Einführung in die Literatur der Weimarer Republik 3534175751, 9783534175758

Die Weimarer Republik war die Zeit eines kulturellen Umbruchs, der bis in die Gegenwart nachwirkt. In den Jahren von 191

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German Pages 160 [159] Year 2009

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Titel
Impressum
Inhalt
I. Epochenbegriff
II. Forschungsbericht
1. Von den Anfängen bis etwa 1970
2. Von etwa 1970 bis zur Gegenwart
III. Kontexte
1. Politische und soziale Geschichte
2. Soziokultureller Strukturwandel
3. Massenmedien
4. Kulturpolitische Institutionen und Akteure
5. Die Intellektuellen
IV. Aspekte und Geschichte der Literatur
1. Ästhetische Tendenzen und Programme
2. Entwicklungen der Lyrik
3. Entwicklungen der Dramatik
4. Entwicklungen der Erzählprosa
V. Einzelanalysen repräsentativer Werke
1. Bertolt Brecht: Von der Kindesmörderin Marie Farrar
2. Marieluise Fleißer: Pioniere in Ingolstadt
3. Bertolt Brecht/Kurt Weill: Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny
4. Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz
5. Irmgard Keun: Gilgi – eine von uns
Kommentierte Bibliographie
1. Wichtige Werkausgaben und Texte
2. Grundlegende Forschungsliteratur und Textsammlungen
3. Weitere Forschungsliteratur
Personenregister
Sachregister
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Einführung in die Literatur der Weimarer Republik
 3534175751, 9783534175758

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Einführungen Germanistik Herausgegeben von Gunter E. Grimm und Klaus-Michael Bogdal

Gregor Streim

Einführung in die Literatur der Weimarer Republik

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2009 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt

Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, Hemsbach Einbandgestaltung: schreiberVIS, Seeheim Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-17575-8

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-71563-3 eBook (epub): 978-3-534-71564-0

Inhalt I. Epochenbegriff ..

7

11. Forschungsbericht

12

1. Von den Anfängen bis etwa 1970

12

2. Von etwa 1970 bis zur Gegenwart

16

111. Kontexte 1.

...............

Politische und soziale Geschichte

2. Soziokultureller Strukturwandel 3. Massenmedien

20 20

.

..........

23 28

4.

Kulturpolitische Institutionen und Akteure

34

5.

Die Intellektuellen

40

........

IV. Aspekte und Geschichte der L iteratur 1. Ästhetische Tendenzen und Programme

43 43

2.

Entwicklungen der Lyrik

....

49

3.

Entwicklungen der Dramatik ..

56

4.

Entwicklungen der Erzählprosa

67

V. Einzelanalysen repräsentativerWerke 1.

Bertolt Brecht: Von der Kindesmörderin Marie Farrar

2. Marieluise Fleißer: Pioniere in Ingolstadt 3.

Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny Irmgard Keun: Gilgi - eine von uns

Kommentierte Bibliographie

. . . . . . .

1. WichtigeWerkausgaben und Texte 2.

87 97

Bertolt BrechtiKurtWeill:

4. Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz 5.

87

Grundlegende Forschungsliteratur und Textsammlungen

3. Weitere Forschungsliteratur

108 119 132 141 141 142 144

Personenregister

155

Sachregister

159

I. Epochenbegriff Bei der ,Literatur der Weimarer Republik' handelt es sich um ein relativ jun-

,Weimarer Kultur'

ges literaturwissenschaftliches Epochenkonzept, das in der Bundesrepublik erst in den 1970er Jahren etabliert wurde. Das Interesse an der Kultur der Weimarer Republik ist jedoch älter. In den 1950er und 1960er Jahren waren es vor allem Autobiographien und populäre Kulturgeschichten, die auf eher nostalgische Weise an diese Zeit erinnerten und dabei das Image der ,goldenen zwanziger Jahre' prägten. In den sechziger Jahren bildete sich dann im angelsächsischen Raum, vermittelt durch die Emigranten, das Konzept von der modernen ,Weimarer Kultur' bzw. ,Weimar Culture' heraus. Damit assoziiert wurden vor allem die kulturellen und künstlerischen Tendenzen, die eine internationale, bis in die Gegenwart reichende Ausstrahlung hatten: wie die funktionale Architektur des Bauhauses, die Theaterexperimente Erwin Piscators, Brechts Dreigroschenoper oder Josef von Sternbergs Film Der blaue Engel. Dass die Kultur der Weimarer Kultur seit nunmehr über

vierzig Jahren eine nicht nachlassende Faszinationskraft auf die deutsche und internationale Forschung ausübt, liegt aber nicht nur an der aus heutiger Sicht klassisch anmutenden ästhetischen Modernität vieler ihrer Hervorbringungen. Faszinierend wirkt vor allem das spannungsvolle Nebeneinander von künstlerisch-intellektuellen Innovationen und politisch-sozialen Krisen in dieser Zeit. Denn fast alle Kulturgeschichten beschreiben die kulturelle Kreativität der Weimarer Republik vor dem Hintergrund der drohenden politischen Katastrophe. "It was a preccarious glory, a dance on the edge of a volcano", so charakterisiert Peter Gay die Epoche in der Einleitung seines viel gelesenen Buches Weimar Culture: The Outsiders as Insiders (Gay 1968, XIV; dt. Die Republik der Außenseiter). Ähnliche Metaphern finden sich auch in neueren Darstellungen, die den experimentellen Charakter vieler künstlerischer und intellektueller Entwicklungen der Zeit hervorheben. Die Weimarer Republik wird dort als "I'explosion de la modernite" (Raulet 1984), als "das große Laboratorium der klassischen Moderne" (Winkler 1993, 11) oder als "a laboratory for modernity " (Kaes/Jay/Dimendberg 1994, XVII) vorgestellt. An Metaphern wie der des Laboratoriums der Moderne tritt ein Grundzug der kulturgeschichtlichen Beschäftigung mit der Weimarer Republik zutage. Implizit oder explizit behaupten nämlich alle Forscher die Aktualität dieser Epoche. Ganz offensichtlich rührt das starke und anhaltende Interesse an dieser Zeit vor allem daher, dass man in ihr die Entstehungs- oder Inkubationszeit der modernen Gegenwartskultur zu erkennen meint. Stets wurde und wird die Weimarer Republik unter dem Aspekt einer epochenübergreifenden Modernität betrachtet. Daher ist den verschiedenen Darstellungen dieser Epoche das jeweils aktuelle Verständnis der kulturellen Moderne ein­ geschrieben. Akzentuierte das im in den sechziger Jahren entwickelte Konzept der ,Weimarer Kultur' vor allem den Zusammenhang von ästhetischer Modernität und gesellschaftlicher Fortschrittlichkeit, so zeichnen die seit

Aktualität

8 I. Epochenbegriff den achtziger Jahren entstandenen kulturgeschichtlichen Darstellungen ein kritischeres Bild. Aktuell erscheint die Weimarer Republik hier vor allem deshalb, weil die ästhetischen und geistigen Grundlagen der Moderne in dieser Zeit in eine Krise gerieten - die Autonomie- und Abstraktionskonzep­ te der künstlerischen Moderne ebenso wie der moderne Rationalitäts- und Fortschrittsglaube. Die Weimarer Republik avancierte so zum Paradigma für die krisenhafte Erfahrung der Moderne. Peter Sioterdijk analysierte die kul­ turellen Phänomene der zwanziger Jahre in diesem Sinn als Ausdruck einer desillusionierten, krisenbewussten Mentalität: "In ihren artikulierten Spit­ zenleistungen steht die Weimarer Kultur [ . . ] als die wachste Epoche der .

Geschichte vor uns, als ein hochreflexives, nachdenkliches, phantasievolles und ausdrucksstarkes Zeitalter" (Sloterdijk 1983, 2, 708). Und Detlev Peu­ kert charakterisierte die kultur- und sozialgeschichtliche Epoche kurz und prägnant als "Krisenzeit der klassischen Moderne" (Peukert 1987, 11). Entdeckung der

Von der Literaturwissenschaft wurde die Weimarer Republik als literari­

I iterarischen Epoche

sche Epoche vergleichsweise spät entdeckt. Im Jahr 1974 konstatierte Wolf­ gang Rothe im Vorwort zu dem von ihm herausgegebenen, eine forschungs­ geschichtliche Zäsur markierenden Sammelband Die deutsche Literatur in

der Weimarer Republik, die Weimarer Republik trete "neuerdings auch als literarische Epoche ins Blickfeld der Wissenschaft", müsse aber "als Ganzes genommen noch für weitgehend unerforscht gelten" (Rothe 1974, 7). Zwar waren zuvor schon Forschungsarbeiten zu einzelnen Autoren und Aspekten entstanden. Doch hatte man die Zeit zwischen 1918 und 1933 bis dahin (zumindest in der Bundesrepublik) nicht als zusammenhängende literatur­ geschichtliche Epoche in den Blick genommen. Ein Grund dafür war, dass die in der politischen Geschichtsschreibung etablierte Epochenbezeichnung quer stand zu den stilgeschichtlichen Paradigmen, mit denen die Literatur­ geschichtsschreibung die Literatur aus dieser Zeit bis dahin klassifiziert hat­ te. Hier sind vor allem zwei konkurrierende Begriffe hervorzuheben: Ex­ pressionismus und Neue Sachlichkeit. Die ältere Forschung hatte die ersten Jahre der Weimarer Republik noch als Teil der expressionistischen Stilepo­ che behandelt und die literarische Epochengrenze dementsprechend am Beginn der zwanziger Jahre gezogen. Die ästhetisch uneinheitlich wirken­ den literarischen Phänomene der späteren zwanziger Jahre klassifizierte man aus einer gewissen Verlegenheit heraus zunächst oft als Nachexpres­ sionismus. Später wurden sie unter dem Begriff Neue Sachlichkeit zusam­ mengefasst. Im Unterschied zum Expressionismusbegriff bezeichnet dieser allerdings weniger einen Stil als Phänomene der soziokulturellen Moderni­ sierung. Probleme der

Mit der Einführung des Epochenkonzepts Weimarer Republik verloren

Periodisierung

die Bezeichnungen Expressionismus und Neue Sachlichkeit keineswegs an Bedeutung. Vielmehr wurden und werden sie für eine Binnengliederung der

I iterarischen Epoche genutzt. So stellen die meisten Literaturgeschichten den späten Expressionismus als die dominierende ästhetisch-kulturelle Strömung der revolutionären Anfangszeit der Republik heraus, die um

1920, spätestens aber 1923 endet. Die Neue Sachlichkeit gilt demgegen­ über als die beherrschende Tendenz der sogenannten Stabilisierungsphase von 1924 bis 1929, und damit als ästhetische und ideologische Signatur der ,eigentlichen' zwanziger Jahre. In Analogie zur (auf den Zeitraum

I. Epochenbegriff

1910-1920 bezogenen) Rede vom ,expressionistischen Jahrzehnt' hat man die zwanziger Jahre gelegentlich auch als das "neusachliche Jahrzehnt" be­ zeichnet (Lethen 1994, 10). Damit wird die literarische Epoche auch am Ende der zwanziger Jahre noch einmal in sich unterteilt. Tatsächlich bedeu­ tete das Ende der Stabilisierungsphase 1929/30 nicht nur für das politische und soziale, sondern auch für das literarische und künstlerische Leben der Weimarer Republik einen tiefen Einschnitt. Zum einen, weil die Literatur von da an immer stärker von der allgemeinen Politisierung erfasst wurde. Und zum anderen, weil die innovativen und experimentellen Ansätze in Folge der ökonomischen Krise und der politischen Angriffe von rechts größ­ tenteils schon zu dieser Zeit - und nicht erst 1933 - zu einem Ende kamen. Ebenso wie der Expressionismusbegriff reicht aber auch die Bezeichnung Neue Sachlichkeit über die politischen Epochengrenzen hinaus. Denn viele Tendenzen der soziokulturellen Modernisierung, die man als neusachlich charakterisiert hat, setzten sich nach 1930 und auch noch im ,Dritten Reich' fort. Neuere sozialgeschichtlich orientierte Forschungsarbeiten, die sich mit solchen Erscheinungen (wie der modernen Massenkultur) befassen, bevor­ zugen daher oft die Epochenbezeichnung Zwischenkriegszeit und betrach­ ten den Zeitraum zwischen 1918 und 1939 als ein Kontinuum. Wo man die Epochengrenzen setzt, und ob man dabei von Bruch oder Transformation spricht, hängt letztendlich davon ab, welche Phänomene untersucht wer­ den. Der Gegensatz von ästhetischen und sozialgeschichtlichen Betrachtungsweisen hat sich auch in unterschiedlichen Ansichten darüber niedergeschlagen, wie neu und innovativ die Kunst und Literatur der Weimarer Republik eigentlich gewesen ist. Mit Blick darauf, dass sich die folgenreichen Revolutionen der künstlerischen Moderne bereits vor 1918 - im Expressionismus, Kubismus und Futurismus - vollzogen hatten, haben manche Kritiker in den sechziger Jahren die These von der übersprudelnden Kreativität der zwanziger Jahre zu relativieren versucht. Theodor W. Adorno wies 1962 darauf hin, dass viele avantgardistische Neuerungen in den zwanziger Jahren bereits eine "Rückbildung" und "Neutralisierung" erfahren hätten (Adorno 1977, 499). Helmuth Plessner erklärte den Eindruck der "einzigartigen Produktivität" der zwanziger Jahre damit, dass sich vor 1914 ein "Stau" künstlerischer und intellektueller Energien gebildet habe, der in der Republik gelöst worden sei (Plessner 1966, 101). Und Peter Gay schrieb 1968, es gebe keinen Zweifel, dass "der Weimarer Stil" schon "vor der Weimarer Republik" entstanden sei und durch den Krieg und die Revolution nur sein besonderes Gepräge erhalten habe: "die Republik hat wenig geschaffen; sie hat lediglich bereits Vorhandenes befreit" (Gay 1987, 23). Die sozialgeschichtlich ausgerichtete Literaturwissenschaft der achtziger Jahre maß dagegen den besonderen Bedingungen der Weimarer Republik, dem "neuen literarischen Kontext" (Kreuzer 1981, 132), eine viel größere Bedeutung für die literarische Entwicklung zu. Sie legte dabei einen sozialgeschichtlichen Modernisierungsbegriff zu Grunde. Hatten sich die Kritiker der sechziger Jahre an der künstlerischen Avantgarde als Maßstab ästhetischer Modernität orientiert, so erkannte man die spezifische Modernität der Literatur der Weimarer Republik nun in der Öffnung zur Populärkultur, den Veränderungen in Folge der Medienkonkurrenz und der politischen Funktionalisierung. Da-

Debatte über Modernität

9

10 I. Epochenbegriff her identifizieren literaturgeschichtliche Darstellungen die kulturelle Epo­ che seit den siebziger Jahren insbesondere mit den im weiteren Sinn neu­ sachlichen Tendenzen, wie der neuen Angestelltenliteratur oder der Ge­ brauchslyrik. Sie bestärken damit gleichzeitig die Vorstellung eines Bruchs zwischen der expressionistischen Anfangsphase und den neusachlichen zwanziger Jahren. So wird oft übersehen, dass wichtige, für die Literatur der Stabilisierungsphase als charakteristisch geltende Techniken und Verfahrens­ weisen zuerst im Expressionismus bzw. im Dadaismus entwickelt wurden, also avantgardistischen Ursprungs sind. Dies gilt für die Montagetechnik ebenso wie für die politische Funktionalisierung der Künste. Die Weimarer

,Literatur der Weimarer Republik' ist eine der wenigen Epochenbezeich­

Republik als

nungen, die eine literarische Epoche mit der Existenz eines staatlichen Ge­

Literatursystem

bildes verknüpfen. Anders als ein Begriff wie Zwischenkriegszeit umgrenzt diese Bezeichnung den Gegenstandsbereich nicht nur historisch, sondern auch politisch-geographisch - und schließt damit die außerhalb der Gren­ zen des Deutschen Reichs entstandene deutschsprachige Literatur tendenzi­ ell aus. So klar, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mag, ist diese Grenz­ ziehung allerdings nicht. Denn die Zuordnung von Texten zur Literatur der Weimarer Republik kann offensichtlich nicht von deren Entstehungsort und schon gar nicht von der Herkunft der Autoren abhängig gemacht werden. Schließlich waren führende Romanciers, Dramatiker und Journalisten der Weimarer Republik Österreicher bzw. in der Donaumonarchie geboren. Vicki Baum, Arnolt Bronnen und Stefan Großmann stammten aus Wien, Egon Erwin Kisch aus Prag, Joseph Roth aus Brody (Galizien), um nur einige Namen zu nennen. Sie alle gingen in den zwanziger Jahren für kürzere oder längere Zeit nach Berlin, das in der Nachkriegszeit eine starke Anziehungs­ kraft auf österreichische und insbesondere Wiener Schriftsteller ausübte (vgl. Fetz/Schlösser 2001). Literaturgeschichtliche Darstellungen zur Wei­ marer Republik verzeichnen aber auch Werke von nicht (oder nur vorüber­ gehend) in Deutschland lebenden Autoren. Ein prominentes Beispiele hier­ für sind die Werke von Robert Musil. Diese entstanden zwar in Österreich, sie wurden aber in Deutschland verlegt, aufgeführt, rezensiert und disku­ tiert. So erhielt Musil 1923 für sein Stück Oie Schwärmer von Alfred Döblin eine der höchsten deutschen Literaturauszeichnungen, den Kleist-Preis, zu­ gesprochen. Zudem nahm er mit seinen in deutschen Zeitungen und Zeit­ schriften publizierten Artikeln an den literarischen Debatten der Weimarer Republik teil. Die Weimarer Republik bildet hier also einen Raum kommu­ nikativer Interaktion. Mit Blick auf diese Zusammenhänge hat die Forschung die ,Literatur der Weimarer Republik' seit den siebziger Jahren zumeist im Sinne von ,literarisches Leben in der Weimarer Republik' aufgefasst (vgl. u.a. Rothe 1974, 8). Insofern es sich hierbei um ein durch Institutionen ge­ regeltes System der Entstehung, Vermittlung und Verbreitung von Literatur handelte, lässt sich die Weimarer Republik in einem genaueren, literaturso­ ziologischen Sinn als Literatursystem bestimmen.

Autoren

Aufgrund der politisch-historischen Eingrenzung der Epoche scheint sich die Frage, welche Autoren ihr zuzurechnen sind, auch in zeitlicher Hinsicht gar nicht zu stellen. Zur Literatur der Weimarer Republik müssten alle Auto­ ren zählen, die zwischen 1918 und 1933 geschrieben und publiziert haben. Man kann jedoch feststellen, dass literaturgeschichtliche Überblicksdarstel-

I. Epochenbegriff 11

lungen und Sammelbände vorwiegend die Autoren behandeln, deren litera­ rische Entwicklung in besonderer Weise mit den literarischen Debatten und ästhetischen Innovationen dieser Zeit verbunden war - wie Bertolt Brecht oder Erich Kästner, die ihre literarische Karriere erst nach 1918 begannen. Schriftsteller, die ihren literarischen Durchbruch schon in der Kaiserzeit er­ lebt hatten und die für sie charakteristische Formsprache schon vor 1918 entwickelt hatten, werden dagegen meist nur am Rande behandelt, selbst wenn sie in der Weimarer Republik weiterhin erfolgreich waren. Das gilt beispielsweise für den Dramatiker earl Sternheim, der in Literaturgeschich­ ten hauptsächlich als satirischer Kritiker der wilhelminischen Ära eingeord­ net wird. Anders stellt sich die Situation für Autoren dar, die zwar schon in der Vorkriegszeit literarisch hervorgetreten waren, in der Nachkriegszeit aber neue Wege beschritten. Dies trifft etwa auf die vom Frühexpressionis­ mus herkommenden Gottfried Benn und Alfred Döblin zu, die in den zwan­ ziger Jahren neue, durch Montagetechnik geprägte Schreibweisen entwi­ ckelten und heute zu den wichtigsten literarischen Repräsentanten der Wei­ marer Republik zählen. Zweifellos kann die Zugehörigkeit zur Literatur der Weimarer Republik aber nicht vom Kriterium ästhetischer oder themati­ scher Innovation abhängig gemacht werden. Fasst man die Weimarer Re­ publik als literarisches S ystem auf, dann sind prinzipiell alle Autoren zu be­ rücksichtigen, die an der literarischen Kommunikation in dieser Zeit teil­ nahmen. Dazu gehören auch Dichter wie Rainer Maria Rilke und Stefan George, deren (in den zwanziger Jahren erschienene) Spätwerke durch die ästhetische Tradition der modernen Lyrik der Jahrhundertwende geprägt sind. Und ebenso traditionalistische Autoren, die von den modernen Ten­ denzen der Zeit unberührt waren und ihr Schreiben in Opposition zu diesen definierten.

11. Forschungsbericht 1. Von den Anfängen bis etwa 1970 Epochenkonzeption

Wenn von der ,Literatur (in) der Weimarer Republik' gesprochen wird, dann wird wie selbstverständlich vorausgesetzt, dass wir es mit einer literaturge­ schichtlichen Epoche zu tun haben. So bezeichnet die ,Literatur der Weima­ rer Republik' für Literaturwissenschaftier heute einen scheinbar ebenso klar konturierten Forschungsgegenstand wie die ,Geschichte der Weimarer Re­ publik' für Historiker. Fast alle neueren Literaturgeschichten orientieren sich in ihrer Epocheneinteilung daran, und seit einigen Jahren gibt es sogar ein eigenes

Jahrbuch zur Literatur und Kultur der Weimarer Republik. Für eine

kritische Reflexion dieses Epochenbegriffs ist es indessen nützlich, sich da­ ran zu erinnern, dass die Rede von der ,Literatur der Weimarer Republik' historisch gesehen relativ neu ist und sich zumindest in der westdeutschen Germanistik erst in den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts durchsetzte. Dies evoziert die Frage nach der Entwicklung und den Prämis­ sen dieser Epochenkonzeption. Gerade an der Forschungsgeschichte zur Li­ teratur der Weimarer Republik wird beispielhaft deutlich, dass die Zusam­ menfassung literarischer Phänomene unter dem Konzept einer literarischen Epoche eine Vorstellung vom Wesen dieser Epoche impliziert. Anders ge­ sagt: Wer von der ,Literatur der Weimarer Republik' spricht, sieht bestimmte Formen oder Tendenzen als epochenspezifisch an. Die Geschichte der For­ schung zur ,Literatur der Weimarer Republik' ist daher auch die Geschichte der Entstehung und Veränderung eines Epochenkonzepts. Erste I iterar­

Erste Versuche einer überblicksartigen Darstellung der nach dem Ersten

historische

Weltkrieg entstandenen Literatur wurden bereits um 1930 unternommen

Beschreibungen

(vgl. Buck 1985, 18f.). Allerdings betrachtete man die Weimarer Republik zu dieser Zeit noch nicht als literaturgeschichtliche Epoche. Vielmehr ver­ suchte man die verschiedenen Erscheinungen der Gegenwartsliteratur stil­ typologisch und stilgeschichtlich zu systematisieren. Dabei kamen haupt­ sächlich zwei Begriffe zur Anwendung: Expressionismus und Sachlichkeit. Galt der Expressionismus den Zeitgenossen noch bis Mitte der zwanziger Jahre als die beherrschende Stilrichtung der Gegenwart (vgl. SoergeI1925), so gelangten am Ende der zwanziger Jahre erstmals die neuen, sich vom Ex­ pressionismus unterscheidenden literarischen Tendenzen in den Blick, die man in Anlehnung an programmatische Artikel aus der damaligen Zeit als ,Stil der Sachlichkeit' oder als ,Neue Sachlichkeit' bezeichnete. Beispielhaft zeigt sich dies an der Neuauflage der Literaturgeschichte von Werner Mar­ holz aus dem Jahr 1930, die ein neues, von Max Wieser verfasstes Kapitel mit der Überschrift "Vom Expressionismus zum neuen Realismus" enthält. Wieser beschreibt darin sehr kenntnisreich und objektiv einen neuen sach­ lichen Stil in der Lyrik und Prosa und gibt einen Überblick über neue Auto­ ren, Themen und Genres. Er gelangt dabei zu dem Schluss, dass sich überall in der Literatur - und ebenso in der bildenden Kunst und Baukunst - eine

1. Von den Anfängen bis etwa 1970

"neue realistische Bestrebung", eine "kalte Sachlichkeit und Nüchternheit" zeige und der Expressionismus historisch zu werden beginne (Marholz

1930, 425). Auch in anderen Literaturgeschichten aus dieser Zeit wird die Sachlichkeit als neues, den Expressionismus ablösendes Stilparadigma he­ rausgestellt. Allerdings wird die Beschreibung sachlicher Tendenzen in der Endphase der Weimarer Republik zunehmend von nationalistischen Deu­ tungen überlagert. Hans Naumann etwa interpretiert die Sachlichkeit 1931 als heroischen und spezifisch deutschen Stil, der den expressionistischen ,Kosmopolitismus' überwunden und einer Rückbesinnung auf Nation und Führertum den Weg geebnet habe (vgl. Naumann 1931, 383-389). Diesel­ be Tendenz weist Paul Fechters Geschichte der Literatur unseres Volkes von

den Anfängen bis zur Gegenwart von 1932 auf, in der die literarischen Ent­ wicklungen seit dem Ersten Weltkrieg unter der Überschrift "Expressionis­ mus, Sachlichkeit und Durchbruch" zusammengefasst werden (Fechter

1932, 795). Fechter konstruiert darin eine ähnliche Teleologie wie Nau­ mann, wonach die Sachlichkeit aus der Abneigung gegen die expressionis­ tische Formauflösung und die "Begriffshäkelei der großstädtischen Literatur­ betriebe" entstanden sei und auf eine Überwindung der (nicht nur) literari­ schen Moderne ziele (Fechter 1932,800). Dabei reduziert sich sein Konzept der Sachlichkeit noch stärker auf nationalkonservative und nationalsoziali­ stische Autoren, wie Hanns johst, die in seiner Darstellung eine allgemeine "Wendung zu einer Dichtung aus dem Volksganzen und für das Volksgan­ ze" belegen sollen (Fechter 1932, 856). Bürgerlich-demokratische, I inksge­ richtete oder avantgardistische Autoren finden - mit Ausnahme Alfred Döb­ lins - in Fechters Literaturgeschichte von 1932 bereits keine Erwähnung mehr, die so der Erinnerungspolitik im ,Dritten Reich' vorarbeitet. In der nationalsozialistischen Propaganda markierte die Machtübertra­ gung an Adolf Hitler am 30. januar 1933 nicht nur das Ende einer verhass­ ten politischen Epoche, sondern zugleich eine kulturelle Epochenwende. Sie bedeutete nach dem Willen der neuen Machthaber den endgültigen Bruch mit der als ,kosmopolitisch', ,liberalistisch', ,jüdisch', ,marxistisch' und ,intellektualistisch' diskreditierten Kultur der sogenannten ,Systemzeit'. Zwar gab es in der Anfangszeit des ,Dritten Reichs' noch eine Auseinander­ setzung darüber, ob bestimmte Tendenzen der künstlerischen Moderne in den NS-Staat integriert werden könnten. Diese Frage wurde jedoch spätes­ tens 1937, dem jahr der Propagandaausstellung Entartete Kunst, endgültig negativ entschieden. Dies wirkte sich in zweierlei Hinsicht auch auf das Bild von der Literatur der vergangenen Epoche aus. Einerseits denunzierte die nationalsozialistische Propaganda sowohl die expressionistische als auch die bürgerlich-demokratische und linksgerichtete Literatur aus der Zeit der Weimarer Republik als ,Asphaltliteratur' und ,Kulturbolschewismus' und entwarf ein wahres Schreckensbild der vergangenen Epoche. Anderer­ seits versuchte man die Erinnerung an diese Literatur systematisch aus dem kulturellen Gedächtnis zu tilgen. Dies geschah nicht nur durch das Verbot ihrer Verbreitung. Sondern auch durch die Literaturgeschichtsschreibung, in der die inkriminierten Tendenzen und Autoren - und damit der größte Teil der Literatur aus der Weimarer Republik - gar nicht mehr repräsentiert wur­ den. Exemplarisch hierfür ist die seinerzeit populäre Literaturgeschichte Al­ bert Soergels, die 1934 in neuer Folge unter dem Titel Dichter aus deut-

Auslöschung der Erinnerung im Nationalsozialismus

13

14 11. Forschungsbericht schem Volkstum erschien. Der Verfasser einer der ersten Überblicksdarstel­ lungen zum Expressionismus stellte seine Betrachtung der Literatur der letz­ ten Jahrzehnte nun unter das Motto: "Wandlung der deutschen Dichtung nach der Lösung vom expressionistischen Bann" (Soergel 1934, 7). Diese Wandlung wird von Soergel in seinem Buch nicht mehr als stilgeschicht­ liche Entwicklung, sondern - dem völkischen Paradigma folgend - als Rück­ bindung der Literatur an Volkstum und Rasse bzw. die "deutsche Blutsge­ meinschaft" beschrieben (Soergel 1934, 11). Daher werden ausschließlich völkische Autoren wie Hans Grimm, Erwin Guido Kolbenheyer, Will Vesper oder Hans Friedrich Blunck vorgestellt, die rückblickend als Vorkämpfer des ,Dritten Reichs' erscheinen. Die gleiche Teleologie kennzeichnet die re­ präsentative nationalsozialistische Literaturgeschichte Hellmuth Langenbu­ chers, der am Beispiel soldatisch-nationalistischer Autoren wie Werner Beu­ melburg, Franz Schauwecker oder Hanns Johst die Wendung des ,Volks­ schicksais' vom Ersten Weltkrieg bis ins ,Dritte Reich' aufzuzeigen versucht (vgl. Langenbucher 1937). Politische

In Folge der Ost-West-Spaltung entwickelten sich in Deutschland nach

Vereinnahmung

1945 zwei ganz unterschiedliche Rezeptionsweisen und Forschungsbilder.

inder DDR

Anders als in Westdeutschland fand die Literatur aus der Zeit der Weimarer Republik in der DDR von Beginn an starke öffentliche und wissenschaft­ liche Beachtung. Dies lag zum einen an der personellen Verbundenheit mit der Kultur dieser Epoche, die durch die Rückkehr zahlreicher Emigranten wie Johannes R. Becher, Bertolt Brecht, Hanns Eisler, Anna Seghers oder Friedrich Wolf in die Sowjetische Besatzungszone bzw. die DDR entstand (vgl. HermandlTrommler 1978, 7). Zum anderen war die Weimarer Repub­ lik von zentraler Bedeutung für das offizielle Geschichtsbild und das Selbst­ verständnis der DDR. In dieser galten die Novemberrevolution und die Weimarer Republik als erster, gescheiterter Versuch der Bildung einer sozia­ listischen Gesellschaft und legitimierten den SED-Staat so als ,Lehre aus Weimar' (vgl. Sabrow 2002). Dieser Legitimationsdiskurs bestimmt auch die literaturgeschichtlichen Darstellungen. Diese entstanden mit der pro­ grammatischen Absicht, Anknüpfungspunkte für das Konzept einer sozialis­ tischen Nationalliteratur zu finden und eine Entwicklungslinie von der Weimarer Republik über das Exil bis in den ,Sozialistischen Realismus' der DDR zu ziehen (vgl. Klein 1963 u. a.). Unter diesen Prämissen wurde in der DDR erstmals ein positives, wenn auch politisch funktionalisiertes Epochen­ bild der Weimarer Republik entworfen. Im Band 10 der repräsentativen Ge­

schichte der deutschen Literatur wurde die von 1917 bis 1945 reichende Periode der Literaturgeschichte insgesamt als "erste Etappe des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus" und die Zeit der Weimarer Republik als Phase der "Neuformierung der sozialistischen Literatur" charakterisiert (Kaufmann/Schiller 1973, 15 und 19). Die vom Ende der 1950er Jahre an erschienenen literaturgeschichtlichen Darstellungen zur Weimarer Repub­ lik rückten vor allem die proletarisch-revolutionäre Literatur der zwanziger Jahre ins Zentrum. Diese wurde allerdings nicht als eine spezielle, sich über ihre Klassenbindung definierende literarische Tendenz behandelt, sondern als Vorläufer einer sozialistischen Nationalliteratur. Unter dieser Prämisse entwickelte sich in der DDR eine systematische Forschungs- und Editions­ tätigkeit zu Arbeiterschriftstellern wie Willi Bredel, Hans Marchwitza oder

1. Von den Anfängen bis etwa 1970

Adam Scharrer. Daneben konzentrierte sich das Forschungsinteresse auf so­ zialistisch eingestellte Autoren wie Bertolt Brecht, Egon Erwin Kisch, Lud­ wig Renn, Anna Seghers oder Friedrich Wolf sowie auf die im linken Lager geführten Literaturdebatten (vgl. Nössing 1980). Die Auswahl und Bewer­ tung der Autoren folgte dabei der teleologischen Epochendeutung, nach der sich im Verlauf der Weimarer Republik durch Zusammenschluss proleta­ risch-marxistischer und ,progressiv bürgerlicher' Autoren die moderne Lite­ ratur insgesamt zum Sozialistischen Realismus hin entwickelt habe (vgl. Albrecht 1970). Die Literaturgeschichtsschreibung der DDR übernahm hier­ bei die in der Expressionismus- bzw. Realismusdebatte der dreißiger Jahre entwickelten ästhetisch-politischen Werturteile. Denn sowohl der Expres­ sionismus als auch die nachexpressionistischen Formexperimente, wie der "photographische Realismus" der Neuen Sachlichkeit oder der "Ultrarealis­ mus" Alfred Döblins, wurden von ihr als formalistische "Dekadenz" negiert (Klein 1963, 107; vgl. Kaufmann 1966, 17). Auf diese Weise versuchte man einerseits die literaturpolitischen Leitlinien in der DDR zu legitimieren. An­ dererseits richteten sich diese Werturteile implizit gegen die westdeutsche Kulturszene der 1950er und 1960er Jahre, in der der Expressionismus eine Renaissance erlebte. In der Bundesrepublik bildete sich bis zum Ende der 1960er Jahre kein klares Epochenbild von der Literatur der Weimarer Republik heraus. Anders als in der DDR, die diese in Teilen für sich vereinnahmte, erschien die lite­ rarische Kultur der Weimarer Republik in der westdeutschen Perspektive historisch weit entrückt und diffus. Dies mag auch durch die nur zögerliche und insgesamt geringe Rückkehr von Emigranten nach Westdeutschland be­ gründet gewesen sein. Vor allem lag es aber an dem mit Ressentiments und Traumata behafteten Bild von ,Weimar', das in der Adenauerzeit als Nega­ tivbeispiel für politisch-gesellschaftliche Instabilität galt (vgl. Vogt 1994,

22). So wurde auf der einen Seite nostalgisch der "Glanz des einstigen Lite­ raturbetriebs" beschworen (Muschg 1956, 33) und auf der anderen Seite die "verwirrende Vielfalt der Meinungen" und die politische Zerrissenheit vor allem in der Endphase der Weimarer Republik problematisiert (Boesch 1946, 344). In den Literaturgeschichten dieser Zeit dominierte eine stil- und geistesgeschichtliche Betrachtungsweise, die ihren Fluchtpunkt im Expres­ sionismus hatte (vgl. u. a. Alker 1950; Martini 1965). Die expressionistische Literatur fand in den fünfziger und sechziger Jahren in der Bundesrepublik starke öffentliche, editorische und literaturwissenschaftliche Aufmerksam­ keit, wurde dabei aber zumeist als rein ästhetisches Phänomen rezipiert. Während die erste Hälfte der zwanziger Jahre in der Literaturgeschichts­ schreibung dieser Zeit relativ einheitlich als Ausgang der expressionisti­ schen Stilepoche beschrieben wurde, blieb das Bild der späteren Jahre un­ deutlich und umstritten. So würdigte Paul Lüth die nachexpressionistische Entwicklung zwar schon 1947 als Wendung zu einem "neuen Realismus" und ging dabei sowohl auf neusachliche als auch auf sozialistische Tenden­ zen ein (Lüth 1947, 349). Dominierend war jedoch die konservative Bewer­ tung der Zeit als literarisch-geistiger Niedergang. In Bruno Boeschs Litera­ turgeschichte werden Autoren wie Hermann Broch, Alfred Döblin oder Ernst Glaeser als "Verkünder der Sinnlosigkeit des Lebens" klassifiziert (Boesch 1946, 348). Otto Mann behauptet, dass die nachexpressionistische

Selektive Rezeption in der frühen Bundesrepublik

15

16

11. Forschungsbericht

Literatur die ,Dichtung' dem "Zeitgeist" geopfert habe (Mann 1964, 543). Und Curt Hohoff blendet die moderne Gegenwartsliteratur in seiner Überar­ beitung der Soergelschen Literaturgeschichte weitgehend aus und stellt statt dessen christlich-konservative Autoren als Vertreter einer geistigen Erneu­ erung vor (vgl. Soergel/Hohoff 1963, S. 555f.). Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die westdeutsche Literaturwissenschaft bis zum Ende der sechziger Jahre aufgrund ihrer stilgeschichtlichen Orientierung, aber auch aufgrund politisch-weltanschaulicher Vorurteile keine Konzeption der Wei­ marer Republik als literarischer Epoche und keine hierauf bezogenen For­ schungsansätze entwickeln konnte. So konstatierten Reinhold Grimm und Jost Hermand 1970 im Vorwort zu ihrem, eine forschungsgeschichtliche Zä­ sur markierenden Sammelband

Oie sogenannten Zwanziger Jahre: Wäh­

rend die Sekundärliteratur zum Expressionismus ganze Regale fülle, seien "die sogenannten Zwanziger Jahre im Grunde nach wie vor ein weißer Fleck" (Grimm/Hermand 1970, 5).

2. Von etwa 1970 bis zur Gegenwart Neue

In Folge der in der Mitte der 1960er Jahre einsetzenden gesellschaftlichen

Forschung­

und universitären Liberalisierung entwickelte sich in der Bundesrepublik

gegenstände

ein neues Rezeptions- und Forschungsbild von der Weimarer Republik. Einen wichtigen Impuls dazu gaben die im angelsächsischen Raum ent­ standenen kulturgeschichtlichen Darstellungen von Peter Gay (1968), Wal­ ter Laqueur (1974), Jost HermandiFrank Trommler (1978) und John Willett (1978), die das Konzept einer innovativen und experimentellen, viele Be­ reiche des intellektuellen und künstlerischen Lebens umfassenden ,Wei­ marer Kultur' etablierten. 1985 konstatierte Theo Buck rückblickend, dass die "lang anhaltende Ausklammerung der Weimarer Kultur aus dem allge­ meinen Bewußtsein in der Adenauerzeit" überwunden und die Weimarer Literatur inzwischen "als eigenständige Epoche unserer Literaturgeschichte erkannt" worden sei (Buck 1985, 23). Diese Veränderung zeigte sich zu­ nächst an den neuen Forschungsgegenständen. Hatte sich das öffentliche und wissenschaftliche Interesse in den fünfziger und sechziger Jahren auf den Expressionismus konzentriert, so richtete sich der Blick nun vor allem auf die neuen und unter sich sehr verschiedenen I iterarischen und kultu­ rellen Tendenzen der zwanziger Jahre, wie den Gegenwartsroman, das politische Theater und die literarische Publizistik (vgl. die grundlegenden Aufsatzsammlungen von Grimm/Hermand 1970 und Rothe 1974). Wichti­ ge Untersuchungen erschlossen erstmals systematisch die Neue Sachlich­ keit (vgl. Lethen 1970; Schütz 1977), die soldatisch-nationalistische Litera­ tur (vgl. Prümm 1974) und die sozialistische bzw. proletarische Literatur, die im Zuge der Studentenbewegung auch von der westdeutschen Germa­ nistik als Forschungsthema entdeckt wurde, dabei aber nicht auf marxisti­ sche Positionen eingeengt wurde, wie in der DDR (vgl. StieglWitte 1973; Fähnders/Rector 1974). Auch die literaturtheoretischen und politischen Po­ sitionen der linksbürgerlichen, konservativ-bürgerlichen und radikalkonser­ vativen Intellektuellen wurden zum Gegenstand einer intensiven For­ schungstätigkeit, die sich von den ideologischen Wertungen der DDR-Lite-

2. Von etwa 1970 bis zur Gegenwart 17

raturgeschichtsschreibung absetzte (vgl. Jens 1971; Mayer 1981; Koebner 1982). Die Ausweitung des Forschungsgebiets war auch eine Folge der sozialge­ schichtlichen Wende, die sich in der westdeutschen Germanistik um 1970 vollzog. Solange die Literaturwissenschaft dem geistes- und sti Igeschicht­ lichen Paradigma verhaftet gewesen war, hatte sie die neuen Tendenzen der zwanziger Jahre nur negativ beschreiben können: als Auflösung des Expres­ sionismus in eine Heterogenität der Stile und Meinungen. Durch die Be­ trachtung der Literatur im historisch-politischen und gesellschaftlichen Kon­ text erkannte man nun aber gerade in der Funktionalisierung und Politisie­ rung der Literatur epochentypische Strukturmerkmale (vgl. Just 1973, 377; Kreuzer 1975, 55f.). Unter diesen Vorzeichen bildete sich das in seinen Grundzügen bis heute gültige Epochenbild von der ,Literatur (in) der Wei­ marer Republik' heraus. In Abgrenzung von der älteren Formgeschichte, aber auch von der politisch-teleologischen Epochendeutung in der DDR stellten die sozialgeschichtlich orientierten Literaturgeschichten und Über­ blicksdarstellungen den Funktionswandel bzw. die Funktionskrise der Lite­ ratur als Epochensignatur heraus. Sie richteten das Augenmerk dabei vor­ nehmlich auf Formen der Gebrauchs- und Massenkunst, die Verbindung von literarischer und politischer Praxis und das Verhältnis der Literatur zu anderen Medien (vgl. SchützIVogt 1977; Berg 1981; Bormann/Glaser 1983; Victor Zmegac 1984). Wichtige Anregungen für diese Forschungsausrich­ tung gaben die beiden Ausstellungen Weimarer Republik (1977) und Ten­ denzen der Zwanziger Jahre (1977) sowie die von Anton Kaes herausgege­ bene Dokumentation publizistischer Quellentexte, die bis heute eine wich­ tige Grundlage für Studium und Forschung bildet (vgl. Kaes 1983). Zwar folgten die sozialgeschichtlichen Epochendarstellungen der siebziger und achtziger Jahre alle der These von der "Ungleichzeitigkeit des Gleichzeiti­ gen" (Köhn 1974, 718) und wiesen programmatisch auf den Pluralismus der künstlerischen Stile und weltanschaulichen Tendenzen in dieser Epoche hin. Trotzdem wurde die ,Literatur der Weimarer Republik' in ihnen aber hauptsächlich mit den politisch-funktionalen Tendenzen aus der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre identifiziert. So erklärten Hermand und Tromm­ ler die ,Weimarer Kultur' in ihrer Kulturgeschichte sogar zum Synonym für "progressive Massenkunst" (Hermand/Trommler 1978, 12). Die literaturwissenschaftlichen Bemühungen um ein Epochenbild der zwanziger Jahre konzentrierten sich in der lange und kontrovers geführten Debatte über Begriff und Bedeutung der Neuen Sachlichkeit. Gegen frühe Versuche, diese als Stilrichtung zu bestimmen (vgl. Denkler 1967; Denkler 1968; Klotz 1973), setzte sich in den siebziger Jahren eine ideologiekriti­ sche Sichtweise durch. Anknüpfend an die marxistisch inspirierte Kritik aus den späten zwanziger Jahren (vgl. IV. 1.) wurde die Neue Sachlichkeit als eine kapitalismusfreundliche, bürgerliche Ideologie bestimmt, die mit Ame­ rikanismus, Tatsachenfetischismus und Technikkult verbunden war (vgl. Lethen 1970, 140; Hermand 1978, 91; Hermand/Trommler 1978, 118 f.). In den achtziger und neunziger Jahren bemühte man sich dann um eine objek­ tivere Betrachtung des Phänomens. Die Neue Sachlichkeit wurde nun als Modernisierungsphänomen beschrieben: als ein modernisierungsadäquater Denk- und Lebensstil und als eine (auch und gerade vor dem Hintergrund

Sozialgeschichtliche Epochenkonzeption

Streit um die Neue Sachlichkeit

18 11. Forschungsbericht aktueller Krisen interessierende) Strategie mentaler Krisenbewältigung. Die­ se Perspektive wurde insbesondere durch zwei essayistische Untersuchun­ gen geprägt, die den Blick auf die Epoche insgesamt veränderten und die Forschung nachhaltig beeinflussten. Zum einen durch Peter Sioterdijks Kri­

tik der zynischen Vernunft (1983). In dem Kapitel "Das Weimarer Symp­ tom" analysierte Sioterdijk darin die "reflexiv zynischen Strukturen" der Neuen Sachlichkeit als historisches Fallbeispiel eines für die krisenhafte Moderne typischen, reflexiven Bewusstseinszustandes, der sich durch einen selbstironischen und spielerischen Umgang mit den Normen und Dogmen der Kultur auszeichnet (Sloterdijk 1983, 2, 701). Und zum anderen durch Helmut Lethens zehn Jahre später erschienenes Buch Verhaltens/ehren der

Kälte (1994), das die Neue Sachlichkeit in den Kontext anthropologischer Krisenphilosophien der zwanziger Jahre rückte. Lethen interpretierte den sachlichen Habitus der Distanz darin als Ausdruck einer neuen, "zivilisa­ tionsfreundlichen Anthropologie" (Lethen 1994, 11). Die Diskussion über die Neue Sachlichkeit ist seitdem nicht abgerissen. So hat Martin Lindner in seiner von einer ähnlichen Fragestellung wie Lethen ausgehenden Studie zu neusachlichen Zeitromanen lebensphilosophische und irrationalistische Elemente in der neusachlichen Anthropologie herausgearbeitet (vgl. Lindner 1994, 158f.). In Opposition zu solchen mentalitätsgeschichtlichen For­ schungsansätzen hat Sabina Becker in jüngster Zeit dafür plädiert, die Neue Sachlichkeit wieder als ästhetische Stilrichtung und als kunstprogrammati­ sche Bewegung zu bestimmen (vgl. Becker 2000, I; Becker 2002). Neuere Forschung

Seit den neunziger Jahren hat sich die Forschung zur Literatur der Weimarer Republik in zahlreiche Spezialgebiete ausdifferenziert und dabei immer neue literarische und kulturelle Phänomene der zwanziger Jahre in den Blick gerückt. Es ist deshalb kaum möglich, einen repräsentativen Überblick über sie zu geben, geschweige denn ein einheitliches Epochenbild aus ihr zu gewinnen. Auch neuere Literaturgeschichten, wie der 1995 in der Reihe von ,Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur' erschienene Epo­ chenband zur Weimarer Republik (vgl. Weyergraf 1995), beschränken sich zumeist darauf, ausgewählte Aspekte der Literatur und des literarischen Le­ bens in einzelnen Aufsätzen vorzustellen. Andere Darstellungen konzent­ rieren sich auf bestimmte ästhetische Tendenzen und ästhetikgeschichtliche Zusammenhänge (vgl. Fähnders 1998; Kiesel 2004). Trotz der Ausweitung und Spezialisierung der neueren Forschung lassen sich aber bestimmte Tendenzen und Schwerpunkte in ihr ausmachen. Allgemein kann man seit Mitte der neunziger Jahre eine kulturwissenschaftliche Neuorientierung der Forschung feststellen. Literarische Repräsentationen werden zunehmend im Zusammenhang populärkultureller und wissenschaftlicher Diskurse be­ trachtet. Einen Schwerpunkt bildet dabei die Forschung zur literarischen, theoretischen und massenmedialen Konstruktion von Geschlechteridenti­ täten und Körperbildern (vgl. u. a. Baureithel 1991; Widdig 1992; Cowan/ Sicks 2005), und insbesondere zu Entwürfen von Weiblichkeit bzw. zu dem Bild der ,Neuen Frau', das zum Gegenstand zahlreicher kunst- und medie­ nübergreifender Untersuchungen wurde (vgl. u. a. Ankum 1997; Barndt 2003; Schüller 2005). Vor allem in den USA entstand eine Reihe innovativer Studien zum Zusammenhang von wirtschaftlicher, technologischer und kul­ tureller Modernisierung in den zwanziger Jahren (vgl. Nolan 1994; Saun-

2. Von etwa 1970 bis zur Gegenwart

ders 1994; Ward 2001; Widdig 2001). Daneben behandeln neuere For­ schungsarbeiten schwerpunktmäßig die Interdependenzen zwischen der Li­ teratur und den neuen technischen, insbesondere visuellen Medien. Wäh­ rend die Weimarer Republik in den siebziger Jahren als Frühstadium der modernen Massenkultur betrachtet wurde, erscheint sie in der neueren For­ schung eher als Vorläufer der heutigen (visuell und nicht mehr literarisch geprägten) Medienkultur.

19

111. Kontexte 1. Politische und soziale Geschichte Historiographische

Im Wissen um das, was geschichtlich auf sie folgte, ist die geschichtswissen­

Perspektiven

schaftliche Beschäftigung mit der Weimarer Republik immer von der Frage nach den Gründen ihres Scheiterns bestimmt gewesen (vgl. Winkler 1993, 11). Deshalb konzentrierte sich das Forschungsinteresse zumeist entweder auf die revolutionäre Gründungsphase und die ,Geburtsfehler' oder auf die Zerstörung der parlamentarischen Demokratie am Ende der Republik. Wäh­ rend ältere Darstellungen die Frage nach dem Scheitern mit monokausalen Erklärungen - wie der Weltwirtschaftskrise, dem Verhältniswahlrecht, dem Einfluss der alten Machteliten oder dem deutschen Volkscharakter - beant­ worteten und dabei eine notwendige Entwicklung unterstellten, bemüht sich die jüngere Forschung um eine multikausale und nicht-teleologische Geschichtsbetrachtung (vgl. Kolb

2000, 147). Und sie versucht, die beson­

dere deutsche Entwicklung in Relation zu einem sich über lange Zeit und nicht nur in Deutschland vollziehenden wirtschaftlichen, sozialen und kul­ turellen Strukturwandel zu betrachten. In diesem Sinn hat Detlev Peukert die Jahre der Weimarer Republik mit einer einflussreichen Formulierung als "Krisenzeit der klassischen Moderne" charakterisiert (Peukert

1987, 11).

Die Weimarer Republik erscheint in dieser Perspektive als Zeit, in der die industriegesellschaftliche Modernisierung in eine tiefe Krise geriet, während sich die soziokulturelle Modernisierung auf widerspruchsvolle Weise entfal­ tete. Sowohl die politik- und sozialgeschichtliche Historiographie als auch kulturgeschichtliche Darstellungen unterscheiden dabei üblicherweise mit einem nicht unproblematischen Schematismus (vgl. Lehnert

1999, 15) -

drei Hauptabschnitte in der Entwicklung der Weimarer Republik: die Entste­

(1918/19-1923), die Phase der ,relati­ (1924-1929) und die Phase der Auflösung und Zerstö­ rung der Republik (1930-1933).

hungs- und Selbstbehauptungsphase ven Stabilisierung' Revolution und

Die Gründung der ersten deutschen Demokratie erfolgte unter den denk­

Republikgründung

bar ungünstigsten Umständen, nämlich im Zeichen der militärischen Nie­

1918/19

derlage im Ersten Weltkrieg und der daraus resultierenden politischen und wirtschaftlichen Krise. Nachdem die Oberste Heeresleitung im September

1918 die Notwendigkeit eines sofortigen Waffenstillstands eingestanden hatte und Kaiser Wilhelm 11. aus Berlin geflohen war, mehrten sich die For­ derungen nach Beendigung des Krieges und Parlamentarisierung. Ausge­ hend von dem Kieler Matrosenaufstand am

4. November breitete sich in

ganz Deutschland eine revolutionäre Aufstandsbewegung unter Soldaten und Arbeitern aus, die zum Ende der Monarchie führte. Am

9. November

wurde die Abdankung des Kaisers bekannt gegeben und Philipp Scheide­ mann rief vom Berliner Reichstag aus die Republik aus. Unter dem Druck der Arbeiter- und Soldatenräte bildeten die beiden sozialdemokratischen Parteien, SPD und USPD, eine provisorische Regierung, den ,Rat der Volks-

1. Politische und soziale Geschichte

beauftragten', der die Wahlen zur verfassunggebenden Nationalversamm­ lung am 19. November vorbereitete. Die Mehrheitsentscheidung für die bürgerliche parlamentarische Demokratie führte allerdings zu einer Radika­ lisierung der äußersten Linken, die im sogenannten Berliner januaraufstand und seiner blutigen Niederwerfung eskalierte und eine tiefe Spaltung der Ar­ beiterschaft nach sich zog. Unter dem Eindruck dieser Unruhen konstituier­ te sich die gewählte Nationalversammlung am 6. Februar 1919 nicht in Ber­ lin, sondern in Weimar. Sie wählte am 11. Februar den Sozialdemokraten Friedrich Ebert zum ersten Reichspräsidenten. Dieser ernannte zwei Tage später die erste Regierung, die aus der ,Weimarer Koalition' von SPD, DDP und Zentrum gebildet wurde. In ihren ersten jahren war die Republik schweren außen- und innenpoliti­ schen Bewährungsproben ausgesetzt, die vor allem aus der Bewältigung der

Nachkriegskrise 1919-23

Kriegsfolgen resultierten. In dem am 28. juni 1919 in Versailles unterzeich­ neten Friedensvertrag hatte Deutschland neben Gebietsabtretungen auch die alleinige Kriegsschuld und die Haftung für die Kriegsschäden anerken­ nen müssen. Der Streit um die Ausgestaltung und die Erfüllung oder Nicht­ erfüllung der Reparationszahlungen bestimmte in den folgenden jahren so­ wohl die außenpolitische als auch die innenpolitische Auseinandersetzung, die von Streikaktionen, Putschversuchen und bürgerkriegsähnlichen Kämp­ fen geprägt war. Die Regierung versuchte, die Kriegsfolgekosten und Repa­ rationsforderungen durch Staatsverschuldung und Geldvermehrung zu be­ wältigen, was zu einem rapiden Anstieg der Inflation und 1923 zum völli­ gen Kollaps der deutschen Wirtschaft führte. Gleichzeitig gewannen auf der extremen Linken und Rechten die Kräfte an Einfluss, die die parlamentari­ sche Demokratie und die Verfassung grundsätzlich ablehnten. Im Zeichen der ,Dolchstoßlegende' und der Propaganda vom ,Versailler Schandfrieden' formierte sich ein aggressiver Nationalismus in Verbänden, militanten Gruppen und terroristischen Geheimorganisationen zum Kampf gegen die Republik. Auf sein Konto gingen zahlreiche politische Morde - wie die an Matthias Erzberger (26. August 1921) und Walther Rathenau (24. juni 1922) - und gewaltsame Umsturzversuche - wie der Kapp-Lüttwitz-Putsch (13. März 1920) und der Hitler-Putsch (8./9. November 1923). Nach Abwehr der Angriffe von rechts und links und einer Währungsreform konnte sich die Republik Ende 1923 jedoch konsolidieren. Die Beendigung der Inflation und die Verabschiedung des Dawes-Plans, der eine realistische Regelung der Reparationszahlungen festschrieb und Deutschland den Zugang zu amerikanischen Krediten öffnete, leiteten 1924 eine Phase wirtschaftlicher Erholung und außenpolitischer Entspannung ein. Die von Reichsaußenminister Gustav Stresemann betriebene Verständi­ gungspolitik mit dem Westen und insbesondere mit Frankreich bewirkte die Räumung des Ruhrgebiets durch die Franzosen und ermöglichte die Locar­ no-Verträge sowie die Aufnahme des Deutschen Reichs in den Völkerbund

1926. Obwohl die innenpolitischen Auseinandersetzungen in diesen jahren nachließen, blieb das parlamentarisch-parteienstaatliche System labil. Die staatstragenden Eliten - Beamtenschaft, justiz, Reichswehr, Großagrarier und Unternehmer - lehnten die Republik mehrheitlich ab. Und die instabi­ len politischen Mehrheiten und häufig wechselnden Koalitionsregierungen verursachten in der Bevölkerung, insbesondere in der Provinz, einen wach-

,Relative Stabilisierung' 1924-29

21

22 111. Kontexte senden Verdruss am Parlamentarismus. In diesen Jahren vollzogen sich aber auch Modernisierungen im soziokulturellen Bereich, die das kulturelle Image der Weimarer Republik bis heute prägen. Dazu gehörten die Durch­ setzung der industriellen Massenkultur und der modernen Massenmedien. Und ebenso der soziale Wohnungsbau, der nicht nur die Wohnungsnot lin­ derte - zwischen 1920 und 1932 entstanden 2,6 Mill. Wohnungen -, son­ dern auch Ideen modern-funktionaler Stadtplanung und Architektur reali­ sierte, wie sie in dieser Zeit vor allem im Bauhaus entwickelt wurden (vgl. Peukert 1987, 179f.). Sozioökonomische

Zu den wichtigsten sozioökonomischen Veränderungen dieser Zeit ge­

Veränderungen

hörte der Ausbau des Angestelltensektors. Infolge von Konzernbildungen, des Ausbaus der Verwaltungen sowie des Wachstums im Handels- und Dienstleistungssektor stieg die Zahl der Angestellten in den zwanziger Jah­ ren überproportional an und lag 1925 bereits bei 3,5 Mill. Insbesondere in den Großstädten wurden die Angestellten zu einem Massenphänomen. Der Angestelltenberuf wurde dabei zum typischen Berufsfeld von Frauen. Zwar veränderte sich die weibliche Erwerbsquote in der Weimarer Republik im Vergleich zur Vorkriegszeit kaum, doch stieg die absolute Zahl berufstätiger Frauen deutlich an. Gleichzeitig verschob sich die weibliche Beschäftigung von der Land- und Hauswirtschaft hin zur Industrie und zum Dienstleis­ tungssektor, in dem Frauen (Sekretärinnen, Stenotypistinnen, Verkäuferin­ nen etc.) überproportional stark vertreten waren

(vgl.

Frevert 1986,

171-173). Am Ende der zwanziger Jahre stellten sie etwa ein Drittel von 4 Mill. Angestellten. In der Mehrzahl waren sie unter 25 und ledig (vgl. Peu­ kert 1987, 101). Obwohl die weibliche Angestellte in der damaligen Zeit oft als Prototyp weiblicher Emanzipation in der Weimarer Republik wahrge­ nommen wurde (vgl. 111.2.), war auch der Angestelltenberuf durch ge­ schlechtsspezifische Arbeitsteilung und Hierarchien bestimmt. Denn Frauen übten in der Regel untergeordnete, mechanische Tätigkeiten aus und wur­ den deutlich schlechter bezahlt als ihre männlichen Kollegen. Allgemein war die Emanzipation der Frauen in den zwanziger Jahren eher eine Mög­ lichkeit als eine Realität. So hatte die Weimarer Republik zwar erstmals in der deutschen Geschichte das allgemeine Frauenwahlrecht durchgesetzt und die Gleichberechtigung der Geschlechter als Grundrecht festgeschrie­ ben. Die geschlechtsspezifischen Rollenmuster und Bildungswege blieben aber relativ konstant (vgl. Frevert 1986, 174 f.). Auflösung und

Die Phase der ,relativen Stabilisierung' endete mit dem Ausbruch der

Zerstörung der

Weltwirtschaftskrise im Herbst 1929. Die folgenden Jahre waren durch

Republik 1930-33

eine sich verschärfende ökonomische, soziale und politische Destabilisie­ rung geprägt. Infolge der Wirtschaftskrise und des Wegfalls von Auslands­ krediten kam es in Deutschland zu einem Kaufkraft- und Produktionsein­ bruch, Lohn- und Preisverfall und einem dramatischen Anstieg der Arbeits­ losigkeit von 1,3 Mill. im September 1929 auf 4,3 Mill. im September 1931 bis auf über 6 Mill. Anfang 1933. Da eine Unterstützung aus der Arbeitslo­ senversicherung nur kurze Zeit gezahlt wurde, waren die Betroffenen zu­ meist auf die kommunalen Wohlfahrtsbehörden angewiesen. Die wirt­ schaftliche und soziale Not der Massenarbeitslosigkeit allein führte jedoch noch nicht zum Scheitern der Weimarer Republik. Entscheidend hierfür war, dass die ökonomische Krise mit einer Staatskrise zusammenfiel und

1. Politische und soziale Geschichte

dass sich die Rechtskräfte die allgemeine Krisenstimmung und existentielle Angst zu Nutze machten, um die Delegitimierung und Desintegration der Weimarer Republik voranzutreiben (vgl. Kolb 2000, 107 und 120). Beson­ ders ,erfolgreich' hierbei war die NSDAP, die mit ihrer antiliberalen, antise­ mitischen und antimarxistischen P ropaganda insbesondere verängstigte Mittelständler, Angestellte und Beamte ansprach und während der Wirt­ schaftskrise von einer Splitterpartei zur Massenbewegung anwuchs. Hatte sie bei den Parlamentswahlen 1928 nur 2,6% der Stimmen erreicht, so wa­ ren es in der Septemberwahl 1930 bereits 18,2 %. Gleichzeitig mit dem An­ wachsen der extremistischen Parteien vollzogen sich die schrittweise Ent­ machtung des Parlaments und der Übergang zum P räsidialregime, die vom Reichspräsidenten Hindenburg zusammen mit der Führung der Reichswehr, den bürgerlichen Rechtsparteien und einflussreichen Wirtschaftsführern be­ trieben wurden. Mit der im März 1930 gebildeten Regierung unter Heinrich Brüning begann die Zeit der Präsidialkabinette, die nicht mehr durch eine Parlamentsmehrheit gewählt, sondern durch den Reichspräsidenten einge­ setzt wurden und mit Notverordnungen regierten. Das Jahr 1930 markiert so die Wende von der Politik der Demokratiebewahrung zur Zerstörung der Republik. Auf die Regierung Brüning folgten die Präsidialkabinette unter Franz von Papen (Mai 1932) und General Kurt von Schleicher (Dezember

1932), bis Hindenburg am 30. Januar 1933 schließlich Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannte. Es folgten die Monate der sogenannten Machter­ greifung, in denen die Nationalsozialisten die Gewerkschaften und politi­ schen Gegner mit Hilfe des Staatsapparats und durch terroristische Verfol­ gung ausschalteten, Grundrechte außer Kraft setzten und mit dem ,Ermäch­ tigungsgesetz' vom 23. März 1933 den Übergang zur Führerdiktatur voll­ zogen.

2. Soziokultureller Strukturwandel Die Weimarer Republik war nicht nur eine politisch-ökonomische Krisen-

Aufkommen der

zeit. In ihr vollzog sich auch ein soziokultureller Strukturwandel, der eben-

Massenkultur

falls krisenhaft erfahren wurde. In den zwanziger Jahren entstand die durch industrielle Massenproduktion und Massenkonsum geprägte Populärkultur, die das moderne Alltagsleben bis in die Gegenwart prägt. Dabei wirkte die technologische Entwicklung der Massenkommunikationsmittel mit den wirtschaftlichen und sozialen Transformationen in der Inflationszeit und der Stabilisierungsphase zusammen. Die Inflation und Wirtschaftskrise veränderten die - von dem Soziologen Alfred Weber (Die Not der geistigen Ar-

beiter, 1923) frühzeitig analysierte - Situation des mittelständischen Intellektuellen und freien Schriftstellers, der sozial deklassiert wurde und nun auf schlecht bezahlte Auftragsarbeiten angewiesen war. In der Inflationszeit wurde aber auch der bürgerliche Mittelstand insgesamt pauperisiert, wodurch er seine traditionelle Funktion als Kulturträger nicht mehr erfüllen konnte. In Folge des Ausbaus des Angestelltensektors, der Zunahme der Kaufkraft und der tariflichen Urlaubsregelungen entstand dagegen in der folgenden Stabilisierungsphase insbesondere in den Großstädten ein moder-

23

24 111. Kontexte nes Massenpublikum, das nicht an Bildung, sondern an Information und Unterhaltung interessiert war. Die massenhafte Nachfrage nach Freizeitun­ terhaltung wurde von einer neuen, in Konzernen organisierten Kulturindus­ trie befriedigt: mit Kinofilmen, großen Sportveranstaltungen, glamourösen Revuen, illustrierten Zeitschriften oder über Radio und Schallplatte verbrei­ teter Schlagermusik. Durch die Konkurrenz der modernen Populärkultur veränderten sich dann auch die traditionellen bildungsbürgerlichen Kultur­ institutionen Literatur und Theater. So wurde ab Mitte der zwanziger Jahre vielfach von einer ,Theaterkrise' gesprochen (vgl. die Dokumente in Kaes

1983,396-412),womit auf den Besucherrückgang und auf den Prestigever­ lust des Theaters im Zeichen einer verbreiteten ,Bildungs- und Kulturmüdig­ keit' (Robert Musil) referiert wurde. Wirtschaftskrise und

Der Besucherrückgang im Theater am Ende der zwanziger Jahre war aber

Kulturabbau

nicht nur eine Folge des neuen Freizeitverhaltens und der Konkurrenz durch Kino und Rundfunk. Er war auch durch die Weltwirtschaftskrise und den Kaufkraftschwund beim traditionellen bildungsbürgerlichen Publikum be­ dingt, unter dem auch die Buchverlage litten. Im Verlauf dieser Entwicklung kam es auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise, 1930-1932, zu zahlrei­ chen Theaterschließungen, insbesondere privater Bühnen, zu Gagenkür­ zungen und zu einer massiven Schauspielerarbeitslosigkeit (vgl. Weimarer Republik 1977,712-714; Jaron 1981,51-55; Dussel 1998,213-215 und

221 f.). Der Rückgang der Besucherzahlen zusammen mit der Kürzung der staatlichen Subventionen durch die Länder führte zudem dazu, dass immer mehr Bühnen auf ein ,sicheres' Repertoire, etwa auf leichte Operetten, setz­ ten. Damit verschlechterten sich die Chancen zur Realisierung neuartiger und experimenteller Produktionen. Als symbolisches Zeichen für die Wen­ de in der Kulturpolitik der Republik bzw. der Länderregierungen galt kriti­ schen Beobachtern in der damaligen Zeit die Schließung der Berliner Kroll­ Oper, die Mitte 1931 vom Preußischen Landtag gegen heftige Proteste be­ schlossen wurde. Obwohl diese Entscheidung rein finanziell begründet wurde, traf sie doch gerade eine Institution, die sich seit 1927 unter der Lei­ tung von Otto Klemperer vor allem durch ihr Engagement für die zeitgenös­ sische Oper und ihren neuartigen Inszenierungsstil einen Namen gemacht hatte - und von ihren Gegnern dafür abfällig als ,Republikoper' tituliert wor­ den war (vgl. Cook 1988,3; Geuen 1997,123 f.). So leistete die ökonomi­ sche Krise des Theaters indirekt reaktionären kulturpolitischen Tendenzen Vorschub. Von den Nationalsozialisten wurde die wirtschaftliche Krise des Theaters dann zum Zeichen eines liberal-marxistischen Kulturverfalles um­ gedeutet (vgl. Dussel 1998,211). Die Angestellten und

Der kulturelle Strukturwandel der zwanziger Jahre hatte seine sozialge­

die ,Neue Frau'

schichtliche Basis im Aufkommen der neuen Schicht der Angestellten, die die wichtigste Zielgruppe der neuen Populärkultur bildete und in besonde­ rer Weise mit dem Modernisierungsprozess identifiziert wurde. In den zwanziger Jahren entwickelte sich eine breite Debatte über die soziologi­ sche, kulturelle und politische Bedeutung dieses ,neuen Mittelstands', der die traditionelle soziale und kulturelle Schichtung durchbrach. An ihm ließen sich exemplarisch die Austauschbarkeit, Ungesichertheit und Anonymität des Einzelnen im rationalisierten Arbeitsprozess diskutieren, ebenso wie die Bewusstseinsmanipulation durch die moderne Werbe- und Unterhaltungs-

2. Soziokultureller Strukturwandel

industrie. Neben Wissenschaft und Politik befassten sich auch zahlreiche Filme, Romane, Feuilletons und Reportagen - wie Siegfried Kracauers be­ rühmte Artikelserie Oie Angestellten (1929) - mit Leben und Mentalität der Angestellten (vgl. Jordan 1988, 32-53; Stüssel 2004, 198-206). Besondere Aufmerksamkeit zogen die weiblichen Angestellten auf sich, die einen ver­ gleichsweise hohen Anteil dieser Berufsgruppe ausmachten (vgl. 111.1.). In den modernen Massenmedien und der Werbung avancierte die (mit dem ikonischen Attribut des ,Bubikopfs' versehene) Angestellte schnell zum Pro­ totyp der modernen ,Neuen Frau'. Zeitschriften und Revuen verbreiteten das Image eines selbstbewussten, materiell unabhängigen, sexuell emanzi­ pierten und modebewussten Frauentypus (vgl. Frevert 1986, 172; Frevert 1988,25; Kessemeier 2000). Unterhaltungsromane und -filme präsentierten Sekretärinnen, Stenotypistinnen und Verkäuferinnen als Heidinnen und ver­ hielten sich dabei teils affirmativ, teils kritisch zu den Projektionen und Zu­ kunftsutopien der Werbung (vgl. IV. 4.). Kritische Autorinnen problematisier­ ten vor allem die Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Weiblichkeit bzw. Mutterschaft. Die neue Massenkultur hatte einen deutlich großstädtischen Charakter und war eng mit dem Image Berlins in den zwanziger Jahren verknüpft. Berlin war der Brennpunkt der kulturellen Modernisierung, auch wenn die Stadt nie eine beherrschende nationale Metropole war wie Paris oder London (vgl. Briesen 1992). Die rapide Entwicklung Berlins zu einer Industrieund Kulturmetropole und zu einer der größten Städte der Welt hatte sich bereits im späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert vollzogen. Nach dem Zusammenschluss von Groß-Berlin im Jahre 1920 zählte die Stadt über 4 Mill. Einwohner. Im Verlauf der Weimarer Republik nahm ihr demographisches und wirtschaftliches Gewicht relativ zu anderen deutschen Großstädten aber nicht weiter zu. Ausnahmen bildeten die boomenden Dienstleistungs-, Banken- und Medienbereiche. Berlin wurde in den zwanziger Jahren zum Zentrum der deutschen Zeitungen, Verlage und Filmindustrie und eine international bedeutende Musik- und Theatermetropole. Aufgrund ihrer jungen Bevölkerung und des hohen Anteils an Angestellten avancierte die Stadt mit ihren zahllosen Bühnen, Varietes und Sportarenen während der Stabilisierungsphase aber auch zum Mittelpunkt der neuen, ,amerikanischen'

Zerstreuungskultur

(vgl.

BobergiFichter/Gillen

1986,

Bd. 2). Zu deren Markenzeichen wurden die pompösen Ausstattungsrevuen von Theaterproduzenten wie James Klein, Erik Charell und Herman Haller, die mit einer Mischung von Sketchen, Tanzeinlagen und populären Schlagern ein Massenpublikum anlockten. Eine sensationelle Wirkung hatten auch die Auftritte amerikanischer, oft schwarzer, Tanz-Truppen und Bands, wie der Tiller Girls, der Chocolate Kiddies oder der Nackttänzerin Josephine Baker (vgl. Jelavich 1993, 165-186). Zwar setzte sich die neue Zerstreuungskultur in den zwanziger Jahren auch in anderen deutschen Großstädten wie Frankfurt, Hamburg, Hannover, Köln, Leipzig, München und insbesondere im Ballungszentrum Ruhrgebiet durch. Berlin war jedoch die Stadt, in der die Trends gesetzt wurden und auf die sich alle Augen richteten. Die freizügigen Revuen, spektakulären Sechstagerennen und modernen Bars prägten in dieser Zeit in Feuilletons, Filmen, Revuen und Romanen ihr Bild als ,amerikanische' Metropole (vgl. Kähler 1986; Lethen 1986; Prümm

Berlin und Provinz

2S

26 111. Kontexte 1989; Jelavich 1990; Bienert 1992; Jäger/Schütz 1994). Berlin wurde so zu­ gleich zum symbolischen Ort der kulturellen Modernisierung - und damit auch zum bevorzugten Angriffspunkt des antisemitisch geprägten Kultur­ kampfes konservativer, völkischer und deutschnationaler Kräfte gegen die Moderne (vgl. Berlin - Provinz 1985). Während sich republik- und mo­ dernefreundliche Intellektuelle zur modernen Metropole bekannten, bestritt das rechte Lager vehement die kulturelle Repräsentanz der nationalen Hauptstadt und rief zum Kampf gegen deren vermeintliche Vorherrschaft oder, wie der deutschnationale Publizist Wilhelm Stapel, zum "Aufstand der Landschaft gegen Berlin" auf (zit. n. Berlin - Provinz 1985,11). In der konservativ-völkischen Kulturkritik fungierte Berlin als Synonym für Libera­ lisierung, Entwurzelung und Überfremdung und damit als negative Anti­ these zu Land, Boden und Heimat. Amerikanismus­ Debatte

Das Aufkommen der durch Rationalisierung, Technisierung und Liberali­ sierung gekennzeichneten Massenkultur und des durch sie geprägten neu­ en Lebensstils wurde in der Weimarer Republik unter den Schlagwörten ,Neue Sachlichkeit' und ,Amerikanismus' diskutiert. Mit der durch den Da­ wes-Plan und die amerikanischen Kredite eingeleiteten ökonomischen Sta­ bilisierung rückten die USA in den Fokus einer parteiübergreifend geführ­ ten öffentlichen Debatte über Chancen und Risiken der Modernisierung. Amerika mit seiner industriellen Massenproduktion erschien in der Mitte der zwanziger Jahre vielen als verheißungsvolles Modell für Technologie, Effizienz und wirtschaftlichen Erfolg (vgl. Saunders 1994, 117). Ab 1924 setzten sich auch in deutschen Büros Formen einer fordistischen Mechani­ sierung und Rationalisierung von Arbeitsabläufen durch, die etwa an der T ätigkeit der Telefonistinnen deutlich wurden (vgl. Nienhaus 1996). Faszi­ nierend an Amerika wirkte, dass es Werte und Erscheinungen, die man in Deutschland und Europa als gegensätzlich empfand, zu versöhnen schien, insbesondere den Gegensatz von Masse und Individuum (vgl. Rosenhaft

1996, 123). Ebenso faszinierte die pragmatisch-unromantische Weitsicht, der amerikanische ,way of life'. Zahllose Artikel und Reportagen befassten sich mit der amerikanischen ,new woman' als Muster einer berufstätigen, modischen und freizügigen Frau, oder mit dem Fordismus als Modell tech­ nologischer Rationalisierung und freien Unternehmertums (vgl. Nolan

1994, 30-57 und 120-127). Henry Fords Autobiographie My Life and Work (1922, dt. 1923) wurde auch in Deutschland zum Bestseller. Aller­ dings blieb die Haltung gegenüber Amerika zumeist ambivalent. Viele be­ zweifelten, ob die amerikanischen Methoden der Rationalisierung und des Massenkonsums auch in Deutschland Erfolg haben könnten, oder warnten vor deren sozialen und kulturellen Folgen. Antiamerikanismus war dabei nicht notwendig mit einer konservativen Einstellung verbunden. Zwar wurde insbesondere in rechten Zeitschriften vor kultureller Überfremdung durch amerikanische Einflüsse gewarnt. Ein kultureller Antiamerikanismus war jedoch auch in den bürgerlich-liberalen Parteien und Medien, in der Sozialdemokratie und auch in der linksgerichteten Intelligenz verbreitet (vgl. Saldern 1996,215). Diese Amerikafeindschaft verschärfte sich in der Zeit der Weltwirtschaftskrise. Amerikanischer Kulturimport

Insbesondere die in den zwanziger Jahren aufkommende Massenkultur wurde in Deutschland als ,amerikanisch' wahrgenommen (vgl. Lüdtke/Mar-

2. Soziokultureller Strukturwandel

ßolekJSaldern 1996, Teil 11). Dies lag nicht zuletzt daran, dass ihr Erschei­ nungsbild stark durch den Import Aufsehen erregender amerikanischer Pro­ dukte geprägt wurde: wie die Revue der Tiller-Girls, den Charleston-Tanz oder die Jazz-Musik. Vor allem der Jazz wurde in den zwanziger Jahren zum Markenzeichen freizügiger großstädtischer Metropolenkultur und da­ mit auch zum Kristallisationspunkt kultureller Kontroversen. Von Frankreich kommend griff die Begeisterung für den Jazz und die amerikanische Tanz­ musik nach dem Ersten Weltkrieg auf Deutschland über und übte einen star­ ken künstlerischen Einfluss aus (vgl. Cook 1988, 41-75). Rene Schickeie inspirierte diese Begeisterung zu einem ,Jazz-Roman' (Symphonie für Jazz, 1929). Und Opernkomponisten wie Kurt Weill und Ernst Krenek Uonny spielt auf, UA1927) ließen sich musikalisch vom Jazz anregen. Konservati­ ve und völkische Publizisten erkannten in ihm dagegen das Symbol der see­ lenlosen, mechanisierten amerikanischen Unkultur und feindeten ihn als ,Urwald-' und ,Negermusik' an (vgl. Weiner1991; Partsch1994). Zwiespäl­ tige Reaktionen löste auch die nach dem Wegfall der Importbeschränkun­ gen 1924 einsetzende Expansion des Hollywoodfilms auf den deutschen Markt aus. Amerikanische Stars wie Lillian Gish und Harald Lloyd wurden auch in Deutschland populär. Und die deutsche Filmindustrie richtete ihre Marktstrategien an dem erfolgreichen Vorbild aus, indem sie das amerikani­ sche Starsystem und den Glamour der Broadway-Theater zu imitieren ver­ suchte. Von vielen wurde aber auch Kritik an der Dominanz Hollywoods und seinen standardisierten Filmen geübt; die Rede von der ,Amerikamüdig­ keit' ging um (vgl. Saunders1994, 117-144). Für konservative Kulturkritiker wurde ,Amerikanismus' zum Inbegriff für die nivellierenden, Werte und Bindungen zersetzenden Tendenzen der westlichen Moderne und bestärkte sie in ihrer Agitation gegen die Republik und ihre ,amerikanische' Metropo­ le Berlin. In den zwanziger Jahren veränderten sich nicht nur die wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen von Kulturproduktion und -rezeption, sondern auch der Kulturbegriff. Schon in der Vorkriegszeit war die Hegemonie der bildungsbürgerlichen Ideologie, die Kultur mit Bildung verband, brüchig geworden. Erst mit dem Aufkommen der nicht-bildungsbürgerlichen Ange­ stelltenschicht und dem Boom der Kulturindustrie wurden kulturelle Erzeugnisse jedoch für jedermann sichtbar zu einem der Unterhaltung und Information dienenden Konsumartikel. Kunst und Literatur verloren dadurch ihre Exklusivität und die Aura von ästhetischer Autonomie und Zeitlosigkeit. Und die Schriftsteller mussten sich auf ein neues kommunikatives Umfeld, eine neue Leserschaft mit neuen Bedürfnissen, einstellen. So gewannen in­ formativ-unterhaltende Genres wie der Unterhaltungsroman, die Reportage, die Biographie oder das Sachbuch gegenüber der herkömmlichen schönen Literatur an Bedeutung. Diese Folge der ,Amerikanisierung' wurde auf Seiten der linken und linksliberalen Intelligenz oft begrüßt. Viele Autoren bekannten sich demonstrativ zum Gebrauchswert der Massenkultur, wie Brecht mit seiner offen zur Schau gestellten Begeisterung für den Boxkampf. Führende linksbürgerliche und liberale Zeitschriften - wie die Weltbühne und der Querschnitt- befassten sich ausführlich mit Jazz, Film und Sport. Dabei reflektierte man auch die ästhetischen Qualitäten populärkultureller Erzeugnisse. So wurden etwa die in Deutschland erfolgreichen amerikani-

Wandel des Kulturbegriffs

27

28

111. Kontexte

schen Slapstick-Filme mit Charlie Chaplin, Harold Lloyd und Buster Keaton von vielen Filmkritikern als filmisch innovativ und als neue visuelle Kunst­ form anerkannt (vgl. Saunders 1994, 180f.). Gleichzeitig analysierten Intel­ lektuelle wie Siegfried Kracauer

(Das Ornament der Masse, 1927) in kriti­

scher Weise die soziale Funktion der kapitalistischen Massenkultur und ihre ideologischen Botschaften.

3. Massenmedien Medienkultur und

Die Durchsetzung der modernen Massenkultur in den zwanziger Jahren

Medienkonkurrenz

war eng verbunden mit der technologischen und wirtschaftlichen Entwick­ lung der Massenmedien. Vor allem das Aufkommen der neuen Medien Film und Rundfunk veränderte die öffentliche Kommunikation und die Alltags­ kultur radikal. Diese beförderten nicht nur ein auf Unterhaltung und Infor­ mation ausgerichtete Rezeptionsverhalten, sondern auch neue visuell und akustisch geprägte Wahrnehmungsgewohnheiten. Und durch die Konkur­ renz der neuen Medien veränderten auch die alten Medien ihr Selbstver­ ständnis. Im Bereich von Kunst und Literatur wurden tradierte Vorstellungen von Autorschaft und Werk durch die technischen Reproduktionsverfahren und die industriell-arbeitsteilige Produktion der neuen Massenkommunika­ tionsmittel in Frage gestellt. Gleichzeitig beeinflussten diese Kunst und Lite­ ratur in ästhetischer Hinsicht. Denn neue Darstellungsformen wie Montage, Dokumentation und Reportage entwickelten sich im Austausch zwischen Literatur, Film und Rundfunk. Manche Autoren reagierten auf die medial veränderte Wahrnehmung mit ,filmischen' Schreibweisen. Erwin Piscator revolutionierte die Theaterbühne durch den Einsatz von Filmprojektionen. Und Brecht versuchte, den Radioapparat in seine Lehrstückkonzeption zu integrieren.

Buchmarkt

Der Kaufkraftschwund bei den bürgerlichen Mittelschichten, die Medienkonkurrenz und das Aufkommen der modernen Massenkultur hatten außer für das Theater vor allem auch für das andere ,alte' Medium, das Buch, dra­ matische Auswirkungen. Sie beendeten die Vorrangstellung der literari­ schen Kultur, was sich am Ende der zwanziger Jahre in einer breit geführten Diskussion über die ,Krise des Buches' niederschlug. Die Rede von der Krise bezog sich dabei weniger auf den Absatz als auf den kulturellen Prestigever­ lust des Buches, das mehr und mehr zum Konsumartikel wurde. Von konser­ vativen Kritikern wurde dieser Funktionswandel des Buches als Zeichen eines kulturellen Niedergangs gedeutet (vgl. Fischer/Füssel 2007, 273 f.). Die Zahl der Neuerscheinungen jedoch stieg von 32.245 im Jahr 1920 auf 37.886 im Jahr 1927 an. Danach sank sie leicht auf ca. 34.000, im Bereich der Belletristik überproportional von 5.100 Titeln (1927) auf 4.500 (1928) (vgl. Göpfert 1978, 35; Wittmann 1991, 301). Zwischen 1928 und 1930 stag­ nierte die Titelproduktion und fiel danach in Folge der Weltwirtschaftskrise wieder auf das Niveau der Inflationszeit zurück (vgl. Fischer/Füssel 2007, 285 und 342). Verlage und Buchhandel klagten vielfach über die Konkur­ renz der neuen Medien und das veränderte Konsumverhalten, die ,Novitä­ tensucht' der Käufer (vgl. Göpfert 1978, 36). Gleichzeitig reagierten sie da-

3. Massenmedien

rauf mit marktstrategischen Modernisierungen, die in der damaligen Zeit als Amerikanisierung des Buchmarkts wahrgenommen wurden: mit der Pro­ duktion billiger Taschenbücher und Volksausgaben sowie mit neuen Marke­ tingstrategien, wie Leserumfragen, Autorenlesungen in Warenhäusern oder Schallplattenaufnahmen von Gedichten (vgl. Kaes 1995, 41). Aus Amerika wurden Begriff und Idee des Bestsellers übernommen. Die Literarische Welt veröffentlichte 1927 erstmals in Deutschland Bestsellerlisten, und große Verlage versuchten, einzelne Titel durch exemplarische Werbekampagnen gezielt zu Bestsellern zu machen (vgl. Vogt-Praclik 1987, 27-31). Dem in dieser Hinsicht besonders rührigen Ullstein-Verlag gelang das mit Erich Ma­ ria Remarques Im Westen nichts Neues (1929), dessen Auflage innerhalb eines Jahres die Millionengrenze und 1930 bereits 3 Mill. erreichte. Und dem etwas konservativeren S. Fischer-Verlag gelang es mit einer preisgünsti­ gen Volksausgabe von Thomas Manns Buddenbrooks (1901), die zwischen 1929 und 1932 annähernd eine Million Mal verkauft wurde (vgl. Wittmann 1991, 308-311). Manns Zauberberg (1924) erzielte eine Auflage von 250.000. Solche Verkaufserfolge blieben im Bereich der anspruchsvollen Belletristik jedoch die Ausnahme. Vor allem profitierte der Buchmarkt vom Boom der neuen Sach- und Unterhaltungsliteratur, etwa den großen Ver­ kaufszahlen der populären Biographien Emil Ludwigs, aber auch vom Boom historischer Romane von Alfred Neumann, Lion Feuchtwanger und anderen. Feuchtwangers Roman Oie häßliche Herzogin Margarete Maul­ tasch (1923) beispielsweise wurde bis 1932 200.000-mal verkauft und sein

Roman lud Süß (1925) avancierte sogar zum Weltbestseller. Auch Reisere­ portagen und Ratgeber, populärwissenschaftliche Werke und Jugendbücher gewannen in dieser Zeit stark an Bedeutung. Hohe Auflagen erzielte dane­ ben die Trivialliteratur: amerikanische Heftromane, die Abenteuerromane Jack Londons und Karl Mays oder die Frauenromane Hedwig Courths-Mah­ lers, aber auch die weltanschaulich geprägte Populärliteratur, ein großer Teil davon völkisch-antisemitischen Charakters (vgl. 1Y.4.). Die Presse, die schon lange vor dem Ersten Weltkrieg zum Massenkommunikationsmittel geworden war, konnte ihre mediale Vormachtstellung in der Weimarer Republik nicht nur behaupten, sondern noch ausbauen. 1928 erschienen im Deutschen Reich 3.356 Tageszeitungen, 147 davon in Berlin, der führenden Zeitungsstadt und dem Sitz der größten Verlagshäuser Mosse, Ullstein und Scherl (vgl. Kolb 2000, 102 f.). Etablierte Zeitungen hielten oder steigerten ihre Auflage. Darunter die beiden intellektuell führenden: das liberale Berliner Tageblatt und die demokratische Frankfurter Zeitung, für deren Feuilleton so bedeutende Autoren wie Walter Benjamin, Siegfried Kracauer und Joseph Roth schrieben. Zum Aufschwung trug aber vor allem der Boom von Boulevardblättern wie der BZ am Mittag bei. Unter der Konkurrenz der anderen Medien veränderte allerdings auch die Presse in den zwanziger Jahren ihr Erscheinungsbild. So wurden neue, werbewirksam il­ lustrierte Zeitschriften, wie die Literarische Welt oder Oie Koralle, entwickelt, die gezielt spezielle Leserschaften ansprachen. Die Printmedien passten sich dabei dem veränderten, visuell geprägten Rezeptionsverhalten der Konsumenten an, indem sie Bilder nicht mehr nur als Illustration, sondern gleichberechtigt mit dem Text verwendeten, wie in den in dieser Zeit auf­ kommenden Fotoreportagen.

Presse

29

30 111. Kontexte Kino und Kinokultur

Kein anderes Medium hat die Alltagskultur der Weimarer Zeit so stark geprägt wie der Film. Zwar hatte sich das Kino schon in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg von der ursprünglichen Jahrmarkts- und Varieteattraktion zu einer Unterhaltungsindustrie mit eigenen Spielorten und abendfüllenden Spielfilmen emanzipiert. Erst in den zwanziger Jahren jedoch etablierte sich der Film als klassenübergreifendes Unterhaltungsmedium und wurde zu einem bedeutenden Wirtschafts- und Kulturfaktor. Die Zahl der täglichen Kinobesucher in Deutschland stieg von schätzungsweise 1 Mill. 1919 auf 2 Mill. 1924, die Zahl der Kinos von 2.300 im Jahr 1918 auf über 5.000 im Jahr 1930 (vgl. Kolb 2000, 103). 1930 wurden täglich 6 Mill. Kinokarten verkauft. Die deutsche Filmwirtschaft, deren Konzentration gegen Ende des Ersten Weltkriegs begonnen hatte, wuchs in den Inflationsjahren vor allem durch Exporte zur zweitgrößten Filmindustrie nach Hollywood (vgl. Kaes 2004, 46). 1924 setzte dann die Expansion des Hollywood-Films auf den deutschen Markt ein. Mit der wirtschaftlichen Bedeutung veränderte sich auch der soziokulturelle Charakter des Films. Hatte er in seiner Anfangszeit vor allem ein proletarisches Massenpublikum angesprochen, so wurde er ab Mitte der zwanziger Jahre zum bevorzugten Unterhaltungsmedium der neu­ en, nicht-bildungsbürgerlichen Mittelschicht der Angestellten. Das ,Ins­ Kino-Gehen' wurde Bestandteil des neuen, konsumorientierten Lebensstils (vgl. Elsaesser 1999, 96). Dadurch bestimmte das Kino auch in zunehmen­ dem Maße das Alltagsleben. Die Filmindustrie förderte einen vor allem durch die Reklame und die illustrierten Zeitschriften vermittelten Starkult, in dem populäre Schauspieler wie Lilian Harvey oder Willy Fritsch zu modi­ schen Leitbildern avancierten. Junge Menschen versuchten, sich den in Film und Reklame entworfenen Mustern, etwa dem Girl-Typus, in Frisur, Klei­ dung und Habitus anzugleichen. Und die von Friedrich Hollaender für Josef von Sternbergs Der blaue Engel (1930) geschriebenen Songs wurden, auch wegen des Kults um Marlene Dietrich, schnell zu populären Schlagern.

Filmgeschichte

Mit der Entwicklung der technischen Ausdrucksmöglichkeiten und durch ambitionierte P roduktionen von Regisseuren wie Ernst Lubitsch, F. W. Mur­ nau, Fritz Lang oder G. W. Pabst gewann der Film im Verlauf der zwanziger Jahre auch zunehmend künstlerische Anerkennung (vgl. Heller 1985, 203f.). War das subkulturelle Kinoprogramm der frühen Nachkriegszeit noch von Detektiv- und Abenteuerfilmen, Melodramen und - bis zur Ein­ führung der Zensur im Jahr 1920 - sogenannten Aufklärungs- und Sittenfil­ men dominiert, so wurden in der Folge immer aufwendiger gestaltete Spiel­ filme unterschiedlicher Stile und Genres produziert, die den Geschmack eines breiten, klassenübergreifenden P ublikums treffen sollten: der histo­ rische Kostümfilm (z. B. Lubitschs Madame Dubarry, 1919), der exotische Stoffe oder nationale Mythen verarbeitende Monumentalfilm (z. B. Arzen von Cserepys Friedericus-Rex, 1922/32), der naturalistische Kammerspiel­ film (z. B. Murnaus Der letzte Mann, 1924), der neusachlich geprägte Mi­ lieufilm (z. B. Pabsts Oie freudlose Gasse, 1925), der psychologische Krimi­ nal- und Großstadtfilm (z. B. Langs M, 1930) oder der mythisierende Berg­ film Arnold Fancks. Die Ablösung des Stummfilms durch den Tonfilm 1929/ 30 verschaffte dem Kino zusätzliche Attraktivität, da nun Gesangseinlagen oder ganze Revue- und Operettenfilme (z. B. Wilhelm Thieles Oie drei von der Tankstelle, 1930, und Erik Charells Der Kongreß tanzt, 1931) möglich

3. Massenmedien

wurden (vgl. Kaes 2004). Aufgrund seiner hohen Produktionskosten ver­ stärkte der Tonfilm aber auch die Konzentration in der Filmindustrie, die am Ende der Weimarer Republik im Wesentlichen aus den Konzernen Ufa, To­ bis und Terra bestand. Auch wenn manche konservative Kulturkritiker den Film weiterhin radikai ablehnten, verfolgte die Mehrzahl der Intellektuellen seine Entwicklung

Intellektuelle und Film

in den zwanziger Jahren mit großem, allerdings nicht unkritischem Interesse. In zahlreichen Essays, Broschüren und der sich in führenden Zeitungen und Zeitschriften etablierenden intellektuellen Filmkritik (Herbert Ihering, Siegfried Kracauer, Kurt Pinthus, Hans Siemsen, Rudolf Arnheim u. a.) wurde das Medium unter ästhetischen, soziokulturellen und politisch-ökonomischen Aspekten debattiert. Mit den frühen, ,expressionistischen' Stummfilmen von Robert Wiene (Das Cabinet des Dr. Caligari, 1920), Paul Wegener (Der Golem, wie er in die Welt kam, 1920) und F. W. Murnau (Nosferatu. Eine Symphonie des Grauens, 1922) wurde der Film erstmals als eigenstän-

dige Kunstform wahrgenommen. Viele Schriftsteller versuchten, das neue Medium ästhetisch aufzuwerten, indem sie den Stummfilm mit seiner Körper- und Gebärdensprache als archaische Ausdrucksform, neue Volkskunst oder Wiederverzauberung der Welt deuteten (vgl. Heller 1985, 167). Avancierte ästhetische Theorien über den Film entstanden, etwa Bela Balazs' Der sichtbare Mensch (1924) oder Rudolf Arnheims Film als Kunst (1932).

Andere Kritiker analysierten mit soziologisch und ideologiekritisch geschultem Blick die gesellschaftliche Funktion der neuen Unterhaltungskultur, vor allem mit Blick auf die Angestellten. Das herausragende Beispiel hierfür sind die Artikel, die Kracauer für die Frankfurter Zeitung schrieb (u. a. Kult der Zerstreuung, 1926; Oie kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino, 1928).

Daneben übten linke Intellektuelle Kritik an den Arbeitsverhältnissen in der Filmindustrie und an der meinungsbildenden Monopolsteilung der großen Konzerne, insbesondere der Ufa. Verschiedentlich wurde versucht, das Monopol der großen Filmkonzerne mit eigenen Produktionen und Vertriebsstrukturen zu durchbrechen. Etwa mit der 1926 auf kommunistischer Seite gegründeten Prometheus-Film GmbH oder dem 1928 von Heinrich Mann, Erwin Piscator, Bela Balazs und anderen initiierten Volksverband für Filmkunst mit seiner Zeitschrift Film und Volk. Auch die Schriftsteller hatten in der Mehrzahl ein ambivalentes Verhältnis zum Film. Viele Autoren begannen in dieser Zeit, Skripte für Filme zu verfassen, wobei sie sie sich nicht nur Verdienstmöglichkeiten, sondern auch Partizipation und kulturelle Anerkennung von der Filmindustrie erhofften. In dieser Hoffnung wurden sie jedoch oft enttäuscht. Das lag in erster Linie daran, dass die Produktionsbedingungen im Film neue Schreibweisen und auch einen neuen Autorentypus erforderten: einen Autor, der nicht mehr autonom und persönlich verantwortlich, sondern anonym in einem arbeitsteiligen industriellen Produktionszusammenhang arbeitete. Ein frühes Beispiel eines erfolgreichen reinen Drehbuchautors ist earl Mayer, der unter anderem Skripte für Pabst-Filme schrieb. Berühmte Schriftsteller wie Gerhart Hauptmann und Arthur Schnitzler, die von der stoffhungrigen Filmindustrie unter Vertrag genommen wurden, erlebten es dagegen als schmerzhafte Missachtung, dass die von ihnen verfassten Texte ihrer Kontrolle entzogen und überarbeitet wurden. Zudem erwiesen sich Literaturverfilmungen, wie

Film und Literatur

31

32 111. Kontexte die von Hauptmanns Drama Rose Bernd (1919) oder von Thomas Manns Buddenbrooks (1923), meistens als wenig erfolgreich. Es sei denn, die litera­ rische Vorlage wurde für den Film stark verändert, wie im Fall des auf Hein­ rich Manns Roman Professor Unrat basierenden Blauen Engels (vgl. Kaes 2004, 85 f.). Die Kontrolle des Autors über den Film war auch der Gegen­ stand eines erfolglosen, aber publizitätsträchtigen Prozesses, den Bertolt Brecht 1930 gegen die Nero-Film AG wegen G. W. Pabsts (durchaus an­ spruchsvoller) Verfilmung seiner Dreigroschenoper (Oie 3-Groschen-Oper, 1931) anstrengte. In seiner medientheoretischen Polemik Der Dreigro­ schenprozeß (1931) stellte er den Prozess später als ein ,soziologisches Ex­ periment' dar, mit dem die künstlerische Autonomie in kapitalistischen Pro­ duktionszusammenhängen als Illusion entlarvt worden sei. Mit seinem ge­ meinsam mit Slatan Dudow, Ernst Ottwalt und Hanns Eisler produzierten Film Kuhle Wampe oder Wem gehärt die Welt? (1932) versuchte Brecht dann, seine Ideen einer politisch-agitatorischen Ästhetik in einer unabhän­ gigen (anfangs von der Prometheus-Film geförderten) Produktion zu reali­ sieren. Dieser radikal anti illusionistische, mit Montagetechnik und Doku­ mentarmaterial arbeitende Film über eine Gruppe Berliner Arbeitsloser durfte allerdings nur in einer zensierten, stark geänderten Fassung gezeigt werden. Einführung des

Während die Pionierzeit des Films 1918 im Grunde abgeschlossen war,

Rundfunks

entwickelte sich der Rundfunk erst in der Weimarer Republik zum Massen­ medium. Im Herbst 1923 eröffnete der deutsche Unterhaltungs-Rundfunk erstmals den Programmdienst. Mit der technischen und wirtschaftlichen Weiterentwicklung des Mediums und unterstützt durch eine verbreitete Rundfunkbegeisterung stieg die Zahl der Rundfunkteilnehmer in der Folge schnell an: auf 1 Mill. Ende 1925 und 4 Mill. Anfang 1932 (vgl. Lerg 1980, 142 und 524f.). Anders als in den USA entstand der Rundfunk in Deutsch­ land von vornherein als eine Art Staatsmonopol und schloss den Privatfunk aus. So kam es in der Einführungsphase zu Auseinandersetzungen über die Aufgaben und die politische Kontrolle des Rundfunks. Während der Initiator des Rundfunks, Hans Bredow, Mitarbeiter im Reichspostministerium, den Rundfunk als einen reinen Kulturfaktor, ähnlich der Volkshochschule, plan­ te und von der Politik fernhalten wollte, drängte das Reichsinnenministeri­ um aus staatspolitischen Gründen auf die Einrichtung eines Nachrichten­ dienstes, der Dradag (Drahtloser Dienst AG). Mit den 1926 verabschiedeten ,Richtlinien über die Regelung des Rundfunks' wurde die Programmgestal­ tung der neun regionalen und zwei zentralen Rundfunkgesellschaften dann der politischen Kontrolle durch verschiedene, aus Vertretern von Post, In­ nenministerium und Landesregierungen zusammengesetzte Ausschüsse un­ terstellt, die über die Qualität und politische Neutralität wachen sollten (vgl. Lerg 1980, 267-270). Diese relative Eigenständigkeit des Rundfunks endete mit der Rundfunkneuordnung von 1932, die ihn der Reichsregierung unterstellte und vollends verstaatlichte.

Rundfunkprogramm

Dem zwischen Reichspost- und Reichsinnenministerium erzielten Kom­ promiss entsprechend erhielt das Programm der deutschen Rundfunkgesell­ schaften ein publizistisch-kulturelles Profil. Es bot einerseits Sendungen mit politischem Charakter an, wozu vor allem die Tagesnachrichten und eine Presse-Umschau, daneben aber auch Stimmungsbilder aus dem Reichstag

3. Massenmedien

oder die Bekanntgabe von Wahlergebnissen gehörten. Durch die mit der technischen Weiterentwicklung möglich werdenden Direktübertragungen von Sportveranstaltungen und aktuellen Ereignissen - etwa die spektakuläre Übertragung der Feier zur Befreiung Kölns von französischer Besatzung am 1. Februar 1926 oder die Berichte aus dem Genfer Völkerbund - gewann es zudem eine zeitgeschichtlich-dokumentarische Bedeutung. Andererseits enthielt das Programm ein breites Spektrum an Bildungs- und Unterhal­ tungssendungen, das sich mit der Zeit immer mehr diversifizierte und zur Populärkultur hin öffnete (vgl. Leonhard 1997, Kap. 5, 6 und 10). Neben Vorträgen zu volksbildnerischen Themen gab es Übertragungen von Sym­ phoniekonzerten oder Revueveranstaltungen, Streitgespräche über weltan­ schaulich-kulturelle Fragen und zahlreiche literarische Sendungen (vgl. Leonhard 1997,Kap. 11). Die literarische Intelligenz brachte dem neuen Medium von Beginn an ein starkes Interesse entgegen. Zum einen eröffnete der Rundfunk den ökonomisch deklassierten mittelständischen Schriftstellern neue Verdienstmöglichkeiten. So schrieben viele Autoren in der Weimarer Republik, trotz der oft beklagten niedrigen Honorare, für den Rundfunk. Und einige waren auch im Rundfunk tätig, sei es als künstlerisch-literarischer Mitarbeiter wie Ernst Glaeser, Hermann Kasack, Edlef Köppen und Arnolt Bronnen oder als Intendant - wie Ernst Hardt (Köln), Friedrich Walther Bischoff (Breslau) und Hans Flesch (Frankfurt/Berlin). Zum anderen versuchten Schriftsteller, den Rundfunk für die Literatur zu nutzen. In der Anfangszeit beschränkte sich der literarische Anteil der Programme noch auf Vorträge und Lesungen von Prosatexten oder Lyrik, wobei zahlreiche bekannte Autoren auch selbst vor das Mikrofon traten (vgl. Leonhard 1997, Kap. 13). Beispielsweise las Thomas Mann 1925 aus seinem Zauberberg (vgl. Schi Iier/ Kutsch 1975, 98). Außerdem gelangten Rundfunkbearbeitungen von Dramen, sogenannte Sendespiele, zur Vorführung. So wurde beispielsweise 1927 eine Rundfunkinszenierung von Brechts Lustspiel Mann ist Mann ausgestrahlt. Angeregt durch die Nachfrage der Rundfunkanstalten und verschiedene Wettbewerbe versuchten die Autoren aber bald, ihre Produktion den technischen und ästhetischen Möglichkeiten des neuen Mediums anzupassen und rundfunkspezifische Literaturformen zu entwickeln. So entstand das Hörspiel, das durch eine neue, akustische Form der Präsentation gekennzeichnet war (vgl. Kälin 1991, 45-65). Nach ersten, noch kolportagehaften Versuchen erlebte das Hörspiel als Kunstform 1929/30 seinen Durchbruch mit Produktionen wie Brechts Der Lindberghflug (1929), Hans Kysers Prozeß Sakrates (1929), Friedrich Wolfs ,Krassinl rettet )talial (1929), Hermann Kessers Schwester Henriette (1929) und Straßenmann (1930), Eduard Reinachers Der Narr mit der Hacke (1930) oder Kasacks Stimmen im Kampf (1930) (vgl. Schwitzke 1963, 86-93; Hörburger 1975, 103-105 und 324-336; Kälin 1991,67-106; Krug 2003,25-38). Die neuen Hörspiele erweiterten die formalen Möglichkeiten der alten Sendespiele durch Einführung von Monologen, die Verwendung von Reportage und die Aufwertung von Geräuschen und Musik gegenüber dem gesprochenen Wort (vgl. Steinfort 2007,44 f.). Mit dem raschen Bedeutungszuwachs des Rundfunks entstand unter den Intellektuellen eine intensive Debatte über die kulturpolitischen und künst-

Rundfunk und Literatur

Medienreflexion und ,Radiotheorie'

33

34

111. Kontexte

lerischen Möglichkeiten des neuen Mediums. Sie wurde in den Rundfunk­ zeitschriften ausgetragen, aber auch in der Weltbühne (vgl. La Grotta 1998 ) und in einer Sondernummer der Literarischen Welt (vom 30. August 1929) zum Thema ,Literatur und Rundfunk'. Zudem wurde das Verhältnis von ,Dichtung und Rundfunk' auf einer von der Reichs-Rundfunk-Gesell­ schaft gemeinsam mit der Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akade­ mie der Künste im Herbst 1929 in Kassel veranstalteten Tagung themati­ siert, an der unter anderen Bronnen, Döblin, Ihering, Kasack und Arnold Zweig teilnahmen (vgl. Schneider 1984, 19f.). Die kulturpolitischen Diffe­ renzen zwischen den Schriftstellern schlugen sich in diesen Debatten in unterschiedlichen Ansichten über den Rundfunk nieder. Während einem humanistischen Bildungsbegriff verpflichtete Autoren, wie Ernst Hardt, den Rundfunk als Mittel zur Verbreitung von Kultur betrachteten, wollten avant­ gardistische Intellektuelle, insbesondere Bertolt Brecht und Walter Benja­ min, die kommunikativen Möglichkeiten des Mediums kulturrevolutionär nutzen und die Trennung zwischen Produzenten und Hörern überwinden. Brecht hat diesen Gedanken mit seinem Radiolehrstück Der Flug der Lind­ berghs, bei dem die Hörer einzelne Sprechparts übernehmen sollten, expe­ rimentell umzusetzen versucht und in mehreren ,radiotheoretischen' Auf­ sätzen (u.a. Der Rundfunk als Kommunikationsapparat, 1932 ) begründet, ohne damit jedoch Einfluss auf die Entwicklung des Mediums nehmen zu können.

4. Kulturpolitische Institutionen und Akteure Kultur und Republik

Das kulturelle und intellektuelle Leben unterlag in der Weimarer Republik nur geringer staatlicher Lenkung. Dadurch bestanden einerseits günstige Vo­ raussetzungen für die freie Entfaltung der Künste und Wissenschaften. An­ dererseits verzichtete die Republik weitgehend darauf, die Kultur zur eige­ nen Repräsentation und Stützung in Dienst zu nehmen - weshalb, wie Eber­ hard Kolb angemerkt hat, statt von einer Kultur ,der' Republik, besser von einer Kultur ,in der' Republik gesprochen werden sollte (vgl. Kolb 2000, 93). Trotzdem oder gerade deshalb war das kulturelle Leben hochgradig politisiert. Kulturelle Fragen und Ereignisse standen im Blickpunkt des öf­ fentlichen Interesses. Und an bestimmten Theateraufführungen, Büchern oder Filmen entzündeten sich oftmals weltanschaulich-politische Debatten, die am Ende der Republik an Schärfe gewannen. Statt des Staates traten da­ bei vor allem Parteien, Künstler- und Schriftstellergruppen als kulturpoliti­ sche Akteure hervor.

Staatliche

Die föderalistische Verfassung hatte die Kulturhoheit prinzipiell den Län-

Kulturpolitik

dern gegeben und den kulturellen Gestaltungsspielraum der Reichsregie­ rung so von vornherein stark beschränkt. Ihre im Reichsministerium des Innern konzentrierten kulturpolitischen Kompetenzen lagen vor allem im Bereich der Bildungspolitik, wobei insbesondere Schulfragen, wie die der Einheitlichkeit und Weltlichkeit der Schule, immer wieder zu erbitterten parteipolitischen Auseinandersetzungen führten (vgl. Abelein 1968, 69). Daneben übte das Reich eine kulturpolitische Kontrollfunktion allein im Be-

4. Kulturpolitische Institutionen und Akteure

reich des Rundfunks aus, gemeinsam mit den Ländern. Die neuen Länder und die Städte hatten in der Weimarer Republik außerdem das Aufsichts­ und Bewilligungsrecht für zahlreiche Bühnen, da die ehemaligen Hof- und Residenztheater nach dem Ende der Monarchie von der öffentlichen Hand übernommen und in Staats-, Landes- und Stadttheater umgewandelt worden waren. Auf Bestreben der linksbürgerlichen Parteien, die an einer Festigung der Republik interessiert waren, entwickelte aber auch die Reichsregierung eine bescheidene staatliche Kulturförderung. Anregungen folgend, die der spätere preußische Kultusminister earl Heinrich Becker in einer Denkschrift über die kulturpolitischen Aufgaben des Reiches gegeben hatte, wurden im Reichsetat ab 1920 (relativ geringe) Mittel zur "Förderung wissenschaft­ licher und künstlerischer Zwecke" eingestellt. Mit diesen wurden Initiativen wie der 1929 an Goethes Todestag erstmals veranstaltete ,Tag des Buches' und Institutionen wie das Germanische Museum in Nürnberg oder das Na­ tionaltheater in Mannheim unterstützt (vgl. Abelein 1968, 58-60). Zudem wurde das Amt eines Reichskunstwarts geschaffen, der dem neuen Staat eine nach außen sichtbare Identität geben sollte (vgl. Petersen 1995, 45). Und auf Anordnung von Reichspräsident Ebert wurde im November 1922 der 60. Geburtstag Gerhart Hauptmanns als nationale Feier begangen, mit der der hoch geachtete Autor als neuer Nationaldichter und geistiger Re­ präsentant der Republik herausgestellt wurde. Ein prominentes Beispiel für eine im republikanischen Geist unternom­ mene Kulturförderung auf Länderebene war die Sektion für Dichtkunst an

Die ,Dichter­ akademie'

der Preußischen Akademie der Künste, die in der Presse der Zeit zumeist als ,Dichterakademie' bezeichnet wurde. Sie wurde 1926 auf Initiative des preußischen Kultusministers Becker hin ins Leben gerufen und gab Schrift­ stellern in Deutschland zum ersten Mal eine akademische Repräsentanz (vgl. jens 1994, Kap. 2). Allerdings bestanden unter ihren Mitgliedern sehr verschiedene Ansichten über die Art dieser Repräsentanz und die kulturpo­ litische Funktion der ,Dichterakademie'. Während die linksbürgerlichen Au­ toren unter Führung Heinrich Manns und Alfred Döblins sie als eine dem europäischen Geist verpflichtete Institution begriffen, die eine aktive Rolle in der Kulturpolitik der Republik spielen sollte, wollten die konservativen Autoren sie auf die Repräsentanz eines unpolitischen und spezifisch deut­ schen Dichtertums verpflichten. Die Spannungen eskalierten 1929/30 im Streit um die Frage einer Umbenennung in ,Sektion für Literatur', der von der Gruppe völkischer Schriftsteller um Erwin Guido Kolbenheyer und Wil­ helm Schäfer zu einem weltanschaulichen Kulturkampf zwischen Dichtung und Literatur bzw. Landschaft und Berlin stilisiert wurde (vgl. Mittenzwei

1992, 119-121). Auch nach dem demonstrativen Austritt dieser Gruppe und unter dem Vorsitz von Heinrich Mann blieb der kulturpolitische Ein­ fluss der ,Dichterakademie' jedoch gering. Mit dem von den Nationalsozia­ listen erzwungenen Rücktritt Manns als Präsident am 15. Februar 1933 be­ gann dann das Ende der preußischen ,Sektion für Dichtkunst'. Die Anfangsjahre der Weimarer Republik waren die Blütezeit eines kulturrevolutionären

Avantgardismus.

Nach

der

Novemberrevolution

schlossen sich viele aus dem Expressionismus und dem Berliner Dadaismus (vgl. IV. 1.) kommende Künstler - wie Max Herrmann-Neiße, Franz jung, George Grosz und die Brüder Wieland Herzfelde und john Heartfield - ul-

Proletkult und Agitprop

35

36 111. Kontexte tralinken und anarchistischen Gruppen an, die inspiriert durch den russi­ schen Proletkult (und in Opposition zum bürgerlichen Kunstbegriff der KPD) eine spezifisch proletarische Kultur zu initiieren versuchten (vgl. Fähnders/Rector 1974, 1, 99 f. und 129-138; Safranski/Fähnders 1995, 177-185). Publizistische Foren dieser Bewegung waren der von den Brü­ dern Herzfelde gegründete Malik-Verlag (1917-32), in dem auch die Zeit­ schrift Der Gegner (1919-22) erschien, und die von Franz Pfemfert heraus­ gegebene Aktion (1911-32). Im operativen Kunstverständnis dieser Intellek­ tuellen hatte Literatur die Funktion, die Entwicklung eines proletarischen Bewusstseins der - als antibürgerliche Klasse idealisierten (vgl. Kaes 1995, 48 f.) - Arbeiter zu befördern. Zu diesem Zweck entwickelte man neue, politisch funktionale Darstellungsweisen, wie beispielsweise Oskar Kanehl in seiner Agitationslyrik. Andererseits versuchte man durch neue, kollektive Produktionsweisen die Trennung zwischen Produzenten und Rezipienten aufzuheben und die Arbeiter selbst zu aktivieren. Dieses Ziel verfolgten am Beginn der zwanziger Jahre verschiedene Proletarische Theater, Sprechchö­ re und choreographierte Massentheater-Projekte (vgl. Trommler 1974, 80-89). In der Endphase der Republik erreichten dann die zahllosen Agit­ prop-Theater-Truppen, die organisatorisch mit der KPD verbunden waren, mit ihren Auftritten bei politischen Veranstaltungen und auf der Straße ein Massenpublikum. Kommunistische

Die KPD stand den kulturrevolutionären Bestrebungen und den Prolet­

Kulturpolitik

kult-Tendenzen auf ultralinker Seite am Beginn der zwanziger Jahre ableh­ nend gegenüber. Dies machen vor allem die Kritiken Gertrud Alexanders im Parteiorgan Oie Rote Fahne deutlich, etwa ihre im Rahmen der soge­ nannten Kunstlump-Debatte formulierte Kritik an George Grosz und John Heartfield (vgl. IV. 1.). In der ersten Hälfte der zwanziger Jahre gab es keine gezielte Kultur- und Literaturpolitik der KPD, wenn man einmal von der ein­ geschränkten Förderung der Arbeiterkorrespondentenbewegung absieht, in der Arbeiter dazu animiert wurden, Berichte, Reportagen und Erzählungen über die Zustände in ihren Fabriken zu schreiben (vgl. Friedrich 1981, 21-31). Ab 1925 vollzog die Partei dann einen kulturpolitischen Kurswech­ sel und erkannte in Kunst und Literatur nun Mittel des politischen Kampfes und der Agitation (vgl. Schonauer 1974, 127). Mit Unterstützung der IAH, der von europäischen Linksintellektuellen gegründeten Internationalen Ar­ beiterhilfe, baute sie ein Netz von Organisationen auf, die eine proletari­ sche Kultur und Gegenöffentlichkeit schaffen sollten. Dazu gehörten die 1927 gegründete ,Proletarische Feuilletonkorrespondenz', die ebenfalls 1927 gegründete, von Maxim Vallentin geleitete ,Zentrale Agitproptruppe' des Kommunistischen Jugendverbandes Deutschlands, der 1928 gegründete Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller (BPRS) (vgl. lV.l.) und der (ehemals

sozialdemokratische)

Deutsche

Arbeitertheaterbund/Arbeiter­

Theater-Bund-Deutschland, den die KPD 1928 unter ihre Kontrolle brachte. Mit ihren zahllosen Theaterkollektiven, Sprechchören, Revuen und Massen­ dramen-Inszenierungen, in der alte und neue Medien propagandistisch funktionalisiert wurden, prägte die kommunistische Agitprop-Bewegung die kulturelle Szene in der Endphase der Weimarer Republik. Willi Münzenberg

Eine führende Rolle bei der Institutionalisierung einer kommunistischen Öffentlichkeit spielte Willi Münzenberg, ehemaliges Mitglied des Sparta-

4. Kulturpolitische Institutionen und Akteure

kus-Bundes und der Komintern und von 1924-1933 Reichstagsabgeordne­ ter für die KPD. Gegen die Dominanz des deutschnationalen Hugenberg­ Konzerns ankämpfend, schuf Münzenberg in den zwanziger Jahren eine Verlagsgruppe, zu der mehrere Massenblätter und Zeitschriften, allen voran die 1925 gegründete Arbeiter-Illustrierten-Zeitung (AIZ), daneben aber auch ein Filmvertrieb und Filmproduktionen gehörten. Anfang 1926 gründete Münzenberg gemeinsam mit der KPD und der IAH die Prometheus-Film GmbH. Diese organisierte den Verleih russischer Filme, darunter Sergej M. Eisensteins Aufsehen erregender Revolutionsfilm Panzerkreuzer Potemkin (deutsche UA 1926), produzierte aber auch eigene proletarische Dokumen­ tar- und Spielfilme, wie Piel Jutzis Mutter Krausens Fahrt ins Glück von 1929 (vgl. Murray 1990, 118-138 und 197-216). Die Kulturpolitik der SPD hatte, anders als die der Kommunisten, keinen klassenkämpferischen Charakter. Sie zielte zum einen - insbesondere mit

Sozialdemokratische Kulturpolitik

dem Sozialistischen Kulturbund - darauf, sozialistische Ideen zu verbreiten. Zum anderen und vor allem ging es ihr aber um eine Hebung des Bildungs­ niveaus der Arbeiter. Die Sozialdemokraten orientierten sich dabei am Konzept einer klassenneutralen Bildung und Kultur. Ihr Ziel war nicht die Politisierung der Kultur, sondern die Brechung des bürgerlichen Kultur­ privilegs. Dazu förderte man die Volkshochschulen und unterstützte Kultur­ organisationen wie die Volksbühnenbewegung, eine mitgliederstarke Be­ sucherorganisation, die den Arbeitern ,wertvolle'

Theateraufführungen

zugänglich machen sollte und in Berlin ein eigenes Theater betrieb. Ebenso versuchte man den Film für die Volksbildung zu nutzen und künstlerisch wertvolle und politisch fortschrittliche Filme zu fördern (vgl. Heller 1985, 141-144). Dies geschah durch die Vorführorganisationen der Volksfilm­ bühne (1922-24) und durch den 1926 gegründeten Film- und Lichtbild­ dienst, der anspruchsvolle Unterhaltungsfilme sowie Dokumentar- und Agi­ tationsfilme verlieh und auch mobile Vorführteams für die lokale Kulturar­ beit ausbildete. Daneben produzierte man in bescheidenem Rahmen eige­ ne Filme für die Propagandaarbeit, zumeist Dokumentarfilme, aber auch einige, die Not der Arbeiter und Angestellten thematisierende Spielfilme, wie Lohnbuchhalter Kremke (1930) (vgl. Korte 1978, 96 f.; Murray 1990, 168-185). Auf Seite der Rechtsparteien gab es keine organisierte und zentral gelenk­ te Kulturpolitik wie auf Seite der Arbeiterparteien. Allerdings agitierten die völkisch-konservativen Parteien und die NSDAP im Reichstag und in den Landtagen andauernd gegen die republikanische Kultur, insbesondere auf dem Theater (vgl. Weimarer Republik 1977, 897f.). Zudem existierten im Land unzählige nationalistische Kulturvereine, die sich dem Kampf gegen die dekadente Moderne verschrieben hatten und Angst vor kultureller Über­ fremdung schürten. Im Theaterbereich gab es mehrere rechtsgerichtete Be­ sucherorganisationen, darunter den einflussreichen, von Hindenburg unter­ stützten christlich-nationalistischen Bühnenvolksbund, dessen Ziel es war, der ,Entartung' des deutschen Theaters durch Förderung ,volkstümlicher' Kunst entgegenzuwirken und das Theater wieder zum Mittelpunkt ,völki­ schen Kulturlebens' zu machen (vgl. Petersen 1985, 208). Gegen Ende der Weimarer Republik entwickelten dann die Nationalsozialistischen verstärk­ te kulturpolitische Aktivitäten. 1927 gründeten Alfred Rosenberg, Heinrich

Kulturpolitik der Rechtsparteien

37

38 111. Kontexte Himmler und Gregor Straßer in München die ,Nationalsozialistische Ge­ sellschaft für deutsche Kultur'. Aus dieser ging der rassistische ,Kampfbund für deutsche Kultur' hervor, der seine Aufgabe darin sah, das deutsche We­ sen gegen fremde, jüdische und internationale Einflüsse zu verteidigen und die Bevölkerung über die rassischen Grundlagen von Kunst, Wissenschaft und Sitte ,aufzuklären'. Hugenberg-Konzern

Eine kulturpolitischer Machtfaktor auf völkisch-nationalistischer Seite war Alfred Hugenberg, ein Wirtschaftsführer und Politiker, der dem alldeutsch­ nationalistischen Flügel der DNVP angehörte. 1928 zu ihrem Vorsitzenden gewählt, steuerte Hugenberg die Partei auf einem strikt demokratie- und re­ publikfeindlichen Kurs und wurde im Januar 1933 Minister im Kabinett Hit­ ler. Hugenberg hatte bereits 1916 die Kontrolle über den Scherl-Verlag übernommen und daraus in der Nachkriegszeit einen einflussreichen Multi­ media-Konzern aufgebaut, zu dem auflagenstarke Zeitungen, die Allgemei­ ne Anzeigen GmbH, die Nachrichtenagentur Telegraphen-Union, die Deu­ lig-Film AG und ab 1927 mehrheitlich auch der größte deutsche Filmkon­ zern, die Ufa, gehörten. Dabei verfolgte Hugenberg das medienpolitische Ziel, den Einfluss der demokratischen Zeitungsverlage - v. a. U Iistein, Mosse und die Frankfurter Zeitung - zurückzudrängen und die deutschnationale Ideologie mit modernen Massenmedien zu propagieren. Dies geschah durch den massenhaften Vertrieb antidemokratischer Propagandaschriften ebenso wie durch die Entwicklung der Ufa-Wochenschauen als Waffe im politischen Tageskampf (vgl. Kreimeier 1992, 200).

Zensur

Die Weimarer Republik gilt als Epoche großer Meinungsfreiheit. Auch deshalb, weil sie die Zensur in Form eines generellen Genehmigungsverfah­ rens - wie sie im Kaiserreich noch für Theater und Film galt - abgeschafft hatte. Der Artikel 118 der Weimarer Verfassung erklärte: "Eine Zensur findet nicht statt". Tatsächlich wurde die Meinungsfreiheit jedoch auch in der Weimarer Republik auf verschiedene Weise eingeschränkt. Dies gilt in ers­ ter Linie für den Bereich des Lichtspielwesens, für den 1920 (mit dem Reichslichtspielgesetz) eine formelle Zensur wiedereingeführt wurde. Vor allem Filme, die angeblich die öffentliche Ordnung gefährdeten oder um­ strittene Themen wie Abtreibung und Homosexualität behandelten, waren von der Zensur betroffen und durften nicht oder nur in veränderten Fassun­ gen gezeigt werden - wie Eisensteins Revolutionsfilm Panzerkreuzer Potem­

kin (1926) oder Georg Asagaroffs Verfilmung von Peter Martin Lampels Zeit­ stück Revolte im Erziehungshaus (1930) (vgl. Jelavich 2006, 126-155). Et­ was anders stellt sich die die Situation in den Bereichen des öffentlichen Rundfunks und der Staats- und Landestheater dar. Obwohl es hier keine of­ fizielle Vorzensur gab, unterlag vor allem die Programmgestaltung der Rundfunkanstalten von vornherein einer politischen Kontrolle. Aber auch in den Bereichen des privaten Theaters und der Literatur kam es zu Restriktio­ nen. Denn die allgemeinen Gesetze und insbesondere das 1926 verabschie­ dete sogenannte Schmutz- und Schundgesetz (Gesetz zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften) eröffneten vielfältige Möglich­ keiten, strafrechtlich gegen Kunst und Literatur vorzugehen, die vermeint­ lich unsittliche, blasphemische, politisch subversive oder beleidigende Äu­ ßerungen enthielt (vgl. Petersen 1988, 77-108; Petersen 1995, Teil 11). Da­ her kam es in der Weimarer Republik immer wieder zu erbitterten politi-

4. Kulturpolitische Institutionen und Akteure

schen Auseinandersetzungen über die Zensur und zu zahlreichen Gerichts­ prozessen, in denen über die Grenzen der künstlerischen Freiheit gestritten wurde. Besonderes Aufsehen erregten die Prozesse gegen die Berliner Auf­ führung von Arthur Schnitzlers vermeintlich unsittlichen Reigen (1920/21), gegen George Grosz, der wegen seiner pazifistischen Zeichnung Maul hal­ ten und weiter dienen (Christus mit der Gasmaske) 1928 der Verletzung re­ ligiöser Gefühle angeklagt wurde, und gegen earl von Ossietzky, dem die Veröffentlichung von Tucholskys Artikel Soldaten sind Mörder in der Welt­ bühne 1931 eine Strafanzeige wegen Beleidigung der Wehrmacht einbrach­ te. Auch wenn diese Prozesse oft mit Freisprüchen endeten, wurden in den einzelnen Ländern - insbesondere in Bayern - zahlreiche Bücher, Theater­ stücke und Filme wegen Beleidigung, Unsittlichkeit oder Hochverrat verbo­ ten. Vor allem linksrevolutionäre Literatur war von dieser Form der Zensur betroffen. In der Endphase der Weimarer Republik wurde die Zensur dann immer öfter zum Gegenstand der politischen und kulturpolitischen Ausei­ nandersetzung. So versuchten Deutschnationale und insbesondere Natio­ nalsozialisten in ihrem Kampf gegen die ,Negerkultur' und den ,Kultur­ bolschewismus' der Weimarer Republik mittels gezielter Störungen und gewalttätiger Demonstrationen Aufführungsverbote zu provozieren. Bei­ spielsweise mit ihrer rassistischen Kampagne gegen die Münchner Auffüh­ rung von Ernst Kreneks ,Jazzoper' Jonny spielt auf (vgl. Petersen 1995, 244), oder mit ihren Ausschreitungen anlässlich der Berliner Uraufführung der Remarque-Verfilmung Im Westen nichts Neues (All Quiet on the Western Front), die 1930 tatsächlich zum Verbot des antimilitaristischen Films führ­ ten (vgl. Jelavich 2006, 157-166). Die Prozesse gegen Künstler und Schriftsteller und die Einführung des Schmutz- und Schundgesetzes lösten eine breite republikanische Protestbewegung aus, an der sich zahlreiche Schriftsteller beteiligten. Die obrigkeitsstaatliche Justiz, die die liberalen Verfassungsgrundsätze durch ihre Rechtsprechung unterhöhlte, stand ohnedies im Fokus der demokratischen Kritik an der Weimarer Republik und war der Gegenstand einer breiten justizkritischen Literatur (vgl. u. a. Jaron 1981; Petersen 1988, 133-193; Hammerschmidt 2002). Die Angriffe auf die künstlerische Freiheit bewegten die Schriftsteller aber dazu, sich auch ganz direkt, mit politischen Stellungnahmen und Aktionen gegen die Zensur zu engagieren. Dieser Protest wurde durch wichtige Gruppen und Verbände organisiert. Dazu zählten die Preußische Akademie der Künste ebenso wie der schon 1909 gegründete Schutzverband Deutscher Schriftsteller (SDS), die mitgliederstärkste Interessensvertretung der Schriftsteller. Deren Vorsitzender Theodor Heuss prangerte 1925 in seinem Artikel Literatur und Justiz 1925 in der Frankfurter Zeitung die Einschränkung der Geistesfreiheit durch die politische Justiz an (vgl. Petersen 1981, 31). Im gleichen Jahr erschien in der Berliner Tagespresse ein von 150 bekannten Politikern, Künstlern, Schriftstellern, Verlegern und Wissenschaftlern unterzeichneter Aufruf Für die Freiheit der Kunst. Zur Verteidigung der Meinungsfreiheit bildeten sich auch neue Initiativen und Gruppen. Die von den Namen her prominenteste war die von Rudolf Leonhard initiierte Schriftstellergemeinschaft ,Gruppe 1925' (1925-1927), der unter anderen Becher, Brecht, Döblin, Walter Hasenclever, Hermann Kasack, Egon Erwin Kisch, Klabund (i. e. Alfred Henschke), Tucholsky und AI-

Kampf gegen Zensur

39

40

111. Kontexte

fred Wolfenstein angehörten. Diese Gruppe verstand sich sowohl als Inte­ ressengemeinschaft als auch als geistesrevolutionäre Bewegung, konnte auf­ grund ihrer organisatorischen und programmatischen Unverbindlichkeit aber nur wenig Wirkung entfalten (vgl. Petersen 1981, Kap.

11).

5. Die Intellektuellen Rolle der

Die Demokratisierung des öffentlichen Lebens, der Wegfall der Zensur und

Intellektuellen

der Aufschwung der Massenmedien schufen die Voraussetzung dafür, dass viele Schriftsteller, Journalisten und Wissenschaftler in der Weimarer Re­ publik eine neue gesellschaftliche Rolle einnehmen konnten: die des Intel­ lektuellen, der zu gesellschaftlichen und kulturellen Fragen Stellung nimmt und Interpretationen des geschichtlichen Geschehens liefert (vgl. Kaes

1983, XIXf.). Bereits vor dem Ersten Weltkrieg war vereinzelt die Forderung erhoben worden, die literarische Intelligenz solle gesellschaftliche Verant­ wortung übernehmen, beispielsweise von Heinrich Mann (Geist und Tat, 1911). Und während des Krieges waren viele Schriftsteller und Universitäts­ professoren als (nationalpatriotische) Deuter und geistige Führer hervorge­ treten. Die Erfahrungen von Revolution, Neubeginn und Krise verstärkten diese Politisierung. So entstand in der Weimarer Republik eine umfangrei­ che Literatur von zeitdiagnostischen, (kultur)politischen Reden, Aufrufen und essayistischen Betrachtungen (vgl. die Dokumentationen von Stark

1984, und Reinhardt 1992; vgl. a. Sioterdijk 1995). Das intellektuelle Enga­ gement beschränkte sich dabei keineswegs auf solche Schriftsteller, die an der politischen Gestaltung des neuen Staates oder der Revolution aktiv mit­ wirken wollten - so wie Ernst Toller, Erich Mühsam und Gustav Landauer, die sich im Geist des spätexpressionistischen Aktivismus an der Münchner Räterepublik beteiligten. Wenn die Weimarer Republik ein "Eldorado für In­ tellektuelle" war (Sontheimer

1962, 391), dann in dem Sinne, dass die kri­

senhaft-politisierte Situation Intellektuelle aller politischen und ideologi­ schen Richtungen zu Deutungen und Stellungnahmen herausforderte, wo­ bei die antidemokratischen Republikgegner auf der rechten wie linken Seite in der Mehrzahl waren. Zwischen

1918 und 1933 erschienen über 370 ei­

genständige Publikationen, die das Wort ,Krise' bzw. ,Krisis' bereits im Titel führten (vgl. Föllmer/Graf 2005,

10). Die Rede von der Krise reflektierte da­

bei nicht nur die realen wirtschaftlichen und politischen Krisenprozesse die­ ser Jahre, sondern wirkte als ein eigenständiges und einflussreiches Wahr­ nehmungsmuster, mittels dessen die Erfahrungen der politischen Instabilität, der wirtschaftlichen Unsicherheit und des geistig-kulturellen Wertewandels politisch, weltanschaulich und philosophisch ausgedeutet wurden (vgl. Hardtwig 2007,

12).

Linksbürgerliche

Entschiedene Verteidiger fand die Weimarer Republik in den Reihen der

Intelligenz

linksbürgerlich-liberalen Intellektuellen, die der westlichen Moderne ge­ genüber positiv eingestellt waren. In der Tradition des bürgerlichen Idealis­ mus stehend, erkannten sie ihre Rolle als Schriftsteller im neuen Staat darin, auf Grundlage der demokratischen Verfassung führend an gesellschaftlichen und (kultur)politischen Prozessen mitzuwirken, ohne sich dabei einer Partei unterzuordnen (vgl. Mayer

1981, 22). Die wichtigsten Repräsentanten die-

5. Die Intellektuellen 41

ses demokratischen Geistes in der Weimarer Republik waren Heinrich Mann (Kaiserreich und Republik, 1919) und Alfred Döblin (Republik, 1920). Während Mann schon vor 1914 als Gegner von Krieg und Nationalis­ mus hervorgetreten war, wandte sich Döblin erst während der Revolution nach links. Weitere wichtige linksbürgerlich-pazifistische Autoren waren Arnold Zweig und Lion Feuchtwanger,zeitweise auch Leonhard Frank und Ernst Toller,und vor allem Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky,die in der Weltbühne leidenschaftlich für gesellschaftliche Demokratisierung und ge­

gen Nationalismus und Militarismus stritten. Neben der Weltbühne wurde das von Stefan Großmann und Leopold Schwarzschild herausgegebene Tage-Buch zur wichtigsten Zeitschrift der linksrepublikanischen Intelligenz.

In der krisenhaften Endphase der Weimarer Republik wuchs allerdings auch in dieser Gruppe die Kritik am parlamentarischen System. So wandte sich Döblin (Wissen und Verändern!, 1931) einem utopischen Sozialismus zu. Daneben gab es eine Reihe bürgerlicher Intellektueller,die der Demokra­ tie zwar grundsätzlich skeptisch gegenüberstand, sich angesichts der gege­

,Vernunft­ republikaner'

benen politischen Umstände aber zur Mitarbeit an der Republik bereit fand. Zu dieser von dem Historiker Friedrich Meinecke als ,Vernunftrepublikaner' bezeichneten Gruppe gehörten zumeist auch die wenigen Universitätspro­ fessoren, die den neuen Staat unterstützten (vgl. Ringer 1983, Kap. 4; Gay 1987,44-49). Dazu zählten außer Meinecke vor allem der Kulturphilosoph Ernst Troeltsch sowie die Historiker Hans Delbrück und Wilhelm Momm­ sen,der Romanist Karl Vossler und auch der Soziologe Max Weber,der ne­ ben seinem Bruder Alfred Weber zum wichtigsten Repräsentanten des aka­ demischen Republikanismus wurde. Die Vernunftrepublikaner setzten sich für eine Überwindung der politischen Fronten und für eine Aussöhnung der Parteien mit dem Staat ein. Der Tendenz nach kann auch Thomas Mann zu dieser Gruppe gerechnet werden. War dieser 1918 noch als Vordenker eines neuen Konservatismus hervorgetreten, so wandelte er sich angesichts der Bedrohungen von rechts in den zwanziger Jahren zum prominenten Für­ sprecher der Republik (Von deutscher Republik, 1922; Geist und Wesen der deutschen Republik, 1923; Deutsche Ansprache, 1930),ohne dabei jedoch

seine konservativen Vorbehalte ganz aufzugeben. Viel stärker als das Lager der ,Vernunftrepublikaner' war das weit gefä­ cherte Spektrum konservativer und nationalistischer Intellektueller, die die Demokratie grundsätzlich ablehnten und in einer schier unüberschaubaren Publizistik von der Position eines kulturkritischen Fundamentalismus aus attackierten (vgl. Sontheimer 1962). Theoretisch-philosophische Begrün­ dungen erhielt der Konservatismus der Weimarer Republik vor allem durch Oswald Spenglers spekulative Geschichts- und Weltdeutung Der Untergang des Abendlandes (1918/1922), die eine ungemein starke Wirkung ausübte,

sowie durch die Schriften von Arthur Moeller van den Bruck, Othmar Spann, Carl Schmitt, Ernst Jünger und Edgar Julius Jung. Im Unterschied zum älteren Konservatismus zielte diese - oft schlagwortartig als ,Konserva­ tive Revolution' bezeichnete (vgl. Breuer 1993) - Denkrichtung nicht auf die Restauration traditioneller Institutionen, wie der Monarchie, sondern auf eine Entpolitisierung von Staat und Gesellschaft. Die gesellschaftliche Ordnung sollte der politischen Auseinandersetzung entzogen und irrational fundiert werden (vgl. Bussche 1998,18 f.). Die Verachtung für den liberalen

Konservatismus

42

111. Kontexte

Staat traf zugleich die westliche Moderne, von der man einen spezifisch deutschen Geist mittels Oppositionen wie ,Zivilisation vs. Kultur' oder ,Ge­ sellschaft vs. Gemeinschaft' abzugrenzen versuchte. Programmatischen Ausdruck fand dieser ,unpolitische' Geist in Reden und Schriften von Tho­ mas Mann (Betrachtungen eines Unpolitischen, 1918), Hugo von Hof­ mannsthai (Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation, 1927) und Ernst Robert Curtius (Deutscher Geist in Gefahr, 1932).

IV. Aspekte und Geschichte der Literatur 1.

Ästhetische Tendenzen und Programme

Die meisten literatur- und kulturgeschichtlichen Darstellungen zur Weima-

Postheroische

rer Republik stimmen darin überein, dass sich die literarischen und künstle-

Moderne

rischen Phänomene in dieser Zeit nicht unter dem Paradigma einer dominanten Stiltendenz subsumieren lassen. Werden die Anfangsjahre bis 1923 noch oft als Teil der expressionistischen Stilepoche angesehen, so gilt das gleichzeitige Vorhandensein unterschiedlicher ästhetischer und I iteraturpro­ grammatischer Tendenzen doch als Charakteristikum der ,eigentlichen' zwanziger Jahre, nämlich der Stabi I isierungsphase 1924-1929. Welche Probleme die Einschätzung dieser Zeit einer Betrachtungsweise bietet, die am Paradigma der avantgardistischen Moderne ausgerichtet ist, zeigt Adornos Aufsatz Jene zwanziger Jahre (1962). Gegen eine nostalgische Vergoldung der zwanziger Jahre gerichtet, konstatiert der Ästhetiker darin, dass die "heroischen Zeiten der neuen Kunst" um 1910 gelegen hätten und 1924 bereits "im Verblassen" gewesen seien und Künstler wie Kandinsky, Schönberg und Klee in dieser Zeit ihren "Zenit bereits überschritten" gehabt hätten (Adorno 1977, 499 und 504). Indem Adorno die antimimetische Avantgarde zum Maßstab ästhetischer Modernität erhob, vermochte er die spezifischen Innovationen der zwanziger Jahre nicht oder nur als Rückschritt wahrzunehmen. Denn diese entstanden gerade in Abkehr von den Autonomie- und Abstraktionskonzepten der ,heroischen Moderne', im Zuge des durch Medienkonkurrenz und Politisierung vorangetriebenen Funktionswandels der Kunst (vgl. 111. 2.). Im Unterschied zur frühen Moderne der Jahrhundertwende und der zehner Jahre wurden ästhetische Fragen in den zwanziger Jahren nicht mehr in einem kunstphilosophischen und erkenntniskritischen Horizont, sondern vor allem mit Blick auf die neuen politischen, sozialen, technischen und medialen Produktions- und Rezeptionsbedingungen der Kunst reflektiert. Daher hat die sozialgeschichtlich orientierte Literaturwissenschaft seit den siebziger Jahren gerade die in engem Zusammenhang mit diesem Funktionswandel stehenden literarischen Phänomene als innovative Tendenzen der zwanziger Jahre herausgestellt. Auch wenn die ästhetischen Techniken, die dabei zum Einsatz kamen, zum Teil schon früher entwickelt worden waren, führte deren Anwendung im Zusammenhang mit der ,Funktionskrise der Kunst' in den zwanziger Jahren doch zu neuen künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten, die aus heutiger Sicht die spezifische Modernität dieser Zeit ausmachen. Dazu gehören literarische Gebrauchsformen wie die Reportageliteratur oder das politische Chanson ebenso wie der Montageroman oder das epische Theater, die heute oft als Erscheinungsformen einer ,klassischen', ,gemäßigten' oder ,reflektierten' Moderne beschrieben werden (vgl. Kiesel 2004, 301). Anders als der Expressionismus, der in den Anfangsjahren der Weimarer Republik zwar noch einflussreich, in seiner formalästhetischen Entwicklung

Dadaismus

44 IV. Aspekte und Geschichte der Literatur aber bereits abgeschlossen war und nur im Theater noch zu Neuerungen führte (vgl. IV 3.), gelangte die dadaistische Avantgarde in Deutschland erst nach dem Krieg zum Durchbruch. Allerdings handelte es sich beim Dadais­ mus weniger um eine Stilrichtung als um eine recht heterogene Kunstbewe­ gung, deren gemeinsames Ziel die anarchisch-satirische Destruktion des bürgerlichen Kunstbegriffs war. Ihre Keimzelle und erstes Zentrum bildete das 1916 von Hugo Ball in Zürich gegründete Cabaret Voltaire (Hugo Ball, Emmy Hennings, Tristan T zara, Hans Arp, Richard Huelsenbeck, Walter Serner und andere). In Kombination mit Musik und kabarettistischen Vor­ führungen wurden dort bereits abstrakte Lautgedichte Balls - wie das berühmte Karawane-Gedicht - vorgetragen (vgl. Philipp 1980, 47f. und 187-194). Anfang 1918 entstand dann, initiiert durch Richard Huelsenbeck, in Berlin eine eigene Richtung des Dada (DADA-Berlin), deren Hauptakteu­ re neben Huelsenbeck Raoul Hausmann, Johannes Baader, George Grosz, Walter Mehring und die Brüder Herzfelde waren. Der Berliner Dadaismus, der 1919/20 in der revolutionären Anfangsphase der Republik seinen Höhe­ punkt erreichte, unterschied sich von dem Zürcher vor allem durch seine politisch-aktivistische Ausrichtung. Er entfaltete seine aggressive Wirkung nicht mehr nur im literarischen Kabarett. Vielmehr attackierten seine Prota­ gonisten als eine Art "dadaistische Kunst- und Kultur-Guerilla" die in ihrer Sicht morschen, von der Revolution jedoch unbeschädigt gebliebenen bür­ gerlichen Institutionen Militär, Kirche, Staat und Kunst (Bergius 1989, 9). Dazu dienten spektakulär inszenierte Auftritte (vgl. Korte 2002, 70), radikal satirische Plakate, Parolen, Anzeigen, Zeitungsartikel und Flugblätter sowie verschiedene, aufgrund von Verboten meist recht kurzlebige Zeitschriften mit Titeln wie Oie Pleite, Der Dada oder Der blutige Ernst (vgl. Riha 1977, 169-173). Ästhetisch innovativ war der Berliner Dadaismus vor allem in sei­ ner collage- und montageartigen Verarbeitung von fertigen Materialien wie Zeitungsausschnitten oder Bildreproduktionen und in der Nutzung moder­ ner technischer Reproduktionsverfahren, insbesondere der Fotografie. Mit Fotomontagen und aus Textfragmenten, Bildern und einzelnen Buchstaben zusammengesetzten Collagen destruierten John Heartfield, Grosz und an­ dere nicht nur die Idee von der Originalität des künstlerischen Werkes, son­ dern entwickelten zugleich neue Ausdrucksformen. Durch die Dadaisten wurde die zuerst in der bildenden Kunst entwickelte Collagetechnik auch erstmals auf die Literatur übertragen (vgl. Kemper 1974, 206). Die Prin­ zipien von Simultaneität und Multiperspektivität sollten auch in der Dich­ tung realisiert werden. So forderte das Dadaistische Manifest von 1918 das "bruitistische", "simultanistische" und "statische Gedicht" (zit. n. Riha 1977, 24). Grosz, Huelsenbeck und Mehring versuchten dies in ihren mon­ tageartigen Berlin-Chansons zu realisieren. Hausmann und Huelsenbeck experimentierten dagegen mit dem abstrakten Lautgedicht bzw. phoneti­ schen Gedicht. Ebenso wie der Maler und Lyriker Kurt Schwitters, der in Hannover als Ein-Mann-Gruppe eine eigenständige Variante des Dada be­ gründete und vor allem als Auftrittskünstler bekannt wurde (vgl. IV 2.). Die­ se künstlerisch-experimentelle Linie des Dadaismus lebte in den zwanziger Jahren in den Bühnenexperimenten des Bauhauses sowie den Happenings und Aufführungen von Schwitters MERZ-Bewegung fort (vgl. IV 3.). Die ak­ tivistisch-politische Tendenz des Berliner Dadaismus ging dagegen im Pro-

1.

Ästhetische Tendenzen und Programme 4S

letkult auf, dem sich unter anderen die Brüder Herzfelde, Grosz, Mehring und Franz Jung zuwandten (vgl. 111.4.). Im Unterschied zum Expressionismus und Dadaismus lässt sich der Begriff Neue Sachlichkeit weder auf einen künstlerischen Stil noch auf eine Künstlerbewegung festlegen. Bekannt wurde er zuerst durch die von Gustav F. Hartlaub (ab 1923 konzipierte) Ausstellung ,Neue Sachlichkeit'. Deut-

sche Malerei seit dem Expressionismus, die 1925 zuerst in der Städtischen Kunsthalle Mannheim und danach in mehreren anderen deutschen Städten gezeigt wurde (vgl. Buderer 1994, 11-14). Sie präsentierte Bilder von 32 Künstlern - unter anderen Max Beckmann, Otto Dix, George Grosz, Karl Hubbuch, Carlo Mense, Georg Scholz und Georg Schrimpf -, die sich nach den Abstraktionstendenzen des Expressionismus, Kubismus, Futurismus und Konstruktivismus wieder einer gegenständlichen und figurativen Darstellung zugewandt hatten. Alternativ wurden für diese Tendenz der Gegenwartsmalerei in der Kunstkritik der zwanziger Jahre auch Begriffe wie ,Exemplarischer Realismus', ,Neonaturalismus' oder ,Magischer Realismus' verwendet, wobei entweder veristische oder klassizistische Aspekte stärker akzentuiert wurden (vgl. Schmied 1969, 8 f.). Die Funktion, eine neue, ge­ genständlich-nüchterne Stilrichtung gegenüber dem expressionistischen Pathos und Subjektivismus abzugrenzen, erfüllte der Begriff Neue Sachlichkeit auch in einigen literaturkritischen Aufsätzen der zwanziger Jahren (vgl. Becker 2000, I, 38 f. und 43 f.), ohne dabei aber auf eine bestimmte Bewegung oder ein bestimmtes P rogramm zu referieren. Anders als bei den diversen Ismen der Avantgarde - wie dem Expressionismus, Futurismus oder Surrealismus - gibt es keine ästhetischen Manifeste einer Neuen Sachlichkeit. Eine literarästhetische Bestimmung der Neuen Sachlichkeit ist aber auch deshalb problematisch, weil die Ausdrücke ,Sachlichkeit' und ,Neue Sachlichkeit' und die entsprechenden Adjektive in den zwanziger Jahren schnell popularisiert und zur Bezeichnung von ,sachlichen' Tendenzen in allen Lebensbereichen verwendet wurden. Hierbei lassen sich grob eine ideologische, eine soziokulturelle und eine ästhetische Semantik unterscheiden: Als Sachlichkeit bezeichnete man erstens eine zweckrationale, dezidiert antisentimentale Denk- und Verhaltensweise, in der man einen Reflex der sozialen, ökonomischen und technischen Modernisierung erkannte. Diese sachliche Mentalität oder Ideologie wurde in der Literatur der zwanziger Jahre vielfach (zumeist auf satirische Weise) thematisiert: beispielsweise in Georg Kaisers Komödie Nebeneinander (UA 1923), Carl Sternheims Lustspiel Oie

Schule von Uznach oder Neue Sachlichkeit (UA 1926), Irmgard Keuns Angestelltenroman Cilgi - eine von uns (1931) oder - in Gestalt des Technikkults - in Bertolt Brechts parodistischem Gedicht 700 (siebenhundert) Intel-

lektuelle beten einen Öltank an (1929). Zweitens wurde der Begriff mit dem Amerikanismus bzw. der modernen Massenkultur der zwanziger Jahre verbunden (vgl. 111. 2.), in der man die Übertragung ökonomischer Zweckrationalität auf den Bereich der Kultur erkannte (vgl. die Dokumente in Kaes 1983, 265-286). Und drittens fand der Begriff in literaturkritischen und -programmatischen Kontexten Verwendung, vor allem im Rahmen der Diskussion über die Reportage als neue Literaturform (vgl. die Dokumente in Kaes 1983, 319-345, und Becker 2000, 11). Hier bezeichnete er den Trend zu dokumentarischer Authentizität und allgemein eine Schreibweise, die

Neue Sachlichkeit

46 IV. Aspekte und Geschichte der Literatur sich im Gestus nüchtern-exakter Beschreibung und durch den Verzicht auf Psychologie und Wertung dem Tatsachenbericht annähert (vgl. IV.4.). Da­ her haben auch spätere literatur- und kulturgeschichtliche Darstellungen insbesondere die Reportage, den Reportageroman und verwandte Genres faktualen Erzählens, wie die Biographie oder das Sachbuch, als literarische Phänomene der Neuen Sachlichkeit benannt. Ästhetische und ideologische Aspekte sind im Diskurs über die Neue Sachlichkeit allerdings eng ver­ knüpft. So deuteten marxistische Kritiker wie Siegfried Kracauer, Walter Benjamin oder Ernst Bloch die ,fotografische' Darstellungsweise der Repor­ tageliteratur schon in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren als ästhe­ tische Entsprechung der neusachlichen Ideologie, die die bestehenden, ka­ pitalistischen Gesellschaftsverhältnisse nur verkläre. Montage

Wenn es darum geht, die für die zwanziger Jahre spezifische literarästhetische Innovation zu erfassen, dann bietet sich dafür vor allem der Begriff der Montage an, den Ernst Bloch (Erbschaft dieser Zeit, 1935) bereits Mitte der dreißiger Jahre als ästhetische Epochensignatur verwendete. Sein Vorteil liegt darin, dass er - anders als der polyvalente Begriff der Neuen Sachlich­ keit - eine künstlerische Verfahrensweise bezeichnet und zugleich die Dif­ ferenz zu herkömmlichen realistischen bzw. naturalistischen Darstellungs­ weisen markiert. Denn die Tendenz zu gegenständlicher Darstellung und die Forderung nach Realitäts- und Gegenwartsorientierung in Kunst und Li­ teratur waren ja im Grunde nichts Neues. Innovativ war vielmehr das radi­ kal antimimetische Verfahren der Montage, mit dem eine Reihe von Künst­ lern und Schriftstellern die Forderung nach einer funktionalen Kunst ästhe­ tisch zu realisieren versuchte. Kennzeichnend für die Montage ist, dass ver­ schiedene Materialien - Wörter, Texte, Bilder, T öne, Stimmen, Figuren etc. auf technisch-konstruktive Weise zusammenfügt werden. Die Montageäs­ thetik negiert Vorstellungen von organischer Ganzheit, Geschlossenheit und Originalität und gehört damit in den Kontext der avantgardistischen und

nachavantgardistischen

Problematisierungen

des

herkömmlichen

Kunstbegriffs. Sie wurde zuerst in der Collage-Kunst der Dadaisten erprobt und im Film beispielhaft von den russischen Filmpionieren Sergej Eisenstein und Dsiga Wertow (Der Mann mit der Kamera, 1929) angewendet. In der Weimarer Republik kamen Montageverfahren in vielen Bereichen künstle­ risch-literarischer Produktion zum Einsatz. Zum einen in visuellen Medien: als Foto- bzw. Foto-Text-Montage, etwa in der Plakatkunst John Heartfields (vgl. Siepmann 1977), oder als filmische Montage, wie im sogenannten Querschnitt- oder Reportagefilm. Das bekannteste deutsche Beispiel für die filmische Montage ist Walter Ruttmanns Berlin - Oie Sinfonie der Großstadt (1927), der dokumentarische Aufnahmen mit Musik nach rhythmischen Prinzipien zu einer "visuellen Symphonie" montiert (Kracauer 1984, 195). Als forminnovatives Prinzip wurde die Montage zum anderen aber auch in Theater und Literatur angewandt: in den Kabarett-Chansons Walter Meh­ rings ebenso wie in den Schlager- und Reklametexte zitierenden Gedichten Gottfried Benns (vgl. IV2.); im dokumentarischen Theater Erwin Piscators ebenso wie im epischen Theater Brechts, das auf der Idee der Unabhängig­ keit von Text, Bild, Musik und Spiel basierte (vgl. IV3.); und im Roman, wie in der polyphonen Text- und Stimmenmontage von Döblins Berlin Alexan­ derplatz aus dem Jahr 1929 (vgl. V4.).

1.

Ästhetische Tendenzen und Programme 47

Im Rahmen der Debatten über Gebrauchskunst und dokumentarische Literatur wurde die Montagetechnik ab dem Ende der zwanziger Jahre unter ästhetischen und politischen Gesichtspunkten reflektiert. Linksintellektuelle Autoren wie Siegfried Kracauer, Bertolt Brecht, Walter Benjamin und Ernst Bloch werteten die experimentelle Montage im Rahmen ihrer kritischen Auseinandersetzung mit dem neusachlichen Tatsachenfetischismus auf. Dies geschah insbesondere im Zusammenhang mit der Kritik an der Reportageliteratur, die im Verdacht stand, durch quasi fotografische Reproduktion des Sichtbaren die Erkenntnis sozial-ökonomischer Strukturen zu verhindern. So berief sich Egon Erwin Kisch 1930 auf die filmische Montagetechnik Dsiga Wertows, um zu begründen, dass die Reportage trotz ihrer faktographischen Ausrichtung über ein kritisches Potential verfüge (vgl. Siegel 1973, 113 f.). Kracauer bewertete die Montage ambivalent. Als rein formales Mittel, wie im Unterhaltungs- oder Reportagefilm, war sie in seinen Augen ohne Erkenntnisfunktion (vgl. Kracauer, Film 1928). In seiner soziologischen Reportage Oie Angestellten (1930) bekannte er sich jedoch zum konstruktiven Verfahren des "Mosaik[s]", das eine Erkenntnis der Wirklichkeit ermögliche, während die herkömmliche Reportage das Leben nur "photographier[e]" (Kracauer 2004ff., 1, 222). Durch die kritische Montage sollte die Wirklichkeit nicht mimetisch abgebildet, sondern konstruiert werden. Darüber hinaus erkannte man in der Trennung und Aneinanderfügung der Elemente ein Mittel zur Überwindung des dramatischen Formtypus des herkömmlichen Dramas und des bürgerlichen Romans, in dem alle Teile in einem geschlossenen Handlungs- und Spannungsaufbau organisch miteinander verbunden sind. So stellte Brecht (Anmerkungen zur Oper "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny", 1930) das Prinzip der ,Montage' im epischen Theater dem des ,Wachstums' im dramatischen Theater entgegen. Im gleichen Sinne deutete Benjamin (Krisis des Romans, 1930) die Montage in Döblins Großstadtroman als formales Mittel, das dem Roman "neue, sehr epische Möglichkeiten" eröffne (Benjamin 1972/89, 3, 232). Und in seinem (bereits im Exil verfassten) Vortrag Der Autor als Produzent (1934) analysierte er die Montage im epischen Theater als ein Verfahren, das das "dramatische Gesamtkunstwerk" durch das "dramatische Laboratorium" ersetzte und das Geschehen auf der Bühne als "veränderlich" vorstelle (Benjamin 1972/89, 2/2, 698). Die experimentelle Montageästhetik wurde in diesen Stellungnahmen nicht nur der ,fotografischen' Abbildung der Neuen Sachlichkeit entgegengesetzt, sondern zugleich auch dem Prinzip künstlerischrealistischer ,Gestaltung', das ästhetisch konservative kommunistische Kritiker wie Georg Lukacs in dieser Zeit als literaturprogrammatische Leitlinie durchzusetzen versuchten. Zu den neuen literarischen und programmatischen Tendenzen in der Weimarer Republik gehörte die proletarisch-revolutionäre Literatur. In pole­ mischer Abgrenzung zur traditionellen Arbeiterliteratur bezeichnete dieser Begriff nicht eine von Arbeitern verfasste Literatur, sondern das - von Linksintellektuellen entworfene - Konzept einer klassenspezifischen Kampfliteratur, die man durch den revolutionären Standpunkt und nicht durch die soziale Herkunft der Autoren definierte (vgl. Fähnders 1977, 11 f.; Safranski! Fähnders 1995, 174). Erste Ansätze dazu lassen sich bereits in den Proletkult-Tendenzen der revolutionären Anfangszeit der Republik ausmachen

Montagereflexion

Proletarischrevolutionäre Literatur

48 IV. Aspekte und Geschichte der Literatur (vgl. 111.4.). Etwa in der sogenannten Kunstlump-Debatte von 1919, in der John Heartfield, George Grosz und andere die Idee tendenzloser und auto­ nomer Kunst für überholt erklärten und die Arbeiter dazu aufriefen, eine ei­ gene, proletarische Kultur zu schaffen. Diese sollte sich nicht mehr an bür­ gerlichen Normen und Werten orientieren. Sie sollte nicht individualistisch und moralisch, sondern kollektivistisch und technisch sein und als Waffe im Kampf gegen die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft dienen (vgl. die Do­ kumente in Kaes 1983, 456-459). Anfang der zwanziger Jahre konzentrierte sich diese (damals noch nicht parteigebundene) literaturpolitische Richtung um den Malik-Verlag, in dem auch die ,Rote Roman Serie' mit Erzählungen von Franz Jung, Oskar Maria Graf, Anna Meyenberg und anderen erschien. Die Hochzeit der proletarisch-revolutionären Literatur lag jedoch zwischen 1927 und 1932, als sie von der KPD gezielt als Mittel parteipolitischer Pro­ paganda eingesetzt wurde und mit dem im Oktober 1928 gegründeten und von Johannes R. Becher geleiteten Bund proletarisch-revolutionärer Schrift­ steller (BPRS) eine organisatorische Basis erhielt. In dieser Zeit wurden eige­ ne Vertriebswege und Publikationsmöglichkeiten für eine spezifisch proleta­ rische Literatur geschaffen. Arbeiter wurden im Rahmen der Arbeiterkorres­ pondentenbewegung zum Schreiben animiert. Außerdem wurde die Ent­ wicklung einer proletarischen Trivialliteratur, der ,rote Massenroman' geför­ dert (vgl. IV.4.), entsprechend der auf der 2. Konferenz der Internationalen Vereinigung revolutionärer Schriftsteller (lVRS) im Oktober 1930 in Char­ kow von Johannes R. Becher vorgetragenen Forderung, revolutionäre Mas­ senliteratur als Mittel politischen Kampfes einzusetzen, Literaturpol itische

Am Konzept einer proletarisch-revolutionären Literatur entzündeten sich

Kontroversen

am Ende der zwanziger Jahre grundsätzliche politisch-ästhetische Debatten innerhalb des linken Lagers. Diese kreisten um die Fragen nach der Partei­ lichkeit des Schriftstellers und nach der Ästhetik der ,proletarischen' Litera­ tur. Literaturgeschichtliche Bedeutung erlangte zum einen die Kontroverse "Über die Rolle des Schriftstellers in dieser Zeit" in der linksgerichteten Zeitschrift Oie Neue Bücherschau im Sommer 1929. Eine positive Bespre­ chung der Prosa Gottfried Benns durch Max Herrmann-Neiße führte hier zum Konflikt zwischen dem Herausgeber Gerhart Pohl, Herrmann-Neiße und Benn auf der einen Seite, die für eine parteiunabhängige Position des Schriftstellers eintraten, und den kommunistischen Redaktionsmitgliedern Johannes R. Becher und Egon Erwin Kisch auf der anderen Seite, die eine operationale proletarisch-revolutionäre Literatur forderten (vgl. Siegel 1973, 106-111). Der Austritt Bechers und Kischs zog dann den Untergang der Zeitschrift und die Gründung der Linkskurve (1929-32) als eigenem Organ des BPRS nach sich. Zum anderen kam es innerhalb der KPD und des BPRS zu einem Grundsatzstreit darüber, ob es sich bei proletarisch-revolutionärer Literatur um eine vom Klassenstandpunkt aus geschriebene Literatur hande­ le oder ob es darum gehe, die Arbeiter selbst zu literarischen Produzenten zu machen (vgl. Friedrich 1981, 93 f.). Dieser für die Entwicklung der marxis­ tischen Ästhetik folgenreiche Konflikt beherrschte ab Mitte 1930 die litera­ turtheoretischen und kulturpolitischen Debatten in der Linkskurve, nach­ dem dort zu Beginn noch die polemische Kritik an den linksbürgerlichen, ,freischwebenden' Intellektuellen wie Döblin oder Tucholsky im Vorder­ grund gestanden hatte (vgl. Gallas 1971, 46-69). Das kulturrevolutionäre

1.

Ästhetische Tendenzen und Programme 49

Konzept einer experimentellen proletarischen Massenliteratur, das die linke, ,proletarische' Fraktion um Brecht und Ernst Ottwalt vertrat, stieß dabei auf die scharfe Kritik der Fraktion um Becher, Georg Lukacs und Karl August Wittfogel, die die traditionellen bürgerlichen Kunstformen nicht zerstören, sondern beerben wollten. Letztere Position formulierte Lukacs programma­

(Willi Bredels Romane, 1931) und am Reportage- und Dokumentarroman Ernst Ottwalts (Tendenz oder Parteilichkeit?, 1932; Reportage oder Gestaltung?, 1932), denen er mangelnde künstlerische Gestaltung vorwarf (vgl. IV. 4.). tisch in seiner Kritik am proletarischen Massenroman Willi Bredels

Lukacs verpflichtete die sozialistische Literatur auf die Tradition des Realis­ mus des

19. Jahrhunderts und wurde damit zu einem Mitbegründer der lite­

raturpolitischen Doktrin des Sozialistischen Realismus.

2. Entwicklungen der Lyrik In literaturgeschichtlichen Darstellungen zur Weimarer Republik wird die Lyrik zumeist nur am Rande behandelt. Dies liegt weniger an einem Rückgang der lyrischen Produktion als daran, dass diese Gattung in den zwanziger Jahren nicht im Fokus des öffentlichen Interesses stand. Publikum und Literaturkritik schenkten ihr nur geringe Aufmerksamkeit, und nicht wenigen erschien sie als eine antiquierte Kunst (vgl. Korte

1995, 622). Hinzu

kommt das heterogene Erscheinungsbild der nachexpressionistischen Lyrik. Mit der aktivistischen Revolutionslyrik von Autoren wie Johannes R. Becher, Walter Hasenclever, Kurt Heynicke, Rudolf Leonhard, Ludwig Rubiner oder Franz Werfe I erlebte der lyrische Expressionismus zu Beginn der Weimarer Republik noch einmal eine späte Blüte. In literaturgeschichtlicher Sicht markiert die Publikation von Kurt Pinthus' repräsentativer Anthologie expressionistischer Lyrik

Menschheitsdämmerung (1920) aber bereits das Ende der 2001, 444). Zwar erschienen

expressionistischen Epoche (vgl. Bayerdörfer

auch danach noch expressionistische Gedichtbände, doch verlor der Expressionismus als Stilparadigma schnell an Bedeutung. Einige Expressionisten verstummten. Andere wandten sich einer politischen, aber ästhetisch traditionellen Lyrik zu, wie Becher, oder sie entwickelten eine neue lyrische Formensprache, wie Gottfried Benn. Bereits um

1920 erschienen erste Nek-

rologe auf den lyrischen Expressionismus (vgl. die Dokumente in Raabe

1987, 173-186). Und um 1923 wurde sein idealistisches Menschheitspathos schon allgemein als nicht mehr zeitgemäß angesehen. Im Zusammenhang mit dem Funktionswandel der Kunst und der Konkurrenz von technischen Medien und moderner Unterhaltungsindustrie geriet in den zwanziger Jahren darüber hinaus der tradierte - mit Autonomie und Innerlichkeit konnotierte - Begriff der Lyrik selbst in die Krise. So konstatierte der Kritiker Walther Kiaulehn

1930 ironisch, "der Verkehr [ . . ] und die neue Sachlich1983, 451). Im .

keit" hätten "der Lyrik den Todesstoß" gegeben (zit. n. Kaes

gleichen Tenor argumentierten die Autoren, die in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre - in polemischer Zurückweisung des bildungsbürgerlichen Dichtungsverständnisses - eine neue ,Gebrauchslyrik' einforderten. Die Wendung zu einer funktionalen Gebrauchslyrik stellte jedoch nur eine Reaktion auf die Krise der reinen Kunst in den zwanziger Jahren dar und ist

Ende des Expressionismus

50 IV. Aspekte und Geschichte der Literatur nicht repräsentativ für die Entwicklung der nachexpressionistischen Lyrik insgesamt. Charakteristisch für diese ist vielmehr das breite Spektrum unter­ schiedlicher Strömungen. Dieses reicht von den dadaistischen Experimen­ ten über das politische Chanson und die Gebrauchslyrik bis zu dezidiert an­ timodernen Bemühungen um die Restitution traditionell gebundener For­ men durch konservative Autoren wie Rudolf Borchardt, Rudolf Alexander Schröder oder Reinhold Schneider (vgl. Korte 1995, 621-628). Experimentelle Lyrik

Den radikalsten Bruch mit der Tradition lyrischer Rede vollzogen in den Anfangsjahren der Weimarer Republik die dem Dadaismus zuzurechnen­ den Künstler, die eine abstrakte Lyrik zu schaffen versuchten. Am Anfang dieser Entwicklung stand das - an die ,Wortkunst' August Stramms und des Sturm-Kreises anknüpfende - L autgedicht, bei dem die konventionellen Be­ deutungen durch eine Verabsolutierung des phonetischen Materials aufge­ löst wurden. Es wurde zuerst im Zürcher Dadaismus von Hugo Ball und in der Folge vor allem von Raoul Hausmann, Rudolf Blümner und Richard Huelsenbeck entwickelt. Durch die Kombination von akustischen und vi­ suellen Elementen schuf Hausmann dann eine neue opto-phonetische Lyrik: Buchstaben- und Plakatgedichte, in denen die Schrift durch Anordnung und typographische Gestaltung die akustische Realisierung im Vortrag, Lautstär­ ke, Akzentuierung und Aussprache bestimmte (vgl. Korte 2002, 80-82). In dieselbe Richtung gingen auch die lyrischen Experimente von Kurt Schwit­ ters (Anna Blume, 1919). Seinem Programm der ,konsequenten Dichtung' nach galt nicht das Wort, sondern der Buchstabe als das ursprüngliche Ma­ terial der Dichtung und als Grundlage für klangliche Realisationen im Vor­ trag (Ur-Sonate, 1922/32). Wie Hausmann erweiterte Schwitters die dadais­ tische L autdichtung Anfang der zwanziger Jahre durch die Verwendung op­ tischer Elemente zu einer typographisch-visuellen Poesie, in der Buchstaben und typographische Zeichen als eine Art Partitur, als Klang-, Betonungs-, Tempo- und Pausenzeichen, verwendet wurden. Indem er sich zunehmend an der graphischen Materialität der Sprache orientierte, Worte in einzelne Buchstaben auflöste und diese unter graphischen Gesichtspunkten anordne­ te, vollzog er schließlich den Übergang von der Lyrik zur Graphik bzw. zur Visuellen Poesie (vgl. Lamping 1989, 198f.). Ein weiterer wichtiger Vertreter experimenteller Poesie in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre war der aus dem Elsass stammende Yvan GolI, der sowohl auf Deutsch als auch auf Französisch schrieb. Goll verfasste am Ende des Ersten Weltkriegs zunächst hymnische Gedichte im expressionistischen Stil. Nach seiner Übersiedlung nach Paris Ende 1919 entwickelte er dann aber unter dem Einfluss Guillaume Apollinaires und der kubistischen Malerei eine avantgardistische Lyrik, die mit formaler Dekomposition und Collagetechnik arbeitete. Der wichtigste Text aus dieser Phase ist sein apokalyptisches Großstadt-Gedicht Paris brennt (1921), in dem er Zeitungsüberschriften, Zitate aus zeitgenössischer Dichtung, Verse in verschiedenen Stilen und Ansichtskarten von Paris mon­ tageartig zusammenfügte. Auch Goll bemühte sich um eine Visualisierung des Gedichts, etwa durch die typographische Hervorhebung einzelner Wör­ ter. Ebenso wie die französischen Surrealisten, denen er nahe stand, war er durch das neue Medium Film fasziniert. Er schrieb mehrere (nicht realisier­ te) Filmszenarien und projektierte das ,Kinodram' als ein neues, abstraktes Gesamtkunstwerk. Ähnlichkeiten mit dem Surrealismus zeigen auch seine

2. Entwicklungen der Lyrik

um 1920 entstandenen satirischen Dramen Oie Unsterblichen, Der Unge­ storbene und Methusalem oder Der ewige Bürger (UA 1927), die haupt­

sächlich aus grotesker Situationskomik und absurden Dialogen bestehen. Während die Avantgardisten die Idee der Kunstautonomie lustvoll des­ truierten und die Feui Iletons den Tod der Lyrik verkündeten, manifestierte

Spätwerke von Rilke und George

sich die kunstmetaphysische Tradition der modernen Lyrik der Jahrhundert­ wende in den Spätwerken von Rainer Maria Rilke (Duineser Elegien, 1923; Sonette an Orpheus, 1923) und Stefan George (Das neue Reich, 1928) noch

einmal auf eindrucksvolle Weise. Bei beiden Autoren verband sich ein em­ phatisches Dichtungsverständnis mit einer radikalen Opposition gegen den Zeitgeist. Die schwer verständliche Gedankenlyrik von Rilkes (zwischen

1912 und 1922 entstandenen) Duineser Elegien ist getragen von der Trauer um die untergegangene alteuropäische Kulturwelt. Im Duktus gleichnishaf­ ten und mythischen Sprechens verfasst, zielen die Gedichte nicht auf Beleh­ rung und Verstehen, sondern - in der Tradition der symbolistischen Lyrik Mallarmes und Valerys - auf eine sich in transsubjektivem Erleben vollzie­ hende Verwandlung des L esers (vgl. Engel 1986, 221-223). Die 1922 ent­ standenen Sonette an Orpheus knüpfen mit ihrer Poetik der ,orphischen Ver­ wandlung' daran an, sind aber formal radikaler und noch hermetischer. Sinnliche Bilder werden hier durch eine unzugängliche Begriffsmetaphorik ersetzt. Trotz oder gerade wegen ihrer Hermetik übten die Gedichte des

1926 verstorbenen Lyrikers eine große Wirkung aus. Ähnliches gilt für Geor­ ge, der, vermittelt über den George-Kreis und durch die Neuauflagen seiner älteren Werke eine starke Ausstrahlung auf Teile der akademischen Jugend in der Weimarer Republik hatte. In Das neue Reich, der letzten von ihm selbst zusammengestellten Gedichtsammlung, inszenierte der Dichter sich selbst in der Rolle eines geistigen Führers. Sich teils hymnischer, teils lied­ hafter Formen oder Sprüche bedienend entwarf er darin eine von mytholo­ gischem Synkretismus geprägte Prophetie, die auf die Überwindung der Ge­ genwart zielte. Von seinen Anhängern wurden diese Gedichte als Zeitdeu­ tung, Verhaltensanleitung und als heilsgeschichtliche Verheißung rezipiert (vgl. Fügen 1974, 349). In Kreisen der sogenannten Konservativen Revolu­ tion gewannen Georges lyrische Gegenwartskritik und seine fundamentalis­ tische Opposition gegen den Zeitgeist auch eine politische Dimension (vgl. Breuer 1995). Im Zuge der Medienkonkurrenz, der veränderten Rezeptionsweisen und der Bemühungen um eine angewandte Kunst entwickelte sich in der Wei­ marer Republik ein breites Formenspektrum von Vortragslyrik. Eine wichtige Rolle spielte dabei das literarische Kabarett, das in den Inflations-Jahren nach dem Ersten Weltkrieg eine wahre Blütezeit erlebte. Neugründungen wie das ,Schall und Rauch' oder die ,Wilde Bühne' in Berlin knüpften an die Tradition der Brettl-Bewegung der Jahrhundertwende an. Mit der stärker politischen Ausrichtung des Kabaretts der zwanziger Jahre wurden die für das ältere Kabarett typischen Formen des Couplets und der Ballade jedoch zunehmend durch das moderne Chanson verdrängt (vgl. Riha 1979, 120). Während Joachim Ringelnatz mit seinen satirischen Turngedichten (1920) und den moritatenartigen L iedern des Seemanns Kuttel Daddeldu (1920) die Tradition des literarischen Kabaretts fortführte, prägte der vom Dadais­ mus kommende Walter Mehring (Das politische Cabaret, 1920; Das Ketzer-

Couplet, Chanson und Song

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52 IV. Aspekte und Geschichte der Literatur brevier, 1921) das politische Chanson, in dem Themen wie Militarismus, Justiz oder das Berliner Großstadtleben auf weniger humoristische als sati­ risch-zeitkritische Weise behandelt wurden. Durch die Kombination bal­ ladesker Formen mit Songelementen und Jazzrhythmen erfand er zudem den neuen Typus der Song-Ballade bzw. des Balladensongs,der dann von Brecht aufgegriffen wurde (vgl. Riha 1979,127). Ebenso bemühte sich Kurt Tucholsky (Fromme Gesänge, 1919) um eine zeitgemäße Erneuerung des Couplets. Mit seinen pointierten und doppeldeutigen L iedern,die er für be­ kannte Diseusen wie Gussy Holl,Rosa Valetti,Kate Kühl,Trude Hesterberg und Claire Waldoff schrieb, wurde er neben Mehring zum wichtigsten Chansondichter der Weimarer Republik. Sehr beliebt waren auch die in der Tradition von Ringelnatz und Tucholsky stehenden Chansons und Spottge­ dichte Klabunds (Die Harfenjule, 1927). Das intellektuelle literarische Ka­ barett der Inflationsjahre geriet ab Mitte der zwanziger Jahre durch die Kon­ kurrenz der kommerzielleren Revuen in die Krise (vgl. L areau 1995,184f.). In den industriellen Ausstattungsrevuen,die in Berlin ein Massenpublikum anlockten,wurden Tanz- und Spielszenen mit populären Schlagern kombi­ niert (vgl. 111. 2.). L iterarisch und musikalisch anspruchsvoller waren die Ka­ barett-Revuen,die das Revueprinzip in den intimeren Rahmen des Kabarett übertrugen und einen mehr satirischen und zeitkritischen Charakter hatten (vgl. Rösler 1980, 175-187; Jelavich 1993, 165 f.). Besonders erfolgreich waren die am Berliner Kurfürstendamm gespielten Kabarett-Revuen von Ru­ dolf Nelson,für den unter anderen Kurt Tucholsky, Marcellus Schiffer und Friedrich Hollaender Chansons schrieben. Eine neuartige, nicht mehr an das Kabarett gebundene Song-Lyrik verwendete Brecht in seiner Theaterar­ beit,etwa in der Dreigroschenoper (1928),deren von Kurt WeiII komponier­ te Songs schnell die Popularität von Schlagern erreichten. Aber auch in nicht für den Vortrag geschriebener Lyrik von Mehring,Klabund oder Brecht wurden Formen wie Song, Ballade und Bänkelsang auf oft parodistische Weise aufgegriffen (vgl. Bayerdörfer 1974,451; vgl. a. V. 1.). ,Gebrauchslyrik'

Die Verwendung von Chanson und Song resultierte aus dem verbreiteten Interesse an einer leicht rezipierbaren,medienkompatiblen und funktiona­ len Lyrik. Darüber wurde in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre auch programmatisch reflektiert. So forderte Yvan Goll 1926 in der Literarischen Welt, dass die Lyrik sich "von allem Pathos, aller Rhetorik" befreien und sich - ebenso wie die Reklame - der Instrumente der Zeit bedienen müsse, um den modernen Menschen in seinem hektischen Alltag zu erreichen (zit. n. Kaes 1983,440). Wenig später erschien in dieser Zeitschrift Brechts be­ rühmt gewordener Kurzer Bericht über 400 (vierhundert) junge Lyriker (1927). Darin begründete er seine provozierende Entscheidung,keines der im Rahmen des Lyrikwettbewerbs der Zeitschrift eingesandten Gedichte auszuzeichnen und den Preis statt dessen Hannes Küpper für sein einem Radrennfahrer gewidmetes Gedicht He! He! The lron Man! zuzusprechen. Und zwar deshalb,weil dieses "ziemlich einfach,unter Umständen sing­ bar" war,eine "interessierende Sache" behandelte,von "einen gewissen do­ kumentarischen Wert" war und damit den "Gebrauchswert" aufwies,den er von Lyrik einforderte (Brecht 1988/2000,21,191f.). Polemische Stellung­ nahmen wie diese dienten in erster L inie der Abgrenzung gegenüber einem herkömmlichen, emphatischen Dichtungs- und Dichterverständnis. Zu-

2. Entwicklungen der Lyrik

gleich rechtfertigten sie eine zeitbezogene, mit einfachen Formen operie­ rende Lyrik, die die Form dem kommunikativen Zweck unterordnete und keinen Kunstanspruch erhob. Tucholsky prägte dafür 1928 mit Blick auf die politische Lyrik Oskar Kanehls die Bezeichnung "Gebrauchslyrik" (Tuchols­ ky 1996ff., 10, 193). Man konnte den Begriff aber auch auf Tucholskys eigene politische Gelegenheitsgedichte beziehen, die er vor allem in der Weltbühne - und 1928-1930 auch in Münzenbergs Arbeiter-Illustrierten­ Zeitung - publizierte und von denen einige in das von ihm zusammen mit John Heartfield gestaltete satirische ,Bilderbuch' Deutschland, Deutschland über alles (1929) übernommen wurden. Insbesondere hat man den Begriff Gebrauchslyrik aber auf die Gedichte Erich Kästners bezogen, die ebenfalls zuerst in Zeitungen und Zeitschriften - wie dem Tage-Buch, der Weltbühne oder dem Querschnitt - und dann auch in vier sehr erfolgreichen Büchern (Herz auf Taille, 1928; Lärm im Spiegel, 1929; Ein Mann gibt Auskunft, 1930; Gesang zwischen Stühlen, 1932) erschienen. Kästner griff den Begriff ,Gebrauchslyrik' 1929 selbst auf, verband mit ihm aber eine eher therapeu­ tische Zweckbestimmung: Verse sollten "seelisch verwendbar" sein (Kästner 1998, 1, 88). Kästners Gedichte haben durchaus einen gesellschaftskriti­ schen Zug, etwa wenn sie Deutschtümelei und Militarismus aufs Korn neh­ men. Größtenteils thematisieren sie jedoch auf desillusionierende Weise­ oft in Form des Rollengedichts - die Gefühlslage der kleinen L eute im soziokulturellen Modernisierungsprozess der zwanziger Jahre: die Existenz­ ängste der Angestellten, die Versachlichung der L iebesbeziehungen oder die neuesten Modetrends. Typisch für sie sind der einfach-sachliche Sprach­ duktus und die zwischen sanfter Ironie und Sarkasmus changierende Tonla­ ge. Walter Benjamin (Linke Melancholie, 1931) kritisierte Kästners ironi­ sche Haltung 1931 aus marxistischer Sicht als Ausdruck eines pol itisches Handeln ausschließenden kulturkritischen "Nihilismus" und stellte der linksbürgerlichen Gebrauchslyrik dabei die politische Lyrik Brechts positiv gegenüber (Benjamin 1972/89, 3, 282). Auch die Lyrik Brechts entwickelte sich unabhängig von der Konvention der modernen deutschen Lyrik, aus dem Rückgriff auf traditionelle liedhafte ,Gebrauchsformen'. Brecht begann mit anarchisch-antibürgerlichen Balla­ den in der Tradition von Fran