeweiligen Alltag wirksame Politische verstanden, die Regelung von Angelegenheiten in einer Gemeinschaft durch verbindliche Entscheidungen. 49 Vgl. Cepl-Kaufmann / Goldmann / Grande (2016): Konzeptskizzen, Sitzungsprotokolle.

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und noch sehr rollenkonform, bedeuteten jedoch zu ihrer Zeit einen wichtigen Schritt in Richtung Demokratie. Während ein kleines ländliches Wohnhaus aus Hilden bei Düsseldorf, das im Jahr 2015 eröffnet wurde, bereits den praktizierten Frauenalltag bis zu Beginn des Ersten Weltkrieges im Freilichtmuseum veranschaulicht (zeitweise wohnten in dem beengten Gebäude eine Witwe mit mehreren unmündigen Kindern), soll in einem zweiten Häuschen, das zum Gebäudeensemble am ursprünglichen Standort dazugehörte, eine Ausstellung den Lebensalltag der Frau in der Weimarer Republik thematisieren.50 Neue Politik: 3. Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Das Politische im Alltag in Vergangenheit und Gegenwart ist ein Lehrforschungsprojekt des Instituts für Archäologie und Kulturanthropologie, Abteilung für Kulturanthropologie/Volkskunde an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Hier wird explizit an der Verbindung zwischen Weimar und Bonn gearbeitet. Als 1949 das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beschlossen und Bonn Parlaments- und Regierungssitz wurde, geschah dies unter dem Eindruck der gescheiterten Weimarer Republik. Die Bonner Republik sollte anders sein: lebendige Streitkultur und eine gefestigte Parteienlandschaft sind dabei nur zwei Aspekte, die sich auch auf den Bonner Alltag ausgewirkt haben. Bonn war/ist Schauplatz der Regierungspolitik, die sich in Architektur und Alltagskultur einschrieb und deren Nachwirkungen bis heute sichtbar und spürbar sind. Spätestens in den 1960er Jahren wurde Bonn Schauplatz der außerparlamentarischen Opposition, von Experimenten direkter Demokratie und zivilgesellschaftlicher politischer Partizipation. Das geplante Lehrforschungsprojekt nimmt die Gegenwart der Vergangenheit des Politischen im Bonner Alltag in den Blick (hier auch Verbindungslinien und Gegenentwürfe der beiden deutschen Demokratien).51 Unter stärker kulturgeschichtlicher Perspektive arbeitet auch das Institut der Moderne im Rheinland an Beiträgen, die einen Vergleich der Weimarer mit der Bonner Republik ermöglichen52. Weimar neu gedacht Alle zwei Jahre führt Bildungspartner NRW beim Bildungspartnerkongress Vertreterinnen und Vertreter aus Schulen und kommunalen Bildungs- und Kultureinrichtungen zusammen. In praxisnahen Workshops, Fachvorträgen und Diskussionsrunden können sich die Besucherinnen und Besucher darüber informieren, wie eine wirksame, systematische Kooperation zwischen Schulen und außerschulischen   50 Vgl. Kamp (2016): Konzeptskizze, LVR-Freilichtmuseum Lindlar. 51 Vgl. Flor / Sutter (2016): Konzeptskizze, Institut für Archäologie und Kulturanthropologie, Abteilung für Kulturanthropologie / Volkskunde an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. 52 Vgl. Anm. 49.

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Partnern wie Museen, Archiven, Gedenkstätten oder Bibliotheken aussehen kann. Im Herbst 2019 wird der 8. Bildungspartnerkongress stattfinden. Im Vorfeld des Kongresses wird Bildungspartner NRW seine schulischen und außerschulischen Partner auf das Verbundprojekt „Weimar im Westen“ aufmerksam machen und dazu einladen, sich mit passenden Kooperationsprojekten zu beteiligen. Der Kongress 2019 wird Schulen und ihren Bildungspartnern ein Forum bieten, sich und ihre Projektergebnisse zum Weimar-Jahr zu präsentieren.53 Wie der Verbund im Westen unter Mitwirkung des „Instituts der Moderne im Rheinland“ mit einem mehrtätigen Kongress schon im Herbst 2018 starten, der sich zu einem mit der Weimarer und zum zweiten mit der Bonner Republik beschäftigt, so findet er mit dieser Veranstaltung seine pädagogische Fortsetzung, um dem Thema „Weimarer Republik“ im Rahmen der historischen Bildung einen neuen Stellenwert zu geben. Weimar vorab Inwieweit das bereits 2017 startende Projekt des Kölnischen Stadtmuseums auf den geplanten Verbund vorbereitend verweisen kann, gerade im Vergleich von Bonner und Weimarer Republik, gilt es noch abzuklären. Hinter dem Ausstellungstitel „Konrad der Große“ versteckt sich jedenfalls eine Sonderausstellung, die das Kölnische Stadtmuseum vom 10. Juni bis 19. November 2017 anlässlich des 100. Jahrestages der Einsetzung Konrad Adenauers als Kölner Oberbürgermeister zeigen wird. Die „Adenauerzeit“ – also die 1950er-Jahre – wird gemeinhin als konservativ eingeschätzt, in Köln hat der Begriff aber eine doppelte Bedeutung: Es gibt auch eine ganz anders besetzte „Adenauerzeit“: die Zwanziger Jahre, als Konrad Adenauer Oberbürgermeister war und Köln in Sachen Architektur, Wirtschaft und Kultur im Sinne einer Modernisierung prägte. Der gebürtige Kölner war als Erster Beigeordneter während des Ersten Weltkrieges zuständig für die Lebensmittelversorgung. Dann wurde Oberbürgermeister Wallraf als Staatssekretär nach Berlin berufen und die Stadtverordnetenversammlung wählte Konrad Adenauer am 18. September 1917 einstimmig zum Nachfolger. Im März 1933 vertrieben ihn die Nationalsozialisten schließlich aus seinem Amt.54 4. SCHLUSSBEMERKUNG MIT GEWINNANZEIGE Unser auf Aktualisierung ausgerichtetes Bemühen folgt mit beiden Verbundprojekten und ihren je differenten Auslegungen von Benjamins Betrachtungen insgesamt noch einer weiteren seiner Thesen. Deren sechste führt nämlich mit Bezug auf den historischen Materialismus der internationalen Rheinländer Marx und Engels aus, dass es darum gehen müsse, „ein Bild der Vergangenheit festzuhalten, wie es sich   53 Vgl. Weinhold (2016): Konzeptskizze, Medienberatung NRW | Bildungspartner NRW. 54 Vgl. Wagner (2016): Konzeptskizze, Kölnisches Stadtmuseum.

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im Augenblick der Gefahr dem historischen Subjekt unversehens einstellt“.55 Von alten und neuen Gefahren für die Demokratie künden zahlreiche Diskurse der Gegenwart. Wenn „Weimar im Westen“ sich die zentrale Frage nach dem Neuen stellt, folgt es letztlich der These der Philosophin, widersprechenden Heidegger-Schülerin und Demokratietheoretikerin Hannah Arendt, die in Anknüpfung an Benjamins helleren Thesen festhält, „daß Natalität für politisches Denken ein so entscheidendes, Kategorien-bildendes Faktum darstellt, wie Sterblichkeit seit eh und je im Abendland [...] der Tatbestand war, an dem metaphysisch-philosophisches Denken sich entzündete“.56 Dieses programmatisch umzusetzen bedürfte, dem von Claudius Seidl zitierten Literaturhistorikers Robert Pogue Harrison zufolge, „Weisheit“. Politische und pädagogische Weisheit, der es gelänge, so Seidl weiter, „das radikal Neue zu übersetzen in verständliche Begriffe und einzureihen in die Traditionen, ja ihm überhaupt einen Platz zu schaffen im Kontext der Gegenwart, damit daraus nicht nur Bruch, Umsturz, Zerstörung, sondern Zukunft werde“.57 So könnten im Westen an Rhein und Ruhr 2018 bis 2020 Weimar, Dessau und Berlin ergänzende, vielleicht auch alternative „Wiegen“, „Laboratorien“ und „Metropolen“ der Moderne in den Blick kommen. Dabei setzen wir auf Verbindungen und Brückenschläge: So wie viele Bauhauskünstler gerade im hochindustrialisierten Westen lukrative Aufträge erhielten. Beispiel Düren, wo der Bauhäusler Wilhelm Wagenfeld vom größten Arbeitgeber am Ort, nämlich der Glashütte Peill & Putzler, Aufträge erhält und sein modernes Leuchten-Design entwickeln kann, was in einer Kabinettausstellung im Leopold-Hoesch-Museum Papiermuseum Düren neu zu beleuchten wäre.58 Das wäre gleichfalls ein Sprung in die Bonner Republik der 1950er Jahre, die u. a. mit dem Krefelder Mies van der Rohe nach Amerika schaut und, wie gehört, in Tel-Aviv baugeschichtliche Spuren von Weimar hinterlassen hat. Das wird, zusammengenommen, nicht ohne politische Implikationen zu betrachten sein und den Blick weiten über das Rheinland, den Westen, Deutschland und Europa hinaus. Als großer Gewinn für das Gesamtprojekt ist dann sicherlich zu taxieren, dass auch der Landschaftsverband Westfalen-Lippe seine Kompetenzen in das rheinisch initiierte Gesamtvorhaben einbringt, so dass der „Westen“ mit beiden Verbänden im Rahmen ihres jeweiligen Kulturauftrags synergetisch auftreten kann. So wird sich u.a. das LWL-Landesmuseum Münster beteiligen, um neben dem Format Tanz   55 Benjamin (1981): Geschichtsphilosophische Thesen, S. 81. Aus diesem Text stammen auch die weiter oben angeführten Thesen Benjamins. 56 Arendt (2015): Vita activa, S. 18. Vgl. auch Hampe (2016): Von wahrhaftigen Bürgern. 57 Seidl (2015): Abschaffung des Alters. Vielleicht „rauscht“ dann Benjamins auch jüngst wieder bemühter „Engel der Geschichte“ nicht nur „rückwärtsschauend in die Zukunft“ (Maak (2015): Vier Kanzler sehen rot), sondern kann dem Sturm, der ihm vom Paradiese her mächtig entgegenweht und zu lähmen scheint, durch neu gewonnene Umsicht besser trotzen. Führte der erste Projektverbund dazu, mit dem Engel entsetzt zurück zu blicken auf die Trümmer der Geschichte, so hofft der zweite auf eine Blickwendung in Richtung Zukunft. Vgl. zur Interpretation dieses Bildes Friedländer (2013): Walter Benjamin, S. 236–240. 58 Vgl. Sondierungsgespräch mit Regina Goldmann, Leopold-Hoesch-Museum & Papiermuseum Düren, 2.5.2016.

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und Theater auch die Bauhausrezeption in Amerika zu behandeln. Das LWL-Industriemuseum beteiligt sich mit einer Ausstellung zu Glasentwürfen und Objekten von Wilhelm Wagenfeld (Standort Glashütte Gernheim), über die sich womöglich ein Bogen zur oben erwähnten Glasindustrie in Düren schlagen lässt. Der wissenschaftliche Dienst des Museums trägt zum geplanten Auftakt-Kongress die Themenschwerpunkte „Arbeits-, Geschlechter- und Völkerbeziehungen“ bei59 – und damit zur Aktualisierung von ‚Weimar‘ wie zur Stärkung des sozial- und kulturgeschichtlichen Fokus des Gesamt-Narrativs. Einbringen wollen sich zudem die Denkmalpflegeämter wie die regionalen Geschichtsinstitute der beiden Landschaftsverbände. Im Rahmen dieser weit gesteckten Koalition, die auch zu Gesprächen mit der Architektenkammer NRW führt, ist zudem mit einem Dialog zwischen Wissenschaft und Museum zu rechnen, um, die anfangs beschriebene Problematik aufgreifend, nicht zuletzt thematische und methodische Denkanstöße für die museale Arbeit zu generieren, um hoffentlich nicht, wie jüngst wieder geschehen, nur bei kenntnisreichen Durchleuchtungen paradoxer Zustände und versierten Analysen einer vermeintlich unvermeidbaren Dialektik vom letztendlichen Scheitern durch Erfolg zu landen.60 „Bauhaus.100 – Weimar im Westen. Neuerungen und Weichenstellungen“, so lautet der neue Arbeitstitel, der die Skizze zur Projektkonfiguration deutlich erweitert. Er sorgt insofern schon für eine kulturpolitische Innovation, als die beiden Landschaftsverbände, passend zum 70jährigen Jubiläum des Bindestrich-Bundeslandes NRW, unter Beteiligung beider Kulturdezernate erstmals gemeinsam ein grand projet dieser Art in Angriff nehmen und dabei auf die Unterstützung des NRW-Ministeriums für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport hoffen dürfen. Haben wir es damit nicht auch mit einem der erwähnten Weisheit durchaus angemessenen Schluss zu tun? LITERATUR Altringer, Lothar: Konzeptskizze, LVR-LandesMuseum Bonn. 28.4.2016. Apel, Friedmar: Mehr Wissen in der Welt. Dem Germanisten Wolfgang Frühwald zum Achtzigsten. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.7.2015. Arendt, Hannah: Vita activa oder vom tätigen Leben (1958). München / Berlin / Zürich 2015. Dies.: Sokrates. Apologie der Pluralität. Eingeleitet von Matthias Bormuth, mit Erinnerungen von Jerome Kohn. Berlin 2016 Belinda, Grace Gardner: Unendliche Gegenwart im digitalen Zeitalter. Die Kunsthalle Wien macht sich auf die Suche nach der Zukunft der Erinnerung. In: Kunstzeitung, März 2015. Benjamin, Walter: Geschichtsphilosophische Thesen (1955). In: Ders.: Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze. Mit einem Nachwort von Herbert Marcuse. Frankfurt a. M. 1981, S. 78–94. Blom, Philipp: Der Taumelnde Kontinent. Europa 1900–1914. München 2009, zuerst engl. 2008 u.d.T.: The Vertico Years.

  59 Vorgestellt von Martin Schmidt beim DHM-Workshop, vgl. Anm. 31, während Dagmar Kift, der ich die jüngsten Hinweise auf die Aktivitäten des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe verdanke, die Projektleitung der westfälischen Beiträge übernimmt. 60 Zuletzt und nicht nur auf Kunstmuseen zu münzen: Grasskamp 2016.

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Blom, Philipp: Die Zerrissenen Jahre. 1918–1932. München 2015. Breuer, Romana: Konzeptpapier, Museum für Angewandte Kunst, Köln. 2.5.2016. Burgmer, Anne: Gutes Design für eine bessere Welt. Kunst- und Ausstellungshalle des Bundes widmet sich in Bonn dem Bauhaus in alten und neuen Entwürfen. In: Kölner Stadt-Anzeiger, 1.4.2016. Cepl-Kaufmann, Gertrude / Goldmann, Renate / Grande, Jasmin: Konzeptskizzen, Sitzungsprotokolle. Frühjahr 2016. Dech, Uwe Christian: Sehenlernen im Museum. Ein Konzept zur Wahrnehmung und Präsentation von Exponaten. Bielefeld 2003. DuBois, Kathrin: Konzeptskizze, Museum Kunstpalast Düsseldorf. 26.4.2016. Englund, Peter: Schönheit und Schrecken. Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen. Berlin 2011. Erenz, Benedikt: Keine Ahnung, nie gehört. Warum nur wollen so viele Deutsche nichts von der Geschichte ihrer Demokratie wissen? Mutmaßungen zum 18. März. In: Zeit Online, 18.3.2016, unter: http//www.zeit.de/2016/13/demokratie-deutschland-franzoesische-revolu tion-geschichte-urspruenge [22.4.2016]. Flor, Valeska / Sutter, Ove: Konzeptskizze, Instituts für Archäologie und Kulturanthropologie, Abteilung für Kulturanthropologie / Volkskunde an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. 28.4.2016. Foroutan, Naika: Wer integriert wen. Deutschland braucht ein neues Leitbild. In: DIE ZEIT, 29.10.2015. Friedländer, Eli : Walter Benjamin. Ein philosophisches Porträt. München 2013. Gaigalat, Michael: Konzeptskizze, LVR-Industriemuseum, Oberhausen. 29.4.2016. Gottfried, Claudia: Konzeptskizze, LVR-Industriemuseum, Ratingen. 29.4.2016. Grasskamp, Walter: Das Kunstmuseum. Eine erfolgreiche Fehlkonstruktion. München 2016. Gropp, Rose-Maria / Voss, Julia: Eine öffentliche Sammlung ist klein Durchlauferhitzer. Mäzene statt Spekulanten: Drei Thesen zur Zukunft der Kunstmuseen aus Anlass eines Symposiums in Stuttgart. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.11.2016 Growe, Ulrike: Konzeptskizze, Josef Albers Museum Quadrat. 28.4.2016. Grütter, Heinrich Theodor / Hauser, Walter (Hrsg.): 1914 – Mitten in Europa. Die Rhein-Ruhr-Region und der Erste Weltkrieg. Essen 2014. Grütter, Theo: Konzeptpapier, Ruhr Museum Essen. 2.5.2016. Habermas, Jürgen: Zur Verfassung Europas. Ein Essay. Frankfurt a.M. 2011. Hampe, Michael: Von wahrhaftigen Bürgern. So philosophiert man gegen die Krise der Demokratie: Hanna Arendts Essay über den philosophischen Sokrates. In: Die Zeit, 14.7.2016, S. 43. Hank, Rainer: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Trost suchen beim Philosophen. Bei Karl Popper. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 15.11.2015. Kamp, Michael: Konzeptskizze, LVR-Freilichtmuseum Lindlar. 29.4.2016. Kaufmann, Uri-Robert: Konzeptskizze, Alte Synagoge Essen. (11.4.2016). Kohl, Karl-Heinz: Die Macht der Dinge. Geschichte und Theorie sakraler Objekte. München 2003. Landschaftsverband Rheinland, LVR-Fachbereich Kommunikation (Hrsg.): Pressespiegel LVRVerbundprojekt. 1914 – Mitten in Europa. Das Rheinland und der Erste Weltkrieg. Köln 2015. Landschaftsverband Rheinland. Rheinisches Industriemuseum Oberhausen (Hrsg.): Das Hauptlagerhaus und sein Architekt Peter Behrens. Mit Text von Claudia Bruch. Oberhausen 1998. Maak, Niklas: Vier Kanzler sehen rot: Neues und Altes von Andreas Gursky. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.10.2015. MacGregor, Neil: Erinnerung einer Nation. München 2014. Magris, Claudio: Wir brauchen mehr rheinischen Kapitalismus. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.7.2014. Mascherrek: Konzeptskizze, Lehmbruck Museum Duisburg. 28.4.2016.

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Müller, Tim B.: Demokratie, Kultur und Wirtschaft in der deutschen Republik. In: Müller, Tim B. / Tooze, Adam (Hrsg.): Normalität und Fragilität. Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg. Hamburg 2015. Ders.: Die starke Demokratie. In: Zeit-Geschichte, Epochen, Menschen, Ideen: Wir sind das Volk. Die Deutschen und die Demokratie - 1789 bis heute, Nr. 3 (2016), S. 66-71. Nass, Matthias: „Ich halte das für hochgefährlich“. Wie Weimar sind wir? Ein Gespräch mit Norbert Frei. In: DIE ZEIT, 29.10.2015, S. 6. Oswald, Philipp: Neil MacGregor. Die Masche des "Museums-Messias". Neil MacGregor, der Gründungsintendant des Humboldt-Forums, gilt als "Museums-Messias" und Experte für deutsche Geschichte. Man darf nur nicht zu genau hinsehen. Ein Gastbeitrag. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.4.2016, unter: http://www.faz.net/-gqz-8e3dn [22.4.2016]. Schleper, Thomas (Hrsg.): Erinnerung an die Zerstörung Europas. Rückblick auf den Großen Krieg in Ausstellungen und anderen Medien. Essen 2016. Ders (Hrsg.): Aggression und Avantgarde. Zum Vorabend des Ersten Weltkrieges. Essen 2014. Schlüter, Brigitte: „Ein neuer Typus des Bureaugebäudes“. In: Dieter Breuer (Hrsg.): Die Moderne im Rheinland. Ihre Förderung und Durchsetzung in Literatur, Theater, Musik, Architektur, angewandter und bildender Kunst 1900–1933. Köln 1994. Seibel, Silke: Konzeptskizze, VHS-Essen. 29.4.2016. Seidl, Claudius: Die Abschaffung des Alters. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 8.11.2015, S. 4. Staroste, Ulrike: „Cöln rief, und Alle kamen.“ Ein Streifzug über die Deutsche Werkbund-Ausstellung Köln 1914. In: Hesse, Petra / Kramp, Mario / Soénius, Ulrich (Hrsg.): Köln 1914. Metropole im Westen. Köln 2014. Strenger, Carlo: Zivile Verachtung. Eine Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit. Frankfurt a.M. 2015. Veltzke, Veit: Konzeptpapier, LVR-Preußenmuseum, Wesel. 29.4.2016. Wagner, Rita: Konzeptskizze, Kölnisches Stadtmuseum. 27.4.2016. Weinhold, Andreas: Konzeptskizze, Medienberatung NRW | Bildungspartner NRW. 28.4.2016. Winkler, Heinrich August: Scheitert der Westen an sich selbst? Der Jurist Udo Di Fabio sieht Europa in einer tiefen Sinnkriese. In: DIE ZEIT, 1.10.2015. Zehnder, Frank Günter (Hrsg.): Rheinisches Landesmuseum Bonn. The Nine Themes. Köln 2003.

DIE WEIMARER REPUBLIK: DEUTSCHLANDS ERSTE DEMOKRATIE Eine multimediale Wanderausstellung Stephan Zänker Der Weimarer Republik e.V. wurde im Februar 2013 mit dem Ziel gegründet, die Erinnerung an die erste deutsche Demokratie im Hinblick auf den 100. Jahrestag der Weimarer Nationalversammlung im Jahr 2019 zu stärken. Dieses Ziel verfolgt der gemeinnützige Verein auf vielfältige Weise: etwa durch Veranstaltungen der politischen Bildung, durch die Organisation von Konferenzen und anderem wissenschaftlichen Austausch, durch den Aufbau der zentralen Internetplattform www.weimarer-republik.net und durch die museale Darstellung eines spannenden Kapitels deutscher Geschichte. Durch ein Förderprojekt des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz ist der Weimarer Republik e.V. seit 2015 in der Lage, die Jubiläumsvorbereitungen auf deutlich breiterer Grundlage voranzutreiben. Dabei ist nicht zu verkennen, dass es sich um eine große Herausforderung handelt, der Weimarer Republik jenen Platz in der deutschen Erinnerungskultur zuzuweisen, der ihr gebührt. Denn jahrzehntelang wurde die erste deutsche Demokratie geschichtspolitisch vernachlässigt. Als Gründe dafür können das Scheitern Weimars 1933, die Nachfolge der NS-Schreckensherrschaft, die Abgrenzungsbemühungen der Bonner Republik, ideologische Gegensätze in der Bewertung der Ereignisse und die Abqualifizierung durch die DDR-Geschichtsschreibung, die besonders am Geburtsort Weimar fatal wirkte, genannt werden. Im Ergebnis ist der Begriff „Weimarer Republik“ zwar vielen Menschen bekannt, das Wissen über die Zeit zwischen 1918 und 1933 aber sehr begrenzt und zu einem nicht unerheblichen Teil mit Mythen durchsetzt, die längst wissenschaftlich widerlegt sind. Zudem mangelt es nach wie vor an Orten, die Wissen über die Weimarer Republik vermitteln. Die Präsenz des Themas etwa im Deutschen Historischen Museum oder in der Parlamentshistorischen Ausstellung des Deutschen Bundestages ist zwar vorhanden, aber deutlich ausbaufähig. In Weimar selbst bestand die Erinnerungskultur, abgesehen von den runden Jubiläen, lediglich in einer Tafel am Deutschen Nationaltheater. Erst 2014 gelang es durch das Engagement des Stadtmuseums und seines Direktors Dr. Alf Rößner, mit der Sonderausstellung „Demokratie aus Weimar. Die Nationalversammlung 1919“ einen Kristallisationspunkt in der Stadt zu schaffen. Die Resonanz auf diese Exposition zeigt, dass die Weimarer Republik breite Bevölkerungsschichten anspricht und auf ein erhebliches Interesse stößt.

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Weil die museale Präsentation des Themas in Weimar einen dynamischen Prozess in Gang gesetzt hat, ist Ähnliches, wenn auch in stark vermindertem Maße, auch anderswo in Deutschland möglich. Deshalb hat sich der Weimarer Republik e.V. Anfang 2015 dazu entschlossen, im Rahmen des Bundesprojekts eine Wanderausstellung zu produzieren. Sie dient dem Ziel, die Weimarer Republik als nationales Thema zu setzen und eine bundesweite Kommunikation zu organisieren. Sie versteht sich als wichtiger Teil in der Vorfeldarbeit für das Jubiläum 2018/19. Um dies zu erreichen, ist einerseits Wissensvermittlung auf der Grundlage der aktuellen Forschung notwendig. Andererseits darf eine solche Exposition nicht bei der Rückschau stehenbleiben. Vielmehr muss es darum gehen, die Menschen dort abzuholen, wo sie sind – in der aktuellen Problemlage unserer heutigen Demokratie. Dieser Gegenwartsbezug baut eine Brücke zum Erfahrungshintergrund der Besucher. Und unterstreicht zugleich die faszinierende Aktualität der Weimarer Republik: Sie wird umso interessanter und relevanter, je deutlicher herausgearbeitet werden kann, dass die Beschäftigung mit diesem Thema Anregungen für heutiges politisches Handeln liefert. Die Wanderausstellung wurde von Anfang an in engem Bezug und in bewusster Abstimmung mit der Stadt Weimar geplant. Dabei setzte der Verein die Prämisse, dass sie keinesfalls in Konkurrenz zur gelungenen Sonderausstellung im Weimarer Stadtmuseum treten soll. Es konnte sich also nicht um eine Kopie handeln – schließlich sollte der Anreiz zum Besuch des Originalortes erhalten bleiben. Außerdem verfolgt der Weimarer Republik e.V. mittelfristig das Ziel, in Weimar ein „Haus der Weimarer Republik“ zu schaffen, in dem Elemente der Sonderausstellung im Stadtmuseum und der neuen Wanderausstellung in einer umfassenden Darstellung des Themas zusammengeführt werden. Diese Ziele führten zu der Erkenntnis, dass sich die beiden Ausstellungen deutlich voneinander unterscheiden müssen. Ausgehend von diesen Prämissen, hat eine Expertengruppe im Januar und Februar 2015 das Konzept der Wanderausstellung erarbeitet. Daran nahmen u.a. thematisch versierte Wissenschaftler, Akteure der politischen Bildung, Vertreter von Archiven und Museen und Experten in Ausstellungsgestaltung und -technik teil. Der Zeitdruck war von Anfang an enorm. Nicht wenige Ratgeber von außen hielten es für utopisch, ein solches Projekt binnen eines Jahres umzusetzen. Zugleich waren jedoch von Anfang an die gemeinsame Zielstellung und ein unglaubliches Engagement bei allen Beteiligten spürbar. Die Expertengruppe erarbeitete in zwei Workshops zunächst die grundsätzlichen Prämissen der Wanderausstellung. Die wichtigste Weichenstellung bestand darin, mit dem Thema eine möglichst breite Massenwirksamkeit anzustreben. Der traditionelle museale Raum sollte verlassen werden, um neue Zielgruppen anzusprechen, die bislang für politische Bildungsarbeit nur schwer erreichbar sind. Als mögliche Ausstellungsorte wurden Einkaufszentren, Bahnhöfe, Flughäfen und nur punktuell größere Museen und Erinnerungsorte in Betracht gezogen. Damit begab sich das Projekt auf ein gewagtes Experimentierfeld, denn es musste nun so geplant werden, dass nicht etwa ausschließlich historisch interessierte Besucher angesprochen werden, sondern vielmehr Menschen, die im Augenblick der Konfrontation

Die Weimarer Republik. Eine multimediale Wanderausstellung

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mit der Ausstellung noch gar keinen Entschluss gefasst haben, diese wahrzunehmen und anzuschauen.

Abbildung 1: Die auffällige Gestaltung der Kinowürfel (hier: neongrün) weckt die Neugier der Passanten. © Hamish John Appleby, Weimarer Republik e.V.

Einkaufszentren und ähnliche öffentliche Räume sind zweifellos nicht für den Zweck errichtet, Ausstellungen zu zeigen. Dennoch vollzieht sich seit Jahren ein Trend, der diese Orte interessant macht. In den vergangenen Jahrzehnten sind in nahezu allen größeren Städten Center entstanden, die eine Vielzahl von Geschäften unter einem Dach vereinen. Von den Kunden wird diese Konzentration des Einzelhandels angenommen. Sie verbringen zum Teil viel Zeit in den Centern. Diese entwickeln sich somit zu Orten der Freizeitgestaltung. Der Trend wird von den Centerbetreibern intensiv gefördert, um dem wachsenden Internethandel mit einem unverwechselbaren Einkaufserlebnis zu begegnen. Daher suchen sie ständig nach neuen Attraktionen, um zusätzliche Besucher anzulocken. Die Einkaufszentren, das kann man ohne Übertreibung feststellen, haben sich zu Kristallisationspunkten der Massenkultur entwickelt. Hier geht es längst nicht mehr nur um Einkaufserlebnisse, sondern um die Darstellung zahlreicher Lebensbereiche. In regelmäßigen Abständen finden in den Centern Ausstellungen zu populären Themen statt. Dadurch wird inzwischen geradezu ein Bildungsauftrag in attraktiver Form verwirklicht. Immer mehr Institutionen erkennen diesen Trend und reagieren auf ihn. Auch in der politischen Bildung wird zunehmend auf eine Präsenz in Einkaufszentren gesetzt.

   

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Allerdings ist es eine große Herausforderung, in diesem ungewohnten Umfeld gelingende Ausstellungen zu platzieren. Dabei reicht es nicht, konventionelle Konzepte einfach an neue Orte zu transferieren. Vielmehr müssen schon bei der Planung einer Ausstellung die spezifischen Bedingungen eines Einkaufszentrums bedacht werden: die weithin fehlende Vorbereitung der Besucher auf das Thema, die große Ablenkung durch andere Angebote und die Flut an optischen Reizen, bedingt durch omnipräsente Werbebotschaften. Man muss sich bewusst machen: Die meisten Menschen kommen nicht gezielt zur Ausstellung, vielmehr stoßen sie überwiegend zufällig auf sie und haben eigentlich etwas anderes vor. Diese Ausgangsmotivation unterscheidet sich grundsätzlich von jener, die Besucher eines Museums aufweisen.

Abbildung 2: Gucklöcher in den Außenwänden beinhalten kleine Erkenntnisse über die Weimarer Republik. © Hamish John Appleby, Weimarer Republik e.V.

Sollen Ausstellungen in Einkaufszentren erfolgreich sein, müssen sie so gestaltet sein, dass sie eine überzeugende Antwort auf diese Bedingungen bieten. Diese Antwort könnte folgendermaßen lauten: Die Ausstellungen müssen besonders niedrigschwellig sein, sie müssen Inhalte populär darstellen, sie müssen modern und unter Einsatz attraktiver Technik gestaltet sein und ein Äußeres aufweisen, das sich im Konzert der Werbung durchsetzen kann. Die Präsentation muss so aufgebaut sein, dass die Besucher von ihr neugierig gemacht, in ihren Bann gezogen und begeistert werden. Sie muss es obendrein ermöglichen, dass die Besucher sich relativ ungestört in die Inhalte der Ausstellung vertiefen können. Es kommt also darauf an, Erlebnisräume zu schaffen, in denen die gewünschten Botschaften vermittelt werden können.

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Der Weimarer Republik e.V. hat seine Wanderausstellung von Anfang an unter diesen Gesichtspunkten geplant. Die Expertengruppe entschied sich dafür, in den Einkaufszentren Kuben aufzustellen. Diese Darstellungsvariante bietet zwei Vorteile: Einerseits wirkt sie sehr plakativ. Die Außenwände können für eine intensive Gestaltung genutzt werden und dadurch Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Andererseits entstehen im Inneren relativ abgeschlossene Erlebnisräume, die mitten im Einkaufstrubel das Eintauchen in die Geschichte ermöglichen – eine wichtige Voraussetzung dafür, um bleibende Eindrücke zu schaffen. Die Füllung der Kuben, so wurde im Konzept festgelegt, sollte sich von der Exposition im Stadtmuseum unterscheiden. Deshalb wurde von Anfang an auf die Ausstellung von Exponaten bzw. Originalen verzichtet. Auch die umfassendere Darstellung von Texten auf Tafeln, wie dies oft üblich ist, kam nicht in Frage. Vielmehr wurde von Anfang an eine multimediale Exposition vorgesehen, mit dem Einsatz modernster Technik sowie von Bewegtbildern, wobei es eine Mischung aus Originalfilmaufnahmen und Experteninterviews geben sollte – ein Konzept, das in zahlreichen historischen Fernsehformaten seit Jahren erfolgreich praktiziert wird.

Abbildung 3: Für die Interviews in den Einführungsfilmen konnten Experten und Prominente gewonnen werden. © Hamish John Appleby, Weimarer Republik e.V.

Im Frühjahr 2015 wurde dieses Grundkonzept in einer kleineren Arbeitsgruppe konkretisiert. Als Kuratoren konnten Andreas Feddersen und Johannes Romeyke gewonnen werden. Sie hatten bereits an der Ausstellung im Stadtmuseum Weimar mitgewirkt, waren somit gut mit dem Thema vertraut, verfügten über Erfahrungen

   

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in der Ausstellungsgestaltung und standen für ein innovatives Konzept und neue Wege bereit. In der Arbeitsgruppe wurde relativ zügig ein dreistufiges Gestaltungskonzept beschlossen. In der ersten Stufe sollte ein Außenbereich geschaffen werden, der neugierig macht. Im Zentrum der Überlegungen stand dabei die Außengestaltung der Kuben, hier wurden einerseits grelle Farbtöne und andererseits attraktive Fragestellungen in Sprechblasen etabliert. Diese Sprechblasen in Comic-Manier enden in beleuchteten Gucklöchern. Dort sind vorläufige Antworten zu finden, die einen ersten Erkenntnisgewinn liefern, zugleich aber dazu animieren, nähere Hintergründe im jeweiligen Kubus zu erfahren. Die erste Stufe wird somit auch von vorbeieilenden Passanten wahrgenommen, die keine Zeit für einen Ausstellungsbesuch haben. Idealerweise merken sie sich einen späteren Besuch vor, aber in jedem Fall nehmen sie das Thema der Ausstellung auf. Die zweite Stufe wurde im Kubus geschaffen: Auf großen Flachbildschirmen werden thematische Einführungsfilme von je etwa 8 Minuten Länge gezeigt. Sie sind professionell produziert mit einer Mischung aus Originalaufnahmen mit sonorer Sprecherstimme und Experteninterviews. Diese Filme fassen die Botschaft der Ausstellung schon sehr gut zusammen. Für Besucher mit wenig Zeit ergibt sich damit die Möglichkeit, die Inhalte in niedrigschwelliger und unterhaltsamer Weise zu erfassen.

Abbildung 4: An den Medienstationen können Informationen, Bilder und Filme abgerufen werden. © Hamish John Appleby, Weimarer Republik e.V.

Die dritte Stufe wurde interaktiv geplant. In jedem Kubus sind vier Medienstationen zu finden, an denen jeweils thematische Vertiefungen möglich sind. Dabei kommen

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Touch-Screen-Monitore mit einer sehr bedienerfreundlichen Oberfläche zum Einsatz, die ganz auf die Gewohnheiten der Tablet- und Smartphonenutzer eingestellt sind. Die Menüführung ist intuitiv, erinnert an ein Nachrichtenportal im Internet. In den Medienstationen sind sehr umfangreiche Informationen abrufbar: mehr als 850 hochauflösende historische Bilder, 35 Experteninterviews, verschiedene Dokumente, Grafiken und Statistiken. Es handelt sich um etwa acht Stunden Material und daher um die umfangreichste multimediale Informationssammlung zur Weimarer Republik. Kopfhörer an den Medienstationen ermöglichen es, sich in das Thema stark zu vertiefen.

Abbildung 5: Die Menüführung in den Medienstationen ist modern und intuitiv. © Hamish John Appleby, Weimarer Republik e.V.

Bei der Art der Inhalte wurde der populäre Ansatz konsequent fortgeführt. Auf längere Texte wird verzichtet, stattdessen sind die historischen Fakten und Erkenntnisse auf viele verschiedene Seiten verteilt und üppig illustriert. Bei den Interviews kamen nicht nur namhafte Wissenschaftler wie Prof. Norbert Frei oder Prof. Wolfram Pyta zum Einsatz, sondern auch prominente Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die auf den ersten Blick keinen direkten Bezug zur Weimarer Republik aufweisen. Dazu gehören u.a. Ulrich Wickert, Ranga Yogeshwar, Bettina Schausten, Anja Kohl, Jakob Augstein, Nikolaus Blome und Rainer Eppelmann. Ihr Einsatz sorgt zum einen für eine besondere Attraktivität der Ausstellung und zum anderen für einen unübersehbaren Gegenwartsbezug. Auch für die Außenkommunikation ist die Präsenz prominenter Namen vorteilhaft. Glücklicherweise haben sich alle Beteiligten unentgeltlich für diesen Zweck zur Verfügung gestellt – mehr noch:

   

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Bei einigen von ihnen offenbarte sich eine so starke Affinität zum Thema, dass sie für künftige Kommunikationsmaßnahmen in Frage kommen. Bereits Anfang 2015 war klar, dass ein einzelner Kubus nicht ausreichen würde, um das Thema angemessen darzustellen. Relativ schnell einigte man sich auf die Zahl vier. Langwieriger fielen jedoch die Überlegungen darüber aus, welche inhaltlichen Abgrenzungen es zwischen den Kuben geben sollte. Schließlich wurde folgende Themenverteilung festgelegt: – Kubus 1 (blau): Einführung in das Thema Demokratie – Kubus 2 (grün): Die Entstehung der Weimarer Republik (Oktober 1918 bis August 1919) – Kubus 3 (magenta): Die Errungenschaften der Weimarer Republik – Kubus 4 (dunkelbeige): Die Gefährdung der Demokratie / Das Ende von Weimar Der erste Kubus dient als Einführung in die Ausstellung. Ausgangspunkt ist die Frage, was Demokratie eigentlich bedeutet. Die Antworten darauf werden anhand von vier Werten geliefert: Freiheit, Dialog, Vertrauen und Verantwortung. Damit wird der in der Öffentlichkeit oftmals unklare Demokratiebegriff an konkrete Begriffe geknüpft. Der zweite Kubus startet mit dem Ende des Ersten Weltkrieges und reicht über die Novemberrevolution und die Wahlen im Januar 1919 bis hin zur Arbeit der Nationalversammlung in Weimar, zum Versailler Vertrag und zur Weimarer Reichsverfassung. Unter dem Titel „Aufbruch“ wird dargestellt, mit welchem Enthusiasmus die erste deutsche Demokratie geschaffen wurde. Der dritte Kubus versammelt die wichtigsten Errungenschaften der Weimarer Republik. Die Palette reicht von den Freiheitsrechten der Verfassung über die Sozialpolitik und die Arbeitswelt bis hin zu Kultur, Medien und Wissenschaft. Dabei wird die Innovationskraft einer Gesellschaft im Umbruch nachgezeichnet. Der vierte Kubus widmet sich der Gefährdung und dem Ende der Demokratie von Weimar und stellt dabei Gegenwartsbezüge her. Im Vergleich der Krisen von 1923 und 1933 wird deutlich, dass ein demokratischer Staat nur dann bestehen kann, wenn an seiner Spitze Personen stehen, die ihn verteidigen und nicht zerstören wollen. Natürlich ist mit dieser thematischen Festlegung die Folge verbunden, dass nicht alle Aspekte der Weimarer Republik zur Geltung kommen. Dennoch handelt es sich um einen profunden Überblick auf dem neuesten Forschungsstand. Dazu hat auch die wissenschaftliche Begleitung durch Prof. Dr. Michael Dreyer und Dr. Andreas Braune vom Institut für Politikwissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena beigetragen. Durch Partnerschaften mit dem Bundesarchiv und mit dem Stadtmuseum Weimar konnte eine umfassende Bebilderung der Ausstellung sichergestellt werden. Die Transit-Film GmbH und die Chronos Media GmbH stellten hochwertige Originalfilmaufnahmen zur Verfügung, teilweise erstmals in HD-Qualität. Letztlich gebaut wurde die Wanderausstellung nach einer bundesweiten Ausschreibung von der Museumstechnik Berlin GmbH.

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Am symbolträchtigen 9. November 2015 wurde die Wanderausstellung „Die Weimarer Republik: Deutschlands erste Demokratie“ im Einkaufszentrum Weimar-Atrium im Beisein des Thüringer Ministers für Migration, Justiz und Verbraucherschutz, Dieter Lauinger, und des Oberbürgermeisters der Stadt Weimar, Stefan Wolf, eröffnet. Am 27. November 2015 fand die Eröffnung im Berliner Ostbahnhof durch den Bundesminister der Justiz und für Verbraucherschutz, Heiko Maas, statt. Seitdem tourt die Wanderausstellung durch größere und kleinere Städte der Bundesrepublik. Bis zum Jahr 2018 wird sie insgesamt etwa 40 Stationen absolvieren. Dort finden in der Regel auch Führungen mit Schulklassen statt, die von Studenten regionaler Hochschulen und Universitäten durchgeführt werden. Führungen für die Öffentlichkeit sind weniger nachgefragt, denn die Ausstellung ist weithin selbsterklärend und bedarf kaum vertiefender Erläuterung. Allerdings wird sie an einer Reihe von Standorten mit thematischen Veranstaltungen begleitet, an denen lokale Politiker und Wissenschaftler teilnehmen und die dazu beitragen, die Weimarer Republik als Gegenwartsthema zu etablieren. Die bisherigen Erfahrungen mit der Wanderausstellung sind ausgesprochen positiv. Unter den Einkaufscentern gibt es ein sehr großes Interesse. Besucherzählungen können aufgrund der Art und der Orte der Ausstellung nicht stattfinden, trotzdem kann von einer sehr zufriedenstellenden Resonanz gesprochen werden. Schließlich handelt es sich um Center, die eine tägliche Frequenz von bis zu 300.000 Besuchern aufweisen. Wenn nur ein minimaler Bruchteil von ihnen das Thema wahrnimmt und sich mit der Weimarer Republik näher beschäftigt, dann ist viel erreicht. Durch die Präsenz in den Regionen entsteht zudem ein deutschlandweites Netzwerk, Entscheidungsträger aus Politik, Wissenschaft und Kultur werden für das Thema sensibilisiert. Somit erfüllt die Wanderausstellung eine wichtige Funktion in der Vorbereitung des 100. Jahrestages der Weimarer Nationalversammlung.

   

WEIMARER REPUBLIK & BÜRGERWISSENSCHAFT 2019: CHANCEN EINES PROJEKTS1 Christian Faludi Bürgerwissenschaft oder Citizen Science ist laut Definition der National Geographic Society „the practice of public participation and collaboration in scientific research to increase scientific knowledge. Through citizen science, people share and contribute to data monitoring and collection programs. Usually this participation is done as an unpaid volunteer.“2

Während das Konzept im angelsächsischen Raum durchaus Tradition hat,3 ist es hierzulande noch relativ unbekannt.4 Freilich, es gibt viele ähnlich gelagerte Projekte. Ihre ursprüngliche Idee ist meist jedoch eine andere und ihre Gestalt oft erst Resultat eines Prozesses. Vieles war oder ist dem Zufall geschuldet beziehungsweise Ergebnis (finanzieller) Zwänge. Dennoch, und das ist der entscheidende Punkt: Viele Projekte sind trotzdem durchaus erfolgreich. Unter den Kriterien der Citizen Science betrachtet, verdeutlichen sie somit bereits, welches Potenzial in dem Konzept steckt, das nun auch in Deutschland nach Pionieren sucht.5 Als Autor dieses Textes spreche ich dabei aus Erfahrung und kann anhand zweier Beispiele Näheres erläutern. Ab dem Jahr 2005 gehörte ich – damals zunächst noch als studentische Hilfskraft – einem Forschungsprojekt über die „Arisierung“ jüdischen Eigentums in Thüringen während der Zeit des Nationalsozialismus an. Von einigen Kollegen am Historischen Institut Jena zunächst durchaus skeptisch beobachtet, steckten wir uns ursprünglich das Ziel, im studentischen Seminar eine Quellendokumentation für die Reihe „Quellen und Beiträge zur Geschichte Thüringens“ der Landeszentrale für politische Bildung in Erfurt zu erarbeiten. Unter Leitung der Leipziger Historikerin Monika Gibas recherchierten daraufhin 17 Studierende in Thüringer Archiven. Der damit in Gang gesetzte Prozess   1 2 3 4 5

Der Titel ist eine bewusste Anlehnung an den Katalog von Ulbricht (2009): Chancen einer Republik. Die Jubiläumsschau wurde danach im Kern in die Dauerausstellung des Stadtmuseums Weimar integriert. http://nationalgeographic.org/encyclopedia/citizen-science/ (alle Webquellen dieses Beitrags vom8.9.2016). Vgl. etwa Feyerabend (1978): Science in a free society. Peter Finke setzte 2014 mit seiner Veröffentlichung „Citizen Science. Das unterschätzte Wissen der Laien“ eine Debatte in Gang. Vgl. auch Finke (2015): Freie Bürger, freie Forschung. Nimmt man zur Standortbestimmung die Website der citizenscience-germany zur Grundlage, wird rasch deutlich, wie sehr der Prozess noch in seinen Anfängen steckt. Unter dem Reiter „Projekte“ finden sich bislang nur sechs Einträge. Vgl. http://www.citizen-science-germany.de/citizen_science_germany_projekte.html.

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verselbständigte sich rasch. Nach circa einem Jahr Arbeit lag eine zweibändige Publikation vor, die bis heute dreimal aufgelegt worden ist.6 Das Projekt wirkte gruppendynamisch und viele Mitwirkende blieben dem Kreis auch über den Seminarschein oder das Studium hinaus ehrenamtlich treu. Während der Recherchen von Einzelschicksalen hatten sie Netzwerke zu Archivaren, Hobbyhistorikern, Nachfahren, Medien und interessierten Laien geknüpft. In diesem Zusammenhang entstanden immer wieder Zeitungsartikel,7 Haus- und Abschlussarbeiten.8 Gespräche mit anderen Initiativen und Vereinen gaben zudem Anstöße für immer neue Themen und Vorhaben. Beispielsweise nahm ich 2007 Kontakt mit dem Künstler Gunter Demnig auf, was damals den Anreiz dazu lieferte, dass in Thüringen sogenannte Stolpersteine verlegt wurden.9 Auch die damit in Gang gesetzten Synergien verselbständigten sich rasch und fanden in Bahnen, die heute kaum noch zurück zu verfolgen sind. In Apolda etwa schuf man von 2008 an 57 derartige Mahnmale. Initiativ zeichnete dabei der 2007 neben vielen anderen von mir mitgegründete Verein Prager-Haus e.V. – ein Zusammenschluss überwiegend engagierter Laien – verantwortlich, unter dessen Federführung seither Schüler und Interessierte Schicksale jüdischer Einwohner der Stadt recherchieren und die Ergebnisse in einer eigenen Schriftenreihe zugänglich machen.10 In Arnstadt, wo ein weiteres Mitglied der Studentengruppe aktiv wurde, sind bis zum heutigen Datum sogar 140 Stolpersteine verlegt worden.11 Die Strahlkraft der Projekte war aber nicht nur eindimensional. Auch die Arbeitsgruppe in Jena profitierte fortfolgend. Auf Grundlage der Recherchen konnte so eine Wanderausstellung konzipiert werden, die im November 2008 im Thüringer Landtag eröffnet wurde.12 Hinzu kamen ein Katalog und ein Begleitband.13 Im selben Jahr produzierte die Journalistin Ute Gebhardt im Auftrag des MDR gemeinsam mit Vertretern des Arbeitskreises und auf Basis derer Forschungen einen Dokumentarfilm.14 Noch bis zuletzt – zehn Jahre nach Projektbeginn – arbeitete Monika Gibas in immer neuen Städten mit immer neuen Laien Einzelschicksale anhand wissenschaftlicher Kriterien auf und erweiterte die Schau – was stets auch auf mediales Interesse stieß.15 Selbst wenn das hier skizzierte Projekt im Nachhinein eine   6 7 8 9 10 11 12 13 14 15

Gibas (2009): „Arisierung“ in Thüringen. Vgl. etwa Faludi (2007): „Die waren eben einfach weg!“; Faludi (2007): „Davon haben wir nichts gewusst!“ Vgl. etwa die publizierte Magisterarbeit von Schoenmakers (2012): Familie Friedmann. Zum Projekt siehe http://www.stolpersteine.eu/. Vgl. die Reihen „gesucht“ und „gefunden“ des Vereins Prager-Haus Apolda e.V. sowie die seit 2015 erscheinende (etwas unglücklich benannte) Reihe „Apoldaer Judengeschichten“. Mehr Informationen bietet die Website http://vereins.wikia.com/wiki/Prager-Haus _e.V._ Apolda. Vgl. Köhler (2016): Spuren jüdischer Geschichte. Vgl. hierzu auch Faludi / Gibas (208): Beraubung. Gibas (2009): „Ich kam als wohlhabender Mensch […]“. Der Film wurde unter dem Titel „Ausgeplündert. ‚Arisierung‘ in Thüringen“ seit November 2008 mehrfach im öffentlich–rechtlichen Rundfunk gesendet. Dies war insbesondere immer dann der Fall, wenn Zeitzeugen und / oder Nachfahren eintrafen. Vgl. etwa Döbert (2015): „Arisierung in Thüringen“. Vgl. auch zusammenfassend Gibas

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Erfolgsgeschichte darstellt, war das während des Prozesses nie abzusehen. Aufgrund der finanziellen Umstände – lediglich die Projektleitung wurde temporär etwa mit Geldern der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen für Personal unterstützt – blieb das Gefüge stets prekär und basierte fast ausschließlich auf dem ehrenamtlichen Engagement der Beiträger. Eine notwendig tragfähige, professionelle Struktur zur Arbeit bestand fast nie. Dennoch sind die greifbaren Ergebnisse und die in Gang gesetzten Auswirkungen beachtlich. Noch mehr Strahlkraft erwarten lässt ein ähnlich gelagertes, zweites Beispiel aus unmittelbarer Nachbarschaft: Seit dem Jahr 2012 arbeitet ein Team um den Stadthistoriker Rüdiger Stutz an der Erstellung eines Lexikons zur Jenaer Stadtgeschichte. Ausdrücklich richtet sich das Projekt „nicht vorrangig an Fachwissenschaftler und Spezialisten […], sondern an stadthistorisch interessierte Laien, an die Einwohner der Stadt und deren auswärtige Freunde und Förderer“.16 Für mehr als 1.200 Einträge wurden rund 230 Autoren geworben, darunter eine Vielzahl Nichtwissenschaftler. In Eigenleistung recherchierten und schrieben diese zu den jeweiligen Themen, begleitet von einem im Hintergrund agierenden Kernteam städtischer Angestellter, das durch eine ganze Reihe wissenschaftlicher Redakteure – darunter der Autor – ergänzt wird. Das etwa 800 Seiten umfassende Lexikon wird somit zu einem Gemeinschaftsprojekt aus Wissenschaft und bürgerschaftlichem Engagement, das eine ganze Reihe neuer Erkenntnisse beinhalten wird. Aber nicht nur die Forschung profitiert hiervon, auch die Beiträger erhalten einen Mehrwert, der sich bei Weitem nicht allein anhand der vergleichsweise geringfügigen, materiellen Aufwandsentschädigung bemessen lässt. Vielmehr werden Bürger zu gleichberechtigten Kollegen und Autoren einer Publikation, die wissenschaftliche Kriterien erfüllt. Neben dem Aufbau eines Netzwerkes legen alle Beiträger mit dem Lexikon ferner den Grundstein zum Entstehen einer neuen Gesamtdarstellung der Stadtgeschichte nach mehr als 50 Jahren17 sowie zu einer Online-Plattform des Lexikons, die als „lebendige“ Publikation stetig weitergeführt werden soll und somit eine Fortführung der fruchtbaren Koalitionen ermöglicht.18 Freilich, die hier geschilderten Beispiele sind im Kern nicht unbedingt das, was heute als Citizen Science bezeichnet wird. In ihrer Struktur und vor allem in ihren messbaren Erfolgen sind sie aber damit vergleichbar und zeigen auf, welches Potenzial das Konzept beinhaltet − insbesondere für geschichtswissenschaftliche Projekte. Liest man vor diesem Hintergrund das im Frühjahr erschiene „Grünbuch. Citizen Science Strategie 2020 für Deutschland“, stellt man fest, dass das darin vorgestellte Vorhaben auf einen bereits bestehenden, durchaus fruchtbaren Boden fällt. Die Schrift, die „unter Beteiligung von mehr als 700 Personen aus 350 Organisati-

  (2012): Lehr- und Forschungsprojekt „Arisierung“ in Thüringen; Gibas / Wurzel (2013): Ausgegrenzt und ausgeplündert. 16 http://www.jena.de/de/stadt_verwaltung/stadtverwaltung/dezernat1/ bereich_des_oberbuergermeisters/team_strategie_und_kommunikation/lexikon/221321 17 Die letzte Gesamtdarstellung stammt von Koch (1966): Geschichte der Stadt Jena. 18 Zitat bei Groß (2016): Historie.

   

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onen, wissenschaftlichen Einrichtungen, Fachgesellschaften, Vereinen und Verbänden, Stiftungen und Einzelpersonen […] entstanden“19 ist, erläutert ein Konzept mit ambitionierten Zielen. Unter der alles verbindenden Maßgabe, neues Wissen zu befördern, soll Citizen Science in den kommenden vier Jahren „ein integraler Bestandteil gesellschaftlicher und wissenschaftsbasierter Debatten sowie ein gewinnbringender Ansatz für Wissenschaft, Politik und Gesellschaft“ werden. Ferner soll sie „ein in der Gesellschaft etablierter Ausdruck der Beteiligung und Mitbestimmung zur Bearbeitung gesellschaftlich relevanter Fragestellungen, […] ein wichtiger Bestandteil des Lebens der Bürgerinnen und Bürger, […] ein in der Wissenschaft anerkannter, etablierter und praktizierter Forschungsansatz, […und] ein in der Politik anerkannter Prozess der Bürgerbeteiligung“ werden sowie „ein Beteiligungsformat [darstellen], das durch die Anwendung von webbasierten Infrastrukturen gekennzeichnet ist, die als vertrauenswürdige und datenschutzkonforme Umgebungen den Austausch und die Zusammenarbeit bei Citizen-Science-Projekten befördern.“20

Erreicht werden soll dies durch eine Stärkung bestehender oder Entwicklung neuer Netzwerke und Finanzierungsmodelle sowie der Förderung des Ehrenamtes; der wichtigsten Säule im Konzept – wobei hier den Koordinatoren zwischen Wissenschaftlern und Laien eine Schlüsselfunktion zukommt. Als Transformatoren sollen diese Citizen Science-Projekte an bestehende Systeme andocken, um diese zu gesamtgesellschaftlichen Bildungskonzepten zu verschmelzen. Unterstützt durch insbesondere webbasierte Infrastrukturen, erhoffen sich die Autoren damit auch, eine neue Anerkennungskultur für wissenschaftliches Arbeiten auf den Weg zu bringen. Konkret heißt es dazu: „Citizen Science als eigenständiges Format benötigt die Integration und Anerkennung in Gesellschaft, Wissenschaft und Politik. Hierfür bedarf es der Etablierung einer Anerkennungskultur, die sich dadurch ausdrückt, dass die verschiedenen Ausprägungen von Citizen-ScienceAktivitäten geschätzt, honoriert und gelebt werden.“21

Aufgabe ist es daher, Impulse aus der Bevölkerung aufzunehmen und in konkrete Bahnen zu lenken. Denn nur wissenschaftliche und bürgerschaftliche Interessen im Einklang – so die Studie – versprechen die Generierung neuen Wissens im Verbund mit der Förderung eines nachhaltigen Verständnisses für Wissenschaft und Forschung im Sinne einer Citizen Science. Die Mitsprache wird somit zu einem der Leitmotive, die auch zur „Öffnung der Wissenschaft“22 beitragen soll: „Für die Wissenschaft liegt der Mehrwert von Citizen Science in der Einbindung von neuem Wissen und neuen Impulsen aus der Gesellschaft in den Forschungsprozess. Die Zusammenarbeit mit Bürgerinnen und Bürgern ermöglicht auch innerhalb der Wissenschaft einen Lernprozess und die Auseinandersetzung mit neuen Verfahren, Diskussionen und Perspektiven. Auf der anderen Seite ergeben sich besondere Potenziale für neue Forschungsthemen.“23

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Grünbuch (2016), S. 2. Ebd., S. 6. Ebd., S. 9. Ebd., S. 19. Ebd.

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Mit seinen Zielsetzungen, Projekten und zu schaffenden Strukturen wirkt der 2013 von engagierten Bürgern gegründete Weimarer Republik e.V. bereits jetzt wie eine Blaupause zu dem, was Citizen Science als Basis benötigt, um erfolgreich zu sein. Getragen von den Säulen politische Bildung, museale Aufbereitung und wissenschaftliche Forschung wird in Weimar am authentischen Ort ein Haus der Weimarer Republik entstehen, das sowohl zum Zentrum der themabezogenen Forschung als auch zum zugangsoffenen Forum werden soll.24 Dabei geht es den Verantwortlichen inhaltlich darum, eine lebendige Erinnerung zu schaffen, mithilfe derer „Weimar“ aus dem Schatten des Nationalsozialismus geholt werden soll. Denn nur allzu oft werden bis heute die vierzehn Jahre der Republik ex post betrachtet und damit zum bloßen „Vorspiel“ des „Dritten Reiches“ oder zur temporären Periode zwischen Novemberrevolution und „Machtergreifung“ degradiert. Das gilt sowohl für das kulturelle Gedächtnis als auch für die Pädagogik. Selbst die Forschung bleibt hier – trotz vielfacher Beteuerung der Differenzierung – oft außen vor.25 Dabei bietet der Bereich gerade außerhalb der viel zitierten „Krisenjahre“26 enormes Potenzial: Abgesehen von greif- oder sichtbaren Dingen wie Nationalfarben, -hymne oder Bundesadler basieren viele unserer gültigen Grundrechte auf der Weimarer Verfassung, die seinerzeit als eine der nachahmenswertesten Vorlagen für demokratische Grundordnungen galt. Weite Teile des Rechtekataloges, der Sozialgesetzgebung, der Arbeitsrechtsbestimmungen oder der Finanzordnung finden sich in heutigen Gesetzen wieder. Ein Blick auf die Forschungsleistungen der Zeit verrät – oftmals überraschend –, wie stark unser gegenwärtig selbstverständliches Leben auf Errungenschaften aus den Jahren 1919 bis 1933 fußt. Darüber hinaus war „Weimar“ mit seiner pluralen kulturellen Landschaft ein Nährboden für bis heute vital-erlebbare Kunst. Die Liste diesbezüglicher Resultate ist nahezu endlos fortsetzbar. Damit einher ging die Entfaltung alternativer Lebensweisen. Die Metropolen des Landes, allen voran Berlin, daneben etwa aber auch das Bauhaus-Weimar, wurden für In- und Ausländer zu „Mekkas“ der Moderne. In Sachen Toleranz und Weltoffenheit war die Weimarer Republik der heutigen Gesellschaft näher als es die frühe Bundesrepublik oder die DDR waren. Gleiches gilt für Ausprägungen von Intoleranz, Rückwärtsgewandtheit und politisch wie auch geistig-kulturellen Strömungen, die eine demokratische Staatsform gefährden können. Thematisch liegen die Anknüpfungspunkte für eine erfolgreiche und lebendig gestaltbare Citizen Science im Rahmen des Hauses der Weimarer Republik damit auf der Hand: Es gilt, enorm Vielem zu erinnern und noch mehr zu erforschen. Gerade das bürgerschaftliche Engagement verspricht dabei ein Innovationspotenzial, das sich nicht nur in der strukturellen Methodik sondern auch in der Schwerpunktsetzung niederschlägt, die eben nicht wieder zur ex post-Perspektive des bloßen Vorspiels „Weimars“ zum Nationalsozialismus führen soll. Verstärkend wirkt   24 Vgl. Weimarer Republik e.V. (2016): Konzept. 25 Exemplarisch in diesem Zusammenhang ist die 2009 zuletzt wieder aufgelegte Arbeit Hans Mommsens (1998) unter dem programmatischen Titel „Aufstieg und Untergang der Republik von Weimar. 1918–1933“. 26 Ebenfalls mit programmatischem Titel die 2014 zum 14. Mal aufgelegte Monographie von Detlev Peukert (1987): Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne.

   

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dabei auch, dass das einhundertjährige Jubiläum zur Gründung der Republik 2019 in den darauffolgenden Jahren stetig Daten folgen lässt, denen es ebenfalls zu gedenken gilt. Gerade heute „vergessene“ Ereignisse aus Kultur, Wissenschaft oder auch Politik können die Weimarer Republik dabei in einem anderen Licht und gerade für Geschichts-/Politikverdrossene auch interessanter erscheinen lassen. Die Strahlkraft der „einhundert Jahre“ bietet zudem weitere Chancen: So sichert der jeweilige runde Jahrestag ein nicht zu unterschätzendes mediales Echo, wie es zum anderen auch das Interesse zum Mitwirken Ehrenamtlicher an jeweiligen Projekten stets wecken wird. Deren Ausprägungen können die unterschiedlichste Gestalt annehmen. Denkbar ist insbesondere die Recherche und Digitalisierung von Dokumenten unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten, wobei lokale Zeitungen aus allen, auch heute im Ausland liegenden Regionen, eine zentrale Rolle einnehmen sollten. Beginnend mit den Revolutionsereignissen und der Gründungsphase würde so in Zusammenarbeit mit Archiven auf lokaler und staatlicher Ebene ein Korpus zusammengetragen, der wissenschaftlich erschlossen, digitalisiert und medial aufbereitet eine überaus effektive und „lebendige“ Datenbank füllen kann. Auf diese Weise entstünde ein von Wissenschaftlern und Laien fortwährend bestücktes Webarchiv, das zunächst die Revolutions- und Gründungsphase, im weiteren Verlauf aber auch die wechselvolle Historie der Weimarer Republik aus der Perspektive einer ‚Geschichte von unten‘ und aus regionaler und lokaler Perspektive neu erzählt. Eine solche Datenbank wiederrum würde zugleich einen wertvollen Zugang für Forschende verschiedener (historischer) Disziplinen wie auch Pädagogen und interessierte Laien außerhalb der Projekte bieten. Innerhalb derer wäre es Aufgabe der Wissenschaftler, den mitwirkenden Bürgern zudem eine Hilfestellung bei der Interpretation der Quellen und zur Entwicklung eigener Fragestellungen zu geben. Diese können sich sowohl im regionalen als auch nationalen Kontext bewegen und jeweils an Projekte anderer Forscher(-gruppen) im In- und Ausland anknüpfen. Das wissenschaftliche Leitungsteam unterstützt und koordiniert in diesem Rahmen die Aktivitäten der bundesweit aktiven Gruppen forschender Bürgerinnen und Bürger. Die Tragweite einer positiven Netzwerkbildung ist in diesem Zusammenhang nicht zu unterschätzen. Angereichert durch weitere Dokumente(-gruppen), eine Einleitung und einen wissenschaftlichen Apparat könnten ferner Broschüren in einer Reihe herausgegeben werden, die – regelmäßig erscheinend – zu jeweiligen Gedenkveranstaltungen eine korrespondierende, nachhaltig wirkende Handreichung wären. Ebenso ist denkbar, einen Teil der Ausstellung im Haus der Weimarer Republik wechselhaft mit Rechercheergebnissen aus Citizen Science-Projekten zu bestücken. Das Gebäude würde so zum sichtbaren Forum einer gesamtgesellschaftlich-integrativen, innovativ lebendig gehaltenen Erinnerung, die stets auch mit Veranstaltungen kombinierbar ist. Vorträge, Lesungen, Filmvorführungen, Kolloquien, Workshops, Kunstveranstaltungen – die Liste der Möglichkeiten ist endlos fortführbar und dürfte mit der Einbindung von Bürgern aus den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten in immer neue Regionen wachsen. Welche Folgeprojekte und Querverbindungen daraus erwachsen können, ist heute kaum absehbar. Der bereits bestehende, professionelle Rahmen des Vereins lässt allerdings das darin liegende

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Potenzial erahnen – wie das oben skizzierte „Arisierungs“-Projekt zeigt. Für die akademische Forschung würde dies nicht nur bedeuten, dass sie mittels neuer Impulse vorangetrieben würde und aus anderen Perspektiven Licht erhielte; es würde auch dazu führen, dass Wissenschaft und WissenschaftlerInnen wieder ein Stück des Vertrauens zurückerlangten, das in den letzten Jahren durch die zunehmende Distanz zu den Bürgern stetig verloren ging. Letztlich werden auch die Träger des Hauses der Weimarer Republik ihr Projekt daran messen lassen müssen, wie die Gesellschaft darauf reagiert – aufbauend auf den Visionen und der nationalen Strategie des oben zitierten „Grünbuches“ wäre Citizen Science hierbei nicht nur eine nützliche Erweiterung, sondern auch eine erfolgversprechende Chance. LITERATUR Döbert, Frank: Carl-Zeiss-Gymnasium Jena zeigt die Ausstellung „Arisierung in Thüringen“. In: Ostthüringer Zeitung, 27.1.2015. Faludi, Christian: „Davon haben wir nichts gewusst!“ In: Thüringer Allgemeine, 20.9.2007. Ders.: „Die waren eben einfach weg!“ In: Thüringer Allgemeine, 20.8.2007. Ders. / Gibas, Monika: Dokumentation der Beraubung – Das Forschungsprojekt „‚Arisierung‘ in Thüringen“. In: Medaon. Magazin für Jüdisches Leben in Forschung und Bildung, Heft 3 (2008), unter: medaon.de/pdf/A_Faludi-Gibas-3-2008.pdf [8.9.2016]. Feyerabend, Paul: Science in a free society. London 1978. Finke, Peter (Hrsg.): Freie Bürger, freie Forschung. Die Wissenschaft verlässt den Elfenbeinturm. München 2015. Ders.: Citizen Science. Das unterschätzte Wissen der Laien. München 2014. Gibas, Monika (Hrsg.): „Arisierung“ in Thüringen. Entrechtung, Enteignung und Vernichtung der jüdischen Bürger Thüringens 1933–1945. 2 Halbbände. Erfurt 2009. Dies. (Hrsg.): „Ich kam als wohlhabender Mensch nach Erfurt und ging als ausgeplünderter Jude davon.“ Schicksale 1933–1945. Erfurt 2008. [Katalog zur Ausstellung] „Arisierung“ in Thüringen. Ausgegrenzt. Ausgeplündert. Ausgelöscht. (=Selecta 10). Leipzig 2009. Dies. / Wurzel, Thomas (Bearb.): Ausgegrenzt und ausgeplündert. Judenverfolgung in Thüringen 1933–1945. Zur Bilanz eines Wanderausstellungsprojektes (=Selecta 13). Leipzig 2013. Dies.: Das praxisorientierte Lehr- und Forschungsprojekt „Arisierung“ in Thüringen. Beispiel für eine gelungene Kooperation mit außeruniversitären Partnern bei der Bearbeitung eines regionalgeschichtlichen Themas. In: Heimat Thüringen. Kulturlandschaft, Umwelt, Lebensraum 18 (2012), S. 37–40. Groß, Michael: Historie in über 1200 Begriffen: „Lexikon zur Jenaer Stadtgeschichte“. In: Thüringer Allgemeine, 15.01.2016. Grünbuch. Citizen Science Strategie 2020 für Deutschland. Leipzig 2016, unter: http://www.buergerschaffenwissen.de/sites/default/files/assets/dokumente/gewiss-gruenbuch_citizen_science_strategie.pdf [6.9.2016]. Koch, Herbert: Geschichte der Stadt Jena. Stuttgart 1966. Köhler, Antje: Auf den Spuren jüdischer Geschichte. In: Thüringer Allgemeine, 20.08.2016. Mommsen, Hans: Aufstieg und Untergang der Republik von Weimar. 1918–1933. Berlin 1998. Peukert, Detlev: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne. Frankfurt a.M. 1987. Schoenmakers, Christine: „I believe we were the last Jews to escape.“ Die Familie Friedmann in Jena. Eine jüdische Lebensgeschichte im Spannungsfeld zwischen „Arisierung“ und Wiedergutmachung. Saarbrücken 2012.

   

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Christian Faludi

Ulbricht, Justus H. (Hrsg.): Weimar 1919 – Chancen einer Republik (Begleitband zur Ausstellung „Weimar 1919 – Chancen einer Republik“ der Stadt Weimar. Köln / Weimar / Wien 2009. Weimarer Republik e.V.: Konzept für ein Haus der Demokratie in Weimar. Unter: http://www.weimarer- republik.net/files/konzept_haus_der_demokratie.pdf [8.9.2016].

WEIMAR UND DIE DEMOKRATIE FÜR JUNGE BÜRGER Moritz Kilger 1. EINLEITUNG Der 100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges im Jahre 2014 hat eine hohe mediale und publizistische Aufmerksamkeit erfahren. Dieses weit zurückliegende historische Ereignis war plötzlich zum Greifen nahe und es wurde deutlich, dass der Krieg und seine Folgen maßgeblich den Verlauf des weiteren Jahrhunderts mitbestimmt haben. Im Jahre 2019 wird sich die Gründung der ersten Demokratie in Deutschland, der Weimarer Republik, ebenfalls zum 100. Mal jähren. Auch dieses historische Jubiläum wird eine hohe öffentliche Aufmerksamkeit erfahren. Dabei ist unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten die Bedeutung dieses Jahrestages noch höher zu veranschlagen, da sich heute, wie selten zuvor, Fragen aufdrängen, ob sich unsere demokratische Staats- und Gesellschaftsform ohne Weiteres wird aufrechterhalten lassen. Dieser Aufsatz befasst sich damit, warum es sich lohnt, gerade jetzt auf die Weimarer Republik zu schauen. Warum dieses Thema besonders dazu geeignet ist, zu verstehen, dass die heute von uns als normal hingenommenen demokratischen Errungenschaften keineswegs für immer Bestand haben müssen, sondern dass diese immer wieder neu erkämpft werden müssen. Der Beitrag will herausarbeiten, dass die damaligen Ereignisse auch heute von hoher Aktualität sind und dass die (Jugend-) Bildung aufgerufen ist, sich damit intensiv zu beschäftigen. Es soll, im Lichte der damaligen Erkenntnisse, aufgezeigt werden, welchen Gefährdungslagen sich die heutige Demokratie ausgesetzt sieht. Hierzu sollen in einem ersten Schritt die Einstellungen heutiger Jugendlicher zu den politisch-gesellschaftlichen Verhältnissen untersucht werden, um zu zeigen, wie Bildungsansätze beschaffen sein sollten, damit sie wirksam sind und Jugendliche erreichen. In einem zweiten Schritt wird dann konkret erläutert, wie wir in der Europäischen Jugendbildungs- und Begegnungsstätte Weimar (EJBW) das Thema Weimarer Republik aufgreifen und welche Ziele, Inhalte und Methoden unsere Seminare verfolgen. Daran anknüpfend wird in einem dritten Schritt gefragt, wie sich der Zustand unserer Demokratie im historischen Spiegel der Weimarer Republik darstellt, um viertens eine Aussage darüber treffen zu können, ob und wenn ja, wie Parallelen zu Weimarer Zeiten existieren. Der Letzte Abschnitt fasst zusammen und gibt einen Ausblick.

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2. WIE TICKEN JUGENDLICHE HEUTE? Wenn wir die Weimarer Republik auf die Agenda der historisch-politischen Bildung von Jugendlichen setzen wollen, müssen wir als erstes die Frage beantworten, warum Jugendliche sich überhaupt für die Weimarer Republik interessieren sollten. Dazu müssen wir wissen, wie Jugendliche heute eigentlich ticken. Es gibt eine Reihe von Untersuchungen, die sich hiermit befasst, allen voran das seit über 60 Jahren existierende Standardwerk, die sog. Shell-Jugendstudie.1 Diese, zuletzt 2015 mit dem Titel „Generation im Aufbruch“ erschienene Studie bescheinigt den heutigen Jugendlichen ein hohes Maß an Pragmatismus und Leistungsbereitschaft.2 Grundsätzlich, so die Studie, würden die Jugendlichen die Lage und die Zukunft der Gesellschaft positiv beurteilen und ohnehin sei der große Optimismus der Jugendlichen trotz des schwierigen weltweiten Umfeldes auffällig. Uns hat dieser Befund überrascht, da wir in der täglichen Arbeit mit Jugendlichen andere Erfahrungen sammeln. Liest man allerdings ein wenig zwischen den Zeilen, kann man die Ergebnisse der Studie auch anders auslegen. Da ist zunächst festzustellen, dass die Daten in der Zeit von Januar bis März 2015 erhoben worden sind, sodass das Flüchtlings-Thema, welches erst seit dem Sommer 2015 richtig an Brisanz gewonnen hat, noch nicht voll erfasst werden konnte, ganz zu schweigen von den wiederholten terroristischen Attacken seit Ende 2015. Der optimistische Aufbruch ist zudem an die soziale Schichtung gekoppelt. Nur ab der oberen Mittelschicht aufwärts (wenngleich dies nach der Systematik der Studie in etwa zwei Drittel der Jugendlichen sein sollen) wird positiv in die Zukunft geblickt, bei den übrigen ist dies nicht der Fall. Aber sprechen wir wirklich von zufriedenen Jugendlichen, wenn es für sie darum geht, einen gesicherten Platz in der Gesellschaft erreichen zu müssen? Oder steht dahinter nicht doch eine Furcht vor sozialem Abstieg, dem nur derjenige entrinnen kann, der über das entsprechende Leistungsvermögen verfügt? Hält man sich das heutige Leistungspensum von Schülern in Zeiten von G8 und Bologna-Prozess vor Augen, muss die Frage erlaubt sein, ob diese Menschen tatsächlich altersgerecht leben. Zudem gibt es eine markante Trennlinie zwischen Ost und West. Zuwanderung wird hier völlig anders bewertet als dort, genauso wie die Zufriedenheit mit der Demokratie. Der großen Mehrheit der Jugendlichen muss zudem ‚Politikerverdrossenheit‘ bescheinigt werden: Der Politik wird nicht zugetraut, sich um die Probleme der Leute zu kümmern, sondern sie steht im Verdacht, nur an sich selbst interessiert zu sein. Unser Eindruck aus der alltäglichen Arbeit mit Jugendlichen ist der, dass eine große Sorge vor der Zukunft verbreitet ist, deren Ursache in einer tieferliegenden Verunsicherung und Orientierungslosigkeit liegt. Wir merken zudem, dass sich Zukunftsängste oftmals in einer Geisteshaltung niederschlagen, die zu Abschottung und Ausgrenzung neigt.   1 2

Albert et al. (2015): Shell Jugendstudie. Ebd. S. 13.

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Für uns in Weimar spielen zudem die Realitäten in den neuen Bundesländern eine wichtige Rolle und diese unterscheiden sich vom gesamtdeutschen Befund. Eine für uns daher maßgebliche Studie ist der sogenannte „Thüringen-Monitor“, der seit über 20 Jahren Einstellungen und Werte von Thüringer Bürgerinnen und Bürgern untersucht.3 In aller Kürze: Es ist bemerkenswert, dass sich die politische Kultur in Thüringen auch dadurch auszeichnet, dass über alle Alterskohorten hinweg zwei Drittel in einem Gefühl der relativen Benachteiligung gegenüber den alten Bundesländern lebt, die Mehrheit angibt, dass in der Bundesrepublik ein hohes Maß an sozialer Ungerechtigkeit herrsche und die deutsche Wiedervereinigung insgesamt nicht zu besseren Lebensverhältnissen geführt habe. Im Hinblick auf die Bewertung der DDR hat der Monitor herausgearbeitet, dass für die Mehrheit der Menschen die DDR zwar ein Unrechtsstaat war, was aber das insgesamt positive Gesamtbild der DDR nicht beeinträchtigt. Insbesondere der in der DDR wahrgenommene stärkere gesellschaftliche Zusammenhalt wird heute schmerzlich vermisst. Aus einem Gefühl der relativen Benachteiligung (vom Thüringen-Monitor „Ost-Deprivation“ genannt) resultiert auch eine insgesamt reservierte Einstellung gegenüber der Staatsform der Demokratie. Eine Mehrheit der Befragten ist von der Demokratie als Staatsform nur eingeschränkt überzeugt, weshalb der Monitor zu dem Schluss kommt, dass „gegen ein Regime, das durch Homogenität, Egalität und Autoritarismus gekennzeichnet war und dessen wesentliches Charakteristikum der ‚Zusammenhalt‘ gewesen ist, (…) sich ein Staats- und Gesellschaftsmodell, welches plural ist und sich auf Konkurrenz, Toleranz und friedliche Konfliktaustragung gründet, auch 25 Jahre nach der Einheit, erst noch behaupten [muss]“.4

Neben der Demokratieferne ist auffällig, dass ein hohes Maß an Fremdenfeindlichkeit zu verzeichnen ist, die letztlich aus dem Gefühl der Ost-Deprivation herrührt. Der Thüringen-Monitor stellt fest, dass ca. ein Viertel der Thüringer Bevölkerung nach seiner Definition als rechtsextrem einzustufen ist.5 Besonders problematisch ist der Umstand, dass der in der DDR-Zeit positiv konnotierte gesellschaftliche Zusammenhalt mit einer vergleichsweise homogenen Gesellschaftsstruktur einherging. Im Umkehrschluss heißt das, dass in den Augen der Menschen einer zunehmend vielfältigen Gesellschaft nicht zugetraut wird, zusammenhalten beziehungsweise solidarisch sein zu können. Dies erklärt die starke, emotionale Abneigung gegenüber der Zuwanderung von Menschen. Diese Einstellungsmuster schwächen

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Vgl. hierzu und im Folgenden: Best et al. (2015): Politische Kultur im Freistaat Thüringen [Thüringen Monitor]. Ebd. S. 124. Ebd. S. 91. Der Thüringen-Monitor definiert „rechtsextrem“ wie folgt: „Verharmlosung des Nationalsozialismus, Antisemitismus, Diktaturunterstützung und Sozialdarwinismus sind die Einstellungskomponenten zur Messung der Nähe zur neo-nationalsozialistischen Ideologie. Gemeinsam mit Ethnozentrismus (fremdenfeindliche und chauvinistische Einstellungen) ergeben die sechs Komponenten die Definition für rechtsextreme Einstellungen, wie sie in den meisten bundesweiten und regionalen Befragungen verwendet wird.“, ebd. S. 86.

   

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sich bei den Jugendlichen6 zwar ab, gleichwohl ist zu berücksichtigen, dass sie in einer bestimmten politischen Kultur aufwachsen und von dieser geprägt sind. Unsere täglichen Erfahrungen mit Jugendlichen aus Ost und West spiegeln sich in dem Befund des Monitors wider. Also: Natürlich stellen die Jugendlichen auch heute noch die großen Fragen und suchen nach Antworten. Allerdings leben sie im Vergleich zu ihren Altersgenossen früherer Generationen in dem Gefühl, sich sehr anstrengen zu müssen, um später einen Platz in der Gesellschaft finden zu können. Individuelles Streben nach Selbstverwirklichung und „Glück“ (und damit verbinden sich eher konservative Werte wie Sicherheit, Familie, stabile soziale Beziehungen) steht vor gesellschaftlichem und politischem Engagement. Ein Autor der Shell-Studie spricht daher sogar auch von „unjugendlichen Jugendlichen“.7 Ostdeutsche Jugendliche haben verständlicherweise einen anderen Blick auf die deutsche Wiedervereinigung und haben zudem meist persönliche Diskriminierungserfahrungen machen müssen. Sie haben daher eine andere Perspektive auf heute geforderte Offenheit gegenüber gesellschaftlicher Vielfalt. Wir machen diese Erfahrung übrigens auch mit Jugendlichen aus anderen, insbesondere osteuropäischen Ländern, wo die artikulierte Abneigung gegenüber gesellschaftlicher Vielfalt teilweise noch weitaus stärker ausgeprägt ist, was aber ebenfalls historische Ursachen hat. 3. DIE WEIMARER REPUBLIK IN DER POLITISCHEN BILDUNG Der politischen Bildung bieten sich verschiedene Möglichkeiten, auf Einstellungsmuster junger Menschen zu reagieren, ihnen Stabilität und Orientierung zu geben und ihnen gegebenenfalls dabei zu helfen, aus dem sich stark auf Abgrenzung stützenden mindset herauszukommen, dass sich schlimmstenfalls auch in Ausgrenzung niederschlagen kann. Eine Möglichkeit besteht darin, eben diese Denk- und Verhaltensmuster in den Mittelpunkt der pädagogischen Arbeit zu stellen. Das Lernziel dieses eher sozialpsychologischen Ansatzes liegt dann darin, vertiefte Einsichten in die Beweggründe für das eigene Denken und Handeln zu gewinnen, um so die eigene Handlungssouveränität beibehalten beziehungsweise zurückgewinnen zu können. Gerade wenn sich erlittene Demütigungs- und Diskriminierungserfahrungen in Abschottung und Fremdenfeindlichkeit kanalisieren, besteht eine zweite Möglichkeit darin, Räume zu schaffen, in denen sich Menschen begegnen können und zwar   6

7

Der Thüringen-Monitor schlüsselt im relevanten Bereich auf zwischen der Kohorte der 18–24jährigen und der der 25–34-jährigen. Im Bereich der Jugendbildung ist man bis 27 Jahre jugendlich, weshalb der methodischen Exaktheit halber streng genommen, die Befragungsergebnisse aus beiden Kohorten gewichtet zusammengerechnet werden müssten. Dies würde den Rahmen des vorliegenden Beitrages sprengen und zudem zu keiner wesentlichen Erkenntniserhellung beitragen. So Dr. Thomas Gensicke bei seinem Vortrag am 22.3.16 anlässlich des Fachtages „Aufbruch ohne Umbruch?! Was bedeutet die 17. Shell-Jugendstudie für Thüringen“ in der EJBW.

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solche, die aus ‚fremden‘ Gegenden und Kulturen kommen. So können Ängste abgebaut werden, weil ‚das Fremde‘ nicht mehr als solches erlebt wird und Zuschreibungen („Ausländer / Muslime sind…“) können als solche entlarvt werden. Es kann deutlich werden, dass es sich auch bei dem „Fremden“ um einen Menschen handelt, der im Grunde die gleichen Ängste und Hoffnungen hat, wie ich und meine peer group auch. Ängsten wird somit die Grundlage entzogen, denn bekanntlich ist die Fremdenfeindlichkeit dort besonders groß, wo besonders wenig Ausländer leben. Ein dritter Ansatz besteht in der historisch-politischen Bildung. Hier ist ein erstes Lernziel, das Verständnis dafür zu schärfen, dass unsere gegenwärtige Welt aus etwas Vergangenem geworden und dadurch mitbestimmt ist, wir also nicht in einer willkürlich entstandenen Welt leben. Ein zweites Ziel liegt darin, einen normativen Richtungssinn für das sich auf die Zukunft ausgerichtete Denken und Handeln zu vermitteln und beinhaltet dabei immer ein Moment der Utopie-Entwicklung. Historisch-politische Bildung orientiert sich grundlegend an dem didaktischen Dreischritt „Was war?“ – „Was ist?“ – „Was soll werden?“ Die Weimarer Republik ist ein herausragender Gegenstand der historisch-politischen Bildung. Wie kaum ein anderer eignet sie sich dazu, uns den historischen Spiegel vorzuhalten und sie bietet eine schier atemberaubende Fülle an uns auch heute aktuell bewegenden Themen. Wie kann auf diesen hochkomplexen Stoff thematisch zugegriffen werden? Aus der Schule kennen die meisten aus eigener Erfahrung sicherlich noch den Verfassungsvergleich: Welche Webfehler in der Weimarer Reichsverfassung haben zu politisch instabilen Verhältnissen geführt und was haben die Verfasser des Grundgesetzes daraus gelernt und besser gemacht? Verschiedene Beiträge der jüngsten Forschung, so auch in diesem Band, gehen aber von dieser traditionellen Sicht (Bonn ist nicht Weimar) zunehmend ab. Denn nicht die Konstruktionsfehler der Verfassung, sondern der Umgang mit ihr durch die politischen Eliten und andere wichtige Bevölkerungskreise zerstörte die Weimarer Demokratie. Ein zweiter Zugang kann beispielsweise darin liegen, wie wir mit unseren nationalen Symbolen und Errungenschaften umgehen und warum. Wurden diese damals wie heute verwendet und weshalb hegen die Deutschen heute einen oft so problematischen Umgang mit ihren nationalen Symbolen? Im Folgenden sollen jedoch die wirtschaftlichen Verhältnisse ins Zentrum der Betrachtung gerückt werden, da sich auf diesem Gebiet einige bemerkenswerte Parallelen zur Zeit der Weimarer Republik ergeben. Ein kurzer Einblick in die EJBW sei gewährt. Sie ist eine Bildungs- und Begegnungsstätte in Weimar und wir verzeichnen pro Jahr etwa 27.000 Übernachtungen. Menschen kommen zu uns, um am Lernort Weimar mit seinen zahlreichen kulturellen, philosophischen, historischen und politischen Bezügen aktuelle gesellschaftspolitische Fragestellungen vor Ort erfahrbar zu machen und geschichtlich zu verorten. Neben der inhaltlichen Beschäftigung geht es dabei auch immer um das soziale Lernen und die persönliche Weiterentwicklung der Teilnehmenden. Im Zentrum Weimars in einer Parkanlage gelegen, bietet die EJBW ein besonderes Lernsetting, welches sich mit den Stichworten „Lernen am dritten Ort“, bzw. auch „Lernen mit Herz, Hand und Verstand“ skizzieren lässt. Die Zeitspanne eines Aufenthaltes reicht von einem Tag bis zu drei Wochen. Wie an kaum einem anderen

   

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Ort lassen sich in Weimar für Deutschland und Europa maßgeblich prägende geistesgeschichtliche und historische Entwicklungen nachvollziehen, nicht zu Unrecht wird der Ort auch als der „Schicksalsort der Deutschen“ bezeichnet. Daher fühlt sich die EJBW ihrem Leitmotiv „Was stärkt und was schwächt Demokratie?“ verpflichtet. Im Arbeitsschwerpunkt historisch-politische Bildung befassen wir uns neben den Diktaturerfahrungen in Deutschland (NS- und SED-Diktatur) auch mit der Weimarer Republik und arbeiten dabei mit dem Weimarer Republik e.V., wie auch mit anderen Institutionen und Einrichtungen der Stadt zusammen. Nachstehend soll unser methodischer Zugriff zum Themenfeld „Weimarer Republik“ anhand eines dreitägigen Seminars verdeutlicht werden (vgl. auch Abbildung 1). Vorab sei noch gesagt, dass hierbei die didaktische Methode der Problematisierung zum Zuge kommt. Sachverhalte und Gegebenheiten werden also auf eine bestimmte Problemstellung hin zugespitzt, um so tieferliegende Zusammenhänge und Entwicklungstendenzen unseres heutigen Wirtschaftssystems deutlicher zu Tage treten zu lassen. Als Einrichtung der politischen Bildung versteht sich die EJBW dem Beutelsbacher Konsens verpflichtet, d.h., wir können in Debatten und Sachfragen Position beziehen, sind aber verpflichtet, klarzustellen, dass es auch andere berechtigte Meinungsstandpunkte gibt. In einem ersten Schritt lernen die Teilnehmer die allgemeinen historischen und politischen Fakten zur Weimarer Republik kennen („Was war?“). Sie sollen so über die ökonomischen und sozialen Bedingungen der verschiedenen Milieus in der Weimarer Republik Kenntnis erlangen und diese in Bezug zu den heutigen Lebensbedingungen setzen können. Damit werden sie befähigt, sich eine eigene, begründete Meinung zu heutigen Fragestellungen zu bilden und diese auch vor anderen vertreten zu können („Was ist?“). Hierfür bietet sich eine gemeinsame Orts-Erkundung an, wobei folgende historischen Orte besucht werden können: – – – – – – –

Deutsches Nationaltheater (Nationalversammlung ሾNV] 1919, Reichsparteitag der NSDAP 1926 etc.): Steht für Demokratie und ihre Gegner Stadtschloss (Herzogssitz, dann Sitz des Reichspräsidenten und der Reichsregierung während der NV): Abschaffung der Monarchie, Beginn der ersten Republik Parkschule Weimar (ehemaliges Telegraphenamt während der NV): Neue Presse- und Meinungsfreiheit, neue Kommunikationsformen, Medien Hotel Elephant (Unterbringung wichtiger Politiker während der NV sowie während des Reichsparteitags der NSDAP und später „Lieblingshotel“ Adolf Hitlers: Wer macht wie Politik? Sog. „Haus der Erholung“, heutiges „mon ami“ (Treffpunkt für Weltpresse während der NV): Steht für die weltweite Aufmerksamkeit und Internationalität während der NV Märzgefallenendenkmal im Historischen Friedhof (Erinnerung an Weimarer Opfer des Kapp-Putsches von 1920): Politische Gewalt auf der Straße Bauhaus-Universität (Vertreibung des Bauhauses 1925 aus Weimar; 1930 Staatliche Hochschule für Baukunst unter NS-Direktor): Durchbruch der Moderne und Vertreibung durch die Nazis

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Vormittag

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Nachmittag Einstieg Weimarer Republik

Tag 1

Weimarer Republik: Was war?

Anreise

Orts-Erkundung und/oder geführter Rundgang in der Ausstellung „Demokratie aus Weimar. Die Nationalversammlung 1919“ bzw. in den Räumen zur Weimarer Republik in der ständigen Ausstellung im Stadtmuseum Weimar Erarbeitung eines gemeinsamen Zeitstrahls zur Weimarer Republik (1918/19 – 1920/23 – 1924/29 – 1930/33)

Tag 2

Heute: Was ist? Weimarer Republik: Was war?

Arbeitsgruppen zum Schwerpunktthema mit anschließender Präsentation

Recherche: „Welche Ideen zur wirtschaftlichen Ausrichtung gab es damals?/Wie haben sich diese geäußert? Wie wurden sie verwirklicht?“

(Leitfragen z.B.: „welches ist das heutige Wirtschaftsmodell?“; „Zu welchem Wohlstand hat es geführt?“; „Wem geht es heute gut und wem nicht?“; „Was passiert, wenn wir immer so weiter machen?“;…)

Arbeitsgruppen zu verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen/Forderungen mit anschließender Präsentation

Zukunftsvisionen: Was soll werden? Utopiephase mit Erarbeitung von kurzen Statements (Leitfragen z. B.: was brauchen wir zum Leben, was heißt Gutes Leben…?)

Tag 3

Zukunftsvisionen: Was soll werden? Statements im Plenumsraum des Stadtmuseums Weimar mit anschließender Debatte

Abreise

Abschlussdiskussion Seminarauswertung Tabelle 1: Beispielhafte schematische Darstellung eines dreitägigen Seminars.

   

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Wichtige Kernfragen / Lerninhalte („Was war?“ – „Was ist?“) a. Welches Wirtschaftssystem? Die Weimarer Reichsverfassung gewährleistete die wirtschaftliche Freiheit des Einzelnen, die Vertragsfreiheit sowie das private Eigentum; erstmals aber auch umfassende soziale Grundrechte. Die Verfassung der Republik garantierte daher die Voraussetzungen für eine sozialstaatlich eingehegte Marktwirtschaft. Gleichwohl war die damalige Zeit, nicht nur in Deutschland, durch den Antagonismus von zwei konkurrierenden Wirtschaftssystemen, nämlich Marktwirtschaft/ Kapitalismus auf der einen und Sozialismus/ Kommunismus auf der anderen Seite, gekennzeichnet, der zu einer tiefen Spaltung in den damaligen Gesellschaften führte. Heutzutage gibt es, nach dem vermeintlichen „Ende der Geschichte“ keine Systemkonkurrenz mehr, auf globaler Ebene hat sich eine bestimmte Form des Kapitalismus durchgesetzt. Gerade in jüngster Zeit mehren sich jedoch die Stimmen derer, die dieses System kritisch hinterfragen und die sogenannte Postwachstums-Debatte, bzw. die Frage, welches Leben wir eigentlich führen müssen, damit auch alle nachfolgenden Generationen eine ökologisch intakte Erde vorfinden („was ist Gutes Leben?“) wird nicht mehr alleine in wissenschaftlichen Nischen geführt.8 Ausgehend von der Erkenntnis, dass es Grenzen des Wachstums gibt, wird danach gefragt, welche Art des Wirtschaftens dauerhaft nachhaltig ist und wie eine nachhaltige Wirtschaftstransformation aussehen könnte.9 Diskutiert wird auch, ob die derzeitige Ausrichtung des Wirtschaftssystems nicht auch dazu beiträgt, die demokratische Gesellschaft auszuhebeln und sie so in Gefahr bringt. Mit Sicherheit keine neue Fragen, denn seit jeher wird über das Spannungsfeld von Demokratie und Kapitalismus diskutiert und das „sozialdestruktive Potential“10 des Kapitalismus beleuchtet. Manche Autoren gehen dabei in ihrem Befund recht weit: „Nur um den Preis der Verleugnung der Wertmaßstäbe, die sich die ‚bürgerliche Gesellschaft‘ in ihren politischen Revolutionen selbst gesetzt hat, lassen sich die durch (…) [den Kapitalismus] fortwährend produzierten sozialen Verletzungen, Verwerfungen und Verwüstungen verschweigen.“11 Ist es gut für die Demokratie, wenn einer ihrer Grundsäulen – die „Freiheit“ – heute in erster Linie als privater Egoismus gedacht und nicht mehr in Bezug zu den anderen Grundpfeilern – Gleichheit und Brüderlichkeit (Solidarität) – gesehen wird, also als soziale   8

Auch die Bundesregierung hat mit der Enquete-Kommission und dem Bürger-Dialog „Gut leben in Deutschland“ das Thema auf die politische Agenda gesetzt und es gab die EnqueteKommission „Wohlstand, Wachstum, Lebensqualität“ deren Abschlussbericht eine herausragende Literaturliste beinhaltet, vgl. Enquete-Kommission (2013): Schlussbericht. 9 Seit den 70er Jahren, als der Bericht des Club of Rome „Die Grenzen des Wachstums“ erschien, wird dieses Debatte wissenschaftlich geführt und firmiert heute unter dem Namen „Postwachstumsgesellschaften“, bzw. „degrowth“-Debatte. Einen guten Überblick über den Stand der Forschung geben die Veröffentlichungen des DFG-Kolleg „Postwachstumsgesellschaften“ der Universität Jena. 10 Dörre et al. (2009): Soziologie, Kapitalismus, Kritik, S. 14. 11 Ebd.

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Freiheit verstanden wird?12 Zumal in einer Welt, in der der Kapitalismus immer radikaler geworden ist? Der lange Zeit für Deutschland und Kontinentaleuropa prägende „Rheinische Kapitalismus“, der in den sog. trente glorieuses von 1945 bis 1975 durch Keynesianismus und einen starken Staat gekennzeichnet war, existiert nicht mehr.13 Um wieder den historischen Bogen zu schlagen: Welche Parallelen und Unterschiede bestehen zwischen der heutigen, (neo-)liberal ausgerichteten Wirtschaftspolitik und der liberal ausgerichteten der Weimarer Republik? Lagen die Wirtschaftskrisen der Weimarer Republik wirklich am System oder gab es nicht andere Faktoren? b. Welche Art von Wohlstand? Not und Elend bestimmten den Beginn und das Ende der Weimarer Zeit. Vor allem in der Zeit bis 1924 und nach 1929 herrschte Massenarbeitslosigkeit und bittere Armut. Millionen von Kriegsheimkehrern mussten gesellschaftlich integriert werden, und die Sicherstellung der Nahrungsmittelversorgung und eines einigermaßen funktionierenden Gesundheitswesens stellte die Politik vor enorme Herausforderungen. Derartige Zustände sind für uns heute unvorstellbar, Deutschland gehört zu den wohlhabendsten Ländern der Welt. Dennoch können an unsere Wohlstandsgesellschaft bestimmte Fragen gestellt werden: – – –



Was verstehen wir eigentlich unter Wohlstand? Meint er das gleiche wie Wohl-Sein (well-being)? Wer hat heute (in Deutschland, in Europa, weltweit) an dem Wohlstand teil und wer nicht? Warum? Wohin hat uns der (materielle) Wohlstand heute gebracht? Geht’s uns heute besser als früheren Generationen? Leben wir zufriedener, glücklicher? Wie haben die Menschen der Weimarer Zeit darüber gedacht, wie haben sie gelebt? Was hieß für sie Wohlstand? Deutschland verfügt über industrielle Technologieführerschaft und ist eine führende Exportnation mit etwa 5% Leistungsbilanzüberschuss pro Jahr. Was heißt das für das Eingebettet-Sein in internationale Kontexte? Auf welche Weise war Deutschland zur Weimarer Zeit wirtschaftlich mit der Welt verflochten? Welchen Lauf hat die Geschichte damals genommen und können wir daraus Rückschlüsse auf heute ziehen? Bedeutet materieller Wohlstand in Deutschland, dass dies zu Lasten von anderen Ländern geht? Deutschland ist Weltmarktführer in der Produktion von Industriegütern, verfügt aber selbst über praktisch keine Rohstoffe, um diese herzustellen. Wie ist unsere Beziehung zu Ländern, aus denen wir diese Rohstoffe beziehen? Haben wir eine bestimmte Verantwortung inne? Hat Deutschland in der Weimarer Republik und davor internationale Verantwortung wahrgenommen?

  12 Vgl. zum Begriff der sozialen Freiheit Honneth (2015): Sozialismus. 13 Vgl. hierzu Streeck (2013): Gekaufte Zeit.

   

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c. Welche Soziale Gerechtigkeit? „Eigentum verpflichtet.“ Diese Formulierung findet sich sowohl in der Weimarer Reichsverfassung als auch im Grundgesetz. Der Gedanke, dass sich in einer Gesellschaft die Unterschiedlichkeit der Lebensverhältnisse nicht zu weit auseinanderentwickeln darf, und dass diejenigen, die über Eigentum verfügen, immer auch für diejenigen zu sorgen haben, bei denen dies nicht der Fall ist, findet sich in beiden Verfassungen. Vor 100 Jahren herrschte eine klar nach Klassen strukturierte Gesellschaft mit der Arbeiterschaft am unteren Ende der sozialen Skala. Zugleich war die soziale Schichtung im Vergleich zu heute wesentlich stabiler, von einer durchlässigen Gesellschaft konnte nicht die Rede sein. Auch wenn kein Zweifel besteht, dass auch unter dem Gesichtspunkt der sozialen Frage die Weimarer Zeit nicht mit der heutigen zu vergleichen ist, so ist dennoch (immer im Sinne der Problematisierung) zu fragen: – – –



– –

Wie ist es heute um die Verteilung von Armut und Reichtum bestellt? Was heißt das für die demokratische Gesellschaft, wenn Haushaltsüberschüsse in Rekordhöhe nicht dazu beitragen, dass die Armutsquote sinkt? Lassen sich die damaligen und heutigen Arbeitsbedingungen miteinander vergleichen? Welche Errungenschaften hat der Sozialstaat uns heute gebracht? Was bedeutet es für die Akzeptanz des politischen Systems und damit für das Funktionieren einer Demokratie, wenn Teile der Bevölkerung wirtschaftlich abgehängt sind oder sich zumindest sozial ausgeschlossen fühlen? Was heißt das für die Demokratie und die politische Kultur, wenn die sinkende Wahlbeteiligung nachweislich nur bei denjenigen zu verzeichnen ist, die vergleichsweise über ein geringes wirtschaftliches Einkommen bzw. Vermögen verfügen? Wie gerecht ist unsere Gesellschaft hinsichtlich der Verteilung von Chancen? Wie realistisch sind die tatsächlichen Möglichkeiten, dem unteren Ende der sozialen Skala bzw. dem Prekariat entfliehen zu können? Waren die wirtschaftlichen Verhältnisse in der Weimarer Zeit ausschlaggebend für die politischen Umwälzungen? Und war die wirtschaftliche Not ausschlaggebend für den Aufstieg der NSDAP?

d. Welche Krisen und welche Krisenpolitik? Auch wenn das Thema derzeit nicht die Schlagzeilen beherrscht, so muss der fundamentale wirtschaftliche melt-down des Jahres 2008 erst noch bewältigt werden. Viele Kommentatoren betonen die Parallelen, aber auch Unterschiede zur Weltwirtschaftskrise des Jahres 1929. Es gehört ja doch zum common sense, dass im Gegensatz zur Brüningschen Sparpolitik heute vieles besser gemacht wurde, indem man den Krisen-Ländern in Form von Finanzhilfen unter die Arme gegriffen hat und sie

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nicht durch Auferlegung übermäßiger Sparauflagen und Schwächung der wirtschaftlichen Nachfrage noch weiter in die Rezession getrieben hat (auch wenn dies die sog. „Programmländer“ des europäischen Südens mit Sicherheit anders sehen). Nichtsdestotrotz: –







Wie konnte es überhaupt passieren, dass es zu solch einer Krise wie der von 2008 hat kommen können? Aus welchen Gründen haben die Sicherungsmaßnahmen und Regulierungsvorschriften, die insbesondere in den Jahrzehnten nach 1945 errichtet wurden, nicht gegriffen? Detailliert gefragt: Welches sind tatsächlich die Parallelen (aber auch die Unterschiede) von heute zu damals? Damals hat die Krise zur Massenarbeitslosigkeit und zu politischer Radikalisierung geführt. Wie sieht es damit in Deutschland und der EU heute aus? Lassen sich ähnliche Tendenzen feststellen? Bedingen wirtschaftliche Krisen und politische Radikalisierung einander? Die Hyperinflation von 1923 war ein traumatisches Erlebnis in der deutschen Geschichte und ist ein Erklärungsfaktor, warum für die Deutschen stabiles Geld so eine wichtige Rolle gespielt hat und weiterhin spielt. Aufschlussreich für das Verständnis des Funktionierens der EU ist daher die Frage, wie es Deutschland geschafft hat, das Modell Bundesbank auf die europäische Ebene zu transferieren und die Geldpolitik der EZB daran auszurichten. Was für Vor-, was für Nachteile hat eine solche Geldpolitik? Wem nützt, wem schadet eine geringe Inflation? Was bedeutet es für die einzelnen Länder, ein niedriges Inflationsziel verfolgen zu müssen? Was bedeutet es auch für die Fiskalpolitik, wenn das Primat der Geldwertstabilität gilt? Haben die gängigen geldpolitischen Theorien, angesichts sich weltweit abschwächender Wachstumsraten, überhaupt noch Gültigkeit? Was hat es mit der sog. „Europäischen Schuldenkrise“ auf sich? Welche Methoden der Krisenbekämpfung hätten bspw. im Falle Griechenlands 2015 zur Verfügung gestanden? Welche Methodik der Krisenbekämpfung wurde dann umgesetzt? Warum? Welche Gruppierungen konnten ihren Nutzen daraus ziehen und welche nicht? Wie wurde mit Griechenland auf der Beziehungsebene umgegangen? Wie wurde mit Deutschland in der Weimarer Zeit im Nachgang an den Versailler Vertrag umgegangen? Was für Reaktionen hat das in der deutschen Bevölkerung damals ausgelöst? Welche Reaktionen hat die Krisenbekämpfungspolitik der Europäischen Union bei den Bevölkerungen des europäischen Südens ausgelöst? Welches sind die Gemeinsamkeiten, welche sind aber auch die Unterschiede?

Warum ist es sinnvoll, mit derartigen Fragestellungen auf das eingangs erörterte mindset der Jugendlichen zu reagieren? Im Grunde geht es darum, historische Trittsicherheit bei der Suche nach Orientierung und Stabilität zu gewinnen. Das Wirtschafts-Thema kann dabei eines unter mehreren sein, bietet sich aber deshalb an, weil die ökonomischen Verhältnisse und deren jeweilige Einschätzung, wie oben

   

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skizziert, eine maßgebliche Rolle für die Einstellung von jungen Menschen spielen. Das Sich-Anstrengen-Müssen, um einen gesicherten Platz in der Gesellschaft zu haben, steht damit im Zusammenhang, genauso wie das Gefühl des Benachteiligtseins. Warum die Weimarer Republik besonders für ostdeutsche Jugendliche und deren verstärktes Gefühl des Vermissens eines gesellschaftlichen Zusammenhaltes eine Rolle spielen kann, wird im kommenden Abschnitt verdeutlicht. 4. STEUERN WIR HEUTE AUF WEIMARER VERHÄLTNISSE ZU? Wie nah ist uns also die Weimarer Republik? Steuern wir gar auf Weimarer Verhältnis zu? Diese Frage scheint heute viele Menschen zu bewegen.14 Um es gleich vorweg zu sagen: nein, dies tun wir sicherlich nicht. Schauen wir aber in den Weimarer Spiegel, erkennen wir deutlicher, wie es um die Stabilität unserer heutigen Demokratie bestellt ist: Erstens hat Deutschland keine unmittelbaren Kriegsfolgen und -lasten zu tragen. Gleichwohl ist das in anderen Teilen Europas anders, insbesondere in den Ländern des West-Balkans. Es ist auch nicht so, dass wir beruhigt von dem immerwährenden Fortbestand des Friedens zwangsläufig ausgehen können. Vielmehr ist, besonders aufgrund des noch nicht beigelegten Ukraine-Russland-Konfliktes „die Frage von Krieg und Frieden nach Europa zurückgekehrt“.15 Viele der zu uns Geflüchteten kommen zudem unmittelbar aus Kriegsgebieten und haben direkte Kriegserfahrungen gemacht. Zweitens ist das politische System der Bundesrepublik im Sinne einer OutputOrientierung weitaus leistungsfähiger als dasjenige Weimars. Die Väter des Grundgesetzes hatten gut verstanden, dass konstitutive Elemente der Weimarer Reichsverfassung dazu geführt haben, dass das politische System ineffizient war, sich selbst lahmgelegt hat und haben diese Schwachstellen im Grundgesetz behoben. Die einzige seriöse Frage, die in Bezug auf das politische System derzeit ernsthaft diskutiert wird, ist die Frage nach mehr plebiszitären und direkt-demokratischen Elementen, um dem Rückgang der Partizipation am politischen Prozess entgegenzuwirken. Drittens lässt sich nicht behaupten, dass unser Parteiensystem und die daraus resultierenden Regierungskoalitionen von auch nur annähernd ähnlicher politischer Instabilität gekennzeichnet sind, wie dies in Weimar der Fall war. Nichtsdestoweniger ist das über Jahrzehnte stabile Parteiensystem, insbesondere durch das Auftreten der AfD, ins Wanken geraten und es lässt sich derzeit überhaupt nicht absehen, welche politischen Koalitionen die in Zukunft tragfähigen sein werden. Viertens herrschen bei uns auch keine bürgerkriegsähnlichen Zustände und terroristischen Gewaltexzesse wie in der Weimarer Zeit. Gleichwohl hat es den NSU   14 Dies fragte auch die ARD-Moderatorin Anne Will die Bundeskanzlerin Angela Merkel im Fernseh-Interview „Anne Will“ am 29.02.2016. 15 So Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier auf der Münchener Sicherheitskonferenz am 13.02.2016.

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in Deutschland gegeben und die politisch motivierte Gewalt auf den Straßen hat stark zugenommen, vor allem gegen Asylunterkünfte und Flüchtlinge, aber auch gegen staatliche Einrichtungen und Polizei. Neben der Gewalt war die politische Auseinandersetzung der Weimarer Zeit auch von einem extrem polarisierenden Ton und einer hasserfüllten und düsteren Sprache gekennzeichnet. Dies ist heute zum Glück gänzlich anders. Dennoch wird, insbesondere von rechtspopulistischer Seite, der Ton in den Auseinandersetzungen zusehends schärfer und es ist eine gewisse Verrohung der Sprache zu beobachten.16 Fünftens sind, wie bereits erläutert, die wirtschaftlichen Verhältnisse andere als zu Zeiten Weimars. Oft wird gesagt, dass Weimar deshalb zugrunde ging, weil es eine Demokratie ohne Demokraten gewesen sei, dass insbesondere die politisch-wirtschaftliche Elite nicht hinter ihr gestanden habe. Nicht ernsthaft behaupten lässt sich, sechstens, dass die heutigen Entscheidungsträger demokratiefeindlich eingestellt wären. Dennoch beobachten wir, dass die zentrifugalen Kräfte in unseren westlichen Gesellschaften stetig zunehmen, der gesellschaftliche Zusammenhalt abnimmt und dies auch mit dem Schwinden der wirtschaftlichen Sicherheit beziehungsweise, der Angst vor dem sozialen Abstieg zu tun hat. Fakt ist auch, dass privilegierte gesellschaftliche Stellungen auch davon abhängig sind, dass die Verteilung von (materiellen wie nicht-materiellen) Ressourcen eine ungleiche ist, und dass sich dadurch eben auch eine ungleiche Verteilung hinsichtlich der gesellschaftlichen Verwirklichungschancen ergibt. Daraus wiederum erwächst den Privilegierten eine Verantwortung, für diejenigen Sorge zu tragen, die die Leidtragenden dieser Ungleichverteilung sind, denn „Mechanismen der sozialen Exklusion tragen also nicht nur zur Erosion der Gesellschaft bei, sie entfalten auch eine demokratiegefährdende politische Sprengkraft“.17 Und dies ist, wie eingangs ausgeführt, ein besorgniserregender Umstand und gleichzeitig das womöglich grellste Schlaglicht, welches die Weimarer Zeit auf unsere Gegenwart wirft. Wie selten zuvor steht der allgemeine demokratische Grundkonsens heute unter Druck, ohne den eine Demokratie auf Dauer nicht Bestand haben kann. Da existieren zum einen in den neuen Bundesländern das Phänomen der OstDeprivation und das dahinterliegende Gefühl einer Demütigung, Herabsetzung oder Benachteiligung. Der Blick auf das subjektive Gefühl des Gedemütigt-Werdens vor 100 Jahren („Dolchstoß-Legende“, „Schmach von Versailles“) müsste uns eigentlich dafür sensibilisieren, wie es um die Stabilität einer Demokratie bestellt ist, wenn ein substantieller Teil der Bevölkerung so denkt. Dass dies nicht trivial ist, belegt die Tatsache, dass festzustellen ist, dass mindestens die Hälfte der Thüringer Bevölkerung die Demokratie als Staatsform kritisch einschätzt. „Eine Bedrohung   16 Vgl. beispielsweise die Aussagen des Thüringer AfD-Vorsitzenden Björn Höcke bei Kundgebungen. Diese sind dokumentiert in Quent et al. (2016): Gefährdungen, S. 53–57. Dass Sprache und deren Verwendung im politischen Diskurs eine überragende Bedeutung zukommt, hat bereits Viktor Klemperer in seiner „Lingua Tertii Imperii“ dargelegt. 17 Quent et al. (2016): Gefährdungen, S. 15.

   

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der Demokratie erfolgt somit nicht nur von den extremistischen ‚Rändern‘ der Gesellschaft aus, sondern in besonderem Maß durch eine ‚Aushöhlung von innen‘“18 Zum zweiten spaltet die Flüchtlingsfrage die Gesellschaft in zwei entgegengesetzte Lager, deren Fähigkeit zur gemeinsamen Kommunikation zusehends schwindet. Da sind die einen, die für eine Willkommenskultur stehen und da sind die anderen, die eine Politik der Abschottung betreiben wollen. Zusammenhängend damit bestehen große Zweifel hinsichtlich der künftigen Wirtschaftsentwicklung und der Beibehaltung des Lebensstandards. Wie selten zuvor braucht es daher eine breite gesellschaftliche Auseinandersetzung über die Frage, welches denn der kleinste gemeinsame Nenner des demokratischen Grundkonsenses ist, auf den sich alle verständigen können und der das Fortbestehen unserer Demokratie sichern kann. Und was passieren kann, wenn dieser kleinste gemeinsame Nenner fehlt, dazu kann uns die Weimarer Republik etwas sagen. Dies ist der letzte Schritt („Was soll werden?“), den wir in unserem Bildungsangebot unternehmen. Wie verhält es sich mit dem gesellschaftlichen Kit in einer zunehmend heterogenen Gesellschaft? Was ist eigentlich deutsch in einer multikulturellen Gesellschaft? Die Forderung nach einer Debatte um die Leitkultur, die vor Jahren noch vehement abgelehnt wurde und die jetzt geführt werden muss, kommt zunehmend von einer politischen Seite, die unverdächtig ist, rechtskonservative Wertvorstellungen zu vertreten. So Jakob Augstein im Spiegel: „Die besondere Dialektik der deutschen Geschichte besteht darin, dass sie am Ende beides haben wird: Multikulturalität und eine deutsche Leitkultur.“19 Denkanstöße kann uns auch hier die Weimarer Republik geben. Die Weimarer Zeit war auch eine Epoche der visionären Gesellschaftsentwürfe. Wenn wir uns diese heute vor Augen halten, dann stellen wir fest, dass damals, zu einer Zeit des sozialen und wirtschaftlichen Notstandes, bahnbrechende gesellschaftliche Neuerungen auf den Weg gebracht worden sind wie beispielsweise das Frauenwahlrecht und der 8-Stunden-Tag. Angesichts dessen müssen wir uns kritisch fragen, was heute mit den visionären Bewegungen los ist, wo das „Vermögen, über das Bestehende hinauszudenken“ angesichts der massiven gesellschaftlich-politischen Herausforderungen bleibt? Was ist mit den „occupy“-, „blockupy“- und „we are 99%“Bewegungen geworden? Was mit Stephane Hessels Aufruf: „Indignez-Vous!“? Axel Honneth hat von dem Zwiespalt gesprochen, der darin besteht, dass auf der einen Seite die Empörung über die sozio-ökonomischen Verhältnisse und die global entfesselte Marktökonomie des Kapitalismus über eine breite gesellschaftliche Basis verfügt, dieser Empörung aber der normative Richtungssinn fehlt, so dass die Kritik stumm und nach innen gekehrt verbleibt.20 Ein Kernziel historisch-politischer Bildung besteht genau darin, eben diesen normativen Richtungssinn auszuprägen.

  18 Ebd. S. 4. 19 Augstein (2015): Leitkultur, S. 1. 20 Vgl. Honneth (2015): Sozialismus, S. 15.

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5. ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK Für uns ist gesetzt, dass ein Großteil der Jugendlichen in Deutschland pessimistisch in die Zukunft blickt. Meine persönliche Sicht ist die, dass sich hinter der von der Shell-Studie diagnostizierten Bereitschaft zu Leistung, um einen gesicherten Platz in der Gesellschaft zu finden, eben auch eine Verunsicherung steckt. Dies könnte auch erklären, warum wir feststellen, dass die großen visionären Gesellschaftsbewegungen (noch) fehlen. Nachdenklich stimmt, dass viele Menschen die Demokratie als nicht zwingendermaßen schützenswerte Staatsform ansehen. Natürlich auch deshalb, weil sie persönlich nie etwas anderes erlebt haben. Wirklichen Anlass zur Sorge bereitet allerdings das in bestimmten Teilen Deutschlands verbreitete hohe Maß an Ausländerfeindlichkeit. Als politische Bildner besteht unsere Aufgabe darin, auf die Bedarfe der Jugendlichen einzugehen und ihnen dabei zu helfen, eben nicht in Denk- und Verhaltensmustern von Abschottung, Ausgrenzung und Diskriminierung zu verharren. Dies kann über eine Reflektion der gegenwärtigen Zustände gelingen und aus meiner Sicht gibt es in der historisch-politischen Bildung kaum eine lohnenswertere Epoche als die Weimarer Republik. Allen ist klar, dass wir heute im Angesicht von teils grundstürzenden Krisen und Umwälzungen in einer Zeit des großen gesellschaftlichen Wandels leben. Auch die Weimarer Republik war eine solche Zeit, gerade weil sie auch eine Seite der großen Utopien, der großen Neuerungen und des gesellschaftlichen Aufbruchs gewesen ist. Und wir sollten beides, natürlich die Weimarer Zeit von ihrem Ende her, aber auch von ihren vielversprechenden Anfängen her denken. Unserer Erfahrung nach kann man die Jugendlichen für das Thema sehr wohl begeistern. Im April des Jahres 2015 wurde in Weimar der 70. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald begangen. Vielleicht zum letzten Mal fand dieses „runde“ Jubiläum unter der Anwesenheit von Zeitzeugen und Überlebenden des Holocaust statt. Sie sprachen davon, dass dies wohl ihr letztes Mal gewesen sei, in Weimar dabei gewesen zu sein und ihre Generation nicht mehr in der Lage sei, den sogenannten „Schwur von Buchenwald“ Realität werden zu lassen, und dass es Aufgabe der nachfolgenden und insbesondere der jüngeren Generation sei, das Ideal einer friedlichen Welt zu verwirklichen. Sie sprachen auch davon, dass sie das Vorhandensein von Hass und Gewalt in den sieben Jahrzehnten nach 1945 noch nie so stark erlebt hätten wie heute. Zu jenem Zeitpunkt war der Terroranschlag auf Charlie Hebdo in Paris gerade einmal drei Monate her. Nun, im Sommer des Jahres 2016, hat sich die Spirale von Hass und Gewalt noch weiter gedreht. Die Terroranschläge in Paris im November 2015, in Nizza, Brüssel und auch in Deutschland 2016, die Radikalisierung und stärkere Internationalisierung des Syrien-Konfliktes, das Erstarken (rechts-)populistischer Kräfte überall in Europa und die allgemeine Zunahme der gesellschaftlichen Zentrifugalkräfte legen hierfür Zeugnis ab. Für uns in Weimar ist der Appell der Überlebenden von Buchenwald eine besondere Motivation, in den Bemühungen um ein friedliches Zusammenleben nicht nachzulassen.

   

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LITERATUR Albert, Mathias / Hurrelmann, Klaus / Quenzel, Gudrun: Jugend 2015 („Shell Jugendstudie“). Frankfurt 2015. Augstein, Jakob: S.P.O.N. – im Zweifel links: Wir brauchen eine Leitkultur. Eine Kolumne von Jakob Augstein. 03.09.2015. Best, Heinrich / Niehoff, Steffen / Salheiser, Axel / Salomo, Katja: Politische Kultur im Freistaat Thüringen. Thüringen im 25. Jahr der Deutschen Einheit. Jena 2015. Dörre, Klaus / Lessenich, Stephan / Rosa, Hartmut: Soziologie, Kapitalismus, Kritik. Berlin 2009. Enquete-Kommission: Schlussbericht der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft“, Drucksache 17/13300 (Deutscher Bundestag). Berlin, 3. Mai. 2013. Honneth, Axel: Die Idee des Sozialismus. Berlin 2015. Quent, Matthias / Schmidtke, Franziska / Salheiser, Axel: Gefährdungen der demokratischen Kultur in Thüringen. Jena 2016. Streeck, Wolfgang: Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. Berlin 2013.

VON WEIMAR ÜBER BONN NACH BERLIN

WEIMAR UND DIE BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND Michael Dreyer 1. DIE WEIMARER REPUBLIK – EIN THEMA DER POLITIKWISSENSCHAFT? Wer sich als Student im Wintersemester 2015/2016 über die Weimarer Republik informieren wollte, sah sich nicht gerade mit einem Füllhorn von Angeboten konfrontiert. Natürlich gab es Übersichtsveranstaltungen wie „Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert“, die zweifellos auch eine gewisse Zeit der Geschichte der Weimarer Republik widmeten. Aber die Untersuchung des Veranstaltungsangebots der politikwissenschaftlichen und historischen Institute an 21 deutschen Universitäten ergab gerade einmal vier historische und eine einzige politikwissenschaftliche Lehrveranstaltung, die spezifisch der Weimarer Republik gewidmet war.1 Dies sagt durchaus etwas über den Stellenwert aus, den das Thema in der gegenwärtigen universitären Lehre genießt. Nicht viel anders sieht es in der Forschung aus. Bei einer Auswertung von 25 laufenden Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Sonderforschungsbereichen fand sich kein einziges Forschungsprojekt, das mit der Weimarer Republik verbunden gewesen wäre. Dabei hätten einige der Themen der SFBs eine solche Orientierung durchaus nahegelegt. Der SFB 1095 in Frankfurt am Main forscht über „Schwächediskurse und Ressourcenregime“, der SFB 1150 in Münster über „Kulturen des Entscheidens“, und man könnte sich ohne weiteres Themen zur Weimarer Republik als integrativen Bestandteil dieser SFBs vorstellen. Und selbst der SFB 923 in Tübingen bietet jede Menge „Bedrohte Ordnungen“, aber nicht die der Weimarer Republik. Dafür kann man etwas erfahren über die römische Senatsaristokratie im 5. Jahrhundert, den Börsencrash 1720 in Paris und London, die agrarische Ordnung in Tadschikistan, das Oströmische Reich unter Herakleios, die Karolingische Ordnung um 900, 9/11 in den USA und resistente Mikroben. Alles sicherlich wertvolle Themen, aber auch die Weimarer Republik wäre gewiss auch eine „Bedrohte Ordnung“ gewesen, die man hätte untersuchen können.   1

Eigene Auswertung; betrachtet wurden die Universitäten Augsburg, FU Berlin, HU Berlin, Bochum, Bonn, Chemnitz, Dresden, Frankfurt, Freiburg, Göttingen, Greifswald, Hamburg, Heidelberg, Jena, Kiel, Köln, Leipzig, Marburg, München, Münster, Tübingen. Die vier historischen Lehrveranstaltungen befassten sich mit der Rolle der KPD in der Weimarer Republik (Bochum), aktuellen Forschungsproblemen (Göttingen), der Kultur- und Sozialgeschichte (Marburg) und stellten die Frage nach einem Weimar ohne Nationalsozialismus (Tübingen). Die einzige politikwissenschaftliche Veranstaltung war ideengeschichtlich orientiert (Alexander Gallus, Chemnitz). Für seine Unterstützung bei der Erhebung danke ich Paul Helm.

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Offenbar bleibt Weimar eine Herausforderung für die Wissenschaft, insbesondere für die politikwissenschaftliche Forschung und Lehre. Worin besteht diese Herausforderung? 2. UNTERSUCHUNGEN AUS POLITIKWISSENSCHAFTLICHER PERSPEKTIVE Die frühen deutschen Politikwissenschaftler haben sich in der Emigration – in der sie in der Regel erst vom Juristen oder Historiker zum Sozialwissenschaftler mutieren mussten – aus naheliegenden Gründen nur sehr wenig mit der Weimarer Republik beschäftigt. In den 1930er / 40er Jahren war die Erklärung des Nationalsozialismus und des Phänomens Hitler das in jeder Hinsicht unmittelbarere Problem; auch ließ sich mit der zentraleuropäischen Kompetenz in dieser Frage am ehesten der Zugang zum amerikanischen akademischen Markt gewinnen. Wer in den USA interessierte sich schon für die Weimarer Republik, außer als Vorspiel zu Hitler? Folgerichtig sind die wichtigen Bücher aus dieser Zeit wie Fraenkels Dual State oder Neumanns Behemoth dem aktuellen politischen und politikwissenschaftlichen Problem gewidmet.2 Daran änderte sich auch nach der Rückkehr aus der Emigration nichts; auch für das Deutschland der Nachkriegsjahre ging es um die Erklärung des Nationalsozialismus (jetzt vielfach unter der Rubrik des Totalitarismus) und um die Festigung der als fragil empfunden Nachkriegsdemokratie, aber nicht um eine substantielle Würdigung der Weimarer Republik. Als eine der ersten gründlichen wissenschaftlichen Untersuchungen über die Weimarer Republik erschien 1954 die zweibändige Geschichte der Weimarer Republik des Juristen und Historikers Erich Eyck. Bereits sein Vorwort drückt die Abneigung gegenüber der selbstgestellten Aufgabe unmissverständlich aus: „Aber ihr erschütterndes und klägliches Ende wirft auf ihre ganze Geschichte ein so düsteres und melancholisches Licht, daß es den rückblickenden Historiker Überwindung kostet, bei ihr zu verweilen.“3

Nur ein Jahr später erschien die erste einschlägige Abhandlung aus der Feder eines Politikwissenschaftlers. Das epochale und bis heute wichtige Buch von Karl-Dietrich Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik, war zugleich die erste politikwissenschaftliche Habilitation in Deutschland überhaupt.4 Anders als für Eyck bedeutete es für Bracher keine Überwindung, sich mit einer Strukturanalyse der ersten deutschen Demokratie zu befassen. Die unterschiedliche Herangehensweise mag zum Teil dem Generationenunterschied geschuldet sein. Eyck war 1878 geboren und damit fast zwei Generationen älter als der 1922 geborene Bracher. Eyck, als DDP-Kommunalpolitiker auch selbst politisch aktiv in der Weimarer Republik, wurde vom Nationalsozialismus in die Emigration gezwungen, während Bracher seit 1940 bis zur amerikanischen Kriegsgefangenschaft 1943 als Soldat diente.   2 3 4

Fraenkel (1941): Dual State; Neumann (1942): Behemoth. Eyck (1954): Geschichte der Weimarer Republik, Vorwort, 2. Satz. Bracher (1955): Auflösung der Weimarer Republik.

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Aber wichtiger als der Altersunterschied war der methodische Unterschied der Fächer. Bracher schaute auf die Strukturen der parlamentarischen Demokratie, und damit konnten Historiker in dieser Zeit offenbar nur wenig anfangen. Werner Conze schrieb in der HZ 1957 eine ablehnende bis vernichtende Kritik zu Brachers Analyse,5 wobei sich die daran anschließende Conze-Bracher-Kontroverse darauf konzentrierte, ob die Kanzlerschaft Brünings als letzter, wenn auch leider gescheiterter Rettungsversuch der Demokratie bewertet werden müsse, oder ob sie bereits den Bruch der Verfassungsstrukturen und damit das Ende der Demokratie einleitete. Ersteres war die Position des Historikers Conze, der auf konkrete Ereignisse fixiert war, letzteres die des Politikwissenschaftlers Bracher, der auf Strukturen und weniger auf Personen achtete. Der Streit der Disziplinen ist heute sicherlich nicht mehr so dogmatisch-verfestigt wie in den 1950er Jahren, aber immerhin kann der Verfasser aus eigener Erfahrung eine ähnliche Kontroverse anekdotisch berichten – und zwar aus den späteren 1970er Jahren, also wesentlich nach der Conze-Bracher-Kontroverse. In Kiel (wo der Verfasser seit dem Sommer 1978 studierte) dominierte Karl Dietrich Erdmann die Geschichtswissenschaft ebenso wie Werner Kaltefleiter die Politikwissenschaft. Beide verfochten ein konservatives Welt- und Wissenschaftsbild, beide waren Mitglieder der CDU. Das bewahrte sie aber nicht davor, bei einer Diskussion über das Ende der Weimarer Republik heftig aneinander zu geraten. Für Erdmann scheiterte die Weimarer Republik an der Nichtangleichung der Arbeitslosenversicherung, während für Kaltefleiter die fehlende Fünf-Prozent-Klausel ausschlaggebend für den Untergang war. Also wiederum einmal eine historisch-konkrete und einmal eine politikwissenschaftlich-strukturelle Ursache. Bezeichnend ist aber aus heutiger Perspektive, dass beide Kontrahenten nur an monokausalen Gründen des Scheiterns interessiert waren Weimar und globaler Wandel: Deutschland und die Etablierung einer Völkerrechts- und Weltwirtschaftsordnung nach 1918, und dass keiner von ihnen auch nur daran dachte, sich mit den Chancen zu beschäftigen, die die Republik bedeutet hatte. Unter den politikwissenschaftlichen Teilfächern sind es vor allem die Ideengeschichte und die Analyse politischer Systeme, die sich im weiteren Verlauf mit der Weimarer Republik auseinandergesetzt haben. Schon 1964 kontrastierte Ernst Fraenkel in Deutschland und die westlichen Demokratien in neopluralistischer Analyse die kontroversen und nicht-kontroversen Teile der Verfassung und sah im Mangel an letzteren das zentrale Problem der Weimarer Politik und zugleich den Kontrast zur Bundesrepublik.6 Bemerkenswert ist, dass das 1987 erschienene Sammelwerk Die Weimarer Republik mit Bracher, Manfred Funke und Hans-Adolf Jacobsen drei   5 6

Conze (1957): Rezension zu Bracher. Fraenkel (1964): Deutschland und die westlichen Demokratien. 2011 erschien hiervon die 11. Auflage, was für den über die Tagespolitik hinausgehenden Wert der Analyse spricht. Fraenkel schließt sich in den Grundgedanken Bagehot (1867 / 2001), English Constitution, und Easton (1953): Political System sowie (1965): Systems Analysis, an. Beide hatten argumentiert, dass zur Stabilität eines politischen Systems ein wesentlicher Teil der Grundordnung unumstritten sein muss.

   

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Bonner Politikwissenschaftler als Herausgeber hatte, und keinen einzigen Historiker.7 Die historische Wahlforschung leistete mit Jürgen Falters Analyse Hitlers Wähler 1991 einen wichtigen empirisch-quantitativen Beitrag zum politikwissenschaftlichen Verständnis Weimars.8 Auch die Ideengeschichte im engeren Sinne begann ihre ernsthafte Auseinandersetzung mit dem politischen Denken Weimars mit einer kontroversen Habilitationsschrift, nämlich mit der 1962 erschienenen Untersuchung über Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik von Kurt Sontheimer. Die hier dargestellte Breite und Tragweite der Angriffe auf die Republik von rechten politischen Denkern passte nicht in das gängige Bild, das unverändert auf Hitler und den Nationalsozialismus fixiert war. Auf Sontheimer folgte der Soziologe Stefan Breuer, der 1993 die Anatomie der konservativen Revolution untersuchte und diesem Werk inzwischen eine Reihe weiterer Bücher zum Thema hat folgen lassen.9 Inzwischen ist das Denken der Weimarer Republik Gegenstand einer Vielzahl von Abhandlungen geworden. Unter den Autoren sei beispielhaft nur der Berliner Politikwissenschaftler Detlef Lehnert genannt, der mit seinen Untersuchungen wesentlich dazu beigetragen hat, das Thema der demokratischen Chancen in der Weimarer Republik neu zu bewerten.10 Seither ist dieser Ansatz von vielen Autoren aufgegriffen worden, darunter auch in der letzten großen Gesamtdarstellung der Hamburger Historikerin Ursula Büttner.11 Allerdings muss auch angemerkt werden, dass die erste umfassende Abhandlung über Demokratisches Denken in der Weimarer Republik erst 2000 von Christoph Gusy herausgegeben wurde, also von einem Rechtswissenschaftler und nicht in der Politikwissenschaft.12 Aber warum sollte die Weimarer Republik überhaupt ein Thema sein für die Politikwissenschaft?

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Bracher / Funke / Jacobsen (1987): Die Weimarer Republik. Der Band erschien auch in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, hatte also durchaus offiziösen Charakter für die Zwecke der politischen Bildung. 8 Falter (1991): Hitlers Wähler. 9 Sontheimer (1962): Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik; Breuer (1993): Anatomie der konservativen Revolution. Zuletzt von Breuer (2010): Radikale Rechte. 10 Von Lehnerts Vielzahl von Monographien und Editionen sei nur erwähnt Lehnert (1998): Verfassungsdemokratie als Bürgergenossenschaft; Lehnert (1999): Weimarer Republik; Lehnert (2012): Hugo Preuß; und Lehnert / Megerle (Hrsg.) (1993): Pluralismus. Lehnert gibt auch die Reihe „Historische Demokratieforschung“ heraus, von deren bislang neun Bänden allein acht von ihm auch herausgegeben wurden. 11 Büttner (2008): Weimar. Erwähnenswert sind auch zwei Ausstellungen im Weimarer Stadtmuseum, die zur Neubewertung beigetragen haben; vgl. Ulbricht (Hrsg.) (2009): Weimar 1919; sowie Rößner (2015): Demokratie aus Weimar. Inzwischen hat diese Interpretation auch die politische Bildung erreicht; vgl. Braune / Dreyer (2016): Weimarer Republik. 12 Gusy (2000): Demokratisches Denken in der Weimarer Republik. In diesem Kontext ist auch der Verfassungskommentar von Gusy (1997): Weimarer Reichsverfassung, erwähnenswert.

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3. WEIMAR UND BONN – STRUKTUREN UND PERSPEKTIVEN Natürlich ist es richtig, dass Politikwissenschaft hauptsächlich an aktuellen, jetzt gerade passierenden politischen Ereignissen interessiert ist, wobei die Ideengeschichte immer eine Ausnahme von dieser Regel dargestellt hat. Aber das heißt nicht, dass der historische Aspekt der Politik völlig vernachlässigt wurde. Die historische Wahlforschung wurde mit Jürgen Falter bereits erwähnt, auch der Jenaer Soziologe Heinrich Best ist hier einschlägig ausgewiesen.13 Und eines der bekanntesten Werke der realistischen Schule der Internationalen Beziehungen beschäftigt sich keineswegs mit dem aktuellen Verhalten der großen Mächte, sondern untersuchte die Epoche des Wiener Kongresses – Henry Kissingers Dissertation von 1957, die bis heute unter dem Titel A World Restored. Metternich, Castlereagh and the Problems of Peace 1812–1822 immer wieder herangezogen wird.14 Anhand der Weimarer Republik böten sich vor allem vergleichende Studien an. Diese gibt es auch bereits, aber eben nicht von Politikwissenschaftlern und demgemäß auch nicht mit politikwissenschaftlichen Fragestellungen.15 Wenn mit Ausnahme der Tschechoslowakei sämtliche nach 1918 neugegründeten demokratischen Staaten spätestens in den 1930ern scheitern und in autokratische Regime umgewandelt werden, dann ist es naheliegend, neben den individuellen Gründen auch strukturelle Gründe zu vermuten, die in der Zeit gelegen haben und die alle diese Demokratien daran gehindert haben, erfolgreiche demokratische politische Kulturen zu entwickeln. Eine politikwissenschaftliche Analyse könnte die Strukturen von Politik, Gesellschaft und Verfassung betrachten, ebenso aber auch die Zusammensetzung der jeweiligen Eliten und auch einzelne Personen als Akteure der Politik. Ein akteurszentrierter Ansatz hat seine Daseinsberechtigung nicht nur in den Internationalen Beziehungen, und Politikwissenschaftler gehen mit kontrafaktischen Experimenten etwas bereitwilliger um als dies Historiker tun. Angewendet auf die Weimarer Republik hieße dies etwa: wenn man eine einzige Empfehlung retroaktiv aussprechen dürfte, dann vielleicht die, 1925 nicht Hindenburg zum Reichspräsidenten zu wählen. Oder aber, besser noch, Friedrich Ebert nicht gut drei Wochen nach seinem 54. Geburtstag sterben zu lassen. Ebert hätte in den Krisenjahren ab 1930 noch sehr gut im Amt sein können, und es ist angesichts der von ihm bis 1924 zum Schutz der Republik ausgenutzten Vollmachten des Reichspräsidenten16 naheliegend, dass er mit den sich auftürmenden politischen Problemen, beginnend mit dem drohenden Ende der Großen Koalition unter Hermann Müller, anders umgegangen wäre als Hindenburg dies tat. Damit haben wir uns einem weiteren Punkt genähert: neben der rein wissenschaftlichen Betrachtung steht in der Politikwissenschaft auch immer die Frage der   13 Best (Hrsg.) (1989): Politik und Milieu; Best / Cotta (Hrsg.) (2000): Parliamentary Representatives. 14 Kissinger (1957): A World Restored. 15 Wirsching (Hrsg.) (2007): Herausforderungen der parlamentarischen Demokratie. Oder Gusy (Hrsg.) (2008): Demokratie in der Krise. Wirsching ist Historiker, Gusy ist Rechtswissenschaftler. 16 Vgl. Mühlhausen (2007): Friedrich Ebert, S. 722 ff.

   

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Nutz- und Anwendbarkeit der Analyse für Fragen der Politik und der politischen Kultur unserer Gegenwart im Raume, also für die Bundesrepublik im 21. Jahrhundert. Ein zentraler Teil der Neubewertung der Weimarer Republik ist die Überzeugung, dass die Strukturen von Weimar auch für die heutige Politik in Berlin etwas anzubieten haben – und zwar nicht nur ex negativo, sondern indem man sich von einzelnen Elementen der Weimarer Politik inspirieren lässt! Tatsächlich hatte man dies schon in der Bonner Republik getan, auch wenn es kaum anerkannt wurde. Das übermächtige „Bonn ist nicht Weimar“-Narrativ17 hat verdeckt, in welchem Ausmaß die Kontinuität zwischen beiden demokratischen Verfassungsordnungen tatsächlich bestand und besteht. Viele „Errungenschaften“ der Bundesrepublik sind in Wahrheit direkt aus der Weimarer Verfassung – oder, wie der Bundesrat, aus noch älteren Traditionen – übernommen worden. Ein Beispiel wäre die Organisation der Bundesregierung; sowohl Kanzler-, Ressort- wie Kabinettsprinzip finden sich allesamt bereits in der Weimarer Reichsverfassung. Gleiches gilt für die Elemente der wehrhaften Demokratie, die abschließend beispielhaft betrachtet werden sollen. Nirgendwo fühlt sich die Bonner bzw. Berliner Republik der Weimarer Republik stärker überlegen als in dieser Frage, und nirgendwo ist dieses Gefühl der Überlegenheit weniger begründet. 4. BEDROHTE DEMOKRATIE UND WEHRHAFTE DEMOKRATIE – BONN/BERLIN Das Konzept der „wehrhaften Demokratie“ in der Bundesrepublik hat nicht zuletzt deshalb seinen strahlenden Ruf, weil es niemals unter realen Bedingungen angewendet wurde. Nach 1949 hat es kein einziges Mal politische Bedingungen gegeben, die auch nur entfernt der Weimarer Situation 1920–23 oder 1930–33 nahegekommen wären. Es ist eine legitime Frage, sich zu überlegen, ob die Bundesrepublik unter ähnlichen Bedingungen überhaupt in der Lage wäre, sich ähnlich standhaft zur Wehr zu setzen, wie es Weimar gleich zweimal zu unterschiedlichen Zeiten weitgehend gelungen ist. Auch 1932/33 ist die Republik nicht durch ihre mangelnde Wehrhaftigkeit und die fehlende Bereitschaft ihrer Verteidiger zerstört worden, sondern durch einen schleichenden Staatsstreich ihrer Eliten.18 Eine solche Situation hat es in der Bundesrepublik niemals gegeben, beginnend damit, dass es unter den Eliten niemals Charaktere wie Hindenburg oder Papen (oder auch Thälmann) gab, sondern dass diese Eliten von 1949 an unzweifelhaft zur Demokratie standen. Die beiden Parteienverbote der 1950er Jahre „zählen“ nicht als Beleg für die Wehrhaftigkeit der politisch-rechtlichen Ordnung der Bundesrepublik, denn als Präzedenzfälle taugen beide inzwischen über 60 Jahre zurückliegenden Verfahren kaum mehr – wie man ja auch an den Schwierigkeiten sieht, die   17 Allemann (1956): Bonn ist nicht Weimar. Zu diesem Topos vgl. Gusy (Hrsg.) (1997): Weimars lange Schatten; sowie Ullrich (2009): Weimar-Komplex. 18 Vgl. Dreyer (2009): Weimar als ‚wehrhafte Demokratie‘; eine erweiterte englische Version als Dreyer (2012): Weimar as a ‚Militant Democracy‘.

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seit Jahren mit dem geplanten Verbot der NPD verbunden sind. Diese Schwierigkeiten mag man als integralen Bestandteil gesteigerter Rechtsstaatlichkeit und republikanischen Selbstbewusstseins werten, aber sie unterstreichen gleichwohl, dass die Möglichkeit des Parteiverbots in der Praxis ein reichlich stumpfes Schwert der wehrhaften Demokratie geworden ist. Es lohnt sich, noch einmal an Fraenkels Unterscheidung der strittigen und unstrittigen Teile der Verfassungsordnung zu erinnern. Kaum jemals hat es eine ernsthafte Infragestellung der wesentlichen Elemente der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gegeben; nicht auf breiter Basis, schon gar nicht innerhalb der Eliten, und keinesfalls in der Heftigkeit, mit der sich die Weimarer Republik konfrontiert sah. Eine der Belastungen des demokratischen Konsenses in der Bundesrepublik war in den späten 1960er Jahren die Fundamentalopposition der NPD, die anfangs in zahlreiche Landtage gewählt wurde. Aus diesen wurde sie allerdings auch nach vier Jahren wieder herausgewählt, so dass der Niedergang der Partei fast genau so schnell erfolgte wie ihr Aufstieg. Bei der Bundestagswahl 1969 landete die NPD bei 4.3 %, die FDP bei 5.8 % – solche minimalen Unterschiede lassen sich nicht sozialwissenschaftlich erklären; sie sind vernachlässigenswert. Politisch machen sie natürlich einen enormen Unterschied aus. Wäre es umgekehrt ausgegangen, hätte die Große Koalition vermutlich fortgesetzt werden müssen. In den 1970er Jahren wehrte sich die Bundesrepublik gegen politische Angriffe vor allem mit dem Extremistenbeschluss (im Volksmund gemeinhin als „Radikalenerlass“ bekannt), der praktisch ganz überwiegend gegen vermeintliche Gefährdungen von Links angewendet wurde. Aus heutiger Sicht sind diese Maßnahmen vielleicht etwas außerhalb der Verhältnismäßigkeit gewesen, aber sie sind sicherlich Manifestationen eines starken Staates gegen eine relativ schwache Bedrohung. Die stärkere Bedrohung durch den Terrorismus der 1970er / 80er Jahre kann hier unberücksichtigt bleiben. Eine politische Bedrohung der Systemstabilität sind die Anschläge der RAF und ihrer Nachfolgeorganisationen entgegen den Wünschen der Urheber niemals gewesen, und die Antwort auf diese Herausforderung war strafrechtlich und nicht politisch. Die wichtigste Herausforderung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung scheint heute zu erfolgen, in einer Mischung aus Politikverdrossenheit und zunehmender aktiver Ablehnung der Prozeduren und Institutionen des demokratischen Staates durch eine kleine, aber laute Minderheit in der Gesellschaft.19 Politikverdrossenheit wird in Deutschland gerne an der Wahlbeteiligung gemessen, die in der Bundesrepublik traditionell hoch lag, sich inzwischen aber – gerade bei Landtags- und Kommunalwahlen – scheinbar ständig nach unten bewegt. Laut einem Blog der Bundeszentrale für politische Bildung zur Bundestagswahl 2013 ist damit auch die Demokratie selbst bedroht: „Die Wahlbeteiligung ist ein   19 Zur Vorsicht mit dem Begriff der Politikverdrossenheit mahnt bereits Liedhegener (2009): Krise der Parteien, S. 230. Zur neuen Infragestellung des „diffuse support“ (um den Begriff Eastons zu verwenden) für das politische System der Bundesrepublik etwa Decker (2015): Alternative für Deutschland und Pegida.

   

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wichtiger Indikator für die Gesundheit der Demokratie.“20 Die Wahlbeteiligung betrug am Ende 71.5% im Jahr 2013 und 78.5% bei allen Bundestagswahlen seit 1949 im Durchschnitt.21 Gemessen an diesem Indikator muss die Weimarer Republik eine eminent gesunde Demokratie gewesen sein: Institution Reichstag (höchste) Reichstag (niedrigste) Reichstag (Durchschnitt) Reichspräsident Reichspräsident

Wahlbeteiligung 84.1% 75.6% 80.06% 68.9% (I); 77.6% (II) 86.2% (I); 83.5% (II)

Jahr 1932 I 1928 1919–1932 II 1925 1932

Tabelle 1: Wahlbeteiligung in der Weimarer Republik

Politikverdrossenheit in Weimar lässt sich offenbar nicht über die Wahlbeteiligung messen, und in der Tat denkt man bei dieser Thematik eher an die berühmte Karikatur von Thomas Theodor Heine:

Abbildung 1: Sie tragen die Buchstaben der Firma - aber wer trägt den Geist? Von links nach rechts: Zentrum, DDP, Stahlhelm, SPD, KPD, DVP, DNVP, NSDAP. Quelle: www.simplicissimus.info (abgerufen am 25.8.2016)

    20 So äußerte sich der Mainzer Politikwissenschaftler Thorsten Faas anlässlich der Bundestagswahl von 2013: Faas (2013): Interview. 21 Statista (2016): Entwicklung der Wahlbeteiligung.

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Bereits die Abbildung macht angesichts des dargestellten Personals, das die wesentlichen Parteien und Verbände symbolisiert22, recht deutlich, dass hier nicht die einfachen Bürger und Wähler gemeint sind, sondern die Eliten und Funktionsträger der Parteien. Und damit werden zugleich die Kontraste zwischen der Weimarer und der Bonner / Berliner Republik deutlicher. Die Eliten der Bundesrepublik stellen die Demokratie nicht in Frage, ganz im Gegenteil. Vor diesem Hintergrund ist es absurd, angesichts von Pegida und AfD von Weimarer Verhältnissen zu reden. In anderer Hinsicht ist die Frage nach den Weimarer Verhältnissen aber mehr als berechtigt. Wenn es um den Umgang mit Feinden der Demokratie geht, dann wäre ein genauerer Blick auf die Möglichkeiten, die die Weimarer Republik hier besaß – und auch anwendete – sehr aufschlussreich. 5. BEDROHTE DEMOKRATIE UND WEHRHAFTE DEMOKRATIE – WEIMAR Der Mythos der wehrhaften Bundesrepublik gegenüber der vermeintlich wehrlosen Weimarer Republik ist bereits an anderer Stelle dekonstruiert worden.23 Hier soll es genügen, beispielhaft einen besonders eklatanten Angriff auf die Republik und ihre Repräsentanten sowie die Reaktion der Weimarer Republik hierauf zu betrachten: den Rathenau-Mord.24 Aufschlussreich ist zu Beginn eine Zeitleiste, die die Abfolge der Ereignisse in Erinnerung ruft.  

  23 Vgl. Dreyer (2009): Weimar als ‚wehrhafte Demokratie‘. Immer noch grundlegend Jasper (1963): Schutz der Republik. 24 In vielen Schriften hat sich der Potsdamer Zeithistoriker Martin Sabrow mit diesem Komplex befasst; erwähnt seien nur Sabrow (1992): Rathenaumord; Sabrow (1999): Verdrängte Verschwörung. Siehe auch seinen Beitrag in diesem Band.

   

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24. Juni (Tag 1)

Ermordung Walther Rathenaus

24. Juni (Tag 1)

Notverordnung Friedrich Eberts zum Schutz der Republik

25. Juni (Tag 2) 25. Juni (Tag 2)

Reichskabinett beschließt, ein Republikschutzgesetz einzubringen Reichstagsdebatte; „Der Feind steht rechts“ (Joseph Wirth)

26. Juni (Tag 3)

Erste Verhaftungen der mutmaßlichen Täter

27. Juni (Tag 4)

Staatsakt für Rathenau im Reichstag

29. Juni (Tag 6) 5. Juli (Tag 12)

Beratung des Republikschutzgesetzes mit den Ministerpräsidenten Erste Lesung des Republikschutzgesetzes im Reichstag

10. Juli (Tag 17)

Zweite Lesung des Republikschutzgesetzes im Reichstag

18. Juli (Tag 25)

Dritte Lesung des Republikschutzgesetzes im Reichstag

21. Juli (Tag 28)

Republikschutzgesetz wird vom Reichstag verabschiedet

3. Oktober (Tag 102)

Beginn des Prozesses gegen die mutmaßlichen Täter

14. Oktober (Tag 111)

Urteile im Prozess

Tabelle 2: Zeitleiste des Rathenau-Mordes 1922

Die Geschwindigkeit, mit der die Republik auf die Ermordung Rathenaus reagierte, war bemerkenswert. Zwischen dem Mord und der Verurteilung der Täter vergehen lediglich 16 Wochen – der Vergleich mit dem NSU-Prozess (oder auch zuvor den Stammheim-Prozessen) drängt sich geradezu auf. Das Attentat auf Rathenau war nicht der erste erfolgreiche (Hugo Haase, Matthias Erzberger) oder beinahe erfolgreiche (Philipp Scheidemann) Anschlag auf ranghohe Vertreter der Republik, aber anders als die Vorgänger löste es eine harte Reaktion des Staates aus, der hier einmal in Einmütigkeit aller republikanischen Parteien agierte. Das Republikschutzgesetz in der Fassung von 192225 ist umfassend konzipiert und droht harte Strafen an. Beispielhaft seien einige Abschnitte in Erinnerung gerufen, beginnend mit § 8 des Gesetzes: „Mit Gefängnis bis zu fünf Jahren, neben dem auf Geldstrafe bis zu einer Million Mark erkannt werden kann, wird bestraft, 1. wer öffentlich oder in einer Versammlung die verfassungsmäßig festgestellte republikanische Staatsform des Reichs oder eines Landes beschimpft oder verleumdet; 2. wer öffentlich oder in einer Versammlung die Reichs- oder Landesfarben beschimpft (…)“

In § 12 geht es um die Errichtung eines Staatsgerichtshofs speziell zum Schutze der Republik, der seine Premiere bereits bei der Aburteilung der Rathenau-Mörder fand:   25 Republikschutzgesetz (1922). Spätere Versionen sind von 1927 und 1930; ausgerechnet 1932 wurde es außer Kraft gesetzt. Der ganze Komplex ist ausführlich beschrieben bei Jasper (1963): Schutz der Republik.

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„1. Bei dem Reichsgerichte wird ein Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik eingerichtet. 2. Der Staatsgerichtshof entscheidet in einer Besetzung von neuen Mitgliedern. Drei von ihnen sind Mitglieder des Reichsgerichts. Die übrigen sechs Mitglieder brauchen nicht die Fähigkeit zum Richteramte zu haben. … Die Mitglieder werden vom Reichspräsidenten für die Dauer der Geltung dieses Gesetzes ernannt.“

Erwähnt werden muss auch noch § 14, der republikfeindliche Demonstrationen und Gruppierungen zum Inhalt hatte: „Versammlungen, Aufzüge und Kundgebungen“ sowie „Vereine und Vereinigungen“ können verboten werden. Und letzten Endes soll § 17 angeführt werden, der die Kompetenzen nach diesem Gesetz nicht nur für das Reich reklamierte, sondern die Länder mit einbezog: „Zuständig für Maßnahmen nach § 14 sind die Landeszentralbehörden oder die von ihnen bestimmten Stellen.“ Man kann über die hier referierten Maßnahmen natürlich durchaus unterschiedlicher Ansicht sein. Der Schutz der Republik ist ein hohes Gut, vor allem, wenn man sich das Ende der Weimarer Republik und ihre bewusste Zerstörung durch die Eliten der Politik vor Augen hält. Aber auch die Meinungs- und Pressefreiheit (Art. 118 WRV; ähnlich Art. 5 GG), das Demonstrationsrecht (Art. 123 WRF; fast wortgleich mit Art. 8 GG) und die Vereinigungsfreiheit (Art. 124 WRV; ähnlich Art. 9 GG) sind hohe Güter, die zum Funktionieren einer Demokratie unerlässlich sind. Hier geht es nicht darum, abzuwägen, ob die Maßregelungen des Republikschutzgesetzes von 1922 dem Grundrechtsregime des Grundgesetzes entsprechen. Die Frage ist vielmehr, ob die Weimarer Republik angesichts der massiven Bedrohung durch terroristische Anschläge schnell und kraftvoll regierte. Und die Antwort auf diese Frage kann nur bejahend sein. Die hier vorgesehenen Maßnahmen sind weit schärfere und wirkungsvollere Schutzregeln für eine wehrhafte Demokratie, als es das Parteienverbot des Grundgesetzes darstellt. Die hiermit geschaffenen Möglichkeiten wurden, jedenfalls am Anfang, durchaus auch eingesetzt. Der Staatsgerichtshof zum Schutz der Republik kam zunächst kaum zur Ruhe. Allein im Jahr 1924 gab es 319 Vor- und 67 Hauptverfahren in Strafsachen; jede Woche wurden für 2–3 Tage Hauptverhandlungen geführt und für zwei Tage Beschlusssitzungen!26 Allerdings lässt sich auch nicht übersehen, dass der Eifer zum Schutz der Republik keineswegs in gleichem Ausmaße über das Reichsgebiet verteilt war. Bereits bei der Besprechung der Reichsregierung mit den Ministerpräsidenten der Länder über das Republikschutzgesetz vom 29. Juni 1922 äußerte der bayrische Ministerpräsident Graf Lerchenfeld von der BVP seine Bedenken gegen das Gesetz, und er vergaß auch nicht, hinzuzufügen, dass er bereits den Namen des Gesetzes für verfehlt halte, da er „die Spaltung in Deutschland zwischen Monarchisten und Republikanern nur erweitert“27. Auch den Staatsgerichtshof lehnte der Ministerpräsident ab. Damit war bereits deutlich, dass Bayern dem Vorbild des Reiches nicht folgen wollte, und die weitere Entwicklung, die hier nicht betrachtet werden kann, bestätigte den ersten Eindruck umfassend.   26 Hueck (1996): Staatsgerichtshof, S. 123. 27 Schulze-Bidlingmaier (Bearb.) (1973): Akten der Reichskanzlei, Kabinett Wirth, Bd. 2, Nr. 304.

   

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Gleichwohl: zumindest auf Reichsebene wurde hier ein Instrument geschaffen, dessen Bestimmungen auch heute einen Beitrag zum Schutze der (Berliner) Republik leisten könnten. Die Strukturen zum Schutz der inneren Sicherheit und der Terrorabwehr, die hier geschaffen werden, sind durchaus auch für unsere Gegenwart von Interesse. Zugleich liegt hier auch ein Forschungsprogramm für die Politikwissenschaft, die sich diesen strukturellen Zusammenhängen bislang noch kaum angenommen hat. Bonn mag nicht Weimar gewesen sein, aber Berlin könnte von Weimar durchaus etwas lernen… LITERATUR Allemann, Fritz René: Bonn ist nicht Weimar. Köln 1956. Bagehot, Walter: The English Constitution. Cambridge / New York 2001, zuerst London 1867. Best, Heinrich (Hrsg.): Politik und Milieu. Wahl- und Elitenforschung im historischen und interkulturellen Vergleich. St. Katharinen 1989. Ders. / Cotta, Maurizio (Hrsg.): Parliamentary Representatives in Europe. 1848–2000. Legislative Recruitment and Careers in Eleven European Countries. Oxford / New York 2000. Bracher, Karl Dietrich / Funke, Manfred / Jacobsen, Hans-Adolf (Hrsg.): Die Weimarer Republik. 1918–1933. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft. Düsseldorf 1987. Ders.: Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie. Stuttgart 1955. Braune, Andreas / Dreyer, Michael: Weimarer Republik. Nationalversammlung und Verfassung. Erfurt 2016. Breuer, Stefan: Anatomie der konservativen Revolution. Darmstadt 1993. Ders.: Die radikale Rechte in Deutschland 1871–1945. Stuttgart 2010. Büttner, Ursula: Weimar. Die überforderte Republik. 1918–1933. Leistung und Versagen in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur. Stuttgart 2008. Conze, Werner: Rezension zu Bracher, Auflösung der Weimarer Republik. In: Historische Zeitschrift 183 (1957), S. 378–382. Decker, Frank: Alternative für Deutschland und Pegida: Die Ankunft des neuen Rechtspopulismus in der Bundesrepublik. In: Decker, Frank / Henningsen, Bernd / Jakobsen, Kjetil (Hrsg.): Rechtspopulismus und Rechtsextremismus in Europa. Die Herausforderung der Zivilgesellschaft durch alte Ideologien und neue Medien. Baden-Baden 2015, S. 75–90. Dreyer, Michael: Weimar als ‚wehrhafte Demokratie‘ – ein unterschätztes Vorbild. In: Schultheiß, Michael (Hrsg.): Die Weimarer Verfassung – Wert und Wirkung für die Demokratie. Erfurt 2009, S. 161–189. Ders.: Weimar as a ‘Militant Democracy’. In: Hung Jochen / Weiss-Sussex, Godela / Wilkes, Geoff (Hrsg.): Beyond Glitter and Doom: The Contingency of the Weimar Republic. München 2012, S. 62–86. Easton, David: A Systems Analysis of Political Life. New York 1965. Ders.: The Political System. An Inquiry into the State of Political Science. New York 1953. Eyck, Erich: Geschichte der Weimarer Republik. 2 Bde., Erlenbach-Zürich 1954. Faas, Thorsten: Interview. In: Klein, Matthias: „Wahlbeteiligung ist ein Indikator für die Gesundheit der Demokratie“. Bundeszentrale für politische Bildung. Blog zur Bundestagswahl 2013. https://www.bpb.de/dialog/wahlblog/169267/wahlbeteiligung-ist-ein-indikator-fuer-die-gesundheit-der-demokratie (zuletzt eingesehen 5.9.2016). Falter, Jürgen W.: Hitlers Wähler. München 1991. Fraenkel, Ernst: Deutschland und die westlichen Demokratien. Stuttgart u.a. 1964.

Weimar und die Bundesrepublik Deutschland

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AUTORENVERZEICHNIS

Andreas Braune ist Politikwissenschaftler und stellvertretender Leiter der Forschungsstelle Weimarer Republik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Ursula Büttner ist emeritierte Historikerin und war bis 2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg und Professorin am Historischen Seminar der Universität Hamburg. Michael Dreyer ist Politikwissenschaftler und Leiter der Forschungsstelle Weimarer Republik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Vorsitzender des Weimarer Republik e.V. und war Gründungsmitglied der Hugo-Preuß-Gesellschaft. Franz Josef Düwell ist Jurist und Arbeitsrechtler an der Universität Konstanz. Er war Vorsitzender Richter am Bundesarbeitsgericht Erfurt. Christian Faludi ist Historiker an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und freier Journalist. Alexander Gallus ist Politikwissenschaftler an der TU Chemnitz und war zuvor als Zeithistoriker an der Universität Rostock tätig. Christoph Gusy ist Rechtswissenschaftler an der Universität Bielefeld. Moritz Kilger ist Politik- und Wirtschaftswissenschaftler und Leiter der Europäischen Jugendbildungs- und Begegnungsstätte Weimar. Detlef Lehnert ist Politikwissenschaftler an der Freien Universität Berlin, war Gründungsmitglied der Hugo-Preuß-Gesellschaft und ist Präsident der HugoPreuß-Stiftung sowie Vorstandsvorsitzender der Paul-Löbe-Stiftung Weimarer Demokratie. Marcus Llanque ist Politikwissenschaftler an der Universität Augsburg und war Zeit ihres Bestehens als Gründungsmitglied im Vorstand der Hugo-Preuß-Gesellschaft aktiv.

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Autorenverzeichnis

Heiko Maas ist Bundesminister der Justiz und für Verbraucherschutz. Walter Mühlhausen ist Geschäftsführer und Mitglied des Vorstands der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte in Heidelberg und Historiker an der TU Darmstadt. Tim B. Müller ist Historiker am Hamburger Institut für Sozialforschung und Mitglied der dortigen Forschungsgruppe Nachkriegszeiten. Torsten Oppelland ist Politikwissenschaftler an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Vorsitzender des Hellmuth-Loening-Zentrums für Staatswissenschaften Jena e.V. Alf Rößner ist Direktor des Stadtmuseums Weimar und zweiter Vorsitzender des Weimarer Republik e.V. Von Haus aus ist er Denkmalpfleger. Martin Sabrow ist Professor für Neueste und Zeitgeschichte an der HumboldtUniversität zu Berlin und Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam Thomas Schleper leitet die Abteilung für interdisziplinäre Netzwerkbildung im Landschaftsverband Rheinland und lehrt Kulturvermittlung an der Bergischen Universität Wuppertal. Arnulf Scriba ist Historiker und Leiter des Fachbereichs „Sonderausstellungen und Projekte“ am Deutschen Historischen Museum in Berlin. Stephan Zänker ist Historiker und Geschäftsführer des Weimarer Republik e.V. sowie Kurator der Wanderausstellung „Die Weimarer Republik: Deutschlands erste Demokratie“.

Patrick Bormann / Judith Michel / Joachim Scholtyseck (Hg.)

Unternehmer in der Weimarer Republik

beiträge zur unternehMensgeschichte – band 35 die herausgeber Patrick Bormann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Rheinischen FriedrichWilhelms-Universität Bonn. Dr. Judith Michel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Rheinischen FriedrichWilhelms-Universität Bonn. Prof. Dr. Joachim Scholtyseck hat einen Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn inne.

Die Unternehmensgeschichte der Weimarer Republik liegt meist im Schatten des „Dritten Reiches“. Um die Eigenständigkeit der wirtschaftlichen Entwicklung der Weimarer Zeit und ihres Unternehmertums deutlicher hervorzuheben, stellt dieser Band bedeutende Unternehmer verschiedener Branchen in ihrer Weimarer Schaffensphase mit konzisen Portraits vor. Dabei werden sie in die spezifischen Rahmenbedingungen, insbesondere die politischen Unsicherheiten und die wirtschaftlichen Krisensituationen der Weimarer Republik eingeordnet. Zudem nehmen die Autoren wichtige Trends der jeweiligen Unternehmensentwicklungen in den Blick. In der Summe der Beiträge entfaltet sich ein Bild verschiedener Unternehmertypen, die sich in Hinblick auf Branche, strategisches Vorgehen, politische Positionierung und generationelle Prägung teilweise stark unterschieden. Der Band bietet sowohl einen allgemeinen Überblick über das Unternehmerspektrum der Weimarer Republik als auch die Möglichkeit, sich schnell über Einzelbiographien zu informieren. Mit beiträgen zu August Thyssen, Max Oscar Arnold, Louis Hagen, Hugo Junker, Carl Duisberg, Robert Bosch, Franz Urbig, Hugo Eckener, Paul Reusch, Hugo Stinnes, August Rosterg, Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, Bruno und Paul Cassirer, Carl Bosch, Ernst Brandi, Paul Silverberg, Albert Vögler, Robert Gerling, Otto Wolff , Günther Quandt, Friedrich Flick, Claude Dornier, Rudolf Blohm, Franz Josef Popp, Wilhelm Zangen

397 Seiten. 978-3-515-11215-4 kart. 978-3-515-11218-5 e-book

Hier bestellen: www.steiner-verlag.de

Anselm Doering-Manteuffel / Jörn Leonhard (Hg.)

Liberalismus im 20. Jahrhundert

Stiftung bundeSpräSident-theodor-heuSS-hauS – WiSSenSchaftliche reihe – band 12 mit beitärgen von Andreas Wirsching, Michael Freeden, Jörn Leonhard, Philipp Müller, Tim B. Müller, Marcus Llanque, Maurizio Vaudagna, Anselm DoeringManteuffel, Jens Hacke, Jeppe Nevers & Niklas Olsen, Dominik Geppert, Giovanni Orsina, Maciej Janowski, Lutz Raphael

Im 20. Jahrhundert, dem Zeitalter ideologischer Extreme, stand der Liberalismus mehrfach vor der Herausforderung, seine Grundprinzipien an veränderte politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Rahmenbedingungen anzupassen. Der Kampf um die Geltung liberaler Prinzipien bewegte sich vielfach in einer paradox anmutenden Parallelität zum Bedeutungs- und Funktionsverlust des organisierten Liberalismus in Parteien und Parlamenten. Doch wie reagierten die Liberalen in den Gesellschaften Europas und Nordamerikas auf die ideologischen, ökonomischen und sozialen Krisenmomente des Jahrhunderts? Die verschiedenen nationalen Variationen verbieten es, ungeprüft von „dem Liberalismus“ zu sprechen. Vielmehr gilt es, die länderübergreifenden Gemeinsamkeiten liberaler Konzepte und Bewegungen herauszuarbeiten, bevor die Eigenheiten des liberalen Weltbilds beschrieben werden können. Die Beiträge internationaler Forscher in diesem Band diskutieren das Problem aus der einzelstaatlichen und transnationalen Perspektive. Sie bestimmen den historischen Ort des Liberalismus im wechselvollen 20. Jahrhundert genauer, indem Kongruenzen und Divergenzen einer prägenden Leitidee der Moderne aufgedeckt werden.

347 Seiten. 978-3-515-11072-3 gebunden 978-3-515-11074-7 e-book

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Die deutsche Demokratie steht im 21. Jahrhundert vor neuen und viel­ fältigen Herausforderungen: Sinkende Wahlbeteiligung und steigende Politikverdrossenheit, neue Parteien und Protestbewegungen (zum Teil mit sehr alten Ideen), Terror in der Welt und die Rückkehr des Krieges nach Europa, soziale Ungleichgewichte in Europa und in Deutschland – die Liste ließe sich verlängern. Soll ausgerechnet die Weimarer Republik, die „überforderte Republik“ (Ursula Büttner), Antworten auf diese Fragen parat haben? Mit dem näher rückenden Zentenarium der ersten deutschen Demokratie untersuchen die Autorinnen und Autoren, welche Herausforderungen „Weimar“ heute an Wissenschaft und museale Vermittlung, an politische Bildung und politische Praxis stellt – und wie „Weimar“ helfen kann, unsere Demokratie heute zu beleben.

ISBN 978-3-515-11591-9

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag