Die Wissenschaft der Außenseiter: Die Krise der Nationalökonomie in der Weimarer Republik 9783666360251, 9783525360255, 9783647360256


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German Pages [364] Year 2011

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Die Wissenschaft der Außenseiter: Die Krise der Nationalökonomie in der Weimarer Republik
 9783666360251, 9783525360255, 9783647360256

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© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525360255 — ISBN E-Book: 9783647360256

Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft

Herausgegeben von Helmut Berding, Dieter Gosewinkel, Jürgen Kocka, Paul Nolte, Hans-Peter Ullmann, Hans-Ulrich Wehler Band 198

Vandenhoeck & Ruprecht © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525360255 — ISBN E-Book: 9783647360256

Roman Köster

Die Wissenschaft der Außenseiter Die Krise der Nationalökonomie in der Weimarer Republik

Vandenhoeck & Ruprecht © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525360255 — ISBN E-Book: 9783647360256

Mit 2 Grafiken und 1 Tabelle

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-36025-5 ISBN 978-3-647-36025-6 (E-Book) Umschlagabbildung: Handelshochschule Köln © Bilderbuch Köln, abracus GmbH, Köln (Foto 7749) Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Oakville, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: textformart, Göttingen Druck und Bindung: w Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1. Die Jüngere Historische Schule und ihr Ende . . . . . . . . . . . . . . . 31 1.1 Die Jüngere Historische Schule der Nationalökonomie . . . . . . . 32 1.2 Die Infragestellung der Historischen Schule vor dem Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 1.2.1 Die Renaissance der Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 1.2.2 Kapitalismusdebatte und Werturteilsstreit . . . . . . . . . . 47 1.3 Das Ende der Jüngeren Historischen Schule . . . . . . . . . . . . . 51 2. Institutionelle Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 2.1 Nationalökonomie und Kriegswirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . 62 2.2 Die Nationalökonomie als Universitätsfach in der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 2.2.1 Der Aufschwung der Nationalökonomie nach dem Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 2.2.2 Die Einführung des Diplomexamens . . . . . . . . . . . . . . 72 2.2.3 Das Ende des Aufschwungs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 2.3 Wirtschaftpraxis, Wirtschaftspolitik und Nationalökonomie in der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . 78 2.3.1 Das spannungsreiche Verhältnis zwischen Nationalökonomie und Wirtschaftspraxis . . . . . . . . . . . 78 2.3.2 Nationalökonomie und Wirtschaftspolitik . . . . . . . . . . 82 3. Versuche zur Neubegründung der Nationalökonomie nach dem Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 3.1 Die Suche nach dem neuen System: Hoffnungen und Ansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 3.1.1 Die fehlende Synthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 3.1.2 Versuche zur Neubegründung der Nationalökonomie seit der Jahrhundertwende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 3.1.3 Erklärungsansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 3.2 Cassel, Liefmann und die Neubegründung der ökonomischen Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 5 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525360255 — ISBN E-Book: 9783647360256

3.2.1 Gustav Cassel und die deutsche Nationalökonomie . . . . . 101 3.2.2 Robert Liefmanns Grundsätze der Volkswirtschaftslehre . . 106 3.2.3 Die Rezeption Cassels und Liefmanns in Deutschland . . . . 110 3.3 Paradigmenverlust auf Dauer? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 4. Methodendiskussionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 4.1 Grundlegungen der ökonomischen Theorie . . . . . . . . . . . . . 123 4.1.1 Begründungversuche der ökonomischen Theorie vor dem Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 4.1.2 Der Gegensatz von reiner und sozialer Theorie in der Methodendiskussion der Weimarer Republik . . . . . 128 4.1.3 Konsequenzen des Gegensatzes von reiner und sozialer Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 4.2 Wege zu einer »anschaulichen« oder »verstehenden« Theorie . . . 142 4.2.1 Anschauliche und verstehende Theorie . . . . . . . . . . . . 144 4.2.2 Methodologie jenseits der ökonomischen Theorie? . . . . . . 151 4.3 Die Methodendebatte als Krisen-Multiplikator . . . . . . . . . . . . 154 4.3.1 Epistemologische Klärungsarbeit als Grundlage für die Systembildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 4.3.2 Mögliche Auswege: Die Rettung in den Pragmatismus? . . . . . . . . . . . . . . . 161 4.3.3 Methodendebatte und Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 5. Soziologische Nationalökonomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 5.1 Zum Verhältnis von Soziologie und Nationalökonomie in den 1920er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 5.1.1 Die gemeinsame Fragestellung von Soziologie und Nationalökonomie . . . . . . . . . . . . . . . 170 5.1.2 Das Auseinandertreten von Gesellschaftsund Wirtschaftsbeschreibung als Forschungsund Theorieproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 5.1.3 Die wechselseitige Irritation von Soziologie und Nationalökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 5.2 Othmar Spanns romantischer Universalismus . . . . . . . . . . . . 180 5.2.1 Othmar Spann als Nationalökonom und Soziologe in der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 5.2.2 Der romantischen Universalismus und seine Wirtschaftslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 5.2.3 Die ontologische Dimension von Spanns Universalismus und seine Konsequenzen . . . . . . . 189 5.3 Friedrich von Gottl-Ottlilienfeld: »Wirtschaft als Leben« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 6 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525360255 — ISBN E-Book: 9783647360256

5.3.1 Der Theoretiker des Fordismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 5.3.2 Die wirtschaftliche Dimension und die Gestaltung der Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 5.3.3 Das Seinsrichtige in der Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . 199 5.4 Exkurs: Sprache und Charakter der »Begriffsnationalökonomen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 5.5 Franz Oppenheimer: Ökonomische Klassik und Monopoltheorie . . . . . . . . . . . . . . 206 5.5.1 Der Theoretiker des »Dritten Weges« . . . . . . . . . . . . . 206 5.5.2 Reine und politische Ökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 5.5.3 Bodensperre und liberaler Sozialismus . . . . . . . . . . . . . 212 5.6 Gesellschaftliche Realität und natürliche Ordnung . . . . . . . . . 214 6. Aufstieg und Scheitern der Konjunkturtheorie . . . . . . . . . . . . . . 221 6.1 Der Aufschwung der Konjunkturtheorie in den 1920er Jahren . . 222 6.1.1 Eine junge Generation von Theoretikern . . . . . . . . . . . 222 6.1.2 Der Bedeutungsgewinn der Konjunkturtheorie seit Mitte der 1920er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 6.2 Das »Theoriedesign« der Konjunkturtheorie bis zur Weltwirtschaftskrise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 6.2.1 Die Entwicklung der Konjunkturtheorie aus der Krisentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 6.2.2 Methodologische Probleme der Konjunkturtheorie . . . . . 241 6.2.3 Die theoretische Form der Konjunkturtheorie Ende der 1920er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 6.3 Das »Scheitern« der Konjunkturtheorie in der Weltwirtschaftskrise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 6.3.1 Die Herausforderung der Weltwirtschaftskrise . . . . . . . . 258 6.3.2 Die Reaktionen der Konjunkturtheorie auf die Krise . . . . 260 6.3.3 Die Weltwirtschaftskrise als Prozess »fundamentalen Lernens«? . . . . . . . . . . . . . 265 7. Kartelle, Monopole und die Zukunft des Kapitalismus . . . . . . . . . 269 7.1 Grundlinien der nationalökonomischen Debatte um Kartelle und Monopole bis zur Weltwirtschaftskrise . . . . . . 270 7.1.1 Die Kartelldiskussion vor dem Ersten Weltkrieg . . . . . . . 270 7.1.2 Die Kartelldebatte während der 1920er Jahre . . . . . . . . . 273 7.2 Kartelle, Trusts und Rationalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 7.2.1 Rationalisierung und Größenwachstum der Unternehmen . 282 7.2.2 Kartelle und Trusts als Schrittmacher oder Bremser der Rationalisierung? . . . . . . . . . . . . . . . 286 7.2.3 Die Fixkostenfalle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 7 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525360255 — ISBN E-Book: 9783647360256

7.3 Die Weltwirtschaftskrise und die »Wandlungen des Kapitalismus« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 7.3.1 Strukturelle und konjunkturelle Ursachen der Weltwirtschaftskrise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 7.3.2 Die Wandlungen des Kapitalismus: Planwirtschaft, starker Staat oder »dritter Weg«? . . . . . . . . . . . . . . . . 295 7.3.3 Die Diskussion um Kartelle und Monopole und die Krise der Nationalökonomie . . . . . . . . . . . . . . 303 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357

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Dank Die vorliegende Arbeit ist die gekürzte Fassung meiner 2008 an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt/M. eingereichten Dissertation. Besonders danken möchte ich meinem Doktorvater, Prof. Dr. Werner Plumpe, der eine freundliche und intellektuell anregende Arbeitsatmosphäre schuf und mit dem ich zahlreiche Fragestellungen intensiv diskutieren konnte. Prof. Dr. Dres. h. c. Bertram Schefold und Prof. Dr. Andreas Fahrmeir bin ich für die Übernahme des Zweit- und Drittgutachtens sowie für weiterführende Hinweise und Hilfestellungen dankbar. Die Fritz Thyssen Stiftung hat das Projekt über dreieinhalb Jahre großzügig gefördert und auch die Drucklegung der Arbeit finanziell unterstützt. Dafür bedanke ich mich sehr. Genauso bedanke ich mich bei den Heraus­gebern der »Kritischen Studien zur Geschichtswissenschaft« für die Aufnahme der vorliegenden Arbeit in die Reihe und für die freundliche Betreuung beim Verlag. Der Frankfurter Universität danke ich dafür, dass sie meiner Arbeit den Preis des Hilmar-Kopper-Stiftungsfonds zuerkannt hat. Prof. Dr. Stephan Lindner schlussendlich danke ich dafür, dass er mich ein Trimester von der Lehre befreite, um das Manuskript für den Druck fertig zu machen. Am Frankfurter Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte hatte ich nicht nur äußerst nette Kollegen, sondern konnte auch fachliche Probleme ausführlich diskutieren. Das gilt besonders für die kleine dogmengeschichtliche »Arbeitsgruppe« mit Korinna Schönhärl und Jan-Otmar Hesse. Es war ein Glücksfall, kompetente Kollegen zu haben, die an verwandten Themen arbeiteten und die einen darauf hinwiesen, wenn man offensichtlichen Unsinn verzapfte. Insofern ist es nicht zu viel gesagt, dass diese Arbeit in einem idealen Arbeitsumfeld (wozu natürlich auch die Stalburg gehörte) verfasst wurde. Meinen beiden studentischen Hilfskräften in dieser Zeit, Margit Garbrecht und Esther Ries, danke ich ebenfalls für ihr Engagement und ihre Mühen, genauso wie den Mitarbeitern der benutzten Archive und Bibliotheken. Susanne Rühle hat den Entstehungsprozess dieser Arbeit intensiv begleitet und das Manuskript sorgfältig gelesen und kommentiert. Ansonsten legten meine Freunde zwar mitunter einen etwas befremdeten Gesichtsausdruck an den Tag, wenn ich ihnen von meinen »Spinnern« erzählte, ohne ihre Gesellschaft und ihr Zureden hätte ich diese Arbeit jedoch nicht schreiben können. Meine Familie hat mich meine gesamte akademische Laufbahn hindurch immer unterstützt und noch viel mehr als das. Widmen möchte ich diese Arbeit meinem Vater, Peter Köster. Er hat ihre Antragsphase noch erlebt und dass sie jetzt zu einem glücklichen Abschluss gekommen ist, hätte ihn gefreut, mehr aber noch erleichtert. München im Frühjahr 2011 

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Einleitung Im Jahr 1919 veröffentlichte der Frankfurter Wirtschaftswissenschaftler Franz Oppenheimer eine längere Rezension zweier Neuerscheinungen, die er mit Die Krisis der theoretischen Nationalökonomie betitelte. Sie begann mit der Feststellung: »Die wissenschaftliche Nationalökonomie ist todkrank – schon vor Jahren hat man mit Recht davon gesprochen, dass sie sich in einer Krise befindet, und die Ärzte sind fleißig am Werk, ihr aufzuhelfen. Wir erleben nach langer Stagnation seit etwa einem Jahrzehnt geradezu eine Hochflut theoretischer Bemühungen, und nicht bloß um die Lösung einzelner Teilprobleme, sondern, und das ist grundsätzlich richtig, um die Aufstellung des ganzen Systems. Denn nur im System kann eine Wissenschaft sich selber finden.«1 Auf die Ausarbeitung eines solchen Systems wartete die akademische Nationalökonomie nach dem Ende des Ersten Weltkrieges sehnsüchtig. Bereits vor dem Krieg hatte sich bei vielen Nationalökonomen die Meinung durchgesetzt, dass die empirische Forschungsarbeit der Jüngeren Historischen Schule, die bis dahin die deutsche Nationalökonomie dominiert hatte, zwar viel Material, richtige und kluge Beobachtungen geliefert hatte, dass sich aber zugleich das Fehlen eines allgemeinen theoretischen Rahmens, in den diese Beobachtungen eingeordnet werden konnten, immer stärker bemerkbar machte. Edgar Jaffé, einer der Herausgeber des Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, war etwa der Meinung, Joseph Schumpeter habe mit seinen Arbeiten Wesen und Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie (1908) sowie der Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung (1912), den zwei brillanten Frühwerken des öster­ reichischen Ökonomen, zwar eine Synthese der bisherigen theoretischen Erkenntnisse geliefert. Doch nach wie vor fehle das neue System, eine allseitig befriedigende Theorie der verkehrswirtschaftlichen Vorgänge.2 Ähnlich äußerte sich 1921 der Heidelberger Ökonom Edgar Salin, der in einem langen Aufsatz die Theorien von Schumpeter, Robert Liefmann, Franz Oppenheimer und anderen als Bausteine eines solchen Systems besprach, das aber erst noch zu schaffen sei und der Wirtschaftswissenschaft einen neuen Weg weisen werde.3 Genau das versprachen die zwei von Oppenheimer besprochenen Arbeiten, Robert Liefmanns Grundsätze der Volkswirtschaftslehre und Karl Diehls Einlei­ tung in die Nationalökonomie, zu leisten. Vor allem Liefmanns, insgesamt über 1.500 Seiten starkes Werk erhob den Anspruch, eine vollständig neue Grund­ legung der Nationalökonomie, sowohl ihrer theoretischen Fundierung als auch 1 Oppenheimer, Krisis der theoretischen Nationalökonomie, S. 475. 2 Jaffé, System, S. 2. 3 Salin, volkswirtschaftliche Theorie, S. 87–117.

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der Erklärung der verkehrswirtschaftlichen Vorgänge, geleistet zu haben. Nach Liefmanns Meinung waren viele spezielle Erscheinungen des Wirtschaftslebens bereits richtig beobachtet worden, aber die Erklärung der letzten, allgemeinsten Grundlagen bislang nicht gelungen: »Es fehlt die Einreihung richtiger Erkenntnisse in ein System, die systematische Entwicklung der Erscheinungen aus den Grundbegriffen der Wirtschaftstheorie.«4 Dieses versuchte Liefmann nun aufbauend auf von ihm als allgemein postulierten psychologischen Grundlagen des menschlichen Wirtschaftens zu entwickeln. Oppenheimers Urteil fiel jedoch vernichtend aus. Insbesondere der Versuch, die Wirtschaftstheorie konsequent von realen Güterrelationen abzulösen und zu psychologisieren, zog sich Oppenheimers ätzende Kritik zu. Dementsprechend, lautete sein Fazit, befinde sich die Nationalökonomie nach wie vor in einer Krise, aus der ein Ausweg, trotz mancher ermutigender Ansätze, bislang noch nicht zu erkennen sei. Knapp zehn Jahre nach diesen, nach Ansicht der meisten National­ökonomen gescheiterten Erneuerungsversuchen urteilte der Leiter des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, Bernhard Harms, in seiner Schlussrede auf der Pyrmonter Reparationskonferenz von 1928 ganz ähnlich5: Unzweifelhaft befinde sich die Nationalökonomie in einer tiefen Krise, deren Merkmale er in dem gestörten Verhältnis von Theorie und Praxis und der schroffen Frontstellung der verschiedenen Richtungen in der Disziplin sah. Harms hatte jedoch die Hoffnung auf eine Synthese noch nicht verloren. Gebilde- und Gefügetheoretiker müssten endlich einen gemeinsamen Nenner finden.6 Jedoch würden sich die »Gebilde«Theoretiker, mutmaßte Harms, wohl mit negativer Kritik im Kreise Gleichgesinnter begnügen und sich nicht zu einem konstruktiven Austausch bereitfinden. »Im übrigen ist es in der Tat bedauerlich, dass in einer Zeit, die theoretische Erkenntnis zur Erfüllung großer Aufgaben so bitter nötig hat, die Vertreter der Sozialökonomik den Kampf um die ›richtige Theorie‹ austragen und so den Eindruck erwecken, als ob sie, solange der Streit unentschieden ist, der Praxis überhaupt nichts zu bieten hätten.«7 Zu diesen zwei Krisendiagnosen ließen sich viele weitere hinzufügen: die National­ökonomie in der Krise zu sehen, war, wie Hans Kretschmar 1930 urteilte, nicht viel mehr als eine Trivialität.8 Allerdings wurde, was Oppenheimer und Harms unterscheidet, diese Krise mit ihrer Fortdauer zunehmend nicht allein als Problem der Theoriebildung verstanden: Nicht nur die theoretische Synthese fehlte, sondern allem Anschein nach auch der Wille der Beteiligten, jenseits weltanschaulicher Grunddispositionen den Blick auf das Verbindende und 4 Liefmann, Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, Bd. 1, S. 4. 5 Zu dieser Konferenz vgl. Janssen, Nationalökonomie, S. 20 ff. 6 Mit Gebildetheoretikern bezeichnete Harms die, welche die Wirtschaft als ein organisches Ganzes auffassten, während die Gefügetheoretiker die Wirtschaft als einen Mechanismus kausaler Wechselbeziehungen betrachteten. 7 Harms, Ergebnis, S. 281. 8 Kretschmar, S. 1.

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Gemeinsame zu lenken.9 Die Synthese, welche nach dem Ersten Weltkrieg gefordert wurde, kam nicht zustande. Vielmehr machte die Nationalökonomie auch auf außenstehende Betrachter den Eindruck einer in sich zerstrittenen Wissenschaft, deren eine Richtung genauso ideologisch argumentierte wie die andere. Die »chronische Krise«10 (Schumpeter 1927) der Nationalökonomie verhinderte allem Anschein nach die Ausbildung eines stabilen Paradigmas, das den vielen Außenseitern ihren Platz genommen hätte. Äußerungen zu Sach­fragen hatten häufig einen Stich ins Metaphysische und rekurrierten auf das große Ganze, ohne damit zur Lösung der Probleme substantiell etwas beizutragen. Mit dem Befund, dass sich die akademische Nationalökonomie während der Weimarer Republik in einer Krise befand, ließe sich zunächst relativ gelassen umgehen, läge über dieser Zeit nicht der Schatten der Inflation und Weltwirtschaftskrise.11 So allerdings hätte sich das Fach einen ungünstigeren Zeitpunkt für seine Krise kaum aussuchen können. Gerade in einer Zeit, in der Politik und Wirtschaftspraxis kompetente volkswirtschaftliche Expertise bitter nötig gehabt hätten, war die Nationalökonomie in erster Linie mit sich selbst beschäftigt. Sie trug Richtungskämpfe aus, stritt um ihre theoretischen Grundlagen und diskutierte Fragen der Wirtschaftsordnung, während die Währung vollständig außer Kontrolle geriet und die Volkswirtschaft nach einer kurzen Phase relativer Stabilisierung seit dem Herbst 1929 von der gravierendsten Krise der modernen Wirtschaftsgeschichte erschüttert wurde. Das kann zumal aus dem Grund unverständlich erscheinen, weil es aus Sicht der heutigen Volkswirtschaftslehre geradezu auf der Hand lag, wie die Nationalökonomie ihre Krise hätte überwinden können: Sie hätte sich konsequent hin zur ökonomischen Theorie orientieren und dabei insbesondere die Ergebnisse der angelsächsischen Forschung rezipieren müssen. Dass sie das offensichtlich nicht tat, hatte schwerwiegende Konsequenzen, denn so stand sie den wirtschaftlichen Problemen weitgehend ratlos gegenüber. An harten Urteilen hat es darum sowohl unter den Zeitgenossen wie in der dogmenhistorischen Forschung nicht gemangelt. Praxisferne wurde der Nationalökonomie ebenso bescheinigt, wie ein geringes theoretisches Niveau12 und ein zu langsamer Ablösungsprozess von der Jüngeren Historischen Schule, die bis zum Ersten Weltkrieg die deutsche Nationalökonomie dominierte.13 Besonders betont wurde ihr Versagen gegenüber Ursachen und Therapiemöglichkeiten der Weltwirtschaftskrise, die mit ihren unabsehbaren wirtschaftlichen, sozialen und politischen Folgewirkungen dazu beitrug, dass die Nationalsozialisten ab 1933 das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte aufschlagen konnten. 9 Schumpeter, Deutschland, S. 1–30, 9 ff. 10 Ebd., S. 17. 11 Vgl. Föllmer u. a., Einleitung. 12 Krohn, Wirtschaftstheorien, S. 20. 13 Indes wird diesen Wissenschaftlern selten nähere Aufmerksamkeit geschenkt. Ausnahmen sind: Pribram, Geschichte. Krause u. Rudolph, S. 312–424.

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So plausibel diese Kritik auf den ersten Blick erscheint, erzeugt sie dennoch beim Betrachter ein gewisses Unbehagen. Dieses Unbehagen rührt daher, dass solche Vorwürfe beim heutigen Stand des Wissens und beim aktuellen fach­ lichen Zuschnitt der Volkswirtschaftslehre leicht zu formulieren sind, für sich genommen aber noch nichts erklären. Vielmehr legen sie den Gebrauch sim­ plifizierender Argumentationsmuster nahe, die der historischen Situation des Faches in der Weimarer Republik nicht gerecht werden. Wer eine Schuldzuweisung trifft, identifiziert damit zugleich jemanden, der Schuld hat. Dementsprechend wird der schlechte Zustand des Faches häufig auf persönliche Schwächen der Protagonisten zurückgeführt, ihre Befangenheit in bestimmten Ideologien etwa oder die mangelnde Einsicht in den Erklärungswert der ökonomischen Theorie. Hin und wieder ist gar zu lesen, die Fachvertreter hätten selbstgefällig ihre weltfremden Theorien ausgesponnen. Dabei war genau das Gegenteil der Fall: Die Nationalökonomie thematisierte ihre Krise ständig und kommunizierte damit die Einsicht in ihre prekäre Lage und die Unsicherheit über ihre Erkenntnismöglichkeiten ganz offen. Sie erkannte, dass sie ein Problem hatte, war aber offensichtlich nicht in der Lage, sich selbst zu helfen. Dieser im Grunde eigenartige Befund zeigt bereits, dass die Frage nach der Erscheinungsweise und den Ursachen der Krise des Faches komplexer ist, als es manches pauschale Urteil in der Literatur nahe legt. Bei den Vorwürfen gegen die Nationalökonomie wird vor allem häufig vergessen, dass Wissenschaften einem historischen Wandel unterliegen, der sich nicht darin erschöpft, dass ein bestimmter Stand der Erkenntnis durch neues Wissen ergänzt, infrage gestellt und auf diese Weise nach und nach erweitert wird (im Sinne kumulativer Fortschrittstheorien etwa). Vielmehr verändern sich die Problemstellungen, Theorien und Methoden, mit denen sich eine Wissenschaft beschäftigt und derer sie sich bedient. Sie reagiert dabei auf gesellschaftliche Wandlungsprozesse, und das mutmaßlich umso stärker, wie sie diese selbst zum Thema macht. Die meisten Vertreter der heutigen Volkswirtschaftslehre würden das für ihre Disziplin jedoch vermutlich ausschließen. Das Fach beansprucht einen universalen Kern des Ökonomischen theoretisch zu beschreiben, dessen Gestalt nicht davon abhänge, welche Entwicklungsstufe des Kapitalismus gerade erreicht sei, ob ein frühneuzeitliches Zunftwesen oder eine moderne Volkswirtschaft beschrieben wird. Dieses Selbstverständnis ist jedoch erst das Resultat eines Veränderungsprozesses, der in der Wissenschaftsgeschichte seinesgleichen suchen dürfte. Bis noch weit in die 1950er Jahre hinein verstand sich das Fach als eine Geistes- oder Sozialwissenschaft, welche die Wirtschaft als eine gesellschaftliche Ordnung auffasste, die historisch entstanden war und in der Menschen mit ihren Wertvorstellungen, sozialen Hintergründen und Klasseninteressen interagierten. Die Nationalökonomie beherbergte von der Bevölkerungslehre bis hin zur Wirtschaftsgeschichte noch ein viel breiteres Spektrum an Fachrichtungen, die im Zuge einer fortschreitenden disziplinären Ausdifferenzierung nach und nach aus dem Fach verschwanden oder an den Rand gedrängt 14 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525360255 — ISBN E-Book: 9783647360256

wurden.14 Heute sieht sich die Volkswirtschaftslehre als eine Naturwissenschaft, die sich mit der Wirtschaft als autonomem Funktionssystem beschäftigt. Der neoklassische Mainstream abstrahiert von der gesellschaftlichen Einbettung der Wirtschaft oder erklärt diese als für deren Verständnis irrelevant. Dass die Volkswirtschaftslehre einen extrem hohen Grad an Formalisierung und Mathematisierung erreicht hat, unterstreicht nur, dass das Fach einen stabilen paradigmatischen Kern besitzt, der durch gesellschaftliche Wandlungs­ prozesse kaum noch irritierbar scheint. An dieser Stelle wird jedoch davon ausgegangen, dass es für ein Verständnis der Krise der Nationalökonomie in der Weimarer Republik wenig hilfreich ist, sie von heutigen Kriterien ausgehend zu beschreiben und zu beurteilen, inwieweit sie mit ihren Theorien den genannten universalen Kern des Ökonomischen erfasste. Vielmehr ist der skizzierte Veränderungsprozess in Rechnung zu stellen, wenn eine adäquate Antwort auf die Frage gegeben werden soll, warum das Fach nach dem Ersten Weltkrieg in eine Krise geriet, wie diese Krise sich äußerte und warum sie während der gesamten Zeit der Weimarer Republik nicht überwunden werden konnte. Die vorliegende Darstellung beabsichtigt dementsprechend weder die Klärung von Schuldfragen noch eine Ehrenrettung. Vielmehr versteht sie sich als eine disziplingeschichtliche Untersuchung, welche die Ursachen für die durchgehende Selbstbeschreibung (oder Selbst­inszenierung) des Faches als »in der Krise« herausfinden möchte. Das Ziel besteht darin, die Krise der Nationalökonomie historisch zu rekonstruieren, indem ihre Selbstbeschreibungen und Problemstellungen, ihre Theorien und Methoden in einem breiten geschichtlichen Kontext betrachtet werden. Es gilt zu untersuchen, wie das Fach mit dem Ende der Jüngeren Historischen Schule umging, aus welchem Grund es nicht gelang, die vormals dominierende Richtung durch ein neues Paradigma zu ersetzen, warum sich stattdessen eine Vielzahl verschiedener Schulen und Richtungen ausbilden und behaupten konnte. Die Untersuchung möchte weiter nachvollziehen, wie sich das Verhältnis des Faches zu anderen Teilsystemen der Gesellschaft, insbesondere zu Wirtschaft und Politik, veränderte. Schließlich geht es darum, wie die Disziplin auf die wirtschaftlichen Problemlagen und die gesellschaftlich-kulturellen Entwicklungen in der Weimarer Republik reagierte und welche Rolle diese für die Krise des Faches spielten. Ohne eine solche Kontextualisierung muss eine adäquate Erklärung der Krise verfehlt werden und die Krankheits­ geschichte des »Patienten« Nationalökonomie ein Rätsel bleiben. Den Wandlungsprozess der Nationalökonomie in Rechnung zu stellen, heißt zunächst, dass das Fach aufgrund seiner breiteren Problemstellungen die zeit­ genössischen Entwicklungen in Wirtschaft, Politik, Kultur und Wissenschaft sehr viel intensiver reflektierte, als das heute der Fall ist. Das bedeutete zugleich, dass sie stärker durch diese irritierbar war, d. h. ihnen in ihren Theorien und Methoden Rechnung tragen musste. Diese Entwicklungen traten in 14 Vgl. Hesse, Wirtschaft. Für den Fall der Wirtschaftsgeschichte s. Plumpe, Moden.

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einer krisenhaften Verdichtung auf, deren Dimension heute mitunter erst wieder in Erinnerung gerufen werden muss. Revolution, politische Unruhen, Versailler Vertrag und Ruhrkrise, die Hyperinflation, die »Zwischenkrise« 1925/26 und schließlich die Weltwirtschaftskrise seit 1929 ließen die Gesellschaft nicht zur Ruhe kommen. Sie schufen einen steten Problemdruck, der auch auf der Nationalökonomie lastete. Darum wird zu untersuchen sein, wie das Fach auf die mit dem Ersten Weltkrieg und der Weimarer Republik einhergehenden Veränderungen reagierte, in welcher Form es die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umwälzungen verarbeitete und inwiefern ihre Theorieangebote Lösungsvorschläge für zeitbedingte Problemlagen darstellten. Der Wandlungsprozess der Volkswirtschaftslehre spielt für die vorliegende Arbeit aber auch aus einem anderen Grund eine Rolle. Die Umstellung der Problemstellungen und Methoden ging langfristig mit einem Funktionswandel des Faches einher. Die Aufgabe der heutigen Volkswirtschaftslehre besteht hauptsächlich darin, bestimmte Leistungen für Wirtschaft und Politik zu erbringen und im Universitätsbetrieb fähige Praktiker auszubilden. Dieser Anspruch an das akademische Fach Nationalökonomie verstärkte sich seit der Zeit um 1900 signifikant, erkennbar etwa an den seit dieser Zeit vermehrt geäußerten Vorwürfen ihrer Praxisferne oder der Gründung von Handelshochschulen. Er geriet jedoch mit einem traditionellen Selbstverständnis der Wissenschaft in Konflikt, das Praxisorientierung mit der Herabwürdigung der Wissenschaft zu einer »Kunstlehre« identifizierte. Während der Weimarer Republik stellte sich das Fach nach und nach auf die geforderte Praxisorientierung ein, ohne dass sich ein, diesem Anspruch korrespondierendes, »technisches« Selbstverständnis bereits voll durchsetzte. Die Anspruchshaltung an die Disziplin soll ebenfalls in dieser Arbeit berücksichtigt werden, wobei davon auszugehen ist, dass die Leistungsverflechtung der Nationalökonomie mit anderen gesellschaft­lichen Funktionssystemen gravierende Konsequenzen für die Theorieentwicklung hatte und die Formalisierung und paradigmatische Verengung des Faches langfristig entscheidend beförderte. Der Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit ist die deutschsprachige akademische Nationalökonomie der Jahre von 1918 bis 1933. Die Abgrenzung erfolgt anhand eines institutionellen Kriteriums, d. h. es werden alle Wissenschaftler einbezogen, die einen volkswirtschaftlichen Lehrstuhl innehatten oder an einem solchen beschäftigt waren. Diese Eingrenzung kann gleichzeitig als zu eng und zu weit erscheinen: zu eng deswegen, weil so beispielsweise der Beitrag von Praktikern und Wirtschaftsjournalisten durch das Raster fällt. Bei einer Ausweitung des Untersuchungsgegenstandes auch auf diese Personengruppen wäre das Thema dieser Arbeit jedoch kaum noch zu bewältigen gewesen. Durch die Gegenstandsbestimmung soll außerdem nicht ausgeschlossen werden, dass an diversen Stellen auf ihre Beiträge dennoch zurückgegriffen wird. Zu weit könnte die Gegenstandsbestimmung indes erscheinen, weil damals viele Wissenschaftler volkswirtschaftliche Lehrstühle besetzten, die gegenwärtig kaum noch als Ökonomen angesehen würden. Doch gerade am 16 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525360255 — ISBN E-Book: 9783647360256

heutigen Verständnis, wer ein Ökonom ist und wer nicht, möchte die Unter­ suchung sich nicht orientieren. Wenn sich die Nationalökonomie in dieser Zeit als »in der Krise« beschrieb und diese Krise vor allem an der Vielzahl unterschiedlicher Schulen und theoretischer Positionen festmachte, dann ist eine Arbeit, die sich mit ihr beschäftigt, dazu gezwungen, der Komplexität des Untersuchungsgegenstandes gerecht zu werden und das Fach in der gesamten Breite der Debatten zu berücksichtigen. Eine Einteilung in verschiedene Schulen und Richtungen muss dabei äußerst behutsam erfolgen. Schon die ökonomische Theorie war in sich gespalten: Einflussreich war beispielsweise die »neoliberale«15 Theorie des Schweden Gustav Cassel, der im Kontrast zur österreichischen Schule auf eine Wertlehre ganz verzichtete und sich stattdessen auf Preisrelationen bezog.16 Viele deutsche Theoretiker orientierten sich in ihren Arbeiten an der ökonomischen Klassik oder sie versuchten, die Werke der Klassiker veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen anzupassen. Ludwig Mises, Friedrich Hayek und andere Österreicher entwickelten den neoklassischen Grenznutzenansatz weiter. Da­neben vertrat der Freiburger Nationalökonom Robert Liefmann seinen äußerst kontrovers diskutierten theoretischen Ansatz, der auf der radikalen Psychologisierung ökonomischer Kategorien beruhte. Zahlreiche sozialistische Theoretiker versuchten die ökonomischen Prozesse mittels marxistischer Begriffsschemata zu erklären oder sie kombinierten marxistische Interpretationsmuster mit marginalistischer ökonomischer Theorie. Neben der ökonomischen Theorie im heutigen Verständnis wuchs sich jedoch auch die Neuromantik Othmar Spanns zu einer nicht zu vernachlässigenden Strömung innerhalb des Faches aus, genauso wie die Gebildelehre Friedrich von Gottl-Ottlilienfelds, die Organisationslehre Johann Plenges und die in den 1920er Jahren von Karl Diehl und Albert Hesse repräsentierte sozialrechtliche Schule. Die Aufzählung ließe sich problemlos fortsetzen. Die institutionelle Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes führt dazu, dass sich die Fachgeschichte der Nationalökonomie mit der einer Disziplin überschneidet, die in der Weimarer Republik institutionell überhaupt erst in Ansätzen existierte, nämlich der Soziologie.17 Othmar Spann beispielsweise wird heutzutage meistens als Soziologe behandelt, hatte jedoch in Wien, genauso wie Werner Sombart in Berlin, einen traditionsreichen nationalökonomischen Lehrstuhl inne. Johann Plenge verstand sich zwar seit dem Ersten Weltkrieg zunehmend als Soziologe, besetzte an der Universität Münster jedoch einen Lehrstuhl für »Staatswissenschaften und Volkswirtschaftslehre«. Sicher gibt es Grenzfälle wie z. B. Franz Oppenheimer, der auf einem 1919 eingerichteten Lehrstuhl für Soziologie saß, dessen genaue Bezeichnung allerdings Lehrstuhl für »Soziologie und theoretische Nationalökonomie« lautete. Diese 15 Vgl. Honegger, Gedankenströmungen, S. 11. 16 Cassel, Theoretische Sozialökonomie. 17 S. Nolte, Ordnung, S. 127 ff.

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Wissen­schaftler aus einer historischen Betrachtung des Faches Nationalökonomie in der Weimarer Republik auszugrenzen, erscheint nicht zulässig: allein weil auf diese Weise die Breite des Fokus nationalökonomischer Themenstellungen und die fachliche Nähe von Soziologie und Nationalökonomie in dieser Zeit unterschlagen wird. Für letztere war es ein zentrales Problem, die Wirtschaft in ihrer Bedingtheit und Wechselwirkung mit gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen zu betrachten. Das sollte sich erst mit der zunehmenden Ausdifferenzierung der beiden Fächer ändern, die institutionell jedoch nicht vor dem Ende der 1950er Jahre zu einem vorläufigen Abschluss kam. Der Pluralismus der Nationalökonomie war ein wesentliches Moment ihrer Krise. Zugleich bringt es dieser Pluralismus mit sich, dass Kategorien wie »Einfluss«, »Bedeutung« etc. mit Vorsicht zu handhaben sind: Wurde es als »Krise« beschrieben, dass ein dominantes Paradigma der Disziplin fehlte, dann lassen sich Spann, Liefmann, Gottl-Ottlilienfeld und andere, wie das heute mitunter geschieht, nicht ohne weiteres als »randständig« einstufen. Denn die Situation des Faches wirft die Frage auf, am Rand wovon sie gestanden haben sollen, wenn die Disziplin ein echtes Zentrum nicht besaß. Der Pluralismus des Faches spiegelte sich auch in den Fachzeitschriften wider: Wären die genannten Wissenschaftler damals schon nach heutigen Kriterien beurteilt worden, würde man ihnen kaum auf Schritt und Tritt in den nationalökonomischen Periodika begegnen, dann hätten sie kaum große Verlage für ihre Werke gewinnen können, und in der Diskussion wäre kaum so häufig auf sie Bezug genommen worden. Ihre Arbeiten in eine Krisengeschichte der Nationalökonomie mit einzu­ beziehen, hat folglich nichts damit zu tun, den Unterschied zwischen damaliger Nationalökonomie und heutiger Volkswirtschaftslehre besonders betonen zu wollen. Vielmehr spielten sie, wie noch zu zeigen ist, für die Entwicklung des Faches in der damaligen Zeit eine besondere Rolle, und das ist der Gesichtspunkt, unter dem sie behandelt werden. Zwei verschiedene Zugänge, ein historiographischer und ein dogmengeschicht­ licher, haben die Forschung zur Geschichte der deutschen Nationalökonomie in der Weimarer Republik bislang dominiert. Der historiographische Zugang stellte in erster Linie die Frage nach den Handlungsspielräumen der staat­ lichen Wirtschaftspolitik in der Weltwirtschaftskrise. So wurde im Zuge der sog. Borchardt-Debatte von keynesianischen Ökonomen und Historikern auf das Versagen der Disziplin hingewiesen, deren maßgebliche Vertreter die Ursachen der Weltwirtschaftskrise nicht adäquat erkannten und keine Mittel zu ihrer Überwindung bereit stellten.18 Claus-Dieter Krohn vertrat die Meinung, dieses Wissen sei sogar vorhanden gewesen, durch Keynes Schrift A Treatise on Money19 oder durch die Arbeiten der jungen Ökonomen am Kieler Institut für Weltwirtschaft wie Adolf Löwe oder Gerhard Colm. Allerdings seien deren

18 Meister, Depression. 19 Keynes, Vom Gelde.

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Vorschläge nicht oder nicht ausreichend rezipiert worden.20 Angesichts der gravierenden politischen Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise hätte so, die Ursachenkette konsequent zu Ende gedacht, der Nationalsozialismus verhindert werden können, hätten Ökonomen in den 1920er Jahren besser geforscht und besser gedacht und hätten ihre liberalen und konservativen Ressentiments die Durchsetzung aktiver konjunkturpolitischer Maßnahmen nicht torpediert.21 Zwar lässt sich heute nicht mehr ernsthaft behaupten, die Weltwirtschaftskrise allein habe dem Nationalsozialismus zur Macht verholfen. Dass sie ihm jedoch entscheidend in die Hände spielte, ist nicht von der Hand zu weisen. Jedenfalls resultierte für Krohn die Krise der Nationalökonomie in den 1920er Jahren daraus, dass ihre Vertreter im Dienste wirtschaftsliberaler Ideologien standen, die ihnen einen offenen Blick für die notwendigen Maßnahmen versperrten.22 Dagegen hat der Auslöser dieser Debatte, Knut Borchardt, explizit verneint, dass die Weltwirtschaftskrise durch eine aktive Konjunkturpolitik früher hätte überwunden werden können. Sein Schüler Albrecht Ritschl untermauerte diese Thesen mit einem hohen ökonometrischen Aufwand, um nachzuweisen, dass aktive konjunkturpolitische Maßnahmen weitgehend wirkungslos gewesen wären, ohne vorher an die Lösung der Strukturprobleme der Weimarer Wirtschaft (zu hohe Löhne, zu hoher Grad externer Finanzierung, Investitionsschwäche) heranzugehen. Zudem wären die für wirkungsvolle Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen notwendigen Kredite nicht zu bekommen gewesen. Somit gab es im Endeffekt nach Borchardt und Ritschl keine Alternativen zur Brüningschen Wirtschafts- und Finanzpolitik. Wenn diese aber nach ihrer Meinung mutmaßlich nur das tat, was sie tun konnte, relativiert sich das historische Versagen der Nationalökonomie, deren Einflussmöglichkeiten auf Politik und Wirtschaft zudem skeptisch beurteilt werden müssen.23 Wenn Ritschl die Borchardt-Debatte vor einigen Jahren für beendet24 erklärt hat, ist das zwar allein darum schon problematisch, weil er dies nach eigener Lesart selbst getan hat.25 Dennoch scheinen, gleich welcher Standpunkt in dieser Debatte eingenommen wird, die essentiellen Daten und Argumente mittlerweile durchgespielt. Zur Frage der volkswirtschaftlichen Expertise in der Weltwirtschaftskrise ist also die Dramatik aus der Diskussion weitgehend gewichen.26 Aus der Sicht der dogmengeschichtlichen Forschung ändert das jedoch wenig an der Feststellung, dass sich die Nationalökonomie in der Weimarer Republik in einem schlechten Zustand befand. Harald Winkel z. B. erblickt das entscheidende Problem in der durch das Erbe des Historismus bedingten angeb20 Krohn, Krise. Ders., Wirtschaftstheorien. 21 Vgl. Pollard in der Einleitung zu Meister, S. V. 22 Krohn, Wirtschaftstheorien. Zur Kritik an Krohn vgl. Backhaus, Economic Theories. 23 Borchardt, Wirtschaftspolitische Beratung, S. 111. 24 Ritschl, Interpretation, S. 243. 25 Ders., Deutschlands Krise. 26 Kritisch zu Borchardts Thesen: Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, S. 518 ff.

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lichen Theorieferne, weshalb die Nationalökonomie dem marxistischen Lehrgebäude hilflos gegenüberstand und sich auf die praktische Politik des Alltags habe beschränken müssen: »Die langen und letztlich fruchtlosen Auseinan­ dersetzungen über die Ursachen der Inflation, die fehlende Einsicht in die außen­wirtschaftlichen Konsequenzen der Reparationen, ja schließlich auch das Verhal­ten der deutschen ›Wirtschaftstheorie‹ angesichts der heraufziehenden Weltwirtschaftskrise liefern zahlreiche Beispiele für theoretisches Unvermögen und zeigen, dass man in der Geschichte allein nicht die Instrumente entdecken kann, die zur Erklärung der Gegenwart ausreichen.«27 Andere Autoren sehen die Entwicklung der Nationalökonomie zwar etwas freundlicher als Winkel und konstatieren, dass sie sich langsam von der jahrzehntelangen Dominanz der Historischen Schule befreite und die ökonomische Theorie einen erkennbaren Aufschwung erlebte.28 Sonderlich erfolgreich soll sie dabei jedoch nicht gewesen sein.29 Die ökonomische Theorie blieb allgemein auf einem niedrigen Niveau stehen und konnte sich vom sozialphilosophischen Ballast nicht befreien.30 Nur wenige große Namen, Schumpeter vor allem, haben in dieser Zeit in Deutschland gelehrt und geforscht. Selbst dieser jedoch schrieb seine bedeutendsten Werke entweder vor dem Ersten Weltkrieg oder nach seinem Wechsel an die Harvard University 1932. Das Innovationspotential, das manche Autoren in dieser Zeit dennoch entdecken, wird zumeist auf dem Gebiet der Geldund Konjunkturtheorie erblickt und an Ökonomen wie Friedrich Hayek, ­Jakob Marschak, Adolf Löwe31, Gerhard Colm und anderen festgemacht, die sich hier besonders hervortaten. Diese waren allerdings in der Weimarer Republik noch junge Wissenschaftler, die ihre Wirkung erst im englischen und amerikanischen Exil voll entfalten sollten. Was darüber hinaus an anschlussfähigem Gedankengut ans Licht gezogen wird, stammt zumeist von institutionellen Außenseitern.32 Damit wird implizit bereits ein Verdikt über das Fach gesprochen, das vielen seiner fähigsten Vertreter nicht den Stellenwert zuerkannte, den sie verdienten. Aufs Ganze gesehen sieht die dogmengeschichtliche Forschung sowohl aus einer »kumulativen« wie einer »zyklischen« Fortschrittsperspektive33 im ökonomischen Denken der Weimarer Republik wenig Bewahrenswertes. Trotz vielversprechender Ansätze befand sich das Fach in einem prekären Zustand, der sich dann insbesondere in der Weltwirtschaftskrise offenbarte.34 Jürg

27 Winkel, Nationalökonomie, S. 118. 28 Brandt, Entwicklungslinien. Nau, Wissenschaft, S. 36 f., 51, 315. Beckmann, Löwe, S. 461. 29 Pribram, Geschichte, S. 693. 30 Kurz, Nationalökonomie, S. 14 ff. 31 Hier und im Folgenden wird die deutsche Variante von Lowes Namen verwendet, weil dessen Namen erst bei seiner Emigration amerikanisiert wurde (das gilt auch für Ökonomen wie Jakob Marschak oder Georg Halm). 32 Kurz, Nationalökonomie. 33 Helmstädter, Geschichte. 34 Winterberger, S. 4.

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­ iehans drückt das vielleicht am drastischsten aus, wenn er meint, die deutsche N Nationalökonomie dieser Zeit habe zum disziplinären Fortschritt der Volkswirtschaftslehre überhaupt nichts beitragen können.35 Bei der Durchsicht der dogmenhistorischen Literatur fällt auf, dass die Krise des Faches in der Forschung eigentlich keine Rolle spielt und nur gelegentlich erwähnt wird.36 Dabei war letztere mit dem, aus heutiger Sicht schlechten Zustand des Faches keineswegs identisch. Als »Krise« wurde zeitgenössisch vor allem die innere Zerstrittenheit der Disziplin, das Nebeneinander verschiedener Schulen und Richtungen sowie die mangelhafte Verbindung von Theorie und Praxis beschrieben. Jedoch bieten die für die vorgebliche wissenschaft­liche Defizienz des Faches angeführten Ursachen implizit auch eine Begründung dafür an, warum die Krise nicht überwunden wurde, indem sich die aus heutiger Sicht richtigen Lösungen durchsetzten. Hierfür finden sich in der Hauptsache zwei Erklärungen: Die erste läuft darauf hinaus, die Schuld bei den Nationalökonomen selbst zu suchen. Besonders deutlich brachte diese Meinung der der Österreichischen Schule angehörende Ludwig Mises in seinen Erinnerungen von 1940 zum Ausdruck, wo er schrieb: »Der Umgang mit diesen Männern [den deutschen Nationalökonomen, R. K.] hat mir klargemacht, dass das deutsche Volk nicht mehr zu retten war. Denn diese charakterlosen Schwachköpfe waren schon eine Auslese der Besten. Sie lehrten an den Universitäten das für die politische Bildung wichtigste Fach, sie wurden als Vertreter der Wissenschaft von den Massen und den Gebildeten mit höchster Achtung behandelt. Was sollte aus einer Jugend werden, die solche Lehrer hatte?«37 Nun handelt es sich bei dem Urheber dieses Zitats um einen scharfzüngigen und notorisch schlechtgelaunten Protagonisten, der sich während der 1920er Jahre in zahlreiche Kontroversen mit seinen deutschen Fachkollegen verstrickte.38 Trotzdem bringt es lediglich besonders drastisch eine durchaus verbreitete Sichtweise zum Ausdruck, die das geringe fachliche Niveau des Faches auf den Mangel an intellektuellen Fähigkeiten, den schlechten Charakter oder die ideologische Voreingenommenheit der Wissenschaftler zurückführt.39 Die zweite Erklärung besteht in dem Hinweis auf den fortwirkenden Einfluss der Jüngeren Historischen Schule. Deren angebliche Theoriefeindschaft wird oftmals als der Grund dafür angesehen, dass sich große Teile des Faches auch in der Weimarer Republik der Rezeption des modernen Theorieapparats verweigerten. Zudem soll ihre Dominanz dazu geführt haben, dass die ökonomische Theorie einfach nicht verstanden wurde. Die schlechte Lage der Nationalökonomie während der 1920er Jahre wird somit als das Resultat einer verfehlten 35 Zit. bei Borchardt, Anerkennung, S. 211. 36 Vor allem bei Krohn, Krise. Janssen, Nationalökonomie, S. 20 ff. 37 Mises, Erinnerungen, S. 69. 38 Und den vielleicht nur seine Frau als charmant und zurückhaltend schildern konnte Mises, Mises. Vgl. auch Hülsmann. 39 So vor allem Krohn, Wissenschaftliche Theorien.

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Sozialisation interpretiert.40 Der Einfluss der Historischen Schule soll also dazu geführt haben, dass viele Wissenschaftler auch in den 1920er Jahren die ökonomische Theorie ablehnten, und die dies nicht taten, sie aufgrund fehlender Ausbildung nicht handhaben konnten. Bezüglich des ersten Arguments ist zunächst auf das Erkenntnisinteresse der Dogmengeschichte zu verweisen. Dieses zielt vor allem auf die Rekonstruktion eines Theoriefortschritts41, den sie in der Regel Personen zurechnet, über die in einer als Einheit gesehenen Theorieentwicklung Variation begründet wird.42 Sie untersucht die Geschichte der ökonomischen Lehrmeinungen zumeist zum Zweck der methodischen Selbstreflexion43 oder zum Verständnis der Genese aktueller Theorien. Wird innerhalb eines bestimmten Zeitabschnitts dazu kein Beitrag geleistet, wird er aus diesem Grund eigentlich uninteressant. Tritt er aber aus anderen Gründen in den Fokus des Interesses, hier aufgrund der Folgen der Weltwirtschaftskrise, erweist sich die personenzentrierte Sichtweise als Problem, weil Fehlentwicklungen des ökonomischen Denkens rasch auf »Ideologien« oder die fehlende Intelligenz der Protagonisten zurückgeführt werden – gewissermaßen die pathologische Verkehrung der Eigenschaften der großen Ökonomen. Jedoch erscheint es wenig wahrscheinlich, dass sich so die Problemlage einer ganzen Disziplin erklären lässt. Unbeantwortet bleibt dabei nämlich bereits die Frage, warum in einer Zeit, die auf anderen Gebieten wissenschaftliche Höchstleistungen erbrachte, die gar als eine Blütezeit des intellektuellen Lebens apostrophiert wird44, ausgerechnet die Nationalökonomie solche Probleme hatte. Zu dem zweiten Argument ist zu sagen, dass der Hinweis auf den Einfluss der Jüngeren Historischen Schule einerseits nicht von der Hand zu weisen ist, andererseits aber viel zu pauschal erscheint.45 Die Jüngere Historische Schule ging mit dem Ersten Weltkrieg unter und in der ökonomischen Literatur der 1920er Jahre wurde kaum ein gutes Haar an ihr gelassen. Das Fach strebte in der Weimarer Republik nach etwas Neuem und wollte mit dem Historismus nichts mehr zu tun haben. Bezüglich der Frage nach der Krise des Faches erscheint außerdem unklar, wie der Einfluss der Historischen Schule allein den Theorienpluralismus, der übrigens in anderen Ländern zu dieser Zeit in schwächerer Ausprägung ebenfalls zu beobachten ist46, erklären kann. Diese Arbeit ver40 So Kurz, Nationalökonomie, S.  14 f. Vgl. auch Mises, Erinnerungen, S.  69. Schumpeter, Grundproblem, S. 3. 41 Helmstaedter, Geschichte, S. 3 ff. 42 Luhmann, Wissenschaft, S. 466. 43 Priddat, Theoriegeschichte. 44 Bialas, Facetten, S. 15 f. 45 Das betrifft insbesondere den Vorwurf, die Jüngere Historische Schule habe die Entwicklung des ökonomischen Denkens in Deutschland verzögert. Warum konnte die Jüngere Historische Schule ihre dominierende Position aber überhaupt erlangen, wenn sie von Anfang an wissenschaftlich minderwertig war (und heute wieder anerkannt wird)? Vgl. dazu Hansen. 46 Für die USA vgl. die Beiträge in: Morgan u. Rutherford.

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tritt die Ansicht, dass die Krise der Nationalökonomie durchaus etwas mit dem Erbe der Historischen Schule zu tun hatte. Dieser Zusammenhang wird mit dem pauschalen Hinweis auf ihren weiterwirkenden Einfluss jedoch eher verdeckt als offengelegt. Der Überblick über den Forschungsstand zur Geschichte der National­ ökonomie in der Weimarer Republik zeigt, dass die Krise der Nationalökonomie bislang selten thematisiert und nicht ausreichend beschrieben und erklärt wurde. Die angemessene historische Rekonstruktion der Problemlagen, aufgrund derer das Fach sich selbst bis in die Weltwirtschaftskrise hinein als in einer Krise beschrieb, stellt weitgehend ein Desiderat dar. Das zeigt sich auch daran, dass zu fast allen Diskussionen dieser Zeit, mit Ausnahme der Geld- und Konjunkturtheorie sowie der Debatte um Kartelle und Monopole, besten­falls ein rudimentärer Forschungsstand existiert. Zu den zeitgenössisch äußerst prominenten Methodendiskussionen beispielsweise gibt es außer Bertram Schefolds Pionieraufsatz zur Anschaulichen Theorie47 kaum Literatur.48 Die vorstehend skizzierte Forschungslücke möchte die Untersuchung schließen, indem sie die Krisenlage der Nationalökonomie aus ihrer Geschichte, aus der Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Veränderungen dieser Zeit erklären möchte. Ihr Erkenntnisinteresse ist insofern kein dogmenhistorisches, weil es nicht darum geht, das ökonomische Denken der Weimarer Republik im Rahmen langfristiger Theorienentwicklungen zu verorten. Vielmehr soll vor allem der Fachzusammenhang betrachtet werden, wobei die Frage der Anschlussfähigkeit an aktuelle Fragestellungen nicht explizit berücksichtigt wird. Wenn es um die Rekonstruktion der Selbstbeschreibung einer akademischen Disziplin und ihrer Ursachen geht, fungiert der Fachzusammenhang notwendigerweise als die entscheidende Referenzgröße der historischen Darstellung: In seinem Rahmen werden Problemstellungen formuliert und diskutiert, Theorien und Methoden entwickelt. Innerhalb des Faches findet die Zuschreibung von Bedeutung an einzelne Wissenschaftler statt, die deren Autorität in den Debatten maßgeblich bestimmt. Vor allem aber dient das Fach selbst als Gegenstand von Zuschreibungen, z. B. als in der Krise, die wiederum auf die Debatten zurückwirken. Die Arbeit orientiert sich an einem systemtheoretischen Ansatz49, der sich nach einer längeren Zeit kontroverser Diskussion mittlerweile als legitime Forschungsposition in der Soziologie durchgesetzt hat.50 Auch in den Geschichtswissenschaften und anderen Fächern (Germanistik, Ethnologie Pädagogik etc.) wird die Systemtheorie, die in ihrer avanciertesten Fassung von dem Bielefelder Soziologen Niklas Luhmann ausgearbeitet wurde, zunehmend interdiszi­plinär 47 Schefold, Nationalökonomie. 48 Es gibt höchstens einige Beiträge, die diese Debatten (zumeist am Rande) berühren. Weber u. Topitsch, Wertfreiheitsproblem. Kesting, Neoklassik. Pribram, Geschichte, S. 706 ff. 49 Grundlegend dazu: Luhmann, Wissenschaft. 50 Als Überblick s. Joas u. Knöbl, Sozialtheorie, S. 352 ff.

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angewendet. Auch wenn sich die Darstellung weitgehend ihrer spezifischen Terminologie enthält, soll im Folgenden dargelegt werden, auf welchen wissenschaftstheoretischen Annahmen sie basiert. Luhmann geht in seiner Theorie sozialer Systeme von der Unterscheidung System/Umwelt aus, wobei Systeme nicht aus handelnden Menschen, sondern aus Kommunikation bestehen. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie geschlossen, selbstreferentiell und autopoietisch51 sind, sich also in allen ihren Opera­ tionen auf sich selbst beziehen und alle Elemente, aus denen sie bestehen, selbst produzieren.52 Auch wenn Systeme sich im Vollzug ihrer Operationen fortdauernd von ihrer Umwelt abgrenzen, sind sie keineswegs monadisch abgeschlossen. Sie können jedoch Einflüsse aus der Umwelt nur als »Störungen« system­ intern verarbeiten. Insofern sind Systeme an andere Systeme, die ihre Umwelt darstellen, strukturell gekoppelt und daher, das ist eine von Luhmanns konstitutiven Paradoxien, offen und geschlossen zugleich. Die Wissenschaft ist nach Luhmann ein Funktionssystem der Gesellschaft, dessen Funktion in der Erzeugung und Bereitstellung von Wissen besteht. Wie alle Funktionssysteme (z. B. Recht, Wirtschaft, Politik) operiert es anhand bestimmter Leitunterscheidungen, sog. Codes. Für das Wissenschaftssystem ist dieser Code die Unterscheidung wahr/falsch. Nur als wahr klassifizierte Kommunikation kann ihre Anschlussfähigkeit und damit die Autopoiesis des Systems dauerhaft sicherstellen. Das Funktionssystem Wissenschaft hat sich nach Luhmann seit der Frühen Neuzeit, im Zuge der Transformation von einer stratifizierten zu einer funktional differenzierten Gesellschaft, nach und nach herausgebildet. Seit dem 18. Jahrhundert wurden vermehrt auf die Wissensproduktion spezialisierte Institutionen geschaffen. Zudem fing das Wissenschaftssystem an, weitere Subsysteme auszudifferenzieren, die seine generellen Eigenschaften jeweils reproduzieren, jedoch auf bestimmte Aufgaben spezialisiert sind. Zu diesen Subsystemen gehört auch die Nationalökonomie bzw. Volkswirtschaftslehre, deren Gegenstand die Wissensproduktion über die Wirtschaft ist. Sie besitzt dabei eine charakteristische Doppelfunktion, weil sie zugleich Teil des Wissenschaftssystems und Reflexionssystem der Wirtschaft ist. Damit zusammen hängt eine Leistungsverflechtung, die sich etwa darin äußert, dass auf den Universitäten Praktiker ausgebildet werden sollen oder dass die Volkswirtschaftslehre Ratschläge zur Vermeidung und Behebung von Krisen gibt. Allerdings ist es mit dem Gegenstand der Nationalökonomie eine heikle Sache, denn wenn ein System sich in allen seinen Operationen auf sich selbst bezieht, kann es keinen in der Form »realen« Umweltkontakt herstellen. Die Nationalökonomie bildet also keine sich »draußen« befindliche Wirtschaft ab, sondern sie muss ihren Gegenstand systemintern konstruieren. Umwelteinflüsse aus der Politik, der Wirtschaft, der internen Umwelt des Wissenschafts51 Dabei handelt es sich um ein von Luhmann gebrauchtes griechisches Kunstwort, das mit »Selbstschöpfung« zu übersetzen ist. 52 Luhmann, Gesellschaft.

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systems können nur als Irritationen wahrgenommen und verarbeitet werden. Das bedeutet, dass die Nationalökonomie die Anforderungen, die die Politik und die Wirtschaft an sie stellen, allein nach der Codierung wahr/falsch verarbeiten kann; sie muss sie in Forschungsgegenstände transformieren und auf wissenschaftlichen Wegen zu einer Lösung kommen. Das kann deswegen nicht anders funktionieren, weil sich nach Luhmann ein ausdifferenziertes Wissenschaftssystem dadurch auszeichnet, nur Argumente mit begründetem Wahrheitsanspruch zuzulassen. Die Verwendung ethischer oder politischer Argumente ohne Wahrheitsbezug hingegen führt lediglich dazu, die eigene Position zu schwächen. Aus systemtheoretischer Perspektive ist es also schwierig, bestimmte Theorien einfach auf dahinter stehende politische Interessen zurückzuführen. Es lässt sich zwar keineswegs ausschließen, dass »Interessen« und »Ideologien« eine Rolle spielen, sie taugen innerhalb des Wissenschaftssystems aber nicht als Begründung ihrer selbst. Die Arbeiten eines Wissenschaftlers wie Othmar Spann waren z. B. sicherlich im Gedankenkreis eines spezifisch-öster­ reichischen katholischen Konservativismus verwurzelt. Jedoch enthob ihn das gerade nicht der Notwendigkeit, seinen Universalismus mit wissenschaftlichen Argumenten begründen zu müssen. Es lässt sich, kurz gesagt, mit dem Hinweis auf politische oder sonstige Interessen nicht erklären, wie argumentiert wird. Selbst wenn es sich um die Rationalisierung des reinen Ressentiments handelt, ist es vor allem die Form dieser Rationalisierung, die von Interesse ist. Die politischen Einstellungen der Subjekte (bzw. »psychischen Systeme«) bleiben zwar mit dem System strukturell verkoppelt, bilden jedoch selbst keinen Teil von ihm. Die wissenschaftstheoretischen Überlegungen Luhmanns weisen jedoch auf einen Weg hin, der mehr Erfolg verspricht, um der Krise des Faches näher zu kommen. Zu unterscheiden sind dabei zunächst die Selbstbeschreibung des Systems als in der Krise und die Problemlage, auf die sich diese Selbstbeschreibung bezieht. Das System operiert jedoch nicht fortlaufend auf einer Ebene und beobachtet sich parallel dazu auf einer anderen Ebene selbst, sondern diese Reflexion wird in Form von Methoden in die Theorieebene wieder eingespeist: indem sie auf ein Problem reagieren, Wahrheitsansprüche bezweifeln, diesen Zweifel begründen, Vorschläge unterbreiten, was anders/besser gemacht werden könnte. Insofern muss das System fortlaufend auf diese Form der Reflexion reagieren und sie verarbeiten.53 Dieses Wechselspiel von Theorien und Methoden hat nach Luhmann einen spezifischen Sinn, weil Theorien so konstruiert sind, dass sie im Prinzip ohne empirische Referenz unendlich fortgeschrieben werden können. Methoden stellen sicher, dass das System seine Theorien ändern und diese Änderungen auch kontrollieren kann. Auf diese Weise evoluiert das System nach dem Schema Variation, Selektion, Stabilisierung, und es bilden sich im historischen Verlauf relativ stabile Wissensbestände heraus. Diese können jedoch mit der Zeit wiederum Variationen unterliegen sowie von konkurrierenden 53 Luhmann, Wissenschaft, S. 483.

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Theorien in Frage gestellt werden. Mitunter brechen dabei auch große Theo­ riekomplexe zusammen, was dann als Paradigmenwechsel beschrieben werden kann. Die vorliegende Arbeit verwendet den Begriff »Paradigma« dabei in einem systemtheoretisch reformulierten Sinne als Bezeichnung für einen großen Theoriekomplex, der soweit stabilisiert ist, dass die Wahrheitsbedingungen nicht ständig intern thematisiert werden müssen.54 Die übliche Aufgabe der Wissenschaftstheorie ist, zu beobachten, wie Wissenschaft normalerweise funktioniert, was also gewissermaßen unter der Oberfläche der wissenschaftlichen Alltagsarbeit verborgen bleibt. Allerdings operiert das Wissenschaftssystem einfach, weshalb es keinen Sinn macht, die Frage nach den Ursachen der Krise so zu formulieren, was in der Weimarer Republik »falsch« lief. Aus systemtheoretischer Perspektive gibt es streng genommen kein »falsches« Operieren einer Wissenschaft, allein die Kommunikation kann irgendwann aufhören. Außergewöhnlich jedoch ist die Selbstbeschreibung einer Disziplin als in der Krise und damit die beständige Thematisierung eines Problems, das dringend einer Lösung bedurfte. Einige wenige Krisendiagnosen stellen dabei noch kein Problem dar: Sie drücken nur aus, dass bestimmte Tatbestände von den einen für richtig und den anderen für falsch gehalten werden, was für Wissenschaften anders gar nicht vorstellbar ist.55 Mit einer durchgängigen Selbstbeschreibung als in der Krise ist das etwas anderes. Hier setzt sich das System selbst unter Erwartungsdruck. Es wird nahegelegt, in der Wahl der Methoden auf diese Krise zu reagieren und die Resultate der wissenschaft­ lichen Forschung werden wiederum im Hinblick auf die Krisenlage bewertet. Insofern ist davon auszugehen, dass die Krisensemantik nicht einfach als Resultat einer einmal vorhandenen Problemlage entstand. Vielmehr wirkte sich die Selbstbeschreibung auf die Forschungsarbeit aus und diese Auswirkungen sind wiederum der Beobachtung zugänglich. Wird insofern die Krise der Nationalökonomie erst in der Darstellung ihres historischen Verlaufs voll verständlich, führen diese Überlegungen gleichzeitig dahin, besonderes Augenmerk auf die innerhalb der Disziplin diskutierten Methoden zu richten. Denn sie waren mutmaßlich dafür verantwortlich, dass die Selbstbeschreibung des Systems auf die Theorien zurückwirkte. Ein anderer Gesichtspunkt kommt hinzu: Aufgrund ihrer engen Leistungsverflechtung mit anderen Systemen befindet sich die Volkswirtschaftslehre in einer besonderen Situation, weil sie durch in diesen formulierte Erwartungen leichter irritiert werden kann als Wissenschaften, die ohne eine solche Leistungsverflechtung auskommen. Die Soziologie beispielsweise lebt seit jeher recht gut mit einem Theorienpluralismus, den die Nationalökonomie im Untersuchungszeitraum als äußerst bedrückend empfand. Das deutet darauf hin, dass bestimmte, im Untersuchungszeitraum stattgefundene Veränderungen des 54 Vgl. ebd., S. 362 ff. Vgl. auch Kuhn. 55 So wird auch heute noch hin und wieder die »Krise« der Volkswirtschaftslehre ausgerufen, die aber nicht weiter beachtet wird. S. Senf. Blümle, Perspektiven. Ward.

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Verhältnisses der Nationalökonomie zu anderen Teilsystemen der Gesellschaft: vor allem Wirtschaft, Politik und der öffentlichen Meinung, ebenfalls als wichtige Faktoren zu berücksichtigen sind, wenn die Frage beantwortet werden soll, warum die Nationalökonomie ständig Alarmrufe aussandte. Zugleich kann die Volkswirtschaftslehre sich auf die Anforderungen der Wirtschaftspraxis nicht direkt einstellen, sondern sie lediglich als Anforderungen einer stärkeren Praxisorientierung für sich formulieren. Inwiefern dies im Rahmen der Krisen­ semantik des Faches eine Rolle spielte, wird zu untersuchen sein. Insgesamt bietet die Systemtheorie einen avancierten wissenschaftstheoretischen Rahmen, um zu einer historisch angemessenen Beschreibung der Krise der Nationalökonomie zu gelangen. Sie ermöglicht eine Beschreibung der Fachgeschichte, in der Theorien und Methoden weder als unabhängig von den historischen Rahmenbedingungen, noch als ausschließlich durch sie bedingt betrachtet werden. Die Nationalökonomie wurde aus dieser Perspektive zwar von den zeitgenössischen Problemlagen »irritiert«, konnte diese aber nur system­ intern, d. h. spezifisch wissenschaftlich verarbeiten. Wie das im genau vonstatten ging, ist ein zentrales Erkenntnisinteresse. Das erste Kapitel dieser Arbeit beschäftigt sich mit der Geschichte der Jüngeren Historischen Schule und deren Ende, das zeitlich im Ersten Weltkrieg lokalisiert wird. Diese bestimmte das Fach seit den 1860er Jahren und erreichte den Höhepunkt ihrer Dominanz in den 1890er Jahren. Seit der Jahrhundertwende geriet sie jedoch in die Defensive: zum einen durch eine jüngere Generation von Ökonomen, die eine größere Theorie- und Praxisorientierung forderten, sowie einer aus der Historischen Schule selbst entstammenden »Gegenbewegung«, die sich vor allem mit den Namen Werner Sombart und Max Weber verbindet. Mit dem Ersten Weltkrieg kam die Historische Schule dann, aus im Einzelnen zu erläuternden Gründen, zu ihrem Ende, wobei gezeigt werden soll, wie dieses Ende innerhalb des Faches kommuniziert wurde. Das ist nicht nur als Vor­geschichte der Fachentwicklung während der Weimarer Republik wichtig. Zugleich soll gezeigt werden, dass die Historische Schule in den 1920er Jahren als »Sündenbock« für die Krise des Faches herhalten musste, in dieser Zeit jedoch bereits keine Rolle mehr spielte. Das zweite Kapitel behandelt die Institutionengeschichte der Nationalökonomie während der Weimarer Republik. Dargestellt wird, welche Erklärungs­ ansprüche an das Fach gestellt wurden und auf welche zeitgenössischen Problemlagen es antworten musste. Spätestens der Erste Weltkrieg machte eine stärkere Praxisorientierung der Nationalökonomie notwendig und zerstörte eine vormals bestehende »Alltagsentlastetheit« des Faches. Anschließend werden die gesellschaftlichen Herausforderungen dargestellt, die in der Weimarer Republik auf die Nationalökonomie zukamen. Weil sie günstige Berufsaussichten versprach und im Ruf stand, Orientierung in einer radikal veränderten Welt zu ermöglichen, wurde die Nationalökonomie nach 1918 zu einem Modefach. Das überforderte sie in nahezu jeder Hinsicht. Nach 1924 ebbte ihre Konjunktur deutlich ab, vor allem, weil sich die Berufsaussichten für Volks27 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525360255 — ISBN E-Book: 9783647360256

wirte zunehmend als schlecht erwiesen. Gleichzeitig hatte die Nationalökonomie während der Weimarer Republik ein gespanntes Verhältnis zu Wirtschaftspolitik und Wirtschaftspraxis, das durch gegenseitige Vorwürfe und mangelnde Zusammenarbeit geprägt war. Dabei wurde vor allem der Nationalökonomie die Schuld an dieser Misere zugeschoben. Immer wieder warf man dem Fach mangelnde Praxisorientierung vor, ohne jedoch klar sagen zu können, was es genau leisten sollte. Im dritten Kapitel geht es um das spätestens seit dem Ersten Weltkrieg virulente Problem der »Neubegründung« des Faches. Als die Jüngere Historische Schule unterging, gab es in Deutschland kein System und keine Theorie, die nahtlos an ihre Stelle hätten treten können. Dieser Paradigmenverlust des ­Faches führte dazu, dass an vielen Stellen der Ruf nach einem neuen System laut wurde, das die geforderte Neubegründung der Nationalökonomie leisten sollte. Zunächst werden die Anforderungen und Erklärungsansprüche an dieses neue System dargestellt und anschließend Gustav Cassels Theoretische Sozialökono­ mie und Robert Liefmanns Grundsätze der Volkswirtschaftslehre als mögliche Kandidaten vorgestellt. Diese Beispiele sollen demonstrieren, warum die Neubegründung der Nationalökonomie letztlich scheiterte und Anfang der 1920er Jahre verstärkt über eine Krise des Faches geredet wurde. Das Fach antwortete auf diese Krise mit einer breiten Methodendiskussion, die im vierten Kapitel behandelt wird. Diese reagierten auf den Paradigmen­ verlust des Faches, indem sie klären wollten, von welchen Voraussetzungen ausgehend nationalökonomische Forschung überhaupt betrieben werden konnte. Das Ziel war, durch Klärung dieses Problems den Pluralismus innerhalb des Faches, und damit seine Krise zu beseitigen, weil dann anhand eindeutiger Kriterien über wahr oder falsch entschieden werden konnte. Diese Debatten führten jedoch keineswegs zu einer Klärung, sondern verstärkten lediglich bestehende Divergenzen. Obwohl es gerade die Beiträge zu Methodenfragen waren, in denen beständig der Anspruch formuliert wurde, zur Lösung der Krise beizutragen, war ihr Resultat vor allem, die Krise ständig präsent zu halten und weiter fortzuschreiben. Gerade bei vielen jüngeren Theoretikern führte das dazu, dass sie auch in späteren Jahren Methodendiskussionen als unfruchtbar betrachteten und nahezu »allergisch« auf sie reagierten. Nachdem auf diesem Gebiet keine Lösung für die Krise erreicht werden konnte, wendet sich die Darstellung im fünften Kapitel drei »soziologischen« Nationalökonomen zu, deren Beitrag zur Krise des Faches genauer beleuchtet werden soll: Othmar Spann, Friedrich von Gottl-Ottlilienfeld und Franz ­Oppenheimer. Trotz ihrer unterschiedlichen politischen Einstellungen soll an ihrem Beispiel beschrieben werden, wie »Systeme« geschaffen wurden, die einen absoluten Wahrheitsanspruch vertraten, eine Fundamentalkritik an ihrer Disziplin übten und sich theoretisch wie sprachlich von ihr abzugrenzen trachteten. Außer um die Rekonstruktion der einzelnen Systeme geht es in diesem Abschnitt darum, die Argumentationsmuster und »Schließungstechniken« herauszuarbeiten, mittels derer sie sich gegen Kritik und konkurrierende Ansätze 28 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525360255 — ISBN E-Book: 9783647360256

immunisierten. Mehr aber noch soll gezeigt werden, inwiefern die krisenhaften Rahmenbedingungen der Weimarer Republik auf die Nationalökonomie zurückwirkten. Im sechsten Kapitel folgt eine Darstellung der Konjunkturtheorie, die seit Mitte der 1920er Jahre die Domäne jüngerer ökonomischer Theoretiker war. Hier wird untersucht, inwiefern sich diese Richtung der Krisenlage des F ­ aches entziehen konnte und ob hier Auswege aus der Krise erkennbar wurden. Es soll gezeigt werden, dass die Konjunkturtheorie nicht einfach ein Teilbereich der theoretischen Diskussion war, sondern es hier wesentlich um die Frage einer Neubegründung der ökonomischen Theorie ging. Deren Notwendigkeit bestand darin, dass die empirische Beobachtung regelmäßiger Zyklen der Wirtschaftsentwicklung die statische Gleichgewichtsanalyse in massive Erklärungsnöte brachte. Die Bemühungen um eine geschlossene Theorie des Konjunkturzyklus wurden jedoch durch die Weltwirtschaftskrise radikal unterbrochen. Der mit ihr einhergehende »Realitätsschock« führte dazu, dass das Projekt einer geschlossenen Konjunkturtheorie von den meisten Ökonomen seit Beginn der 1930er Jahre nicht länger weiterverfolgt wurde. Abgeschlossen wird die Arbeit von einer Darstellung der Diskussion um Kartelle und Monopole. Diese nahm vielleicht unter allen nationalökonomischen Debatten dieser Zeit den breitesten Raum ein. Hier wurde nicht allein das Problem der ökonomischen Auswirkungen organisatorischer Zusammenschlüsse und der daraus resultierenden Marktmacht verhandelt, sondern zugleich die Frage nach der Zukunft der kapitalistischen Wirtschaftsordnung gestellt. Kartelle und Monopole wurden als Zeichen für einen Gestaltwandel der freien Verkehrswirtschaft gedeutet, über dessen Richtung und Ziel breit dis­ kutiert wurde. Dieser »soziologische« Zug der Debatte verstärkte sich noch in der Weltwirtschaftskrise. Aber auch hier gab es einen breiten Dissens über den Charakter dieses Wandlungsprozesses, so dass die Disziplin auch hier zu keiner klaren Stellungnahme gelangte.

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1. Die Jüngere Historische Schule und ihr Ende Es ist in der ökonomischen Dogmengeschichte allgemein üblich, die Geschichte der Volkswirtschaftslehre als »Geschichte ihres Fortschritts« zu schreiben.1 Gerade im deutschen Fall sieht sie sich dabei aber mit der Tatsache konfrontiert, dass dieser »Fortschritt« alles andere als kontinuierlich verlaufen zu sein scheint. Angesichts des naturwissenschaftlichen Selbstverständnisses der heutigen Volkswirtschaftslehre stellt es eine irritierende Erfahrung dar, dass das Fach in Deutschland seit den 1860er/1870er Jahren mit der sog. »Jüngeren Historischen Schule« von einer Richtung dominiert wurde, an der sich wie an kaum einer anderen die Geister geschieden haben. Das mag auch damit zusammenhängen, dass die deutsche Volkswirtschaftslehre äußerst lange brauchte, um sich von ihrem Erbe zu befreien. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wandte sich das Fach endgültig von historischen und kulturwissenschaftlichen Methoden ab.2 Auf diesem Wege wurde die Jüngere Historische Schule dann endgültig zum Bremsstein stilisiert, der den disziplinären Fortschritt jahrzehntelang blockiert habe. Im Mittelpunkt dieser Auseinandersetzungen stand und steht die zentrale Forscherpersönlichkeit der Historischen Schule, Gustav Schmoller (1838–1917), dessen »Nachruhm« sich in diametralem Gegensatz zu seinem hohen An­sehen zu Lebzeiten entwickelte. Selbst der nicht gerade linientreue Werner Sombart hatte noch an Schmollers offenen Grab ausgerufen: »Epigonen sind wir alle, Epigonen!«3, aber bereits kurz nach seinem Tod 1917 setzte eine Absetzbewegung ein, der bis in die 1980er Jahre eine nur von wenigen Stimmen unterbrochene Schmoller-Schelte folgte. Die Historische Schule galt als eine theorielose bzw. gar theoriefeindliche Richtung, die Nationalökonomie mit Wirtschaftsgeschichte verwechselt haben soll, auch wenn Schmollers Untersuchungsinteresse zu keiner Zeit ein »nur« historisches war. Oftmals wurde sie geradezu für eine verfehlte Sozialisation verantwortlich gemacht, die ganze Generationen von Nationalökonomen verdorben habe.4 In neuerer Zeit sind zwar einige Anstrengungen unternommen worden, die Jüngere Historische Schule aus dem »Kuriositätenkabinett nationalökonomischer Sackgassen«5 zu befreien und Schmoller als 1 Helmstaedter, Geschichte. 2 Hesse, Wirtschaft, S. 320 ff. 3 Schreiben Franz Boese an Arthur Spiethoff (27.2.1933). UB Basel, Handschriftenabteilung. Nl Spiethoff, A 77,77. In der in der Festgabe zum 100. Geburtstag Schmollers abgedruckten Trauerrede Sombarts taucht dieser Ausruf allerdings nicht auf. Vgl. Sombart, Schmoller. 4 Mises, Erinnerungen, S. 69. 5 Plumpe, Schmoller, S. 254.

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Ökonom zu rehabilitieren.6 Solche Unterfangen sind aber meistens gezwungen, immer neu anzusetzen, weil die Anschlussmöglichkeiten in der heutigen Volkswirtschaftslehre kaum gegeben sind. Das gilt trotz der Neuen Institutionenökonomik, die zwar in manchen Aussagen an die Jüngere Historische Schule anknüpft, diese aber in einem anderen theoretischen Rahmen formuliert. Vor allem behält letztere den methodologischen Individualismus bei, den sie lediglich im Hinblick auf bestimmte Rationalitätsannahmen modifiziert. Im Folgenden werden knapp die Entstehungsbedingungen und das Programm der Jüngeren Historischen Schule beschrieben sowie anschließend die Infragestellung dieser Richtung seit der Jahrhundertwende und ihr »Ende« rekonstruiert. Das ist nicht allein als Vorgeschichte für das Verständnis der Situation der Nationalökonomie in der Weimarer Republik wichtig: Auch wenn die Jüngere Historische Schule gemeinsam mit dem Kaiserreich unterging, prägten ihre Problemstellungen das ökonomischen Denken der 1920er und 1930er Jahre doch weiter, was mitunter gerade für solche Ökonomen gilt, die sich wie etwa Walter Eucken7 und Edgar Salin8 in möglichst scharfer Form von ihr zu distanzieren suchten.9

1.1 Die Jüngere Historische Schule der Nationalökonomie »Wer heute Schmollersche Illusionen kritisiert, kritisiert die Illusionen eines ganzen Geschlechts, und, wenn er diesem angehört hat, in der Regel auch seine eigenen.«10 Dieser bekannten Bemerkung Friedrich Meineckes lassen sich weitere, ganz ähnliche an die Seite stellen. Eduard Spranger schrieb schon 1913 davon, dass die »Kulturlage«, aus der heraus die Jüngere Historische Schule erwachsen sei, sich mittlerweile verschoben habe11, und als Edgar Salin Anfang der 1920er Jahre mit der ersten Auflage seiner Geschichte der Volkswirtschafts­ lehre den Damm für eine aufgestaute Flut von Schmoller-Kritik brach, schrieb Schmollers Witwe Lucie an Salin, er sei ja »der Jüngsten einer« und er könne nicht verstehen, welche Antriebe und Ideale sie damals geleitet hätten.12 Positiv wie negativ wurde hier der Meinung Ausdruck gegeben, dass sich diese Schule im Spätwilhelminismus und erst recht in der Weimarer Republik überlebt hätte und ihr Programm anachronistisch geworden sei, weil sich die Zeiten seitdem geändert hätten. 6 Z. B. Backhaus, Schmoller. Hodgson, Economics, S. 56 ff. Peukert, Renaissance. 7 Ders., Eucken. 8 Nützenadel, Stunde, S. 29. 9 Vgl. Eucken, Wissenschaft. Schefold, Nachklang. 10 Meinecke, Generationen, S. 268. 11 Spranger, Stellung, S. 143. 12 Schreiben Lucie Schmoller an Edgar Salin (20.2.1925). UB Basel, Handschriftenabteilung. Nl Spiethoff, Beilage zu A 527.

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Die Geschichte der deutschen Nationalökonomie verlief bereits seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in anderen Bahnen als z. B. in Großbritannien, wo die klassischen Texte der ersten Stunde verfasst wurden. Schon im Rahmen der frühen, durchaus wohlwollenden Adam Smith-Rezeption wurde relativ rasch klar, dass der Eudämonismus der englischen Klassik in Deutschland nicht bruchlos übernommen werden konnte.13 Wo es bei Smith nämlich die natür­liche Veranlagung der Menschen war, »to truck, barter and exchange one thing for another«14, glaubten Karl Heinrich Rau, Johann Lotz und andere, dass eine natürliche Harmonie der Interessen nicht ohne weiteres existierte und die Menschen zum rationalen Handeln und für den Markt erst erzogen werden müssten.15 Das lässt sich zwar z. T. durch die preußische Tradition der Staats­ pädagogik erklären16, deutete aber schon an, dass die Vorstellung einer sich selbst regulierenden Marktgesellschaft erst in eine deutsche Denktradition zu integrieren war. Das äußerte sich vor allem in dem hohen Stellenwert, der den institutionellen Rahmenbedingungen zugemessen wurde. Die Maxime des Laisser faire war stets an einen über den Markt wachenden Staat gebunden, der die gedeihliche Fortentwicklung der Gesellschaft absicherte. Die Selbstkonditionierung aufgrund des aufgeklärten Eigeninteresses reichte zur Regulierung des Wirtschafts- und Gesellschaftslebens offensichtlich nicht aus, wobei der Staat jedoch mehr war, als nur der Wächter über die Einhaltung bestimmter Regeln. Vielmehr garantierte er auch die sittliche Fortentwicklung der Staatsbürger und damit den gesellschaftlichen Fortschrittsprozess insgesamt. Auf diese Weise wurde der historische Relativismus, den der Historismus gegen den Rationalismus der Aufklärung stark gemacht hatte, an eine positive Geschichtsteleo­ logie angekoppelt.17 Auch wenn die sozialen Probleme aus dieser Perspektive durchaus sensibel wahrgenommen werden konnten, gab es doch keinen zwingenden Zusammenhang zwischen sozialer Not auf der einen, Staats- und Gesellschaftsordnung auf der anderen Seite. Der Staat konnte als Garant des gesellschaftlichen Fortschritts gelten, weil er in sich reformierbar war, die existierenden Probleme also im Rahmen der bestehenden Ordnung gelöst werden konnten. 13 Zur naturrechtlichen Argumentation des deutschen Kameralismus, der zufolge die Wohlfahrt der Gesellschaft nicht durch das eigennützige Handeln der Menschen, sondern durch kluge staatliche Lenkung hergestellt wurde, letztere also das »System« der Ökonomie erst konstituierte vgl. Tribe, Ordnung, S. 295 ff. 14 Smith, Wealth, Bk. 1, Ch. 2, S. 17. 15 Z. B. Harada, Verortung. Vgl. auch Plumpe, Geburt, S. 336 ff. Allerdings nahmen die eng­ lischen Nationalökonomen durchaus die Unterschichten wahr, die sich gegen die Durchsetzung der kapitalistischen Marktgesellschaft widerständig zeigten. Hier sahen auch Ricardo, Mill und andere nach und nach Erziehung als das richtige »Heilmittel« an. Kanth, Political Economy, S. 174. 16 Blankertz, S. 56 ff. 17 Vgl. Jäger u. Rüsen, S. 132 ff.

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Bei der »Älteren Historischen Schule«, die vor allem mit den Namen Wilhelm Roscher, Karl Knies und Bruno Hildebrand verbunden ist, stand diese Grundannahme noch in einer älteren geistesgeschichtlichen Tradition. Staat und Gesellschaft wurden bei Roscher als ein sich historisch transformierendes, organisches Ganzes betrachtet. Dieses Ganze war in seiner Komplexität nicht mehr kausal zu erklären, worin sich das Erbe der Romantik niederschlug, welche die Beziehung von Teil  und Ganzes als einer solchen Kausalitätsbetrachtung unzugänglich ansah.18 In diesem institutionellen, zugleich dunkel bleibenden Rahmen konnten die Aussagen der ökonomischen Klassik jedoch durchaus Geltung beanspruchen, weshalb Robert Wilbrandt zu seinem Verdikt kommen konnte, Roscher habe »eine historische Sauce über einem klassischen Gericht« serviert.19 Ähnlich schrieb auch Schumpeter, Roscher habe nicht viel mehr getan, als die Aussagen der Klassik historisch zu illustrieren.20 Diese Relation lässt sich jedoch auch umdrehen, denn eigentlich handelte es sich um die Domestizierung der Aussagen der ökonomischen Klassik in einen sich aus Romantik und Historismus speisenden theoretischen Rahmen, in dem der Koevolution von Staat und Wirtschaft besondere Aufmerksamkeit geschenkt wurde.21 Während die Klassik den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt als die sukzessive Entfaltung einer natürlichen Ordnung betrachtete, legte die Ältere Historische Schule Wert auf das institutionelle Gleichgewicht, dessen es bedurfte, damit das Wirtschaftsleben gedeihen konnte, und schrieb darum dem Staat einen entscheidenden Einfluss zu. Dass Roscher die wirtschaftliche Entwicklung überdies durch eine Lebenszyklentheorie von Aufstieg, Hochphase und Niedergang zu beschreiben versuchte (im Gegensatz zur Klassik, die den wirtschaftlichen Fortschritt in zentraler Weise mit der Durchsetzung der gesellschaftlich-politischen Dominanz des Bürgertums verband), unterstreicht ebenfalls, dass in Bezug auf die Deutung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gesamtentwicklung ein differierender theoretischer Rahmen zu anderen Konsequenzen führte. Seit den 1860er Jahren verschaffte sich indes eine jüngere Generation von Wissenschaftlern Gehör, die später allgemein als die »Jüngere Historische Schule« der Nationalökonomie bezeichnet wurde. Diese Bezeichnung ist allerdings nicht ganz unumstritten.22 Erik Grimmer-Solem vertritt beispielsweise die Meinung, es habe sich nicht um eine Schule gehandelt, sondern eher um eine lose Gruppierung historisch arbeitender Ökonomen.23 Seine Argumente sind dabei nicht ganz von der Hand zu weisen: Auf der einen Seite gab es zahlreiche persönliche Differenzen zwischen den einzelnen Protagonisten, zum anderen verzerrte es 18 Bauer/Rauchenschwandtner/Zehetner, S. 14–19. 19 Wilbrandt, Entwicklung, S. 97. 20 Schumpeter, History, S. 809. 21 Eisermann, Grundlagen, S. 67. 22 Heath Pearson bestreitet sogar, es habe überhaupt eine deutsche »Historische Schule« ge­ geben, weil ihre Methodik weder deutsch noch historisch gewesen sei. Pearson. 23 Grimmer-Solem, S. 19 ff.

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häufig die Perspektive, dass die Jüngere Historische Schule ausschließlich mit der Person Schmollers identifiziert wurde. Das erweckte den Eindruck eines monolithischen Blocks, der sich ängstlich gegen jeglichen Einfluss von außen gewehrt habe – als habe sie es tief im Inneren schon damals besser gewusst.24 Gerade der Gegensatz zu den »Österreichern« wurde oftmals übertrieben, denn in den deutschen Fachzeitschriften erschienen regelmäßig theoretische Artikel, auch von österreichischen Autoren.25 Dass die ökonomische Theorie sich in Deutschland überhaupt kein Gehör verschaffen konnte, ist also falsch.26 Die Frage ist allerdings, welcher Begriff von »Schule« zugrunde gelegt wird. Wird von Schule im Sinne eines engen Arbeitszusammenhangs gesprochen, hat Grimmer-Solem wohl recht. Dafür waren die persönlichen und fachlichen Differenzen zwischen manchen ihrer Vertreter in der Tat zu ausgeprägt.27 Wird der Ausdruck »Schule« jedoch etwas weiter gefasst, im Sinne gemeinsamer Methoden und Denkvoraussetzungen, lässt sich dieser Begriff doch verwenden bzw. es wird klar, dass Grimmer-Solem seine terminologischen Skrupel an dieser Stelle überzieht. Der allgemeine Ausdruck »historical economists« verdunkelt, dass es trotz mancher Unterschiede konstitutive Gemeinsamkeiten gab: die Wertschätzung historischer Arbeitsweisen in der Volkswirtschaftslehre, die Ablehnung einer rein deduktiven Theoriebildung sowie die prinzipiell affirmative Haltung gegenüber dem Kaiserreich. Auch kommt es nicht von ungefähr, dass sich aus der Außensicht eine abgrenzbare Gruppe von Wissenschaftlern als der Jüngeren Historischen Schule, bzw. alternativ: dem Kathedersozialismus, zugehörig identifizieren ließ und ihre »Mitglieder« sich zu den gemeinsamen Grundauffassungen bekannten28; bei beiden Bezeichnungen handelt es sich schließlich um zeitgenössische Begriffe. Insofern lässt sich bei aller Vorsicht sagen, dass der Ausdruck »Jüngere Historische Schule« eine seit den 1860er/1870er Jahren in der deutschen Nationalökonomie vorherrschende Richtung bezeichnet, die sich in erster Linie historisch-empirischer Methoden (mit besonderem Augenmerk auf die Statistik) zur Erkenntnis volkswirtschaftlicher Zusammenhänge bediente. Dabei legte sie großes Gewicht auf die Bedeutung der Institutionenentwicklung für das Wirtschaftsleben und versuchte, Parallelbewegungen von 24 Eigenartigerweise lässt sich gerade auf österreichischer Seite eine besondere Empfindlichkeit und das Bemühen beobachten, die Historische Schule immer wieder aufs neue zu widerlegen. Anscheinend hätte sie nur eine Unterwerfung als angemessen empfunden. Das zeigt sich schon in Carl Mengers Streitschrift, die in Schmollers Rezension von Mengers Grundsätzen der Volkswirtschaftslehre, die der Auslöser des Methodenstreits war, Beleidigungen hinein konstruierte, die darin gar nicht enthalten waren. Menger, Irrtümer, bes. S. 6–11. 25 Erinnert sei auch an das verbreitete, zwischen Österreichischer und Historischer Schule vermittelnde Lehrbuch Eugen von Philippovichs. Philippovich. 26 Auch deswegen ist es nicht angemessen, mit Hauke Janssen von einer »doktrinären Ignoranz« der Jüngeren Historischen Schule zu sprechen. Janssen, Nationalökonomie, S. 162 f. 27 Grimmer-Solem, S. 22 ff. 28 Lifschitz, Historische Schule, S. 199 f.

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Recht, Sitte und ökonomischer Entwicklung aufzuzeigen. Sie definierte sich dabei nicht zuletzt durch den Gegensatz zum deduktiven Ansatz der ökonomischen Theorie; seit dem sog. Methodenstreit zu Beginn der 1880er Jahre dann insbesondere der österreichischen Neoklassik.29 Das Programm, das die Jüngere Historische Schule seit den 1860er Jahren entwickelte, grenzte sich von der ökonomischen Klassik wie von der Älteren Historischen Schule ab. Kritisiert an der Klassik wurde nicht allein der theoretischer Ansatz, sondern insbesondere ihr Gesellschaftsbild.30 Der von Schmoller, Lujo Brentano, Adolf Held vorgebrachte Hauptkritikpunkt gegen die Klassik lautete, dass diese eine Wirtschaftsgesellschaft fingierte, in der die Menschen, indem sie ihrem aufgeklärten Eigeninteresse folgten, den Wohlstand und das Glück aller steigerten. Die Klassik modellierte das Wirtschaftsleben als eine Art Spiel nach unhintergehbaren Regeln, in dem jeder Mensch freie Wahlentscheidungen zwischen Alternativen treffen konnte.31 Wie Crawford ­Macpherson gezeigt hat, legten die englischen und schottischen Autoren des 17. und 18. Jahrhunderts ihren Betrachtungen über ökonomische Zusammenhänge das Bild einer Gesellschaft von mittleren Landbesitzern zugrunde, die ökonomisch vom Marktgeschehen unabhängig waren und sich bei Bedarf auch ganz aus dem Spiel zurückziehen konnten.32 In diesem Sinne konnten die Menschen an der modernen Wirtschaft gewissermaßen teilnehmen, mussten das aber nicht. Gerade solche, z. T. impliziten Grundannahmen waren es aber, die sich mit den während der deutschen Industrialisierung gemachten Erfahrungen nicht deckten. In den 1850er/1860er Jahren schien sich im Gegenteil herauszukristal­ lisieren, dass die Industrialisierung die Klassengegensätze in Deutschland verschärft hatte und daraus eine schroffe Frontstellung zwischen Großbürgertum und Arbeiterklasse resultierte. Die Masse der Arbeiter hatte eben keine Wahl, ob sie am Kapitalismus »teilnehmen« wollte, und der freie Wettbewerb führte keineswegs dazu, dass sich alle am Ende besser stellten. Zugleich bestand jedoch die zunehmende Gefahr eines revolutionären Umsturzes der bestehenden Ordnung, wenn es nicht gelang, diese gesellschaftlichen Gegensätze abzuschwächen. Das sozialpolitische Ziel war aus diesem Grund die Schaffung eines Mittelstands, der sich als ausgleichendes und versöhnendes Element zwischen die antagonistischen Pole der Klassengesellschaft schieben sollte.33 Ein solches Programm erforderte jedoch zunächst einmal die genaue Beschreibung der sozialen Tatsachen, wenn das eigene sozialpolitische Anliegen legitim vertreten werden sollte. Aus diesem Grund legte die Jüngere Historische Schule besonderes Augenmerk auf statistische Methoden und die Einbeziehung von Erkenntnissen der modernen Psychologie. Im Gegensatz zu ihrer weit ver29 S. dazu auch Rieter, Schulen, S. 145. 30 Aus »antikritischer« Sicht dazu ausführlich: Schüller, Nationalökonomie. 31 Force, S. 82 f. 32 Macpherson, S. 68 ff. 33 Grimmer-Solem, S. 235 ff.

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breiteten Verzeichnung als eine praxisferne Veranstaltung beschreibt GrimmerSolem seine »historical economists« darum durchaus zu Recht als pragmatische, empirisch arbeitende Ökonomen, die die Effekte von rapider Urbanisierung, Industrialisierung oder des Anwachsens der Arbeiterbewegung in ihrer Gegenwart aus nächster Nähe beobachten konnten und daraus ihre Konsequenzen zogen.34 Dieser neue Realismus implizierte damit zugleich die (allerdings unvollständige) Ausscheidung der idealistischen und romantischen Elemente, die die Ältere Historische Schule noch stark geprägt hatten. Schmoller und seine Mitstreiter waren Gegner metaphysischer Geschichtskonstruktionen und propagierten einen Positivismus, der die empirische Erkenntnis zur Grundlage aller weiteren Forschung erklärte.35 Am Anfang der Jüngeren Historischen Schule stand daher zweierlei: erstens eine Diagnose, die soziale Frage und die Notwendigkeit, sie zu lösen (das grenzte sie von der Älteren Historischen Schule ab, die mehr Zutrauen in den natürlichen Gang der Entwicklung hatte), zweitens ein Arbeitsprogramm, die Gewinnung des empirischen Tatsachenmaterials, mit dem die Notwendigkeit sozialer Reformen aufgezeigt und Wege beschrieben werden konnten, diese Reformen durchzuführen. Mit der Forschung wurde ein eminent praktisches, sozialpolitisches Ziel verfolgt, und es fand genau das statt, was Carl Menger später der Jüngeren Historischen Schule zum Vorwurf machen sollte, dass Theorie und Praxis von Anfang an nicht auseinandergehalten wurden und dass das auch so gewollt war.36 Ihren institutionellen Niederschlag fanden diese Bemühungen im 1872 gegründeten Verein für Sozialpolitik.37 Diese Vereinigung hatte den Zweck, Fragen der Sozialpolitik (bzw. »Sozialreform«38) wissenschaftlich zu untersuchen und zu diskutieren, um auf diese Weise auf Politik und öffentliche Meinung einzuwirken. Mitglieder des Vereins waren neben einzelnen Juristen hauptsächlich Nationalökonomen. Zu den Tagungen des Vereins, auf denen jeweils mehrere große Themen – durch Enqueten vorbereitet – verhandelt wurden, kamen jedoch auch Regierungsbeamte und Wirtschaftspraktiker, so dass es sich keineswegs um eine rein akademische Veranstaltung handelte. Trotz zahlreicher Richtungsstreitigkeiten innerhalb des Vereins war die Grundausrichtung klar: soziale Missstände aufzuzeigen und bei der Obrigkeit eine Sensibilität für diese Problemlagen zu erzeugen, wobei letzterer mitunter emphatisch die Fähigkeit zur Lösung der sozialen Frage zugeschrieben wurde.39 Klar war dabei jedoch auch, dass die Sozialpolitik nur das praktische Ziel der Forschung darstellte. Die Jüngere Historische Schule wollte keine Tendenz34 Ebd., S. 34. 35 Düe, S. 120 ff. 36 Menger, Irrtümer, S. 56 ff. 37 Zur Geschichte des Vereins s. Boese, Geschichte. Zur Frage seiner inhaltlichen Ausrichtung s. Lindenlaub. 38 Vgl. Kaufmann, Sozialpolitisches Denken, S. 49 ff. 39 Schmoller, Soziale Frage.

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wissenschaft sein und fühlte sich einem strengen wissenschaftlichen Objektivitätsideal verpflichtet. Sie wollte im Übrigen, wenn sie historisch arbeitete, auch nicht primär Wirtschaftsgeschichte betreiben, sondern beanspruchte, gegenüber ökonomischer Klassik und Marxismus die bessere Nationalökonomie zu sein und mit ihrer Methode eine realistischere Beschreibung des Wirtschaftslebens zu geben. Diese Methode zeichnete sich v. a. durch zwei zentrale Merkmale aus, die sich als historischer Relativismus und ethischer Evolutionismus beschreiben lassen. Die Wirtschaft repräsentierte für die Jüngere Historische Schule zunächst keine Ordnung, deren Gesetzmäßigkeiten sich unabhängig von den spezifischen historischen Rahmenbedingungen erfassen ließen. Gustav Schmoller schloss später zwar nicht aus, dass irgendwann empirische Gesetze des Wirtschaftslebens gefunden werden könnten, sah diese Möglichkeit jedoch an die extensive Weiterführung der empirischen Forschung gekoppelt.40 Unhintergehbarer Ausgangspunkt der Betrachtung war dabei zunächst die Volkswirtschaft. Diese war mehr als die durch staatliche Grenzen definierte Zusammenfassung von Einzelwirtschaften, sondern repräsentierte ein »Ganzes«. Wie auch der Staat keinen bloß juristisch definierten Verband, sondern eine Sprachgemeinschaft, eine Rechtsgemeinschaft, eine sittliche Gemeinschaft darstellte, so galt für die Volkswirtschaft das gleiche. Das wiederum zeigte sich besonders in den Institutionen des Wirtschaftslebens, einem mitunter weit verstandenen Begriff, der die staatlichen Instanzen, die Wirtschaftsordnung wie einzelne Rechtsinstitute (z. B. die Gewerbefreiheit) umfasste. Diese Institutionen waren nur in ihrem individuellen historischen Gewordensein adäquat zu begreifen und von Land zu Land unterschiedlich. Für alles Wirtschaftsleben gleichmäßig geltende Gesetze und Mechanismen konnte es schon allein aus diesem Grund nicht geben. Zugleich lehnte es die Jüngere Historische Schule ab, den Menschen als eigen­ nützigen, rationalen Nutzenmaximierer zu begreifen. Die Bedeutung des Interesses im Wirtschaftsleben wurde zwar nicht geleugnet, jedoch der Mensch zugleich als durch eine spezifische Sittlichkeit ausgezeichnet betrachtet. Es gab große Ideen wie die der Gerechtigkeit, der Gemeinschaft oder der Freiheit, die den Menschen durch ihre sittliche Anlage gegeben waren. Durch ihren freien Willen konnten sie diese in das Gemeinschaftsleben hineintragen. Die praktischen Formen, in denen sich diese Ideen verwirklichten, waren die der Sitte und des Rechts, was wiederum zur Schlussfolgerung führte, dass diese sich in letzter Instanz in den Institutionen materialisierten. Das macht verständlich, warum der Obrigkeit ein solch großer Einfluss zugestanden wurde, weil es nicht nur in deren Macht stand, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die unteren Schichten zu verbessern, sondern auch durch Institutionengestaltung den 40 Ders., Volkswirtschaft, S.  342. Auch hatten diese empirischen Gesetze einen anderen logischen Status als die deduktiven Gesetze der Österreichischen Schule. Zum Verhältnis »logischer«/»empirischer« Gesetze s. Husserls Psychologismuskritik. Husserl, Untersuchun­ gen, S. 50 ff.

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sittlichen Fortschritt zu garantieren. Auf diese Weise bestimmten die Institutionen nicht nur Form und Entwicklungsgang des Wirtschaftslebens, sondern übten zudem auf die in ihrem Einflussbereich wirkenden Menschen einen erzieherischen Einfluss aus, indem sie bestimmte sittliche Verhaltensweisen verlangten.41 Der ethische Evolutionismus wiederum steht mit der Auffassung von der institutionellen Bedingtheit des Wirtschaftslebens in engem Zusammenhang. Die Jüngere Historische Schule fasste die historische Entwicklung der Wirtschaft als einen Kontinuitätszusammenhang auf. Das zeigte sich vor allem in Stufentheorien der Wirtschaftsentwicklung, wie sie Friedrich List und Bruno Hildebrand zuvor bereits ausgearbeitet hatten.42 Der Leipziger Nationalökonom Karl Bücher rekonstruierte historisch eine Entwicklungsreihe von geschlossener Hauswirtschaft, Stadtwirtschaft und Volkswirtschaft, deren bestimmendes Merkmal die Länge des Weges zwischen Produktion und Absatz war. Gustav Schmoller vertrat in seinem Hauptwerk, dem Grundriss der allgemeinen Volks­ wirtschaftslehre, eine formal ähnliche, jedoch erweiterte Typologie, wobei er diese Stufenfolge allerdings an der ökonomischen Durchdringung von Territorien festmachte.43 Wesentlich an diesen Entwicklungstheorien war, dass für sie die moderne Wirtschaft keinen Bruch gegenüber traditionellen Wirtschaftsformen darstellte, sondern sie sich organisch aus diesen entwickelt hatte. Das ermöglichte es zugleich, sie an eine positive Geschichtsteleologie anzukoppeln. Wenn die bisherige Entwicklung als Institutionenfortschritt beschrieben werden konnte, dann stand das auch für die Zukunft zu erwarten. »Gewiss werden die Institutionen kommender Jahrhunderte gerechter sein als die heutigen« schrieb Schmoller Mitte der 1880er Jahre und leitete daraus die zunehmende Harmonisierung und Versittlichung des Wirtschaftslebens ab.44 Diese Methodik, wie sie insbesondere Schmoller programmatisch formulierte, war aus dem zeitgenössischen Kontext heraus zunächst keinesfalls so leicht von der Hand zu weisen, wie später gemeint wurde.45 Viele im Nach­hinein geäußerte Kritik bezog sich letztlich auch mehr darauf, dass dieses Programm in der praktischen Forschungsarbeit zu einer Vielzahl empirischer Fallstudien führte, bei denen kaum abzusehen war, wie sie in der Zusammenschau jemals ein einheitliches Bild der volkswirtschaftlichen Zusammenhänge er­geben sollten. Schmollers Grundriss der Volkswirtschaftslehre, der als eine solche Synthese gedacht war, war in seinem Umfang schon so ehrfurchtgebietend, dass er die Rolle als verbindendes Glied zwischen den zahllosen Einzelarbeiten kaum erfüllen konnte.46 Ein methodisches Problem lag prinzipiell jedoch eher in den 41 Nau, Wissenschaft, S. 94. 42 Für einen Überblick s. Schachtschabel, Wirtschaftsstufen. 43 Zu den Entwicklungstheorien Büchers und Schmollers s. umfassend Düe. 44 Schmoller, Gerechtigkeit, 148. 45 Vgl. Lindenlaub, Richtungskämpfe, S. 96 ff., 100 ff. 46 Zimmermann, Schmoller, S. 738.

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l­atenten Schwierigkeiten der Beziehung von Notwendigkeit und Freiheit. Die Betonung der Freiheit des menschlichen Willens war einer der Punkte gewesen, den die Jüngere Historische Schule gegenüber der Klassik vorgebracht hatte, dass es nämlich einen Selbstvollzug des Geschichtsprozesses unabhängig von den individuellen Zwecksetzungen nicht geben könne. Deswegen würde sich die soziale Frage auch nicht von selber lösen, sondern nur durch das Eingreifen der Obrigkeit. Trotz dieser Betonung der Freiheit wohnte den staatlichen und wirtschaftlichen Institutionen durch ihr geschichtliches Gewordensein aber ein Moment der Notwendigkeit inne.47 Wenn sich in ihnen die sittliche Veranlagung des Menschen sukzessive materialisierte, handelte es sich bei der menschlichen Freiheit um die Verwirklichung seiner ethischen Potentiale gegen die Herrschaft des Interesses, und nicht um seine Fähigkeit, gut und böse zu handeln. Das hatte aber zur Konsequenz, dass die zunehmende Versittlichung und soziale Harmonisierung letztlich doch wieder einen Selbstvollzug des Geschichtsprozesses implizierte und alles andere demgegenüber nur als Deprivation erscheinen konnte. Schon diese methodischen Implikationen führten dazu, dass die Mitglieder der Jüngeren Historischen Schule nicht nur ähnliche Ansichten bezüglich der sozialpolitischen Ausrichtung und der Wertschätzung historischer Arbeits­ methoden hatten, sondern zudem einen affirmativen Bezug auf die Institutionen des Kaiserreichs pflegten, die den sozialpolitischen Fortschritt verkörperten – und dies notwendig umso mehr, je länger die Jüngere Historische Schule ihr Programm verfolgte. Das Kaiserreich war für sie vielleicht nicht eine Welt »der Harmonie und des großen Glücks«48, aber eine gute Ordnung. Es waren seine Institutionen, die die Menschen bessern und einen glücklichen Fortgang der deutschen Geschichte garantieren sollten. Der Blick in die Vergangenheit ging zugleich einher mit einer ruhigen Zukunftsgewissheit, dass vorhandene Missstände nur temporär und durch die Obrigkeit zu beheben seien. Der Positivismus hatte deshalb dort seine Grenze, wo es um die grundlegende Beurteilung des Staates und seiner Stellung im geschichtlichen Fortschrittsprozess ging. Den Idealismus hatte man nur zum Schein hinter sich gelassen.49 Die Jüngere Historische Schule erreichte den Höhepunkt ihrer Dominanz in den 1890er Jahren.50 Schmollers Rektoratsrede von 1897 über Wechselnde Theorien und feststehende Wahrheiten auf dem Gebiet der Nationalökonomie ist das Dokument eines beeindruckenden Selbst- und Superioritätsbewusstseins.51 Er bezeichnete es an dieser Stelle als sichtbares Merkmal einer reifen Wissenschaft mit einer ausdifferenzierten Methodik, dass die dem Objektivitätsideal verpflichteten Wissenschaftler zunehmend für sich zu gleichen oder zumin47 Vgl. Rothacker, Historismus, S. 7. 48 Diese Formulierung bei Borchardt, Revolution, S. 166. 49 Ringer, S. 96. 50 Eucken, Überwindung, S. 194. 51 Schmoller, Wechselnde Theorien.

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dest ähnlichen Ergebnissen kommen würden. Die Nationalökonomie sei mittlerweile so weit, dass im Gegensatz zu ihren Anfangsjahren nicht mehr jeder Dilettant das Fach betreiben könne, sondern nur noch derjenige, der es gelernt und die Methodik verinnerlicht hatte. Auf diese Weise werde sich die nationalökonomische Forschung zunehmend einem objektiven Wahrheitsideal an­ nähern. Dass die Nationalökonomen allerdings »objektiv« zu kongruenten Ergebnissen kamen, hatte auch mit der institutionellen Macht Schmollers und seiner engen Verbindung mit dem preußischen Ministerialdirektor Althoff zu tun, wodurch er einen weitreichenden Einfluss auf die Berufungen an den preußischen Universitäten ausüben konnte.52 Allein Adolph Wagner in Berlin, Julius Wolf in Straßburg und einige andere repräsentierten in Deutschland nicht die Mehrheitsrichtung. Trotzdem wurde die Dominanz der Jüngeren Historischen Schule seit der Jahrhundertwende zunehmend in Frage gestellt, wobei sich Konfliktlinien auf mehreren Ebenen ergaben, was schließlich dazu führte, dass das Paradigma des Historismus zunehmend in die Defensive geriet.

1.2 Die Infragestellung der Historischen Schule vor dem Ersten Weltkrieg Wenn später leicht übersehen werden konnte, dass die Jüngere Historische Schule in ihrer Anfangszeit ein wissenschaftlich durchaus innovatives Programm besaß, hatte das vor allem damit zu tun, dass sie selbst sich veränderte. Der alte Schmoller war ein konservativer Mann, dessen »wilhelminische Gemütlichkeit«53 (J. Radkau) mit einer durchaus machtbewussten Gelehrtenpolitik zusammenging. Wenn er aber wirklich meinte, den kulturell-sittlichen Fortschritt und die Harmonisierung der Klassengegensätze in seiner Gegenwart nachvollziehen zu können, war er de facto zum Opfer seiner eigenen Entwicklungskonzeption geworden.54 In seinen späten Jahren diskutierte er im Seminar kaum mehr ernsthafte Probleme, sondern sprach Gewissheiten aus.55 Zudem musste sich seine wissenschaftspolitische Taktik irgendwann über­leben, abweichende Theorien und Methoden in der Regel als zu diesem oder jenem Aspekt nützlich einfach einzugemeinden und bestehende Gegensätze nach Möglichkeit glatt zu bügeln. Seit der Jahrhundertwende jedenfalls fing die Hegemonie der Jüngeren Historischen Schule langsam an zu bröckeln. Besonders augenscheinlich wurde dies während der Kartelldebatte auf der Jahresversammlung des Vereins für So52 Ein schönes Beispiel für die Berufungspraxis findet sich in Wiedenfeld, Wissenschaft, S. 15 f. 53 Radkau, Weber, S. 621. 54 Vgl. vom Bruch, Gelehrtenpolitik, S. 362. 55 Schreiben Edgar Salin an Bernhard vom Brocke (26.11.1973). UB Basel, Handschriftenabteilung. Nl Salin, Fb 474.

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zialpolitik 1905. Schmoller hatte in der Generaldebatte die Kartellbildung positiv bewertet, worauf sich vor allem Max Weber deutlich von ihm distanzierte. Schmoller wiederum wies Weber – halb autoritär, halb versöhnend – zurecht.56 Die hier aufbrechenden Konflikte konnten anschließend zwar noch einmal bereinigt werden, jedoch war damit ein Ventil geöffnet; Kritik an Schmoller und am Programm der Historischen Schule konnte nun offener formuliert werden – und wurde es auch. Die Kritiker lassen sich dabei in zwei Richtungen einteilen: Zum einen gab es diejenigen, die eine stärkere theoretische Orientierung der deutschen Nationalökonomie forderten. Dabei handelte es sich vor allem um den Rostocker Nationalökonomen Richard Ehrenberg und die Wissenschaftler im Umkreis der »Zeitschrift für Sozialwissenschaft«, besonders seitdem Ludwig Pohle 1910 die Herausgeberschaft von Julius Wolf übernommen hatte. Weiter lassen sich noch Bernhard Harms, Robert Liefmann und Franz Oppenheimer zu dieser Richtung rechnen, auch wenn letzterer politisch weiter links stand als die vor­stehend Genannten.57 Zum Zweiten gab es eine aus der Historischen Schule selbst erwachsene Opposition, die sich in erster Linie mit den Namen Max Weber und Werner Sombart verbindet. Webers und Sombarts Kritik zielte einerseits auf das Problem der Vermischung von positiver Forschung und Werturteilen. Darüber hinaus hatten sie aber vor allem auch an der Entwicklungskonzeption der Historischen Schule einiges auszusetzen, wobei sie ihre Gegenposition letztlich auf die Formulierung des Kapitalismus als eines Epochenproblems zuspitzten. Die Diagnose einer zunehmenden sozialen Harmonisierung konnte so nicht nur auf der Ebene der Klassen­konflikte problematisch werden, sondern gerade auch bezüglich der Einschätzung der Entfaltung der sittlichen Potentiale des Menschen im Kapitalismus. Hier traten im Zuge der Kulturkrise seit der Jahrhundertwende ganz neue Problemlagen auf, denen die älteren Historisten schon habi­ tuell weitgehend verständnislos gegenüberstanden. 1.2.1 Die Renaissance der Theorie Diejenigen Wissenschaftler zunächst, die eine stärkere theoretische Orientierung forderten, störte nicht allein die historische Arbeitsweise. Pohle trat 1905 aus dem Verein für Sozialpolitik aus, weil er, wie er an Schmoller schrieb, mit dessen Verhandlungsführung nicht einverstanden war.58 Andere Nationalökonomen wie Andreas Voigt und Richard Ehrenberg folgten später seinem Beispiel. Was vor allem störte, war die sozialpolitische Ausrichtung des Vereins: Wie insbesondere der Rostocker Nationalökonom Richard Ehrenberg nicht müde wurde zu betonen, wurden die Ergebnisse der Enqueten durch die politische 56 Radkau, Weber, S. 509–512. 57 Haselbach, Theory, S. 56. 58 Boese, Verein, S. 125.

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Einstellung der Bearbeiter angeblich präjudiziert, was für ihn einem Abschied vom wissenschaftlichen Objektivitätsideal gleichkam. Dieser Vorwurf war insofern pikant, weil Ehrenberg durch den Versuch, ein »Institut für exakte Wirtschaftsforschung« zu errichten, sowie die 1909 von dort ansässigen Industriellen projektierte Berufung nach Leipzig (die schließlich nicht zu Stande kam), selbst in den Ruch unternehmerfreundlicher Auftragsforschung geraten war.59 Die Granden der Historischen Schule ließen jedenfalls nichts unversucht, Ehrenberg wissenschaftlich und persönlich zu desavouieren.60 Das wurde allerdings auch durch die heftige Reaktion Ehrenbergs befördert, wie seine Streitschrift Terrorismus in der Wirtschaftswissenschaft signifikant demonstrierte.61 Jedenfalls bezeichnete ihn selbst der Breslauer Nationalökonom Adolf ­Weber, gegenüber der Historischen Schule eigentlich auf Ehrenbergs Seite, als »Einspänner«.62 Eine naheliegende Formulierung: Ehrenbergs Zeitschrift, das Thünen Archiv für exakte Wirtschaftsforschung, reichte vom Umfang her durchaus an die übrigen Fachzeitschriften heran, wurde jedoch von Ehrenberg nahezu im Alleingang vollgeschrieben und endete konsequenterweise mit seinem Tod 1919. Ehrenberg war aber nur der radikalste Exponent einer sich ausbreitenden Skepsis seit der Jahrhundertwende: »Von der Stärke des Gegensatzes, der sich neuerdings bei einem Teile der jüngeren Nationalökonomen gegen den Historismus und den Kathedersozialismus regt, scheint man in diesen Kreisen selbst wohl noch keine rechte Vorstellung zu haben«63, meinte Adolf Weber 1909. Georg Brodnitz vermeldete ein Jahr später die zunehmende Ablehnung des historischen Denkens in der Nationalökonomie.64 Eduard Spranger schrieb 1913: »Die Kulturlage, aus der der sog. Kathedersozialismus geboren wurde, der durch seine lange und starke Lage schon den Beweis lieferte, dass er nicht sine funda­ mento in re war, mag sich heute verschoben haben. Neue Ideale drängen herauf, die aber noch nicht so fertig sind, um sich sogleich positiv formulieren zu können. Daher der merkwürdig zurückhaltende Positivismus, den wir heute beobachten, und durch den doch ein noch merkwürdigerer Rückgang zum Manchestertum stellenweise durchschimmert.«65 Damit registrierte Spranger scharfsinnig, dass die Opposition gegen die Historische Schule von jüngeren Ökonomen getragen wurde, die jedoch kein überzeugendes Gegenprogramm besaßen. Es handelte sich zumeist um ökonomische Liberale, die sich theo­retisch

59 Vom Bruch, Gelehrtenpolitik, S. 99 f., 118. 60 Radkau, Weber, S. 619. 61 Ehrenberg, Terrorismus. 62 Weber, Aufgaben, S. 2. 63 Zit. bei ebd., S. 3. 64 Brodnitz, Zukunft, S. 145 f. 65 Spranger, Stellung, S. 143. Auch Max Weber wies in seinem Wertfreiheitsaufsatz darauf hin, dass Schmollers Ideale einer vergangenen Epoche zugehörten. Weber, Sinn, S.  491 f. Vgl. auch Salin, Hochkapitalismus, S. 316 f.

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an der Klassik orientierten.66 Sie störte die angebliche Unternehmerfeindschaft des Vereins für Sozialpolitik; die Theorielosigkeit und die Detailfülle der historischen Arbeiten ermüdeten sie. Ehrenbergs »exakte Wirtschaftsforschung«, die primär die Forderung nach betriebsvergleichenden Untersuchungen enthielt, oder Bernhard Harms »Weltwirtschaftslehre«, die er als Ergänzung zur Volkswirtschaftslehre entwickeln wollte, waren aber längst nicht elaboriert genug, um einen wirklichen Gegenentwurf zur Historischen Schule darzustellen. Ludwig Pohle startete mit seinem 1911 erschienenen Werk Die gegenwär­ tige Krisis in der deutschen Volkswirtschaftslehre den prominentesten Angriff auf die Historische Schule vor dem Ersten Weltkrieg. Dieses Buch war zugleich Polemik und Programmschrift anlässlich Pohles Übernahme der Herausgeberschaft der »Zeitschrift für Sozialwissenschaft« ein Jahr zuvor von Julius Wolf, der ebenfalls der Historischen Schule kritisch gegenüber eingestellt war. Pointiert formulierte Pohle gleich in der Einleitung: »Die deutsche Nationalökonomie muss entweder die politisch-moralischen Gesichtspunkte, die unter der Herrschaft der gewöhnlich kurz als Kathedersozialismus bezeichneten Richtung tief in sie eingedrungen sind, wieder ausscheiden, oder sie muss selbst aus der Reihe der voraussetzungslosen Wissenschaften ausscheiden.«67 Nach Pohle war die Nationalökonomie zu einer politischen Wissenschaft verkommen, die auch gar keine positive Erkenntnis mehr vermitteln, sondern ihre Jünger zu einer bestimmten Stellungnahme hinführen wollte. Neben der sozialpolitischen Kontaminierung kritisierte Pohle vor allem die Ablehnung von Naturgesetzen im Wirtschaftsleben. Seiner Meinung nach hatten die Historisten die ökonomische Klassik vor allem deswegen verworfen, weil sie mit den Ergebnissen nicht einverstanden waren, die zu ihren ethischen Zielen konträr gingen. Werde jedoch erst die politisierende Methode verschwinden, dann verschwinde auch die irrationale Ablehnung der Deduktion. Ganz in diesem Fahrwasser insistierte Pohle auch darauf, überall sei eine übertriebene Auffassung von der Leistungsfähigkeit des Staates zu beobachten, die er von seinem liberalen Standpunkt aus grundsätzlich ablehnte. Pohles Streitschrift machte auf drastische Weise den Konflikt zweier Lager innerhalb der deutschen Nationalökonomie deutlich: Auf der einen Seite stand eine Anzahl jüngerer Ökonomen, welche die ökonomische Theorie wieder­be­ leben wollten, auf der anderen Seite die Historische Schule.68 Diese spielte im Übrigen ihre institutionelle Macht aus, um den Kritikern kein Forum zu bieten: In keiner der damals vier großen akademischen Fachzeitschriften (»Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft« – später »Schmollers Jahrbuch«, »Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik«, »Zeitschrift für die Gesamte Staatswissenschaft«, »Finanzarchiv«) erschien eine Besprechung zu Pohles Werk. Die Kritik an der sozialpolitischen Ausrichtung der National­ 66 Vgl. Schumpeter, Wesen, S. XIII. 67 Pohle, Krisis, S. III. 68 Vgl. Struve.

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ökonomie von Seiten der neuen Liberalen hatte zwei Hauptaspekte: Auf der einen Seite ging es um die politische Tendenz, die den Kritikern als ein­seitige Parteinahme zugunsten der unteren Schichten erschien. Die Dissidenten kamen mithin aus dem »unternehmerfreundlichen« Lager.69 Auf der anderen Seite ging es aber auch um eine Erneuerung der Nationalökonomie als Wissenschaft überhaupt. Adolf Weber schrieb: »Es muss möglich werden, dass die Volkswirtschaftslehre auch in der Praxis wieder ihre Autorität als Wissenschaft zurückerlangt. Praktisch würde dadurch erreicht, dass die Interessenten nicht so leicht die Lehren der Wissenschaft von sich abschütteln könnten.«70 Durch die sozialpolitische und dabei insbesondere tagespolitische Ausrichtung konnten ihre Untersuchungsergebnisse von vornherein als tendenziös bewertet werden. Demgegenüber galt es, die Nationalökonomie als Wissenschaft zu renovieren. Zugleich bedeutete das eine stärkere praktische Ausrichtung der Disziplin, was aber eben nicht sozialpolitische Praxis meinte, sondern »Praxis« im Sinne der konkreten Bedürfnisse der Wirtschaft. Einer der vehementesten Verfechter dieser Umorientierung war außer Ludwig Pohle und Adolf Weber der Kieler Nationalökonom Bernhard Harms. Harms wurde 1908 aus Jena nach Kiel berufen und entfaltete dort schnell eine umfassende Aktivität zur Gründung eines Instituts, das sich wissenschaftlich mit Deutschlands Rolle in der Weltwirtschaft beschäftigen sollte. 1911 wurde das »Institut für Seeverkehr und Weltwirtschaft« (später wurde die Reihenfolge der Begriffe umgedreht) noch als Abteilung des Kieler Staatswissenschaftlichen Seminars gegründet. 1914 kam es dann zur Errichtung eines eigenständigen Instituts, das sich bis zu einer Finanzkrise während der Inflation überwiegend aus privaten Mitteln finanzierte.71 Harms kämpfte für dessen Errichtung an allen Fronten: Er sandte nicht nur zahllose Eingaben an die zuständigen Ministerien, sondern entwarf auch das theoretische Konzept einer selbständigen »Weltwirtschaftslehre«.72 Wegen des Terminus fiel es leicht, darin eine unan­ gemessene Weiterführung der von Bücher und Schmoller entwickelten Stufentheorien zu erblicken, zumal Harms akademischer Lehrer Gustav Schönberg ebenfalls einen solchen Ansatz vertreten hatte.73 Harms Absicht war jedoch eine andere. Ihm ging es primär darum, Volkswirtschaft und Weltwirtschaft als parallele Verkehrsgesellschaften zu beschreiben, mit denen jeweils Teilbereiche der Wirtschaftswissenschaft, eben Volkswirtschaftslehre und Weltwirtschaftslehre, korrespondierten.74 In beiden Fällen handelte es sich um miteinander Geschäfte machende Einzelwirtschaften, also Unternehmen, die in Volks- und Weltwirtschaft jedoch auf unterschiedliche institutionelle Rahmenbedingungen 69 Vom Bruch, Gelehrtenpolitik, S. 313 f. 70 Weber, Aufgaben, S. 70. 71 Zottmann, S. 46. 72 Harms, Volkswirtschaft. 73 Vgl. Diehl, Privatwirtschaftslehre. 74 Harms, Volkswirtschaft, S. 107.

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trafen: Während die Volkswirtschaft sich für Harms durch ein politisch abgegrenztes Gebiet, Verkehrsfreiheit und entwickelte technische Verkehrsmittel definierte, galten diese Voraussetzungen für die weltwirtschaftlichen Beziehungen nicht oder nur eingeschränkt.75 Da aber, wie er umfangreich statistisch nachzuweisen bemüht war, die weltwirtschaftlichen Beziehungen des Deutschen Reiches in den letzten Jahrzehnten einen Aufschwung erlebt hatten76, erschien es wichtig, sich mit dem besonderen Charakter dieser weltwirtschaftlichen Beziehungen im Rahmen eines gesonderten Teilbereichs der »Sozialwirtschaftslehre«, wie Harms die Nationalökonomie benannte, genauer zu beschäftigen. Dabei war es insbesondere die Betonung der Einzelwirtschaften als Ausgangspunkt der ökonomischen Beziehungen, die eine Spitze gegen den Holismus der Historischen Schule darstellte. Dieses methodisch keineswegs subtile Programm garnierte Harms mit scharfen Angriffen gegen die Historische Schule. So schrieb er beispielsweise, dass die Auffassung, die Sozialwirtschaftslehre sei eine historische Disziplin, mittlerweile ein »glücklicherweise« überwundener Standpunkt sei: »Der Historismus als Selbstzweck ist ihrem innersten Wesen ja auch fremd, und die deutsche Sozialwirtschaftslehre ist dadurch, dass viele ihrer Vertreter dies verkannten, in gesunder Fortentwicklung stark behindert worden.«77 Zugleich vermeinte Harms stellvertretend für eine jüngere Generation von Ökonomen zu sprechen, für die der Historismus »unter allen Umständen ein überwundener Standpunkt« sei. Zwar wurde die theoretische Fundierung der Weltwirtschaftslehre im Fach scharf angegriffen – Harms genoss als Ökonom gerade vor dem Ersten Weltkrieg nicht den allerbesten Ruf78 –, doch lag sein eigentliches Talent ohnehin mehr auf organisatorischem Gebiet.79 Das Institut für Weltwirtschaft wurde rasch, nicht zuletzt aufgrund Harms hervorragender Kontakte zur Wirtschaft80, zu einer in der deutschen Nationalökonomie einzigartigen Institution. Vor allem den Informationsbedarf der Kriegswirtschaft im Ersten Weltkrieg konnte Harms zur Vergrößerung seines Instituts nutzen, und als der Verein für Sozial­ politik 1920 in Kiel tagte, schwankte so mancher Teilnehmer nur noch zwischen Neid und Bewunderung.81 Viel mehr noch als in seiner bei Bedarf leicht zu kritisierenden »Weltwirtschaftslehre« lag aber in Harms organisatorischer Tätigkeit ein subversives Element. Wie schon der »Fall Ehrenberg« gezeigt hatte, war die Schaffung von Instituten mit großen Mitarbeiterstäben für viele etablierte Professoren ein Graus und kam dem Abschied vom wissenschaftlichen 75 Ebd., S. 100 ff. 76 Vgl. Torp. 77 Harms, Volkswirtschaft, S. 340. 78 Gutachten des Finanzministers über das Institut für Weltwirtschaft (3.1.1914). GStA Berlin. 1. HA; Rep. 76 (Kultusministerium), Va, Sekt. 9, Tit. X, Nr.39 A Bd.1. 79 Vgl. Schumpeter, Briefe/Letters, S. 224. 80 Vgl. Wenzel, S. 619 f. 81 Jastrow, Reform, S. 229.

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Objektivitäts­ideal gleich. Der Vorwurf fehlender wissenschaftlicher Objektivität beruhte also auf Gegenseitigkeit82, zumal nach Harms auch Albert Hesse 1916 in Königsberg ein »Institut für ostdeutsche Wirtschaft« gegründet hatte83 und Johann Plenge sich während des Krieges ebenfalls anschickte, in Münster ein Institut zu errichten.84 Die Ablehnung der Historischen Schule ging daher bis zu einem gewissen Grad mit dem Bemühen um eine organisatorische Neuausrichtung des Wissenschaftsbetriebs einher, die eine sich stärker an den Interessen der Unternehmen orientierende Praxisorientierung zum Ziel hatte. Harms hatte neben der Institutsgründung mit dem 1913 erstmals erschienenen »Weltwirtschaftlichen Archiv« auch noch eine neue Fachzeitschrift geschaffen, die sich explizit an die Bedürfnisse seiner Förderer aus der Wirtschaft richtete und zum Erschrecken der Etablierten durchaus reüssierte.85 Insgesamt konnten diejenigen, die eine stärkere theoretische Ausrichtung der Disziplin forderten, vor 1914 erkennbare Geländegewinne verbuchen. Julius Hirsch, nach dem Krieg Staatssekretär im Reichswirtschaftsministerium, meinte rückblickend, besonders die Standortlehre habe sich als Thema »erlaubten« theoretischen Denkens großer Beliebtheit erfreut.86 Der Berliner Arzt und seit 1919 erster Lehrstuhlinhaber für Soziologie, Franz Oppenheimer, schrieb 1913, das Pendel der Geschichte schwinge wieder zur ökonomischen Theorie zurück: »Der größte Teil der jüngeren Fachgenossen hat sich wieder, notgedrungen, den verpönten theoretischen Studien hingegeben, und eine neue, groß­ artige Periode der Theorie kündigt ihren Einzug an.«87 Julius Wolf schrieb 1914 vom Aufstieg der theoretischen Nationalökonomie in Deutschland, welche die Historische Schule immer mehr in den Hintergrund dränge.88 Auch wenn sich das durchaus als Beschwörung einer gewünschten Entwicklung lesen lässt, zeigt es dennoch, dass die Dominanz der Historischen Schule vor dem Weltkrieg, zumindest in Ansätzen, bereits gebrochen war. 1.2.2 Kapitalismusdebatte und Werturteilsstreit Eine zweite, schwerer zu verortende, geistesgeschichtlich indes ungleich prominentere Front tat sich von Seiten Max Webers und Werner Sombarts auf. Beide entstammten der Jüngeren Historischen Schule und bewegten sich in ihren frühen 82 Bücher, Schicksalsstunde. 83 Richter, Albertus-Universität, S. 127–140. 84 Schildt, Prophet, S. 549 ff. Krüger, Nationalökonomen, S. 102 ff. 85 Harms bezifferte die Zahl der Leser des Weltwirtschaftlichen Archivs 1917 auf 5000. Schreiben Bernhard Harms an Johann Plenge (8.12.1917). UB Bielefeld, Nl Plenge. Vgl. auch Schreiben Franz Boese an Arthur Spiethoff (6.3.1917). UB Basel, Handschriftenabteilung. Nl Spiethoff, 301 A 77,35. 86 Hirsch, Wirtschaftswissenschaft, S. 155. 87 Oppenheimer, Praktische Ökonomik, S. 331. 88 Wolf, Aufstieg.

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Arbeiten in ihren methodischen Bahnen.89 Später gingen sie jedoch zunehmend eigene Wege, wobei Sombart durch seine zeitweilige Annäherung an marxistische Anschauungen sogar seine akademische Karriere massiv gefährdete.90 Die inhaltlichen Spannungen zur Jüngeren Historischen Schule machten sich bei ihnen vor allem an zwei Punkten fest. Der erste wurde in der Debatte um die Zulässigkeit von Werturteilen in den Sozialwissenschaften thematisiert, die Weber mit seinem 1904 veröffentlichten »Objektivitäts«-Aufsatz angefacht hatte.91 Für Weber war es angesichts der unübersehbaren Komplexität der Wirklichkeit unmöglich, diese selbst in der Forschung abzubilden. Der Wissenschaftler musste darum seinen Forschungsgegenstand zunächst durch eine spezifische Fragestellung begrenzen. Diese Fragestellung war jedoch keine »objektive«, sondern sie war auf Kulturprobleme bezogen: In ihr kam nach Weber der wertende Standpunkt des Betrachters zum Ausdruck. Der Wissenschaftler hatte sich selbst, aber auch seinem Publikum gegenüber, über diesen Punkt Rechenschaft abzulegen. Der Ausdruck »Wertfreiheit« ist insofern durchaus missverständlich, weil Weber den Gebrauch von Werturteilen keinesfalls grundsätzlich ablehnte. Sie sollten nur als solche kenntlich gemacht, und es sollte angegeben werden, auf welchen Voraussetzungen sie beruhten. Vor allem aber sollte nicht so getan werden, als seien sie das unwiderlegbare Resultat objektiver wissenschaftlicher Forschung. Um den methodischen Standpunkt Webers entspannte sich in den Folgejahren eine breite Kontroverse.92 Dabei war allen Beteiligten klar, dass Weber mit seinen Überlegungen vor allem die Historische Schule kritisierte und ihre gesamte wissenschaftliche Arbeitsweise in Frage stellte, nicht zuletzt, indem er den Fortschrittsbegriff als historische Kategorie ablehnte.93 Weil hier eine weitere Front gegen die Historische Schule eröffnet wurde, versuchten Ludwig Pohle und die anderen Ökonomen im Umkreis der »Zeitschrift für Sozialwissenschaft« sich als »Trittbrettfahrer« an die Webersche Position anzuhängen. Mit diesen wollte Weber jedoch nicht in einen Topf geworfen werden: Er betrachtete sie als »Pseudowertfreie«, die ihre eigene politische Ausrichtung mit dem Mantel wissenschaftlicher Objektivität verschleiern wollten.94 Schmoller hingegen beharrte darauf, dass sich aus der adäquaten Erkenntnis des »Seins« Rückschlüsse auf das »Werden« ziehen ließen, und deswegen Werturteile durchaus, wohlgemerkt in einem streng wissenschaftlichen Rahmen und nicht als willkürliche Prophezeiungen, möglich seien.95 Neben den von Weber angesprochenen »subjektiven« Werturteilen gäbe es schließlich noch »objektive« Werturteile, die von ganzen Kulturwelten geteilt würden.96 89 Z. B. Weber, Agrargeschichte. 90 Lenger, Sombart, S. 115 ff. 91 Weber, Objektivität. Ders., Sinn. 92 Vgl. Nau, Werturteilsstreit. 93 Weber, Sinn, S. 524 ff. 94 Dazu Wilbrandt, Ende. Vom Bruch, Gelehrtenpolitik, S. 312. 95 Schmoller, Volkswirtschaft, S. 351. 96 Ebd., S. 352 ff.

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Der zweite Punkt, wo es zwischen Weber und Sombart auf der einen und der Jüngeren Historischen Schule auf der anderen Seite einen Dissens gab, war das Problem des modernen Kapitalismus. Mit der ersten Auflage von Sombarts Modernem Kapitalismus (1902) und Webers Protestantischer Ethik (1904) arbeiteten sie den Kapitalismus als ein Epochenproblem heraus und propagierten damit eine Entwicklungsvorstellung, die sich von derjenigen der Jüngeren Historischen Schule fundamental unterschied. Für letztere stellte der Kapitalismus zunächst kein besonderes Problem dar, zumal die Rede vom Kapitalismus abseits aller Definitionsfragen implizierte, dass an einem Zeitpunkt seit dem 15./16. Jahrhundert eine völlig neue Epoche der wirtschaftlichen Entwicklung angebrochen sei. Diese Prämisse wurde jedoch von Wissenschaftlern wie Bruno Hildebrand, Gustav Schmoller oder Karl Bücher nicht geteilt, welche die wirtschaftliche Entwicklung durch quasi-evolutionär argumentierende Stufentheorien erklären wollten.97 In diesen Schematisierungen von der Natural-, über die Geld- zur Kreditwirtschaft (Bruno Hildebrand) oder von der geschlossenen Haus-, über die Stadt- zur Volkswirtschaft (Karl Bücher) wurde ein Kontinuitätszusammenhang der wirtschaftlichen Entwicklung postuliert, der den Bruch, den das Aufkommen des Kapitalismus bedeutete, theoretisch entschärfte. Dieser Kontinuitätszusammenhang bestand im Parallellauf von ökonomischer, staatlicher und sittlicher Entwicklung. Wo die Stufentheorien also Kontinuität annahmen, ohne dabei wohlgemerkt Veränderung zu leugnen, betonten die Theoretiker des modernen Kapitalismus Differenz. Es wurde eine scharfe Trennlinie zwischen der traditionellen, vorkapitalistischen Wirtschaft und dem entfalteten Kapitalismus gezogen. Durch die Herausstellung eines spezifischen kapitalistischen Geistes, der letztlich pathologische Züge trug, weil er die Akkumulation von Reichtum von der Bedürfnisbefriedigung abkoppelte, wurde der Kapitalismus auch zu einem sittlichen Problem. Den »Gerechten Preis« oder das mittelalterliche Zinsverbot deutete Max Weber noch als Ausdruck einer kleinräumigen ökonomischen Nachbarschaftsethik.98 Im Zuge der zunehmenden Integration lokaler Märkte und der Etablierung eines dauerhaften ökonomischen Wachstums bekam die Frage nach dem Kapitalismus jedoch eine ganz neue Dramatik. Der Ausgangspunkt von Weber und Sombart war zunächst, dass die angebliche Einebnung der Klassengegensätze nicht zwangsläufig auf eine soziale Harmonisierung hinauslaufen musste: Die dramatische Zunahme von Streiks und der wachsende Einfluss der Sozialdemokratie wiesen darauf hin, dass mit Besserung der wirtschaftlichen Lage die gesellschaftlichen Spannungen keineswegs geringer wurden.99 Werner Sombart diagnostizierte 1904, dass das Wirtschaftliche immer tiefer in das Leben jedes einzelnen eingriff und damit auch die ökonomischen Konflikte immer bedeutender für das Gesellschaftsleben wurden. 97 Vgl. als Überblick: Schefold, Stage Theories. 98 Weber, Zwischenbetrachtung, S. 542 f. Ders., Wirtschaft und Gesellschaft, S. 710. 99 Krüger, Nationalökonomen, S. 74 ff. Vgl. auch Radkau, Zeitalter.

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Aus diesem Grund interessierten sich immer mehr Menschen für Fragen der Volkswirtschaftslehre.100 Mit der Gesellschaftsprognostik der Jüngeren Historischen Schule passte das schlecht zusammen. Was dabei vor allem bei Max Weber im berühmten Schlussteil der Protestantischen Ethik deutlich herauskam, war, dass der moderne Kapitalismus, in dem er immer mehr Macht über das alltägliche Leben gewann, ein spezifisches, individuelles Leiden an der Moderne erzeugte, das sich in den Kategorien der Historischen Schule, insbesondere im Rahmen des Versittlichungstelos, schlechterdings nicht formulieren ließ.101 Dieses individuelle Leiden wurde für Weber nur dann erklärlich, wenn der Kapitalismus in historischer Perspektive als ein Epochenproblem formuliert wurde. Diesem Blick auf einen desintegrierenden Kapitalismus konnte die Jüngere Historische Schule jedoch nichts abgewinnen. Schmoller mochte schon den Begriff Kapitalismus nicht, sondern sprach lieber von der modernen Geldwirtschaft.102 Während die vorherrschenden Stufenmodelle ihr Hauptaugenmerk auf die Kontinuität der wirtschaftlichen (und parallel dazu: sittlich-kulturellen) Entwicklung legten, war in der Debatte impliziert, dass der Kapitalismus einen existentiellen und irreparablen Bruch mit der alteuropäischen Lebensform markierte. Die positive Geschichtsteleologie der Historischen Schule wurde hier geradezu in ihr pathologisches Gegenteil verkehrt.103 Wenn aber somit die »Kulturfrage« neben die soziale Frage trat, war klar, dass das, was den inneren Zusammenhalt der deutschen Gesellschaft bedrohte, sich nicht länger ausschließlich an Schichten- oder Klassenunterschieden festmachen ließ. Das machte alles viel komplizierter, denn gesellschaftliche Konflikte ließen sich so nicht mehr primär als Verteilungsproblem begreifen, und auch ein sozialer König konnte das individuelle Leiden an der Moderne nicht verhindern, es höchstens durch sein Charisma etwas abschwächen, was für Max Weber bei Wilhelm II. sicher nicht der Fall war.104 Solche Problemlagen konnte Schmoller zwar vielleicht benennen105, ein wirkliches Verständnis dürfte ihm jedoch gefehlt haben. Nicht zuletzt darum entsteht angesichts Schmollers Behandlung der Werturteilsproblematik der Eindruck, dass es ihm im Grunde unverständlich war, warum diese Frage so emotional diskutiert wurde und wo eigentlich das Problem lag.106 Die Jüngere Historische Schule sah sich somit gleich von zwei Seiten attackiert: von denen, die mehr theoretische Orientierung und Praxisbezug der national­ökonomischen Forschung forderten, und von denen, die aus einer differierenden entwicklungstheoretischen Perspektive heraus ihre Methoden und ihr 100 Sombart, Warum? 101 Weber, Protestantische Ethik, S. 196 ff. 102 Schmoller, Sombart, S. 211. Vgl. De Man, Kapitalismus, S. 65. 103 Vgl. Köster u.Plumpe, Hexensabbat. 104 Vgl. Radkau, Weber, S. 524 ff. 105 Schmoller, Philosophie, S. 2. 106 Radkau, Weber, S. 617–621.

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Forschungsprogramm kritisierten. Beide Strömungen sollten in der Weimarer Republik wichtig bleiben: Zum einen fand in der Tat eine stärkere Orientierung hin zur ökonomischen Theorie statt. Zugleich blieben, obwohl Soziologie und Nationalökonomie sich zunehmend fachlich ausdifferenzierten107, auch die soziologischen Ansätze in der Disziplin von zentraler Bedeutung. Wurden insofern die Konfliktlinien der 1920er Jahre in der Zeit vor dem Krieg bereits geprägt, sollten diese durch den historischen Kontext der Weimarer Republik scharf an Kontur gewinnen. Das führte dann erst zu der eigentlichen Entfaltung der Krise der Nationalökonomie, die vor dem Krieg in erster Linie von »Dissidenten« diagnostiziert wurde, die mit der Mehrheitsmeinung nicht übereinstimmten.

1.3 Das Ende der Jüngeren Historischen Schule Das Ende des Ersten Weltkriegs gilt allgemein als Zeitpunkt des Bedeutungsverlusts der Jüngeren Historischen Schule. Es handelte sich aber nicht um ihren relativen Bedeutungsverlust108, sondern wirklich um ihr Ende.109 Dieses wird allerdings nicht durch den Tod Schmollers 1917 markiert, sondern durch den Untergang des Kaiserreichs; dass beides zeitlich fast zusammenfiel, kann jedoch durchaus symbolisch verstanden werden.110 Zwar gab es auch nach 1918 weiterhin historisch arbeitende Ökonomen. Es gab zahlreiche ihrer »Überbleibsel«, die in Deutschland auf den Lehrstühlen saßen. Die Gegner der deduk107 Stölting, Soziologie. 108 So etwa Häuser, Ende, S. 47 ff. 109 Die Meinungen über das Ende der Jüngeren Historischen Schule sind geteilt. Manche sehen sie schon früher zu Ende gehen: Salin, Hochkapitalismus, S. 316 f. Liefmann, Grundsätze, S. 24. Tooze, Statistics, S. 32. Andere Autoren sehen sie in der Weimarer Republik noch am Werk. So z. B. Krohn, Wirtschaftstheorien, S. 11, 178 ff. Broyer, S. 138 ff. Janssen, Nationalökonomie, S.  23 ff., 213 ff. Insbesondere bei Janssens Arbeit über die National­ ökonomie in den 1930er Jahren besteht das Problem, dass der Autor keinen wirklichen Begriff der Historischen Schule hat. So rechnet er z. B. so unterschiedliche Wissenschaftler wie Othmar Spann, Robert Wilbrandt (der 1925 einen Artikel über das Ende der Histo­ rischen Schule veröffentlichte) und Ernst Wagemann dazu. Wenn aber der Begriff »Historische Schule« eine Bedeutung über die Benutzung historisch-empirischer Methoden hinaus haben soll, lässt sich definitiv keiner der genannten Ökonomen dazu rechnen. So bleibt auch der Widerspruch ungelöst, dass Janssen einerseits auf dem Gebiet der Sozialpolitik das »Scheitern« des Historismus vor den Anforderungen der Gegenwart durchaus zu­ treffend nachzeichnet, andererseits ihn auch danach überall mitmischen sieht. 110 Lenz, Aufriss, S. 47 f. Lenz sprach es als eine Merkwürdigkeit an, wie »schnell das einst machtvolle Gebäude des Historismus zerfallen« sei. Spann schrieb 1919: »Heute kann man die geschichtliche Schule im alten Sinne fast als zusammengebrochen bezeichnen.« Spann, Haupttheorien, S. 151. Oppenheimer meinte 1926: »Die historische Schule ist, soweit sie sich theoretisch gab, spurlos verschwunden wie eine geplatzte Seifenblase.« Oppenheimer, Tönnies, S. 188**.

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tiven ökonomischen Theorie waren auch in den 1920er Jahren zahlreich. Jedoch war die historische Schule in ihren Arbeitsmethoden so sehr mit dem institutionellen Rahmen des Kaiserreichs und einer damit zusammenhängenden positiven Geschichtsteleologie verbunden, dass sie mit dem Untergang dieser Ordnung ebenfalls das Zeitliche segnen musste. Im Gegensatz zu dem, was die Kritiker ihr vorwarfen, wollte die Jüngere Historische Schule von ihrem Selbstverständnis her eben Nationalökonomie sein, also im Vergleich zu Klassik, Neoklassik und Marxismus eine bessere Beschreibung der wirtschaftlichen Zusammenhänge liefern. Indem sie diese Beschreibung aber an das historische Gewordensein der staatlichen und wirtschaftlichen Institutionen koppelte und deren Eigenschaften und Funktionsweisen folglich aus einem Kontinuitätszusammenhang heraus rekonstruierte, musste sie selbst mit der Zerstörung dieser Institutionen obsolet werden. Joseph Schumpeter legte in seinem Aufsatz über Gustav v. Schmoller und die Probleme von heute schlagend dar, dass sich die Funktionsweise der modernen Wirtschaft und Gesellschaft durch die Beschreibung ihrer Entstehung allein nicht erklären ließ. Wenn die Jüngere Historische Schule eine solche Erklärung gab, lag diese folglich in der geschichtsphilosophischen Konstruktion, die den Rahmen für die historischen Untersuchungen bildete.111 Wäre also nicht schon vor dem Ersten Weltkrieg die Diagnose einer zunehmenden gesellschaftlichen Harmonie und Homogenisierung der ethischen Ideale von vielen in Frage gestellt worden, hätte sich dieses Paradigma angesichts der politischen und ökonomischen Spannungen der Weimarer Republik ohnehin aufgelöst. Der radikale Kontinuitätsbruch, den der Weltkrieg, die Revolution von 1918, die nachfolgenden politischen Wirren und nicht zuletzt die Inflation mit sich brachten, führte deswegen dazu, dass von ihr endgültig Abschied genommen werden musste.112 Signifikanterweise warben ihre Protagonisten ja genau mit dem stattgefundenen geschichtlichen Wandel um Verständnis für ihren Standpunkt, empfanden also selbst das Unzeitgemäße der Positionen und Ideale, die sie früher so selbstbewusst vertreten hatten.113 Hinzu kam, dass der Erste Weltkrieg bestimmte Tendenzen verstärkte, die die Jüngere Historische Schule bereits seit der Jahrhundertwende angreifbar gemacht hatten. Wirtschaft und Staat verlangten zunehmend praktisches, anwendbares Wissen von der Nationalökonomie, das sie von ihren Forschungsmethoden und ihrem wissenschaftlichen Rollenverständnis her aber nicht liefern konnte. Ihre Mitglieder verstanden sich als unparteiische Sachverständige, die umfangreiche Enqueten zu sozialpolitischen Fragen schrieben. Die Anforderungen der Kriegswirtschaft im Ersten Weltkrieg überforderten sie. Hatten zudem die vielen empirischen Fallstudien schon vor 1914 die Frage auf­geworfen, wie sich diese unendliche Masse an Informationen jemals zu einer Gesamtschau 111 Schumpeter, Schmoller, S. 363 f. 112 Peukert, Weimarer Republik, S. 266–272. Saunders, S. 209 f. 113 Vgl. Heinßen, Historismus, S. 20.

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der Wirtschaft synthetisieren lassen sollte114, schuf der Weltkrieg zusätzlich eine solche Menge an neuem Tatsachenmaterial, dass eine empirisch gesättigte Gesamtschau der sozialen Entwicklung auch aus diesem Grund als eine aussichtslose Sisyphusarbeit erscheinen musste. Alle diese Faktoren zusammen bewirkten, dass die Jüngere Historische Schule mit dem Ersten Weltkrieg unterging und seitdem nur noch eine Geisterexistenz fristete: als Gegenstand von Schuldzuweisungen, die sie für den schlechten Zustand der Disziplin in der Weimarer Republik verantwortlich machten. Die Wissenschaftler jedoch, die sich weiter zu dieser Richtung bekannt hätten, ließen sich an einer Hand abzählen. Es brauchte allerdings noch einige Zeit, bis die semantische »Beerdigung« der Historischen Schule in Gang kam. Schmollers Tod hatte viele Gräben zunächst einmal mit dem Mantel der Pietät zugedeckt. Werner Sombart hielt an seinem Grab eine hochpathetische Trauerrede, in der er Schmoller zum Übervater seiner Disziplin stilisierte, der sie über all die Jahrzehnte weise geleitet und beschirmt hatte.115 Da aber zugleich, wie Edgar Jaffé 1917 schrieb, sich das Fach am Beginn einer neuen Epoche wähnte116, wurde das Problem rhetorisch auf die Weise gelöst, dass der Historischen Schule für ihre Leistung pflichtschuldig Respekt gezollt, zugleich aber klargemacht wurde, dass von nun an die Forschung in anderen Bahnen zu verlaufen hatte: »Das Bleibende, was die Historische Schule seit Roscher und Knies geleistet hat, ist festes Gemeingut der Wissenschaft geworden, aber der Anspruch, die allein fruchtbare Methode der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung zu vertreten, hat diese Schule nicht aufrecht erhalten können.«117 Eine andere Taktik war, zwischen einer »guten« und einer »schlechten« Historischen Schule zu unterscheiden. So differenzierte der Freiburger Gerhart von Schulze-Gaevernitz 1916 in der Festschrift zu Lujo Brentanos 70. Geburtstag zwischen den großen, mit der Hand des Künstlers geschriebenen Werken und den antiquarischen, bloß »stoffhubernden«. Während die deutsche Nationalökonomie mit ersteren »die Welt erobert« hätte, hätten letztere ihrem Ansehen schwer geschadet.118 Die erste ernsthafte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Werk Schmollers nach dem Krieg erschien 1922 in den Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statistik. Schmollers alter Weggefährte und Nachfolger als Vorsitzender des Vereins für Sozialpolitik, Heinrich Herkner, schrieb eine Charakterisierung Schmollers als Soziologe und äußerte abschließend einige kritische Worte über Schmollers Fehlurteil über die politische Lage während des Weltkriegs.119 Dabei benannte er das in der Tat zentrale Problem, dass Schmoller in der Illusion gefangen geblieben war, Deutschland werde weiterhin konstitu114 Salin, Geschichte (2. Auflage), S. 90. 115 Sombart, Schmoller. 116 Jaffé, System, S. 1. 117 Ebd. 118 Schulze-Gaevernitz, »Wirtschaftswissenschaft«?, S. 407 f. Ganz ähnlich: Liefmann, Grundsätze, Bd. 1, S. 20. 119 Herkner, Schmoller.

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tionell regiert, während besonders im Krieg die zentralen Entscheidungen de facto von einer Clique in der Reichskanzlei und Obersten Heeresleitung getroffen wurden.120 Allerdings handelte es sich bei Herkners Artikel insgesamt um eine faire Beurteilung, die wenig Ansatzpunkte für eine Demontage des Übervaters bot. Der diplomatische Umgang mit Schmoller hatte jedoch ein Ende, als 1923 die knapp gehaltene erste Auflage der Geschichte der Volkswirtschaftslehre des jungen Heidelberger Nationalökonomen Edgar Salin erschien. An Schmoller hatten sich, wie gesehen, viele Gelehrte schon vor 1914 gerieben. Schmollers Intimfeind, der Historiker Georg von Below, hatte sich über einen langen Zeitraum in geradezu bösartiger Polemik mit ihm auseinandergesetzt. Die Herausgeber und Autoren der »Zeitschrift für Sozialwissenschaft« wandten sich programmatisch und polemisch gegen die durch Schmoller repräsentierte Richtung. Das änderte jedoch im Großen und Ganzen nichts daran, dass Schmoller allgemein als das Oberhaupt der deutschen Nationalökonomie begriffen wurde121, den die jungen Wissenschaftler schon aufgrund seiner institutionellen Macht nicht zu heftig kritisieren durften. Salin zeichnete auf knapp zwei Seiten ein sehr kritisches Bild Schmollers. So schrieb er etwa, Schmoller habe durch das Gewicht seiner Stellung sowie »durch einen ursprünglichen Instinkt für die Zeitgemäßheit bestimmter Argumente eine Reihe von aufeinanderfolgenden Siegen erfochten, bei deren jedem die Geschichte inzwischen das Recht des unterlegenen Teils erwiesen hat.«122 Er bezeichnete ihn als »ohne ursprüngliche theoretische und philosophische Begabung«, ihm habe das »letzte Wissen«, das klare Ziel und die Fähigkeit der Zusammenschau gefehlt. Zwar hätte Schmoller aus einem durchaus authentischen Bemühen heraus Ethik und Ökonomie zusammenbringen wollen, in dem Maße jedoch, wie er mit den Jahren zunehmend konservativ und »gouvernemental« geworden sei, habe sich diese Ethik als fundamentlos erwiesen.123 Wie Salin gegen Ende seines Lebens berichtete, lag der Grund für dieses negative Bild vor allem in der ernüchternden Erfahrung, die er mit dem alten Schmoller im Seminar gemacht hatte.124 Hinzu kam die für ihn unbefriedigende Lektüre seines Grundriss der Volkswirtschaftslehre, den er als eine »ungleichmäßige und ungleichwertige Nebeneinanderreihung«125 empfand. Es ist 120 Vom Bruch, Gelehrtenpolitik, S. 361 f. 121 Schreiben Franz Boese an Arthur Spiethoff (6.3.1917). UB Basel, Handschriftenabteilung. Nl Spiethoff, A 77,35. 122 Salin, Geschichte (1. Auflage), S. 36. 123 Ebd., S. 36 f. 124 Schreiben Edgar Salin an Bernhard vom Brocke (26.11.1973). UB Basel, Handschriftenabteilung. Nl Salin, Fb 474. Salin hatte 1911/12 ein Kolleg bei ihm gehört: »Dieses Kolleg war ein kaum kleinerer Skandal als das gleichzeitige Kolleg von Adolph Wagner. Was ich nach meiner »Geschichte« von Berlin erlebte – Schmoller war nicht mehr am Leben, aber seine Frau und Herkner, hätte ich selbst kaum für möglich gehalten […].« Ebd. 125 Salin, Geschichte (1. Auflage), S. 37.

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allerdings die Frage, ob Salins Schrift überhaupt so große Aufmerksamkeit bekommen hätte, wäre sie nicht durch eine Gegenschrift Herkners in Schmollers Jahrbuch skandalisiert worden.126 Herkner warf Salin vor, er sei noch viel zu jung, um die Geschichte des ökonomischen Denkens in seiner Fülle souverän überschauen zu können, wobei er interessanterweise (das war wohl als Spitze gemeint) als Gegenbeispiel Schumpeters Epochen der Dogmen- und Methoden­ geschichte von 1914 anführte, obwohl dieser bei der Abfassung dieses Werkes zwei Jahre jünger war als Salin im Jahr 1923. Vor allem bezichtigte Herkner ­Salin aber einer Verzeichnung von Schmollers Forscherpersönlichkeit. Schmoller sei keineswegs der strenge Zuchtmeister seiner Disziplin gewesen, sondern eine tolerante, abwägende Forscherpersönlichkeit.127 Salin erwiderte Herkners Anwürfe mit einer scharfen Gegenschrift, sekundiert von Georg von Below, den Herkner in seinem Text ebenfalls attackiert hatte. Es lohnt sich, kurz auf die persönlichen und institutionellen Hintergründe dieser Kontroverse einzugehen. Der Berliner Nationalökonom Hermann Schumacher, ebenfalls Schmoller-Schüler und bis 1923 Mitherausgeber von Schmollers Jahrbuch, hatte Schmollers Witwe Lucie auf den Salinschen Text aufmerksam gemacht. Dabei ging es allerdings weniger um Salin als um Arthur Spiethoff, den Herausgeber der Reihe »Enzyklopädie der Rechts- und Staats­ wissenschaften« (einer für Studenten konzipierten Einführungsreihe), in der Salins Arbeit erschienen war. Mit Spiethoff befand sich Schumacher zu dieser Zeit in einem zermürbenden Konflikt um die Herausgeberschaft von »Schmollers Jahrbuch«. Nach Schmollers Tod war diese zunächst auf Geheiß von Schmollers Witwe an Schumacher übergegangen, der Spiethoff mit ins Boot holte. Zahlreiche Meinungsverschiedenheiten und die Entfernung zwischen Bonn und Berlin verkomplizierten die Zusammenarbeit, so dass Schumacher Spiethoff Anfang der 1920er Jahre darum bat, seine Herausgeberschaft niederzulegen. Als dieser sich weigerte, entspann sich ein langer und schwerer Konflikt, der schließlich im persönlichen Zerwürfnis und einem Gerichtsverfahren zwischen Schu­macher und dem Verlag Dunker & Humblot endete. »Schmollers Jahrbuch« konnte deswegen 1923 gar nicht erscheinen und erst im Jahr darauf unter Spiethoffs alleiniger Herausgeberschaft fortgeführt werden. Aufgrund dieses Konfliktes wandte sich Schumacher an Lucie Schmoller und führte als Beleg für die schlechte Verwaltung von Schmollers Erbe durch Spiethoff an, dass er die

126 Salin schrieb, sein Kampf habe vornehmlich den alten Berliner Exzellenzen gegolten, die sich zu rächen versuchten. »Ich kann mich darüber nicht beschweren; denn diese Gegenschriften gegen die drei Bogen, die meine Geschichte der Volkswirtschaftslehre ursprünglich gehabt hat, waren die Basis nicht nur für meinen relativ schnellen Aufstieg an der Universitäten, sondern für erhebliche Teile meines Lebenslaufes.« Schreiben Edgar Salin an Bernhard vom Brocke (30.11.1973). UB Basel, Handschriftenabteilung. Nl Salin, Fb 479. 127 Herkner, Stellung. Die Unterscheidung zwischen einer »guten« und einer »schlechten« Historischen Schule spielte übrigens auch in der Diskussion um Salins Geschichte der Volks­ wirtschaftslehre eine Rolle. Vgl. Mann, Geschichte, S. 708.

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negative Darstellung Schmollers in Salins Arbeit nicht verhindert habe.128 Während Lucie Schmollers Antwort an Schumacher eher indifferent ausfiel129, richtete sich ihr Zorn gegen Salin, dem sie brieflich deutlich machte, wie sehr sie sein Text verletzt habe: weniger aufgrund des Inhalts, als wegen der Art und Weise der Darstellung. Salin wiederum rechtfertigte sich, dass er, auch wenn er ein Gegner Schmollers sei, dessen historische Größe gerade durch die Form seiner Kritik anerkenne: es sei ein Zeichen für die Mediokrität und Vergessenheit eines Forschers, wenn er in den Kämpfen der Gegenwart keine Rolle mehr spiele.130 Dieses Argument war dann aber vielleicht etwas zu dialektisch und konnte Schmollers Witwe nicht besänftigen. Salin jedenfalls schäumte noch Jahre später vor Wut, wenn er auf die »Denunziation« Schumachers zu sprechen kam, zumal dieser ihm, wie er berichtete, in einem privaten Gespräch bezüglich Schmoller Recht gegeben hatte.131 Auffällig an diesem Vorgang sind zwei Dinge: Erstens ist signifikant, wie die Deutungshoheit über das Schmoller-Bild zu erlangen bzw. zu behaupten versucht wurde. Wollte sich die jüngere Generation vom Geist des Alten befreien, musste sie ihn anscheinend auf eine bestimmte Weise dämonisieren und zu einem Tyrann der Wirtschaftswissenschaft erklären.132 Auf der anderen Seite stand aber gerade bei älteren Nationalökonomen wie Brentano, ­Herkner und Spiethoff, die Schmoller lange gekannt hatten, noch ein anderes Bild vor Augen, das dieser Dämonisierung nicht entsprach. Gerade Herkner und Spiethoff hatten allerdings die Neigung, aus Schmoller einen gemütlichen Großvater zu machen und den akademischen Machtpolitiker auszublenden. Zweitens fällt auf, dass bei Salin stets seine Jugend betont wurde. Lucie Schmoller schrieb an ihn, er sei »in einer anderen Zeit groß geworden, […] aus einem so anderen Holze geschnitten, daß ich mich eher wundern würde, wenn Sie gleichen Standpunkts wären.«133 Herkner kaprizierte sich ebenfalls stark auf Salins Jugend. Insofern liegt die Überlegung nahe, dass hier ein Generationenunterschied zum Ausdruck kam, der die »Alten« darauf beharren ließ, in einer anderen Welt geschrieben und geforscht zu haben, während die »Jungen« die Gegenwart umgekehrt für sich reklamierten. Dass die Angehörigen der vergangenen Historischen Schule sich aber auf diese Weise selbst historisierten, um der Kritik zu begegnen, zeigt deut128 Schreiben Hermann Schumacher an Christian Eckert (23.11.1923). LB Oldenburg. Nl Schumacher, HS 362,1761:20. 129 So dass Schumacher meinte, sie sei wegen ihres hohen Alters nicht mehr zurechnungs­ fähig. 130 Schreiben Edgar Salin an Lucie Schmoller (7.11.1924). UB Basel, Handschriftenabteilung. Nl Spiethoff, Beilage zu A 504. 131 Schreiben Edgar Salin an Arthur Spiethoff (1.8.1930). UB Basel, Handschriftenabteilung. Nl Salin, Fb 2767. 132 Julius Hirsch sprach z. B. 1925 von einer »geistigen Diktatur« Schmollers. Hirsch, Wirtschaftswissenschaft, S. 153. 133 Schreiben Lucie Schmoller an Edgar Salin (20.2.1925). UB Basel, Handschriftenabteilung. Nl Spiethoff, Beilage zu A 527.

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lich, wie die Veränderung der Zeitumstände dazu geführt hatte, dass das Paradigma des Historismus in der Nationalökonomie in den 1920er Jahren bestenfalls noch als anachronistisch angesehen werden konnte. Die Absetzbewegung von Schmoller und der Jüngeren Historischen Schule war schließlich auch bei ihren ehemaligen Vertretern in vollem Gange.134 Der Hamburger Nationalökonom Kurt Singer wunderte sich 1924, »dass jetzt plötzlich auf allen Seiten entdeckt wird, in diesem [Schmollers, R. K.] Seminar sei die Nationalökonomie verdorben worden.«135 Selbst Schumacher, der sich wenige Jahre zuvor noch als Hüter des Schmollerschen Erbes aufgespielt hatte, schrieb 1930, es ließe sich nicht leugnen, dass die Historische Schule verzögernd und isolierend auf die Volkswirtschaftslehre gewirkt habe. Sie habe es zu verantworten, dass die Brücken zur Klassik abgebrochen wurden, dass der Ideengehalt des Sozialismus ignoriert wurde und schließlich: die Wissenschaft tief ge­spalten worden sei.136 Hier wurde Schmoller gewissermaßen persönlich für den Paradigmenverlust der Nationalökonomie verantwortlich gemacht, der seine Ur­ sache doch eher im Ende der von ihm vertretenen Richtung hatte. Die prominenteste Verteidigung Schmollers kam dann ausgerechnet von einem Ökonomen, der sich seinen Namen vor dem Ersten Weltkrieg mittels hochabstrakter ökonomischer Theorie gemacht hatte. Über Joseph Schum­peters Aufsatz Gustav v. Schmoller und die Probleme von heute137, der 1926 in »Schmollers Jahrbuch« erschien, ist viel spekuliert worden. Etwa, ob es sich um eine Gefälligkeit an Spiethoff wegen der Berufung nach Bonn handelte, die Schumpeter in Wien aus einer prekären Lage befreite.138 Die jüngeren, theoretisch arbeitenden Ökonomen wie Alexander Rüstow empfanden den Text geradezu als Verrat. Sie hatten gehofft, Schumpeter in ihren Arbeitskreis der »deutschen Ricardianer«, einer informellen Verbindung theoretisch arbeitender Ökonomen, einzubinden, und dann erschien ein Text Schumpeters, der in erster Linie die Aktualität Schmollerscher Fragestellungen und Arbeitsweisen betonte.139 Angesichts der negativen Stimmung gegenüber Schmoller zu dieser Zeit, wird es sich jedoch kaum um den Versuch gehandelt haben, sich lieb Kind bei der deutschen Volkswirtschaftslehre zu machen.140 In dem Aufsatz ging es dann auch eher um Schmollers Arbeitsweise, in der Schumpeter einen Ausweg aus der Krise der Nationalökonomie erblickte. Daher war der Text ein Hinweis darauf, dass nach Schumpeters Meinung die Jüngere Historische Schule für diese Krise gerade 134 Schreiben Franz Boese an Arthur Spiethoff (27.2.1933). UB Basel, Handschriftenabteilung. Nl Spiethoff, A 77,77. 135 Schreiben Kurt Singer an Arthur Spiethoff (1.7.1924) Nl Spiethoff, UB Basel, Handschriftenabteilung, 301, A 241,2. 136 Schumacher, Staatswissenschaften, S. 142. 137 Schumpeter, Schmoller. 138 So Janssen, Nationalökonomie, S. 28. 139 Schreiben Alexander Rüstow an Walter Eucken (11.11.1926). BA Koblenz. Nl Rüstow, 169/17. Vgl. Janssen, Nationalökonomie, S. 28 f. 140 Dies als Einwand gegen Kesting, der Schumpeter Opportunismus vorwirft. Kesting, S. 133 f.

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nicht verantwortlich zu machen sei, sondern deren Ursache mehr im Methoden- und Weltanschauungsdiskurs der 1920er Jahre zu suchen war.141 Das blieb aber eine vereinzelte Stimme. Im Grunde bot erst der 100. Geburtstag Schmollers den Anlass für eine vorsichtige Rehabilitierung. Spiethoff brachte eine Festgabe heraus und der Schmoller-Schüler Carl Brinkmann ver­ öffentlichte eine Werkbiographie seines alten Meisters. Er schrieb dabei mit Rückschau auf die letzten zwanzig Jahre: »Es wäre nicht richtig zu sagen, daß die Gestalt Gustav Schmollers heute immer noch umstritten sei. Sie steht in einem tiefen Schatten, und kein Urteil scheint gehässig und scharf genug sein zu können, um irgendeinen Widerspruch herauszufordern.«142 Erstaunlich fand Brinkmann besonders, dass die Ablehnung der Jüngeren Historischen Schule von Seiten der »Intuitionisten« (gemeint waren die Vertreter der noch zu behandelnden »anschaulichen« oder »verstehenden« Theorie) stärker war, als die der ökonomischen Theoretiker und österreichischen Neoklassiker. Diesem Urteil ist jedoch nur bedingt zuzustimmen, denn immerhin war es mit Walter Eucken ein Theoretiker, der angesichts der versuchten Wiederbelebung Schmollers diesen mit einem langen Aufsatz im ›Weltwirtschaftlichen Archiv‹ gleich wieder totzuschlagen versuchte.143 Andererseits ist es durchaus bemerkenswert, dass die Jüngere Historische Schule gerade von Wissenschaftlern äußerst scharf kritisiert wurde, die sich in ihrem Denken in mancherlei Hinsicht an sie anschlossen und heute mitunter sogar als deren Nachfolger angesehen werden.144 Salin und selbst Eucken sind an dieser Stelle nur zwei besonders prominente Beispiele.145 Die Nationalökonomie der Weimarer Republik hatte, soviel ist festzuhalten, mit ihrem Erbe zu kämpfen. Mitunter lässt sich der Eindruck nicht von der Hand weisen, dass ein gewisses Bedürfnis nach einem Exorzismus des Über­ vaters Schmoller bestand, wofür Salins Geschichte der Volkswirtschaftslehre und die nachfolgende Kontroverse den Ausgangspunkt markierte. Auffällig ist, dass besonders die jüngeren Wissenschaftler, die sich nach dem Krieg der ökonomischen Theorie verpflichtet fühlten, ihr Urteil über die Jüngere Historische Schule kaum hart genug formulieren konnten, womit sie deren negatives Bild 141 Zu dieser Deutung s. Abschnitt 4.3.2. Vgl. auch Schumpeter, Deutschland, S. 17. 142 Brinkmann, Schmoller, S. 7. Beispiele für die mitunter groteske Verzeichnung des Schmoller-Bildes finden sich bei Backhaus, Einleitung. 143 Eucken, Wissenschaft. Ders., Überwindung. 144 Schreiben Edgar Salin an Arthur Spiethoff (8.2.1933). UB Basel, Handschriftenabteilung. Nl Salin, A504,52. Schumpeter hat für diese Traditionslinie den nicht sehr glücklichen Begriff »Youngest Historical School« (»Jüngste Historische Schule«) geprägt, der dem durch das Ende der Jüngeren Historischen Schule entstandenen Bruch nicht ausreichend Rechnung trägt. Schumpeter, History, S. 815 f. 145 Schefold, Ordoliberalismus. S. 114 ff. Schreiben Edgar Salin an Arthur Spiethoff (8.2.1933). UB Basel, Handschriftenabteilung. Nl Spiethoff, A504,52. Eucken, Grundlagen, S. 26 ff. Vgl. auch bezüglich der Berührungspunkte zwischen Schmoller und Alfred Müller-Armack: Kreis, S. 160 ff.

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in der dogmenhistorischen Forschung bis heute zu einem gewichtigen Teil mit­ geprägt haben dürften.146 Neben der Entladung einer über lange Zeit aufgebauten Spannung handelte es sich dabei aber auch um die semantische Bewältigung des Paradigmenverlusts der Nationalökonomie mit dem Ersten Weltkrieg.147 Wenn immer wieder darauf hingewiesen wurde, dass die Historische Schule der Nationalökonomie in Deutschland schweren Schaden zugefügt habe, liegt die Annahme nahe, dass hier jemand gesucht und gefunden wurde, der für die missliche Situation des Faches in den 1920er Jahren verantwortlich zu machen war. Zumindest erscheint es plausibel, in der Krise des Faches einen Grund für die Schärfe vieler Verdikte zu erblicken. Interessanterweise übernahm der Werturteilsstreit für manche Autoren übrigens eine ganz ähnliche Funktion, weil hier die gemeinsame normative Grundlage des Faches zerstört worden sei. Die »naturalistisch-explikative« Richtung (gemeint war vor allem Max Weber) habe der Wissenschaft die Waffe aus der Hand geschlagen, mit der sie im Richtungskampf der Weltanschauungen klar und objektiv hätte Stellung beziehen können.148 Schuldzuweisungen konnten aber das Problem der Nationalökonomie nicht lösen, dass sie sich nach dem Ersten Weltkrieg mit gravierenden wirtschaft­ lichen Problemlagen und einer verstärkten gesellschaftlichen Anspruchshaltung konfrontiert sah, die im folgenden Abschnitt näher dargestellt wird. Vor dem Hintergrund der institutionellen Überforderung des Faches in der Weimarer Republik soll verständlich gemacht werden, warum ein ruhiger Selbst­ findungsprozess der Nationalökonomie nicht möglich war und sie ihren Paradigmenverlust in den 1920er Jahren als so dramatisch empfinden musste.

146 Vgl. Erwin v. Beckeraths Bemerkung von 1961, Schmoller habe bei den jüngeren Nationalökonomen den Ruf eines »Verderbers theoretischen Denkens« gehabt. Beckerath, Schmoller, S. 1147. Vgl. auch Heimann, Entwicklungsgang, S. 188. Ders., Geschichte, S. 205. Lutz, Verstehen, S. 8–11. Preiser, Nationalökonomie, S. 33. 147 Wilbrandt, Geschichte, S. V. 148 Nickel, Wirtschaftswissenschaft. Wilbrandt, Reform, S.  401–404. Plenge, Propagandalehre, S. 154.

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2. Institutionelle Herausforderungen Die Jüngere Historische Schule wollte in den 1860er Jahren ein neues Forschungsfeld durch ihre Methoden erschließen. Allerdings waren erst nach Jahrzehnten wirklich belastbare Ergebnisse, etwa in Form der Isolierung empirischer historischer Gesetze zu erwarten. Zu dem Zeitpunkt jedoch, als ihr langfristig angelegtes Arbeitsprogramm eigentlich Früchte tragen sollte, hatte sie den Höhepunkt ihres Ansehens bereits überschritten und geriet, wie beschrieben, in die Defensive. Der Erste Weltkrieg und die ihm nachfolgenden Ereignisse bedeuteten schließlich ihr Ende. In der »neuen und fremden Welt« (Thomas Mann), in der die Deutschen nach dem Krieg erwachten, war für langfristige Arbeitsprogramme kein Platz mehr – und damit auch für eine Arbeitsweise, die das institutionelle »Setting« des akademischen Faches Nationalökonomie vor dem Ersten Weltkrieg entscheidend bestimmt hatte. Die Nationalökonomie war vor 1914 immer noch ein kleines Fach, eigentlich eher ein Anhängsel des staatswissenschaftlichen Studiums bzw. eine Hilfswissenschaft für Juristen und Landwirte. Schon deswegen konnten kaum überzogene Ansprüche an sie herangetragen werden. Wenn sie aber trotzdem Einfluss auf die sozialpolitische Gesetzgebung hatte, dann nicht aufgrund formeller Einbindung, sondern eher durch die Beeinflussung der öffentlichen Meinung oder dank persönlicher Beziehungen im Berliner Regierungsmilieu.1 An den Tagungen des Vereins für Sozialpolitik nahmen regelmäßig höhere Regierungsbeamte teil, die auch häufig bei Veranstaltungen der 1884 in Berlin gegründeten »Staatswissenschaftlichen Gesellschaft« auftauchten.2 Weil solche Beziehungen aber eher informeller Natur waren, blieb es stets eine große Streitfrage, was sich der Verein für Sozialpolitik an den sozialpolitischen Errungenschaften seit Ende der 1870er Jahre als Verdienst zurechnen konnte, oder ob sich die Dinge ohne seine Arbeit nicht genauso entwickelt hätten. Eine solche kontrafaktische Frage lässt sich kaum sicher beantworten. Aber auch wenn der Einfluss der »Gelehrtenpolitik«3 nicht unterschätzt werden sollte, galt die staatliche Administration doch als handlungsfähig und handlungsmächtig und holte sich Expertise, wenn, als Entscheidungshilfe. Die Entscheidungsverantwortung wurde nicht auf externe Experten abgewälzt. Hinzu kam, dass die Art und Weise der Beratung die Fixierung klarer Einflusslinien erschwert. So hatte nach Erich Schneiders Meinung Schmollers Relativismus die Beratschlagung stets verwäs-

1 Vom Bruch, Gesellschaft, S. 19. 2 Ebd. 3 Vgl. allgemein: Ders., Gelehrtenpolitik.

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sert und nicht gerade dazu beigetragen, dass die Regierung die Nationalökonomie besonders ernst nahm.4 Wie dem auch sei: insgesamt wurden nur wenig konkrete Erklärungsansprüche an das Fach gestellt, weshalb trotz der sozialpolitischen Praxisnähe  – im Verein für Sozialpolitik wurden ja stets ganz konkrete Probleme verhandelt – lange Zeit eine ausgeprägte Alltagsentlastetheit existierte. Die Behandlung sozialpolitischer Streitfragen hing von den individuellen Interessen des Forschers oder den Konferenzthemen des Vereins für Sozialpolitik ab, jedoch wurde kein sofort verwertbares Expertenwissen zur Behebung gesamtwirtschaftlicher Problemlagen verlangt. Diese Alltagsentlastetheit ging aber spätestens mit dem Ersten Weltkrieg aus verschiedenen Gründen verloren. Zum einen war dafür das skizzierte Ende der Historischen Schule verantwortlich. Langfristige Arbeitsprogramme und die sich auf die Institutionen des Kaiserreichs beziehende Zukunftsgewissheit waren unmöglich geworden. Zum anderen spielten institu­ tionelle Herausforderungen und Ansprüche eine Rolle, die an das akademische Fach Nationalökonomie herangetragen wurden. Das Verhältnis der Nationalökonomie zu Wirtschaft und Politik veränderte sich. Die Krise des Faches fiel dabei bezeichnenderweise mit einer gestiegenen Erwartungshaltung von außen zusammen; die Schwierigkeiten der Nationalökonomie waren auf diese Weise nicht mehr nur eine wissenschaftsinterne Schieflage, sondern auch das Problem einer Gesellschaft, die sich auf volkswirtschaftliches Wissen und volkswirtschaftliche Praktiker zunehmend angewiesen fühlte.

2.1 Nationalökonomie und Kriegswirtschaft Zu den vielen Topoi, mittels derer die Gelehrtenkultur des Wilhelminismus zu kennzeichnen versucht wurde, gehört auch die Praxisferne.5 Dabei handelte es sich zunächst allerdings um kein genuin deutsches Phänomen: Die euro­ päische Gelehrtentradition insgesamt war dem angewandten technischen Wissen gegenüber eher skeptisch eingestellt.6 An den englischen Eliteuniversitäten kam es erst durch den Ersten Weltkrieg zu einer stärkeren Hinwendung zur anwendungsorientierten Forschung, während dieser Vorgang in Deutschland bereits früher begonnen hatte.7 Es ist also nicht ohne weiteres möglich, anhand dieses Aspekts allgemein eine Rückständigkeit der deutschen Nationalökonomie gegenüber anderen Ländern zu konstruieren. Zudem konnte »Praxis« sehr verschiedene Dinge meinen, und von ihrem Selbstverständnis her war die

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Schneider, Rückblick, S. 157 f. Meinecke, Generationen, S. 249. Ringer, S. 133. Cipolla, S. 152 ff. Levsen, S. 70, 218 f.

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Jüngere Historische Schule seit jeher praxisbezogen.8 Damit waren aber vor allem Fragen der Sozialpolitik und weniger das im Wirtschaftsleben nütz­liche Wissen gemeint, das auf den Handelshochschulen vermittelt werden sollte und von vielen Nationalökonomen gerne mit einem abschätzigen Unterton als »Kunstlehre« bezeichnet wurde. Erik Grimmer-Solem hat jedenfalls Recht, wenn er schreibt, dass die Nachfrage nach einem a priori-Ansatz, wie ihn die britische Neoklassik, die Österreichische Schule oder einige deutsche Theore­ tiker vertraten, in Deutschland zumindest bis zur Jahrhundertwende eher gering war: »­Economists and administrators, whether in the public sector or ­private firms, were preoccupied by ever-changing practical concerns centred on applied problems that required empirical observation and measurement. Indeed it is hardly an exaggeration to say that German economics between 1864 and 1894 was predominantly applied economics and economic and social policy, tasks for which the generation of a system of foundational theory divorced from statistics and application appears to have been largely irrelevant.«9 Insofern entsprach das Arbeitsprogramm der Jüngeren Historischen Schule den praktischen Bedürfnissen der Zeit, und bei der Behandlung von Problemen wie der Wohnungsnot oder der Situation der ostelbischen Landarbeiter waren keine ökonometrischen Modelle gefragt, sondern die konkrete Analyse sozialer Problem­ lagen und Vorschläge zu ihrer Behebung. Vor 1900 befand sich die Nationalökonomie allerdings noch in der Lage, sich ihre Gegenstände selbst aussuchen zu können und sich nur bedingt an von außen an sie herangetragenen Anforderungen orientieren zu müssen. Doch wurden schon seit der Jahrhundertwende deutliche Veränderungen registriert. Zu den programmatischen Forderungen der disziplininternen Opposition gegen die Jüngere Historische Schule vor dem Krieg gehörte stets ein stärkerer Praxisbezug, wobei »Praxis« an dieser Stelle nicht mehr Sozialpolitik meinte, sondern den Informationsbedarf der Wirtschaft. Das bedeutete indes wiederum weniger theoretisches als angewandtes Wissen, dessen wirtschaftspolitischer Bezug höchstens noch negativ sein sollte, dass sich die Politik aus der Wirtschaft nämlich am besten ganz heraushalten sollte. Um die Praktikerausbildung zu gewährleisten, entstanden seit der Jahrhundertwende zahlreiche Handelshochschulen, auf denen Diplom-Kaufleute bzw. Diplom-Handels­ lehrer ausgebildet wurden. Dies stellte eine Reaktion darauf dar, dass angesichts der Komplexität moderner Unternehmen die innerbetriebliche Ausbildung allein nicht mehr ausreichte. Waren diese Gründungen einerseits auch deswegen notwendig geworden, weil die universitäre Nationalökonomie diese Praktiker­ ausbildung nicht leisten konnte10, wurde letztere umgekehrt durch die Handelshochschulen von dieser Aufgabe gerade entlastet. Trotzdem dürften es solche 8 Schmoller, Zur Eröffnung, S. 131 ff. 9 Grimmer-Solem, S. 278. 10 Schreiben Moritz Julius Bonn an Abraham Flexner: Memorandum on Colleges of Commerce in Germany (3.4.1929). BA Koblenz. Nl Bonn, 82/51.

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Tendenzen gewesen sein, genauso wie die Anfänge der Industrieforschung in den Naturwissenschaften, die einen Heidelberger Professor 1905 bemerken ließen: »Die G.m.b.H. der Wissenschaft, die nur um ihrer selbst willen da ist, weicht der großen Konsumgenossenschaft, die das Wissen nur honoriert, wenn es Umsatzwert für das praktische Leben hat.«11 Der Erste Weltkrieg verstärkte diese Entwicklungen massiv. Sombart schrieb kurz nach Kriegsbeginn in einem Zeitschriftenartikel, dass die Aufgabe des Faches »immer nur darin bestehen kann, die Vorgänge auf der Bühne des Lebens wie der Chor in der antiken Tragödie zu begleiten.«12 Der durch den Krieg sein Damaskus zum Nationalisten erlebende Sombart13 griff hier die Wortwahl auf, mit der Schmoller 1879 im Verein für Sozialpolitik die Einführung der agrarischen Schutzzölle verteidigt hatte.14 Damit traf er jedoch eine Fehleinschätzung, denn die Kommentierung und zurückhaltende Beeinflussung der großen Linien war gerade nicht mehr gefragt.15 Die Kriegswirtschaft wuchs sich aus zu einer gigantischen Bürokratie mit einem riesigen Personalbedarf.16 Der Staat griff massiv in das Wirtschaftsleben ein, und die so entstehenden kriegswirtschaftlichen Organisationen hatten einen großen Bedarf an Menschen, die sich mit wirtschaftlichen Vorgängen auskannten. Es mussten Bedarfsmengen geschätzt, Höchstpreise festgesetzt, Rohstoffe und Arbeitskräfte verteilt und zugemessen werden. Hier war in der Tat praktisches, anwendbares Wissen in Bezug auf volkswirtschaftliche Zusammenhänge gefordert. Zudem lag es nahe, dass der Krieg als Untersuchungsgegenstand die nationalökonomische Forschungsarbeit dominierte. In den Fachzeitschriften häuften sich dementsprechend die Artikel, die sich mit praktischen kriegswirtschaftlichen Problemen beschäftigten. Nicht zuletzt fand auch die bereits vor 1914 begonnene Errichtung wirtschaftswissenschaftlicher Institute in den Herausforderungen der Kriegswirtschaft ihre Legitimation. Albert Hesse rechtfertigte auf diese Weise die 1916 erfolgte Gründung des von ihm geleiteten Königsberger »Instituts für ostdeutsche Wirtschaft«, das sich insbesondere mit den wirtschaftlichen Fragen Ostpreußens beschäftigen sollte.17 Er beklagte, dass die akademische Einzel­arbeit zu Heterogenität und Systemlosigkeit der Nationalökonomie geführt habe, während durch die Bündelung der Kräfte in einem Institut das geliefert werden könne, wonach die Kriegswirtschaft verlangte: nämlich aktuelles, sofort verwertbares Wissen. Die volkswirtschaftlichen Seminare hätten bislang hauptsächlich Bücher gesammelt und aktuelle Informationen aus dem Wirtschafts­ 11 Ohne Namensnennung zitiert bei: Vom Bruch, Gelehrtenpolitik, S. 110 f. 12 Sombart, Volkswirtschaftslehre und der Krieg, S. 243. 13 Vgl. Lenger, Sombart, S. 245 ff. 14 Schmoller, Zweck, S. 9. 15 Vom Bruch, Gelehrtenpolitik, S. 361 f. 16 Roth, Staat, S. 103 ff. 17 Hesse, Krieg. Zum »Institut für ostdeutsche Wirtschaft« s.a. Richter, Albertus-Universität, S. 127–140.

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leben wie Zeitungsausschnitte, Geschäftsberichte oder Kurszettel überhaupt nicht beachtet. Durch umfassende Archivierung sollte das anders werden.18 Vor allem erwartete Hesse dadurch eine verbesserte Kommunikation zwischen Wissenschaft und Praxis, die sich einander entfremdet hätten: »Die Wissenschaft hat studiert, die Praxis probiert. Die Wissenschaft ist teilweise wirklichkeitsfremd gewesen, die Praxis hat die Theoretiker geringgeschätzt. Sie haben sich nicht verstanden.«19 Die Institutsarbeit sollte also einen Beitrag zu einer grundlegenden Verbesserung des Verhältnisses zwischen Theorie und Praxis leisten. Den engen Bezug von Wissenschaft und Wirtschaftspraxis hatte sich auch Bernhard Harms auf die Fahnen geschrieben. Gleich nach Kriegsbeginn bot er den staatlichen Stellen an, die Arbeit des Kieler Instituts für Weltwirtschaft vollständig in den Dienst der Kriegswirtschaft zu stellen.20 Dadurch konnte er dessen Bedeutung steigern und war zugleich in der Lage, zusätzliche Geldmittel zu akquirieren und sein Institut rasch zu vergrößern. Für Hesse wie für Harms war es das Ziel der wirtschaftswissenschaftlichen Institutsarbeit, die Bruchstelle zwischen Wissenschaft und Praxis zu reparieren und einen gemeinsamen Arbeitszusammenhang zu kreieren. Dabei wiederholte Harms während des Krieges seine bereits früher an der Historischen Schule geäußerte Kritik, dass sie durch ihre politische Ausrichtung die Zusammenarbeit von Wissenschaft und Wirtschaftspraxis sabotiert habe. Durch die Sammlung von relevantem Informationsmaterial und durch wertfreie theoretische Arbeit könnte die Nationalökonomie der Praxis jedoch sehr wohl große Dienste erweisen. Dazu müsse allerdings der Staat das Fach auch in weitaus stärkerem Maße finanziell unterstützen, als er das bislang getan hatte.21 Auch der 1916 gegründete »Wirtschaftsdienst«, eine an das Hamburger Kolonialinstitut angeschlossenen Zeitschrift, sollte den Informationsbedarf der Kriegswirtschaft befriedigen.22 Durch die aktuelle Ausrichtung und das wöchentliche Erscheinen, nach Vorbild des englischen »Economist«23, unterschied sich der »Wirtschaftsdienst« vom »Weltwirtschaftlichen Archiv«. In der Weimarer Republik entstand bald zahlreiche ähnliche Zeitschriften: beispielsweise 1925 das »Magazin der Wirtschaft«, das jedoch bereits 1931 das Erscheinen einstellen musste. Ebenfalls seit 1925 gab Gustav Stolper in Berlin den »Deutschen Volkswirt« heraus, nachdem er kurz nach Kriegsende in Wien den »Österreichischen Volkswirt« initiiert hatte.24 Bei diesen Organen handelte es sich nicht 18 Hesse, Krieg, S. 147 f. 19 Ebd., S. 155. 20 Schreiben Bernhard Harms an Oberregierungsrat Elster (3.8.1914). GStA Berlin. 1.  HA, Rep. 76 (Kultusministerium), Va, Sekt. 9, Tit. X, Nr.39 A, Bd.1. 21 Harms, Institut, S. 6 ff. 22 Singer, Geleitwort, S. 1–3. 23 Vgl. Bahr, S. 1 f. Den »Deutschen Oekonomist« gab es bereits seit 1891, jedoch waren dessen Artikel weitaus knapper gehalten als in den neu gegründeten Wirtschaftsmagazinen. 24 Stolper, Leben, S. 169 f.

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im strengen Sinne um Fachzeitschriften, sondern um tagesaktuelle Journale, in denen neben den Redakteuren immer wieder auch »professionelle« Nationalökonomen Beiträge verfassten. Schumpeter, der mit Stolper eng befreundet war, schrieb beispielsweise zahlreiche Artikel für dessen Magazin. Keynes schrieb zeitweise rege im Wirtschaftsdienst. Man wird nicht fehlgehen, diese Zeitschriften gleichfalls als Ausweis einer verstärkten Praxisorientierung zu interpretieren, zumal sie mehr als die Fachzeitschriften eine Schnittstelle zwischen Universitätsbetrieb und Wirtschaftspraxis bildeten. Nicht alle Ökonomen konnten jedoch mit der Forderung nach mehr Praxisbezug etwas anfangen, zumal das fachliche Niveau vieler Artikel, die sich mit kriegswirtschaftlichen Fragen beschäftigten, problematisch war. Schumpeter meinte schon 1915, die Gelehrtenwelt solle doch aufhören, sich zu sehr mit praktischen Problemen zu befassen, »denn die ausschließliche oder vor­ wiegende Beschäftigung mit praktischen Tagesfragen droht das Interesse an der Arbeit nach lediglich wissenschaftlichen Gesichtspunkten zu erdrücken und damit den Fortschritt der Wissenschaft zu gefährden.«25 Franz Boese schrieb 1917 an Spiethoff, ihm und dem greisen Schmoller seien die im Jahrbuch be­ handelten Themen bereits viel zu aktuell geworden.26 Bücher sah im selben Jahr gar eine »Schicksalsstunde« der akademischen Nationalökonomie gekommen. Wo er vordergründig vor allem den zunehmenden Einfluss der Wirtschaft auf die Nationalökonomie beklagte und dafür finanzstarke Einrichtungen wie das Kieler Institut für Weltwirtschaft als abschreckendes Beispiel ansah, ging es ihm nicht zuletzt um die Rechtfertigung der traditionellen Gelehrtenexistenz. Praxisorientierung sollte für Bücher in erster Linie Sache des einzelnen Wissenschaftlers sein, der diesen Bezug freiwillig herstellte, ohne durch die institutionellen Strukturen darauf festgelegt zu werden. Dieses Plädoyer für die akademische Einzelarbeit drückte ein immer noch weit verbreitetes akademisches Selbstverständnis aus, das sich strikt gegen die »industrialisierte« Forschung in Instituten wandte, weil mit der Unabhängigkeit der Forschung auch die gedankliche Durchdringung der Probleme Schaden erleiden würde. Große Mitarbeiterstäbe und zugleich die Festlegung auf die Behandlung von »Tagesfragen« waren für Bücher ein Graus, weil er damit die ­Dignität des Faches auf den Status einer Hilfswissenschaft erniedrigt sah.27 Damit kritisierte Bücher auch die durch den Krieg bedingten Veränderungen, die den von ihm präferierten Forschungsstil in die Defensive drängten.28 Allein es bestand ein gewisser Widerspruch darin, dass das Programm der Jüngeren Historischen Schule ebenfalls auf einen interdisziplinären Arbeitszusammenhang ausgerichtet war, was für Bücher aber offensichtlich nicht die institutionelle Zusammenfassung der Forscher bedeuten sollte. 25 Schumpeter, Vergangenheit, S. 115. Vgl. Passow, Schumpeter. 26 Schreiben Franz Boese an Arthur Spiethoff (6.3.1917). UB Basel. Nl Spiethoff, A 77,35. 27 Vgl. auch Sombart, Objekt, S. 660 f. 28 Bücher, Schicksalsstunde, S. 281 ff.

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Aufs Ganze betrachtet ist es nicht zuviel gesagt, dass der Erste Weltkrieg die vormals bestehende Alltagsentlastetheit der Nationalökonomie weitgehend zunichte machte. Durch die Kriegswirtschaft und erst recht durch die gesellschaftlichen Umwälzungen im Zuge der Revolution von 1918 ergaben sich grund­ legende Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft, denen gegenüber sich die Nationalökonomie weder achtlos noch abwartend verhalten konnte. Die Erscheinungen der Kriegswirtschaft schufen unendlich viel neues Tatsachen­ material, das die Nationalökonomie wissenschaftlich verarbeiten musste.29 Zudem hatten bereits während des Ersten Weltkrieges intensive Diskussionen um die Gestaltung der Wirtschaftsordnung nach Kriegsende begonnen.30 Es ging hier vor allem um die Frage, ob das absehbare Konversionsproblem vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Kriegswirtschaft nicht am besten im Rahmen der Errichtung einer neuen Wirtschaftsordnung gelöst werden konnte. Das war vor allem der Tenor der genossenschaftlichen Gemeinwirtschafts­ konzeptionen Wichard von Moellendorffs und Walther Rathenaus, die an der Installierung der Rohstoffbewirtschaftung im Ersten Weltkrieg in entscheidender Weise beteiligt waren. Nach dem Krieg sollten sich diese Debatten noch verstärken, wobei besonders die Sozialisierungsdiskussion einen breiten Raum einnahm, also die Frage der Verstaatlichung der Wirtschaft bzw. bestimmter Schlüsselindustrien. Zur Umsetzung solcher Pläne wurde 1919 sogar eigens eine staatliche Kommission (mit allerdings geringen Kompetenzen) gegründet, zu deren Mitgliedern mit Emil Lederer, Joseph Schumpeter und Alfred Amonn auch drei prominente Nationalökonomen gehörten.31 Aber selbst wenn die faktischen Eingriffe in die Wirtschaftsordnung schließlich keineswegs umwälzend waren und kaum über das hinausgingen, was bereits Ende 1918 im StinnesLegien-Abkommen festgelegt wurde32, blieb die Umgestaltung der Wirtschaftsund Gesellschaftsordnung in den Jahren der Weimarer Republik doch ein heiß diskutiertes Thema, bei dem neben planwirtschaftlichen Konzeptionen oder »gebundenen«, korporativistischen Wirtschaftsformen auch zahlreiche, eher obskur anmutende Entwürfe miteinander konkurrierten. Es lag jedenfalls nahe, die Nationalökonomie als das akademische Fach anzusehen, das sich von ihrem Untersuchungsgegenstand her zu gesellschaft­ lichen und wirtschaftlichen Transformationen am ehesten begründet äußern konnte. Ein Autor der Volkswirtschaftlichen Blätter mutmaßte darum schon im Sommer 1918, dass »das von Prince Smith bereits auf dem Stuttgarter Kongress von 1861 angekündigte Zeitalter der ›Herrschaft der Volkswirte‹ […] nun doch noch gekommen«33 sei. Ein anderer meinte kurz nach der Revolution, dass es angesichts der zahlreichen wirtschaftlichen Reformprojekte, die durch die 29 Heller, Weltkrieg, S. 595 ff. 30 Vgl. Zunkel, Industrie. 31 Als Überblick s. Novy, Strategien. 32 S. dazu allgemein Wehler, Gesellschaftsgeschichte. Vierter Band, S. 239 ff. Kluge. 33 Göbel, Selbstbewusstsein, S. 126 f.

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öffentliche Diskussion geisterten, dringend fähiger Volkswirte bedürfe, die den Tagträumern das Machbare aufzeigten.34 Hesse schrieb schon 1917, dass: »nach dem Krieg […] unserer Wissenschaft Aufgaben gestellt [werden], wie nie zuvor; es wird für sie eine Konjunktur kommen, die so bald nicht wiederkehrt. Wir müssen uns rechtzeitig einrichten, um sowohl für unsere Wissenschaft die Zeit zu nützen und das alte Ansehen unserer Universitäten durch verständnisvolles Eingehen auf die Bedürfnisse der Gegenwart zu erhalten, wie um die Erwartungen zu rechtfertigen, die das Leben stellt und von deren Erfüllung der Ertrag der Kriegsarbeit und die Zukunft unseres Volkes abhängt.«35 Diese Worte sollten sich als prophetisch erweisen, denn die Konjunktur der Nationalökonomie kam in der Tat. Zugleich entstanden mit ihrer steigenden Bedeutung spezifische Probleme, sowohl für die Nationalökonomie als Univer­ sitätsfach als auch in ihrem Verhältnis zu Wirtschaft und Politik.

2.2 Die Nationalökonomie als Universitätsfach in der Weimarer Republik 2.2.1 Der Aufschwung der Nationalökonomie nach dem Ersten Weltkrieg Trotz ihrer defensiven Selbstbeschreibung und Krisenrhetorik erlebte die Nationalökonomie als Universitätsfach in den Jahren der Inflation institutionell einen Aufschwung. Bis zum Ersten Weltkrieg war das nationalökonomische Studium eher randständig gewesen. Die materielle Ausstattung der Lehrstühle war (im Vergleich zu den Naturwissenschaften) marginal und vor dem Krieg waren im Schnitt lediglich zwei- bis dreitausend Studierende an deutschen Universitäten immatrikuliert. Nach Kriegsende vervielfachte sich diese Zahl bis 1924 jedoch36, wonach sie allerdings wieder rapide absank, wie das folgende Diagramm verdeutlicht. Vergleicht man diese Entwicklung zunächst in ihrer proportionalen Gewichtung mit der Entwicklung der Gesamtzahl der Studierenden an deutschen Universitäten, fallen gleich mehrere Anomalien ins Auge. Der Zuwachs der Studentenzahlen in der Nationalökonomie während der Inflation war also nicht nur ein absoluter, sondern im Vergleich zur Gesamtentwicklung auch ein relativer. Nach Medizin und Jurisprudenz war die Nationalökonomie plötzlich das Fach mit den drittmeisten Studenten. Zudem stieg die Zahl der National34 Hambloch, Volkswirte vor!, S. 199. 35 Hesse, Krieg, S. 162. 36 Denkschrift über Aufgaben, personelle und räumliche Ausstattung des Instituts für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der Westf. Wilhelms-Universität in Münster (o. D., nach Aktenstelle April 1924). UA Münster. Pers.-Akte 6956, Nr.4.

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Studierende der Volkswirtschaftslehre an deutschen Universitäten 16000 14000 12000 10000 8000 6000 4000 2000

0 1905

1910

1915

1920

1925

1930

1935

1940

Quelle: Titze, Hochschulstudium, S. 156 ff. (Die Zahlen für die Jahre 1912–1914 sind aus der Zahl der männlichen deutschen Studierenden abgeleitete Schätzwerte).

Studierende an deutschen Universitäten 120000 100000 80000 60000 40000 20000 0 1905

1910

1915

1920

1925

1930

1935

1940

Quelle: Titze, Hochschulstudium, S. 29 f.

ökonomie Studierenden noch an, als die Studenten­zahlen insgesamt bereits wieder zu stagnieren begannen. Nach 1924 war der Abfall der Studentenzahlen dann gravierender als in der Gesamtentwicklung, und sie vollzog das Wiederansteigen der Einschreibungen in der Weltwirtschaftskrise kaum mit. Die reinen Zahlen zeigen also, dass die Nationalökonomie in der unmittelbaren Nachkriegszeit und den Jahren der Inflation ein ausgesprochenes Modefach wurde, das seit Mitte der 1920er Jahre einen massiven Verlust seiner Anziehungskraft erlebte. Zur Erklärung müssen die allgemeinen Faktoren sorgsam von den für die Nationalökonomie geltenden Sonderbedingungen geschieden werden. Der Erste Weltkrieg hatte viele junge Leute am Studium gehindert, die dieses nach ihrer Rückkehr nun nachholten.37 Zahlreiche Kriegsheimkehrer begannen zu stu37 Jarausch, Studenten, S. 129 f.

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dieren, die sich oft nur im Besitz eines »Notreifezeugnisses« befanden, die also früher als vorgesehen ihre Abiturprüfung abgelegt hatten, um anschließend zum Militär eingezogen zu werden. Das Studium der Nationalökonomie war deswegen beliebt, weil es damals mit sechs Semestern noch relativ kurz und darum verhältnismäßig billig war, sowie mit der Promotion einen attraktiven Abschluss bot. Viele arbeitslos gewordene Kriegsteilnehmer, insbesondere aktive Offiziere, suchten nach einem Beruf, der ihnen rasch die Gründung einer bürgerlichen Existenz ermöglichen sollte.38 Viele konnten Nationalökonomie auch als »Listenstudent« studieren, d. h. abends neben ihrer eigentlichen beruflichen Tätigkeit.39 Relativ günstige Berufsaussichten schien die Ausbildung zum Volkswirt auch deswegen zu versprechen, weil das Juristenmonopol in der staatlichen Verwaltungslaufbahn in die Diskussion geraten war.40 Weiter hatten die staatlichen Behörden während des Krieges einen großen Personalbedarf, der allerdings in den 1920er Jahren rapide zurückging, außerdem schuf die Vielzahl von Vereins- und Verbandsgründungen nach dem Krieg zahlreiche neue Stellen für Volkswirte.41 Darum galt die Nationalökonomie insgesamt als geeignetes Brotstudium, das als einfache und schnelle Alternative zur Juristenausbildung angesehen wurde.42 Das alles ist auch vor dem Hintergrund der prekären materiellen Lage der Studenten nach dem Krieg zu sehen, denen größtenteils weniger als das offiziell festgelegte Existenzminimum zur Verfügung stand.43 Neben solchen praktischen Aspekten entsprach das Fach aber einfach auch dem Zeitgeist. Der Nationalökonomie wurde am ehesten zugetraut, der Fülle an neuen Fragestellungen gerecht zu werden, die sich durch Weltkrieg und Revolution ergeben hatten.44 Für das Kaiserreich war die Jurisprudenz mit ihrem starken Gewicht auf der Verwaltungsausbildung die geeignete Leitwissenschaft gewesen. Vor dem Hintergrund, dass sich durch die Revolution die scharfe Trennung von Staat und Gesellschaft auflöste und die Verhältnisse sich allgemein gravierend veränderten, wird es erklärlich, dass die Nationalökonomie als Gesellschaftswissenschaft in der Weimarer Republik einen solchen Bedeutungszuwachs erfahren konnte.45 Deutlich wird das etwa an der folgenden Aussage Hans-Joachim Rüstows, des Bruders des bekannten Nationalökonomen 38 Zu diesen gehörte beispielsweise auch der Student Albert Leo Schlageter. Franke, S. 23. 39 Rothe, Fritz: Inhalt, Voraussetzungen und Aufgaben der leitenden Tätigkeit in der moder­ nen Wirtschaft. Stellung des praktischen Volks- und Betriebswirts, S. 4 (Man. Diss. ca. 1928) LB Oldenburg. Nl Schumacher, HS 588. 40 Merkblätter für die Berufsberatung: Der Volkswirt (1919). LB Oldenburg. Nl Schumacher, HS 198a. Kaulla, Verhältnis, S. 32 ff. Zu diesbezüglichen Tendenzen seit der Jahrhundertwende s. Süle, Bürokratietradition, S. 92. 41 Potthoff, Berufslage, S. 416–429. Reger, Union, S. 317. 42 Salin, Examen, S. 274. 43 Schwarz, Studenten, S. 58 ff. 44 Blesgen, Preiser, S. 19. 45 Ringer, S. 207 ff.

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­A lexander Rüstow, der Ende der 1920er Jahre über seine Gründe, Nationalökonomie zu studieren, schrieb: »Nach meiner Entlassung aus dem Heeresdienst als Unteroffizier begann ich im Sommer-Semester 1919 an der Universität Heidelberg das Studium der Nationalökonomie. Der Zusammenbruch hatte einen außer­ordentlich starken und nachhaltigen Eindruck auf mich gemacht; zum ersten mal stand ich dem durch Tradition, Erziehung und Umgebung bestimmten Weltbild kritisch gegenüber. Die innere Wendung war mitbestimmend für die Aufgabe der ursprünglichen Absicht, Offizier zu werden. Die Wahl der Staatswissenschaften als Studienfach entsprang zunächst dem Bedürfnis einer Beschäftigung und Auseinandersetzung mit den damals in den Vordergrund tretenden wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Problemen.«46 Der junge Student Wilhelm Röpke schrieb 1920 in gleicher Manier, dass »je enger sich Recht und Wirtschaft als verknüpft erweisen, je mehr die soziale Frage zum Lebensproblem der modernen Gesellschaft wird, umso mehr muss die Schulung wirtschaftlichen Denkens zu einer wichtigen Aufgabe staatsbürgerlicher Erziehung werden, umso mehr gilt es den Blick des Studenten zu schärfen für die ungeheure Schwere des sozialen Problems, für die Krisis, in die es die moderne Kultur zu treiben droht und bereits getrieben hat.«47 Für die wirtschaftlichen Staatswissenschaften in Kiel urteilt Detlef Siegfried, es sei vor allem die Aufmerksamkeit für die gesellschaftlichen und politischen Umbrüche gewesen, die ihre zunehmende Anziehungskraft ausgemacht habe.48 Allerdings ist seinem Urteil, dass die beruflichen Perspektiven dafür nur eine geringe Rolle spielten, nicht zuzustimmen.49 Es war beides: scheinbar günstige berufliche Aussichten und dass das Fach dem Zeitgeist entsprach; allerdings größtenteils noch mit wilhelminischem Personal.50 Dafür, dass die Nationalökonomie praktisch über Nacht zu einem Massenfach wurde, reichte die institutionelle Ausstattung bei weitem nicht aus.51 Es gab allerdings regionale Unterschiede. In Kiel existierten beispielsweise recht günstige Studienbedingungen, vor allem durch das dort angesiedelte Institut für Weltwirtschaft und Seeverkehr, das eine damals für Deutschland einzigartige materielle und personelle Ausstattung besaß.52 Das war aber die Ausnahme. Die meisten Universitäten waren auf den Ansturm der Studenten keineswegs vorbereitet. Die aus Handelshochschulen hervorgegangenen Universitäten in Frankfurt und Köln hatten dabei neben Berlin die höchsten Studentenzahlen, deren neu gegründeten Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultäten jedoch wenigstens zusätzlich über einen betriebswirtschaftlichen Personalapparat 46 Lebenslauf Hans-Joachim Rüstow. LB Oldenburg. Nl Schumacher, HS 362, 2330: 1.2. 47 Röpke, Weg, S. 5. 48 Siegfried, Milieu, S. 50. 49 Ebd., S. 51. 50 Z. B. Salin, Harms, 39 f. 51 Spiethoff, Vereinbarung, S. 887. 52 Vgl. die Aussage von Hermann Schumacher in: Jastrow, Reform, S. 229.

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verfügten.53 Besonders prekär war die Lage beispielsweise in Münster, einem beliebten Studienort der künftigen industriellen und administrativen Elite des Ruhrgebiets: Hier kamen im Jahr 1924 auf 750 Studenten nur drei ordentliche Professoren.54 Allerorten finden sich Klagen über die kaum noch zu leistenden Examensverpflichtungen.55 Durch die Studentenschwemme drohte der normale Abschluss des nationalökonomischen Studiums, der Doktortitel (je nach Fakul­ tätszuschnitt Dr. phil. oder Dr. rer. pol.), entwertet zu werden. Dazu kam, dass die Anforderungen vielerorts heruntergeschraubt wurden, um mit den Studentenmassen überhaupt fertig zu werden. Auf der Tagung des Vereins für Sozial­ politik 1920 in Kiel, die sich mit der Reform des staatswissenschaftlichen Studi­ ums beschäftigte, wurde viel über diese »Doktorfabriken« hergezogen56; manche Nationalökonomen reagierten auf die Titelinflation geradezu aggressiv.57 2.2.2 Die Einführung des Diplomexamens Als eine Reaktion auf die steigenden Studentenzahlen wurde Anfang 1922, in den sog. Bensheimer Beschlüssen, die Einführung des Diplomexamens beschlossen.58 Das Land Württemberg führte den neuen Abschluss im Sommer 1922 verbindlich ein, die republikweite Einführung fand schließlich ab dem Frühjahr 1923 statt.59 Damit wurde das nationalökonomische Studium insgesamt neu geregelt.60 Das Diplomexamen ersetzte die Promotion, bislang der reguläre Studienabschluss nach sechs Semestern, die jetzt nach weiteren zwei Semestern erfolgen sollte. Mit dem neuen Abschluss wurden das juristische und das volkswirtschaftliche Studium stärker differenziert und ein verbind­licher Kanon von Prüfungsfächern festgelegt. Dieser umfasste neben der klas­sischen, auf Karl Heinrich Rau zurückgehenden61 Dreiteilung Allgemeine Volkswirt53 Schwierig war die Lage allerdings auch hier. So kamen 1925 in Köln auf einen Professor 203 Studenten. Schreiben der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät an das Kuratorium der Universität Köln (4.2.1925). UA Köln. Zug 317–11, Nr.1129 (Bd.2). 54 Denkschrift über Aufgaben, personelle und räumliche Ausstattung des Instituts für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der Westf.-Wilhelms-Universität in Münster (o. D., nach Aktenstelle April 1924). UA Münster. Pers.-Akte 6956 Nr.4. 55 Schreiben von Andreas Voigt und Paul Arndt an das Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung (15.1.1921). GStA Berlin, 1. HA; Rep. 76 (Kultusministerium), Va, Sekt. 5, Tit. IV, Nr.6 Bd.1. 56 Boese, Geschichte, S. 169. Schreiben von Adolf Weber an den Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung (23.11.1920). GStA Berlin. Ha. I, Rep.76, Va, Sekt. 5, Tit. IV, Nr.6 Bd.1. 57 Schreiben von Johann Plenge an Richard Ehrenberg (26.7.1919). UB Bielefeld, Nl Plenge. ­Salin, Examen, S. 274. 58 Wagner, Nationalökonomie. 59 Stölting, Soziologie, S. 232 ff. 60 Ebd. Der Diplomabschluss war vorher bereits an den Universitäten Köln und Frankfurt probeweise eingeführt worden. Arndt, Nationalökonomie, S. 25. 61 Harms, Volkswirtschaft, S. 15.

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schaftslehre, Spezielle Volkswirtschaftslehre62 und Finanzwissenschaft noch Statistik, Betriebswirtschaftslehre und die wirtschaftlich relevanten Teile des bürgerlichen Rechts sowie das geltende Staats- und Verwaltungsrecht einschließlich der wichtigsten Elemente des Finanz- und Steuerrechts. Darüber hinaus hatte der Kandidat die Wahl, sich in einem Nebenfach (u. a. Wirtschafts­ geschichte, Wirtschaftsgeographie, Armenwesen und soziale Fürsorge, Soziologie) prüfen zu lassen.63 Allerdings waren die Studentenschwemme und die mit ihr einhergehende relative Entwertung des Doktorexamens nur ein Grund für die Einführung des Diplomexamens. Zugleich ging es darum, das problematische Niveau der Absolventen zu heben. Viele Unternehmer klagten über die frisch examinierten Volkswirte und stellten klar, dass sie einen Juristen einem Nationalökonomen grundsätzlich vorzögen. Daraus ergab sich die Forderung nach größerer Breite und stärkerem Praxisbezug des Studiums, was jedoch innerhalb des Faches äußerst kontrovers diskutiert wurde. Für Karl Bücher verband sich damit der Aufruf: »Kommet alle herein!«64 Ähnlich war für Hermann Schumacher, dem wohl mit Abstand entschiedensten Gegner des Diplomexamens, die Doktorarbeit eine unerlässliche Voraussetzung dafür, wissenschaftlich denken zu lernen, was eben nicht jedem gegeben sei.65 Schumachers Meinung nach musste mit Einführung des Diplomexamens »der ganze Lehrbetrieb auf die Massen­ produktion von Dilettanten eingestellt werden.«66 Er sah den gesamten Charakter der Nationalökonomie als Wissenschaft durch den neuen Abschluss in Frage gestellt. Mit diesem Punkt setzte sich der Münchner Nationalökonom Adolf Weber, der sich mit Schumacher eine scharfe Polemik lieferte, explizit auseinander: Es gab eine steigende Nachfrage nach in der Praxis brauchbaren Volkswirten, und die Nationalökonomie konnte sich diesem gesellschaftlichen Anspruch nicht entziehen.67 Zumal das von Schumacher vertretene Ideal der Gelehrtenausbildung angesichts der Realität des nationalökonomischen Studiums geradezu grotesk anmuten musste.68 Der hier auftretende Konflikt war allerdings bereits älteren Datums und hing mit den seit der Jahrhundertwende gegründeten Handelshochschulen zu­ sammen.69 1898 wurde die erste dieser Einrichtungen – noch in die dortige Universität integriert  – in Leipzig gegründet. Weitere Gründungen, u. a. in Köln, 62 In anderer Version: Theoretische und Praktische Volkswirtschaftslehre. 63 Ordnung der Diplomprüfung; Brintzinger, Nationalökonomie, S. 262 ff. 64 Bücher, Schicksalsstunde, S. 276. 65 Schumacher, Warnruf. 66 Schreiben Hermann Schumacher an Hermann Bücher (2.2.1923). LB Oldenburg. Nl Schumacher, HS 362,1640. 67 Weber, Diplomexamen, S. 395. 68 Schreiben Ludwig Pohle an Hermann Schumacher (5.7.1924). LB Oldenburg. Nl Schumacher, HS 362,1946:10. 69 Vgl. allgemein zur Entwicklung der Handelshochschulen und der Privat- bzw. Betriebswirtschaftslehre: Tribe, Strategies, S. 95 ff.

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München, Frankfurt und Berlin, folgten noch vor dem Ersten Weltkrieg.70 Das Studium dort dauerte in der Regel vier Semester und wurde mit dem DiplomKaufmann bzw. dem Diplom-Handelslehrer abgeschlossen. Selbst »traditionelle« Gelehrte wie Karl Bücher fanden diese Praktikerausbildung an den Handelshochschulen sinnvoll, wie auch der spätere preußische Kultusminister Carl Heinrich Becker, der sonst ein eher neuhumanistisches Bildungsverständnis pflegte.71 Weder für Bücher noch für Becker hatte diese Praktikerausbildung allerdings etwas mit Wissenschaft zu tun, sondern es wurde angewandtes und anwendbares Wissen vermittelt, ohne dass die eigentliche Tiefe der Probleme im Studium zu Bewusstsein kommen konnte. Für Becker hatten die Studenten der Handelshochschule einen »ganz anderen Charakter« als die an den Universi­ täten und eine »völlig unwissenschaftliche Einstellung«.72 Durch die Aufgabenteilung zwischen für die Praktikerausbildung zuständigen Handelshochschulen und für die Wissenschaftlerausbildung zuständigen Universitäten wurde das nationalökonomische Studium eigentlich entlastet. Mit praktischen Problemen der Betriebslehre wie Buchführung usw. brauchte man sich dann nicht herumzuschlagen, die der »angewandten« Wirtschaftswissenschaft in Form der Privat- bzw. Betriebswirtschaftslehre überlassen werden konnte. Das Superioritätsbewusstsein der universitären Nationalökonomen äußerte sich darin, dass sie nicht nur die Studenten der Handelshochschulen, sondern auch ihre Dozenten in der Regel nicht für voll nahmen.73 In dem Augen­blick jedoch, wo die Nationalökonomie wenigstens temporär zu einem Massenfach wurde, ließ sich diese klare Trennung nicht länger aufrechterhalten, zumal auch eine institutionelle Integration stattfand, wie im Fall der Univer­ sitätsneugründungen in Frankfurt und Köln, deren Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultäten mit Berlin zu den führenden in Deutschland gehörten und die aus Handelshochschulen hervorgegangen waren.74 Die vor dem Krieg bestehende Aufgabentrennung zwischen Universitäten und Handelshochschulen wurde somit zunehmend problematisch. Konnte der Bedarf von Wirtschaft und Verwaltung nach fähigen Volks­w irten auch aus dem Grund nicht einfach abgewiesen werden, weil sich damit ein Aufstieg der Nationalökonomie in der Fächerhierarchie verband, wurde die Disziplin zugleich mit den allgemeinen Klagen konfrontiert, dass die Unternehmen mit den frisch examinierten Volkswirten, die besonders in den Jahren 1919 bis 1922 in großer Zahl von den Universitäten strömten, nichts anfangen konnten. Ein Berliner Industrieller schrieb 1924: »Wer heute gezwungen ist, eine erste Kraft auf volkswirtschaftlichem Gebiet zu suchen, der erkennt mit Schrecken 70 Vgl. Hayashima. 71 Zum »Geistminister« Becker s. Düwell, Staat, bes. S. 65 ff. 72 Becker, Gedanken, S. 5. 73 Harms, Volkswirtschaft, S. 346, 355. Aus Sicht der BWL: Ditgen, S. 338. Vgl. auch Altmann, Gegenwartsaufgaben, S. 1258–1260, 1291–1294, 1293. Franz, S. 78 ff. 74 Brintzinger, Nationalökonomie, S. 15.

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was alles nach flüchtigem, ungenügendem Studium sich im Deutschland der Nachkriegszeit Nationalökonom nennen darf.«75 Dem Hörensagen nach ließen viele Firmen Stellenbewerbungen von Volkswirten, die ihr Examen während der Inflationsjahre und an bestimmten Universitäten abgelegt hatten, gleich in den Papierkorb wandern.76 Die Organisationen der Kriegswirtschaft hatten mit Volkswirten ebenfalls keine guten Erfahrungen gemacht77, und auch das Fach selber schloss sich dieser Kritik streckenweise an. So bemerkte ein Autor der »Volkswirtschaftlichen Blätter« bissig gegenüber der eigenen Profession: »Nun hat die Öffentlichkeit zweifellos bereits davon Kenntnis, dass es Leute gibt, die das Gebiet der durch Zeitungsbildung unserer Zeit vertieften Stammtisch-Er­ örterungen zum Gegenstand eines Studiums oder eines Berufes, ja sogar mitunter einer einkömmlichen Lebensstellung gemacht haben. Man nennt diese Leute mit Vorliebe Nationalökonomen. Was man sich jedoch darunter vorstellt, bewies am besten der Stabsarzt, der diese ›Ökonomen‹ bei der Musterung kurzerhand dem Train überwies.«78 Auf diese Kritik musste das Fach reagieren, wollte es keine dauerhafte Ruf­ schädigung erleiden, auch wenn viele Nationalökonomen mit dem geforderten Praxisbezug wenig anfangen konnten oder dadurch sogar der Charakter der Nationalökonomie als Wissenschaft in Frage gestellt sahen. Es mussten in weitaus höherem Maße Inhalte der Praktikerausbildung in das Studium integriert werden. Es gab Vorschläge für die Kopplung des Studiums an eine praktische Tätigkeit in einem Unternehmen, wie es für die Betriebswirte bereits teilweise üblich war.79 Der RDI schlug 1922 vor, im Rahmen eines insgesamt achtsemestrigen Studiums ein »Wirtschaftsdienstjahr« einzuführen, um die auf­tretenden Missstände abzustellen, wenn die jungen Volkswirte aus dem Studium direkt in die Praxis einträten.80 Genauso wurde gefordert, ein dem juristischen Volontariat entsprechenden Teil  des Studiums ganz der Erlernung der praktischen volkswirtschaftlichen Tätigkeit zu widmen. Diese Vorschläge wurden zwar nicht umgesetzt, doch stellte die Einführung des Diplomexamens einen Schritt in diese Richtung dar: Es sollte in erster Linie sicherstellen, dass der examinierte Nationalökonom in seinem Studium auf breiter Basis wirklich etwas gelernt hatte, auch wenn das hauptsächlich das Einpauken von Stoff be-

75 Stellungnahme Krämer (Berlin). Auszüge aus den Äußerungen von Industriellen auf das Rundschreiben des RDI (1922). LB Oldenburg. Nl Schumacher, HS 1640:16, Anl.1. 76 Rothe, Inhalt, S. 5. 77 Vgl. Stellungnahme Heinrich Herkner zur Denkschrift von Kurt Wiedenfeld über die Ausgestaltung des staatswissenschaftlichen Seminars an der Universität Halle (6.7.1916). GStA 1. HA; Rep. 76 (Kultusministerium), Va, Sekt. 8, Tit. X, Nr.43. Kaulla, Verhältnis, S. 4 f. 78 Göbel, Selbstbewusstsein, S. 127. 79 Locke, End, S. 254. 80 Schreiben des RDI and die Vorstandsmitglieder und Geschäftsführer der angeschlossenen Verbände (17.7.1922). Nl Schumacher, HS 308. Auf den Handelshochschulen gab es jedoch teilweise ein halbjähriges Pflichtpraktikum in der Wirtschaftspraxis. Horlebein, S. 9.

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deutete. Die eigentliche wissenschaftliche Leistung sollte dann mit der Promotion erbracht werden. Das Diplomexamen wurde von vielen Nationalökonomen aus dem Grund als eine massive Bedrohung betrachtet, weil es dazu führte, dass das Fach zu einem großen Teil  auf die Praktikerausbildung festgelegt wurde. Konkret bedeutete das etwa, dass die Freiheit der Themenwahl in Vorlesungen und Seminaren beschränkt wurde, weil dort auf die Examensanforderungen Rücksicht genommen werden musste. Salin grauste davor, in Zukunft immer die gleiche Vorlesung halten zu müssen. Seiner Meinung sollte »man dafür Oberlehrer bestimmen und offen erklären, dass die Universität zu einer Fachschule degradiert ist.«81 Aufgrund der massiven Überlastung der Studiengänge und den an die Nationalökonomie gestellten Anforderungen blieb dem Fach jedoch letztlich keine Wahl, als sich auf die neue Lage einzustellen. 2.2.3 Das Ende des Aufschwungs Das Problem des geringen fachlichen Niveaus und der Schwierigkeiten der praktischen Volkswirte beim Berufseinstieg blieb weiterhin bestehen. 1926 stellten die Volkswirtschaftlichen Blätter z. B. die Frage, ob sie nicht eigentlich wider besseren Wissens das volkswirtschaftliche Studium empfahlen. Die Antwort lautete, dass die Aussichten für die fähigen Volkswirte weiterhin gut seien, für die durchschnittlichen jedoch ziemlich schlecht.82 Im Jahr darauf ver­öffentlichten einige Juristen und Nationalökonomen gemeinsam einen Vorschlag zur Reform der staatswissenschaftlichen Studiengänge.83 Dabei plädierte der Münsteraner Nationalökonom Werner Friedrich Bruck dafür, den DiplomVolkswirt ganz aufzugeben und das Verwaltungsreferendarexamen mit dem Diplom-Volkswirtsexamen zusammenzulegen, um einen einheitlichen Ausbildungsweg für die Verwaltungsbeamtenlaufbahn zu kreieren. Damit reagierte er vor allem auf die weiterhin extrem prekäre Situation der praktischen Volkswirte auf dem Arbeitsmarkt.84 Die große Anziehungskraft der Nationalökonomie nach dem Ersten Weltkrieg war mithin äußerst zwiespältig. Der Zugewinn an Bedeutung ging, wie gesehen, zugleich mit einer massiven Kritik an der Disziplin einher, die ihre Studenten offensichtlich nicht adäquat ausbilden konnte. Zwar wurden an fast allen Universitäten neue Lehrstühle oder Extraordinariate geschaffen, die Situation der institutionellen Überforderung wurde dadurch aber nicht beseitigt. Wenn, 81 Schreiben Edgar Salin an Bernhard Harms (12.5.1932). UB Basel, Handschriftenabteilung. Nl Salin, Fb 1164. 82 N. N., Warnung, S. 34–36. Bruck, Frage. 83 Batocki, Staatsreferendar. Zur Frage des Verhältnisses des juristischen und des nationalökonomischen Studiums vgl. Heymann, Recht, bes. S. 226 ff. 84 Batocki, Staatsreferendar, S. 44 f.

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geschah das eher durch das Absinken der Studentenzahlen seit 1924, eine Entwicklung, welche die Universitäten zunächst insgesamt betraf. Frappierend ist jedoch, dass die Nationalökonomie seitdem einen kontinuierlichen Abfall erlebte und den erneuten Wachstumsschub der Einschreibungen in der Weltwirtschaftskrise85 praktisch nicht mit vollzog. Dafür wiederum gab es verschiedene Gründe: Erstens handelte es sich um einen normalen Rückgang, nachdem der durch den Weltkrieg erzeugte Studentenstau abgeflossen war. Weiter hatte sich erwiesen, dass der Arbeitsmarkt für Volkswirte doch nicht so aufnahmefähig war, wie direkt nach Kriegsende vermutet.86 Langfristig bot die Nationalökonomie kein Ventil für die allgemein konstatierte Überfüllung des akademischen Arbeitsmarktes.87 Drittens minderte das Diplomexamen den Reiz der Nationalökonomie, weil es das Studium verlängerte und die begehrte Promotion verkomplizierte.88 Nicht zuletzt jedoch wird die Nationalökonomie auch ihren Status als die Wissenschaft, die für das Verständnis der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen am geeignetsten war, rasch verloren haben. Damit war das Fach, voran seine noch zum großen Teil dem Wilhelminismus entstammenden Lehrstuhlinhaber, definitiv überfordert, was zugleich die Anziehungskraft charismatischer Außenseiter erhöhte, die neue theoretische Wege zu gehen versprachen. Dass die Nationalökonomie selbst gerne hervorstrich, sich in der Krise zu befinden, eine »junge« Wissenschaft zu sein, von der Aussagesicherheit nicht erwartet werden konnte, dürfte die Attraktivität des Faches ebenfalls kaum erhöht haben. Zumindest die institutionelle Lage des Faches besserte sich nach dem Abflauen der Studentenschwemme. Zwar blieben die Studentenzahlen zunächst um ein Drittel höher als vor dem Krieg, zugleich war während ihrer »Boomjahre« die personelle Ausstattung erkennbar aufgestockt worden; zwar von Universität zu Universität unterschiedlich, aber dennoch merklich.89 Auch die Fachzeitschriften konnten sich konsolidieren, die während der Inflation eine schwere Zeit durchmachen mussten. Das »Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik« war durch den Tod Max Webers (1920) und Edgar Jaffés (1921) sowie der Niederlegung der Herausgeberschaft durch Werner Sombart (1922) in argen Nöten, bis der Heidelberger Ökonom Emil Lederer gemeinsam mit Al85 Jarausch, Studenten, S. 131. 86 Zumal die staatlichen Behörden ihren Personalbedarf deutlich herunterfuhren. So berichtete der Staatssekretär im Reichswirtschaftsministerium, Hans Schäffer, dass bei seinem Eintritt ins RWM dort 1600 Menschen beschäftigt waren, während man dort 1931 mit etwas über 200 Mitarbeitern seinen Aufgaben voll gerecht wurde. Schäffer, Problematik, S. 44. Fattmann, S. 30 f. 87 Schreiben der Wirtschaftshilfe der Deutschen Studentenschaft an Werner Sombart (19.7. 1923). GStA Rep. 92 Nl Sombart, Nr. 2b. Allgemein zum Problem der »Überfüllung« in der Zwischenkriegszeit vgl. Titze, Akademikerzyklus, S. 263 ff. 88 Schreiben Melchior Palyi an Moritz Julius Bonn (30.12.1924). BA Koblenz. Nl Bonn, 82/57. 89 Z. B. Brintzinger, Nationalökonomie, S. 34, 173 ff., 257 ff.

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fred Weber dessen Leitung übernahm, wobei vor allem Lederer die Zeitschrift entscheidend prägen sollte.90 Die von Ludwig Pohle herausgegebene »Zeitschrift für Sozialwissenschaft« musste aufgrund geringer Abonnentenzahlen 1921 eingestellt werden.91 »Schmollers Jahrbuch« geriet Anfang der 1920er Jahre in eine schwere Herausgeberkrise und konnte 1923 gar nicht erscheinen.92 Die Zeit der Inflation erzeugte für alle Fachzeitschriften massive praktische Probleme durch Papiermangel, gestiegene Druckkosten, Honorarprobleme usw.93 Die Abonnen­ tenzahlen fielen überall. Nach der Inflation blieb die Lage zwar nicht einfach, das »Archiv für Sozialwissenschaft« etwa musste seinen Umfang in den 1920er Jahren mehrfach einschränken94, jedoch überstanden die großen nationalökonomischen Fachzeitschriften die Zeit der Weimarer Republik und bestehen heute noch. Allein das »Archiv für Sozialwissenschaft« musste auf Betreiben der Nationalsozialisten 1933 sein Erscheinen einstellen.95

2.3 Wirtschaftpraxis, Wirtschaftspolitik und Nationalökonomie in der Weimarer Republik 2.3.1 Das spannungsreiche Verhältnis zwischen Nationalökonomie und Wirtschaftspraxis Zur Vorkriegsnormalität konnte die deutsche Nationalökonomie jedoch auch nach dem Abflauen ihrer »Sonderkonjunktur« nicht zurückkehren. Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen hatten sich so gravierend verändert, dass eine Restaurierung des während des Kaiserreichs gepflegten Forschungsstils nicht mehr möglich erschien. Die extremen ökonomischen und gesellschaft­ lichen Turbulenzen, die die Weimarer Republik durchlebte, schufen einen Problemdruck, dem sich die Nationalökonomie schlechterdings nicht entziehen konnte. Eine Entwicklung, die insbesondere in der Vorkriegszeit sozialisierte Wissenschaftler bedauerten.96 Die Beziehung zwischen Wirtschaftspraxis und Wirtschaftspolitik auf der einen, akademischer Nationalökonomie auf der anderen Seite war während der 90 Vgl. Schreiben Emil Lederer an Ferdinand Tönnies (6.11.1920). LB Kiel. Nl Tönnies, Cb 54.56: 474. Esslinger, Interdisziplinarität, S. 133 ff. 91 Stölting. Soziologie, S. 157. 92 Goldschmidt, Schumacher, S. 65. 93 Für eine ausführliche Beschreibung der Lage vgl. Schreiben der Wirtschaftsdienst GmbH an Freiherr von Gemmingen (22.6.1922). StA Friedrichshafen. Best.3, Nr.347. S.a. Lenger, S. 267 ff. 94 Schreiben Emil Lederer an Ferdinand Tönnies (21.3.1928). LB Kiel. Nl Tönnies, Cb 54.56: 476. 95 Zu den nationalökonomischen Fachzeitschriften generell: Stölting, Soziologie, S. 148–159. 96 Sombart, Hochkapitalismus. Vgl. seine Kritik an Amonn: Sombart, Objekt.

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1920er Jahre vor allem durch Verunglimpfungen und gegenseitiges Misstrauen gekennzeichnet. Von der schlechten Meinung der Wirtschaftsverbände über die Absolventen des nationalökonomischen Studiums wurde bereits berichtet, genauso über den Vorwurf, die Nationalökonomen hätten in den kriegswirtschaftlichen Organisationen größtenteils versagt. Die Brauchbarkeit der meisten Nationalökonomen für die Wirtschaftspraxis wurde bestritten und die Reformbedürftigkeit des nationalökonomischen Studiums angemahnt. Um­gekehrt gab es aber auch zahlreiche Klagen von Seiten der Nationalökonomen: Der Finanzwissenschaftler Moritz Julius Bonn etwa beschwerte sich massiv über das wirtschaftstheoretische Unvermögen der staatlichen Stellen, das ihm selten in so geballter Form begegnet sei.97 Genauso warf er der Wirtschaftspraxis vor, dass sie sich für die wirtschaftswissenschaftlichen Erkenntnisse schlichtweg nicht interessiere.98 Andere wiederum meinten, dass die Wirtschaftsleute sich grundsätzlich nur für solche nationalökonomischen Erkenntnisse erwärmten, die ihren eigenen politischen Forderungen zupass kamen.99 Auf der Pyrmonter Reparationskonferenz 1928 gab Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht das sogar offen zu, worauf sein Beitrag aus dem Tagungsband gestrichen wurde.100 Gustav Stolper, schrieb entsprechend: »Wer die Wissenschaft nur als Melkkuh für Interessenargumente sieht und sie dementsprechend behandelt, darf von ihr keine Förderung seiner Erkenntnis erwarten.«101 Franz Oppenheimer meinte während des Weltkrieges, wenn die staatlichen Entscheidungsträger von theoretischer Nationalökonomie mehr verstanden hätten, viel soziale Unbill hätte vermieden werden können.102 Die Wirtschaftspolitik der unmittelbaren Nachkriegszeit wurde auch von Paul Mombert, Adolf Weber und anderen scharf angegriffen.103 Es ist jedoch äußerst schwierig, klar zu beantworten, inwiefern diese gegenseitigen Vorwürfe berechtigt waren. Zumal zwei Aspekte zu unterscheiden sind: Erstens sollte die Nationalökonomie fähige Praktiker ausbilden, die später in den Unternehmen oder der Verwaltung kompetent ihre Arbeit erledigten. Zweitens sollte sie das Wissen bereitstellen, damit von Seiten der Wirtschaftspolitik auf ökonomische Problemlagen mit sinnvollen Maßnahmen reagiert werden konnte. Zum ersten Punkt ist zunächst festzustellen, dass von Seiten »der« Wirtschaft kein klares Anforderungsprofil existierte, was die Nationalökonomie an Praxis­ orientierung eigentlich leisten sollte. Zwar wuchs die Unzufriedenheit der Vertreter der Wirtschaft mit den auf den Universitäten produzierten Volkswirten, jedoch waren die Forderungen, was die Disziplin besser machen sollte, in sich 97 Bonn, Wirtschaftsgestaltung und Hochschulziele (Rede an der Jubiläumsfeier am 27.10. 1931). BA Koblenz. Nl Bonn, 82/10d. 98 Bonn, Wirtschaft und Wissenschaft, S. 103 f. 99 Hirsch, Wirtschaftskrise, S. 57. Ders., Wirtschaftswissenschaft und -praxis, S. 192. 100 Brügelmann, Politische Ökonomie, S. 81 ff. 101 Stolper, Wissenschaft, S. 39. 102 Wicksell, Replik, S. 82. Anders noch zu Anfang des Krieges: Oppenheimer, Weltwirtschaft. 103 Mombert, Wirtschaftstheorie, S. 28. Weber, Wirtschaft und Politik, S. 20.

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keineswegs konsistent. Man hätte gerne Praktiker gehabt, die sofort im Betrieb einsetzbar waren, was angesichts eines nur dreijährigen Studiums und der curricularen Bestimmungen illusorisch war. Es gab bei den Arbeitgebern auch eine gewisse Genervtheit darüber, dass jemand wie der Universalist Othmar Spann in der Nationalökonomie einen relativ hohen Stellenwert besaß, wodurch sie in Gefahr geriet, »mit den Dichtern in den Wolken zu wohnen und nicht auf dem festen Boden der Wirtschaft.«104 Hin und wieder wurde Druck ausgeübt, um die Berufung von Sozialisten auf nationalökonomische Lehrstühle zu verhindern.105 Was von der Nationalökonomie als Fach aber inhaltlich verlangt wurde, war nicht unbedingt eine stärkere Beschäftigung mit abstrakter ökonomischer Theorie. Auf der bereits erwähnten Pyrmonter Reparationskonferenz von 1928 z. B. wurde den vortragenden Wissenschaftlern deutlich gemacht, die Vertreter der Wirtschaft verließen gleich den Raum, wenn weiterhin »so rein theoretisch ge­sprochen« würde.106 Die Notwendigkeit wiederum, sich stärker an den Bedürfnissen der Wirtschaftspraxis zu orientieren, wurde auch von der Nationalökonomie als Problem formuliert. Der engere Bezug zur Praxis war ja bereits ein zentraler Programmpunkt der disziplininternen Opposition gegen die Historische Schule gewesen und hatte ganz wesentlich die bereits erwähnten Gründungen natio­ nalökonomischer Institute motiviert.107 Indes war die Forderung nach stärkerer Praxisorientierung in den 1920er Jahren einigermaßen beliebig, solange unklar blieb, was das genau meinte. Die Erfassung der sozialen und ökonomischen Verhältnisse war ein stets emphatisch betontes Erkenntnisziel, das auch solche theoretischen Entwürfe für sich reklamierten, die heute bestenfalls noch als abseitig durchgehen.108 Realitäts- und Lebensnähe der ökonomischen Forschung waren stetig wiederkehrende Forderungen, als Voraussetzung dafür, um einen engen Bezug zwischen Wissenschaft und Wirtschaftspraxis etablieren zu können.109 Auch von Seiten der Nationalökonomie war es im Übrigen keineswegs selbstverständlich, dass die verstärkte Beschäftigung mit ökonomischer Theorie automatisch einen stärkeren Praxisbezug der Disziplin mit sich bringen würde, vielmehr wurden »Theorie« und »Praxis« lange Zeit eher als Gegensätze ge­sehen.110 Bezeichnenderweise schrieb Hermann Schumacher an104 Dix, Abwege, S. 307 f. 105 Vgl. Schreiben des Kurators der Universität Frankfurt (Richter) an Ministerialdirektor Windelband (22.7.1929). GStA 1.  HA; Rep. 76 (Kultusministerium), Va, Sekt. 5, Tit. IV, Nr.6 Bd.2. 106 Brügelmann, Politische Ökonomie, S. 78. 107 Krohns Aussage, die Praxisferne der Nationalökonomie sei bis weit in die 1920er Jahre überhaupt nicht reflektiert worden, ist also unrichtig. Krohn, Wirtschaftstheorien, S. 24. 108 Spann, Haupttheorien, S. 181. Schreiben Gottl-Ottlilienfeld an Hero Moeller (10.1.1923). UA Tübingen. Nl Moeller. 109 Z. B. Gottl-Ottlilienfeld, Freiheit, S. 656 f. 110 So betonte Schumpeter beispielsweise 1908, wie wichtig es sei, Theorie und Praxis aus­ einander zu halten. Schumpeter, Wesen, S. 574 ff.

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lässlich der Übernahme von »Schmollers Jahrbuch« 1918, dass so wichtig eine Verbindung mit der Praxis sei, sie nicht dazu führen dürfe, die theoretische Arbeit zu vernachlässigen.111 Hans Honegger meinte, dass angesichts der vielen wirtschaftlichen Krisen nach dem Weltkrieg die Nationalökonomie sich den Luxus einer reinen Theorie nicht mehr leisten könne. Die Theorie müsse zur Herrin der Praxis werden.112 Die Ansicht, dass eine stärkere theoretische Orientierung der Disziplin die verlorengegangene Verbindung von Wissenschaft und Wirtschaftspraxis wieder herstellen könne, setzte sich in dem Diskurs um die Neubegründung des Faches nach dem Ende der Historischen Schule durch.113 Hier wurde eine »rea­ listische Theorie« gefordert, die sich in ihrem Abstraktionsgrad nicht zu weit von den gesellschaftlichen Realitäten entfernen durfte.114 Es war jedoch das zentrale Problem dieser Zeit, dass eine realitätsnahe, anwendungsorientierte ökonomische Theorie allem Anschein nach erst noch geschaffen werden musste. Um dies wiederum zu leisten, bedurfte es jedoch eines theoretischen Unterbaus, der die systematische Erfassung der Realitäten des Wirtschaftslebens ermöglichte. Hier waren sich Vertreter von Wirtschaftspraxis und Nationalökonomie in ihrem Anforderungsprofil allem Anschein nach doch wieder ganz einig. Hermann Bücher von der AEG sprach auf der Jahrestagung des Reichsverbandes der Deutschen Industrie in Frankfurt 1927 eine vielbeachtete Philippika über die deutsche Volkswirtschaftslehre. Er forderte einerseits, sie müsse sich stärker den praktischen Fragen des Wirtschaftslebens zuwenden, zugleich solle sie aber von der Behandlung von Einzelfragen wegkommen und sich statt dessen auf die Erfassung des großen Ganzen konzentrieren.115 Das war jedoch ziemlich genau das, was die Nationalökonomie selbst von sich verlangte, und einer der entscheidenden Gründe, warum sie sich selbst in einer Krise sah: weil sie genau das nicht bieten konnte. Wie widersprüchlich sich das Problem des Praxisbezugs während der 1920er Jahre gestaltete, wird hier besonders deutlich. Die systematische und theore­ tische Erfassung des Ganzen wurde als Voraussetzung für eine realitätsnahe und anwendungsorientierte Forschung gesehen; dafür waren aber Forschungsanstrengungen erforderlich, die mit den praktischen Problemen des Wirtschafts­ lebens zunächst überhaupt nichts zu tun hatten. Gerade Schumpeter, der mit am heftigsten dagegen polemisierte, dass erst das große Ganze erfasst, also eine allgemeine theoretische Grundlegung der Nationalökonomie vorhanden sein müsse, bevor mit der Bearbeitung praktischer Einzelproblemen ernsthaft begonnen werden könne116, bekannte sich auf der Generalversammlung der so111 Schumacher, Zur Übernahme, S. 9 f. 112 Honegger, Krisis, S. 486. 113 Mombert, Wirtschaftstheorie, S. 41 ff. 114 Hesse, Wissenschaft, S. 58. Diehl, Theoretische Nationalökonomie, Bd. 3, S.IIIf. 115 Bücher, Wissenschaft. 116 Schumpeter, Schmoller.

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zial- und wirtschaftswissenschaftlichen Hochschullehrer 1928 dazu, dass »der Wissenschaft um der Wissenschaft willen« sein Herz gehöre.117 Aufs Ganze gesehen blieb das Problem des Praxisbezugs während der gesamten Zeit der Weimarer Republik virulent, fand jedoch keine befriedigende Lösung, und die scharfe Frontstellung zwischen Wissenschaft und Wirtschaftspraxis blieb bestehen. Diese Verbindung wieder herzustellen wurde zwar allgemein als Aufgabe der Disziplin formuliert, die Antworten, wie das zu schaffen sei, fielen jedoch äußerst vielfältig aus. Dass aus ihren Reihen immer wieder der Hinweis darauf erfolgte, wie weit Theorie und Praxis sich einander entfremdet hätten, dürfte nicht zuletzt auch dem Krisendiskurs des Faches geschuldet gewesen sein. Es handelte sich um einen Topos, mit dem sich die Notwendigkeit einer Neubegründung der Nationalökonomie rechtfertigen ließ. Auch wenn sich die Argumente, die dabei ausgetauscht wurden, gegenüber der Vorkriegszeit zumeist nicht wesentlich unterschieden, war es doch die Virulenz und Häufigkeit, mit der sie vorgebracht wurden. Seine Krise machte dem Fach schmerzlich bewusst, dass solange die internen Probleme nicht gelöst waren, es der Praxis vielleicht wirklich nichts zu bieten hatte.118 Der Heidelberger National­ ökonom Arthur Salz meinte 1927: »Es ist eine immerhin auffallende Erscheinung, dass eine Wissenschaft, die ein so kritisches Selbstbewusstsein hat, wie die heutige Nationalökonomie, die unter dem Übermaß von Selbstkritik so sehr leidet, dass sie sich zeitweilig in methodologischen Bedenklichkeiten erschöpfte und über die Frage, wie man richtig gehen muss, das Gehen selbst verlernte, dass eine solche Wissenschaft zwischen dem Misstrauen weitester Kreise und dem Überschwang der Hoffnungen, die sich an sie knüpfen, hin- und her­gezerrt wird. Eine solche Einstellung der Laien und der gebildeten Kreise stört den ruhigen Fortgang des Betriebes der Wissenschaft, macht sie unsicher, verwirrt das Urteil.«119 2.3.2 Nationalökonomie und Wirtschaftspolitik Die Frage des Verhältnisses der Nationalökonomie zur Wirtschaftspolitik wies noch einmal eigene Besonderheiten auf. »Wirtschaftspolitik« war bis zum Ersten Weltkrieg größtenteils Handels- und Zollpolitik gewesen. Daneben gab es noch die »Sozialpolitik«, die vor allem die Verbesserung der Lage der unteren Schichten zum Ziel hatte.120 Die Vorstellung einer Wirtschaftspolitik, die den Zweck verfolgte, durch aktive Eingriffe das Wirtschaftsleben zu fördern und zu gestalten, war kaum verbreitet und auch wenig naheliegend. Damit der Staat 117 Zitat in Sombart, Nationalökonomien, S. 281 f. Schumpeter, Wesen, S. 576, 578. Vgl. allerdings Schumpeter, Grundprobleme, S. 2 f. 118 Harms, Ergebnis, S. 281. 119 Salz, Theorie und Praxis, S. 271. 120 Kaufmann, Sozialpolitisches Denken.

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eine solche Rolle spielen konnte, die sich nicht im Sinne des Laissez-faire einfach darauf beschränkte, Bedingungen zu schaffen oder wieder herzustellen, unter denen die Selbstregulation der Wirtschaft funktionierte, musste er schließlich erst als bestimmender Akteur auf die ökonomische Bühne treten. Das tat er verstärkt aber erst im Ersten Weltkrieg und in der Zeit der Weimarer Republik, als die Staatsquote massiv anstieg.121 Adam Tooze urteilt: »The Weimar Republic was attempting to make economic policy for the first time, ­w ithout knowledge of the basic parameters.«122 Zwingende Voraussetzung für eine rationale Wirtschaftspolitik war also eine ausreichende Materialbasis, um überhaupt eine Vorstellung der wirtschaftlichen Prozesse zu bekommen, die man beeinflussen und steuern wollte. Tooze hat gezeigt, wie weit die Wirtschaftsstatistik in den 1920er Jahren das Wissen über die Wirtschaft veränderte.123 So machte beispielsweise die im Versailler Vertrag festgeschriebene Verpflichtung des Deutschen Reichs zu Reparationszahlungen an die Alliierten die Erstellung einer volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung notwendig, für deren Erstellung ein riesiger statistischer Aufwand erforderlich war. Die Einstellung der Nationalökonomie zur Wirtschafts- und Sozialpolitik war, allgemein gesprochen, vor allem durch ihre Ambivalenz gekennzeichnet. Es gab weiterhin die traditionelle Vorstellung von Sozialpolitik, wie sie besonders lautstark von dem Tübinger Nationalökonom Robert Wilbrandt in den 1920er Jahren propagiert wurde.124 Dieser isolierte sich damit im Fach jedoch zunehmend, nachdem er nach dem Krieg kurzzeitig zu einer populären Figur avancierte.125 Das sich nun durchsetzende Verständnis von Wirtschaftspolitik war hingegen weniger ein normatives als ein technisches, in dem darunter die Maßnahmen verstanden wurden, mit denen die Förderung des Wirtschafts­ lebens sinnvoll erreicht werden konnte. Bei der Betrachtung der Debatten im Verein für Sozialpolitik fällt jedenfalls nicht nur auf, dass sozialpolitische Fragestellungen zunehmend durch wirtschaftspolitische abgelöst wurden126, sondern dass die Wirtschaftspolitik die Sozialpolitik gewissermaßen zu »kolo­ nialisieren« begann. Sozialpolitik galt mitunter gerade noch als ein Mittel, um eine allgemeine wirtschaftspolitische Zielsetzung zu verwirklichen.127 Heinrich Herkner überraschte seine Zuhörer in der Eröffnungsrede zur Tagung des Vereins für Sozialpolitik 1922 mit der Feststellung, dass »eine erfolgreiche Preisund Valutapolitik […] unter gegenwärtigen Verhältnissen die weitaus beste Sozialpolitik« sei, die überhaupt getrieben werden könne.128 Und auch wenn Lujo 121 Plumpe, Reichsverband, S. 137. 122 Tooze, Statistics, S. 84. 123 Ebd., S. 283 ff. 124 Vgl. Wilbrandt, Berater. Wilbrandt vertrat eine Vorstellung des Nationalökonomen als »Arzt der Gesellschaft«. Ebd., S. 380. 125 Brintzinger, Nationalökonomie, S. 254 f. 126 Gorges, Sozialforschung, S. 175 ff. 127 Zwiedineck-Südenhorst, Schicksal, S. 136 ff. 128 Blümle u. Goldschmidt, Sozialpolitik, S. 207 ff.

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Brentano daraufhin aus der von ihm mitbegründeten Vereinigung austrat, weil sie dabei sei, sich in einen »Verein gegen Sozialpolitik« zu verwandeln129, stimmte auf dieser Tagung die breite Mehrheit darin überein, dass die gegenwärtige Wirtschaftslage offensichtlich keinen Spielraum gewährte, den unteren Schichten Erleichterungen ihrer Lage zukommen zu lassen. Die wirtschaftspolitische Gestaltung der Verhältnisse musste darum jeder sozialpolitischen Zielsetzung vorgeordnet sein.130 Trotz dieser Neuorientierung war der Verein jedoch mit seinen Themenstellungen stets verspätet. So wurde etwa die Frage der Geldentwertung erst auf der Sitzung 1924 verhandelt, als die entscheidenden wirtschaftspolitischen Weichenstellungen zur Geldwertstabilisierung bereits vollzogen waren.131 Einen Fauxpas leistete sich der Verein für Sozialpolitik dann vor allem, als er 1932, also auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise, auf seiner Jahrestagung in Dresden im Theoretischen Ausschuss die Wertlehre verhandelte. Das war zwar insofern bemerkenswert, weil hier wieder ein rein theoretisches Thema diskutiert wurde, nachdem zwei Jahre zuvor noch Werner Sombarts Drei National­ ökonomien Diskussionsgegenstand gewesen war. Es handelte sich jedoch um eine Fragestellung, die mit angewandter Wirtschaftspolitik und der Krise sichtbar direkt nichts zu tun hatte. Selbst große Teile der Nationalökonomie konnten darüber nur den Kopf schütteln.132 Hinzugefügt werden muss dabei allerdings, dass der Verein für Sozial­politik in den 1920er Jahren nicht mehr den gleichen Stellenwert wie vor dem Krieg und streckenweise den Ruf eines Altherrenclubs besaß. Salin beispielsweise verspottete ihn als »Verein für soziologische Politik«.133 Kurt Singer meinte 1926 anlässlich einer anstehenden Tagung, er wolle sich diesen »galvanisierten Leichnam« einmal in Bewegung anschauen.134 Das Interesse von jüngeren Ökonomen wie Walter Eucken und Alexander Rüstow an dem Verein bestand in erster Linie darin, seine Schwäche zu nutzen, um dort eine stärkere theoretische Ausrichtung durchzusetzen.135 Es spricht einiges dafür, dass die Konferenzen der 1925 gegründeten List-Gesellschaft, die die wichtigen Tagungen über das Reparationsproblem (1928) und die Möglichkeiten einer Kreditausweitung136 (1931) ausrichtete, größere Relevanz für die Kommunikation zwischen Wissenschaft und Praxis besaßen, als die des Vereins für Sozialpolitik.

129 Brentano, Mein Leben, S. 399 f. 130 Blümle u. Goldschmitt, Sozialpolitik, S. 207–213. 131 Hutter, Theorien, S. 133 f. 132 Schreiben Edgar Salin an Erwin von Beckerath (15.2.1931). UB Basel, Handschriftenabteilung. Nl Salin, Fb 180. 133 Ebd. 134 Schreiben Kurt Singer an Edgar Salin (29.6.1929). UB Basel, Handschriftenabteilung. Nl Salin, Fa 8934. 135 Janssen, Nationalökonomie, S. 29 ff. 136 S. Borchardt u. Schötz.

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Ansätze für eine institutionelle Zusammenarbeit von Nationalökonomie und staatlichen Stellen gab es während der 1920er Jahre einige, die jedoch nicht erfolgreich ausgebaut werden konnten. Außer der Sozialisierungskommission wurde 1920 etwa der »Vorläufige Reichswirtschaftsrat« gegründet, dessen Einfluss jedoch eng begrenzt blieb und der mehr eine berufsständische Interessenvertretung darstellte. Vertreter der Nationalökonomie waren bei seiner Neukonstituierung 1926 nicht vorgesehen.137 Mehr Aussichten versprach da schon der im Juni 1926 eingerichtete »Ausschuss zur Untersuchung der Erzeugungsund Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft« (Enquete-Ausschuss), ein Sachverständigenrat, dessen Aufgabe in der Durchführung breit angelegter Studien zur Lage einzelner Industriezweige bestand.138 Im Rahmen dieses Ausschusses spielte insbesondere Bernhard Harms als Präsidiumsmitglied eine bestimmende Rolle, der auch die Durchführung verschiedener Studien betreute. Explizit vermerkt wurde in der Presse der große Stellenwert der Wissenschaft in dem Ausschuss, zu dessen ordentlichen Mitgliedern immerhin vier Professoren gehörten.139 Einen echten Einfluss auf politische Entscheidungen hatte aber auch er nicht. Es scheint eher so gewesen zu sein, dass selbst die »spektakulären« Studien (der Ausschuss publizierte insgesamt über 100 Bände140) im politischen Verfahrensgang versandeten.141 In der Weltwirtschaftskrise waren Fragen der Wirtschaftspolitik schließlich, wie schon direkt nach dem Krieg, in aller Munde. Die staatlichen Stellen wurden mit Vorschlägen zu Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen geradezu ­bombardiert. In ihrer großen Mehrzahl stammten diese Vorschläge jedoch nicht aus den Reihen der Nationalökonomie, sondern von Privatpersonen. Die Petitionen aus den Reihen des Faches, die vor allem von Moritz Julius Bonn und Gustav S­ tolper organisiert wurden, verfolgten in erster Linie das Ziel, Maßnahmen zu verhüten (wie 1931 eine Diskontsatzsenkung), die einen inflationären Effekt befürchten ließen.142 Die Antwort auf solche Eingaben war in der Regel jedoch lediglich ein Formschreiben, in dem sich die Regierung für die Einreichung des Vorschlages bedankte.143 Die Petitionen wurden also scheinbar kaum anders behandelt, als die Vorschläge der vielen »Projektemacher«, und auf Empfehlungen aus den Reihen der Nationalökonomie nicht sehr viel Wert gelegt. Einer der wenigen Ökonomen, den Politik und Wirtschaftsverbände als Autorität anerkannten und mit dessen Ansichten sie sich näher beschäftigten, war der schwe-

137 Schreiben Johann Plenge an Bernhard Harms (29.11.1926). UB Bielefeld, Nl Plenge. 138 Zu den Aufgaben des Ausschusses s. Harms, Strukturwandlungen. 139 Heidecker, S. 805 f. 140 Hecht, Bemerkungen, S. 100. 141 So etwa im Fall von Eugen Schmalenbachs Kohlegutachten von 1927, die – trotz gegen­ teiliger Ankündigung – nicht zu politischen Konsequenzen führten. Kruk, Schmalenbach, S. 119. 142 Aufzeichnung M. J. Bonn (10.9.1931). BA Koblenz. Nl Bonn, 82/52. 143 Schreiben der Reichskanzlei an M. J. Bonn (o. D.): BA Koblenz. Nl Bonn, 82/29.

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dische Nationalökonom Gustav Cassel.144 Bonn durfte immerhin 1929 beratend an den Verhandlungen zum Young-Plan partizipieren145 und Adolf Weber 1931 während der Bankenkrise an Kabinettsitzungen teilnehmen.146 Wilhelm Röpke und Eduard Heimann waren Mitglieder der sog. »Brauns-Kommission«, benannt nach dem langjährigen Arbeitsminister Heinrich Brauns, die sich 1930/31 mit der Frage aktiver konjunkturpolitischer Maßnahmen beschäftigte.147 Von einem der englischen Nationalökonomie vergleichbaren Einfluss auf die Wirtschafts- und Finanzpolitik konnte die deutsche Volkswirtschaftslehre aber nur träumen.148 Hermann Schumacher verglich 1924 das Verhältnis von Staat, Wirtschaftspraxis und Nationalökonomie in den USA, England und Deutschland miteinander und kam zu einem deprimierenden Ergebnis: Während man in den angelsächsischen Ländern ein vertrauensvolles, kooperatives Miteinander pflegte und die Nationalökonomen einen bedeutenden Einfluss auf wirtschaftspolitische Entscheidungen besäßen, sei das Gesprächsklima in Deutschland von Misstrauen und ideologischer Voreingenommenheit geprägt. Zu einem produktiven Austausch konnte es unter solchen Bedingungen nicht kommen.149 Insgesamt stellte der durch die wirtschaftlichen Verhältnisse während der Weimarer Republik existierende Problemdruck hohe Anforderungen an die deutsche Nationalökonomie. Eine Haltung, wie sie Schmoller 1905 im Verein für Sozialpolitik an den Tag gelegt hatte, wo er zum Kartellproblem meinte, man müsse einfach abwarten, wie es sich weiter entwickle, war angesichts der extremen ökonomischen Problemlagen nicht länger möglich. Die Wissenschaft wurde von allen Seiten dazu gedrängt, sich in ihren Forschungsanstrengungen verstärkt nach den Bedürfnissen der Wirtschaftspraxis und Wirtschaftspolitik zu richten und große Teile der Nationalökonomie erklärten es zu ihrer Aufgabe, diesen Ansprüchen gerecht zu werden. Nach Werner Friedrich Brucks Meinung war das Fach dazu da, Organisationen zu schaffen, die die sozialethischen und ökonomischen Bedürfnisse der Menschen zweckmäßig befriedigen würden.150 Die praktischen Bedürfnisse des Wirtschaftslebens mussten der Wissenschaft ihre Forschungsprobleme vorgeben. Moritz Julius Bonn meinte in einer An­ 144 Kim, S. 60. Wie Adolf Weber war Cassel indes ein Ökonom, der im Verdacht stand, in erster Linie wissenschaftliche Interessenpolitik zu betreiben. Hirsch, Wirtschaftskrise, S. 57. 145 Schreiben Moritz Julius Bonn an Rudolf Hilferding (20.2.1929). BA Koblenz. Nl Bonn, 82/51. 146 Meister, Depression, S. 131. 147 Peukert, Röpke, S. 596 ff. Janssen, Nationalökonomie, S. 381 ff. 148 Vgl. Clarke, Revolution. Schreiben Alexander Rüstow an Adolf Löwe (25.10.1932). BA Koblenz. Nl Rüstow 169/6. »Wir sind es ja seit 50 Jahren in Deutschland gewöhnt, dass die politischen und wirtschaftlichen Machthaber sich um die Manifeste der Professoren nicht kümmern.« 149 Schreiben Hermann Schumacher an Klingenberg (4.3.1924) LB Oldenburg. Nl Schumacher, HS 362. Ähnlich: Schreiben Alexander Rüstow an Walter Eucken (21.2.1928). BA Koblenz. Nl Rüstow, 169/2. Myrdal, Element, S. X. Blomert, Keynes, S. 88. 150 Zit. in Sombart, Nationalökonomien, S. 281 f.

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sprache 1932, die Nationalökonomie benötige den lebendigen Zusammenhang mit dem praktischen Leben: »Wir sind, wenn ich es einmal in nationalökonomischer Sprache ausdrücken darf, Produzenten für die kaufmännische Welt, und wir können unsere Tätigkeit nicht erfolgreich ausüben, wenn wir nicht in inniger, vertrauensvoller Mitarbeit mit unseren Konsumenten, der deutschen Wirtschaft, stehen.«151 Den Wandel im Selbstverständnis, den die Nationalökonomie dabei erfuhr, fasste Schumpeter 1925 gut zusammen, als er schrieb, die theoretische Nationalökonomie sei inzwischen nichts anderes mehr als die »Arbeit am systematischen Ausbau der Gedankengänge, die die Wechselwirkung der Faktoren des Wirtschaftslebens, die funktionellen Beziehungen zwischen den quantitativ erfassbaren Elementen desselben wiedergeben, […] kurz, sie ist aus der Wirtschaftswissenschaft kατ᾽ έξοχήν, die sie früher sein wollte, zu einer Maschine zur Beantwortung einer bestimmten Klasse von wirtschaftlichen Fragen geworden.«152 Ähnlich schrieb Ernst Schuster 1928, der Wirtschaftstheoretiker habe sich mit der Rolle des Wirtschaftstechnikers zu bescheiden, wolle er eine praktische Wirkung erzielen.153 Hermann Levy sprach im selben Jahr mit einem kritischen Unterton von der technischen Nationalökonomie der Gegenwart.154 Das traditionelle Selbstbild der Nationalökonomie, die Wissenschaft um der Wissenschaft willen betreiben und sich weder auf Praxisbezug noch die Bedürfnisse der Praktikerausbildung festlegen lassen wollte, geriet so zunehmend in die Defensive. Hans Neisser resümierte 1931: »Nationalökonomie ist heute nicht aktenmäßige Darstellung wirtschaftlicher Institutionen noch soziologische Enthüllung der Wirtschaftskräfte, sie ist nicht methodologisches Spintisieren – verbreitet genug in Deutschland! – noch philosophische Betrachtung über Universalismus und Individualismus: sie ist Handwerk!«155 In den angeführten Zitaten kommt die Ambivalenz der Lage der deutschen Nationalökonomie während der Weimarer Republik zum Ausdruck. Es wurde von ihr erwartet, nützliches Wissen zur Lösung praktischer Tagesfragen und von Problemen der Wirtschaftspolitik bereitzustellen. Das bedeutete für das Fach eigentlich einen Zugewinn an gesellschaftlicher Bedeutung, die sich auch in den drastisch gestiegenen Studentenzahlen nach dem Krieg manifestierte. Dieser Bedeutungsgewinn traf die Disziplin jedoch in einer Phase der Selbstfindung, in der viele ihrer Vertreter sich für unfähig erklärten, sofort praktisches und nützliches Wissen bereit zu stellen, solange die notwendige Neubegründung der Nationalökonomie noch nicht geleistet war. Kurt Singer schrieb 1923, um »das neue Geistige« in der Welt seit dem Krieg zu erfassen, brauche es Zeit, 151 Immatrikulationsrede am 31.10.1932. BA Koblenz. Nl Bonn, 82/59. 152 Schumpeter, Edgeworth. Robert Wilbrandt bezeichnete die Nationalökonomie als »Technik der Mangelverhütung«. Wilbrandt, Wirtschaftstheorie, S. 518. 153 Schuster, Wirtschaftstheorie, S. 31 f. 154 Levy, Nationalökonomie, S. 15. 155 Neisser, Gegensatz, 239.

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die die Nationalökonomie aber nicht hätte: »Scheint von diesem Grundverhalt aus gesehen die Wirtschaftslehre zum Warten genötigt, so zwingen ihr die laut fordernden Aktualitäten der laut fordernden Umwelt ein Übermaß an Tagesarbeit in Unterricht, Publizität, Beratung und Stoffbewältigung ab, das viele gute Kräfte verzettelt und verdirbt.«156 Ständig wurde das Fach mit dem Vorwurf der Praxisferne von Seiten der Wirtschaftspraktiker konfrontiert, die, wie Gustav Stolper einmal meinte, den Politikern jede Idiotie durchgehen ließen, den Nationalökonomen aber nicht den geringsten Fehler verziehen.157 De facto ließen die wirtschaftlichen Verhältnisse also einen ruhigen Selbstfindungsprozess der Disziplin nicht zu, sondern schufen einen ständigen Problemdruck, durch den die Neubegründung der Nationalökonomie zu einer Angelegenheit von höchster Dringlichkeit wurde. Dass dabei die Nationalökonomie in der Weltwirtschaftskrise noch einen zusätzlichen Legitimationsverlust erlitt, wie Knut Borchardt herausgestellt hat158, ist sicher richtig. In zahlreichen Artikeln aus dieser Zeit wurde immer wieder die Meinung des »Volksmunds« zitiert, die Nationalökonomie sei an der Erklärung der großen Krise gescheitert.159 Röpke schrieb 1932, angesichts des scheinbaren Chaos in der Konjunkturtheorie müsse über die deutsche Nationalökonomie der äußerst ungünstige Eindruck entstehen, »dass gerade in einer Frage, die heute für Wirtschaft, Politik und Kultur zu einer Lebensfrage geworden ist, die Wissenschaft als Führerin und Klärerin versagt.«160 Worauf er anspielte, waren Meinungen wie die, von der Erna Simeon ihrer Freundin Toni Stolper, der Ehefrau Gustav Stolpers, später im amerikanischen Exil berichtete: »Als Anmerkung möchte ich sagen, dass mein Bruder allen Respekt vor der Nationalökonomie verloren hat, als Dr. Stolper und Karl Landauer [Berliner Nationalökonom, R. K.] dereinst bei einem Vortrage zugegeben hätten, dass man gegen die damalige Riesenarbeitslosigkeit nichts unternehmen könnte.«161 Dieser Ansehensverlust hatte indes schon früher begonnen, und die Nationalökonomie trug selbst dazu bei, indem sie während der 1920er Jahre die Unsicherheit über ihre Erkenntnismöglichkeiten, ihre Jugend, ihre Krise nach außen kommunizierte. Insofern leisteten die Ratlosigkeit und die divergierenden Erklärungen der Ursachen und Therapiemöglichkeiten der Weltwirtschaftkrise zu der fortgesetzten Marginalisierung des Faches während des Nationalsozialismus ihren Beitrag.162 Ausschließlich durch sie bedingt war sie allerdings nicht.163

156 Singer, Wirtschaftslehre als Problem, S. 117 f. 157 Stolper, Wissenschaft und Praxis. 158 Borchardt, Anerkennung, S. 202. 159 James, Weltwirtschaftskrise, S. 312 f. Klausinger, Machlup, S. 72 f., 90 f., u.ö. 160 Röpke, Krise und Konjunktur, S. 74. 161 Schreiben Erna Simeon an Toni Stolper vom 27.10.1939. Leo Baeck-Institute New York, Toni Stolper papers AR 7212. 162 Borchardt, Anerkennung, S. 202. 163 Giersch, S. 30.

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3. Versuche zur Neubegründung der Nationalökonomie nach dem Ersten Weltkrieg

Mit dem Ende der Jüngeren Historischen Schule stellte sich für das Fach die drängende Frage, was an ihre Stelle treten sollte. Bis dahin hatten sich neue Ansätze in der Nationalökonomie stets mit einem mächtigen Gegner auseinander zu setzen gehabt, der sie bestenfalls durch Tolerierung oder Nichtbeachtung zu domestizieren versuchte. Das war nun anders geworden: Der Paradigmenverlust der Nationalökonomie schuf Platz für neue Entwürfe und Wissenschaftler, die bislang ein Außenseiterdasein gefristet hatten, konnten sich verstärkt Gehör verschaffen.1 Viele der Theorieangebote, die seit 1918 um die führende Stellung in der Nationalökonomie konkurrierten, stammten bereits aus der Zeit nach der Jahrhundertwende, jedoch bot erst die Lage seit dem Ersten Weltkrieg die Chance dafür, dass sie besondere Aufmerksamkeit bekamen. Hinzu kam, dass sich durch Weltkrieg, Revolution, politische Instabilität und Inflation der Untersuchungsgegenstand der Nationalökonomie in dramatischer Art und Weise als kontingent erwiesen hatte. Auf einschneidende Art und Weise war demonstriert worden, dass eine sich über Jahrzehnte als Vollenderin der deutschen Geschichte inszenierende Ordnung innerhalb kürzester Zeit umgestürzt und beseitigt werden konnte, ohne dass die Weimarer Republik jemals ein dem Kaiser­reich vergleichbares Maß an Institutionenstabilität erreichte.2 Aber obwohl es gerade diese Institutionenstabilität gewesen war, die viele Beobachter im Kaiserreich als bedrückend empfanden, wurde die Kontingenz und Offenheit nach 1918 keineswegs ausschließlich als Befreiung empfunden. Vielmehr ging sie einher mit einer weit verbreiteten Orientierungslosigkeit und Unzufriedenheit mit den Verhältnissen in der Weimarer Republik.3 Sogar die Wissen­schaftler, die sich als Demokraten oder »Vernunftrepublikaner« verstanden, sahen die bestehende Ordnung doch zumindest in Teilen als problematisch an und hofften auf Verbesserungen in der Zukunft. Das führte dazu, dass die Neubegründung der Nationalökonomie vor die zusätzliche Schwierigkeit gestellt war, mit einem Gegenstand konfrontiert zu sein, der als veränderbar, veränderungsbedürftig, ja, sich bereits verändernd angesehen wurde. Es war die Fülle neuer Fragestellungen, welche die Nationalökonomie zugleich aufwerteten und überforderten, und somit ihrer Neubegründung eine besondere Dringlichkeit verliehen. Zwar ließ sich der Paradigmenverlust der Disziplin der 1 Allgemein: Gay. 2 Zum utopischen Denken s. Graf, Mentalisierung. 3 Ringer, S. 200. Jansen, Professoren, S. 298 ff.

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Jüngeren Historischen Schule in die Schuhe schieben. Damit war aber die zentrale Frage, wie diese missliche Situation überwunden werden konnte, noch nicht beantwortet. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass sich diese Bemühungen vor allem in der Suche nach einem »neuen System« äußerten. Dabei wird zunächst der Frage nachgegangen, wie das Fach diese Suche intern kommunizierte und welche Ansprüche und Hoffnungen an dieses neue System gestellt wurden. Anschließend werden die beiden zeitnah erschienenen Hauptwerke Gustav Cassels und Robert Liefmanns, exemplarisch vorgestellt und gezeigt, warum diese Versuche nicht oder nur bedingt erfolgreich sein konnten.

3.1 Die Suche nach dem neuen System: Hoffnungen und Ansprüche 3.1.1 Die fehlende Synthese Vor dem Ersten Weltkrieg schien das Zeitalter der Theorie wieder aufzuleben, getragen von einer jüngeren Generation von Nationalökonomen, die, wie Gerhart von Schulze-Gaevernitz es 1916 ausdrückte, insgesamt »mehr ›theore­ tisch‹«4 gestimmt war. Während des Ersten Weltkrieges verstärkte sich diese Tendenz, und es machte sich das Gefühl breit, es bedürfe eines »neuen Systems«, einer Zusammenfassung der bisherigen Erkenntnisse und Ansätze zu einer Theorie, die einen entscheidenden Erkenntnisfortschritt der Disziplin begründen würde. Der Tübinger Ökonom Robert Wilbrandt sah die Notwendigkeit einer neuen Synthese nicht zuletzt durch die Verwerfungen begründet, die der Werturteilsstreit mit sich gebracht hatte. Bei aller Hochschätzung Max Webers kritisierte Wilbrandt, er habe durch seine Forderung nach Werturteilsfreiheit der Disziplin die Möglichkeit genommen, zu bestimmten Fragen der Gegenwart klar und eindeutig Stellung zu beziehen – vor allem gegen die von ihm bekämpften »pseudowertfreien« Ökonomen Pohle, Voigt und andere.5 Ein neues System war, wie er 1916 schrieb, aus dem Grund notwendig, weil die Nationalökonomie erst dann als Wissenschaft wieder in der Lage versetzt werde, begründete Urteile in praktischen Fragen zu fällen: »Will man Leben erhalten, so muss man Leben untersucht und verstanden haben; will man im Großen für Völker, Klassen, Menschheit sagen, wie Mangel zu beheben und zu verhüten sei, so muss die Mangelverhütung an sich studiert worden sein, wie sie im Kleinen jede Wirtschaft und im Großen unser heutiges Wirtschaftsleben zeigt, wie sie aber in vollkommener Reinheit nur abstrakt entwickelt werden kann aus ihren Prinzipien. Das ist die Aufgabe! Das ist’s was fehlt! Wird diese Aufgabe gelöst, 4 Schulze-Gaevernitz, »Wirtschaftswissenschaft«?, S. 407. 5 Wilbrandt, Reform.

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wird so der rein ökonomische Gedanke in seinem ganzen Reichtum und seiner ganzen Fülle zur Entfaltung gebracht, dann ergibt sich die Möglichkeit, nationalökonomisch zu urteilen, so wie der Mediziner rein medizinisch urteilt, […] ohne alle Beimengung des Subjektiven, das uns heute stört.«6 Edgar Jaffé schrieb ein Jahr später an prominenter Stelle davon, nachdem nun das Pendel von der historisch-induktiven zur theoretischen Analyse zurückschwinge, die Nationalökonomie mit der Situation konfrontiert sei, dass es zwar viele wertvolle Einzelerkenntnisse gebe, jedoch kein einheitliches, durchsichtiges System. Das konstatierte er insbesondere anhand des Misserfolgs der Grenznutzenlehre, die »zwar auf einem heute ziemlich allgemein als richtig anerkannten Grundgedanken sich aufbauend […] trotz jahrzehntelanger Arbeit keine allseitig befriedigende Theorie der verkehrswirtschaftlichen Vorgänge« entwickeln konnte.7 Schumacher schrieb anlässlich der Übernahme von »Schmollers Jahrbuch« 1918, dass die Zeit, die sich vor allem durch einen »Hunger nach Tatsachen« ausgezeichnet habe, vorüber sei. »Ein Hunger nach innerer Zusammenfassung durchzieht heute das deutsche Volk, vielleicht die ganze Menschheit. […] Die geistige Durchdringung des Stoffes, seine Klarlegung in seinen Ursachen, seine Zusammenfassung unter großen Gesichtspunkten, ist heute die Aufgabe.«8 Der in Deutschland lebende Schwede Sven Helander wiederum meinte 1923: »Die Philosophen schaffen wieder neue Systeme […]. Aber auch der direkten Wirtschaftsbeschreibung bzw. -geschichte ist es nunmehr klar geworden, dass das Photographieideal fallen muss und dass die Theorie hierfür die Handhabe geben muss, sowohl bei der Auswahl dessen, was wesentlich ist, wie für die Feststellung der tatsächlichen Zusammenhänge.«9 Bei diesen Aussagen schwang mehr oder weniger ausgesprochen mit, dass das große Defizit der Jüngeren Historischen Schule darin lag, zu einer solchen Systembildung nicht gelangt zu sein: »Dass Schmoller es zu einem System nicht gebracht hat, braucht nicht erst bewiesen zu werden, da solches von niemandem behauptet worden ist«10, schrieb Helander. Und Mises, intellektueller Wort­ führer der Österreichischen Schule während der Weimarer Republik, bemerkte pointiert, die Bedeutung des Historismus läge bestimmt nicht in seinen missglückten Versuchen, eine geschlossene Lehre vorzutragen. Er sei seinem Wesen nach nicht System, sondern die Ablehnung der Möglichkeit, ein System zu bilden.11 In der Tat war das Projekt einer Gesamtschau in Form einer empirisch gesättigten Darstellung der Institutionenentwicklung an der historischen Erfahrung seit 1914 wie auch an der mit der Schaffung der kriegswirtschaftlichen Organisationen rasant wachsende Material- und Datenmenge geschei 6 Wilbrandt, Nationalökonom als Arzt, S. 468. 7 Jaffé, System, S. 2. 8 Schumacher, Übernahme, S. 10. 9 Helander, Ausgangspunkt, S. 54 f. 10 Ebd., S. 7. 11 Mises, Grundprobleme, S. 7. Im selben Tenor: Wygodzinski, Einführung, S. 16 f.

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tert.12 Damit verlor aber auch der Gedanke eines umfassenden interdisziplinären Arbeitszusammenhangs, den die Jüngere Historische Schule so stark betont hatte, seine Anziehungskraft. Eugen Altschul bemerkte 1918, die Kriegswirtschaft habe unendlich viel neues Tatsachenmaterial geschaffen, das sich empirisch nicht mehr bewältigen ließe. Es bedürfe dazu vielmehr einer theoretisch eindeutigen Problemstellung. Der Krieg habe lediglich vorhandene Entwicklungen beschleunigt. Von einem Umlernen könne deswegen keine Rede sein, »wohl aber hat sich die grundlegende Bedeutung theoretischer Gedankenarbeit gegenüber der immer mehr im Empirischen steckenbleibenden Forschung in ihrer ganzen Tragweite gezeigt.«13 Wer aber sollte nach dem Ende der Historischen Schule dieses »neue Sys­ tem«14, die Neufundierung der Nationalökonomie leisten? Salin schrieb 1921 über die deutsche theoretische Volkswirtschaftslehre, sie sei einem Bauplatz vergleichbar, auf dem eine wohleingerichtete Stube neben der anderen stehe, auf dem aber der Architekt noch fehle, der in der Lage sei, aus und über dem Ganzen einen geschlossenen Bau zu errichten.15 Die Neufundierung der Nationalökonomie sollte also nicht mehr das Resultat eines umfassenden Arbeitsprogramms sein, wie es die Jüngere Historische Schule propagiert hatte. Wenn als Anforderung an das neue System die »Durchleuchtung der gesamten Wirtschaft von einem Zentrum aus«16 bestimmt wurde, worin Salin den Vorteil des Marxismus gegenüber der Jüngeren Historischen Schule vor dem Weltkrieg erblickte17, lag es nahe, eine solche Leistung gerade nicht von einem Verbund arbeitsteilig forschender Wissenschaftler zu erwarten, sondern die Hoffnung auf die große wissenschaftliche Leistung eines Denkers zu setzen.18 Diese Ansicht sprach auch aus einem Schreiben Voigts an seinen Doktoranden Hero ­Moeller aus dem Jahr 1918, in dem dieser prinzipiell die Bedeutung der Behandlung von Methodenfragen zur Fundierung der nationalökonomischen Wissenschaft in Frage stellte: »Ich warte […] auf den großen Nationalökonomen, der selbst die Methoden verkörpert und dadurch, dass sich die Fruchtbarkeit seiner Methoden durch deren Anwendung zeigt, jeden Streit über die Methoden aus der Welt schafft.«19

12 Vgl. Wygodzinski, Einführung, S. 14. 13 Altschul, Vorwort, S. IIIf. Zu Gelesnoff und allgemein dem Einfluss russischer Nationalökonomen in der Weimarer Republik vgl. Janssen, Russische Ökonomen, bes. S. 102 ff. Vgl. auch Lederer, Grundzüge, S. 4. Hagemann, Marschak, S. 227 ff. 14 Jaffé, System, S. 3. 15 Salin, Volkswirtschaftliche Theorie, S. 87. 16 Ebd. 17 Auch dieses Argument wurde in den 1920er Jahren gerne gegen die Historische Schule vorgebracht. Vgl. Liefmann, Grundsätze, Bd. 1, S. 8. Genauso: Pohle, Kapitalismus, S. 91. 18 Schreiben von Karl Diehl an Werner Sombart (31.12.1926). Nl Sombart, GStA 2c Allgemeine Korrespondenz 1926. 19 Schreiben Andreas Voigt an Hero Moeller (21.1.1918). UA Tübingen. Nl Moeller.

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3.1.2 Versuche zur Neubegründung der Nationalökonomie seit der Jahrhundertwende Für die hier skizzierte freie Planstelle mangelte es nicht an Bewerbern, denn seit der Jahrhundertwende hatte es im Schatten der Historischen Schule zahlreiche Versuche zu einer Neufundierung der theoretischen Nationalökonomie ge­ geben, wobei »Theorie« damals allerdings noch umfassender verstanden wurde als heute. Theo Surányi-Unger bemerkte 1927 rückblickend, am Anfang des 20.  Jahrhunderts sei die Lage der deutschsprachigen Nationalökonomie noch vergleichsweise übersichtlich gewesen. In Deutschland habe nach außen hin die Historische Schule geherrscht, doch konnte die ökonomische Theorie bereits Geländegewinne verbuchen, und noch niemand habe auf diesem Gebiet den Führungsanspruch der Österreichischen Schule in Frage gestellt: »Karl Diehls Aufmerksamkeit nahm das Problem des Sozialismus und Kommunismus noch ganz in Anspruch, Liefmann beschäftigte sich noch ausschließlich mit der Kartellfrage, und niemand ahnte damals, dass er später auch mit einer abstrakten Wirtschaftstheorie hervortreten werde. […] Cassel bekehrte sich erst kurz vorher zur Volkswirtschaftslehre, und bei Schäffle sprach ein junger Student, ­Othmar Spann, mit seiner Erstlingsarbeit vor, die in der Tübinger Zeitschrift veröffentlicht werden sollte …«20 Ein gutes Beispiel für die seit dieser Zeit unternommenen Versuche, die Nationalökonomie auf eine neue Grundlage zu stellen, waren die Arbeiten des österreichischen Staatsrates Rudolf Stolzmann. Dieser war vor dem Weltkrieg durch seine Kontroverse mit Eugen von Böhm-Bawerk (einem der bedeutendsten Ökonomen der Österreichischen Schule) bekannt geworden, in der darüber gestritten wurde, ob »Macht oder ökonomisches Gesetz«, d. h. die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten oder Machtverhältnisse die Preis- und Lohngestaltung hauptsächlich bestimmten.21 Stolzmann veröffentlichte 1909 sein Hauptwerk Der Zweck in der Volkswirtschaft22, in dem er die Absicht verfolgte, das naturalistische »Kausalitätsdenken« der ökonomischen Theorie durch ein sozial­ organisches »Zweckdenken« zu ersetzen. Er ging davon aus, dass alle Kräfte innerhalb einer Volkswirtschaft sich gegenseitig bedingten. Der Güterwert und das Problem der Verteilung konnten beispielsweise nicht unabhängig vom Problem der sozialen Regelung bestimmt werden, die wiederum im Zusammenhang mit der allgemeinen Kulturentwicklung einer jeweiligen Gesellschaft zu verstehen war. Nach Stolzmann war die Erkenntnis der Bestimmungsgründe der Verteilung nicht möglich, ohne die Rechts- und Wirtschaftsordnung sowie die in ihr wirksamen Machtfaktoren in die Betrachtung einzubeziehen. Löhne und Preise repräsentierten aus diesem Grund soziale Größen. Dabei verfolgten alle menschlichen Handlungen nach Stolzmann letztlich einen einzigen Zweck, 20 Surányi-Unger, Entwicklung, S. 17. 21 Vgl. ausführlich: Esser. 22 Stolzmann, Zweck.

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nämlich die stetige Erneuerung der Kaufs- und Wiederverkaufskraft. Zweck und Mittel waren für ihn darum die entscheidenden erkenntnistheoretischen Kategorien der Volkswirtschaft, statt wie die Grenznutzenlehre einzelne Preise kausal-mechanisch erklären zu wollen. Bei Stolzmann finden sich bereits viele der Elemente, die später die nationalökonomischen Systementwürfe charakterisieren sollten, etwa das Motiv, eine erkenntnistheoretische Umkehrung der Perspektive (bei Stolzmann die Ab­lösung des Ursache/Wirkungs-Denkens durch das Zweck/Mittel-Denken) würde zu einer logisch geschlossenen Neuformulierung der ökonomischen Theorie führen, die in der Lage sei, die Wirklichkeit weitaus besser zu erklären, als es die abstrahierend-deduktive Theorie vermochte.23 Was Stolzmann dabei charakteristischerweise für sich in Anspruch nahm, war eine besondere Einfachheit seines Ansatzes. Die epistemologische Neufokussierung führte dazu, dass sich die schwerwiegenden Probleme, mit denen die ökonomische Theorie bislang zu kämpfen hatte, als Scheinprobleme erwiesen; vergleichbar mit den komplizierten Berechnungen, die vor Kopernikus notwendig waren, um die Planetenbewegungen mit dem Ptolemäischen System in Einklang zu bringen.24 Als zentrales Moment der Neubegründung der Nationalökonomie erwies sich daher an dieser Stelle ein Perspektivwechsel, den auch Liefmann in seinen Werken zu vollziehen meinte, wenn er das Begriffspaar Kosten/Nutzen von materiellen Güterrelationen vollständig ablösen und als psychische Schätzungsbegriffe behandeln wollte.25 Auch Othmar Spann tat bereits 1914 erste Schritte zur Entwicklung seines romantischen Universalismus.26 1901 veröffentlichte Gottl-Ottlilienfeld seine Herrschaft des Wortes, in der er die methodologischen Grundlagen seiner späteren Gebildetheorie ausarbeitete.27 Allein: Vor dem Ersten Weltkrieg ließen sich diese und andere Wissenschaftler noch als geduldete Außenseiter betrachten. Liefmann war zwar schon damals in seiner Selbstwahrnehmung verstiegen, sein Sendungsbewusstsein hielt sich aber zumindest im Vergleich zu später noch in Grenzen. Ohnehin mussten diese Theorien randständig bleiben, solange ihre Vertreter noch keine einflussreichen Ordinariate besetzten und die Disziplin diese Entwürfe durch Duldung domestizieren konnte.28 Wer die Kraft zur Neufundierung verspürte, war sich bewusst, dass die eigene Bedeutung gewissermaßen noch auf Kredit lief, solange die großen Werke nicht geschrieben und höchstens angekündigt waren, durch die später der solitäre Status le-

23 Wie uneindeutig der Begriff »ökonomische Theorie« damals noch war, wird daran deutlich, dass Emil Lederer dieses Werk in einer Sammelrezension zu Neuerscheinungen der öko­ nomischen Theorie besprach. Lederer, Neuere Literatur, S. 142 ff. 24 Dieses Motiv der Einfachheit findet sich z. B. auch bei Schumpeter, Wesen, S. XVIII. 25 Zuerst in seinem Werk Ertrag und Einkommen. Liefmann, Ertrag. 26 Spann, Gesellschaftslehre. 27 Gottl-Ottlilienfeld, Herrschaft, S. 77–335. 28 Oppenheimer, Erlebtes, S. 204.

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gitimiert werden sollte.29 Ihre Hauptwerke veröffentlichten Gottl-Ottlilienfeld, Spann, Liefmann und andere zumeist erst nach 1914. Letztlich waren diese Wissenschaftler aber nur besonders prägnante Beispiele für einen bereits vor der Weimarer Zeit in der deutschen Nationalöko­ nomie zu beobachtenden Hang, Theorien von Grund auf neu zu entwickeln, ohne dabei auf das bereits Geleistete Rücksicht zu nehmen. Jedenfalls muss ein Anlass dafür existiert haben, dass der schwedische Nationalökonom Knut Wicksell, der genauso wie sein Landsmann Cassel enge Beziehungen nach Deutschland pflegte, bereits 1917 in der Rezension eines Werkes des jungen Ökonomen Goetz Briefs einiges im Grundsatz anmerken zu müssen meinte: »Wie kommt es,« fragte er, »dass in der deutschen Nationalökonomie den Klassikern gegenüber alle möglichen Standpunkte vertreten sind, nur niemals der ganz einfache, dass sie nach Kräften die Wahrheit suchten und damit bei aller Unvollkommenheit den Weg bahnten, auf dem wir in ihren Fußstapfen – mit oder ohne Dankbarkeit – weiter zu dringen versuchen sollten? Allerdings ist es viel bequemer, alles von Anfang an ›neu‹ zu schöpfen: anstatt des mühsamen logischen Denkens kann man dann seiner Phantasie frei Zügel schießen lassen; ob das Resultat dabei noch so verkehrt wird, tut nichts zur Sache, denn vom nächsten ›Grundleger‹ wird ja voraussichtlich so wie so die ganze Geschichte wiederum kassiert werden.«30 Dieser Hang zur theoretischen Neuschöpfung mag etwas mit der traditionell hohen Selbsteinschätzung der deutschen Nationalökonomie zu tun gehabt haben, die allerdings insofern begründet war, als sie im 19. Jahrhundert in der Tat eine Speerspitze der ökonomischen Forschung darstellte.31 In eine andere Richtung weist indes das folgende Zitat Schumpeters: »Es mag eine Folge der verhältnismäßigen Jugend der Sozialwissenschaft sein,« schrieb er 1908, »dass sich ihre Vertreter so leicht zu neuen Richtungen bekennen und dabei das von Früheren Geleistete recht wenig beachten, dass man geneigt ist, über den Differenzen das Gemeinsame zu vergessen, dass man Reformen statt so schonend als möglich, so grundstürzend als möglich durchführt, dass man einen Neubau von Grund auf verständnisvollem Ausbauen des Bestehenden vorzieht.«32 Im Gegensatz zu Schmollers Rektoratsrede von 1897, in der die Nationalökonomie als reife Wissenschaft gefeiert wurde,33 betonte Schumpeter ihre Jugend, womit er einen Topos vorwegnahm, der in den 1920er Jahren in den Selbstbeschreibungen des Faches beständig wiederholt werden sollte: Was die Klassiker 29 Schreiben Gottl-Ottlilienfeld an Arthur Spiethoff (30.11.1923). UB Basel, Handschriften­ abteilung. Nl Spiethoff, A 225,2. 30 Wicksell, Replik, S. 82. 31 Vgl. die Einschätzung Alfred Marshalls, der um die Jahrhundertwende der deutschen Nationalökonomie die führende Rolle auf dem Kontinent zusprach. Zit. in: Kreis, S. 153 f. 32 Schumpeter, Wesen, S. VIIf. Vor dem Ersten Weltkrieg diese Diagnose z. B. auch schon in: Wilbrandt, Welt, S. 82. Schumpeter, Sozialprodukt, S. 628. 33 Schmoller, Wechselnde Theorien, S. 203, 205.

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und Neoklassiker geleistet hatten, wurde offensichtlich nicht als anschlussfähig betrachtet; viel eher schien schon damals auf dem Gebiet der ökonomischen Theorie ein Neuentwurf nötig, weil die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse sich seit ihrer Zeit verändert hatten. Die geringe Wertschätzung der Klassiker hatte seine Ursache darin, zumindest war das die gängige Begründung theoretischer Versuche vor dem Weltkrieg, dass diese ihre Werke unter anderen gesellschaftlichen und ökonomischen Voraussetzungen geschrieben hatten, die für die Gegenwart nicht mehr passten.34 Das war bereits der zentrale Kritikpunkt gewesen, den die Jüngere Historische Schule gegen die Klassik vorgebracht hatte. Wenn jetzt aber deren Programm ebenfalls mit dem Hinweis auf gesellschaftliche Veränderungsprozesse kritisiert wurde, lag es nahe, eine Theorie zu schaffen, die diesen veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen adäquat war. Der programmatische Vorwurf gegen die Klassiker lautete, sie hätten ihren Überlegungen eine Volkswirtschaft im Werden zugrunde gelegt, während gegenwärtig das Stadium eines reifen Kapitalismus eintrat. Das hatte sich in der Debatte »Agrarstaat oder Industriestaat« um die Jahrhundertwende bereits angedeutet, manifestierte sich dann aber besonders in Tendenzen, die von der historischen Forschung der 1970er Jahre mit einem von Hilferding 1927 auf dem Kieler Parteitag der SPD geprägten Wort als »Organisierter Kapitalismus«35 bezeichnet wurden.36 Die Zeitgenossen meinten auf breiter Ebene zu beobachten, dass der freie Wett­ bewerb immer mehr ausgeschaltet wurde und an seine Stelle Organisationen traten, wie etwa Kartelle, Syndikate, Trusts und andere Formen des Zusammenschlusses. Während die Vertreter der Historischen Schule betonten, dadurch würde ein korporativer und kooperativer Geist in das Wirtschaftsleben einziehen, sahen andere die Bedeutung von Machtfragen im Wirtschaftsleben stark gestiegen.37 In der Diagnose eines anbrechenden Reifestadiums war sich die deutsche Nationalökonomie im Übrigen weitgehend einig, auch wenn dieser Prozess sehr unterschiedlich bewertet wurde. Keineswegs zufällig entzündete sich der scharfe Konflikt zwischen Schmoller und seinen Widersachern auf der Mannheimer Tagung des Vereins für Sozialpolitik 1905 an der Kartell­ frage.38 Der Schmoller-Intimus Boese schrieb in seiner Geschichte des Vereins, die zunehmende Ausbreitung der Kartelle und Trusts habe in der deutschen Nationalökonomie eine »fin-de-siecle-Stimmung« verbreitet.39 Während Schmoller die Kartellbildung im Gegensatz zu den Monopolpraktiken der amerikanischen Trusts positiv bewertete, machte sich bei anderen ein Unbehagen an dieser Entwicklung breit, die vor allem mit einer zunehmenden Bürokratisie34 Schüller, Nationalökonomie. 35 Hilferding, Organisierter Kapitalismus, S. 6. 36 Vgl. Winkler, Organisierter Kapitalismus. 37 Krüger, Nationalökonomen, S. 74 ff. 38 Radkau, Weber, S. 506 ff. 39 Boese, Geschichte, S. 109 f.

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rung assoziiert wurde. Es wurde eine Verstetigung und Erstarrung von Strukturen befürchtet, an denen besonders viele Menschen aus dem Bürgertum zunehmend litten.40 Aufgrund solcher Entwicklungen jedenfalls musste die »Gesellschaftstheorie« der Jüngeren Historischen Schule, welche die institutionelle Entwicklung des Kaiserreichs durch zunehmende Harmonisierung und Versittlichung zu charakterisieren versuchte, zumindest bei Teilen der Disziplin an Plausibilität verlieren. Die Österreicher hatten aber gerade bezüglich der Frage des Einflusses gesellschaftlicher Machtverhältnisse und Organisationen auf das Wirtschaftsleben allem Anschein nach ebenfalls keine überzeugenden Lösungen anzubieten. Oder anders formuliert: Die Antwort Böhm-Bawerks auf die Frage »Macht oder ökonomisches Gesetz?«, dass sich Machtverhältnisse immer nur innerhalb des durch die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten definierten Rahmens auswirken konnten41, erschien unbefriedigend in einer Zeit, in der der Einfluss solcher Faktoren, ob positiv oder negativ bewertet, einfach offensichtlich erschien. Das gibt auch einen Hinweis darauf, warum sich trotz der stärkeren Theorieorientierung nach dem Krieg wenig an der negativen Beurteilung der Öster­reichischen Schule durch die deutsche Nationalökonomie änderte. Es kann dabei die alte Gegnerschaft durchaus eine Rolle gespielt haben42, vielleicht tatsächlich auch, dass die Werke der Österreicher oft sehr kompliziert waren.43 Wichtiger war jedoch, dass die Österreicher im Gegensatz zur Klassik in ihrer Theoriebildung die Abstraktion von sozialen und politischen Rahmenbedingungen ganz offensiv betonten. Ein guter Staat war aus ihrer Sicht ein solcher, der sich nach Möglichkeit unsichtbar machte und die freie Entfaltung der ökonomischen Gesetzmäßigkeiten nicht behinderte. Hierfür waren dann aber die gesellschaftlichen Umwälzungen (gerade seit 1914) und die mit ihnen einhergehenden sozioökonomischen Konflikte zu mächtig, als dass sich aus einer solchen Perspektive nach Meinung der Zeitgenossen eine Theorie hätte formulieren lassen, welche die neue Welt der Kriegsgesellschaft und der Weimarer Republik adäquat beschreiben konnte, in der nicht zuletzt die Rekonstruktion des Staates das Gebot der Stunde schien. Dementsprechend schrieb Schulze-Gaevernitz 1916, innerhalb der deutschen Reichsgrenzen habe der Ausbau des deutschen Hochkapitalismus die wirtschaftswissenschaftlichen wie wirtschaftspraktischen Interessen eines ganzen Menschenalters in Anspruch genommen, während sich »in Österreich die Fortbildung der Theorie mit großem Scharfsinn – aber studierstubenmäßig, unter Ablösung von der Muttererde« vollzogen habe.44 Bei dem Zürcher Ökonomen Hans Honegger findet sich Mitte der 1920er Jahre zur neoklassischen Theorie 40 Vgl. Radkau, Zeitalter. 41 Böhm-Bawerk, Macht. 42 Kurz, Nationalökonomie, S. 23 f. 43 Diese Meinung vertrat Predöhl, Cassel, S. 9 f. 44 Schulze-Gaevernitz, »Wirtschaftswissenschaft?«, S. 421.

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folgerichtig die Meinung: »Es in der Tat zutiefst gesehen nur eine Schein­t heorie, die uns hier geboten wird: ein bloßes Spiel mit Worten und Begriffen. […] Wenn der Weltkrieg in wissenschaftlicher Hinsicht ein Gutes erwirkt hat, so ist es der Umstand, dass er uns hoffentlich für immer von solch wissenschaftlich-gedanklichen Schäferspielchen befreit hat, um uns die Bahn für wirklich lebensernste und lebenswürdige Forschungen freizugeben.«45 Damit wurde ein Legitimationsdefizit der Österreichischen Schule angesprochen, das diese im Übrigen auch in ihrer Heimat zunehmend in die Defensive drängte.46 3.1.3 Erklärungsansprüche Verschloss sich bereits die soziale und ökonomische Entwicklung seit 1900 zunehmend allzu harmonischen Beschreibungen, schufen die mit Krieg und Revolution einhergehenden Umwälzungen eine ganz neue Lage. Emil Lederer schrieb 1920, die Deutschen seien verurteilt, in einer neuen Epoche zu leben, in einer Zeit der Desorganisation und Armut: »Wie viele quälten sich vor dem Krieg mit der Frage, ob die Rationalisierung des Kapitalismus nicht alle freieren Daseinsformen ertöte. Sie verlangten nicht nach neuer Ordnung, sondern nach Krieg und Abenteuer.«47 Nachdem die alte Ordnung jedoch zusammen­ gebrochen war, boten sich anscheinend ganz neue Möglichkeiten dafür, einen bereits längere Zeit existierenden Diskurs um die Neubeschreibung und Umgestaltung der Wirtschaft von der Theorie in die Praxis zu heben. Bereits im Krieg hatte eine intensive Diskussion darüber stattgefunden, wie die Wirtschaftsordnung nach dem Krieg am besten zu gestalten sei, wobei ganz praktische Planungen betreffend Konversion und Übergangswirtschaft mit darüber hinaus zielenden Ideen zur Neuorganisation der Wirtschaft oft nahtlos ineinander übergingen. Die Kriegswirtschaft wurde von manchen als Experimentierfeld begriffen, auf dem Konzepte zur Umgestaltung der Wirtschaftsorganisation getestet werden konnten. Keineswegs zufällig waren zwei zentrale Protagonisten dieser Debatte, Walther Rathenau und Wichard von Moellendorff, die mit viel diskutierten Gemeinwirtschaftsentwürfen an die Öffentlichkeit traten, an der Installierung der Rohstoffbewirtschaftung im Ersten Weltkrieg in entscheidender Weise beteiligt.48 Carl Ballod lüftete 1920 sein Pseudonym »Atlanticus«, unter dem er bereits 1901 den Zukunftsstaat, eine Neuorganisation von Wirtschaft und Gesellschaft, gefordert hatte.49 Statistisch minutiös rechnete er die großbetrieblichen Rationalisierungspotentiale der Wirtschaft vor und verknüpfte deren Verwirklichung mit lebensreforme45 Honegger, Gedankenströmungen, S. 11. Weber, Anteil, S. 27. 46 Feichtinger, S. 183. Vgl. auch Haberler, Wissenschaft, S. 771 f. Niehans, History, S. 236. 47 Lederer, Wiederaufbau, S. 5. 48 Burchardt, Rathenau. 49 Balabkins, S. 217 ff.

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rischen Ideen eines idyllischen Wohnens in den Vorstädten.50 Rudolf Goldscheid, Otto Neurath, Eugen Varga und viele andere veröffentlichten nach dem Krieg ebenfalls Sozialisierungsentwürfe, in denen die effektive Organisation der Volkswirtschaft als technokratisches Kinderspiel erschien.51 Angesichts der scheinbaren Gestaltbarkeit der zukünftigen Wirtschaftsordnung52 traten aber auch zahlreiche eher obskure Gestalten auf den Plan. Die zahlreichen romantischen und esoterischen Entwürfe dieser Zeit fasste etwa Paul Honigsheim 1925 in einem Beitrag für die Festschrift zu Lujo Brentanos 80. Geburtstag zusammen, der ein Panoptikum intellektueller Skurrilitäten vor dem Leser ausbreitete.53 Rosa Meyer-Leviné, Ehefrau des Protagonisten der Münchner Räterepublik vom April 1919, Eugen Leviné, berichtete, wie sich mit Beginn der revolutionären Wochen eine Vielzahl von Gesellschafts- und Lebensreformern in München versammelte, die hier endlich die Möglichkeit sahen, ihre Entwürfe zu verwirklichen.54 Diese »Projektemacher«55 auf dem Gebiet der Wirtschaft standen jedoch bis auf wenige Ausnahmen außerhalb des akademischen Establishments und konnten sich wenig Gehör in der Nationalökonomie verschaffen. Zwar lag der Gedanke der Wirtschaftsplanung nach 1918 in der Luft, so dass der Bankier und Geldtheoretiker Friedrich Bendixen Ende 1919 bemerken konnte, die Ingenieure seien nach dem Krieg in die Wirtschaft eingedrungen wie »die Wildschweine in den Ziergarten«56, die wissenschaftliche Nationalökonomie jedoch sah ihre Aufgabe eher darin, den Träumern und Schwärmern das Machbare aufzuzeigen und zu verdeutlichen, welche Probleme bei der Durchführung der Sozialisierung zu erwarten waren.57 Im Rahmen der Fachzeitschriften wurden solche Entwürfe indes nur im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik intensiver verhandelt. Das lag jedoch vor allem daran, dass solche Entwürfe eher in monographischer Form veröffentlicht wurden, versprach diese Publikationsform doch eine weitaus größere Breitenwirkung.58 Die Nationalökonomie war nach dem Krieg in der für sie eigentlich erfreulichen Lage, dass das öffentliche Interesse an ihrem Untersuchungsgegenstand massiv zugenommen hatte.59 Liefmann bemerkte 1919, dass die Befürchtung, 50 Ballod, Zukunftsstaat. 51 Goldscheid, Sozialisierung. Liefmann, Geschichte und Kritik, S. 20. 52 Novy bezeichnet die unmittelbare Nachkriegszeit als »Stunde des ungebundenen Denkens und Projektierens«. Novy, S. 19. Rothgießer, Mensch, Ders., Staatsbankerott? Göbel, S. 126. 53 Honigsheim, Wirtschaftsgesinnungen. 54 Meyer-Leviné. Zur lebensreformerischen Bewegung Hepp. Zum Problem der »Sinnsuche« nach dem Krieg Linse. 55 Vgl. Krajewski. 56 Knapp u. Bendixen, S. 208 f. Eine ähnliche Beobachtung auch bei Voigt, Manifest, S. 156 f. 57 Z. B. Amonn, Hauptprobleme, S. 87 ff. 58 Lederer, Wiederaufbau. Explizite Verteidiger der freien Marktwirtschaft waren vor allem Voigt und Pohle. Voigt, Manifest. Pohle, Kapitalismus. 59 Salin, Examen, S. 274.

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aufgrund der ungeheuer schwierigen wirtschaftlichen und sozialen Lage, in die das deutsche Volk nach dem Krieg geraten sei, könne das Interesse an der ökonomischen Theorie und ihrem Fortschritt absinken, sich nicht bestätigt habe: »Im Gegenteil […]. Gerade die ungeheuren wirtschaftlichen Umwälzungen der Gegenwart, bei denen in Deutschland der verlorene Krieg und die staatlichen Umgestaltungen zusammenwirken, zeigen, dass die dabei vorliegenden unendlich schwierigen Aufgaben der theoretisch-wissenschaftlichen Klarstellung der wirtschaftlichen Vorgänge weniger als je entbehren können.«60 Dieses gestiegene Interesse hieß jedoch zugleich, dass das Fach bei seiner Neubegründung unter erheblichen Zeitdruck gestellt war. Der enge Bezug von wissenschaft­ licher und öffentlicher Diskussion um die Gestaltung der Nachkriegsverhältnisse nötigte die Nationalökonomie, auf gestellte Fragen auch Antworten zu geben. Die Vielzahl an wirtschaftlichen Reformprojekten, die außerhalb der Disziplin formuliert wurden, wiesen der ökonomischen Forschung dabei bereits die Richtung, und zwar dahingehend, dass ihr eine gewissermaßen »antiutopische« Aufgabe zufiel. Das neue System musste also in irgendeiner Form auf gesellschaftliche Veränderungsprozesse eine Antwort geben, und sei es nur, indem es einen besonderen Realismus für sich in Anspruch nahm. Wenn beispielsweise der fehlende Lebensbezug als Vorwurf an die Österreicher stetig wiederkehrte, lässt sich daraus als Forderung mindestens ein besonderes Maß an Lebensnähe ableiten. In der Tat war das ein Punkt, der von den System-Architekten – von Cassel und Liefmann bis Gottl-Ottlilienfeld und Spann – stets betont wurde.61 Die Notwendigkeit, die sich für die Nationalökonomie aus ihrem Paradigmenverlust und angesichts einer gesellschaftlich formulierten Anspruchshaltung ergab, war daher die Schaffung eines nationalökonomischen Systems, das eine sichere Erkenntnisgrundlage schaffen und somit Orientierung in einer durch umstürzende Veränderungen geprägten Gegenwart ermöglichen würde. Es sollte eine realistische Beschreibung der ökonomischen und gesellschaft­ lichen Tatsachen ermöglichen. Einig war sich die Disziplin darin, dass dies in Form einer einheitlichen und geschlossenen Theorie erfolgen sollte. Die beiden im Folgenden behandelten Werke Cassels und Liefmanns stellten solche Systeme dar, die eine Neufundierung der Nationalökonomie zu leisten beanspruchten. An ihnen lässt sich zeigen, wie die Neubegründung der Nationalökonomie vor sich gehen sollte und wie diese Entwürfe in der Disziplin kommuniziert wurden.

60 Liefmann, Grundsätze, Bd. 1, S. XVI, 23. 61 Ders., Liefmann, S. 165 f.

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3.2 Cassel, Liefmann und die Neubegründung der ökonomischen Theorie 3.2.1 Gustav Cassel und die deutsche Nationalökonomie Obwohl Knut Wicksell der deutschen Nationalökonomie ihre Selbstbezogenheit vorgeworfen hatte, rezipierte diese nach dem Ersten Weltkrieg intensiv das Werk eines anderen Schweden, nämlich Gustav Cassels Theoretische Sozial­ ökonomie. Die Arbeit war bereits 1914 abgeschlossen worden, konnte aber wegen des Krieges erst 1918 erscheinen. Erleichtert wurde die Rezeption allerdings dadurch, dass sie auf Deutsch abgefasst war und ohnehin eine recht enge Verbindung zwischen der deutschen und der schwedischen Volkswirtschaftslehre vor dem Zweiten Weltkrieg bestand.62 Konzipiert war das Werk überdies als ein mehrteiliges Lehrbuch, zu dem Pohle die restlichen Bände beisteuern sollte, der auch bei der Übersetzung der Theoretischen Sozialökonomie geholfen hatte. Dazu kam es aufgrund Pohles Arbeitsüberlastung und seinem Tod 1926 allerdings nicht mehr. Cassels Werk erlebte in den 1920er Jahren in Deutschland insgesamt fünf Auflagen, was durchaus ungewöhnlich war für eine 600 Seiten starke theore­ tische Arbeit, deren Grundgedanken zwar im Grunde einfach, aber umständlich formuliert waren. Jedenfalls wurde das Werk in dieser Zeit viel diskutiert, und in der deutschen Öffentlichkeit hatte Cassels Name großes Gewicht, was auch damit zusammenhing, dass er sich massiv gegen die im Versailler Vertrag festgeschriebenen Reparationslasten wandte.63 Ebenfalls viel beachtet wurden seine Überlegungen zur Inflationsproblematik. Seine monetäre Erklärung der Weltwirtschaftskrise war eine der wenigen, mit denen sich staatliche und industrielle Stellen überhaupt beschäftigten.64 Andreas Predöhl konstatierte rückblickend, auch wenn Schumpeters Einfluss auf dem Gebiet der Wirtschaftstheorie mehr in die Tiefe gegangen sei, habe Cassel in jedem Fall mehr in die Breite gewirkt.65 Schumpeter sprach 1927 von einer ganzen »Casselliteratur«66 und meinte, die deutsche Nationalökonomie sei dem schwedischen Gelehrten zur Dankbarkeit verpflichtet, dass er den analytischen Apparat der ökonomischen Theorie in so flüssiger Form dargeboten und so »der Jugend den Weg zur Theorie« geebnet habe. Auch wenn das eher ein didaktisches Lob gewesen sein mag67, sprechen solche Aussagen doch 62 Vgl. Sandelin. 63 Wodurch auch Keynes in Deutschland populär geworden war. Vgl. Hauser, Einleitung, S. 28. 64 Vgl. Kim, S. 60. 65 Predöhl, Cassel, S. 10. 66 Schumpeter, Cassel, S. 242. 67 Vgl. Ders., History, S. 1154. Samuelson, Innovations, S. 520.

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für den hohen Stellenwert, den Cassels Werk in den 1920er Jahren in Deutschland besessen hat.68 Gustav Cassel (1868–1945) wurde zunächst in Schweden in Mathematik promoviert und ging anschließend nach Deutschland, um dort Nationalökonomie zu studieren. Er fand die historische Nationalökonomie jedoch wenig beeindruckend und strebte nach einer deduktiven Wirtschaftstheorie.69 Dabei gelangte er rasch zu der Einsicht, dass die Wertlehre zur Lösung der zentralen Probleme einer solchen Theorie nichts beitragen konnte.70 Seine erste ökonomische Veröffentlichung, ein 1899 in der »Zeitschrift für die Gesamte Staatswissenschaft« erschienener Aufsatz, beschäftigte sich dann auch mit der Frage einer »wert­losen« Preislehre.71 1902 wurde er Professor an der Universität Stockholm, wo er seine gesamte weitere akademische Karriere verbrachte. Wenn heute mitunter beklagt wird, dass Knut Wicksell Zeit seines Lebens relativ wenig Anerkennung fand, dann galt für Cassel eher das Gegenteil: Er stand lange Zeit seines Lebens in hohem Ansehen und übte einen beachtlichen Einfluss auf die Politik aus. Jedoch begann sein Stern spätestens in den 1930er Jahren zu sinken, und der Dogmengeschichte scheint er heute fast ein wenig peinlich zu sein.72 Das wiederum hat vor allem mit Cassels selbstbewusstem Anspruch zu tun, die ökonomische Theorie auf eine völlig neue Grundlage gestellt zu haben. Dazu hatte allerdings schon Schumpeter ironisch bemerkt, es stehe traurig um die ökonomische Theorie, »wenn heute noch Originalität in dem Sinne möglich sei, wie Cassel sie für sich in Anspruch« nehme.73 ­Cassel gilt als Vereinfacher der Walrasschen Lehre, ohne Leon Walras seinen Einfluss zuzugestehen, der in der Theoretischen Sozialökonomie, wie auch andere Ökonomen mit Ausnahme Ricardos, gar nicht erwähnt wird.74 Die an ihm geäußerte Kritik wischte er zumeist rüde beiseite, und wenn Eric Englund Cassels Hauptverdienst in seiner Tätigkeit als akademischer Lehrer sieht, so wurde er gerade in dieser Rolle im Laufe seines Lebens zunehmend idiosynkratisch. Als Gerhard Mackenroth 1928 mit einem Rockefeller-Stipendium nach Stockholm reiste, berichtete er anschließend, Cassel habe gar nicht mit ihm über ökonomische Themen diskutieren wollen und auf all seine Fragen gemeint, die Antworten könne er in seinen Büchern finden.75

68 Beckerath, Lynkeus, S.  43. Für Spann war Cassel der Inbegriff der Wirtschaftstheorie in den 1920er Jahren. Schreiben von Eduard Lukas an Ferdinand Tönnies (3.12.1927). LB Kiel. Nl Tönnies, Cb 45.56: 492. 69 Geer, S. 453. 70 Englund, Autobiography, S. 467. 71 Cassel, Grundriss. 72 Magnusson. 73 Schumpeter, Cassel, S. 243. 74 Vgl. Englund, Autobiography, S. 487. 75 Schreiben Gerhard Mackenroth an Fehling (14.10.1928). LB Oldenburg. Nl Schumacher, HS 362,2289:4. Bonn, Geschichte, S. 308.

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Trotzdem sollte Cassels Einfluss auch auf die internationale Volkswirtschaftslehre nicht unterschätzt werden. So schätzte John Maynard Keynes beispiels­weise seine Kaufkraftparitätentheorie, nach welcher der Wechselkurs zweier Währungen durch ihre jeweilige Binnenkaufkraft bestimmt wird.76 Seinen Platz in der ökonomischen Dogmengeschichte hat Cassel jedenfalls durch sein Selbstbewusstsein eher gefährdet, wobei es aber evtl. genau das war, was den Erfolg des Werkes in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg ausmachte, nämlich der Anspruch, eine Neufundierung der ökonomischen Theorie zu leisten. Eine nach Art eines Lehrbuches aufgebaute Gesamtdarstellung war ideal geeignet, in einer nach Orientierung suchenden Disziplin breite Beachtung zu finden. Die Absicht, die Cassel in seiner Theoretischen Sozialökonomie verfolgte, war eine Vereinfachung der Wirtschaftstheorie im großen Stil.77 Ihm ging es um das Wegräumen unnötiger Differenzierungen und falscher Problemstellungen, die bislang die klare Einsicht darin verwehrt hatten, dass sich die Zentral­ probleme der ökonomischen Theorie, die Kapital- und Zinstheorie, das Verteilungsproblem, die Geldtheorie und die Konjunkturtheorie durch einen Ansatz einheitlich erklären ließen. Darin ähnelte Cassels Werk im Übrigen durchaus Schumpeters Das Wesen und der Hauptinhalt der theoretischen Nationalökono­ mie von 1908, das als Projekt ein vergleichbares Ziel verfolgte.78 Nur gründete Schumpeters Werk auf dem Grenznutzenansatz, somit einer subjektiven Wertlehre, und beschränkte sich auf die ökonomische Statik, wohingegen Cassel meinte – und das war sicherlich seine folgenreichste Vereinfachung –, auf eine Wertlehre ganz verzichten zu können. Die epistemologische Differenziertheit, die Schumpeters Frühwerk auszeichnete, ging Cassel ab. In der Theoretischen Sozialökonomie äußerte er sich fast gar nicht zu methodischen Fragen, und die später nachgetragenen Erläuterungen waren eher schlicht, wenn er die Wahrheit der Beschreibung einfach aus der Adäquatheit mit dem zu untersuchenden Gegenstand ableitete.79 Generell beanspruchte Cassel, die ökonomische Realität zu beschreiben und keine theoretisch modellierte Wirtschaft.80 Er postulierte einen Geltungsanspruch seiner Theorie für Tauschwirtschaften allgemein, die er lediglich durch das Privateigentum an der eigenen Arbeit (und was dafür eingetauscht werden konnte) sowie die freie Wahl der Beschäftigung definiert sah.81 Ob die konkrete Wirtschaftsordnung sich dann »kapitalistisch« oder »sozialistisch« nannte, spielte für die Theorie keine Rolle, denn die sozialistische Wirtschaft ließ sich ganz einfach als ein Spezialfall der allgemeinen Tauschwirtschaft behandeln, die lediglich weniger effizient funktionierte.82 76 Cassel, Theoretische Sozialökonomie, S. 471–476. Vgl. Garrison. Allgemein zur Kaufkraftparitätentheorie s. Stör. Schumpeter, Deutschland, S. 17. 77 Cassel, Theoretische Sozialökonomie, S. 42. 78 Schumpeter, Wesen. 79 Cassel, Grundgedanken, S. 11. 80 Ders., Theoretische Sozialökonomie, S. 140. 81 Ebd., S. 37. 82 Ebd., S. 110.

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Das Fundament von Cassels Theorie bildete seine Preislehre, bei der es nicht um die Erklärung des Zustandekommens einzelner Preise ging, sondern um die theoretische Erfassung des Preissystems: Alle Preise entstanden zur gleichen Zeit und jeder Preis hing von allen anderen ab, weil die individuelle Nachfrage nach einem Gut von den Preisen sämtlicher Güter, die für das Individuum oder die jeweilige Einzelwirtschaft relevant waren, abhing.83 Der entscheidende Bestimmungsgrund der Preisbildung in diesem System interdependenter Preise war das sog. »Prinzip der Knappheit«: Nur knappe Mittel kamen für die Bedürfnisbefriedigung in Frage, nur knappe Mittel waren wirtschaftliche Mittel.84 Die Preisbildung hatte somit die Aufgabe, die Ansprüche auf Güter soweit zu beschränken, dass sie mit den zur Verfügung stehenden Mitteln befriedigt werden konnten.85 Das wiederum lief letztlich darauf hinaus, dass sich der Preis­bildungsprozess ganz klassisch aus dem Spiel von Angebot und Nachfrage erklären ließ; nur eben nicht für einen Preis allein, sondern für alle Preise zur gleichen Zeit. Das sich so bildende System ließ sich nach Cassel durch ein System interrelationaler Gleichungen abbilden, in der die jeweiligen Einzelangebote und die Einzelnachfragen zu einem Gesamtangebot und einer Gesamtnachfrage aggregiert wurden, die im Gleichgewicht miteinander überein­ stimmten. Nach Abschluss der Preislehre wandte sich Cassel dem Geld zu. Als Tauschmittel war Geld ein Gut und somit knapp. Das hieß wiederum, dass es auf dem Markt einen Preis erzielte. Die Eigenart des Geldes bestand zunächst darin, dass es zwei Arten von Zahlungsmitteln gab: nämlich Geld und die sog. Bankzahlungsmittel, also Banknoten und Depositen. Diese »Vorschüsse« der Banken an ihre Kunden konnten von ersteren prinzipiell autonom geschaffen werden, waren in ihrer Höhe jedoch durch die Einlösungspflicht der Bankzahlungsmittel in Bargeld begrenzt.86 Mit der daran anschließenden Annahme, dass eine über die Vermehrung von Bankzahlungsmitteln stattfindende Ausweitung der Geldmenge zu einer Verschiebung des allgemeinen Preisniveaus führte, war Cassel geldtheoretisch ein Vertreter der Quantitätstheorie, die das allgemeine Preis­ niveau zu der Geldmenge in Beziehung setzte. Indes verfeinerte er die klassische Annahme, dass die gesamte Geldmenge den gesamten Güterbestand kaufte und somit eine erhöhte Geldmenge automatisch höhere Preise mit sich brachte, dahingehend, dass bei konstanter Umlaufgeschwindigkeit des Geldes die vorhandene Geldmenge eine bestimmte Zahlungsleistung erzwang und sich das Preisniveau dementsprechend anpasste. Dabei wurde nur der zirkulierenden Geldmenge ein Einfluss auf die Preisbildung zugestanden. Ging Cassel in seiner Geldtheorie schon nicht mehr streng deduktiv vor, verstärkte sich das nochmals bei Behandlung der Konjunkturlehre. Nachdem er 83 Ebd., S. 64, 68 ff. Vgl. Schumpeter, Cassel, S. 244 f., 246 f. 84 Cassel, Theoretische Sozialökonomie, S. 3. 85 Ebd., S. 55, 62. 86 Ebd., S. 374. Vgl. Hahn, Fünfzig Jahre, S. 5.

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das Vorkommen regelmäßiger Schwankungen im Wirtschaftsleben (mit 7- bis 10-jähriger Amplitude) empirisch feststellte, schloss er daran eine weitere empirische Beobachtung an, dass nämlich innerhalb der Konjunkturbewegung die Produktion von Verbrauchsgütern relativ konstant blieb, während die Produktion von Produktionsgütern massiven Schwankungen unterlag.87 Den wichtigsten Grund dafür sah Cassel darin, dass im Produktionsgütersektor die Nachfrage bereits sank, wenn die Nachfrage auf dem Verbrauchsgütersektor auch nur stagnierte, weil letztere dann einfach mit den bereits vorhandenen Produktionsgütern befriedigt werden konnte.88 Folglich fand im Zuge der Konjunkturbewegung eine Verschiebung des relativen Gewichts an der Gesamtproduktion zwischen Produktions- und Verbrauchsgütersektor statt, wobei bei einer konstanten Einkommensverwendung in der Depression die Preise für die Verbrauchsgüter aufgrund des relativ höheren Angebots fielen und die der Produktionsgüter aus dem umgekehrten Grund stiegen.89 Die Konjunkturbewegungen insgesamt waren gekennzeichnet durch ein paral­leles Sinken der Preise, Löhne und Zinsen in der Baisse sowie ihrem Anstieg in der Hausse. Nun stellte sich die Frage, wie es zum jeweiligen Wechsel zwischen Auf- und Abschwung kam. Für den Beginn des Aufschwungs war der aufgrund der vorangegangenen Abschwungphase niedrige Zinsfuß entscheidend. Dieser führte zunächst zu einer relativen Verschiebung der gesellschaftlichen Kaufkraft zugunsten der Produktionsgüter, weil der niedrige Zins den Anreiz für eine Produktionsausweitung bot. Der Umschwung von Auf- zu Abschwung wurde dadurch herbeigeführt, dass der Bedarf nach neuen Konsumgütern irgendwann nicht mehr zunahm, was sofort zu einem Einbruch bei der Produktionsgütererzeugung führen musste. In diesem Bereich wurden dann Arbeitskräfte freigesetzt, wodurch die Nachfrage weiter sank. Das Ende des Abschwungs war dann erreicht, wenn das relative Gewicht des Konsumgüter­ sektors gegenüber dem Produktionsgütersektors sich so verändert hatte, dass letzterer nicht mehr weiter schrumpfte, sich auf einem niedrigeren Niveau also ein Gleichgewicht einpendelte.90 Durch die Theoretische Sozialökonomie ging insgesamt eine Linie von strenger Deduktion (Preislehre)  hin zu stärker induktiven Ausführungen. Damit entwickelte das Werk sukzessive eine Totalerklärung der Funktionsweise von Tauschwirtschaften, indem bestimmte stilisierte Annahmen, wie etwa ein gegebenes Angebot an Produktionsmitteln, nach und nach aufgegeben wurden, was gerade den besonderen Realismus des Werks ausmachen sollte. Die Geld­theorie und die Konjunkturtheorie stellten dann die beiden Teile dar, in 87 Cassel, Theoretische Sozialökonomie, S. 493. 88 Ebd., S. 536 f. 89 Nur so konnte Cassel erklären, warum es in der Depression aufgrund freigesetzter Arbeitskräfte im Produktionsgütersektor nicht auch zu einem mengenmäßigen Nachfrageausfall bei den Konsumgütern kam. Ebd., S. 556 f. 90 Ebd., S. 573.

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denen die konkrete Wirtschaftsentwicklung seit ca. 1850 beschrieben werden sollte. Damit wollte Cassel schließlich seinen Anspruch einlösen, der ihn seines Erachtens nach von der Grenznutzenlehre unterschied: nämlich, eine umfassende, rea­listische und allgemeine Beschreibung von Tauschwirtschaften zu liefern. 3.2.2 Robert Liefmanns Grundsätze der Volkswirtschaftslehre »Wenn es Aufgabe dieser ›Selbstdarstellungen‹ ist, die Werke eines Autors in ihrer Verknüpfung mit seiner Persönlichkeit zu betrachten, so können damit zwei Gefahren verbunden sein. Die eine ist die Gefahr der ›Selbstverherrlichung‹. Ich werde mich ihr nicht ganz entziehen können […].«91 Das schrieb Robert Liefmann 1923 zum Auftakt seines Beitrags zu einer Anthologie von Lebensbildern zeitgenössischer Nationalökonomen und pointierte damit den bei ihm so oft zu beobachtenden performativen Widerspruch zwischen Selbstreflexion und Selbstüberschätzung. Liefmann war im höchsten Grade von sich überzeugt. Wie Cassel war er der Meinung, die Nationalökonomie durch seine Werke revolu­ tioniert zu haben, und gerne antizipierte er in seinen Schriften die eigene historische Bedeutung, etwa wenn er 1914 schrieb, es würde bereits in wenigen Jahrzehnten »als unbegreiflich und als Hauptkennzeichen des tiefen Verfalls der ökonomischen Theorie in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts«92 angesehen, 100 Jahre lang die quantitativ-materialistische Auffassung von der Wirtschaft beizubehalten, die er allein überwunden zu haben glaubte. Das eine Mal verglich er sich mit Kant93, ein anderes Mal parallelisierte er sein Hauptwerk, die Grundsätze der Volkswirtschaftslehre (nicht zufällig eine Eindeutschung von Ricardos Principles94), mit der Erfindung des Fahrrads.95 Angesichts dessen, dass er zeitlebens in Deutschland auf kein Ordinariat gelangte, tröstete er sich »mit dem Gedanken, dass zwar viele berufen, aber wenige auserwählt sind, d. h. auserwählt, in der Geschichte der Nationalökonomie einen Platz zu erhalten.«96 Dieses Urteil wurde von seinen Zeitgenossen kaum geteilt. Liefmann galt nicht zuletzt aufgrund seiner verstiegenen Selbstwahrnehmung als Wirrkopf, der im Verlauf der 1920er Jahre in der wissenschaftlichen Diskussion zunehmend marginalisiert wurde. Robert Liefmann (1874–1941) wurde in Freiburg geboren und studierte Rechtswissenschaften und Nationalökonomie jeweils ein Semester lang in Mün91 Liefmann, Liefmann, S. 155. 92 Ders., Wirtschaft und Technik, 732. 93 Liefmann, Grundsätze, Bd.1, S. 297. 94 Vgl. Amonn, Liefmann I, 367. 95 Liefmann, Liefmann, S. 186. 96 Ebd., S. 163.

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chen, Brüssel und Berlin sowie sechs Semester in Freiburg, wo er bei Max Weber mit einer Arbeit über Die Unternehmerverbände (Konventionen, Kartelle), ihr Wesen und ihre Bedeutung promoviert wurde. Kartelle und Monopole blieben zeitlebens ein zentraler Arbeitsschwerpunkt Liefmanns. Wenn sein akademischer Ruf aufgrund seiner theoretischen Eskapaden mitunter massiv beschädigt war, hielten ihn seine Kartellschriften in der ernstzunehmenden wissenschaftlichen Diskussion. 1914 wurde Liefmann außerordentlicher Professor in Freiburg, wo er seine gesamte weitere akademische Karriere verbrachte, ohne – wie gesagt – jemals auf eine ordentliche Professur berufen zu werden. Die Theore­ tische Sozialökonomie machte ihn Ende des Ersten Weltkrieges zu einer kontroversen und vielbeachteten Figur innerhalb der deutschen Nationalökonomie, danach erlitt sein Werk jedoch einen deutlichen Ansehensverlust und spielte in der Diskussion kaum noch eine Rolle. Anfang der 1920er Jahre musste Liefmann aufgrund einer Muskelerkrankung, die dem leidenschaftlichen Alpinisten schwer zu schaffen machte, akademisch zurückstecken.97 Erst ab Mitte der 1920er Jahre begann er wieder zu veröffentlichen, ohne seinen Ansatz dabei bedeutend weiterzuentwickeln. Er hatte sich damit abgefunden, zwar die Wahrheit gefunden zu haben, jedoch zeitlebens ignoriert und abgelehnt zu werden. Wie Klaus Rainer Brintzinger zutreffend schreibt, hatte sich Liefmann in der Rolle des verkannten Genies eingerichtet, und fühlte sich in ihr – trotz allem – vielleicht auch nicht ganz unwohl.98 Sein Leben endete tragisch. Nachdem er wegen seiner jüdischen Abstammung seit 1933 nicht mehr unterrichten durfte, wurde er 1940 in ein Internierungslager nach Gurs/Frankreich deportiert. An den Folgen der Lagerhaft starb er im Frühjahr 1941. Zwei Tage nach seinem Tod kam die Nachricht, dass er eine Professorenstelle an der New School for Social Research in New York erhalten sollte, die ihm die Ausreise in die USA ermöglicht hätte.99 Damit begonnen, seine »psychische« Wirtschaftstheorie zu entwickeln, hatte Liefmann bereits 1907 mit seinem Werk Ertrag und Einkommen.100 In den folgenden Jahren arbeitete er seinen Ansatz in umfangreichen Aufsätzen weiter aus, bevor er 1917 den ersten Band seines Hauptwerkes Grundsätze der Volks­ wirtschaftslehre veröffentlichte, dem 1919 der zweite folgte. In diesem voluminösen Werk, die beiden Bände umfassten zusammen über 1500 Seiten, entwickelte Liefmann eine umfassende Wirtschaftstheorie: vom psychischen Ausgangspunkt allen Wirtschaftens bis hin zu einer Kapitaltheorie, einer Preistheorie, einer Geldtheorie und einer Verteilungslehre.101 Sein Werk verstand er explizit als Antwort auf die Paradigmenlosigkeit der Disziplin: »Die Wissenschaft zer 97 Ebd., S. 164 f. 98 Brintzinger, Nationalökonomie, S. 69. 99 Blümle u. Goldschmidt, Liefmann, S. 149–155. 100 Liefmann, Ertrag und Einkommen. 101 Ders., Besprechung Vogel. Schreiben Robert Liefmann an Arthur Spiethoff (10.12.1925). UB Basel, Handschriftenabteilung. Nl Spiethoff, A 362a,1.

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fiel bisher in eine ganze Reihe voneinander völlig unabhängiger Theorien und ein einheitliches System, mit dem die ganze Organisation des Tauschverkehrs geschlossen erklärt wurde, ist seit den Zeiten der Klassiker überhaupt nicht mehr aufgestellt worden.«102 Liefmann zufolge war der Versuch, die Grundlagen des Mechanismus des Tauschverkehrs zu erklären, in der Geschichte des Faches zwar schon öfter unternommen worden, dabei sei aber nichts herausgekommen, weil das Wesen des Wirtschaftlichen immer falsch aufgefasst worden sei. Aus diesem Grund konnte die Einreihung der durchaus vorhandenen richtigen Erkenntnisse in ein logisch geschlossenes System nicht gelingen.103 Der Ausgangspunkt von Liefmanns Theorie war, dass einzelne Menschen wirtschafteten, indem sie Kosten und Nutzen miteinander verglichen. Dieses »Wirtschaften« war für Liefmann etwas rein Psychisches, eine besondere Art des Erwägens und Disponierens, dessen Wesen nicht durch den Gegenstand bestimmt wurde, auf den es sich bezog.104 Die Gegenstände der äußeren Natur waren für Liefmann grundsätzlich unbeschränkt verfügbar, jedoch scheiterte die unbegrenzte Bedarfsversorgung an der endlichen Arbeitsfähigkeit des Menschen.105 Der Arbeitseinsatz ging in die psychische Kalkulation des wirtschaftenden Menschen als Kosten (Unlustgefühle)  ein, während der aus ihm resultierende Gewinn (z. B. Geld, mit dessen Hilfe sich Bedürfnisse befriedigen ließen) als Nutzen einging, was Lustgefühle erzeugte. Wirtschaften meinte folglich nicht die Handlung selber, zu arbeiten, etwas zu produzieren oder zu verkonsumieren, sondern die psychische Kalkulation, die zu dieser Handlung führte. Der Mensch wurde als ein eigennütziges Wesen beschrieben, das ständig Kosten und Nutzen von Handlungen miteinander verglich und sie nach ihrer Differenz – dem Ertrag – ausführte oder sein ließ. Somit war es das Streben nach Ertrag, also dem Nutzenüberschuss, das allen wirtschaftlichen Handlungen motivierend zugrunde lag. Dieser Ertrag war allerdings für jeden Menschen verschieden und konnte nicht, wie er es der Grenznutzenschule vorwarf, in Gütermengen ausgedrückt werden.106 Die Produktionsfaktoren waren deshalb auch nur im technischen Sinne Ursache der Produkte; dass letztere auf dem Markt einen Preis erzielten und damit ihren Besitzern ein Einkommen einbrachten, war allein Folge der Nutzenschätzungen der Konsumenten.107 Den Ahnvater seiner Überlegungen erblickte Liefmann in Hermann Gossen (1810–1858), dem Pionier der Grenznutzenlehre, der die entscheidenden Gedanken zur Begründung einer psychischen Wirtschaftstheorie bereits ausgearbeitet habe, jedoch ignoriert worden sei. Gossens Fehler bestand nach Liefmann allerdings darin, anzunehmen, der Mensch gestalte seine Bedürfnisbefriedigung so, 102 Ders., Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, Bd. 1, S. XXII. 103 Ebd., S. 3 ff. 104 Ebd., S. 67. 105 Ebd., S. 69 f., 242. 106 Ebd., S. 87, 112 f., 276. 107 Ebd., S. 94 f.

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dass die letzte Einheit aller Genüsse ungefähr gleich sei, es also zu einem »Ausgleich der Grenzgenüsse« käme.108 Liefmann kritisierte, nicht die Grenzgenüsse glichen sich aus, sondern die Grenzerträge, also die Differenz zwischen Nutzen und Kosten. Nicht die stärksten Bedürfnisse wurden unbedingt zuerst befriedigt, sondern die Bedürfnisse, die mit dem höchsten Ertrag befriedigt werden konnten. Im Fokus der Bedürfniskalkulation stand also, einen möglichst großen Nutzen mit einem möglichst geringen Aufwand zu erreichen.109 Das daraus abgeleitete »Gesetz des Ausgleichs der Grenzerträge«110 bezeichnete Liefmann als seine wichtigste theoretische Leistung. Es besagte, dass der wirtschaftende Mensch das Maximum an Nutzen erlangte, wenn er für jeden erstrebten Nutzen nur so viel Kosten aufwendete, dass sich der Ertrag bei keinem Bedürfnis ungünstiger gestaltete als bei allen anderen Bedürfnisarten.111 Liefmann sah in diesem Gesetz das Grundprinzip, mit dem eine Total­ erklärung von Tauschwirtschaften geleistet werden konnte.112 Was für das wirtschaftliche Handeln jedes einzelnen Menschen galt, war auf die Tauschwirtschaft insgesamt zu übertragen.113 Der Unterschied zwischen dem wirtschaftenden Subjekt und den Unternehmen bestand lediglich darin, dass für letztere nur ein Ertrag in Geld von Bedeutung war.114 Die festen, in Geld ausgedrückten Kosten, die zur Erzielung dieses Reinertrags aufgewendet wurden, bezeichnete Liefmann als Kapital.115 An die Stelle einer Lehre von den Produktionsfaktoren und ihrer Grenzproduktivität trat also eine Lehre von den Kostenfaktoren.116 Von diesen Grundüberlegungen ausgehend entwickelte er dann eine umfassende Theorie der Tauschwirtschaft, in der ein stetig stattfindender Ausgleich der Grenzerträge Kosten und Preise bestimmte. Was Liefmann mit seinen Grundsätzen der Volkswirtschaftslehre beabsich­ tigte, war nichts weniger als eine Revolutionierung und einen vollständigen Neubau der Nationalökonomie als Wissenschaft. Während andere nationalökonomische Systemversuche nicht über die Einleitung hinausgekommen seien, »lege ich hier ein geschlossenes System der Erklärung aller grundlegenden tauschwirtschaftlichen Vorgänge vor, das in der Erklärung des Geldes, der Preise und Einkommen und in der Darlegung der engen Zusammenhänge zwischen diesen tauschwirtschaftlichen Hauptbegriffen gipfelt.«117 Die Selbst­ verständlichkeit seines Systems sah er als Beweis für dessen Wahrheit. Es sei 108 Gossen, S. 12. 109 Liefmann, Grundsätze, Bd. 1, S. 278, 282, 395. Die Paradoxie dieser Formulierung wurde von Liefmann bestritten. 110 Ebd., S. 288. 111 Ders., Liefmann, S. 173. 112 Ders., Grundsätze, Bd. 1, S. 413 f. 113 Ebd., S. 413. 114 Liefmann, Grundsätze, Bd. 2, S. 24 ff. 115 Ders., Grundsätze, Bd. 1, S. 542 f., 559. 116 Ebd., S. 560. 117 Liefmann, Grundsätze, Bd. 1, S. 208.

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einfacher, richtiger und der Erfahrung entsprechend. Darum sollte es in absehbarer Zeit alle anderen Systeme verdrängen.118 An Liefmanns Theorieansatz lässt sich sicher einiges kritisieren. Er hebelte die innere Geschlossenheit der neoklassischen Theoriebildung zunächst aus, indem er einen allgemeinen Vergleichsmaßstab, um Nutzen und Kosten zu bestimmen, negierte.119 Das geschah aber nur scheinbar: Wenn etwa das Gesetz des Ausgleichs der Grenzerträge auf die Erwerbswirtschaften angewendet wurde, stellte sich die Frage nach der Höhe des Grenzertrages, der nur in Geld ausgedrückt werden konnte. Dieser musste für alle Branchen derselbe sein und zwar wiederum ausgedrückt in Geld: Wenn Liefmann die Wirkung des Gesetzes damit erläuterte, dass einem Erwerbszweig nur solange Kapital und Arbeitskräfte zuflössen, bis dieser Grenzertrag erreicht sei, ließ sich ein monetär verschieden hoher Grenzertrag für die einzelnen Branchen nicht rechtfertigen. Letztlich ergab sich so am Ende doch eine monetäre Vergleichbarkeit der Erwerbswirtschaften, und die Theorie war logisch zwar nicht falsch, aber eben nicht mehr originell. Außerdem hatte die Verlegung der Grundproblematik allen Wirtschaftens aus der materiellen Güterwelt in die Empfindungswelt der wirtschaftenden Menschen auch darum enorme theoretische Folgekosten, weil zentrale wirtschaftliche Grundbegriffe so zwar in der Tat einheitlich formuliert werden konnten, dadurch zugleich aber inhaltsleer und analytisch wenig fruchtbar wurden. Ganz ähnlich wie bei Cassel verhinderte die Notwendigkeit der Bildung eines logisch geschlossenen Systems die Entwicklung einer an­wendungsorientierten Theorie. 3.2.3 Die Rezeption Cassels und Liefmanns in Deutschland Cassels und Liefmanns Werke wurden in Deutschland nach ihrem Erscheinen umfassend diskutiert, wobei hinsichtlich Cassel zunächst auffällt, dass ihm zwar pflichtschuldig Beifall für seine Leistung gezollt wurde, die negativen Reaktionen jedoch insgesamt in der Überzahl waren.120 Nicht überraschen konnte das bei Wissenschaftlern, die Werke mit einem ähnlichen Anspruch veröffentlichten; etwa Diehl oder Liefmann selbst.121 Die theoretisch gründlicheren Auseinandersetzungen waren in ihrem Tenor eher gemischt. Der Prager Nationalökonom Alfred Amonn veröffentlichte im »Archiv für Sozialwissenschaft« eine fast 100-seitige Besprechung des Werks.122 Amonn war Cassels Theorie prinzipiell positiv gegenüber eingestellt, zumal beide die Bedeutung der sozialen Be­ 118 Ebd., S. 208 ff. 119 Darin sehen Blümle und Goldschmidt das entscheidende Problem von Liefmanns Wirtschaftstheorie. Blümle/Goldschmidt, Liefmann, S. 158. 120 Am positivsten wohl Neisser, Nationalökonomie. 121 Diehl, Cassels System. Liefmann, Gustav Cassel. 122 Amonn, Cassels System.

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ziehungen im Wirtschaftsleben besonders in den Vordergrund rückten und dem Preisproblem eine zentrale Stellung zumaßen.123 Insofern gab es zwischen diesen beiden Wissenschaftlern eine Konvergenz. Ammons Kritik konzentrierte sich darauf, dass Cassels Preislehre nur die bestehenden Preise in ihrer Gesamtheit erklären könne und keine Aussage darüber träfe, wie die Nachfragefunktionen von den Preisen abhingen.124 Lob zollte er insbesondere Cassels Zinstheorie.125 Schumpeters Cassel-Aufsatz von 1927 wiederum war ein energischer Versuch, Cassel auf jene Riesen hinzuweisen, auf deren Schultern er stand, als er sich freischwebend in intellektuellen Höhen wähnte. Im Übrigen ist deutlich zu erkennen, dass Schumpeter sein Urteil nicht zu hart formulieren wollte (obwohl seine Kritik das substantiell hergegeben hätte), um nicht in das polemische Fahrwasser zu geraten, in dem sich die meisten nationalökonomischen Kontroversen dieser Jahre bewegten.126 Seine Kritik zielte zunächst ganz entscheidend auf einen Punkt, der auch von anderen Rezensenten hervorgehoben wurde, dass es Cassels nur scheinbar gelungen war, die neoklassische Wertlehre aus der Betrachtung auszuschalten.127 Ansonsten hatte Schumpeter für zahlreiche Elemente von Cassels Theorie jedoch viel Lob übrig. Eine letzte, hier noch zu erwähnende gründliche Kritik war schließlich ein posthum erschienener Aufsatz von Knut Wicksell, den dieser bereits 1919 in der schwedischen »Ekonomisk Tidskrift« veröffentlicht hatte und der nach seinem Tod 1927 ins Deutsche übersetzt wurde.128 Der Aufsatz nahm Cassels Originalitätsanspruch präzise aus­ einander, wobei die beiden Wissenschaftler sich spätestens seit der Konkurrenz um eine Professur in Lund 1901, die Wicksell schließlich bekam, in herzlicher Abneigung verbunden waren.129 Cassel übte auf die deutsche Nationalökonomie einen starken Einfluss aus, keinesfalls aber dominierte er die theoretische Forschung. Allgemein gelobt wurde die logische Geschlossenheit des Gesamtbaus, viel Kritik jedoch an Einzelheiten geübt. Diese bestand erstens darin, dass es Cassel nur scheinbar gelungen war, die Wertlehre und das Marginalprinzip aus seinem System zu eliminieren. Außerdem wurde angemerkt, dass die Bestimmungsgründe der Nachfrage nicht ausreichend oder mangelhaft erklärt wurden. Die schärfste negative Kritik wurde aber von solchen Ökonomen geäußert, die mit ihren eigenen theoretischen Systemen einen ähnlichen Anspruch vertraten wie Cassel selbst. Das gibt zumindest einen Hinweis darauf, dass die Gründe, warum deren Werke Beachtung fanden, für Cassels Werk in ähnlicher Weise gegolten haben werden.130 123 Ebd., S. 190 f. 124 Amonn, Cassels System, S. 42, 61 f. 125 Ebd., S. 69. 126 Vgl. Schumpeter, Deutschland, S. 9. Anders: Ders., History, S. 1081, 1154. 127 Ders., Cassel, S. 246 f., 250 f. Vgl. Schultze, Cassels Preislehre, S. 27 f. 128 Wicksell, System. 129 Englund, Autobiography, S. 486. 130 Zumal die schwedische Nationalökonomie durchaus strukturelle Ähnlichkeiten zu der deutschen aufwies. Ohlin, Strömungen, S. 93 ff.

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Cassels Stern innerhalb der deutschen Nationalökonomie begann seit Mitte der 1920er Jahre zu sinken.131 Zumindest ist es signifikant, dass die jüngere Generation ökonomischer Theoretiker, die sich seit Mitte der 1920er Jahre vor allem auf dem Gebiet der Konjunkturtheorie betätigte, auf Cassel nur vereinzelt Bezug nahm. Überhaupt fällt bei den Abhandlungen und Dissertationen, die sich mit Cassel beschäftigten, auf, dass diese stets das Casselsche System als Ganzes in den Blick nahmen, ohne es anwendungsorientiert zu nutzen. Hier liegt die Vermutung nahe, dass das strukturell in Cassels Arbeit selbst an­gelegt war: Der Systemcharakter des Werkes brachte die Folgekosten mit sich, Teilausschnitte des Wirtschaftslebens nur unter Rückgriff auf das große Ganze des Systems betrachten zu können. Das erschwerte massiv die Operationalisierbarkeit der Theorie. Im Falle von Liefmanns Grundsätzen der Volkswirtschaftslehre wiederum gab es durchaus Rezensenten, die Liefmann abnahmen, mit seinem System die angestrebte Neufundierung der Wirtschaftstheorie geleistet zu haben. Allen voran Edgar Jaffé, der in seinem Aufsatz von 1917 die Lobpreisung Liefmanns zugleich mit einer Spitze gegen Max Weber und Werner Sombart verband, weil diese es zu einem System bislang nicht gebracht hätten.132 Ein anderer Rezensent schrieb emphatisch: »Das Liefmannsche Werk bedeutet den Beginn einer neuen Ära in der Wirtschaftslehre; das alte ist zerfallen und alles ist neu geworden.«133 Es dauerte aber nicht lange, bis sich die negativen Stimmen häuften und manche Reaktionen waren dabei an Schärfe kaum zu überbieten. Oppenheimer bemerkte 1919, auch wenn Liefmann in der Tat von der Kritik schlecht behandelt worden sei, würde seine beleidigte und selbstverliebte Reaktion in den Grundsätzen das Buch »zu einem der peinlichsten [machen], die je geschrieben wurden.«134 Die Oppenheimersche Kritik war allerdings noch fast gemäßigt gegenüber der Grundsatzkritik, die Amonn 1918 im »Archiv für So­ zialwissenschaft« veröffentlichte und die dezidiert die Absicht verfolgte, mit dem Liefmannschen Unfug ein für allemal Schluss zu machen.135 Amonn ging es zunächst darum, Liefmann eine unklare Begriffsverwendung vorzuwerfen, dass er also die scharfe Begriffskritik, die er an anderen übte, nicht auf sich selbst angewandt habe. Gleichzeitig kritisierte Amonn aber grundsätzlich den psychologischen Ansatz, der seiner Meinung nach die ökonomischen Größen unvergleichbar machte und darum nicht als Ausgangspunkt für eine Theorie genommen werden dürfe. Liefmann wehrte sich gegen die Amonnsche Kritik übrigens in ähnlich heftiger Weise, so dass die Redaktion des »Archivs für Sozialwissenschaft« die Kontroverse abbrach, bevor sie schiedsgerichtlich geklärt werden musste. 131 Kurz, Nationalökonomie, S. 25. Mises u. Spiethoff, Probleme, Zweiter Teil. 132 Jaffé, System, S. 2. 133 Mayer, Volkswirtschaftslehre, S. 212. 134 Oppenheimer, Krisis, S. 487. 135 Amonn, Liefmann I, S. 368.

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Auch wenn Liefmann sich innerhalb des Faches relativ rasch den Ruf eines Sonderlings erwarb136, so war er insgesamt doch nicht die periphere Gestalt, welche mitunter als Beleg für die Skurrilität des deutschen ökonomischen Denkens in den 1920er Jahre herhalten muss.137 Das lag zum einen daran, dass seine Arbeit über Kartelle und Monopole zu den Standardwerken gehörte und eine Vielzahl an Auflagen erlebte. Zum anderen fand Liefmann für seine enorme schriftstellerische Produktivität immer Verlage und Zeitschriften, die seine Texte druckten. Die zahlreichen Polemiken, in die er sich verstrickte, führte er mit großer Leidenschaft, wobei seine Offenheit und sein Selbstbewusstsein auch etwas Entwaffnendes hatten. Hingebungsvoll stürzte er sich in eine Vielzahl von Debatten, so dass sich geradezu von einer erzwungenen Rezeption seines Werkes sprechen lässt. Während Cassel sich gegenüber seinen Vorgängern und Kontrahenten größtenteils ausschwieg, nahmen Kritiken und Antikritiken bei Liefmann einen breiten Raum ein: in den Grundsätzen der Volkswirtschafts­ lehre setzte sich Liefmann auf immerhin 250 (!) Seiten mit den Werken anderer Wissenschaftler auseinander.

3.3 Paradigmenverlust auf Dauer? »Wie kläglich haben z. B. unsere Volkswirtschaftler versagt, die uns zwar großartige Systeme dessen gegeben haben, was war, von denen aber keiner uns und Deutschland hat sagen können, was gleichzeitig mit uns wurde. (Wie dankbar wären wir einem, der uns rechtzeitig gesagt hätte, wie wir unsere Groschen hätten retten können.)«138 Diese Klage, die Josef Ponten 1924 in einem offenen Brief an Thomas Mann formulierte, illustriert vortrefflich die abflauende Begeis­ terung für die Nationalökonomie mit dem Ende der Inflation; nicht nur hatte das akademische Fach zahlreiche, schlecht ausgebildete Studenten in ein höchst unsicheres Arbeitsleben entlassen, die an sie gestellten Erklärungsansprüche, das »Massenbedürfnis nach Wirtschaftsrat«139, hatte sie ebenfalls nicht befriedigen können, und zwischen Theorie und Praxis klaffte weiterhin eine große Lücke. Jedenfalls hätte 1924 kaum jemand die Situation der Nationalökonomie als zufriedenstellend eingestuft, und wenn man etwas Positives über sie sagen wollte, dann höchstens, dass die Vielzahl an Theorien, Systemen und Meinungen die starke Dynamik der Forschung zeigten.140 Das war tatsächlich der Fall, nur wurde diese innerhalb der Disziplin als äußerst problematisch empfunden, denn sie demonstrierte, dass es eine gesicherte Erkenntnis- und Theorie­ 136 Z. B. Knapp, Zur staatlichen Theorie, S. 195. 137 Kurz, Nationalökonomie, S. 15 f. 138 Ponten, S. 118. 139 Wilbrandt, Begründung, S. 15. 140 Surányi-Unger, Entwicklung, S. 3 f.

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grundlage der Wissenschaft nicht gab. Und offensichtlich existierte weiterhin eine große Dringlichkeit, diese zu schaffen, denn die im vorigen Kapitel beschriebene Anspruchshaltung an das Fach ließ einen ruhigen Selbstfindungsprozess nicht zu. Den Systementwürfen Cassels und Liefmanns lassen sich weitere an die Seite stellen. Bereits vor dem Weltkrieg waren im Schatten der Historischen Schule zahlreiche neue Ansätze entwickelt worden, die nach ihrem Ende um die Vorherrschaft in der Nationalökonomie konkurrierten. Zu nennen wären etwa die bereits erwähnten, noch aus der Vorkriegszeit stammenden Entwürfe ­Joseph Schumpeters und Rudolf Stolzmanns, aus späterer Zeit Karl Diehls Ein­ leitung in die Nationalökonomie, Othmar Spanns Fundament der Volkswirt­ schaftslehre, Franz Oppenheimers System der Soziologie sowie auch Max Webers epochales Lehrbuch Wirtschaft und Gesellschaft, dessen Kompilierung durch Marianne Weber auch durch den Paradigmenverlust der Nationalökonomie motiviert gewesen sein könnte. Wenn Friedrich von Gottl-Ottlilienfeld 1923 an Arthur Spiethoff schrieb, er müsse nun endlich zur Zusammenfassung seiner bislang verstreut publizierten Gedanken schreiten, sprach daraus die Angst, im Wettbewerb der Neuentwürfe bereits spät dran zu sein.141 Horst Wagenführ zählte 1933 immerhin 28 (!) nationalökonomische Systementwürfe auf, wobei er jedoch einige ältere Theorien mit hinzu rechnete.142 Nahezu alle diese Arbeiten beanspruchten, eine fundamentale Neubegründung der Nationalökonomie ausgehend von bestimmten »letzten« Prinzipien zu leisten.143 Sie waren Lösungsangebote für eine Disziplin, die dringend nach einem neuen Paradigma suchte. Keiner dieser Entwürfe konnte sich jedoch durchsetzen (am ehesten noch C ­ assels), vielmehr erfuhren sie zumeist schärfste Kritik, die auch die so­ ziale Desintegration beförderte, indem sie die Disziplin in eine kleine Gruppe von Schülern und Anhängern sowie den großen Rest teilte, der der jeweiligen Theorie skeptisch bis ablehnend gegenüberstand. Die sich aufdrängende Frage lautet, warum keiner dieser Entwürfe ein neues Paradigma in der Disziplin begründen konnte. Die naheliegende Antwort, das Problem in Defiziten der methodischen und argumentativen Stringenz zu er­ blicken, ist zwar nicht ganz von der Hand zu weisen, als Erklärung aber auch unbefriedigend. Unbestreitbar boten alle genannten Theorien mehr oder weniger zahlreiche Anhaltspunkte für Kritik. Bei der Betrachtung der Form dieser Kritik beschleicht den Beobachter jedoch der Verdacht, auch die logisch stringenteste Darstellung wäre in ganz ähnlicher Weise behandelt worden. Das lag zunächst schlicht daran, dass viele Besprechungen von Autoren stammten, die wie der Autor des kritisierten Werkes selbst einen Neubegründungsanspruch 141 Schreiben Gottl-Ottlilienfeld an Arthur Spiethoff (10.1.1923). UB Basel, Handschriften­ abteilung. Nl Spiethoff, A 225,1. 142 Wagenführ, Systemgedanke, S. 222 f. 143 Webers Wirtschaft und Gesellschaft ist aber sicherlich kein »System« im Sinne Cassels, Liefmanns oder Spanns (vgl. dazu das 4. Kapitel dieser Arbeit). Weber, Wirtschaft, S. 31.

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vertraten. Wenn Cassel von Liefmann oder Diehl rezensiert wurde, ging es nicht nur um das zu besprechende Werk, sondern auch um die Rechtfertigung der eigenen Theorie.144 Liefmanns Rezensionen sind dafür ein extremes Beispiel. Er hatte einen besonderen Hang, die von ihm besprochenen Texte als Polemiken gegen sich selbst zu interpretieren, selbst wenn die Autoren ihn gar nicht meinten. Hatten sie einen nach Liefmann richtigen Gedanken, gaben sie ihm recht.145 Aber auch wenn das bei diesem Autor besonders ausgeprägt war, standen ihm andere doch kaum nach. Alles, was sich bei Spann oder Stolzmann über die Werke anderer Wissenschaftler lesen lässt, ist, dass sie allein wegen ihres (etwa: individualistisch-materialistischen) Ausgangspunktes jedes tiefere Verständnis der nationalökonomischen Probleme notwendig verfehlen mussten.146 GottlOttlilienfeld hatte für die Besprechung seines Werks Wirtschaft als Leben in »Schmollers Jahrbuch« große Sorgen, einen geeigneten Rezensenten zu finden, der nicht seiner Perspektive wegen bereits dazu verurteilt sei, Aussage und Inhalt des Werks vollständig falsch zu verstehen.147 Die zahlreichen Erwiderungen auf negative Besprechungen in den Fachzeitschriften liefen fast immer darauf hinaus, der Rezensent habe den Autor einfach nicht verstanden oder er verfolge eine böse Absicht.148 Angesichts der häufig zu beobachtenden diskursiven Radikalisierung, dass also eine negative Kritik die nächste nach sich zog, dürfte es Cassels Stellenwert befördert haben, dass er auf solche Anwürfe überhaupt nicht einging, zumal er sich in Schweden ohnehin außerhalb des ständigen Blickfeldes seiner deutschen Fachkollegen befand.149 Eine besondere Rolle spielte dabei auch der bereits angesprochene österreichische Nationalökonom Alfred Amonn. Dieser war durch seine 1911 erschienene Habilitationsschrift Objekt und Grundbegriffe der theoretischen National­ ökonomie bekannt geworden und fühlte sich, zumindest seinem Rezensionsstil nach zu folgern, als Wächter über die argumentative Präzision innerhalb der Nationalökonomie. In seinen, manchmal bis zu hundert Seiten langen Besprechungen anderer Werke sezierte er mit Vorliebe einzelne Sätze, drehte Argumente mehrmals um, bis er schließlich einen logischen Fehler nachgewiesen hatte. Ein Großteil der Besprechungen in den nationalökonomischen Fachzeitschriften war ihm noch bei weitem zu freundlich.150 Problematisch war aber 144 Z. B. hätte Stolzmann seine Kritik an Liefmann guten Gewissens auch auf sich selbst anwenden können. Stolzmann, Liefmann, S. 10, 16 f., 44 ff. 145 Vgl. Liefmann, Cassel. Schreiben Robert Liefmann an Arthur Spiethoff (10.12.1925). UB Basel, Handschriftenabteilung. Nl Spiethoff, A 362a,1. 146 Spann, Bemerkungen, S. 770. 147 Schreiben Gottl-Ottlilienfeld an Arthur Spiethoff (10.1.1923). UB Basel, Handschriften­ abteilung. Nl Spiethoff, A 225,1. 148 Streller, Herrschaft, S. 24. Streller meinte, die Polemik käme in der gegenwärtigen National­ ökonomie nicht so recht in Gang, weil jeder zu hören bekäme, das habe er gar nicht so gemeint. 149 Vgl. Pohle, Kapitalismus, 4. Auflage, S.VII. 150 Amonn, Objekt, S. 399.

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weniger Amonns Pedanterie an sich151, sondern vielmehr, dass seine mitunter wirklich scharfsinnigen Kritiken als Munitionslager für jeden dienen konnten, der die Neigung zum Kritisieren verspürte. So erklärt sich zumindest, dass Argumente von Amonn überproportional häufig in anderen Kritiken verwendet wurden, was wiederum dessen Autorität im Fach stärkte. Der eigentliche strukturelle Grund für die Schärfe von Kritik und Anti­k ritik ist aber in Eigenschaften der Theorien selbst zu suchen. Denn nicht allein die Kritiken verhinderten einen produktiven Diskurs, sondern die besprochenen Theorien selbst verweigerten dafür die Anknüpfungsmöglichkeiten. Das lag nicht zuletzt daran, dass sie sich selbst nicht oder nur in Ansätzen in eine Forschungstradition einordneten oder sich positiv auf einen Forschungsstand bezogen. Weil sie eine Neubegründung zu leisten beanspruchten, verwarfen sie summarisch die bisherige Forschung und bezogen sich höchstens, wie Spann auf Adam Müller oder Liefmann auf Hermann Heinrich Gossen, auf lang tote Ahnen. Das Motiv, das hier eine entscheidende Rolle spielte, war das bereits erwähnte des Perspektivwechsels: Ein anderer Standpunkt sollte es ermöglichen, die nationalökonomische Forschungstradition als Behandlung von Scheinproblemen zu demaskieren. Aus diesem Grund forderten sie von ihren Wissenschaftlerkollegen letztlich Unterwerfung, und es ist kaum verwunderlich, dass es diesen an Bereitschaft dazu fehlte. In diese Richtung ging übrigens auch, dass manche der versuchten Neubegründungen der Nationalökonomie, z. B. Gelesnoffs Grundzüge der Volks­ wirtschaftslehre, Cassels Theoretische Sozialökonomie oder (schon vor dem Ersten Weltkrieg) Oppenheimers Theorie der reinen und politischen Ökonomie, in Form eines Lehrbuchs daherkamen. Diese »Lehrbücher« vermittelten aber offen­sichtlich weniger einen bereits akzeptierten Stoff, sondern bildeten erst die Grundlage für neue Forschung. Sie trugen, in systemtheoretischer Terminologie gesprochen, eher zur Variation und Selektion als zur Stabilisierung von Wissen bei, was in »reifen« Wissenschaften eigentlich die Funktion von Lehrbüchern darstellt: vorhandenes Wissen zu komprimieren, didaktisch aufzu­ arbeiten und auf diese Weise in den festen Wissensbestand einer Disziplin zu überführen.152 Zumindest bei Cassel und Oppenheimer unterstrich der Lehrbuchcharakter aber nur den eigenen Anspruch, unbezweifelbare Wahrheiten zu verkünden. Als weiteres kam hinzu, dass Cassel und Liefmann den Realismus ihrer Systementwürfe dadurch zu untermauern suchten, dass sie gesellschaftliche Konflikte nicht ausblendeten, sondern ihre Theorien auf konkrete gesellschaft­ liche Problemlagen anwandten. Bei Cassel führte das dazu, dass er von seinen theoretischen Voraussetzungen her zu einem letztlich klaren Plädoyer für die 151 Schreiben Edgar Salin an Arthur Spiethoff (3.6.1930) UB Basel, Handschriftenabteilung. Nl Spiethoff, Fb 2766. Salin bezog sich auf die scharfe Kritik Amonns an Sombarts Die drei Nationalökonomien. Amonn. Wirtschaft, Wirtschaftswissenschaft. 152 Vgl. Luhmann, Wissenschaft, S. 588.

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liberale Verkehrswirtschaft kam.153 Liefmann war zwar prinzipiell ebenfalls ein Wirtschaftsliberaler, prognostizierte jedoch nach dem Weltkrieg die Tendenz zu einer stärker korporativistischen Wirtschaftsform, in der Kartelle eine wichtige Rolle spielen sollten.154 Das zog manche an und stieß andere ab, wie in dem politisch zerrissenen Klima der Weimarer Republik kaum anders zu erwarten.155 Auf diese Weise jedoch konnten ihre Systeme mühelos als politisch motiviert interpretiert werden, was ihre polarisierende Wirkung noch befördert haben wird. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Krisensemantik in der National­ ökonomie wieder aufgegriffen. Während es sich aber vor dem Krieg vor allem um die Polemik einer abgrenzbaren Gruppe von Ökonomen gegen die dominierende Richtung gehandelt hatte, fand die Diagnose einer Krise der National­ ökonomie jetzt keinen ernsthaften Widerspruch mehr. Vor allem wurde die Krise der Nationalökonomie nicht länger auf die schädliche Dominanz der Jüngeren Historischen Schule, sondern die Vielzahl divergierender wissenschaft­ licher Standpunkte und Weltanschauungen zurückgeführt: »So herrscht auf dem volkswirtschaftlichen Lehrgebiet ein völliges Chaos sogar bezüglich der Frage, worin Wesen und Ziel dieser Wissenschaft überhaupt bestehe,«156 schrieb ­Rudolf Kaulla 1919. Wilbrandt bezeichnete die Situation nach dem Ende der Jüngeren Historischen Schule 1924 gleichfalls als ein Chaos, das seiner Meinung nach damit zu tun hatte, dass die Klassiker zwar die richtige Ansätze vertreten hätten, jedoch eine Tauschgesellschaft im Werden zum Gegenstand ihrer Untersuchungen machen mussten. Deswegen gebe es kein gesichertes Lehrgebäude und dementsprechend gelte es eine Neubegründung der Nationalökonomie als einer praktischen Wissenschaft zu leisten, welche die Bedingungen einer entwickelten Tauschgesellschaft mit allen ihren Folgekosten theoretisch berücksichtigte und dabei die gesellschaftlichen Machtverhältnisse als wesentlichen Gesichtspunkt in Betracht zog.157 Der Erlanger Nationalökonom Adolf Günther veröffentlichte 1921 ein mit Die Krisis der Wirtschaft und der Wirtschaftswissenschaft158 betiteltes Buch, in dem er den titelgebenden Bezug jedoch eigentlich gar nicht herstellte, sondern sich nahezu ausschließlich auf die Probleme des Faches konzentrierte. Günther sah eine Vielzahl von Ursachen für die Krise: die Anforderungen des akademischen Lehrbetriebs und die gestiegene Anspruchshaltung an das Fach, genauso wie das Chaos der Meinungen und die Neigung, Streitigkeiten in Form schroffer Polemik auszutragen. Insbesondere wies Günther darauf hin, dass die Nationalökonomie um den Weltkrieg herum geradezu ein »Massensterben« ihrer Auto153 Cassel, Freiheit. 154 Liefmann, Grundsätze, Bd. 2, S. 793 ff. Ders., Geschichte und Kritik. 155 Z. B. Meyerhoff. 156 Kaulla, Verhältnis, S. 6. 157 Wilbrandt, Geschichte, S. 2. Ders., Berater. Ders., Augen, S. 343 ff. 158 Günther, Krisis.

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ritäten erlebt hatte: Wagner, Schmoller und Max Weber auf deutscher, BöhmBawerk, Menger und Philippovich auf österreichischer Seite waren während oder bald nach dem Krieg gestorben. Andere, wie Brentano, Bücher und Wieser waren bereits alt und hatten sich aus dem akademischen Leben weitgehend zurückgezogen.159 Der daraus resultierende Autoritätsmangel war für Günther ein wichtiger Grund für den herrschenden Meinungspluralismus. Was die Nationalökonomie Günthers Meinung nach brauchte, war eine theoretische Grundlegung. Diese konnte auf Dauer nicht aufgeschoben werden, weil sie am sichersten die Krise beseitigen werde. Er sah die Diskussionen dabei auf einen »Endkampf« zwischen Historischer Schule und Grenznutzenschule zulaufen. Im Übrigen stellte er fest, bestünde die Krise »gar nicht einmal in der sachlichen Meinungsverschiedenheit, sondern in dem Anspruch auf Ausschließlichkeit, der von den einzelnen Schulen und vielen Außenseitern erhoben wird, der den Andersdenkenden nicht würdigt, sondern an ihm vorbeigeht.«160 Auch wenn das Buch Günthers streckenweise wenig mehr bot als eine recht schwammige Krisenphänomenologie, wurde doch auch von den Rezensenten nicht bestritten, dass sich die Nationalökonomie in einer Krise befand und hier viel zu tun war.161 Ein signifikanter Topos, um den krisenhaften Zustand und den sich rasch nach dem Weltkrieg etablierenden Pluralismus zu rechtfertigen, war der Hinweis darauf, dass die Nationalökonomie eine noch junge Wissenschaft sei.162 Julius Wolf sah es als übliches Schicksal junger Disziplinen an, dass sie zunächst ihren Gegenstand hauptsächlich empirisch beschrieben und darum eher die »Arbeiter« anzögen als die wirklich fähigen Köpfe.163 Der Frankfurter Volkswirt Paul Arndt meinte 1921 in einem Leitfaden für das nationalökonomische Studium, stets sei als Entschuldigung für den Chorus der abweichenden Meinungen, mit denen sich der Anfänger des nationalökonomischen Studiums konfrontiert sehe, zu hören, »die volkswirtschaftliche Wissenschaft sei noch jung (erst 150 Jahre alt!) und deshalb ›unfertig‹.«164 Günther sprach von den »greisenhaften Zügen unserer jungen Wissenschaft.«165 Hans Hecht schrieb 1928, dass obwohl anderthalb Jahrhunderte seit der Grundlegung der Nationalökonomie durch Adam Smith vergangen seien, sie immer noch eine junge, unentwickelte Wissenschaft sei: »Ja, sie muss geradezu immer noch um die Berechtigung ihrer Existenz als besondere Wissenschaft neben dem festgefügten Gebäude der Naturwissenschaft und der Geschichte kämpfen.«166 Hingegen verwies der Breslauer Nationalökonom Waldemar Mitscherlich, einer der wenigen Schmoller159 Ebd., S. 47 ff. 160 Ebd., S. 58 f. 161 Jahn, Rezension zu Günther. 162 Streller, Statik und Dynamik, S. 9. Schumpeter, Sozialwissenschaft, S. 555. 163 Wolf, Wolf, S. 235 f. 164 Arndt, Nationalökonomie, S. 3. 165 Günther, Krisis, S. 65. S.a. Levy, Nationalökonomie, S. 1 ff., 10 f. 166 Hecht, Nationalökonomie, S. 5.

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getreuen, darauf, dass erst, seit das »dichtende Denken« der englischen Klassik durch das »erkennende Denken« der deutschen Historischen Schule substi­tuiert oder ergänzt worden sei, sich im strengen Sinne von der Existenz einer Nationalökonomie sprechen lasse. Insofern sei die Nationalökonomie in der Tat noch jung.167 »Jugend« bekam hier eine doppelte Bedeutung. Einerseits fungierte sie als Entschuldigung für den Mangel an Konsens in den Lehrmeinungen und für den schlechten Zustand der Disziplin. Nach Eucken wüssten die Nationalökonomen, wie beliebt es in ihrer Wissenschaft sei, eine revolutionäre Pose einzunehmen, die es sich einfach machte zu vergessen, was bisher in der Forschung geleistet worden sei: »ein Zeichen ihrer Jugend und zugleich der Anlass zur Wiederholung längst widerlegter Irrtümer, zur Aufstellung verfehlter Prioritätsansprüche, zur Verwirrung der Anfänger, zur Vergiftung der wissenschaftlichen Atmosphäre und zur Schädigung der Sache.«168 Andererseits gab Jugend aber einen Ausblick auf die Vielzahl von Möglichkeiten, die dem Fach prinzipiell offen standen, auch wenn es in der Gegenwart nicht überfordert werden durfte.169 Aber gleich, in welcher Bedeutung »Jugend« zu verstehen ist: Es ist kaum ein größerer Kontrast denkbar, als zwischen der Selbstbeschreibung der deutschen Nationalökonomie als »in der Krise« auf der einen Seite, Schmollers Rektoratsrede von 1897 auf der anderen. In ihr wurde die Nationalökonomie als eine reife Wissenschaft bezeichnet, die feste Standards ausgebildet habe, anhand derer zwischen wahr und falsch unterschieden werden könne.170 Von einer solchen Selbstgewissheit war die deutsche Nationalökonomie Anfang der 1920er Jahre mehr als nur einen weiteren Systementwurf entfernt. Vielmehr gab es eine zunehmende Unsicherheit, wie die Nationalökonomie als Wissenschaft überhaupt adäquat betrieben werden konnte. Wie im folgenden Kapitel gezeigt werden soll, manifestierte sich diese Unsicherheit in einer breit ausufernden Methoden­ debatte, in der die epistemologischen Grundlagen der ökonomischen Theorie geklärt werden sollten.

167 Mitscherlich, Wirtschaftswissenschaft, S. 74. 168 Eucken, Beitrag, S. 74. 169 Schumpeter, Woher, S. 606. 170 Schmoller, Wechselnde Theorien.

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4. Methodendiskussionen Schon lange vor dem Ersten Weltkrieg hatten in der deutschen Nationalökonomie Methodendiskussionen eine wichtige Rolle gespielt.1 Die beiden prominentesten Beispiele sind der Methodenstreit zwischen Carl Menger und Gustav Schmoller Anfang der 1880er Jahre sowie der Werturteilsstreit über die Zu­ lässigkeit von Werturteilen in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Während letzterer Konflikt jedoch vor allem um die Frage kreiste, inwieweit sich die Wissenschaft in ihren Aussage- und Erkenntnismöglichkeiten zu bescheiden habe, war der Methodenstreit viel eher eine Grundsatzdiskussion darüber, wie die Nationalökonomie als Wissenschaft adäquat betrieben werden sollte: mittels eines historisch-institutionellen Ansatzes oder abstrahierend-rationaler Schemata. Insofern ging es in dieser Auseinandersetzung speziell um die Frage der methodologischen Begründung der Nationalökonomie, weshalb Andreas P ­ redöhl später eine direkte Kontinuitätslinie zu der Methodendebatte in der Weimarer Republik ziehen konnte: »Die Renaissance der Theorie in Deutschland der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg«, schrieb er, »ging einher mit einer Welle von methodologischer Forschung, deren komplizierte Struktur in gewissem Widerspruch steht zur Einfachheit der wiederbelebten Theorie. Sie erklärt sich aus der Auseinandersetzung mit der historischen Schule, die im Methodenstreit keineswegs zum Abschluss gekommen war. Immer wieder galt es die Theorie zu begründen und ihre Aufgaben und Grenzen abzustecken. Es ging weniger um den Inhalt der Theorie, als um ihre Grundlagen, viel mehr um die Methode, als um die Theorie selbst. Es dürfte wohl kaum eine Generation von Wirtschaftswissenschaftlern gegeben haben […] die sich so sehr mit philosophischen Vorfragen befasst hat wie die der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg.«2 Der Methodenstreit hatte jedoch zumindest den Vorteil gehabt, dass sich hier zwei klar abgrenzbare Lager scheinbar unversöhnlich gegenüberstanden. Gewinner (zumeist Menger) und Verlierer (zumeist Schmoller) konnten nach Bedarf eindeutig identifiziert werden.3 Bei den breiten Methodendiskussionen nach dem Ersten Weltkrieg war die Lage verworrener. Auch wenn nach der hier vorgetragenen Interpretation die Virulenz der Methodendiskussionen eher durch das Ende als durch die fortgesetzte Auseinandersetzung mit der Histo­ 1 Vgl. Lifschitz, Untersuchungen, S. 70. 2 Predöhl, Cassel, S. 12. Vgl. auch Krause/Rudolph, S. 345 f. 3 Vgl. etwa das gegenüber der Jüngeren Historischen Schule harsche Urteil bei Tribe, Strategies, S. 94. Diese Einschätzung findet nur vereinzelt Widerspruch, etwa bei Lindenlaub, Richtungskämpfe, S. 100 f. Grimmer-Solem, S. 275 ff.

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rischen Schule bedingt war, lässt sich Predöhls Diagnose dennoch weitgehend zustimmen. Die Breite der Debatte weist jedenfalls darauf hin, dass die Nationalökonomie sich ihrer eigenen Erkenntnisgrundlagen zutiefst unsicher war und den epistemologischen Estrich der eigenen Theoriebildung erst wieder neu zementieren musste. Folglich ging es weniger um »Methoden« im herkömm­ lichen Sinne als Verfahren der Forschung, sondern um die Klärung der epistemologischen Grundlagen nationalökonomischer Theoriebildung an sich.4 Wenn es sich beim methodologischen Schrifttum um Fundierungsversuche der Nationalökonomie als Wissenschaft handelte, erscheint der Zusammenhang mit der Krisenlage des Faches einsichtig: Denn wenn ein grundlegender Dissens über die Erkenntnisgrundlagen bestand, wie sollte dann Einigkeit in Sachfragen erzielt werden? Deswegen kann es auch nicht verwundern, dass gerade hier die Krise der Nationalökonomie immer wieder als Motivation für die eigenen Bemühungen angeführt wurde.5 Nach Amonn befand sich die Natio­ nalökonomie in einem Zustand der Verwirrung. Ihre Entwicklung sei ausgeartet in einen »wilden Anarchismus […], in dem jeder für sich seine eigenen Gesetze […] macht und für sich unabhängig von allem, was vor ihm auf dem Gebiete der Wissenschaft geschehen ist oder neben ihm geschieht, sein System errichtet.«6 Sombart begann seine Drei Nationalökonomien mit dem Satz: »In der Wissenschaft, die der deutsche Volksmund seit jeher und immerdar als Nationalökonomie bezeichnet hat, ist alles, was bestimmt sein sollte, unbestimmt: sogar der Gegenstand mit dem sie sich beschäftigt.«7 Hans Peter schrieb 1933, seit Jahrzehnten seien mal lauter, mal leiser die Stimmen zu vernehmen, die von einer Krise der Nationalökonomie sprachen, wogegen das einzige Heilmittel die seriöse theoretische Forschung sei.8 Die Liste ließe sich fast beliebig verlängern. Bei der Behandlung der Methodendebatten eröffnet sich gewissermaßen ein Blick ins Herz der Krise der Nationalökonomie. Denn hier wurden die letzten Erkenntnisgrundlagen verhandelt, deren Fehlen es anscheinend unmöglich machte, Klarheit in das in der Disziplin herrschende Chaos zu bringen. Im Folgenden sollen zunächst thematische Schwerpunkte der Methodendebatten vorgestellt werden. Das war zunächst die Bemühung, ein Fundament für die ökonomische Theorie zu legen. Danach wird der Versuch behandelt, eine »verstehende« bzw. »anschauliche« Theorie zu entwickeln, welche die Defizite einer rein abstrahierenden Theoriebildung zu vermeiden suchte. Anschließend wird die Frage diskutiert, ob die Methodendebatte etwas zur Lösung der Krise des Faches beitrug oder ob sie nicht vielmehr als Verstärker der Krisensemantik 4 Schumpeter sah sich genötigt, unter »Methoden« nicht die Diskussion von »Verfahrens­ arten« zu verstehen, sondern »den Kampf von »Richtungen« oder »Schulen«.« Schumpeter, Schmoller, S. 337. 5 Z. B. Amonn, Objekt, S. 1 ff. Egner, Wandlung, S. 57 ff. Levy, Nationalökonomie, S. 1 ff. 6 Amonn, Objekt, S. 2. 7 Sombart, Die drei Nationalökonomien, S. 1. 8 Peter, Aufgaben, S. 7 ff.

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fungierte und nicht letztlich noch mehr Konfusion in der Debatte erzeugte. Abgeschlossen wird das Kapitel mit dem Versuch, die Lage der Nationalökonomie wissenschaftstheoretisch zu verorten.

4.1 Grundlegungen der ökonomischen Theorie Seit der Jahrhundertwende und verstärkt seit dem Weltkrieg gab es zahlreiche Versuche, ein neues System der ökonomischen Theorie zu schaffen und zu eta­ blieren. Doch waren die Erfolge dieser Bemühungen offensichtlich begrenzt: Keines dieser Systeme war in der Lage, ein dominantes Paradigma der Disziplin zu begründen. Wäre das der Fall gewesen, hätte es kaum so umfassende Anstrengungen gegeben, sich über die methodologischen Grundlagen der Nationalökonomie klar zu werden. Die bereits im vorigen Kapitel zitierte Hoffnung Andreas Voigts, der große Nationalökonom werde auf der Szene erscheinen, der die Methoden verkörpere und dadurch jeden Streit über sie aus der Welt schaffe9, hatte sich offensichtlich nicht erfüllt. Da nach dem Ende der Jüngeren Historischen Schule eine historische Fundierung des Faches nicht mehr opportun erschien, konzentrierten sich die Beiträge zur Methodendebatte hauptsächlich auf die Begründung der ökonomischen Theorie, wobei der Begriff »Theorie« aus heutiger Sicht mitunter extrem weit aufgefasst wurde: Er stellte vor allem einen Gegenbegriff zu »Geschichte« dar, indem nicht das IndividuellKonkrete, sondern dass Systematisch-Allgemeine in den Vordergrund der Betrachtung gestellt wurde. Ohne selbst den Hut in den Ring zu werfen, also ein eigenes System zu entwerfen, waren es vor allem jüngere Ökonomen, die in den 1920er Jahren die methodologisch-epistemologischen Grundlagen nationalökonomischer Erkenntnis herausarbeiten wollten. 4.1.1 Begründungversuche der ökonomischen Theorie vor dem Ersten Weltkrieg Das Problem der methodologischen Begründung der theoretischen National­ ökonomie war bereits vor dem Ersten Weltkrieg intensiv diskutiert worden. Nicht allein Schmoller und andere Vertreter der Jüngeren Historischen Schule legten großes Gewicht auf Methodenfragen, auch die Arbeiten Mengers und seiner Schüler, vor allem Böhm-Bawerk und Wieser, waren durch das Bemühen gekennzeichnet, »eine neue Grundeinstellung für die ganze Theorie zu gewinnen.«10 Genauso suchten auch die deutschen, an der ökonomischen Theorie orientierten Nationalökonomen wie Dietzel oder Lexis in ihren Arbeiten 9 Schreiben Andreas Voigt an Hero Moeller (21.1.1918). UB Tübingen, Nl Moeller. 10 Strigl, Kategorien, S. III.

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häufig die grundlegenden ökonomischen Begriffe und Lehrsätze neu zu bestimmen.11 Hier zeigte sich, dass der Methodenstreit in seiner »heißen Phase« zwar von Schmoller abgebrochen worden war, die dahinter stehende Frage, welchen Wert eine abstrakte ökonomische Theorie für die Erkenntnis der wirtschaft­ lichen Verhältnisse hatte und wie man gleichzeitig den sozioökonomischen Rahmenbedingungen gerecht werden konnte, im Spannungsfeld von Klassik, Neoklassik und Historischer Schule weiter aktuell blieb. Die nationalökonomische Theorie war vor dem Weltkrieg offensichtlich zu wenig gefestigt, als dass die grundlegenden Voraussetzungen und Begriffe der theoretischen Analyse nicht noch zu klären und zu justieren gewesen wären. Genauso führte der Werturteilsstreit dazu, dass die methodologische Fundierung der wissenschaftlichen Arbeit zu einem entscheidenden Problem wurde. In der Weimarer Republik blieb die Frage der Werturteilsfreiheit virulent und sollte die Methodendebatte dieser Zeit stark beeinflussen, auch wenn Max Webers Lösung dieses Problems für die meisten nicht mehr akzeptabel erschien. Jedenfalls war bereits vor dem Krieg die Meinung zu hören, dass nirgendwo sonst Methodendiskussionen eine solche Rolle spielten wie in der deutschen Nationalökonomie.12 Im Ausland galt Deutschland als das Land der Methoden, wo die philosophischen Grundlagen der Ökonomie intensiv verhandelt wurden, über die man sich im angelsächsischen Raum zumeist wenig Gedanken machte. Exemplarisch dafür steht Schumpeters Habilitationsschrift Das ­Wesen und der Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie von 1908, in der es ihm darum ging, in Anlehnung an den logischen Positivismus Ernst Machs13 die »exakte« ökonomische Theorie auf ihre einfachsten, grundlegenden Voraussetzungen zurückführen und auf diese Weise eine Erkenntnistheorie der Ökonomie entwickeln.14 Schumpeter ging von der Annahme aus, dass alle Wirtschaftssubjekte sich stets im Besitz von Quantitäten bestimmter Güter befanden und die Veränderung einer Quantität eine automatische Anpassung der übrigen zur Folge hatte. Alle im individuellen Besitz befindlichen Güterquantitäten bildeten darum die Elemente eines Systems. Zentrale Aufgabe der exakten Ökonomie war es nun, dieses System zu beschreiben und seine Bewegungstendenzen zu definieren.15 Die beteiligten Individuen strebten dabei stets nach einer im Rahmen ihres Budgets maximalen Bedürfnisbefriedigung. Ziel war ein sog. Pareto-Opti­mum, dass nämlich kein Individuum seine Lage verbessern konnte, ohne dass sich ein anderes dabei schlechter stellte.16 Von diesen Vorannahmen ausgehend entwickelte Schumpeter anschließend innovative 11 Vgl. Kasprzok, S. 61 ff. 12 Lifschitz, Untersuchungen, S. 70. 13 Vgl. dazu Kesting, S. 41 ff. 14 Schumpeter, Wesen, S.XIV. 15 Ebd., S. 29. 16 Schumpeter beschrieb das Wirtschaftssubjekt, hier fand er eine schöne Metapher, als um­ geben von einem »Gürtel von Gleichungen«, die im Fall einer optimalen Bedürfnisbefrie­ digung aufgingen. Ebd., S. 71.

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Lösungen für einige nationalökonomische Zentralprobleme, von denen seine gegen Böhm-Bawerk gerichtete These von der zinslosen Statik sicherlich die bekannteste sein dürfte. Schumpeters Werk erfreute sich als Forschungsleistung vor dem Krieg, vielleicht mehr noch als seine Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, durchaus breiter Anerkennung. Selbst Schmoller rezipierte das Werk keinesfalls unfreund­ lich, fand es für den Lehrbetrieb allerdings zu kompliziert.17 Methodologisch handelte es sich letztlich um einen philosophisch reflektierten Versuch, das funktionale Zusammenspiel ökonomischer Größen im Rahmen eines theoretischen Systems zu beschreiben. Schumpeter entwarf gewissermaßen das Schema einer reinen Theorie, die davon ausging, dass die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten die gesellschaftliche Organisation des Wirtschaftslebens umfassten oder von letzterer zumindest nicht in ihrem Wesen berührt wurden. Dem extrem hohen Abstraktionsgrad des Werkes stand die deutsche Nationalökonomie jedoch allgemein skeptisch gegenüber18, weshalb es nicht verwundert, dass in der Methodendebatte der 1920er Jahre die 1911 erstmals erschienene Habilitationsschrift Objekt und Grundbegriffe der theoretischen Nationalökonomie des damals 28-jährigen Alfred Amonn weitaus mehr Beachtung fand. In diesem Werk wurden die sozialen Beziehungen als wesentliches Element der theoretischen Analyse entwickelt und damit der gesellschaftlichen Organisation des Wirtschaftslebens ein bedeutender Einfluss auf die theoretische Nationalökonomie zugestanden. Insbesondere auf die für Amonn zentrale Unterscheidung zwischen dem Erfahrungs- und dem Erkenntnisobjekt einer Wissenschaft wurde in der methodologischen Diskussion noch bis in die 1950er Jahre hinein immer wieder Bezug genommen.19 Für Amonn war eine Wissenschaft ein System logisch zusammenhängender Einzelerkenntnisse. Aus diesem Grund bedurfte sie eines logisch einheit­ lichen, d. h. für das logische Denken gleichgearteten Untersuchungsobjektes. Bei der Bestimmung dieses Untersuchungsobjektes galt es aber zwei Dinge zu vermeiden: einen naiven Empirismus, der sich beispielsweise in einem logisch voraussetzungslosen Wirtschaftsbegriff äußerte (die Wirtschaft wird einfach in der Wirklichkeit vorgefunden und beschrieben). Andererseits durfte das Unter­ suchungsobjekt der Nationalökonomie aber auch nicht mittels voraussetzungsloser Logik einfach konstruiert werden: »Das Objekt der Nationalökonomie darf nicht bestimmt werden als ein Objekt für eine noch nirgends existierende, erst zu schaffende Wissenschaft, die dann die Bezeichnung ›Nationalökonomie‹ halten oder führen dürfte, sondern als das Objekt, das die Eigenart jener Probleme begrifflich erfasst ausdrückt, welche zweifellos nach dem gegenwärtigen Zustande der Wissenschaft als die spezifisch nationalökonomischen gelten.«20 17 Schmoller, Volkswirtschaft, S. 264 f. 18 Typisch: Diehl, Literatur, S. 819 ff. 19 Vgl. selbst Liefmann, Wirtschaftstheorie, S. 3. 20 Amonn, Objekt, S. 14.

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Amonn lehnte sich hier an Max Webers Vermittlung zwischen Empiris­mus und Rationalismus an. Eine Wissenschaft wurde durch den logischen Zusammenhang ihrer Probleme konstituiert, die sie nicht ungefiltert aus der »Wirklichkeit« gewann, sondern die erst durch eine spezifische Fragestellung erzeugt wurden. Zugleich ließen sich aber mit Hilfe des auf diese Weise festgelegten Untersuchungsobjektes Ausschnitte aus der empirischen Realität so erfassen, dass die Ergebnisse der Forschung nicht nur für den einzelnen Forscher Geltung beanspruchen, sondern unter Explizierung der gemachten Voraussetzungen auch (dieses Beispiel verwendete Max Weber) einem Chinesen verständlich sein müssten.21 Amonn generalisierte das, was Weber über die wissenschaftliche Fragestellung geschrieben hatte, zum Begründungsproblem einer ganzen Wissenschaft, der Nationalökonomie. Letztere sah sich seiner Meinung nach zunächst mit einem »Erfahrungsobjekt« Wirtschaft konfrontiert, das aufgrund seiner Komplexität logisch nicht begriffen werden konnte. Es war dem Menschen bereits vor allem Denken unmittelbar gegeben und konnte begrifflich weder voll erfasst noch eindeutig definiert werden. Aufgrund seiner Variabilität und Vergänglichkeit interessierte es aber eigentlich auch gar nicht. Es besaß noch keine logischen Qualitäten, sondern war ein rein »psychologisches Produkt«.22 Das Erfahrungsobjekt der Nationalökonomie war also gewissermaßen die Wirtschaft, wie sie dem Menschen im alltäglichen Umgang entgegen trat: selbst­verständlich gegeben, wie in seiner Gesamt- und Vielheit dem Denken unzugänglich.23 Sofern also vom Objekt einer Wissenschaft gesprochen werden sollte, das sich begrifflich erkennen ließ und die Eigenart und Selbständigkeit einer Wissenschaft konstituierte, handelte es sich nach Amonn um ein »Erkenntnisobjekt«. Dieses Erkenntnisobjekt bestimmte er als ein abstraktes und unanschauliches Gedankengebilde, als das Produkt einer isolierenden und abstrahierenden Denktätigkeit. Es bildete gewissermaßen das »Reservoir«, aus dem spezifische Gesichtspunkte herausgehoben wurden, die dann das Erkenntnisobjekt der Nationalökonomie als Wissenschaft repräsentierten und die, wie gesehen, einen logischen Zusammenhang bilden mussten. Wesentlich war, dass aus ein und demselben Erfahrungsobjekt ganz unterschiedliche Erkenntnisobjekte abgeleitet werden konnten. Mit Menger unterschied Amonn z. B. zwischen theoretischer und historischer Nationalökonomie. Während letztere sich den konkreten Erscheinungsweisen der Wirtschaft möglichst anzunähern versuchte, entfernte sich die theoretische Nationalökonomie von ihr. Damit wiederum korrespondierte eine logisch unterschied­liche Struktur des jeweiligen Erkenntnisobjektes und eine andere Beziehung zum Erfahrungsobjekt: Während die historische Nationalökonomie vor allem die

21 Weber, »Objektivität«, S. 155 f. 22 Amonn, Objekt und Grundbegriffe, S. 23. 23 Ebd., S. 20 ff.

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individuellen Merkmale des letzteren erfassen wollte, zielte das theoretische Erkenntnisobjekt auf die Heraushebung dessen genereller Eigenschaften.24 Was die Nationalökonomie seiner Meinung nach am Erfahrungsobjekt Wirtschaft in erster Linie interessierte, waren nicht dessen technische oder psychologische Seite, sondern die sozialen Beziehungen.25 Während Schumpeters Beschreibung der Nationalökonomie als eines gedanklichen Systems funktional zusammenhängender Quantitäten Amonn zu abstrakt war, warf er den Historisten vor, die generellen Merkmale des Erfahrungsobjektes ungebührlich vernachlässigt zu haben. Die Nationalökonomie hatte für ihn wesentlich mit Tatsachen zu tun, die nur unter der Voraussetzung sozialen Zusammenlebens und Zusammenwirkens der Menschen, also eines irgendwie gearteten sozialen Verkehrs denkbar und möglich waren.26 Die gegenseitige Bedingtheit sozialen Handelns hielt er für eine unhintergehbare Voraussetzung der theoretischen Nationalökonomie. Dementsprechend bildeten die sozialen Beziehungen bzw. ihre sozial bedingte Gesetzmäßigkeit und Regelmäßigkeit das Erkenntnisobjekt der Nationalökonomie als einer theoretischen Sozialwissenschaft.27 Amonns strenges, wegen der langatmigen Auseinandersetzungen mit den Begriffs- und Objektbestimmungen anderer Autoren allerdings mühsam zu lesendes Werk28 stellte in mancherlei Hinsicht die Weichen für die methodologische Diskussion der 1920er Jahre. Die Unterscheidung zwischen Erfahrungs- und Erkenntnisobjekt erwies sich als praktikabel, um anzugeben, wie der Gegenstand der Nationalökonomie theoretisch bestimmt werden sollte. Sie bot zudem ein Instrumentarium, um den schroffen Gegensatz zwischen der theoretischen und der historischen Betrachtungsweise zu überwinden, indem Ammon dieses Verhältnis als ein Problem des Abstraktionsgrades formulierte. Damit wurde es zugleich möglich, die gesellschaftliche Organisation des Wirtschaftslebens in die theoretische Betrachtung mit einzubeziehen, was Amonn insbesondere in seiner Kritik an Schumpeters methodologischen Überlegungen deutlich machte, deren extremen Abstraktionsgrad er mit einer Verkennung der sozialen Dimension der Wirtschaft gleichsetzte. Damit machte er im selben Atemzug gegenüber der österreichischen Neoklassik klar, dass nicht davon ausgegangen werden konnte, dass die ökonomischen Gesetze sämtliche Phänomene der Wirklichkeit umfassten29, sondern seiner Ansicht nach nur als im Erfahrungsobjekt vorgefundene Regelmäßigkeiten beschrieben werden konnten. Zugleich nahm Amonn eine deutliche Diskriminierung vor, wobei es sich um Wissenschaft handelte und wobei nicht. Zwar warf er Schumpeter oder 24 Ebd., S. 26. Genauso war aber auch eine Betrachtung des Erfahrungsobjekts Wirtschaft unter, beispielsweise, psychologischen oder technologischen Gesichtspunkten möglich. 25 Ebd., S. 90. 26 Ebd., S. 177. 27 Ebd., S. 178. 28 Amonn setzte sich z. B. auf 80 engbeschriebenen Seiten mit dem Gutsbegriff in der Literatur auseinander. 29 Mises, Grundprobleme.

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Schmoller kein in dem Sinne »falsches« Erkenntnisobjekt vor, sondern lediglich, dass ihres nicht taugte, als Grundlage einer Nationalökonomie als wissenschaftlicher Disziplin zu dienen. Daraus folgte dann aber, dass deren Werke vielleicht Geschichte, Psychologie, Sozialphysik oder was auch immer waren, aber eben keine theoretische Nationalökonomie. Wenn er signifikanterweise versuchte, die Wissenschaft als ein in sich logisches System von Einzelerkenntnissen zu bestimmen, schloss er damit einen Methodenpluralismus von vornherein apodiktisch aus. Auch darin wies sein Werk auf die Diskussion der 1920er Jahre voraus. 4.1.2 Der Gegensatz von reiner und sozialer Theorie in der Methodendiskussion der Weimarer Republik Amonns Werk war ein zentraler Referenzpunkt der nach dem Weltkrieg vermehrten Versuche, die methodologischen Grundlagen der theoretischen Nationalökonomie herauszuarbeiten. Seine Arbeit umriss die zentralen Probleme, die den Gegenstand der methodologischen Forschung darstellten, das Problem, mit welchem Untersuchungsobjekt sich die theoretische Nationalökonomie zu beschäftigen hatte und auf welche Art und Weise sie sich diesem erkennend nähern konnte. Daraus leitete sich zweitens die Frage nach den grundlegenden Begriffen und Kategorien ab, mit denen sich dieses Untersuchungsobjekt adäquat beschreiben und seine Funktionsweise erfassen ließ. Solche Definitionsfragen hatten zwar besonders in den Werken der Österreichischen Schule seit jeher eine wichtige Rolle gespielt, jedoch formulierte Amonns Werk die Aufgabe der methodologischen Forschung in einer Weise, die für spätere Bemühungen anschlussfähiger war als die Arbeiten der Letztgenannten, weil er der sozialen Dimension des Wirtschaftens, auf die zeitgenössisch so viel Wert gelegt wurde, Rechnung trug. Die große Welle methodologischer Forschung nach dem Ersten Weltkrieg setzte Anfang der 1920er Jahre ein. Wie Emil Lederer schrieb, machte sich in der Disziplin die Einsicht breit, dass es noch völlig unbestimmt war, womit sich die ökonomische Theorie eigentlich beschäftigte und was ihre grundlegenden Begriffe und Kategorien waren.30 Mehr noch: Es gab eine tiefe Unsicherheit, was überhaupt die Grundlagen nationalökonomischer Erkenntnis sein konnten. Nachdem sich, wie im letzten Kapitel gesehen, kein System der theoretischen Ökonomie als neues Paradigma in der Disziplin etablierte, stellten methodo­ logische Untersuchungen Vorarbeiten dar, auf denen aufbauend ein solches System später errichtet werden konnte. Einen breit rezipierten Versuch, die Aufgaben der nationalökonomischen Theorie spezifischer zu fassen und ihren logischen Rahmen zu umreißen, stellte beispielsweise die 1923 erschienene Arbeit des in Deutschland lebenden 30 Lederer, Grundzüge, S. 4.

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S­ chweden Sven Helander dar.31 Helander wollte, wie er schrieb, keine philo­ sophische Abhandlung schreiben, sondern die reine Theorie (Klassik und Neoklassik) mit der historischen Wirtschaftswissenschaft vergleichen und diese nach ihrer Leistungsfähigkeit beurteilen. Die Kernaussage seines Buches lautete, dass die theoretische und die historische Nationalökonomie zwar im Gegensatz zueinander stünden, dennoch nicht unvereinbar miteinander, »sondern Teile eines größeren Systems«32 seien. Den Hang zur Systembildung erklärte Helander charakteristischerweise aus dem deutschen Nationalcharakter: Das »faustisch Allseitige« des Lebens würde hier unter einem einheitlichen Gesichtspunkt zusammengefasst und bis in die Details vereinheitlicht.33 Die bei der einheitlichen Durchbildung des Stoffes auftretenden philosophischen Schwierigkeiten waren jedoch seiner Ansicht nach für die Breite der Methodendebatten in Deutschland verantwortlich: »Im Lande Kants und Hegels führen die Nationalökonomen alle 10 Jahre einen neuen Methodenkrieg – in der englischen Nationalökonomie ist mir kein einziger Methodenkrieg bekannt.«34 Reine Theorie und historische Nationalökonomie unterschieden sich nach Helander in ihrem Ausgangspunkt voneinander. Die reine Theorie ­behauptete die Geltung überzeitlicher Gesetze, ging vom wirtschaftenden Individuum aus und bevorzugte die statische Gleichgewichtsanalyse. Hingegen koppelte die historische Nationalökonomie ihre Aussagen an bestimmte historische Bedingungen, nahm soziale Formationen statt Individuen zum Ausgangspunkt und vertrat eine dynamische Betrachtungsweise, welche dem Staat einen größeren Stellenwert einräumte.35 Helander blieb indes bei diesen Dichotomien nicht stehen, sondern bestimmte die unterschiedlichen Herangehensweisen an die Ökonomie – wie Amonn – als ein Problem des Abstraktionsgrades. Die Abstufung nach diesem Kriterium reichte von der reinen Theorie über die historische Theorie und idealtypische Darstellung zur bloßen Wirtschaftsbeschreibung.36 Die reine Theorie charakterisierte Helander durch ihren überzeitlichen Geltungsanspruch, entweder absolut richtig oder absolut falsch zu sein. Eine nur historisch richtige Theorie könne nicht rein sein. Wenn er schrieb, die reine Theorie habe alle theoretischen Teile der Wirtschaftswissenschaft gleichmäßig und systematisch auszubauen, dann wurde ihr offensichtlich die Rolle des systematischen Unterbaus der Nationalökonomie zugeschrieben.37 Bei der historischen Theorie war nach Helander ein solcher Systemcharakter jedoch offensichtlich kaum zu erreichen; ihre Aufgabe bestand vielmehr darin, die idealtypisch ver31 Helander, Ausgangspunkte. 32 Ebd., S. 114. 33 Ebd., S. 11. 34 Ebd., S.  9. Zur Tradition des Gegensatzes zwischen Deutschland und England: Roscher, Geschichte, S.  1. Sombart, Händler, S.  47 f. Spengler, Preußentum. Schmitt, Begriff, S.  28. Wieden­feld, Persönliche. 35 Helander, Ausgangspunkte. 36 Ebd., S. 51 f. 37 Ebd., S. 54.

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arbeitete wirtschaftliche Wirklichkeit in ihrer historischen Eigenart systematisch darzustellen. Die Wirtschaftsbeschreibung zielte zuletzt ausschließlich auf das Individuell-Besondere, ohne zu einer Systematisierung der wirtschaftlichen Phänomene zu gelangen. Amonn wie Helander waren bestrebt, den Unterschied zwischen historischer und theoretischer Nationalökonomie als ein Problem des Abstraktionsgrades zu formulieren und einen fundamentalen Gegensatz dieser beiden Perspek­tiven auf die Ökonomie zu negieren, was im Übrigen auch Schumpeters Position gewesen war.38 Die ökonomische Theorie konnte überdies, auch darin waren sich Amonn, Helander und Schumpeter grundsätzlich einig, die historische Betrachtung anleiten. Trotzdem machte es sich aber gerade Helander zu einfach, weil er der logischen Spannung nicht ausreichend Rechnung trug, die darin bestand, ökonomische Gesetzmäßigkeiten auf einem strikten Abstraktionsniveau als allgemein und überzeitlich geltend anzunehmen, sie aber auf einer niedrigeren Abstraktionsstufe durch einen institutionellen Rahmen bedingt zu betrachten. Amonns Argumentation war an dieser Stelle differenzierter, weil für ihn theoretische Aussagen an ein bestimmtes Erfahrungsobjekt gebunden waren: Dieses konnte sich so verändern, dass beispielsweise die über eine vergangene Epoche getroffenen Aussagen für die Gegenwart keine Geltung mehr beanspruchen konnten. Amonn machte dementsprechend sein Erkenntnis­objekt der theoretischen Nationalökonomie an einer bestimmten zivilisatorischen Entwicklungsstufe fest, die Privateigentum und Vertragsfreiheit voraussetzte, die sich in der europäischen Geschichte bekanntermaßen erst im 19. Jahrhundert voll durchgesetzt haben.39 Mit solchen Einschränkungen wollten sich jedoch viele Vertreter der ökonomischen Theorie nicht abfinden. Liefmann kritisierte beispielsweise an ­Sombarts Konzept des Wirtschaftssystems, dass wenn dieser zwischen sieben historischen Wirtschaftssystemen unterschied, es folglich sieben verschiedene Wirtschaftstheorien geben müsste, was Sombart wiederum gar nicht problematisch fand.40 Wenn Max Weber die Grenznutzentheorie als Bildung von Idealtypen bezeichnete, dann traf er damit einen Punkt, auf den z. B. Mises äußerst empfindlich reagierte41, dass die Geltungskraft der Aussagen der ökonomischen Theorie nämlich an bestimmte institutionelle Begebenheiten, wie die historisch kontingente Erscheinungsform des modernen Kapitalismus, geknüpft sein könnte. In eine ähnliche Richtung zielten auch Überlegungen, in den ökonomischen Grundbegriffen fiktionale Kategorien zu sehen, wie es von manchen Ökonomen 38 Schumpeter, Wesen, S. 41 f. 39 Nach Helander war es das Neue an Amonns Objekt und Grundbegriffe, dass ein Grenz­ nutzentheoretiker sich »zum Sozialprinzip bekannte«. Helander, Ausgangspunkt, S. 64. 40 Liefmann, Wirtschaftstheorie, S. 28 f. Ders., Grundsätze, Bd. 1, S. 187 f.: Zu Liefmanns Kritik an der Methodologie Amonns vgl. ebd., S. 119 ff. Der Vorwurf, es müsse ebenso viele ökonomische Theorien wie Wirtschaftsstufen geben, wurde übrigens bereits von Menger gegen Schmoller vorgebracht. Zimmermann, Schmoller, S. 739 41 Mises, Grundprobleme, S. 74 ff., 87.

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mit Bezug auf den philosophischen Ansatz Hans Vaihingers versucht wurde.42 Vaihingers Grundproblem bestand im Anschluss an Kant im Problem des Verhältnisses von Denken und Wirklichkeit. Seines Erachtens verfälschte das Denken die Realität, in dem aus dem »Chaos der Empfindungen« im Denken klar unterschiedene Verstandesbegriffe hervortraten, die umgekehrt für das Denken die Wirklichkeit ausmachten.43 Die Kategorien und Begriffe waren darum immer fiktional, weil sie die Wirklichkeit nicht erfassten, sondern einen logischen Zusammenhang für sich bildeten. Deshalb war es für die Wirtschafts­ theorie legitim, die Wirklichkeit aus heuristischen Gründen so zu beschreiben, »als ob« ihre Aussagen Geltung beanspruchen könnten, um auf diese Weise zum Erkenntnisfortschritt beizutragen. Es handelte sich jedoch nicht um eine ab­ bildende Beschreibung wirtschaftlicher Zusammenhänge.44 All diese Relativierungen, Zurücknahmen des eigenen Erkenntnisanspruchs, epistemologischen Skrupel, Einbettungen in die historisch-institutionellen Rah­ menbedingungen waren jedoch denjenigen Ökonomen ein Graus, welche die ökonomische Theorie als ein System von Gesetzmäßigkeiten begreifen wollten, das die sozialen Verkehrsbeziehungen umfasste, und für die keine, die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten wiederum umfassenden Kausalitäten vorstellbar waren. Exemplarisch für diesen vor allem von der Österreichischen Schule vertretenen Standpunkt kann die zwischen Stolzmann und Böhm-Bawerk kurz vor dem Ersten Weltkrieg ausgefochtene Debatte stehen, ob Machtfaktoren oder ökonomische Gesetze die Funktionsweise des Wirtschaftslebens bestimmten. Böhm-Bawerks zentrales Argument war, dass sich Machtfaktoren stets nur innerhalb des durch die ökonomischen Gesetze definierten Rahmens auswirken konnten. Wenn eine Gewerkschaft beispielsweise in einem Unternehmen drastische Lohnerhöhungen durchsetzte, war der Unternehmer aufgrund der ökonomischen Rentabilitätserfordernisse evtl. gezwungen, seinen Betrieb stillzu­legen. Staatsintervention wiederum konnte die ökonomischen Größen verändern, deren funktionales Zusammenspiel aber bestenfalls behindern oder verformen. Keinesfalls war der Staat in der Lage, die Wirtschaft in irgendeiner Form zu steuern oder gar zu beherrschen.45 Ein Versuch, die Ökonomie als Gesetzeswissenschaft in diesem Sinne metho­ dologisch zu begründen, war die 1923 erschienene Arbeit des jungen Österreichers Richard Strigl über die Ökonomischen Kategorien und die Organisation der Wirtschaft.46 Strigl benannte gleich zu Anfang das zentrale Problem, dass die ökonomische Theorie, wie Menger, Böhm-Bawerk und andere sie entwickelt hatten, zwar in gewisser Weise bereits ein in sich abgeschlossenes Gebilde dar42 Vaihinger. Wolff, Homo Oeconomicus. 43 Vaihinger, S. 286 ff. 44 Vgl. Honegger, Gedankenströmungen, S. 126. Sombart, Nationalökonomien, S. 184. Miksch, Wettbewerb. 45 Böhm-Bawerk, Macht. 46 Strigl, Kategorien.

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stellte, jedoch unklar war, was geschah, wenn diese Theorie auf gesellschaft­liche Phänomene angewendet wurde.47 Die Verhältnisbestimmung zwischen der ökonomischen Theorie und den gesellschaftlichen Verhältnissen wurde von Strigl als ein Problem erkannt, auf das die österreichische Neoklassik eine Antwort geben musste, wollte sie in der zeitgenössischen Debatte weiterhin eine Rolle spielen. Dabei ging er zunächst davon aus, dass es die Nationalökonomie als Wissenschaft deswegen besonders schwer hatte, weil sie es mit einem »verdorbenen« Erfahrungsmaterial zu tun hatte: »Wir können kaum eines der Worte, welche die einfachsten Begriffe der Wirtschaftslehre bezeichnen sollen, ansprechen, ohne an technische, psychologische, ethische oder ›soziale‹ Zusammenhänge zu denken.«48 Wenn es jedoch wirtschaftliche Gesetze gab und diese in einem wissenschaftlichen System erfasst werden sollten, mussten die Probleme als rein-ökonomische isoliert werden.49 Alles »Meta-Ökonomische« (womit Strigl die gesellschaftliche Organisation der Wirtschaft im weitesten Sinne bezeichnete) war zunächst aus der Betrachtung herauszuhalten. Wenn aber das, was im heterogenen Erfahrungsobjekt als »Wirtschaft« erschien, durch einen gemeinsamen Problemzusammenhang charakterisiert war, wenn sich das scheinbar Verschiedene als »Wirtschaft« bezeichnen ließ, dann musste es nach Strigl möglich sein, über die einzelnen Wirtschaftstheorien eine letzte, allgemeine theo­ retische Ökonomie zu setzen. Aus diesem Grundgedanken leitete sich für Strigl das Anforderungsprofil an eine methodologische Begründung der theoretischen Nationalökonomie ab: Es galt, das im Sinne einer theoretischen Wissenschaft »Rein-ökonomische« festzuhalten und den theoretischen Rahmen dabei zugleich so allgemein zu formulieren, dass wirklich alles erfasst wurde, was von der Fachwissenschaft »in ihren denkbar weitesten Gesetzen« umspannt werden konnte. Zu diesem Zweck wollte Strigl allgemeine Begriffe entwickeln, die er als ökonomische Kategorien bestimmte.50 Sie sollten dazu dienen, eine exakte ökonomische Theorie zu konstruieren, die aus der komplexen Erfahrung das Rein-ökonomische hervorhob. Nach Strigl konnte mit ihrer Hilfe anschließend das Verhältnis zwischen dem Reinökonomischen und dem Metaökonomischen geklärt werden, indem letzteres als der Inhalt der ökonomischen Kategorien erschien: »Die Sätze, welche uns nun die Ausgestaltung dieser Kategorien in einer konkreten Situation angeben, wollen wir die Organisation der Wirtschaft nennen.«51 Diese Organisation erfasste alles Historisch-Relative in der Wirtschaft. Die metaökono­mischen Elemente, die für die Wirtschaft relevant werden konnten, mussten Teile der Wirtschaftsorganisation werden, die jedoch von den allgemeinen ökonomi47 Ebd., S. IV. 48 Ebd., S. 5. 49 Ebd., S. 6. »Die Erfahrung als Gegenstand der theoretischen Nationalökonomie betrachten heißt das rein-ökonomische in ihr sehen.« 50 Ebd., S. 9 f. 51 Ebd., S. 15 f.

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schen Kategorien umfasst wurden. Wenn von Wirtschaft überhaupt die Rede sein konnte, gab es nach Strigl also nichts, was die allgemeinen Begriffe, welche die ökonomischen Kategorien bildeten, wiederum bedingte: »Wenn Wirtschaft jeder Erfahrungsinhalt ist, der in den allgemeinen Begriffen der ökonomischen Kategorien eingefasst werden kann, wenn weiter die Organisation der Wirtschaft jene Determinanten erfasst, welche die konkrete Ausgestaltung der ökonomischen Kategorien ergeben, wenn die Wirtschaftstheorie die Gesetze aufzeigt, welche sich aus den ökonomischen Kategorien ableiten lassen, dann ist die empirische Wissenschaft ein Dasein, das nach diesen allgemeinen Gesetzen bestimmt ist, dann ist die Nationalökonomie als eine theoretische Wissenschaft von empirischen Erscheinungen begründet.«52 Die Nationalökonomie wurde insofern als eine empirische Wissenschaft analog den Naturwissenschaften verstanden, in denen gleichfalls die wirkenden Kräfte grundsätzlich bekannt waren, nur das Detail der Bedingungen, unter denen sie wirkten, kontextabhängig variieren konnte und jeweils konkret bestimmt werden musste. Amonns Erkenntnisobjekt der theoretischen Nationalökonomie hatte insofern den Fehler, nicht abstrakt genug zu sein und die historisch-konkreten Bedingungen in die Aufstellung von Kategorien einzubauen.53 Prinzipiell mussten die ökonomischen Kategorien auch in der Lage sein, verkehrslose Wirtschaftsakte zu umfassen, also selbst vom Phänomen des ­Tausches zu abstrahieren. Gegenüber Schumpeter ging Strigl in diesem Punkt noch einen Schritt weiter. Den allgemeinsten, unhintergehbaren Ausgangspunkt der ökonomischen Theorie benannte er in der »Lebensnot« des Menschen, was schlicht meinte, dass die begrenzte Menge der Güter den Menschen dazu nötigte, mit ihnen zu wirtschaften.54 An folgenden Voraussetzungen konnte nach Strigl nicht gezweifelt werden: Ein Wirtschaftssubjekt verfügte über (knappe) Güter, für die ihm bestimmte Verwendungsmöglichkeiten offen standen. Außerdem hatte er diese Güter nach ihrer Wichtigkeit in eine Wertskala gereiht.55 Das waren für Strigl die ökonomischen Kategorien, die den logischen Rahmen jeder theoretischen Betrachtung der Wirtschaft bilden mussten.56 Diese ökonomischen Kategorien waren aufgrund ihres maximalen Abstraktionsgrades extrem inhaltsleer und ohne jegliche normative Aussagekraft: Genauso wie es in der Mechanik keine »richtige« oder »falsche« Bewegung gab, konnte es im logischen Rahmen der ökonomischen Kategorien kein wirtschaftliches oder unwirtschaftliches Handeln geben. Darum bildete z. B. das sog. wirtschaftliche Prinzip, welches besagte, dass die Menschen mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln möglichst wirtschaftlich umgingen, keine Kategorie. Zu solchen Bewertungen konnte die Wissenschaft erst gelangen, wenn sie 52 Ebd., S. 17. 53 Ebd., S. 24 ff. 54 Ebd., S. 28. 55 Ebd., S. 49. 56 Ebd., S. 123.

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die Organisation der Wirtschaft untersuchte, die als konkrete Ausgestaltung der ökonomischen Kategorien anzusehen war.57 Strigls Arbeit stellte den spannenden und zugleich problematischen Versuch dar, diejenigen Wissenschaftler mit ihren eigenen Waffen zu schlagen, die in bestimmten institutionellen Rahmenbedingungen die Voraussetzung für die Geltungskraft der ökonomischen Theorie erblickten. Deren Argument beispielsweise, dass erst die moderne Verkehrswirtschaft Zustände geschaffen habe, auf welche die Annahmen der ökonomischen Theorie anwendbar waren, drehte Strigl einfach um, indem er die institutionellen Rahmenbedingungen als konkrete Ausgestaltung der ökonomischen Kategorien betrachtete. Die universelle Geltung dieser Kategorien garantierte, dass bei der Betrachtung der Wirtschaft in jedem historisch-konkreten Zustand die theoretische Ökonomik als Gesetzeswissenschaft möglich war. Bei der Analogie zwischen theoretischer Nationalökonomie und den Naturwissenschaften trat jedoch ein Problem auf: selbst wenn sich durch maximale Abstraktion bestimmte allgemeine Kategorien konstruieren ließen, die als Grundgerüst einer theoretischen Nationalökonomie aufgefasst werden konnten, sagten diese Kategorien über den funktionalen Zusammenhang der ökonomischen Größen noch nichts aus. Es waren eben keine Gesetze, die Strigl als den allgemeinen Rahmen der theoretischen Nationalökonomie bestimmte, sondern Kategorien, die lediglich als Garantie zu verstehen waren, dass sich das Wirtschaftsleben jederzeit durch bestimmte Gesetze erklären ließ. Die formale Fassung dieser Gesetze wies sich damit dann aber als historisch wandelbar aus58, was für die Mechanik beispielsweise nicht zu akzeptieren gewesen wäre. Damit wurde aus dem Unterfangen, einen allgemeinen logischen Rahmen für die Wirtschaftstheorie zu postulieren, zugleich der problematische Versuch, zwei verschiedene Sichtweisen von ökonomischer Theorie miteinander zu versöhnen. Strigl sprach mithin von ökonomischen Gesetzen, ohne in seiner eigenen Theorie einen Ort zu finden, an dem er diese Gesetze, im strengen österreichischen Sinn des Wortes, eigentlich verankern konnte.59 Aus Sicht des wohl radikalsten Vertreters des Apriori-Charakters der ökonomischen Theorie während der Weimarer Republik, Ludwig Mises60, sah Strigl ohnehin Probleme dort, wo eigentlich keine waren, und machte sich damit die Sache bei weitem zu kompliziert.61 Mises ging einfach davon aus, dass es allge57 Ebd., S. 111 ff. 58 Ebd. 59 Neisser, Rezension zu Strigl, S. 554 f. 60 Zu Mises vgl. Hülsmann. Hayek, Einführung. 61 Hier zeigt sich im Übrigen eine Fraktionierung innerhalb der Österreichischen Schule, die sich an dem Gegensatz zwischen den Protagonisten der zweiten Generation der Österreichischen Schule, Wieser und Böhm-Bawerk, fest machen lässt. Wieser und seine Schüler (wie z. B. Hans Mayer und Richard Strigl), waren weitaus eher geneigt, der gesellschaft­ lichen Organisation einen Eigenwert zuzugestehen und Machtfaktoren Bedeutung zuzumessen, was insbesondere der Böhm-Bawerks Schüler Mises strikt ablehnte. Strigl, Lohntheorie, S. 79 f. Mayer, Wieser, S. 186.

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meingültige Gesetze menschlichen Handelns gab und folglich das gesamte soziale Leben von bestimmten Gesetzmäßigkeiten eingefasst wurde, die sich aus den Bestimmungsgründen des menschlichen Handelns ableiten ließen: »Die Wissenschaft vom menschlichen Handeln, die nach allgemeingültiger Erkenntnis strebt, steht vor uns als System der Gesellschaftslehre; in ihr ist das bisher am feinsten ausgearbeitete Stück die Nationalökonomie. Diese Wissenschaft ist in all ihren Teilen nicht-empirische, sondern apriorische Wissenschaft; sie stammt wie Logik und Mathematik nicht aus der Erfahrung, sie geht ihr voran. Sie ist gewissermaßen die Logik des Handelns und der Tat.«62 Dieser apriorische und nach Mises durch keine Empirie zu widerlegende Ausgangspunkt bestand darin, dass der Mensch nach dem wirtschaftlichen Prinzip handelte, d. h. das Angenehme dem Unangenehmen vorzog und in jeder seiner Handlungen die eigene Lage zu verbessern trachtete.63 Die logische Struktur des menschlichen Denkens und die kategoriale Natur des menschlichen Handelns blieben sich für Mises immer gleich: Der Mensch war für ihn ein zweckrationales Wesen; allein die Mittel, um ein Ziel zu erreichen, konnten als unpraktisch oder irrational erscheinen. Von seiner Zwecksetzung her war menschliches Handeln grundsätzlich immer rational.64 Somit galt beispielsweise der Grenznutzenansatz für Mises auch zu früheren Zeiten: »Auch der Mensch des Mittelalters hat die ihm zur Verfügung stehenden Mittel so zu verteilen gesucht, dass er jeder einzelnen Bedürfnisgattung das gleiche Niveau der Befriedigung erreichte.«65 Mises unterlief die Begründungsproblematik nationalökonomischer Erkenntnis, indem er einen schlechthin unwiderlegbaren Begriff menschlichen Handelns zugrundelegte, der aber zugleich tautologisch und inhaltsleer war: Schließlich ließ sich jedes menschliche Handeln (auch der Selbstmord) als Ausdruck einer individuellen Nutzenfunktion deuten.66 Das »wirtschaftliche Prinzip« hätte, um aussagekräftig zu werden, von Mises inhaltlich spezifiziert werden müssen. Dadurch wiederum wäre allerdings der apriorische Charakter seines Theorieverständnisses in Frage gestellt worden: Eine solche inhaltliche Konkretisierung hätte ihn einerseits gegen die Kritik angreifbar gemacht, dass historisch Angenehmes und Unangenehmes mitunter ganz anders bestimmt wurden, als unter den Bedingungen der modernen Geldwirtschaft. Zum anderen bestand ein Problem darin, dass bei einer Bestimmung des menschliches Handeln als stets rational jede inhaltliche Konkretisierung dazu führen musste, den Rationalitätscharakter eines auf andere Ziele orientierten Handelns im­plizit doch wieder in Frage zu stellen. Für Mises war die Nationalökonomie Teil  einer allgemeinen Sozialwissenschaft, die sich mit dem menschlichen Handeln beschäftigte. Bereits in seinem 62 Mises, Grundprobleme, S. 12. 63 Ebd., S. 23, 29. Ders., Gemeinwirtschaft, S. 114 f. 64 Ebd., S. 32 f. 65 Ebd., S. 92. 66 Zur zeitgenössischen Kritik s. Riemer, Struktur, S. 550 f.

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Buch Die Gemeinwirtschaft67 von 1922 war er davon ausgegangen, dass mittels eines strengen methodologischen Individualismus und der hedonistisch-eigennutzorientierten Interpretation menschlichen Handelns eine allgemeine Gesellschaftstheorie zu begründen sei, die auf die Erkenntnis sozialer Gesetzmäßigkeiten zielte. Die Nationalökonomie erschien in diesem Kontext (als Lehre vom menschlichen Handeln in Bezug auf wirtschaftliche Zusammenhänge) als der bestausgearbeitete Teil dieser noch zu schaffenden, universalen Wissenschaft. Als wissenschaftliche Disziplin war sie für Mises absolut wertfrei: »Durch ihren Subjektivismus wird die moderne Theorie objektive Wissenschaft. Sie wertet das Handeln nicht, sie nimmt es so hin, wie es ist, und erklärt die Markterscheinungen nicht aus dem ›richtigen‹ Handeln, sondern aus dem gegebenen Handeln.«68 Diese postulierte Wertfreiheit sollte jedoch nicht daran hindern, die Nationalökonomie daraufhin zu befragen, welche Mittel anzuwenden seien, um bestimmte Ziele möglichst zweckmäßig zu erreichen. Bezüglich der Gesamtwirtschaft gab es für Mises an dieser Stelle nur eine Antwort: »Der Liberalismus ist die Politik, die dem mit Mitteln der Wissenschaft über die Probleme des menschlichen Wirkens und Handelns Nachdenkenden als der einzige Weg erscheinen muss, der für ihn und die Seinen […] zu dauerndem Wohlstand zu führen vermag.«69 Hatte Strigl die Amonnsche Unterscheidung von Erfahrungs- und Erkenntnisobjekt noch in seinen Ansatz zu integrieren versucht, erschien diese Differenzierung von Mises Ausgangspunkt her völlig nutzlos. Wenn sich anhand universeller Prinzipien des menschlichen Handelns eine allgemeine Sozialwissenschaft begründen ließ, musste kein Erkenntnisobjekt aus der Erfahrungswelt mehr herausgeschnitten werden.70 Es handelte sich vielmehr um ein universell anwendbares Schema, um vorgeblich jeglichen Tatbestand des sozialen Lebens realistisch zu beschreiben.71 In der Ablehnung der Amonnschen Unterscheidung sowie von Max Webers Konzept des Idealtypus zeigen sich übrigens gewisse strukturelle Parallelen zu der im folgenden Abschnitt zu behandelnden »anschaulichen« bzw. »verstehenden« Theorie, was Mises indes weit von sich gewiesen hätte. Zusammenfassend lassen sich mit dem Gegensatz von sozialer und reiner Theorie zwei Arten der ökonomischen Theoriebildung idealtypisch unterschei67 Mises, Gemeinwirtschaft. 68 Ders., Grundprobleme, S. 169. 69 Ebd., S. 37. 70 Übernimmt man die Unterscheidung Leijonhufvuds zwischen Theorien, als »a »patterned set of substantive beliefs« about how the economic system works«, und Modellen, als »the formal representation of a theory, or of a subset of it, or some aspect of it«, lässt sich bei ­Mises vom Gebrauch von Modellen (ähnlich wie bei Menger) nicht sprechen. Mises Theorie »repräsentierte« keinen Nominalgegenstand, sondern beanspruchte einen Realgegenstand so zu beschreiben, wie er wirklich war. Leijonhufvud, Schools, S. 70. 71 In einer früheren Arbeit vertrat Mises indes noch eine Auffassung, die Max Webers Über­ legungen stärkere Konzessionen machte. Mises, Wirtschaftsrechnung, S. 103.

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den, die tendenziell den Gegensatz zwischen der deutschen Nationalökonomie und der Österreichischen Schule auch durch die Weimarer Republik hinweg fortschrieben. Die Vertreter der Österreichischen Schule betonten in der Regel den unhintergehbaren Charakter der ökonomischen Gesetzmäßigkeiten. Letztere umfassten die gesellschaftliche Organisation der Wirtschaft und waren aus diesem Grund nicht an bestimmte, nur historisch zu erklärende, institutionelle Voraussetzungen gebunden.72 Dagegen wurde in Deutschland die Geltungskraft theoretischer Aussagen zumeist von dem Bestehen solcher institutioneller Rahmenbedingungen abhängig gemacht. Eine ökonomische Theorie »als eine ›natürliche‹, jenseits aller wirtschaftlichen Formen existierende Mechanik des wirtschaftlichen Handelns«, könne nicht gedacht werden, meinte Emil ­Lederer.73 Ganz ähnlich hatte auch Max Weber geglaubt, der heuristische Wert der ökonomischen Theoriebildung zeige sich erst unter den Bedingungen des entfalteten Kapitalismus.74 Sie knüpften ökonomische Theoriebildung an die Existenz der sozialen Ordnung des modernen Kapitalismus, deren theoretische Erfassung aus diesem Grund für die Fundamentierung der ökonomischen Theorie unerlässlich war. 4.1.3 Konsequenzen des Gegensatzes von reiner und sozialer Theorie Diese unterschiedlichen Formen der Theoriebildung hatten keineswegs Konsequenzen allein für die Frage, ob den Sätzen der ökonomischen Theorie eine eher heuristische Funktion zukam oder ob sie substantielle Aussagen über die Wirklichkeit darstellten. Vielmehr verbanden sich damit weitaus durchschlagendere Implikationen: es wurde eine grundlegende Vorentscheidung über die Art und Weise der ökonomischen Theoriebildung getroffen. Zugleich verknüpften sich damit unterschiedliche Aussagen über die Funktionsweise der Wirtschaft und daran anschließend wirtschaftspolitische Handlungsempfehlungen. An zwei Punkten lässt sich das exemplarisch verdeutlichen: den unterschied­ lichen Auffassungen des ökonomischen Wettbewerbs sowie dem Gegensatz von Statik und Dynamik. Die Form der Theoriebildung, welche die Aussagen der ökonomischen Theorie nur im Rahmen der gesellschaftlichen Organisation der Wirtschaft gelten ließ, vertrat im Vergleich zu Klassik und Neoklassik zumeist eine Auffassung des Wettbewerbs als kämpferische Auseinandersetzung.75 Im Unterschied dazu 72 Hesse, Gegenstand, S. 166 f., 173, 176. 73 Lederer, Grundzüge, S. 4. Heimann, Soziale Theorie, S. 210 ff. 74 Weber, Grenznutzenlehre, S. 396 f. Ders., »Objektivität«, S. 190 f. Vgl. auch Sombart, Welt­ anschauung, S. 765 f. 75 Weber, Zwischenbetrachtung, S. 544. Ders., Wirtschaft und Gesellschaft, S. 49 f. Gottl-Ott­ lilienfeld, Wirtschaft und Technik, S. 49. Heimann, Zur Kritik, S. 42. Moeller, Hero: Rationale Technik und irrationale Wirtschaft. Vortrag Sommer/Herbst 1933. Universitätsarchiv Tübingen. Nl. Hero Moeller, D 412/6.

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hatte die ökonomische Klassik den Wettbewerb eher als eine Art Spiel nach festgelegten Regeln begreifen wollen, in dem sich am Ende alle besser stellten.76 Das war auch bei Mises impliziert, wenn menschliches Handeln seiner Ansicht nach grundsätzlich darauf zielte, die eigene Lage zu verbessern.77 Gab es trotzdem relative Verlierer, dann allein wegen persönlicher Schwächen oder der fehlenden Freiheit des Individuums. Diese Freiheit im strengen Sinne konnte es jedoch aus der Sicht der sozialen Theorie gar nicht geben. Die gesamte gesellschaftliche Existenz des Menschen war durch Auseinandersetzungen konstituiert, in denen sich Menschen und Gruppen einander gegenüberstanden, die unterschiedlichen Schichten oder Klassen zugehörten und deren Handlungsmöglichkeiten durch ihre soziale Position bestimmt und limitiert war. Dieser Form der Beschreibung der Gesellschaft war eine Auffassung des ökonomischen Wettbewerbs gemäß, die ihn als eine Form der gesellschaftlichen Konfliktaustragung fasste, bei der es am Ende Gewinner und Verlierer gab. Fragen der ökonomischen Eigen­ gesetzlichkeit konnten so von Machtfragen analytisch nicht mehr konsequent getrennt werden.78 Wenn die ökonomische Eigengesetzlichkeit als Resultat einer historisch gewordenen, somit gestaltbaren institutionellen Struktur erschien, verschwand die logische Suprematie der Marktbeziehungen: das »Wirtschaftliche«, das »Soziale«, das »Politische« waren logisch beieinander geordnet und wirkten gegenseitig aufeinander ein.79 Die sie zusammenfassende Einheit war wiederum als eine historische Totalität zu denken: die »Volkswirtschaft« beispielsweise, als Ausdruck der im historischen Prozess geformten, institutionellen Einheit von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft.80 Mit diesem methodologischen Ausgangspunkt waren weitreichende Aus­ sagen über den Charakter des modernen Kapitalismus verbunden. Während der englische Liberalismus im freien Spiel der Kräfte gewissermaßen die sukzessive Materialisierung des göttlichen Willens in der Welt erblickte, wurde aus dieser Sicht die Gewaltsamkeit der »kapitalistischen Maschine« betont, um einen Ausdruck Joseph Schumpeters zu verwenden.81 Max Scheler umschrieb 1898 den Kontrast von Wirtschaftsliberalismus auf der einen, marxistischem Sozialismus auf der anderen Seite folgendermaßen: »Dort heißt es ›laisser faire‹, weil das bloße Gehenlassen selbst schon zu gerechten Zuständen führt; hier heißt es ›laisser faire‹, weil es als unmöglich gilt, das Gehenlassen aufzuhalten, obgleich es zu ungerechten Zuständen führt.«82 Formal liberale Aussagen bekamen also vor dem Hintergrund unterschiedlicher theoretischer Rahmen76 Force, S. 82 f. 77 Mises, Grundprobleme, S. 23. 78 Heimann, Soziale Theorie, S.  87 f. Der Versuch einer Klärung dieses Problems, in: Salz, Macht. 79 Vgl. Stuart, Grundlagen, S. 28 ff. 80 Kretschmar, S. 318 ff. Über die Konsequenzen für die Wirtschaftspolitik, die sich aus Sicht der »sozialen Theorie« ergaben, vgl. Lampe, Freiheit, S. 1868–1873. 81 Schumpeter, Schmoller, S. 376. 82 Scheler, Arbeit, S. 64.

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konstruktionen eine neue Bedeutung. Wie Hero Moeller 1932 prägnant formulierte, war der Krieg aller gegen alle dem Menschen von der Natur aufgegeben und verdichtete sich auf dem nicht friedlichen, aber in der Regel unblutigen Gebiet des Wettbewerbs zum System der freien Konkurrenz.83 Die formale Ähnlichkeit mancher Aussagen zum Liberalismus (freie Konkurrenz etc.) führt hier eher zu einem Missverständnis dessen, worum es eigentlich ging.84 Freie Konkurrenz bedeutete nicht länger die Entfaltung einer natürlichen Ordnung, sondern sie war paradoxerweise durch die institutionelle Struktur der modernen Wirtschaft erzwungen. Damit enthielt die ökonomische Theorie eine Beschreibung der Wirtschaft unter den Bedingungen der kapitalistischen Moderne, die aus der österrei­ chischen Perspektive nicht in dieser Weise formuliert werden konnte.85 Wenn die Österreicher auf den unhintergehbaren Charakter ökonomischer Gesetz­ mäßigkeiten verwiesen, implizierte das, die Ursache für Funktionsstörungen des Wirtschaftslebens in einer massiven Behinderung der Entfaltung dieser Gesetzmäßigkeiten zu erblicken. Institutionenbildung fand idealer Weise als ein spontaner und natürlicher Prozess statt, den der Staat durch sein Eingreifen bestenfalls behinderte.86 Weil der Staatsinterventionismus aus dieser Sicht folglich sinnlos und schädlich war, versuchte Mises konsequent, ihn als Produkt einer fehlgeleiteten Ideologie nachzuweisen.87 Wenn das ökonomische Leben hingegen durch eine historisch gewordene institutionelle Struktur bestimmt wurde, waren die staatlichen Eingriffsmöglichkeiten und Gestaltungspotentiale sehr viel ausgeprägter. Das kam letztlich im Wettbewerb als Kampf zum Ausdruck, dass es sich um eine Form der gesellschaftlichen Konfliktaustragung handelte, in der um Macht und Einfluss-Sphären, um die Positionierung in einem dynamischen und hierarchischen Gesellschaftsgefüge gerungen wurde.88 Eine weitere, wichtige theoretische Konsequenz ergab sich daraus, dass aus Sicht der sozialen Theorie ein statisches Gleichgewicht, in dem alle Menschen ein Optimum an Bedürfnisbefriedigung erreichten, höchstens als heuristische Fiktion vorstellbar war89: Die Gesellschaft als Ort der kämpferischen Konfliktaustragung musste dynamisch beschrieben werden. In der Forderung nach einer dynamischen Theorie manifestierte sich ein eindeutiger Gegenwarts­ bezug. Die historische Erfahrung seit Beginn des Ersten Weltkrieges war in so massiver Weise durch gesellschaftliche Veränderungsprozesse geprägt, dass die

83 Moeller, Hero: Rationale Technik und irrationale Wirtschaft. Vortrag Sommer/Herbst 1933. Universitätsarchiv Tübingen. Nl Moeller, D 412/6. S. 4. 84 Typisch auch für den angeblichen Liberalismus Max Webers: Eisermann, Max Weber, S. 91. Mommsen, Kapitalismus, S. 145. Dagegen: Appel, Sombart, S. 197. 85 Veit, Besprechung zu Mises, S. 406. 86 Mises, Gemeinwirtschaft. 87 Ders., Kritik. 88 Altmann, Gegenwartsaufgaben, S. 1260, 1291. Liefmann, Grundsätze Bd.1, S. 94 f., 153. 89 Amonn, Volkswohlstandslehre, S. 277.

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»ruhige«90 ökonomische Statik mit einer gewissen Zwangsläufigkeit als wirklichkeitsfremd erscheinen musste.91 Wenn folglich als Anforderung an das »neue System« formuliert wurde, dies habe »realistisch« zu sein, war darin die Forderung nach einer dynamischen Theorie gewissermaßen bereits enthalten.92 Auf diesen Punkt wiesen zahlreiche Autoren auch hin: Vor allem seit dem Weltkrieg habe die Wirtschaft so bewegte Zeiten erlebt, schrieb Hans Honegger, dass der Gedanke der wirtschaftlichen Ruhe und Stetigkeit obsolet geworden sei: »Die Annahme einer kapitalistischen Statik ist ein innerer Widerspruch, ist ein schwarzer Schimmel, ist hölzernes Eisen, weil eben der Begriff ›kapitalistisch‹ bereits den Begriff der Dynamik in sich birgt.«93 Das Gegensatzpaar Statik und Dynamik war im ökonomischen Zusammen­ hang zuerst von John Stuart Mill aufgebracht worden, der es wiederum von Comte übernommen hatte.94 Im deutschen Sprachraum wurde die Dynamik für die ökonomische Theorie jedoch vor allem durch die 1912 erschienene Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung Joseph Schumpeters eingeführt, ohne dass er dabei eine genaue Definition dieses Begriffes gab, der sich vor allem in Abgrenzung von der statischen Gleichgewichtsanalyse bestimmen ließ, wobei Schumpeter jedoch verneinte, dass es sich bei Statik und Dynamik um zwei grund­ legend verschiedene Formen der Theorie handelte.95 Aus methodologischer Sicht beschäftigte sich in den 1920er Jahren vor allem Rudolf Streller intensiv mit dem Problem des Verhältnisses von Statik und Dynamik.96 Er fasste diesen Unterschied, wie sonst gerne der Gegensatz von theoretischer und histo­rischer Betrachtungsweise bestimmt wurde, als ein Problem des Abstraktionsgrades auf. Er sah ein Problem der ökonomischen Dynamik überall dort vorliegen, wo ein Zeitintervall in die Betrachtung Eingang fand97 bzw. Preisbewegungen in der Zeit von der ökonomischen Theorie zum Thema gemacht wurden. Dabei habe die Dynamik gegenüber der Statik nicht nur abstrahierend einen Markt, sondern ein funktional zusammenhängendes Marktgefüge zu untersuchen.98 Sie habe von heterogenen Motiven der Wirtschaftssubjekte auszugehen und die Auswirkungen der Marktformen in den Blick zu nehmen. Eingehend thematisiert wurde dieser Gegensatz auch im Rahmen der Konjunkturtheorie. Dies lag 90 Die »Ruhe« der Betrachtung war z. B. eines der Leitmotive von Schumpeter, Wesen (z. B. S. VII.) 91 Streller, Dynamik, S. 26. 92 Vogel, Hauptprobleme, S. 55 ff., 110. Vgl. auch Jaffé, System, S. 9. 93 Honegger, Krisis, S. 482. Vgl. auch Heimann, Soziale Theorie, S. 199. 94 Preiser, Grundzüge, S. 13. 95 Schumpeter, Entwicklung, S. 98 f. 96 Streller, Statik. Ders., Dynamik. 97 Dann wären allerdings die Arbeiten Böhm-Bawerks, Mises, Hayeks etc. ebenfalls als »dynamische« anzusprechen gewesen, was in der Tat ein Kritikpunkt Strellers an der Grenz­ nutzenschule war, deren Ansatz er jedoch prinzipiell akzeptierte, allerdings nur für die ökonomische Statik. Streller, Dynamik, S. 26. 98 Ebd., S. 95.

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nahe, weil sie sich diese Richtung ja gerade eingehend mit der Parallelbewegung ökonomischer Größen in der Zeit beschäftigte.99 Am Problem Statik vs. Dynamik lässt sich beispielhaft zeigen, dass eine dy­ namische ökonomische Theorie implizierte, abstrahierende und stilisierte Annahmen tendenziell aufzugeben, um zu einer realistischen Darstellung des Wirtschaftsprozesses zu gelangen. Damit waren jedoch Folgekosten verbunden: Die Nationalökonomie handelte sich ein Komplexitätsproblem ein, wenn sie ihr Ziel einer den institutionellen Rahmenbedingungen gemäßen Darstellung erreichen wollte.100 Ceteris paribus-Annahmen wurden problematisch, weil solche Stilisierungen gerade die gesellschaftliche Bewegung aus der Betrachtung ausschlossen. Abstraktionen wie die Annahme eines vollständig freien und transparenten Marktes wurden obsolet, weil sich dies mit der Wirklichkeit offensichtlich nicht deckte.101 Wenn in der sozialen Theorie folglich die institutionellen Rahmenbedingungen eine entscheidende Rolle spielten, dann musste diese zumindest das Grundgerüst einer Gesellschaftstheorie bereits enthalten. Nicht zuletzt aus diesem Grund war das Verhältnis zwischen Nationalökonomie und Soziologie in den 1920er Jahren unscharf und schwierig, weil viele Nationalökonomen dazu tendierten, stärker Gesellschafts- als Wirtschaftstheorie zu betreiben.102 Sie gingen dabei von der Annahme aus, die aus der Logik ihrer Theoriekonstruktionen nicht ganz unberechtigt war, dass eine wie auch immer zu verstehende »Wirtschaftstheorie« aus einer adäquaten Gesellschaftstheorie relativ problemlos abgeleitet werden können musste. Insgesamt soll die Unterscheidung zwischen reiner und sozialer Theorie nicht die Existenz zweier homogener Lager in der deutschsprachigen Nationalökonomie suggerieren. Es war zwar durchaus so, dass zumindest Teile der Österreichischen Schule in ihren Ansätzen und Methoden gegenüber der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg sich weitgehend treu blieben, dafür mussten sie aber auch massive Kritik einstecken. Hingegen konnte das, was an dieser Stelle als soziale Theorie bezeichnet wurde, die verschiedensten Ansätze umfassen. Der Grund dafür lag darin, dass die Annahme einer Bedingtheit des Ökonomischen durch die gesellschaftliche Ordnung über die konkrete Gestalt letzterer noch keine Aussage traf. Gerade die Situation der Weimarer Republik, deren Institutionen äußerst instabil waren und deren Verbesserung bzw. Neugestaltung erregt diskutiert wurde, bot Anschlussmöglichkeiten für eine Vielzahl von Gesellschaftsbeschreibungen und Gesellschaftsprojektionen, die, wie später zu zeigen sein wird, einen massiven Einfluss auf die ökonomische Theorie ausübten. Schließlich lag die Frage nahe, ob eine Neugestaltung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nicht auch zu einer rationaleren Ökonomie führen würde. Wie im abschließenden Kapitel anhand der Diskussion um Kartelle und Monopole gezeigt werden 99 Vgl. Löwe, Konjunkturtheorie, S. 192 ff. 100 Streller, Statik und Dynamik, S. 134. Diehl, Wert- und Preislehre, S. 149. 101 Vogel, Hauptprobleme, S. 107 ff. 102 Schumpeter, Deutschland, S. 7 ff.

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soll, spielten solche Überlegungen besonders während der Weltwirtschaftskrise in den nationalökonomischen Debatten eine wichtige Rolle. Die aus der historischen Lage heraus verständliche Anspruchshaltung gegenüber einer dynamischen Theorie führte somit dazu, dass die ökonomische Theorie dazu neigte, sich in ihrem eigenen Anspruch selbst zu überfordern: indem sie im Bemühen um eine Totalerklärung des Wirtschaftsprozesses diesen auch noch in seiner Bedingtheit durch die gesellschaftlichen Verhältnisse zeigen wollte.

4.2 Wege zu einer »anschaulichen« oder »verstehenden« Theorie In seinem Buch über die Dynamik der theoretischen Nationalökonomie ging Streller auch explizit auf Schumpeters Mahnung ein, die deutschen Nationalökonomen neige dazu, in die Soziologie abzuirren103: »Wir glauben dieser Gefahr nur dadurch entgehen zu können, dass wir uns vollkommen darüber klar werden, dass die theoretische Nationalökonomie mit ihren Methoden soziologische Phänomene überhaupt nicht erfassen und sich nur als Hypothese setzen kann. Wenn auch die dynamische Theorie wesentlich weniger abstrakt ist als die Statik, so ist sie doch noch lange nicht wirklichkeitsnahe genug, um gesellschaftliche Erscheinungen erfassen zu können. Es fehlt ihr eben, wie jeder anderen theoretischen Wissenschaft, jede Anschaulichkeit. Einen anschaulichen theoretischen Begriff gibt es nicht.«104 Damit erfasste Streller präzise die Kritik, der sich die ökonomische Theorie ausgesetzt sah, dass sie sich durch ihre Abstraktionsleistung von der Erfassung der gesellschaftlichen Wirklichkeit entfernte, anstatt sich ihr auf diese Weise zu nähern. Für Vaihinger war es ebenfalls ganz entscheidend, dass die Distanz des Beobachters zur Wirklichkeit seine Analyse konstituierte, und Karl Mannheim vertrat in seinem damals allerdings unveröffentlichten Essay Über die Eigenart kultursoziologischer Erkenntnis die Meinung, jeder Begriff des Seins setze bereits einen Akt der Distanzierung voraus, eine unmittelbare intuitive Erkenntnis sei allein schon aus diesem Grund also nicht möglich.105 Was aber war gemeint, wenn der ökonomischen Theorie fehlende Anschaulichkeit vorgeworfen wurde? »Anschaulichkeit« ist ein komplexer, schwierig zu bestimmender Begriff, der in der Disziplin jedoch bereits durch die Jüngere Historische Schule durchaus geläufig war. Schmoller verwandte ihn gerne und meinte damit vor allem, dass das ausgebreitete Material die zu beschreibenden Entwicklungen auf lebendige Weise demonstrieren müsse, womit er sowohl 103 Schumpeter, Deutschland, S. 9 ff. 104 Streller, Dynamik, S. 69. 105 Mannheim, Eigenart, S. 62 f. Vgl. dazu auch die Betonung der Notwendigkeit der sozialen Distanzierung: Plessner, Grenzen, S. 113 ff.

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einen im Vergleich zu den Österreichern niedrigeren Abstraktionsgrad als auch den politisch-didaktischen Charakter der Nationalökonomie zu charakterisieren versuchte.106 Semantisch lehnt sich der Begriff an den der »Anschauung« an, der in der antiken philosophischen Tradition bedeutete, nichts Bestimmtes an einer Sache, sondern diese Sache selbst im Ganzen zu sehen. Es handelte sich um ihre unmittelbare, nicht-konstruktive Vergegenwärtigung.107 Daran angelehnt bezeichnete »Anschaulichkeit« die intuitive Wesenserkenntnis einer Sache, ohne dabei von ihren individuellen Merkmalen zu abstrahieren. Dieses Moment der Intuition, das im Begriff der Anschaulichkeit enthalten war, hatte Streller aus seinem Theorieverständnis heraus apodiktisch aus­ geschlossen. Der Theoretiker fühlte sich in die wirtschaftlichen Zusammenhänge nicht ein, sondern im Akt der Abstraktion wurden sie für ihn zum Objekt, das er von außen beobachtete und sezierte. Die austarierte »Wirklichkeitsferne« der Betrachtung war die Voraussetzung der Erkenntnisfähigkeit des theoretischen Nationalökonomen. Der Beobachter, der sich nach Amonn aus dem Erfahrungs- ein Erkenntnisobjekt konstruierte, sollte kein teilnehmender, sondern ein außenstehender sein. Das war Voraussetzung seiner Objektivität. Damit wurde aber in kantischer Tradition eine grundlegende Differenz zwischen dem Beobachter und der Wirklichkeit postuliert, die es zu überbrücken galt und darum der Vermittlung bedurfte. Das war genau der Punkt, den viele Nationalökonomen nicht akzeptieren konnten und darum nach alternativen Formen der Theoriebildung Ausschau hielten, die eine anschauliche Wesenserkenntnis wirtschaftlicher Zusammenhänge ermöglichen würde. Damit sollte nicht zuletzt der »Hunger nach Ganzheit« (Peter Gay) befriedigt werden, während der Neukantianismus durch die postulierte Notwendigkeit der Abstraktion, um Ordnung in den unendlichen Strom der Phänomene zu bringen, eine wirkliche Ganzheitserkenntnis gerade ausschloss.108 Salin schrieb dementsprechend 1929, dass Max Weber mit seinem Bezug auf Rickert genau die Philo­sophie gewählt habe, »die am wenigsten vom echten Charakter des Weisheitssuchens« bewahrte.109 Die methodologischen Begründungsversuche in der Nationalökonomie schlossen sich oftmals an die erkenntnistheoretischen Diskussionen der zeitgenössischen Philosophie an. Wenn die letzten Erkenntnisgrundlagen unsicher waren, lag es schließlich nahe, auf Ansätze zurückzugreifen, die eine geeignete epistemologische Letztbegründung im Angebot hatten. Schumpeter wurde in seinem Frühwerk vom Logischen Positivismus Machs beeinflusst. Mises stand in der Traditionslinie des von Bentham begründeten Utilitarismus. Max Weber hatte schließlich äußerst wirkungsmächtig die epistemologische Begründung seiner 106 Bei sonstigem Wohlwollen kritisierte Schmoller z. B. an Schumpeters Das Wesen und der Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie, dass dieses Buch von Studenten kaum zu verstehen sei. Schmoller, Volkswirtschaft, S. 256 ff., 264 f. 107 Kohlenberger, S. 340. 108 Offenberg, S. 44. »Bei Kant war Erkenntniskritik Vorarbeit für die Metaphysik, aber nicht – wie dem Neukritizismus – Ziel und Ende.« 109 Salin, Geschichte (2. Auflage), S. 98.

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wissenschaftstheoretischen Position mit Bezug auf den Neukantianismus Windelbands und Rickerts versucht, in deren Traditionslinie auch noch Amonn und Streller standen.110 Viele Nationalökonomen konnten aber, wie gesehen, mit der neukantianischen Epistemologie wenig anfangen, zumal der Werturteilsstreit demonstriert hatte, dass dieser philosophische Ansatz festgezogene Grenzen der wissenschaftlichen Erkenntnis- und Urteilsfähigkeit voraussetzte, die sie als unbefriedigend empfanden. Dieser Grenzen wegen erschien ihnen die Möglichkeit der Erkenntnis der gesellschaftlichen Wirklichkeit verschlossen. Zumindest lassen sich so die Versuche erklären, auf anderen Wegen zu einer Letztbegründung der nationalökonomischen Erkenntnis zu gelangen, auf denen die Differenz zwischen dem erkennenden Subjekt und der Wirklichkeit zu überwinden versucht wurde. Eine in diesem Zusammenhang besonders einflussreiche philosophische Richtung war in den 1920er Jahren die sich mit den Namen Edmund Husserl, Max Scheler, Edith Landmann, Martin Heidegger und anderen verbindende Phänomenologie111, die in ihren zahlreichen Varianten immer wieder zum Ausgangspunkt methodischer Grundlegungen in der Nationalökonomie wurde112; am prominentesten sicherlich in der Richtung, die bereits zeitgenössisch als »anschauliche« oder »verstehende« Theorie bezeichnet wurde. 4.2.1 Anschauliche und verstehende Theorie Der Begriff der »anschaulichen Theorie« wurde 1927 von Salin im Rahmen einer umfangreichen Besprechung von Sombarts drittem Band des Modernen Kapitalismus geprägt, der den Abschluss eines Großwerkes darstellte, in dem der Autor auf mehr als 3000 Seiten die wirtschaftliche Entwicklung von Mittelalter bis in die Moderne in einer faszinierenden Materialfülle ausgebreitet hatte. Zugleich erfuhr das Werk von Seiten der Historiker viel Kritik, was die historische Genauigkeit und den Umgang mit den Quellen anging.113 Es war jedoch eine schwierige Frage, ob der Moderne Kapitalismus überhaupt ein historisches Werk darstellte, immerhin hatte sein Autor in Berlin einen der wichtigsten natio­nalökonomischen Lehrstühle inne und flocht immer wieder theoretische Ausführungen in sein Werk ein.114 Salin stellte sich diese Frage auch und kam zu der Einsicht, dass Sombarts Werk von einer einheitlichen Idee durchzogen wurde, die von historischen Fakten und Daten derart unabhängig sei, dass er sich einen mitunter freien Umgang 110 Streller, Statik und Dynamik, S. 21. 111 Amonn nannte die Phänomenologie 1930 den »große[n] Modeschlager in der Wissenschaft.« Amonn, Wirtschaft, S. 82 f. Als Überblick s. Holzhey u. Röd, S. 131–206. 112 Schuster, Untersuchungen. Cohn. 113 Z. B. Dopsch, Kapitalismus. 114 Zur Biographie Sombarts s. Lenger.

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mit diesen erlauben konnte.115 Dieser einheitlichen Idee des Werkes vermeinte Salin näher zu kommen, indem er nach der Bedeutung des titelgebenden Begriffs »Kapitalismus« fragte. Für ihn handelte es sich hier weder um einen empirischen Quellen-, noch um einen reinen Erkenntnisbegriff, z. B. im Sinne des Weberschen Idealtypus. Folglich stellte er fest: »Wir haben es also zu tun mit einem Begriff, der nicht durch die Verdichtung bekannter und schon benannter Sachverhalte, aus der Tageserfahrung, aus dem ›Wort‹ aufsteigend gewonnen, der aber auch nicht nur nach logischen Voraussetzungen geformt, sondern der zur Benennung eines neu – als zugleich anschaulich und erkenntnismäßige Einheit  – gesehenen Sach- und Problemkreises gebildet ist. Dieser Begriff ist also weder rein historisch, noch rein logisch – er ist weder reiner Erfahrungsnoch reiner ›Erkenntnis‹-Begriff – er steht weder im Bann der ›Herrschaft des Wortes‹, noch im Dienst einer modern-spezialistischen, logischen Teilerkenntnis, sondern seine Absicht ist echte Erkenntnis, Gesamterkenntnis. Den Weg der Gesamterkenntnis aber nennen wir seit alters Theorie – und Theorie, nicht Historie, das ist dann auch die eigentliche Aufgabe und Leistung des Sombartschen Werkes.«116 Was Salin als »anschauliche Theorie« bezeichnete, bezog sich auf einen platonischen Theoriebegriff, der die Erkenntnis des Ganzen und Umfassenden bezeichnete und sich damit vom modernen Theoriebegriff signifikant absetzte, in den der hypothetische und vorläufige Charakter der Erkenntnis eingeschrieben ist.117 Der von Sombart benutzte Begriff des Wirtschaftssystems, z. B. des modernen Kapitalismus, der durch eine bestimmte Ordnung, Technik und Wirtschaftsgesinnung bestimmt wurde, bildete für Salin den Rahmen einer anschau­lichen Theorie. Es waren dementsprechend historisch unterschiedliche »Ganzheiten« (Wirtschaftssysteme) auszumachen, die mit dem Begriff des Weberschen Idealtyps nach Salins Meinung nicht adäquat gefasst werden konnten. Dieser, als eine einseitige Steigerung bestimmter in der Wirklichkeit auffindbarer Merkmale118, verzerrte die historische Wirklichkeit eher, als sie zu erfassen. Spiethoff, der mit seinem Konzept des »Wirtschaftsstils« ebenfalls der anschaulichen Theorie zuzurechnen ist, beschrieb diese Form der Theoriebildung mit der Metapher eines Gemäldes, in dem das Wesentliche als eine Form des künstlerischen Ausdrucks herausgehoben wurde, ohne in ein verzerrendes Schematisieren zu verfallen.119 Mit dieser negativen Abgrenzung war aber noch keine epistemologische Begründung der anschaulichen Theorie geleistet; zumal, wenn Salin mit der ­Option für einen platonischen Theoriebegriff vor Descartes und die subjektphilosophische Wende zurückging. Eine solche Begründung fand Salin jedoch 115 Salin, Hochkapitalismus, S. 322. 116 Ebd., S. 324 f. 117 Vgl. König, »Theorie«, S. 1128. 118 Weber, »Objektivität«, S. 191 f. 119 Spiethoff, Volkswirtschaftslehre, S. 59 f.

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in einem zunächst wenig beachteten phänomenologischen Werk, nämlich Edith Landmanns Die Transcendenz des Erkennens.120 Landmann, Ehefrau des Finanzwissenschaftlers Julius Landmann, mit dem Salin befreundet war, gehörte wie ihr Mann und Salin zum Umfeld des Kreises um Stefan George. Sie hatte sich bereits lange Zeit mit den philosophischen Bedingungen der menschlichen Erkenntnis beschäftigt, jedoch erst das Zusammentreffen mit George und seinem Kreis halfen ihr aus einer philosophischen Sackgasse heraus und eröffnete ihr neue philosophische Perspektiven.121 Verkürzt dargestellt vertrat Landmann die Vorstellung eines hierarchischen Erkenntnisvermögens des Menschen, dessen unterste Stufe die sinnliche Erkenntnis und die oberste die sog. Gesamterkenntnis war, die sich auf einen Gesamtgegenstand, das Sein, bezog. Landmann ging von einer Analogie von Erkenntnisapparat und Struktur der Wirklichkeit aus. Der höchsten Form der Erkenntnis, der Gesamterkenntnis, entsprach in der Wirklichkeit der sog. Gesamtgegenstand, durch den die Teilgegenstände erst Sinn und Bedeutung bekamen.122 Die Erkenntnis dieses Gesamtgegenstandes war bei Landmann streng rational jedoch nicht möglich, sondern durch den Glauben garantiert, den sie als »völlige Gewissheit der Erkenntnis aus sich selbst« bestimmte.123 Die Erkenntnis des Gesamtgegenstandes war allerdings nicht jedem gegeben und selbst diejenigen, die potentiell in der Lage waren, ihn zu erkennen, bedurften dafür der Hilfestellung und Vermittlung. Der moderne Mensch war nach Landmann nicht mehr daran gewöhnt, sinnvolle Ganzheiten zu sehen. Für sie übernahm George die Rolle des Mittlers, der seine Vertrauten dazu hinleitete, in den einzelnen Teilgegenständen das sie umfassende Ganze manifestiert zu sehen. Auf diese Weise konnte man zu einer transzendentalen Seinserkenntnis gelangen, in der die Einzelteile der Welt sich zu einer sinnvollen Einheit zusammenfügten. Was die anschauliche Theorie leisten sollte, war, analog dem Verhältnis von Gesamtgegenstand und Teilgegenständen in der Philosophie Landmanns, eine theoretisch-anschauliche Ganzheit zu entwickeln, vor deren Hintergrund die »rationale« Theorie (also im weitesten Sinne die Wirtschaftstheorie nach heutigem Verständnis) erst Aussagekraft und Bedeutung bekam, unter den Bedingungen des modernen Kapitalismus. Die rationale Theorie wurde erst dann problematisch, wenn sie ihre eigene Aussagekraft überschätzte und sich selbst als einen solchen theoretischen Rahmen ansah, den nach Salin die anschauliche Theorie zu bilden hatte.124 Die Frage blieb dennoch offen, nach welchen Kri120 Landmann, Transcendenz. 121 Schönhärl, Landmann. Zu den Nationalökonomen im Umfeld Georges (neben Salin waren das vor allem Julius Landmann, Arthur Salz und Kurt Singer) s. Schönhärl, Wissen. Groppe, S. 498 ff. Schefold, Theorie, S. 306. 122 Landmann, Transcendenz, S. 104 f. 123 Ebd., S. 269. 124 Salin, Hochkapitalismus, S. 327 f. Zu dem Motiv, dass die rationale Theorie innerhalb eines bestimmten theoretischen Rahmens (und nur in diesem) Geltung beanspruchen konnte vgl. auch Vogel, Politik, S. 30.

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terien die anschauliche Theorie als wahr oder falsch beurteilt werden konnte. Wenn Landmann die Erkenntnis des Gesamtgegenstandes durch den »Glauben« garantiert sah, handelte es sich dabei letztlich um ein »Wahrheitsgefühl«, bei dem in der Dignität der Erkenntnis der Grund lag, warum dieses Gefühl nicht täuschte. Salin selbst bezeichnete die »Gesamterkenntnis« als »nicht rational-logisch«.125 Trotzdem gab es Kriterien, mit deren Hilfe die anschauliche Theorie beurteilt werden konnte. Um Spiethoffs Metapher weiter zu spinnen: es gab keine wahren und falschen Gemälde, sondern nur Kunstwerke, die beim Betrachter eine bestimmte Wirkung erzielten. Der Maßstab zur Beurteilung einer anschaulichen Theorie lag darum, nota bene, in ihrer Anschaulichkeit, dass also das entwickelte Gesamtbild dem Leser eine bestimmte Einsicht vermittelte. Dies hing zu gleichen Teilen von der inneren Kohärenz des dar­ gestellten Gegenstandes wie der Form der Darstellung und der Meisterschaft der Umsetzung ab126; Salin beurteilte Sombart deswegen nicht allein als Wissenschaftler, sondern auch als herausragenden Repräsentanten einer bestimmten historischen Epoche, der daraus seine pädagogische Aura bezog. Auf niedrigerer Ebene, als Salin und Landmann dies bei George empfanden, sollte also Sombarts anschauliches Bild des Ganzen beim Leser/Betrachter eine neue Erkenntnisfähigkeit vermitteln. Salin sah Sombart in seinem Streben nach einer anschaulichen Theorie keineswegs isoliert. So rechnete er beispielsweise noch Plenge, Gottl-Ottlilienfeld, Spiethoff und Alfred Weber zu denjenigen, die nach einer anschaulichen Theorie strebten und der rationalen Wirtschaftstheorie ihren Platz zuweisen wollten.127 Horst Wagenführ stellte in einem 1928 erschienenen Aufsatz gleichfalls die anschauliche Theorie als eine breite Bewegung dar, deren Anziehungskraft sich nicht zuletzt aus der Unzufriedenheit mit der rationalen Wirtschaftstheorie speiste. Wagenführ stellte dabei den Wiener Nationalökonomen und Soziologen Othmar Spann als den im Grunde konsequentesten Vertreter dieser Richtung vor, welche die Unterscheidung von Erfahrungs- und Erkenntnisobjekt nicht akzeptieren wollte.128 Damit war zugleich die Lösung eines Problems angesprochen, das in den methodologischen Debatten der Zeit immer wieder auftauchte und besonders auch für den späten Sombart von existentieller Bedeutung war, die Antinomie von Theorie und Geschichte zu lösen. Der damit angesprochene Gegensatz von Abstrakt-Allgemeinem und Konkret-Inviduellem129 sollte durch 125 Salin, Hochkapitalismus, S. 325. 126 Wie Salin in einem unveröffentlichten Manuskript zu dieser Zeit schrieb: »So wenig es richtig ist  – trotz des bekannten Wortes  – dass Raffael auch ohne Hände Maler gewesen wäre, so wenig ist der ein Wissenschaftler dem die Gabe der Darstellung fehlt.« Edgar Salin: Nationalökonomie als Wissenschaft (1927). UB Basel, Handschriftenabteilung. Nl ­Salin, B367. 127 Schreiben Edgar Salin an Bernhard Harms (7.4.1927). UB Basel, Handschriftenabteilung. Nl Salin, Fb 1148. 128 Wagenführ, Volkswirtschaftslehre, S. 321 ff. 129 Vgl. Rothacker, Theorie.

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die anschauliche Theorie überwunden werden. Indem der individuelle Teil­ gegenstand seinen Sinn erst durch die ihm übergeordnete Ganzheit gewann, war die Erkenntnis des Allgemeinen die Voraussetzung für die wahrhafte Erfassung des Individuellen. Die von Wagenführ mit Recht angemerkte »Konsequenz« Spanns bestand aller­dings darin, dass er von einer historisch unwandelbaren Ordnung ausging und die Möglichkeit historischer Veränderung damit letztlich negierte. Im anschaulichen Konzept des »Wirtschaftsstils« (Spiethoff) bzw. des »Wirtschaftssystems« (Sombart) nahm das Ganze jedoch historisch unterschiedliche Formen an. Dadurch wurde dessen normativer Gehalt im Gegensatz zu Spanns Ständestaatskonzeption deutlich abgeschwächt: wenn diese Ganzheiten sich als wandelbar erwiesen, konnte von einer besten Ordnung nicht mehr ohne weiteres gesprochen werden. Ähnlich wie bei Spann war jedoch in den genannten Konzepten, durch den Anspruch, den Gegensatz von Theorie und Geschichte zu überwinden, die Einheit von Gesellschafts- und Wirtschaftsbeschreibung wiederum gerettet.130 Schließlich meldete sich der Verfasser des Werkes zu Wort, auf den sich Salin bei der Entwicklung des Konzeptes der Anschaulichen Theorie bezogen hatte. Das 1930 veröffentlichte Buch Die drei Nationalökonomien Sombarts löste kurzfristig eine breite Debatte im Fach aus, wobei allein »Schmollers Jahrbuch« in einer Ausgabe sechs ausführliche Rezensionen brachte. Amonn begründete seine Ablehnung des Werkes auf knapp 100 Seiten mehr als detailliert.131 Sombart bezog sich in seinem Werk zunächst auf die bereits erwähnten Schwierigkeiten, den Modernen Kapitalismus im Spannungsfeld von Theorie und Geschichte zu verorten, wobei sein Anliegen darin bestand, zu zeigen, dass dieser Gegensatz in Wirklichkeit gar nicht bestand. Die Kontrastierung einer theoretischen und einer historischen Wissenschaft bezeichnete er als die »beliebteste und trotzdem dümmste Entgegenstellung« überhaupt.132 Den Modernen Kapi­ talismus wollte er als ein nationalökonomisches Werk verstanden wissen und nutzte die Drei Nationalökonomien, um sein methodologisches Verständnis der Volkswirtschaftslehre als Wissenschaft genauer darzulegen. Die von Sombart unterschiedenen drei Nationalökonomien waren die rich­ tende, die ordnende und die verstehende. Die richtende Nationalökonomie bezeichnete für Sombart eine normative Wissenschaft, die kategorische Imperative für die Wirtschaft formulierte. Ausgehend von bestimmten sittlichen Einsichten wolle sie dem Wirtschaftsmenschen sein Tun vorschreiben.133 Unter diese Kategorie fasste Sombart sowohl die Vertreter des romantischen Univer130 Adolf Löwe schrieb darum zu recht, Sombarts Erkenntnisinteresse sei in letzter Kon­ sequenz ein ontologisches gewesen. Löwe, Über den Sinn, S. 151*. 131 Amonn, Wirtschaft. Sombart bezeichnete diese Ausgabe von Schmollers Jahrbuch plastisch als »hinkende Wanze«: »Der schmutzige dicke Körper in Gestalt der Amonnschen Schmähschrift, der auf fünf mageren Beinchen daherkriecht.« Zit. in Lenger, S. 329. 132 Sombart, Nationalökonomien, S. 8. 133 Ebd., S. 22.

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salismus, wie z. B. Spann, aber auch Frühsozialisten und solche »Rationalisten«, die aus der vernunftmäßigen Erkenntnis des Wesens der Wirtschaft Soll-Sätze für die Gestaltung der wirtschaftlichen Ordnung abzuleiten versuchten. Eine solche Nationalökonomie war für Sombart aber nur mit Bezug auf letzte Werte möglich, die einer jeweiligen normativen Wirtschaftsauffassung zugrunde lagen. Von diesen letzten Werten konnte es jedoch keine Wissenschaft geben, sondern allein eine Philosophie, die das Transzendente mehr ahnen als erkennen konnte.134 Auch wenn Sombart das durchaus als Kompliment verstanden wissen wollte, so war an diesem Punkt für ihn die Grenze der Wissenschaft erreicht. Es trat das bereits im Werturteilsstreit verhandelte Problem auf, dass es sich um personengebundene, »relativ« wahre Erkenntnisse handelte, die einem anderen niemals verstandesmäßig aufgezwungen werden konnten.135 Werte und Urteile über Werte lagen für Sombart sowohl außerhalb des Er­fahrungswie auch des Evidenzwissens, womit die richtende Nationalökonomie ihren Anspruch, Wissenschaft zu sein, verwirkt hatte.136 Während die richtende Nationalökonomie eigentlich keine Wissenschaft, sondern Metaphysik war, wollte er dem zweiten Typus, der ordnenden Nationalökonomie, den wissenschaftlichen Charakter nicht absprechen. Für Sombart bedeutete sie die Anwendung der naturwissenschaftlichen Denkweise auf die Nationalökonomie, womit er in erster Linie die nationalökonomische Theorie meinte. Angestrebt wurden hier nach Sombart die Allgemeingültigkeit der Forschungsergebnisse und das Abstreifen aller metaphysischen Bestandteile. Dadurch beschränkte die ordnende Nationalökonomie aber von vornherein ihre Erkenntnistiefe und -breite: diese erstreckte sich nur soweit, wie sie es mit quantifizierbaren Erscheinungen zu tun hatte. Auf Wesenserkenntnis musste sie verzichten. Auf die Fragen: woher? wodurch? wozu? blieb sie eine Antwort schuldig. Die von Sombart selbst vertretene Wissenschaftsauffassung war die ver­ stehende Nationalökonomie. Diese erhob ebenfalls den Anspruch, Wissenschaft und nicht Metaphysik zu sein, sollte aber anders als die ordnende National­ ökonomie keine Natur-, sondern eine Geisteswissenschaft darstellen. Die bisherigen Versuche, die Nationalökonomie als eine solche zu begründen, sah Sombart als weitgehend misslungen an: so bestritt er beispielsweise den Sinn des neukantianischen Gegensatzes von nomothetischer und ideographischer Wissenschaft, weil Geisteswissenschaft für ihn keineswegs bedeutete, über der Erfassung des historisch Besonderen das Allgemeine, auch wenn es für ihn Gesetze im strengen Sinn nicht gab, zu vernachlässigen.137 Nationalökonomie als Geisteswissenschaft war für Sombart letztlich nur der Überbegriff dafür, dass sie zugleich Erfahrungs-, Kultur- und Sozialwissenschaft war. Erfahrungswissen­ 134 Ebd., S. 77. 135 Ebd., S. 83 f. 136 Ebd., S. 84. 137 Ebd., S. 166.

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schaft deswegen, weil ihr Untersuchungsobjekt der raum-zeitlichen Wirklichkeit angehörte, was sie von Philosophie und Metaphysik unterschied. Eine Kulturwissenschaft war sie, weil die Wirtschaft ein Teil der Kultur, also eines umfassenden Institutionen- und Sinnzusammenhangs war. Eine Sozialwissenschaft war die Nationalökonomie schließlich, weil ihr Gegenstand, die Wirtschaft, ein Teil der menschlichen Gesellschaft war. Alle nationalökonomischen Kategorien waren notwendig sozialwissenschaftlich, weil es eine nicht in der Gesellschaft verwirklichte Wirtschaft schlechterdings nicht geben konnte.138 In dieser letzten Bestimmung tauchte die Einbettung der Wirtschaft in die Gesellschaft wieder auf. Nur wollte Sombart den gesellschaftlichen Rahmen nicht einfach nur voraussetzen, sondern selber zum Gegenstand der Analyse machen. Das äußerte sich vor allem im Konzept des Wirtschaftssystems. Unter einem Wirtschaftssystem verstand Sombart eine als sinnvolle Einheit erscheinende Wirtschaftsweise, deren Grundbestandteile eine je bestimmte Gestaltung aufwiesen.139 Drei Grundbestandteile eines Wirtschaftssystems ließen sich nach Sombart unterscheiden, Wirtschaftsordnung, Wirtschaftsgesinnung und Technik. Der Hochkapitalismus, der sich im Verlauf der Industrialisierung herausgebildet hatte, zeichnete sich im Bereich der Wirtschaftsordnung u. a. durch ein berechenbares Recht, insbesondere Eigentumsrecht und Freihandel aus, was durch den Staat garantiert wurde.140 Weiter war für ihn eine auf Gewinnstreben fixierte Wirtschaftsgesinnung wesentlich und die Dominanz »anorganischer« Technik im Produktionsprozess.141 Das Wirtschaftsleben war nach Sombart in einen breiten gesellschaftlichen Kontext eingebettet. Sombart verwendete den Ausdruck »verstehende« Nationalökonomie, weil es für ihn um das Nachvollziehen von Sinnzusammenhängen ging, das nur dann möglich war, wenn diese im menschlichen Erkenntnisapparat ihre Entsprechung fanden. »Verstehen« ließ sich deswegen streng genommen nur das, was der Mensch ohnehin schon wusste.142 Weil alles Handeln geistbezogen war, musste jedes Motiv in einen Sinnzusammenhang eingeordnet werden, und das konnte der Mensch nur, wenn er in der Lage war, diesen Vorgang in sich nachzuvollziehen.143 Dabei verwiesen alle Sinnzusammenhänge niedrigeren auf solche höheren Grades und schließlich auf den obersten Sinnzusammenhang des Wirtschaftssystems. Bei Sombart ergab sich ein in der Tat »anschauliches« Bild des Ganzen, das jedoch keineswegs irrationalistisch sein sollte, sondern genauso »kausal« wie das der Naturwissenschaften. Nur beobachtete diese ihr Objekt von außen, während die Erkenntnis der verstehenden Nationalökonomie »von innen nach außen« verlief.144 138 Ebd., S. 174. 139 Ebd., S. 184. 140 Ebd., S. 217. 141 Zur Unterscheidung »organischer« und »anorganischer« Technik vgl. Sombart, Technik. 142 Sombart, Nationalökonomien, S. 201 f. 143 Ebd., S. 227. 144 Ebd., S. 237.

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Sombart fand zwar die Entgegensetzung von »anschaulichem« und »ratio­ nalem« Denken bei Salin wenig glücklich, weil seiner Meinung nach jedes fruchtbare Denken »anschaulich« und jedes klare Denken »rational« war, ganz gleich, ob es sich auf Gegenstände der Natur oder Geistes bezog. Generell war er gegenüber der anschaulichen Theorie um eine weniger transzendentale Argumentationsweise bemüht. Trotzdem hatte Wagenführ im Prinzip recht, wenn er Sombart, Salin, Gottl-Ottlilienfeld, Spann und andere unter dem Oberbegriff der anschaulichen Theorie fasste: sie alle zielten letztlich auf eine Ganzheits- und Wesenserkenntnis, die mit den Techniken des aufgeklärten Rationalismus zur Wahrheitsfindung und -sicherung (Quantifizierung, empirische Evidenz) allein nicht garantiert werden konnte. Sie lehnten die Amonnsche Unterscheidung von Erkenntnis- und Erfahrungsobjekt ab und bedienten sich Formen der »intuitiven« Erkenntnis, die trotzdem für sich beanspruchten, objektiv zu sein. Mit dem Begriff der Anschaulichkeit wurde sowohl eine Form der Erkenntnis wie auch deren Vermittlung bezeichnet, die unter häufigem Rückgriff auf eine alteuropäische Epistemologie die sich im Zuge der Moderne aus­differenzierende Trennung zwischen Rationalität und Ästhetik nicht akzeptieren wollte.145 4.2.2 Methodologie jenseits der ökonomischen Theorie? Die anschauliche oder verstehende Theorie wollte die verzerrende Abstraktion der ökonomischen Theorie überwinden, aber immer noch Theorie sein, nur die bessere eben. Wenn in diese Kategorie mit Gottl-Ottlilienfeld und Spann aber auch Wissenschaftler eingeordnet werden, die heute kaum noch als »Theoretiker« durchgehen, ist zunächst grundsätzlich daran zu erinnern, dass die Nationalökonomie der 1920er Jahre ein breites Verständnis von »Theorie« hatte. Für Gottl-Ottlilienfeld war sein organizistischer Ansatz selbstverständlich Theorie.146 Selbst Spann, der in den späten 1920er Jahren gegen alles polemisierte, was sich heutzutage als ökonomische Theorie bezeichnen ließe, hätte kaum verneint, dass er selbst ökonomischer Theoretiker war. Nur vertrat er die wahre Theorie, während seine Fachkollegen Theorien vertraten, die unfähig waren, »an die Probleme auch nur heranzukommen.«147 Das allgemein formulierte Bedürfnis, nach dem Abschied von der Historischen Schule zu einer theoretischen Zusammenfassung des Stoffes zu gelangen, umfasste ein extrem weites Spektrum dessen, was als Theorie gelten konnte. Der einzig echte Gegenbegriff zu 145 Darauf zielte nicht zuletzt auch Carl Schmitts Kritik an der Neuromantik, sie neige stets dazu, die in der Welt vorgefundenen Gegensätze in eine »höheres Drittes« aufzulösen und damit einer Entscheidung auszuweichen. Schmitt, Politische Theorie, S. 396. 146 Gottl-Ottlilienfeld, Vom Wirtschaftsleben, S. 14 ff. 147 Zit. in Schreiben von Eduard Lukas an Ferdinand Tönnies (3.12.1927). LB Kiel. Nl Tönnies, Cb 45.56: 492.

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Theorie war Geschichte, und »reine« Geschichte wollte in der Nationalökonomie der 1920er Jahre niemand mehr betreiben. Den Vertretern der anschaulichen Theorie wurde zeitgenössisch und später gerne vorgeworfen, dass sich hinter einer schönen Sprache und vollmundigen Ankündigungen letztlich nur inhaltsleere Phrasen verbargen. Erich Preiser schrieb 1959, die Überbleibsel der Historischen Schule hätten sich mittlerweile den attraktiven Namen »Anschauliche Theorie« zugelegt, seien aber nicht über polemische und programmatische Ankündigungen hinausgekommen.148 Friedrich Lutz bezeichnete Sombarts Drei Nationalökonomien 1967 als eine »schillernde Seifenblase, die am Ende vor dem Beschauer in Nichts zerplatzt.«149 Der Vorwurf dieser beiden Wissenschaftler, die beide zur Generation der jüngeren Theoretiker in der Weimarer Republik gehörten, bestand darin, dass die anschauliche oder verstehende Theorie letztlich im Status der Methodologie stecken und damit unfruchtbar geblieben sei. Es handelte sich ihrer Meinung nach um den Ausdruck eines gefühlten Unbehagens an der abstrakten ökonomischen Theorie, ohne dass jemals klar gesagt wurde, was den Gegenentwurf eigentlich genau ausmachte. Davon abgesehen, dass die Vertreter des kritisierten Ansatzes den Vorwurf der Unfruchtbarkeit nicht hätten gelten lassen (Sombarts Moderner Kapitalis­ mus galt ja als das Paradebeispiel ihrer Umsetzung), war ein Moment der Un­ bestimmtheit im Programm der anschaulichen Theorie angelegt und konnte aus ihr auch nicht einfach eliminiert werden.150 Das kam daher, weil sie in starkem Maße intuitionistisch argumentierte. Landmanns Erkenntnistheorie beruhte auf der Konvergenz von erkennendem Subjekt und Wirklichkeit. Der höchsten Form der Erkenntnis, der des allumfassenden transzendenten Gesamtgegenstandes, entsprach eine Gesamterkenntnis, wobei die Konvergenz durch den Glauben garantiert wurde.151 Wenn Sombart mit phänomenologischen Bezügen im Verstehen einen Erkenntnisakt sah, in welchem der Betrachter bereits intuitiv wusste, in welchen größeren Zusammenhang er die Teilerkenntnis einzuordnen hatte, war damit eine distanzierte Beobachterposition ausgeschlossen.152 Es gab keine im Sinne des aufgeklärten Rationalismus objektive Erkenntnis, die ihr Untersuchungsobjekt mittels abstrahierender Schemata zu analysieren versuchte. Wenn bei Spann Ganzheitserkenntnis nur möglich erschien, weil der Beobachter selbst Teil  dieser Ganzheit war, dann war Epistemologie nur als Innensicht möglich. Die Ver- und Eingebundenheit des Beobachters in den zu erforschenden Zusammenhang wurde zur konstitutiven Bedingung seiner Erkenntnisfähigkeit.

148 Preiser, Nationalökonomie, S. 33. 149 Lutz, Verstehen, S. 10. 150 Schefold, Theorie, S. 318. 151 Landmann, Transcendenz, S. 263 f., 268 ff. 152 Sombart, Die drei Nationalökonomien, S. 237.

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Das hatte deswegen gravierende Konsequenzen, weil mit dieser Perspektivverschiebung die Instrumente des aufgeklärten Rationalismus zur Wahrheits­ sicherung für die Erkenntnis des Ganzen untauglich wurden. Erkenntnissicherheit ließ sich aus Sicht der anschaulichen Theorie mit ihnen nicht gewinnen; nur im Rahmen der Ganzheitserkenntnis konnte die rationale Theorie sinnvoll angewendet werden. Die Garantie dieser Ganzheitserkenntnis wurde in Bewusstseinsformen gesehen, die der aufgeklärte Rationalismus ausschloss, die aber der Annahme einer übergreifenden Ganzheit analog waren. Bei Landmann war dies der Glaube, bei Salin die Schau153, bei Spann die Seele, bei Sombart die Annahme bestimmter Bewusstseinsstrukturen, die Verstehen ermöglichten: Formen der intuitiven Erkenntnis also, deren letzter Grund im Erleben verortet wurde, die sich darum analytisch nicht bis ins Letzte aufschlüsseln ließ und somit in gewissen Maßen »irrational« bleiben musste. Zugleich vermittelte dieses Erleben aber ein tiefes Gefühl, sich »im Wahren« zu befinden, und dieses Wahrheitsbewusstsein war wiederum der antiken Epistemologie analog, die Wahrheitserkenntnis als Selbstenthüllung eines Zusammenhangs betrachtete, also von der aktiven Erkenntnisleistung des Subjekts abkoppelte.154 In dieser Hinsicht gab es, überspitzt formuliert, in der methodologischen Debatte der Weimarer Republik nicht nur den Gegensatz zwischen reiner und sozialer Theorie, sondern darüber hinaus auch die Konkurrenz zweier Epistemologien: auf der einen Seite eine rationalistische, die sich ihren Erkenntnis­ gegenstand von »außen« konstruierte, auf der anderen Seite eine intuitionis­ tische, die diesen Erkenntnisgegenstand von »innen« erschaute. Dabei handelte es sich jedoch nicht einfach nur um die Konkurrenz zweier Erkenntnisweisen: Wenn Spann, Gottl-Ottlilienfeld und viele andere der abstrahierenden öko­ nomischen Theorie einen dürren Schematismus vorwarfen, dann war dieser Vorwurf deswegen so schwerwiegend, weil es nicht nur darum ging, die Welt richtig zu erfassen. Wenn der Beobachter wirklich in die Zusammenhänge eingewoben war, die er zu erkennen und zu beschreiben trachtete, war falsche Erkenntnis in letzter Konsequenz auch eine Form der prekären Weltgestaltung: Das Motiv der Erlösung durch den Geist bzw. über die geistige Haltung der Massen oder der Gemeinschaft, welches für das utopische Denken der Weimarer Republik typisch war, beinhaltete, dass zur Gestaltung der Welt letztere in ihrem Wesen richtig zu erkennen war. Umgekehrt implizierte das die Befürchtung, und hier war zumindest versteckt der Grundgedanke von Husserls Krisis-Schrift bereits angelegt, die Welt könnte sich am Ende den Methoden angleichen, mit denen sie zu erkennen versucht wurde.155

153 Salin bezeichnete die Schau als das Herz, die Gestalt als den Leib der Wissenschaft. ­Edgar Salin: Nationalökonomie als Wissenschaft (1927). UB Basel, Handschriftenabteilung. Nl Salin, B367. 154 Blumenberg, Paradigmen, S. 18, 49 ff. 155 Husserl, Krisis.

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4.3 Die Methodendebatte als Krisen-Multiplikator 4.3.1 Epistemologische Klärungsarbeit als Grundlage für die Systembildung In seiner kurz nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlichten Geschichte der volkswirtschaftlichen Lehrmeinungen sah Eduard Heimann in den Methoden den Anknüpfungspunkt für eine geistesgeschichtliche Kontextualisierung des ökonomischen Denkens, weil sich in ihnen die zeitgenössischen Strömungen in Philosophie, Geschichte oder Rechtswissenschaft niederschlügen. Zugleich war Heimann bezüglich methodologischer Diskussionen verhalten optimistisch: »Der methodologische Weg ist oft die einzige Möglichkeit, einer sonst hoffnungslosen Verwirrung zu entgehen […]. Entgegengesetzte Anschauungen können dann auf ihre methodologischen Grundlagen zurückgeführt und auf diese Weise vereinbart werden, oder aber der Streitfall mündet ein in den größeren Konflikt der widerstreitenden Weltanschauungen, von denen sich die entgegengesetzten Theorien herleiten. Jedenfalls bestimmt die Wahl einer Methode weitgehend die Ergebnisse zu denen sie führt.«156 Hier findet sich die Hoffnung knapp zusammengefasst, welche die Nationalökonomie der Weimarer Republik in die Methodendiskussion setzte, dass sie nämlich in einer zerstrittenen Wissenschaft zu einer Klärung der Standpunkte führen würde. Der empirische Befund ist jedoch ein anderer: Nimmt man die Vielzahl divergierender methodologischer Positionen, die während der Weimarer Republik die deutsche Nationalökonomie kennzeichneten, als Indikator, so führte die Methodendebatte nicht zu einer Klärung der Diskussion und eine Einigung konnte nicht erzielt werden. Ganz im Gegenteil scheint es so, als hätten sich die Lager eher verhärtet: Die »Theoretiker« waren untereinander uneins, standen überdies gegen die Vertreter der anschaulichen und verstehenden Theorie, die sich untereinander wiederum bekämpften oder ignorierten. Selbst dort, wo ein Konsens über den prinzipiellen Wert der ökonomischen Theorie erzielt werden konnte, bestand noch lange keine Einigkeit über Grundkategorien und Grundbegriffe. Es kann insofern nicht verwundern, dass die Masse an methodologischer Literatur oftmals Unwillen erzeugte. Oppenheimer sprach 1926 von einer »wahren Mississippi-Überschwemmung mit Methodologie, in der unsere Wissenschaft allmählich zu ertrinken droht« und gegen die, wie er meinte, die Nationalökonomie doch mit Nachdruck auf ihr eigentliches Auf­gabengebiet hinzuweisen sei.157 Salz schrieb 1927 pointiert, die Nationalökonomie habe so viel darüber nachgedacht, wie man geht, dass sie darüber das Gehen selbst verlernte, und Röpke diagnostizierte 1929, dass die National156 Heimann, Geschichte, S. 30. 157 Oppenheimer, Amonn, S. 168**. Genauer spezifiziert hatte Oppenheimer seine Probleme mit der Methodendebatte schon zwei Jahre früher: Ders., Tönnies, S. 187**f.

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ökonomie »nach Überwindung der theorielosen historischen Schule in einen metho­dologisch-philosophischen Tiefsinn verfallen« sei, der sie »über die Einleitungen nicht hinauskommen und das ganze Fundament der Wissenschaft zergrübeln lässt.« Er hielt sogar die Produkte der Historischen Schule noch für genieß­barer als diejenigen der »modernen Zerfaserer und Philosophaster.«158 Eucken schlussendlich sah in der Verhandlung von Methodenproblemen noch 1940 ein »Krankheitszeichen« und glaubte nicht, dass sie zum disziplinären Fortschritt substantiell etwas beitragen konnten.159 Bei der Frage nach den Gründen, warum die Methodendebatten in den 1920er Jahren ihr Ziel einer Klärung der Erkenntnisgrundlagen in so frappierender Weise verfehlte, sind verschiedene Momente zu berücksichtigen. Ein grundsätzliches Problem lässt sich zunächst ganz allgemein in den von Heimann angesprochenen Weltanschauungen erblicken. Er meinte, methodologische Klärungsarbeit könne sie frei legen und aufzeigen, inwiefern die jeweiligen Theorien auf ihnen beruhten. Das Ziel der Methodendebatte war jedoch zunächst ein anderes, nämlich eine objektive Erkenntnisgrundlage für die Nationalökonomie zu schaffen, um auf diese Weise den Einfluss der Weltanschauungen gerade auszuschalten. Schließlich wurde die ideologische Zerrissenheit, die von der Gesellschaft auf die Nationalökonomie übergriff, immer wieder als entscheidendes Problem und als eine Ursache für die vielen verschiedenen theoretischen Positionen genannt; oder umgekehrt: die vielen vorhandenen Positionen machten eine solche Beschreibung erst plausibel.160 Zu akzeptieren, dass sich diese Lage nicht einfach ändern und eine einheitliche Weltbeschreibung unter den Bedingungen der »Krisenjahre der klassischen Moderne« (D. Peukert) nicht durchsetzen ließ, hätte direkt in den Werturteilsstreit zurückgeführt, der in der Methodendebatte gerade überwunden werden sollte.161 Es ist für das intellektuelle Klima der Weimarer Republik bezeichnend, dass vielen Wissenschaftlern noch der gemäßigtste Erkenntnisrelativismus den Angstschweiß auf die Stirn trieb und zu hochgradig emotionalen Reaktionen führte.162 Insofern konnte es vielleicht in der Tat so sein, dass bestimmte Weltan­ schauungen als »letzte« Erkenntnisvoraussetzungen bestimmte wissenschaftliche Standpunkte begründeten.163 Die selbstreflexive Benennung der Gründe 158 Röpke, Wirtschaftstheorie. 159 Eucken, Grundlagen, Vorwort, o. S. Vgl. Kromphardt, Zur Rolle. 160 Der von Ringer angeführte Kausalzusammenhang lässt sich also auch umkehren. Ringer, S. 207 f. 161 Vgl. die ständige Betonung der »Wertfreiheit« ihrer Erkenntnis bei Mises, Gottl-Ottlilienfeld und vielen anderen. Mises, Grundprobleme, S. 36. Gottl-Ottlilienfeld, Wirtschaft und Wissenschaft, Bd. 1, S. 71. Vgl. auch Landauer, Planwirtschaft, S. 156 f. Salin, Geschichte, 2.  Auflage, S.  98 ff. Zur »bestürzenden« Wirkung des Wertfreiheitspostulats Wilbrandt, Augen, S. 341. 162 Vgl. Seidel. 163 Die Schwierigkeit mit dem Begriff der »Weltanschauung« liegt darin, dass Weltanschauungen innerhalb des Wissenschaftssystems nicht als Argumente taugen, weil hier nur

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des gegenseitigen Nichtverstehens wurden aber durch das Bemühen, eine objektive Erkenntnisgrundlage zu gewinnen, erschwert, wobei zugleich häufig eine erstaunliche Gewissheit zu beobachten ist, einen absolut objektiven Standpunkt einnehmen zu können. Das Problem lag letztlich im performativen Wider­ spruch der Aussage, man vertrete eine Weltanschauung, die trotzdem wahr sei: Denn so wurde die Reflexion auf die eigenen Erkenntnisbedingungen mit dem Wahrheitsanspruch der Theorie vermischt. Das hatte dann wiederum zur Folge, auf der Reflexionsebene die Bedingung der eigenen Erkenntnis primär in deren Wahrsein zu erblicken, was andere Entwürfe automatisch in den Status der Unwahrheit versetzte. Luhmann drückt den hier zu Tage tretenden Sachverhalt pointiert mit dem Hinweis aus, dass transzendentale Theorien den auto­ logischen Rückschluss auf sich selbst blockieren.164 Pragmatisch heißt das, dass Theorien, die einen absoluten Wahrheitsanspruch vertreten, ihre Theorien nie konsequent im Hinblick auf Erkenntnisvoraussetzungen hin reflektieren können, ohne den eigenen objektiven Wahrheitsanspruch wenigstens zu gefährden. Damit hätte sich die Methodendebatte aber selbst ad absurdum geführt, weil ihr Ziel ja gerade die Gewinnung einer objektiven Erkenntnisgrundlage darstellte. Die Zurückführung bestimmter Positionen auf bestimmte Welt­anschauungen funktionierte deswegen in der Regel nur als Fremd- und nicht als Selbst­ beschreibung, was zur Klärung methodologischer Fragen kaum beigetragen haben dürfte.165 Besonders deutlich zeigten sich diese Konflikte bei den im nächsten Kapitel behandelten Ganzheitstheoretikern wie Spann, Gottl-Ottlilienfeld oder Plenge, die zwar von Salin unter das Banner der »anschaulichen Theorie« gereiht wurden, aber schroff gegeneinander polemisierten und sich selbst als alleinige Inhaber der Wahrheit betrachteten.166 Dass »rationalistische« und »intuitionistische« Theoretiker gleichfalls nur schlecht zu einer Verständigung gelangen konnten, erscheint ebenfalls nicht weiter verwunderlich. Es gab aber auch tiefe Risse innerhalb der ökonomischen Theorie im engeren Sinne, die gleichfalls als Problem formuliert wurden und den Eindruck entstehen ließen, eine sichere Erkenntnisgrundlage sei auch hier nicht vorhanden.167 nach der Codierung wahr/falsch kommuniziert werden kann. Es lässt sich eine bestimmte »Weltanschauung« also erst aus »wahrer« Erkenntnis gewinnen, womit der Begriff semantisch verdreht wird, der impliziert, dass es relative Perspektiven auf die Welt gibt. Da­gegen: Zima, Theorie, S. 173. 164 Luhmann, Wissenschaft, S. 13. 165 Im Übrigen war es möglicherweise gerade die verwirrende Vielzahl der Positionen, die es ermöglichten, sie als durchgängig weltanschaulich determiniert zu betrachten (Vgl. ­Ringer, S.  207 f.). Wer indes einen absolut wahren Standpunkt einnahm, für den lag es ebenfalls nahe, die Ursache für die Irrtümer seiner Gegner in deren falscher Weltanschauung zu erblicken. 166 Schreiben Arthur Spiethoff an Edgar Salin (2.6.1927). UB Basel, Handschriftenabteilung. Nl Salin, Fa 9373. 167 Vgl. Kaufmann.

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Das war zunächst das Resultat des skizzierten Gegensatzes von reiner und sozialer Theorie, wobei die Frage, ob die gesellschaftlichen Verhältnisse die Voraussetzungen für die Geltung ökonomischer Gesetze oder die ökonomische Gesetze universale Geltung an sich beanspruchen konnten, letztlich nicht entscheidbar war. Auf beiden Seiten fehlte es jedoch zumeist an einem Bewusstsein für diese Problematik. Mises meinte zwar, dass die Geltung seiner Prämisse, nämlich dem eigeninteressierten menschlichen Handeln, an seinen Auswirkungen beweisbar sein sollte, womit er den Akzent auf die Leistungsfähigkeit des theoretischen Systems bei der Erklärung realer Phänomene legte. Indem er jedoch einen tautologischen Begriff des menschlichen Handelns verwandte, war auch sein System empirisch nicht zu widerlegen.168 Bei Mises führte das zu einem absoluten Beharren auf seinem Ansatz, weil dieser selbstverständlich wahr sei, sich die Probleme mit seiner Hilfe einfacher lösen ließen und er konkurrierende Theorieangebote als Lösung von Scheinproblemen entlarvte. Damit war aber klar, dass er einen einsamen Kampf gegen den Rest der Disziplin führte, die er, wie seine Erinnerungen demonstrieren, mit Verachtung strafte.169 Erstaunlicherweise war die soziale Theorie, obwohl sie wenigstens z. T. auf einer neukantianischen Epistemologie beruhte und damit eine gewisse Rela­ tivität der Standpunkte einzuräumen gezwungen war, im Hinblick auf die Absolutheit der von ihnen vertretenen Position zumeist wenig besser. Amonn etwa beanspruchte, seine Grundbegriffslehre aus einer rein logischen Analyse des Erkenntnisobjektes in Bezug auf die in ihr liegenden begrifflichen Elemente entwickelt zu haben.170 Durch die Unterscheidung von Erfahrungs- und Erkenntnisobjekt betonte er auf der einen Seite den konstruktiven Charakter der wissenschaftlichen Erkenntnis, ließ aber auf der anderen Seite eine plurale Herangehensweise trotzdem nicht zu. Denn Amonn ging es nicht im Sinne Max Webers um die Herausarbeitung einer bestimmten Fragestellung, sondern um die Konstituierung einer Wissenschaft. Damit eliminierte er unter der Hand einen für Weber zentralen Gesichtspunkt aus seiner Theorie, nämlich den Bezug der Fragestellung auf Kulturprobleme, die auf diese Weise, gewissermaßen unter der Hand, zu einer »wertfreien« wurde. Im Grunde gab es für Amonn also nur einen logisch angemessenen Weg, das Erfahrungsobjekt so zu präparieren, dass die theoretische Nationalökonomie als Wissenschaft begründungsfähig wurde und eine innere Struktur erhielt, bei der Methode und Untersuchungs168 Max Weber hatte schon 1904 von der »Sinnlosigkeit des selbst die Historiker unseres Faches gelegentlich beherrschenden Gedankens« geschrieben, »dass es das, wenn auch noch so ferne, Ziel der Kulturwissenschaften sein könne, ein geschlossenes System von Be­ griffen zu bilden, in dem die Wirklichkeit in einer in irgendeinem Sinne endgültigen Gliederung zusammengefasst und aus dem heraus sie dann wieder deduziert werden könnte.« Weber, »Objektivität«, S. 184. 169 Mises, Erinnerungen, S. 69. 170 Amonn, Objekt und Grundbegriffe, S. 215.

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gegenstand konvergierten. Das wiederum führte dazu, dass mit der Kritik am Erkenntnisobjekt gleich das gesamte Fundament der Wissenschaft ins Wanken geriet. Amonn schrieb, sein Gedankengebäude habe »seinen eigenen logischen und erkenntnistheoretischen Grund. Wenn es stürzen soll, muss ihm dieser entzogen werden.«171 Im epistemologischen Fundament wurde also der einzige Ansatzpunkt für Kritik zugestanden, womit das Werk aber selbst jeden Versuch zur produktiven Weiterbildung blockierte. Es reihte sich bewusst nicht in einen Forschungsdiskurs ein, sondern beanspruchte einen monolithischen Status, indem spezifische Probleme für gelöst erklärt wurden.172 Was Amonn und Mises außer ihrem logischen Absolutheitsanspruch verbindet, ist, dass beide die Entscheidung über ihren Ansatz auf ihre theoretischen Grundlagen zuspitzten. Der systematische Ausbau ihrer Gedanken erfolgte logisch konsequent aus ihren Prämissen, was auf einen engen Zusammenhang zwischen den epistemologischen Fundierungsversuchen und der im letzten Kapitel beschriebenen Suche nach dem »neuen System« verweist. Die meisten im Rahmen dieses Kapitels verhandelten Autoren benannten es als Ziel ihrer methodologischen Bemühungen, das Fundament zu legen, auf dem sich anschließend ein solches System errichten ließ. Welche theoretische Form war aber gemeint, wenn von einem System als Ziel der nationalökonomischen Theoriebildung gesprochen wurde? Horst Wagenführ z. B., der 1933 eine umfangreiche Analyse des Systemgedankens in der Nationalökonomie vorlegte, sah ein System dann vorliegen, wenn aus bestimmten, klar definierten Obersätzen Grundbegriffe abgeleitet wurden, aus denen dann die Erklärung weiterer Zusammenhänge folgte. Das letzte Ziel bestand nach Wagenführ in der Erklärung der voll entwickelten Wirtschaft der europäisch-amerikanischen Zivilisation in ihrer Bedingtheit durch die gesellschaftlichen Verhältnisse.173 Mit dieser Bestimmung erfasste Wagenführ ziemlich genau den in der Methodendebatte prätendierten Aufbau solcher Systeme, die in der Regel von bestimmten, »letzten« Obersätzen ausgingen: Bei Cassel das Prinzip der Knappheit, bei Liefmann die psychische Ertragskalkulation, bei Spann der Vorrang des Ganzen vor den Teilen. Von diesen Obersätzen ausgehend konnte dann eine logisch geschlossene Theorie entwickelt werden, oder es ließe sich sogar weitergehend sagen: Diese Form der Theoriebildung wurde in dem Moment, wo bestimmte Obersätze aufgestellt wurden, geradezu erzwungen. Denn die absolute Geltung der Obersätze vorausgesetzt, musste jeder Grundbegriff und jede weitere Ableitung den logischen Zusammenhang mit diesen halten; ansonsten wäre der logische Charakter der Theorie genauso wie die objektive Geltung der Obersätze in Frage gestellt worden. Was in der Methodendebatte verhandelt wurde, nämlich die letzten Grundlagen nationalökonomischer Erkenntnis,

171 Ebd., S. 403. 172 Bes. ebd., S. 262. 173 Wagenführ, Systemgedanke, S. 219 f.

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lässt sich von der Aufstellung nationalökonomischer Systeme bzw. der Forderung danach nicht trennen.174 Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang auch andere Systemdefini­ tionen: Für Sombart meinte eine Theorie aufstellen, die Einzelbegriffe zu einer systematischen Einheit zusammenzufügen, die objektiven Sinnzusammenhänge in Gedankenzusammenhänge, also in ein Begriffssystem zu übertragen.175 Oppenheimer sah im System die einzige Möglichkeit einer Wissenschaft, sich selbst zu finden. Es stellte für ihn ein theoretisches Konstrukt mit dem Anspruch der Totaldeutung der gesellschaftlichen Wirklichkeit ausgehend von bestimmten Grundprämissen dar.176 Spann unterschied erstens einen individualistischen Systembegriff, der vom Handeln der Individuen ausging und deren Verbindung zu einer sozialen Ordnung durch mechanische Kausalbeziehungen erklären wollte, sowie zweitens einen (von ihm vertretenen) universalis­tischen Systembegriff, der vom Ganzen ausging, und alle Menschen oder Unter­nehmen als Ausgliederungen dieses Ganzen ansah. Die Wirtschaft stellte ein solches Ganzes dar, über dem es jedoch noch höhere Ganzheiten gab; am Ende das All und Gott.177 Hier wird deutlich, dass die Konstruktion des Gegenstandsbereichs der Systembildung nicht auf Teilbereiche der Wirtschaft beschränkt blieb, sondern sie als Ganzes in den Blick nahm. In der Nachfolge der großen volkswirtschaft­ lichen und soziologischen Systementwürfe seit dem 18. Jahrhundert wurde mit der Systemforderung der Anspruch formuliert, eine Totalerklärung der Wirtschaft zu liefern. Nur durfte die Schaffung eines solchen Systems nicht willkürlich erfolgen, sondern musste auf bestimmten logischen Grundlagen aufruhen. Sollte die Systembildung dann im Einzelnen kritisiert werden, war der entscheidende und einzig schlagende Angriffspunkt ihr epistemologisches Fundament. Schwächen in der logischen Durchführung der Systembildung konnten bestenfalls zusätzliche Angriffsmunition liefern, im Sinne fehlender handwerklicher Fähigkeiten, aber nicht das System als Ganzes zum Einsturz bringen. Es liegt nahe, an genau dieser Stelle den eigentlichen Grund für die Schärfe der Methodendebatte zu erblicken. Es entwickelte sich eine vertikale Dynamik, die Diskussionen auf tiefer gelegene Begründungsebenen zu verlagern, wenn prinzipiell jede positive Behauptung im Hinblick auf die ihr zugrunde liegenden Prämissen und Erkenntnisgrundlagen kritisiert werden konnte.178 Das wurde 174 Im Übrigen, darauf hatte Lifschitz vor dem Krieg schon hingewiesen, beinhaltete die Forderung nach Aufstellung eines Systems zugleich die Notwendigkeit, bestimmte universaler Gesetzmäßigkeiten im Wirtschaftsleben vorauszusetzen. Ein »empirisches« System war also nicht denkbar. Lifschitz, Untersuchungen, S. 83. 175 Sombart, Die drei Nationalökonomien, S. 298. 176 Oppenheimer, System Band 1/1. S. XVIII. 177 Spann, Systemgedanken, S. 15 ff. 178 »Wer auf Begründbarkeit insistiert, muss eine trichterförmige Vorstellung der Ordnung des Wissens haben, also mehr oder weniger hierarchisch denken. Es darf nur relativ wenig Gründe von hinreichender Evidenz geben.« Luhmann, Wissenschaft, S. 435.

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einerseits von den Theorien forciert, die mit dem Anspruch auf Letztbegründung auftraten, war aber zugleich auch ein probates Kampfmittel der wissenschaftlichen Konkurrenz, die positive Aussagen im Hinblick auf ihre verfehlte Fundierung bewerten und kritisieren konnte.179 Auf diese Weise wirkte die Methoden­debatte auf die gesamte Disziplin zurück: Sie machte bewusst, dass bestimmte positive Erkenntnisse auf bestimmten Voraussetzungen beruhten. Das nötigte auch Untersuchungen von Spezialproblemen im Zweifelsfall dazu, über ihre methodologischen Grundlagen Rechenschaft abzulegen, weshalb Predöhl die 1920er Jahre zurecht als die große Zeit der methodologischen Ein­ leitungskapitel bezeichnen konnte.180 Bezeichnenderweise schrieb Heimann, dass die gewählte Methode schon weitgehend die Ergebnisse bestimmte, dass die Überlegungen zu Methodenfragen eben nicht eine stattfindende Forschung begleiteten und reflektierten, sondern selbst die Grundlage für neue Forschung legen wollten und damit zugleich ihre Vorstellung einer bestimmten Ordnung kommunizierten. Ein großes Problem der Methodendebatte während der Weimarer Republik bestand darin, dass das Problem der methodologischen Fundierung der Nationalökonomie nicht zu lösen war, solange es als das Problem der (Letzt-)Begründung wissenschaftlicher Erkenntnis verhandelt wurde, denn die »letzten« Unterscheidungen konnten augenscheinlich ganz verschieden getroffen werden. Das aber zuzugeben, hätte für die meisten Nationalökonomen nicht nur die Konsequenz gehabt, den Anspruch auf objektive Wahrheitserkenntnis fallen zu lassen, sondern auch die Möglichkeit der Systembildung zu negieren. Das führte zu der Konsequenz, dass Spann, Sombart, Gottl-Ottlilienfeld, Plenge und andere nach einer Form der ontologischen Ganzheitserkenntnis strebten und dennoch viel Zeit und Papier verbrauchten, gegeneinander zu polemi­sieren, weil sie über die Frage, was diese Ganzheiten ausmachte, divergierende Ansichten vertraten. Dass indes der Anspruch auf Letztbegründung von so vielen Seiten vertreten wurde, machte wiederum die Kontingenz der Systeme sichtbar181 und führte gerade dazu, die Krise der Nationalökonomie im Chaos der abweichenden Meinungen zu verorten. Mitunter konnte die Vielzahl der Systeme dann sogar in den Vorwurf der »Systemlosigkeit« der Nationalökonomie münden182, was, angesichts der zahlreichen Anstrengungen, solche Systeme zu schaffen und methodologisch zu begründen, eine durchaus ironische Pointe war.

179 Hans Kretschmar wies auf ein Moment hin, »das in der theoretischen Diskussion der letzten Jahre immer wieder zutage tritt […]: es wird versucht, die eigne und die angegriffene (oder mindestens: als allein gültig bestrittene) Position auf endgültige Formulierungen zu bringen, die dann als Gegensatzpaare die Kontroversen und Untersuchungen be­herrschen.« Kretschmar, S. 7. 180 Predöhl, Cassel, S. 12. 181 Laube, S. 494. 182 Nickel, Wirtschaftswissenschaft. Levy, Nationalökonomie.

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4.3.2 Mögliche Auswege: Die Rettung in den Pragmatismus? Angesichts dieser Situation war eine Lösung der Krise nur theoretisch denkbar, dass sich nämlich die Wissenschaft auf einen Standpunkt einigte. In den System­ entwürfen wurde häufig die Erwartung formuliert, die eigene Position werde sich deswegen durchsetzen, weil sie wahr sei. Gerade der Hinweis darauf, dass die Neufokussierung der Erkenntnis eigentlich eine ganz einfache war, diente als Mittel, das zu unterstreichen. Die praktischen Anforderungen, die für eine solche Einigung erforderlich waren, wurden aber kaum jemals ernsthaft thematisiert. Es fehlte der Nationalökonomie offensichtlich auch an logischen Mitteln, die Kontingenz der Letztunterscheidungen und Systementwürfe theoretisch zu verarbeiten. Die aus dem Systemdenken resultierenden Schwierigkeiten blieben innerhalb der Disziplin ja nicht verborgen und waren der Selbst­beobachtung der Wissenschaft durchaus zugänglich, wobei sich aber hier offenbarte, wie man daran scheiterte, pragmatisch damit umzugehen, dass »letzte Unterscheidungen« verschieden getroffen und eine verbindliche Weltbeschreibung unter den Bedingungen einer polyzentrischen Moderne und im Besonderen der Weimarer Republik kaum durchsetzbar war. Gerade in den vielen Krisendiagnosen wurde immer wieder auf die Vielzahl der Meinungen, die Verhärtung der Standpunkte etc. hingewiesen, der Ausweg jedoch darin gesehen, den eigenen »objektiven« Ansatz als Lösung vorzuschlagen.183 Die Krisenursache sollte also darin liegen, dass diese Systeme in Wirklichkeit doch nicht letztbegründet waren, sondern von falschen Voraussetzungen ausgingen.184 Auch die Versuche, zu einer »­Synthese« der verschiedenen Richtung zu gelangen, bedeuteten letztlich nichts anderes, weil auch hier die Divergenz verschiedener Ansätze in einem »höheren Dritten« überwunden werden sollte.185 Aus diesem Grund führten die Bemühungen, die Krise der Nationalökonomie zu überwinden, lediglich dazu, sie weiter fortzuschreiben.186 Insofern gab es erstens zumeist keine Möglichkeit, Theorien anders als hierarchisch zu konstruieren. Zweitens wurde jede Abkehr von einem absoluten Begründungsanspruch als bedrückend und eher als Festschreibung der Krise denn als Möglichkeit zu ihrer Überwindung betrachtet. Zeitgenössisch hätte sich vielleicht noch am ehesten in Karl Mannheims Konzept einer »Wissens­ soziologie« eine Lösung für die selbstreferentiellen Schwierigkeiten angeboten, in denen sich die Nationalökonomie befand. Jedoch ist nur daran zu erinnern, 183 So z. B. auch Salin, der die Standpunktgebundenheit der Erkenntnis geradezu als Signum der Zeit hervorhob, zugleich jedoch in der Schau eine Form der Erkenntnis erblickte, die diese Standpunktgebundenheit transzendierte und aufhob. Edgar Salin: Nationalökonomie als Wissenschaft (1927). UB Basel, Handschriftenabteilung. Nl Salin, B367. 184 Typisch: Stolzmann, Krisis. 185 Kretschmar, S. 14 f. Egner, Wandlungen, S. 71 ff. 186 Wer ein Gefühl für die z. T. absurden performativen Widersprüche bekommen möchte, die bei der Diskussion solcher Fragen auftraten, sei nachdrücklich empfohlen: Winter, Kritik.

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wie emotional Mannheims 1929 erschienenes Werk Ideologie und Utopie diskutiert wurde und dass mit der Vorstellung der Seinsverbundenheit der Erkenntnis sich für viele Wissenschaftler geradezu ein Abgrund des Relativismus auftat, der genauso ein epistemologisches wie ein Lebensproblem darstellte.187 Die konstruktivistische Selbstverständlichkeit, mit der etwa die systemtheoretische Soziologie heute daran gewöhnt ist, die Kontingenz ihrer eigenen Unterscheidungen als Voraussetzung in die epistemologischen Überlegungen wieder einzuführen, fehlte in den 1920er Jahren nahezu völlig. Was sich dann noch als Alternative anbot, war eine pragmatische Haltung, sich von methodologischen Grundsatzdebatten überhaupt abzuwenden. Leopold von Wiese lobte beispielsweise das eklektische Lehrbuch Allgemeine Volks­ wirtschaftslehre Adolf Webers188 weit mehr, als dieses es verdiente, weil es sich seines Erachtens nicht um einen Systementwurf handelte, sondern einfach vorhandenes Wissen zusammengefügt wurde.189 Moritz Julius Bonn bekundete genervt, er könne mit dem in der Nationalökonomie herrschenden Tiefsinn wenig anfangen und sei ein Freund anwendungsorientierter Forschung190, und Amonn veröffentlichte 1926 sein Werk Grundzüge der Volkswohlstands­ lehre, in dem er in erster Linie das Verbindende der verschiedenen nationalökonomischen Positionen herausarbeiten wollte.191 Die kaum überraschend vor­getragene Kritik, die Gedankenführung des Werkes sei unsystematisch192, konterte ausgerechnet der gestrenge Kritiker Amonn mit einem flammenden Bekenntnis zum Eklektizismus!193 Zu erwarten war eine solche Haltung von dieser Seite kaum.194 Hervorzuheben sind auch die organisatorischen Anstrengungen von Harms, der am Institut für Weltwirtschaft sowohl »Gefüge«- als auch »Gebilde«-Theoretiker zusammenführen wollte, also Theoretiker und Organizisten wie Gottl-Ottlilienfeld und Plenge, zu dem Harms eine besondere Affinität hatte.195 Dabei handelte es sich aber um einzelne Meinungen und Bemühungen, die ausnahmsweise nicht die Überwindung der Krise mittels eines Ansatzes leisten wollten, der lediglich geeignet war, dem Krisendiskurs neue Nahrung zu geben.196 187 Vgl. Meja, Streit. Mannheim, Ideologie. 188 Weber, Allgemeine Volkswirtschaftslehre. 189 Wiese, Allgemeine Volkswirtschaftslehre. 1925 hatte Wiese allerdings geschrieben, dass der Liberalismus in Teilen zwar noch vorhanden sei, die wahre Einheit eines geschlossenen, die Anforderungen der Gegenwart in sich aufnehmenden Systems« aber fehle. Ders., Liberalismus?, S. 28. 190 Schreiben Moritz Julius Bonn an Windelband (30.7.1932). BA Koblenz. Nl Bonn, 82/53. 191 Amonn, Volkswohlstandslehre, S. III. 192 Diehl, Volkswohlstandslehre, S. 255 f. 193 Amonn, Gegenwartsaufgaben, S. 496 f. 194 Kurz, Nationalökonomie, S. 26. 195 Salin, Harms, S. 37. 196 Zu erwähnen sind auch diverse Hinweise darauf, dass die scharfen Gegensätze der verschiedenen Richtungen in Wirklichkeit gar nicht bestehen würden. Z. B. von Below, Besprechung, S. 177. Kretschmar, S. 14 f.

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Vielleicht am scharfsinnigsten wurde die Eigendynamik des Streits um die letzten Grundlagen von Schumpeter durchschaut. Zugleich antizipierte er in seinem Aufsatz Gustav v. Schmoller und die Probleme von heute197, der 1926 in Schmollers Jahrbuch erschien, auch eine Lösungsmöglichkeit für die verfahrene Situation, in der sich die Nationalökonomie befand. Liest man diesen Text vor dem Hintergrund der Methodendiskussion der 1920er Jahre, wird jedenfalls relativ schnell klar, dass es sich kaum allein um eine Konzession an die deutsche Nationalökonomie nach seiner Berufung nach Bonn gehandelt habe, die ihn aus einer persönlich schwierigen Lage befreite.198 Vielmehr war dieser Text vor allem eine Auseinandersetzung mit der Volkswirtschaftslehre seiner Zeit. Dass allerdings die jüngeren, theoretisch arbeitenden Ökonomen wie Alexander Rüstow den Text geradezu als Verrat empfanden199, deutet darauf hin, dass die Botschaft doch etwas ungeschickt oder zu subtil formuliert war, wenn Schumpeter bei der damals herrschenden Stimmung in aller erster Linie die Aktualität Schmollerscher Fragestellungen und Arbeitsweisen betonte. Es lohnt sich indes, Schumpeters Aufsatz etwas näher zu betrachten, um zu sehen, dass es sich keineswegs um eine kritiklose Schmoller-Apologie handelte. Sicher behandelte Schumpeter Schmoller, bei dem er in Berlin kurze Zeit studiert hatte200, wohlwollend und nahm ihn gegen die Kritik Salins explizit in Schutz. Aber letztlich ging es weniger um dessen Person, als um den Geist einer pragmatischen und anwendungsorientierten Arbeitsweise, die sich an Systemund Theoriegrenzen nicht aufhielt. Unter der Hand wurde der Text zu einer Generalkritik an der deutschen Nationalökonomie. Schumpeter schrieb, dass seine Ausführungen nicht aus dem Geist des Erkenntnistheoretikers oder des »Methodenkämpfers« erwüchsen, sondern aus dem praktischer wissenschaftlicher Arbeit. Bezeichnend sind dabei seine Ausführungen über die Versuche epistemologischer Letztbegründung: »Der Erkenntnistheoretiker muss, will er seine Aufgabe fördern, weitgehend vereinfachend und isolierend, die unterscheidbaren Gedankenelemente herausstellen – auf ihre logische Natur prüfen, um womöglich jeder Disziplin eine logisch einheitliche Arbeitsweise, ›Methode‹, und ein daraus logisch möglichst zwingend sich ergebendes Problemgebiet zuzuordnen, worin ihn der Methodenkämpfer kopiert. Diese Aufgabe – und die philo­ sophische Sublimierung der einzelwissenschaftlichen Dinge – hat ihre Funktion und ihren Reiz. Aber die Praxis wissenschaftlicher Arbeit fördert sie nur ebenso selten als eine ästhetische Untersuchung die Praxis des Kunstschaffens.«201 Hier kommt man dem Appell an den Pragmatismus der Beteiligten, genauer auf die Spur. ­Schumpeter forderte eine problemorientierte Arbeitsweise, die er von einer methoden­orientierten abhob. Es ging nicht darum, die letzten logischen 197 Schumpeter, Schmoller. 198 Swedberg, Schumpeter, S. 103. Kesting, S. 133 ff. 199 Schreiben Alexander Rüstow an Walter Eucken (11.11.1926). BA Koblenz. Nl Rüstow, 169/17. 200 McCraw, Prophet, S. 57. 201 Schumpeter, Schmoller, S. 358.

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Probleme natio­nalökonomischer Erkenntnis zu lüften, sondern produktiv wissenschaftliche Probleme zu bearbeiten.202 Im Vollzug dieser Bearbeitung, das war die eigent­liche Pointe, lösten sich die methodischen Gegensätze (konkret/ abstrakt; induktiv/deduktiv) zunehmend auf und führten selbst wiederum zur Weiterbildung der Theorie: »In allen diesen Fällen bei der ›Konkretisierung‹, der ›Daten‹- und ›Anwendungstheorien‹ liegt also keine Präzisierung einer grundsätzlich autonomen Nomographie zum Zweck ihrer Annäherung an den Einzelfall vor, sondern eine Bereicherung und Veränderung des Systems und des Gedankengangs selbst.«203 Der vollständige Sinn dieses Zitats wird erst verständlich, wenn er vor dem Hintergrund des in der Nationalökonomie herrschenden, theoretischen Isolationismus gesehen wird. Der Pionier der theoretischen Dynamik, Joseph Schumpeter, forderte eine Dynamisierung des ökonomischen Denkens, das sich vom statischen, letztlich geschichtslosen Systemdenken verabschieden sollte. Die epistemologischen Grundpositionen wurden damit auf den Kopf gestellt. Es ging nicht länger um die Konstruktion eines Systems ausgehend von letzten Grundlagen, sondern Ausgangspunkt sollte eine bestimmte Fragestellung sein, die noch nicht einmal bewusst auf bestimmte Werte bezogen sein musste. Sie ergab sich gewissermaßen von selbst aus dem lebendigen Interesse an den Phänomenen des Wirtschaftslebens. Hatte sich erst einmal diese problemorientierte Arbeitsweise durchgesetzt, erwiesen sich die epistemologischen Schwierigkeiten als Scheinprobleme. Scheinprobleme insoweit, als sie zwar logisch nicht von der Hand zu weisen, aber für das Handeln letztlich bedeutungslos waren. An dieser Stelle befand sich der eigentliche methodische Anknüpfungspunkt ­Schumpeters an Schmoller, der eine flexible Systembildung zum Zweck der praktischen Erkenntnis stets besonders betont hatte.204 Mit seiner Unterscheidung von Begriffen und Problemen forderte Schumpeter nicht unbedingt eine Suspendierung der Methodendiskussion überhaupt, aber der Suche nach den letzten Grundlagen der Wahrheitserkenntnis, aus der Einsicht, dass es hier keine Lösung geben konnte, solange sich nicht alle Wissenschaftler spontan einigten, was bei der Zerstrittenheit der Disziplin kaum zu erwarten war. »Systeme« sollten weniger logisch geschlossene Begriffssysteme, als anpassungs- und weiterbildungsfähig sein. Sie sollten nicht einen logischen Rahmen ein für allemal festlegen, sondern eine flexible, problemorientierte Arbeitsweise ermöglichen. Von Methodenproblemen war insofern aus der Einsicht heraus zu schweigen, dass gute Resultate auch dann erzielt werden konnten, wenn nicht letztbegründet wurde, wie man dabei gerade vorging.205 202 Diese Einstellung hatte Schumpeter im Übrigen bereits in seinem ersten großen theore­ tischen Werk verfochten: Ders., Wesen, S. 7. 203 Ders., Schmoller, S. 375. 204 Vgl. Schmoller, Volkswirtschaft, S. 275 ff. Ders., Schönberg, S. 156. 205 In ähnlicher Weise argumentierte Schumpeter übrigens auch in anderen zu dieser Zeit geschriebenen Texten. Schumpeter, Deutschland, S. 9 ff. Ders., Cassel.

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Es waren seit Mitte der 1920er Jahre vor allem jüngere Theoretiker, die den Charakter der Nationalökonomie als einer »technischen Disziplin« hervorhoben, später z. T. (wie Röpke, Preiser und andere)  auf methodologische Kritik geradezu allergisch reagierten206 und den philosophischen »Tiefsinn« aus der Ökonomie zu verbannen suchten. Aber noch der methodologisch-program­ matische Teil von Euckens Grundlagen der Nationalökonomie von 1940 lässt sich mit Schumpeters Überlegungen durchaus vergleichen, auch wenn die Bewertung Schmollers bei Eucken kritischer ausfiel.207 Andreas Voigt brachte bereits 1918 in dem schon erwähnten Schreiben an Hero Moeller einen zentralen Gesichtspunkt prägnant auf den Punkt: »In den Naturwissenschaften hat man nie viel über die Methode nachgedacht und niemals über sie ernstlich gestritten. Der Erfolg hat hier entschieden und so wird es auch bei uns sein.«208 Nur stellt sich dieser »Erfolg« in der Wissenschaft nicht unbedingt als Resultat einer größeren objektiven Wahrheit ein, sondern aufgrund der Durchsetzung einer Theorie und ihrer Überführung in den gesicherten Wissensbestand einer Disziplin. Der Paradigmenverlust der National­ökonomie hatte indes eine Lage geschaffen, in der die Disziplin die Durchsetzung einer Theorie oder eines Paradigmas selbst blockierte. Nach der hier vorgeschlagenen Lesart deckte Schumpeters Text diesen Zusammenhang auf und entwickelte das Programm einer »Verhaltenstherapie«, um die deutsche Nationalökonomie zu produktiver Forschungsarbeit zurückzuführen. Er wies dabei vor allem auf den Punkt hin, dass die Art und Weise, wie Methodenfragen behandelt wurden, ein wesentlicher Grund für das geringe theoretische Niveau der Forschung war. Denn durch die Krise des Faches und die sie verstärkende Methodendiskussion wurde eine Begründungsproblematik nationalökonomischer Erkenntnis geschaffen, die geradezu dazu zwang, immer von neuem anzusetzen. Der Finanzwissenschaftler Wilhelm Gehlhoff wies in einem kleinen Aufsatz in »Schmollers Jahrbuch« auf genau diesen Punkt hin und sah darin den Grund, warum die Theorie­bildung über ein bestimmtes analytisches Niveau nicht hinausgelangen konnte.209 Implizit äußerte Schumpeter jedoch den Verdacht, dass die methodischen Grundsatzdebatten auch eine positive Funktion für die Disziplin erfüllten: Die Rückführung praktischer Probleme auf ihr epistemologisches Fundament, die von Harms kritisierte Haltung, erst die fundamentalen Erkenntnisprobleme lösen zu müssen, bevor der Praxis geholfen werden könne, diente auch dazu, den durch die wirtschaftlichen Krisen auf der Disziplin lastenden Problemdruck abzumildern. Mittels der Selbstinszenierung als »in der Krise« konnte die Antwort auf an sie gestellte Fragen herausgeschoben werden. Damit gewann sie ein Stück der Alltagsentlastetheit zurück, die ihre Situation vor dem Krieg noch gekennzeichnet hatte. 206 Vgl. Preiser, Rezension Kühnemann. 207 Eucken, Grundlagen, bes. S. 44 f. 208 Schreiben Andreas Voigt an Hero Moeller (21.1.1918). UB Tübingen. Nl Moeller. 209 Gehlhoff, Zukunft, S. 264 ff.

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4.3.3 Methodendebatte und Krise Abschließend soll in diesem Kapitel noch der Versuch unternommen werden, die Krise der Nationalökonomie wissenschaftstheoretisch zu verorten, indem die einleitenden systemtheoretischen Überlegungen aufgegriffen werden. Nach Luhmann ist das Wissenschaftssystem mit einem Übermaß an Komplexität konfrontiert, die reduziert werden muss. Zu diesem Zweck bildet das System bestimmte Strukturen aus, die eine Limitationalität generieren: Auf diese Weise kann nicht jede Aussage und jede Theorie gleichsam vorurteils- und geschichtslos als wahr oder falsch kommuniziert werden, sondern es findet eine »Vorauswahl« statt, die sich in die historisch gewordenen Strukturen des Systems einschreibt. Die Codewerte wahr/falsch allein gewährleisten diese Selektion noch nicht, weil sie für sich genommen kein Kriterium ihrer richtigen Zuteilung enthalten.210 Die Implementation von Limitationalität findet durch sog. »Programmierung« statt, wobei sich zwei verschiedene Arten von Programmen unterscheiden lassen, nämlich Theorien und Methoden. Theorien werden von Luhmann als die Form aufgefasst, in der Erklärungen kommuniziert und reformuliert werden können. Sie bauen abstrahierte Interdependenzen zwischen verschiedenen Aussagen auf und stellen dadurch Zusammenhänge her, welche die Fortsetzung der wissenschaftlichen Kommunikation ermöglichen und selektiv steuern. Theorien sind dementsprechend »komplexe Programme«, die aus einer Vielzahl von Sätzen bestehen können.211 Sie zielen auf die Anfertigung einer komplexen Beschreibung, und die Leistungsfähigkeit von Theorien im so verstandenen Sinne erweist sich vor allem dadurch, dass sie ausbaufähig, erweiterbar, anschlussfähig sind. »Keine Wissenschaft ohne Theorie; theoretische Orientierung ist mithin ein universales Modell der Zugehörigkeit zum Wissenschaftssystem.«212 Die Theorien können jedoch strenggenommen für sich nicht kontrollieren, unter welchen Bedingungen ihre Aussagen als wahr oder falsch zu klassifizieren sind. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Wissenschaft sich in ihren Gegenständen nicht auf eine, wie auch immer gedachte Außenwelt beziehen kann, sondern diese nur intern konstruiert. Eine Theorie kann deswegen, ohne empirische Referenz, prinzipiell unendlich fortgeschrieben werden. An dieser Stelle sieht Luhmann die Aufgabe der Methoden: »Methoden lösen auf der Ebene der Programme das ein, was dem System durch binäre Codierung aufgegeben ist. Sie erzwingen eine Verlagerung des Beobachtens auf die Ebene einer Selbst­ beobachtung zweiter Ordnung, auf die Ebene des Beobachtens eigener Beobachtungen. Sie ermitteln die Bedingungen, die angenommen werden müssen, um eine Entscheidung zwischen den beiden Werten zu ermöglichen.«213 Metho210 Luhmann, Wissenschaft, S. 401. 211 Vgl. ebd., S. 362 ff. 212 Ebd., S. 412 213 Ebd., S. 413 f.

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den haben in ausdifferenzierten Wissenschaften darum die Funktion, die Variabilität der Systemkommunikation zu garantieren und dabei zugleich sicherzustellen, dass diese Änderungen auch kontrolliert werden können. Üblicherweise laufen sie dabei mit Theorien »mit«, beobachten also die Kommunikation, die das System erzeugt, ohne dass dabei jedes Mal die Bedingungen, unter denen die Theorien Geltung beanspruchen können, thematisiert werden müssen. Methoden haben also in der Regel eher die Forschungsarbeit begleitenden und prüfenden Charakter, was aber in der Nationalökonomie der Weimarer Republik anders war: In der Methodendebatte wurde überhaupt erst, wenigstens der Absicht nach, die Grundlage für die theoretische Arbeit geschaffen. Methoden- und Theoriediskussionen waren insofern weitgehend identisch, was sich primär in der Theorieform des logisch geschlossenen, von bestimmten Voraussetzungen ausgehenden Systems manifestierte: ohne methodologische Fundierung konnte kein logisch geschlossenes System mit Wahrheitsanspruch entwickelt werden, wobei, wie Heimann schrieb, die methodologischen Vorannahmen bereits zu einem großen Teil die Ergebnisse bestimmten.214 Für die historische Rekonstruktion der Krise der Nationalökonomie ist es aus diesem Grund entscheidend, dass die Formulierung in Form eines Systems besonders seit dem Ersten Weltkrieg als ein zentrales Kriterium der Wahrheitsfähigkeit einer Theorie galt. Zugleich handelte es sich aber um eine hochgradig fragile Theorieform, die Variabilität nur in sehr engen Grenzen zulassen konnte. Um nochmals Luhmann zu zitieren: »Theorien müssen in Teilstücken gefertigt werden, die gegebenenfalls einen Wechsel von Anschlusstheorien oder sonstige Veränderungen in ihrem semantischen Kontext überdauern können.«215 Logisch geschlossene Systeme konnten von ihrer Struktur her solche Änderungen jedoch nur zu einem gewissen Maß integrieren. Vermutlich versuchten sie sich deswegen gegen Einflüsse von außen durch Abschließung zu immunisieren: Beispielsweise durch Entwicklung einer eigenen Sprache, in der Sachverhalte reformuliert und damit in die Systemlogik integriert werden konnten. Während die Theorien somit für sich in hohem Maße unflexibel waren, deuten die ausgreifenden Methodendiskussionen in ihrer Gesamtheit jedoch auf eine geringe Limitationalität der Systemkommunikation hin; also letztlich auf schwach ausgeprägte Strukturen innerhalb des Systems. Das lässt sich als Resultat des durch das Ende der Jüngeren Historischen Schule und historische Veränderungen verursachten Strukturverlusts des Faches interpretieren, wodurch der Bereich der potentiell wahrheitsfähigen Erkenntnis extrem groß wurde. Die Methodendebatte war eigentlich der Ort, wo es darum ging, die Kriterien zu diskutieren, wie sich die Variabilität der Systemkommunikation kontrollieren ließ, oder anders formuliert: nach welchen Kriterien Wissen stabilisiert werden konnte. Sie verfehlte ihren Zweck jedoch deswegen, weil sie letztlich (von wenigen Ausnahmen abgesehen) keine andere Lösung anbieten konnte, als die 214 Heimann, Geschichte, S. 30. 215 Luhmann, Ordnung, S. 206.

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Lösung für den Theorienpluralismus in der Einigung auf einen letzten Standpunkt zu erblicken.216 Damit wurde die Stabilisierung von Wissen extrem erschwert, und es kam zu einer fortdauernden Selbstirritation des Systems. Zusammengefasst liegt die Überlegung nahe, dass ein entscheidender Grund dafür, warum die Krisensemantik dauerhaft anschlussfähig gehalten wurde, im Versagen der Stabilisierungsmechanismen der Systemkommunikation zu finden ist. Der Vorgang der Stabilisierung, der üblicherweise »automatisch« bzw. »unsichtbar« erfolgt, wurde auf die Frage einer Entscheidung zwischen letzten Standpunkten zugespitzt, visibilisiert und dadurch erschwert. Erst die erfolg­ reiche Stabilisierung von Wissen ermöglicht aber ein »Vergessen«, so dass die epistemologischen Voraussetzungen der Theoriebildung nicht ständig mitkommuniziert werden müssen oder diese den Beteiligten nicht einmal mehr bewusst sind. Zu vermuten ist, das, um erfolgreich operieren zu können, Wissenschaften die Voraussetzungen ihrer Forschung zumindest teilweise ausblenden müssen, weil bestimmte grundlegende Probleme auf der epistemologischen Ebene nicht oder nur unter enormen Schwierigkeiten lösbar sind. Gerade das Ausmaß dieses Vergessens lässt Strukturveränderungen in der Wissenschaft dann aber so dramatisch erscheinen, so dass mit Kuhn und anderen vom revolutionären Charakter des wissenschaftlichen Fortschritts gesprochen werden kann.217

216 Vgl. Kettler, S. 155. 217 Kuhn. Fleck.

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5. Soziologische Nationalökonomen Bisher wurde argumentiert, dass die Krise der Nationalökonomie aus dem Paradigmenverlust der Disziplin mit dem Ersten Weltkrieg und den fachinternen Schwierigkeiten resultierte, mit dem Problem ihrer Neubegründung fertig zu werden. Gleichzeitig sah sich das Fach mit einer hohen gesellschaftlichen Anspruchshaltung konfrontiert, die das Fach unter großen Druck setzte, Antworten auf die drängenden Probleme der Zeit zu geben. Damit ist jedoch die Frage nach den Ursachen für die Entstehung und Fortdauer der Krise noch nicht erschöpfend beantwortet. Dieser Problemdruck resultierte jedoch nicht allein aus der Leistungsverflechtung der Nationalökonomie mit anderen Funktionssystemen, sondern hing gleichzeitig eng mit einer bestimmten Wahrnehmung der gesellschaft­ lichen Verhältnisse zusammen. Wie gezeigt, gehörte es zu den entscheidenden Problemstellungen des Faches, den Zusammenhang von wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ordnung theoretisch zu beschreiben. Zugleich trat aber mit der Revolution von 1918 das Problem auf, dass sich diese gesellschaftlichen Verhältnisse als form- und veränderbar erwiesen und sich zugleich für viele Wissenschaftler als so prekär darstellten, dass sich die Frage aufdrängte, wie diese Ordnung, die besonders im Umkreis der »Konservativen Revolution«1 als Höhepunkt einer Krise der Moderne überhaupt wahrgenommen wurde, durch eine bessere überwunden werden konnte. Nicht zuletzt hierin war die Komplexität der gesellschaftstheoretischen Dimension ökonomischen Denkens angelegt, weil es nicht nur darum ging, die Gegenwart theoretisch zu beschreiben, sondern zugleich ein Gegenbild zu entwerfen, das einen Ausweg aus ihren Bedrängnissen aufzeigen sollte. Als exemplarische Vertreter dieses Projektes werden im Folgenden Othmar Spann, Friedrich von Gottl-Ottlilienfeld und Franz Oppenheimer vorgestellt. Ihr Werk zeichnete sich wesentlich dadurch aus, dass sie die Pathologie ihrer Gegenwart von der Warte einer natürlichen Ordnung aus kritisierten, deren Gestalt diese zugleich erst sichtbar machte. Damit trugen sie schon aus dem Grund einen Dissens in die Debatte hinein, weil über die Gestalt dieser »natürlichen« Ordnung extrem unterschiedliche Ansichten existierten und sie an zahllose gesellschaftsreformerische Strömungen und Konzepte der Zeit anschließen konnten. Zugleich vertraten diese Wissenschaftler ihrer Meinung nach letztbegründete Systeme, anhand derer sich die Auswirkungen der beschriebenen Schwierigkeiten plastisch verdeutlichen lassen. Besonders Ganzheitstheoretiker wie Spann und Gottl-Ottlilienfeld fühlten sich im Besitz einer absoluten Wahr1 Mohler.

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heit und übten eine summarische Fundamentalkritik an der Disziplin, deren falsche Meinungen sie für die Krise der Nationalökonomie verantwortlich machten. Rettung und Läuterung war allein durch ihre Theorien zu erwarten. Nicht zuletzt durch ihre Sprache brachten sie zum Ausdruck, dass das Neue ihres Denkens »innovativer« Ausdrucksformen bedurfte. Auf diese Weise hermetisierten sie ihre Systeme theoretisch und sprachlich, stellten sie bewusst außerhalb der Forschungsdiskussion und scharten einen Schülerkreis um sich, der im Duktus ihrer Meister sprach und als fachinterne »Verstärker« ihrer Ansätze fungierte.2 Wie im Folgenden gezeigt werden soll, leisteten sie damit jedoch nicht viel mehr, als eine ohnehin verunsicherte Disziplin weiter zu irritieren. Es verwundert darum nicht, dass, wenn immer wieder die Unversöhnlichkeit der Standpunkte als Ursache für die Krise des Faches genannt wurde, mit oder ohne Namensnennung gerade die soziologischen Nationalökonomen gemeint waren. Schumpeter sprach 1932 abfällig von dem halben Dutzend Nationalökonomen, die glaubten, die absolute Wahrheit in der Hand zu halten, und sprach damit in jedem Fall die drei in diesem Kapitel behandelten Wissenschaftler an.3 Zugleich zeigte ihr Erfolg aber seiner Meinung, dass der Boden für sie vorhanden war. Diesen »Boden« gilt es vor dem Hintergrund der historischen Situation der Weimarer Republik zu kartieren und aufzuzeigen, worin die Plausibilität einer Einfassung der Wirtschaftslehre in eine allgemeine Gesellschaftstheorie in den 1920er Jahren bestand.

5.1 Zum Verhältnis von Soziologie und Nationalökonomie in den 1920er Jahren 5.1.1 Die gemeinsame Fragestellung von Soziologie und Nationalökonomie Den Schwierigkeiten einer Abgrenzung von ökonomischer und soziologischer Dogmengeschichte begegnet man überall, und oftmals stößt man auf Bewertungen, die zu sehr von heutigen Differenzierungen ausgehen. Etwa, wenn Spann oder Gottl-Ottlilienfeld ausschließlich als Soziologen behandelt werden4, obwohl sie auf nationalökonomischen Lehrstühlen saßen, oder wenn Karl Häuser davon spricht, die deutsche Nationalökonomie habe in der Tradition der Historischen Schule weiterhin die »Einheit der Sozialwissenschaften« vertreten.5 2 3 4 5

Harms, Ergebnis, S. 282. Schumpeter, Woher, S. 693 ff. Stölting, Soziologie, S. 35 ff. Häuser, Ende, S.  58 ff. Dieses Problem zeigt sich auch, wenn es um die »Merkwürdigkeit« geht, dass Max Weber zeitlebens nationalökonomische Lehrstühle besetzte. Neumark, Ökonomen, S. 128.

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Von dieser Einheit wurde explizit in den 1920er Jahren aber gar nicht gesprochen. Vielmehr wurde sie erst dann als Problem aufgeworfen, als die Differenz von Volkswirtschaftslehre und Soziologie institutionell bereits weitgehend festgeschrieben war.6 Die Soziologie wurde in Deutschland seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts als eigenständige Fachrichtung langsam sichtbar. Der durch Comte geprägte Begriff breitete sich nach und nach aus und wurde zum Namen für eine Richtung, die sich im weitesten Sinne mit der gesellschaftlichen und kulturellen Bedingtheit des menschlichen Lebens beschäftigte. Es gab aber noch keine eigenen Lehrstühle für Soziologie und keinen eigenen Studiengang, ­sondern lediglich eine zögernde Selbstetikettierung unter diesem Begriff, der dann besonders in den 1920er Jahren mehr und mehr eine eigenständige Forschungsrichtung bezeichnete.7 Insofern hat die Ausdifferenzierung der akademischen Fächer Soziologie und Nationalökonomie zwei Seiten: eine fachliche, die sich auf die Untersuchungsgegenstände und -methoden bezieht, und eine institutionelle. Der Prozess der institutionellen Ausdifferenzierung lässt sich relativ problemlos nachvollziehen. Nach dem Ersten Weltkrieg entstanden die ersten soziologischen Lehrstühle, wobei die Lehrstuhlbezeichnungen zumeist ein Kompositum in der Art »Soziologische Staatswirtschaftslehre« waren. Der erste Inhaber eines solchen Lehrstuhls war Oppenheimer, der 1919 in Frankfurt auf einen von Karl Kotzenberg gestifteten Lehrstuhl für Theoretische Nationalökonomie und Soziologie berufen wurde, wobei Oppenheimer sich diese Bezeichnung ausgebeten hatte, um nicht auf das, damals noch etwas obskure Label »Soziologie« reduziert zu werden. Auch wenn weitere Lehrstühle in den 1920er Jahren »Soziologie« im Namen führten, so gab es für sie dennoch keinen eigenständigen Studiengang und keinen selbständigen Studienabschluss. Institutionell trat sie höchstens als Nebenfach im volkswirtschaftlichen Diplomexamen in Erscheinung. Von einer institutionellen Ausdifferenzierung von Soziologie und Volkswirtschaftslehre, die diesen Namen auch verdient, kann folglich erst mit Abschluss der Universitätsreform Ende der 1950er Jahre gesprochen werden.8 Es ist in der Regel allerdings so, dass die institutionelle Ausdifferenzierung lediglich eine bereits stattgefundene fachliche mit mehr oder weniger großer zeitlicher Verzögerung nachvollzieht und abschließt. Wann ist jedoch der Beginn dieser fachlichen Ausdifferenzierung zu verorten und woran lässt sie sich festmachen? Um diese Frage zu beantworten, muss zunächst geklärt werden, was der den beiden Disziplinen eigentümliche Untersuchungsgegenstand ist. Darauf lässt sich nur scheinbar eine eindeutige Antwort geben: Die Volkswirtschaftslehre beschäftigt sich mit »der« Wirtschaft bzw. dem wirtschaft­ lichen Handeln, die Soziologie mit »der« Gesellschaft bzw. dem gesellschaftlich/ 6 Vgl. Hesse, Wirtschaft, S. 270 ff. Kraft, Verhältnis, S. 66 ff. 7 Vgl. Stölting, Soziologie, S. 101 ff. 8 Hesse, Wirtschaft, S. 60 ff.

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sozialen/kulturellen Handeln.9 Diese Untersuchungsgegenstände werden heute besonders von der Volkswirtschaftslehre scharf getrennt gesehen. Letztere modelliert das menschliche Handeln mit Hilfe der Kunstfigur des homo oeconomi­ cus, also eines »rationalen Nutzenmaximierers«, und versucht sich in ihren theoretischen Modellierungen einem naturwissenschaftlichen Wissenschafts­ ideal anzunähern. Eventuell auftretende Erklärungsdefizite, dass etwa die gesellschaftlich-kulturellen Rahmenbedingungen ökonomisches Handeln beein­ flussen und zu regional stark differierenden Institutionenbildungen führen können10, werden in Form punktueller Erweiterungen des Paradigmas gelöst, so z. B. der Neuen Institutionenökonomik.11 Dagegen lässt sich in der Soziologie ein sehr viel stärkerer Theorien- und Methodenpluralismus beobachten: Fanden Methodendebatten in der Volkswirtschaftslehre nach dem Zweiten Weltkrieg kaum mehr statt, nahmen diese in der Soziologie weiterhin einen breiten Raum ein. Mittlerweile scheint der Theorien- und Methodenpluralismus jedoch allgemein akzeptiert zu sein, ohne dass sich die Disziplin davon über die Maßen irritieren ließe.12 Es ist aus dem Grund wichtig, diesen Unterschied zu skizzieren, weil aus heutiger Sicht kaum noch zu erahnen ist, dass sich die Soziologie institutionell und fachlich neben ihren ausgeprägten Wurzeln in Philosophie und Geschichte vor allem aus der Nationalökonomie ausdifferenziert hat. Insofern ist davon auszugehen, dass es eine den Disziplinen gemeinsame Fragestellung gegeben haben muss. Diese Fragestellung, die insgesamt für die Ausprägung der Sozialwissenschaften im 18. und 19. Jahrhundert entscheidende Bedeutung hatte, war im weitesten Sinne die nach der Möglichkeit und dem Zustandekommen sozialer Ordnung und dabei besonders dem Zusammenhang von ökonomischer und gesellschaftlicher Ordnung13, wie also das menschliche Handeln koordiniert wurde, wenn die Menschen in ihrem Handeln eine solche Koordination nicht explizit beabsichtigten.14 Diese Frage ließ sich jedoch für die gesellschaftliche, wirtschaftliche und staatliche Ordnung in gleicher Weise stellen  – wobei das voraussetzte, diese Bereiche überhaupt erst einmal zu unterscheiden15 – und ließ ihr Zustandekommen unter den Bedingungen der Moderne als unwahrscheinlich erscheinen.16 Es konnte nicht davon ausgegangen werden, dass die Men 9 Zu den Abgrenzungsproblemen vgl. Krause, Ökonomische Soziologie, S. 4 ff. 10 Vgl. die Diskussionen um die »Varieties of Capitalism« in: Berghahn u. Vitols. 11 Dagegen z. B. Kirchgässner. Volckart. Mantzavinos. 12 Das gibt zumindest einen Hinweis darauf, dass Theoriepluralismus allein nicht ausreicht, die »Krise« einer Wissenschaft zu induzieren. Lichtblau, Transformationen, S. 14. Joas u. Knöbl, S. 35 ff. 13 Luhmann, Ordnung, S. 244 ff. 14 Leijonhufvud, Schools, S. 89. 15 Eine Unterscheidung, die sich erst durchsetzen konnte, als sich die Wirtschaft als soziales Funktionssystem bereits ausdifferenziert hatte. Vgl. Luhmann, Gesellschaft, S.  707 ff. ­Polanyi, S. 156 ff. 16 Luhmann, Ordnung, S. 208 ff.

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schen in ihrem Handeln die Schaffung einer solchen Ordnung beabsichtigten. Was also hielt die Gesellschaft zusammen und koordinierte die Einzelhandlungen? Historisch wurden darauf zahlreiche Antworten gegeben: die Herrschaftsgewalt des Leviathan, die Sympathie, das Eigeninteresse, die Rechtsordnung oder der Volksgeist. Darüber hinaus lag es aber auch nahe, zwischen der wirtschaftlichen, sozialen und staatlichen Ordnung einen Zusammenhang zu konstruieren.17 Für Adam Smith war der wirtschaftliche Austausch ganz wesentlich auch eine Form der Verständigung und Voraussetzung für die Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft.18 Spencer sah das Integrationsprinzip industrieller Gesellschaften in der freiwilligen ökonomischen Kooperation der Menschen. Marx wiederum gab auf die Frage nach dem Zusammenhang von ökonomischer und sozialer Ordnung bekanntermaßen seine ganz eigene Antwort.19 Wurde hier vorausgesetzt, dass sich wirtschaftliche, gesellschaftliche und staatliche Ordnung gegenseitig bedingten, ging auch die Historische Schule noch ganz selbstverständlich von einer harmonischen Koevolution der gesellschaftlichen Institutionen aus. Damit präsupponierte sie einen Parallellauf von wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung, und konnte somit strenggenommen gar nicht zwischen einer »ökonomischen« und einer »soziologischen« Betrachtungsweise differenzieren.20 Die österreichische Schule hingegen schuf zwar eine weitgehend autonome Wirtschaftstheorie, blendete dabei allerdings die Gesellschaft weitgehend aus bzw. zwang sie in den Rahmen ökonomischer Gesetzmäßigkeiten. Lieferte die Jüngere Historische Schule daher, zugespitzt, eine Gesellschaftstheorie, die eine Wirtschaftstheorie umfasste, entwickelte die österreichische Schule eine Wirtschaftstheorie, die eine Gesellschaftstheorie mit einschloss. Auf ihre Weise vertraten sie beide die Einheit von Wirtschafts- und Gesellschaftsbeschreibung und legten die Vorstellung einer harmonischen Gesamtentwicklung zugrunde.21 5.1.2 Das Auseinandertreten von Gesellschafts- und Wirtschaftsbeschreibung als Forschungs- und Theorieproblem Dass in den deutschen Sozialwissenschaften das Problem der wechselseitigen Bedingtheit von gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ordnung seit der Jahrhundertwende verstärkt als Problem formuliert wurde, zeigte sich besonders in den Arbeiten von Max Weber, Werner Sombart und Georg Simmel. Im Gegensatz zur Jüngeren Historischen Schule beschrieben sie die Moderne nicht mehr als einen Prozess der Versittlichung und damit zunehmender Einheit, sondern 17 Vgl. Hirschman, S. 69 ff. Für die deutsche Volkswirtschaftslehre allgemein: Tribe, Strategies. 18 Force, S. 130 f. 19 Smelser, S. 28 ff. 20 Herkner, Schmoller. Schumpeter, Schmoller, S. 370, 382. 21 Vgl. Grimmer-Solem, S. 245.

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als den Verlust einer solchen. Sie betonten, dass sich die Wirtschaft in einem gesellschaftlichen Entwicklungsprozess als eine weitgehend autonome Wertsphäre herausgebildet hatte, die nur aus diesem Grund nach Art der ökonomischen Theorie beschrieben werden konnte. Weber etwa lehnte die neoklassische Wirtschaftstheorie nicht ab, band den Bereich ihrer Geltung aber an spezifische institutionelle Rahmenbedingungen, die er durch die Entstehung und Aus­ prägung des modernen Kapitalismus gegeben sah. Damit jedoch wurde die von der Historischen Schule vorausgesetzte Einheit von Gesellschafts- und Wirtschaftsbeschreibung aufgelöst: Wirtschaftstheorie war so nicht länger zugleich Gesellschaftstheorie, wenn sie den Geltungsbereich ihrer eigenen Aussagen nicht reflektierte. Mit der Differenzierung von Gesellschafts- und Wirtschaftstheorie wurde zugleich auch ein Rangunterschied festgestellt: Die soziologische Betrachtungsweise war die umfassendere, weil sie der Wirtschaftstheorie erst Bedeutung und Bedingungen ihres Tuns aufzeigte. Diese Konstellation von »Wirtschaft und Gesellschaft« blieb indes unpro­ blematisch, solange von beständigen Verhältnissen ausgegangen werden konnte. Mit seiner berühmten Metapher des »stahlharten Gehäuses« hatte Weber eine Institutionenstabilität behauptet, die eine »Überwindung« der Moderne unmöglich machte und die Frage der individuellen Erlösung von der gesellschaftstheoretischen Bühne weg ins Private verbannte.22 Damit war zwar nicht die Einheit, aber der enge Zusammenhang der Beschreibung von Wirtschaft und Gesellschaft gerettet, die allerdings den pathologischen Charakter dieser Beziehung hervorstrich, wenn der Kapitalismus dem Menschen seine Strukturen und Verhaltensanforderungen aufzwang.23 Der Erste Weltkrieg brachte jedoch bereits mit der Debatte um eine neue Wirtschaftsordnung, um Sozialisierung und Gemeinwirtschaft, soviel Kontingenz in den Diskurs hinein, dass innerhalb der Disziplin dieser enge Zusammenhang nicht mehr zu retten war. Angesichts der Instabilität der Weimarer Verhältnisse zeigte sich nämlich, dass die Gesellschaft nicht nur auf verschiedene Art und Weise beschrieben werden konnte. Die Revolution hatte zugleich demonstriert, dass die bestehenden Verhältnisse (wenn nötig, innerhalb kürzester Zeit) umgestürzt und neu gestaltet werden konnten. An dieser Stelle sei noch einmal kurz an das im zweiten Kapitel angeführte Zitat Hans-Joachim Rüstows erinnert, in welchem dieser seine Motivation für das Studium der Nationalökonomie beschrieb. Für ihn war es vor allem die Fülle an neuen Fragestellungen, die durch die gesellschaftlichen Umwälzungen in Folge des verlorenen Krieges und der Revolution aufgetreten waren.24 Das war keine Einzelmeinung, sondern ein zu dieser Zeit ubiquitärer Topos wissenschaftlicher Gegenwartsdiagnostik.25 Wenn die Nationalökonomie in diesem Sinne die Welt neu erklären sollte, war damit nicht nur die Wirtschaft 22 Weber, Protestantische Ethik, S. 202 ff. 23 Vgl. dazu: Köster u. Plumpe, Hexensabbat, S. 11 f. 24 Lebenslauf Hans-Joachim Rüstow. LB Oldenburg. Nl Schumacher, HS 362, 2330: 1.2. 25 Singer, Aufgaben.

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gemeint, sondern mindestens die Wirtschaft in ihrer Bedingtheit durch die gesellschaftlichen Verhältnisse.26 Das macht es nicht nur plausibel, warum der in den 1890er Jahren von dem Bonner Nationalökonomen Heinrich Dietzel geprägte Begriff der »Sozialökonomik« nach dem Ersten Weltkrieg so oft als alternative Bezeichnung für die Nationalökonomie auftauchte27, sondern auch, warum die »Soziologie« nach dem Weltkrieg als Bezeichnung für die Gesellschaftstheorie zunehmend in Mode kam.28 So wies Carl Heinrich Becker ihr explizit die Aufgabe zu, eine neue Synthese zu entwickeln, die angesichts der gesellschaftlichen Umbrüche und geistigen Krise Orientierung ermöglichen würde. Die Soziologie bestimmte er als eine Universalwissenschaft, welche die missliche Fachspezialisierung überwinden helfen und Anleitung zu einer Gesamtschau des Sozialen geben sollte.29 Parallel mit der Nationalökonomie kam daher auch die Soziologie nach dem Krieg in Mode30, wobei sie die vor dem Krieg zumeist gepflegte Bescheidung auf einzelne Teilgebiete des Sozialen aufgab.31 Nicht zuletzt aber aufgrund ihrer Jugend32, auch das hatte sie mit der Nationalökonomie gemeinsam, war es aber noch nicht klar, womit sie sich eigentlich genau beschäftigte, so dass auch sie als in der Krise beschrieben werden konnte.33 Kurt Singer hegte Anfang der 1920er Jahre jedenfalls einen Verdacht: »Wenn auch die anderen Disziplinen keine gesicherten Grenzen haben, so scheinen sie doch einen Kern­bestand aufzuweisen, der ihnen ohne Zweifel als eigen zugerechnet werden kann: die Soziologie aber scheint nur von der Unsicherheit solcher Grenzabsteckungen ihr problematisches Dasein zu fristen.«34 Hier erfasste Singer einen entscheidenden Punkt, dass die Soziologie ihren wissenschaftlichen Ausgangspunkt an den »Rändern« der Disziplinen fand, wo eine spezialisierte Betrachtungsweise ohne Klärung des Allgemeinen in der Luft hing oder ihren Gegenstand verfehlen musste.35 26 Vgl. Ringer, S. 207 f. 27 Siegfried, Milieu, S. 50 f. Gottl-Ottlilienfeld merkte später an, der Begriff Sozialökonomik habe »so hübsch novemberlich« geklungen. Gottl-Ottlilienfeld, Läuterung, S. 11. 28 Habermas, Soziologie, S. 29. 29 Becker, Gedanken, S. 9. 30 Sie wurde so modisch, dass manche Wissenschaftler diesen Begriff aus ihrem Distink­ tionsbedürfnis heraus für sich nur unter Bauchschmerzen akzeptierten. Gottl-Ottlilienfeld schrieb z. B., die Soziologie sei das »Wortasyl für obdachlose Probleme«, die aufgrund ihrer Neuheit in den alten Wissenschaften vom menschlichen Zusammenleben keinen Platz fänden. Vgl. Spann, Fundament, S. 13. Gottl-Ottlilienfeld, Bedarf, S. 175. Ders., Läuterung, S. 40. Ders., Wirtschaft und Wissenschaft, S. 1302 f. 31 Käsler, Soziologie, S. 70. 32 Schmalenbach, Systematik, S.  1**. Meiner, Volkswirtschaftslehre, S.  236. Liefmann, Wirtschaftstheorie, S. 37. Mises, Gemeinwirtschaft, S. 11. 33 Vgl. Singer, Krisis. Wiese, Einführung, S. 5. Zur »Krise« der Soziologie in den 1920er Jahren: Joas u. Knöbl, S. 47. Nolte, Ordnung, S. 136 f. 34 Ebd., S. 246. Vgl. auch Lepenies, Kulturen, S. 298. 35 Vgl. Ebd., S. 259.

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Bei aller Unbestimmtheit des fachlichen Zuschnitts der Soziologie vereinte die meisten ihrer Vertreter die Universalität ihres Forschungsansatzes und die Hoffnung auf Überwindung eines einseitigen Spezialistentums. Ihr Charakter als gesellschaftstheoretische Grundlagenforschung war es gewissermaßen, der für viele das Wesen und den Reiz der Soziologie ausmachte. Für diejenigen, die sich aus soziologischer Sicht der Wirtschaft näherten, war nicht zuletzt deswegen eine umfassende Gesellschaftstheorie die Voraussetzung dafür, um zu einem adäquaten Verständnis des Wirtschaftslebens zu gelangen. Dieser universale Anspruch fand seinen konsequentesten Ausdruck in dem Projekt, unterhalb der Oberfläche gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Erscheinungen dauerhafte Strukturen freizulegen. Rudolf Goldscheid sah die Soziologie z. B. als die »Oberwissenschaft« an, die Lehre von den relativen Konstanten im historischen Wechsel.36 Für Oppenheimer war die Soziologie gleichfalls eine geschichtsübergreifende Universalwissenschaft.37 Wurde ein solcher Anspruch vertreten, lag es überdies nahe, eine signifikante Differenz zwischen Natur- und Sozial­wissenschaften zu verneinen.38 Aus der Universalität des soziologischen Ansatzes konnte im Umkehrschluss leicht eine Überlegenheit der Soziologie gegenüber der Nationalökonomie abgeleitet werden, die in ihren Beschreibungen an der Oberfläche, vor allem den Preisen hängen blieb, während sich die Tiefendimensionen des Seins erst einer gesellschaftstheoretischen Betrachtung erschlossen. Für Spann war die abstrahierende ökonomische Theorie unfähig, »an die Probleme überhaupt nur heran zu kommen.«39 Für Gottl-Ottlilienfeld richtete eine an der Oberfläche klebende Leistungstheorie nur solange keinen Schaden an, wie sie in eine »Wirtschaftstheorie als Leben« eingebettet war.40 Besonders schön brachte diesen Überlegenheitsanspruch schließlich Johann Plenge zum Ausdruck, der sich seit dem Krieg zunehmend mehr als Soziologe denn als Nationalökonom verstand.41 Als sein Förderer und Bewunderer Bernhard Harms ihn 1930 darauf hinwies, dass einige seiner berüchtigten Unterrichtstafeln ohne zusätzliche Erläuterungen nicht zu verstehen seien, weshalb bei außenstehenden Beobachtern der Verdacht entstehen könne, es handele sich um bloße »Geistesgymnastik«, schrieb Plenge ihm wutentbrannt zurück: »Dass in unserer Zeit des Sports das bloße Wort ›Gymnastik‹ auf geistigem Gebiet eine Erledigung sein soll, wäre doch nur ein neuer Beweis, dass die Intellektuellen, auch die führenden Intellektuellen, in ihrer ganzen Haltung wieder einige Kilometer hinter der eigenen Zeit 36 Von dem Bussche, S. 377. Wie das Beispiel Goldscheid demonstriert, lässt sich dieses Motiv auch bei nicht-konservativen Denkern beobachten. 37 Oppenheimer, Krisis, S. 485. 38 Stölting, Soziologie, S. 59. Vom Brocke, Breysig, S. 288. Oppenheimer, Theorie, S. 3. 39 Schreiben Eduard Lukas an Ferdinand Tönnies (3.12.1927). LB Kiel. Nl Tönnies, Cb 45.56: 492. 40 Gottl-Ottlilienfeld, Wirtschaftsleben. 41 Schreiben Johann Plenge an Hans Dreier (9.3.1918). UB Bielefeld, Nl Plenge. Zu Plenge s. Krüger, Nationalökonomen. Schildt, Prophet.

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zurück sind. Für einen Gesamtüberblick über die Probleme der Soziologie, die freilich andres verlangt als die übliche Kirchturmsperspektive der Nationalökonomen, muss man seine geistigen Muskeln straffen können. Sie staunen aus der alten volkswirtschaftlichen Postkutsche über meine Pläne eines soziolo­gischen Autos.«42 Den Universalitätsanspruch der Soziologie43 vertraten jedoch auch Wissenschaftler, die sich eher im linken politischen Spektrum bewegten. So umrissen Paul Tillich und Max Horkheimer 1930 in einem Schreiben an das Preußische Kultusministerium die Aufgaben der Soziologie folgendermaßen: »Nicht durch mechanische Zusammenfassung der alten Theorien, sondern durch die Herausbildung neuer einheitlicher Forschungsrichtungen kann die Ziellosigkeit und Zersplitterung der geistigen Kräfte in der Wissenschaft überwunden werden. Dieser Bildungsprozess einer neuen Struktur des Wissenschaftsgebäudes muss zwar überall aus der Forschungsarbeit selbst erwachsen, aber er kann doch im Leben der Universität selbst wesentlich gefördert und gestaltet werden.«44 Sie beschrieben die Soziologie als eine Wissenschaft im Werden, die zwar das Ziel ihrer Forschungen schon erblickte, ohne jedoch bereits in der Lage zu sein, gesicherte Erkenntnisse über Aufbau und Wesen der Gesellschaft, der gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen oder ihres gesellschaftlichen Handelns zu liefern.45 Was Carl Heinrich Becker 1919 der Soziologie als Aufgabe zugewiesen hatte, kehrte hier in wenig veränderter Fassung wieder, nur dass nun in der Institutionalisierung der Soziologie die Voraussetzung dafür gesehen wurde, damit sie sich als eigenständige Universalwissenschaft in Nachfolge der Philo­ sophie entwickeln konnte. 5.1.3 Die wechselseitige Irritation von Soziologie und Nationalökonomie Horkheimer und Tillich reagierten mit ihrem Schreiben nicht zuletzt auf eine Lage der Soziologie, die jener der Nationalökonomie frappierend ähnelte, nämlich dem Nebeneinander verschiedener Schulen und Systeme, die es fast ver­ boten, von einem »Forschungsstand« der Disziplin zu sprechen.46 Die Institutionalisierung der Soziologie sollte dazu dienen, diese disparaten Richtungen zu kanalisieren. Damit wurde implizit ein Grund für die Probleme der Soziologie auch darin gesehen, dass die meisten ihrer Vertreter im Universitätsbetrieb weiterhin unter dem Dach der Nationalökonomie beheimatet waren. Auf diese 42 Schreiben von Johann Plenge an Bernhard Harms (22.9.1930). UB Bielefeld, Nl Plenge. 43 Dunkmann, Kritik, S. 5. 44 Schreiben von Paul Tillich und Max Horkheimer an das Preußische Kultusministerium (9.2.1930). GStA Berlin. 1. HA; Rep. 76 (Kultusministerium), Va, Sekt. 5, Tit. IV, Nr. 6 Bd. 2. 45 Ebd. 46 Vgl. Käsler, Soziologie, S. 57 f., 70. Habermas, Soziologie, S. 46.

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Weise begründeten Horkheimer und Tillich aber die Forderung nach einer Institutionalisierung der Soziologie als Universitätsfach bezeichnenderweise nicht damit, eine bereits vollzogene fachliche Ausdifferenzierung festzuschreiben. Durch die Schaffung einer neuen Struktur des Wissenschaftsgebäudes sollte ihr vielmehr erst ein notwendiger Impuls gegeben werden. Auf der einen Seite gewann die Soziologie während der 1920er Jahre mehr und mehr an fachlicher Eigenständigkeit. Dafür steht insbesondere das Forschungsfeld der Kultursoziologie, auf dem sich Alfred Weber und später Karl Mannheim besonders hervortaten. Auf der anderen Seite verlief der Differenzierungsprozess von Soziologie und Nationalökonomie keineswegs eindeutig, und mitunter scheint es sogar so, als hätten sich ihre jeweils genuinen Fragestellungen vor dem Ersten Weltkrieg leichter unterscheiden lassen als danach.47 Verantwortlich dafür war in erster Linie, dass Wirtschafts- und Gesellschaftsbeschreibung in der bereits genannten Weise aufeinander verwiesen waren. Wer die Wirtschaft erklären wollte, konnte die gesellschaftlichen Konstellationen nicht außer Acht lassen; wer  – wie auch immer  – die gesellschaftliche Ordnung beschreiben wollte, musste der großen Bedeutung der Ökonomie, wenn auch kritisch, Rechnung tragen.48 Der Gießener Nationalökonom Paul Mombert schrieb 1927, trotz beachtenswerter Ausnahmen sei die neuere Entwicklung in der Nationalökonomie den »Weg von dem ökonomischen zu dem gesellschaftlichen System gegangen«.49 Theo Surányi-Unger meinte, die abstrakte Wirtschaftstheorie sei nach dem Weltkrieg zunehmend von einer sozialen abgelöst worden.50 Zugleich erwies sich das Projekt einer Gesellschaftstheorie, die eine ökonomische Theorie umfasste, als hochproblematisch. Im disziplinären Zusammenhang ergänzten sich Soziologie und Nationalökonomie keineswegs harmonisch oder konnten überhaupt nur friedlich nebeneinander existieren. Vielmehr offenbarten sie bald ihr Potential, sich gegenseitig zu irritieren. Das Hauptproblem bestand darin, dass, wenn jede  – wie auch immer geartete  – Wirtschaftstheorie von der Existenz bestimmter institutioneller Rahmenbedingun­ gen abhing, sie immer unter Vorbehalt gestellt war: Erstens, weil mit einer abweichenden Beschreibung dieser Institutionen ihre Geltungskraft bestritten werden konnte. Zweitens, weil gewissermaßen eine Verdoppelung der Gesellschaftstheorie stattfand, wenn den als prekär angesehenen Verhältnissen der Weimarer Republik das normative Bild einer richtigen und guten Ordnung gegenübergestellt wurde.51 Damit geschah zugleich noch etwas Weiteres, für die Krise der Nationalökonomie Bedeutsames: Wenn die ökonomische Theorie an die Bedingungen des modernen Kapitalismus gebunden war, konnte sie in Ver47 Anders: Nolte, Ordnung, S. 147. 48 Spann, Staat, S. 154. 49 Mombert, Geschichte, S. 527. 50 Surányi-Unger, Objekt und Grundbegriffe, S. 320. 51 König, Soziologie, S. 83.

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dacht geraten, genuine Sprache einer krisenhaften Moderne zu sein – Inbegriff einer abstrakten, lebensfernen Formelsprache, die das »Wesen«, das wahrhafte Sein der Wirtschaft verfehlte. Wenn es mitunter sogar als Aufgabe der Soziologie angesehen wurde, die Krise des Zeitalters zu durchschauen und zu heilen52, konnte die ökonomische Theorie nur allzu leicht als deren Sinnbild betrachtet werden.53 Spann, Gottl-Ottlilienfeld, Stolzmann und andere übten auf diese Weise eine summarische Kritik an der Nationalökonomie. Letztere verkannte das wahre Sein der Wirtschaft, indem sie einen Ausschnitt des Wirtschaftslebens oder einige Oberflächenphänomene zum Ausgangspunkt nahm. Sie war zudem an eine historisch kontingente Ordnung gebunden, die diesem wahren Sein gerade nicht entsprach, sondern es pervertierte. Gegenüber der ökonomischen Theorie konnte dann automatisch geargwöhnt werden, dass sie an der Fortschreibung der bestehenden Verhältnisse mitwirkte. Der häufige Vorwurf ihres angeblich lebensfernen, dürren »Schematismus« hatte also auch damit zu tun, dass sie verdächtigt wurde, als »Technik« eine Form der prekären Weltgestaltung zu sein und zum Überdauern von Strukturen beizutragen, die es zu überwinden galt.54 Viele theoretisch arbeitende Nationalökonomen der 1920er Jahre konnten solche Vorwürfe deswegen in Verlegenheit bringen, weil sie prinzipiell ebenfalls der Meinung waren, es seien die institutionellen Rahmenbedingungen, die die Beobachtung von Regelmäßigkeiten innerhalb des Wirtschaftslebens erst ermöglichten. Sie betrieben unter dieser Voraussetzung ökonomische Theorie und waren davon abhängig, sich eine zutreffende Vorstellung von Gesellschaft als Hypothese gesetzt zu haben.55 Nur wenige wehrten sich dabei gegen die soziologische Zumutung, wie Robert Liefmann, der heftig gegen Spann und Konsorten polemisierte.56 Sich von der soziologischen Herausforderung zu emanzipieren, gelang der Nationalökonomie weniger aus dem Grund schlecht, weil die Forschungs­ methoden der Historischen Schule weiter fortlebten. Vielmehr hätte es nach dem Ersten Weltkrieg jeder aktuellen Erfahrung widersprochen, die Wirtschaft unter Absehen von ihrer gesellschaftlichen Organisation zu beschreiben. Dieser Herausforderung begannen sich ja selbst Teile der Österreichischen Schule zu stellen, die bislang stets auf die universale Geltung ökonomischer Gesetze gepocht und dabei von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen weitgehend abstrahiert hatte.57 Gleichzeitig handelte sich die ökonomische Theorie aber ein 52 Stölting, Soziologie, S. 137. 53 Spengler, Preußentum, S. 69. S.a. Beßlich, S. 26. 54 »Technik« dabei im Verständnis der Neuen Sachlichkeit, zu deren zentralen Metaphern der Verkehr gehörte. Plessner bezeichnete 1924 die Gesellschaft als »offenes System des Verkehrs zwischen unverbundenen Menschen«. Lethen, S. 44 ff. 55 Streller, Dynamik, S. 69. 56 Liefmann, »Universalismus«. Ders., Grundsätze Bd.1, S. 112. Ders., Geschichte und Kritik, S. 150 f. Im selben Tenor: Mises, Grundprobleme, S. XII. 57 Siehe z. B. Strigl, Kategorien. Wieser, Gesetz.

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Problem ein, wenn sie die Geltung ihrer Aussagen an gesellschaftstheoretische Annahmen knüpfte. Jedes Theorieproblem konnte dann als ein Problem der falschen, ihr zugrunde liegenden Gesellschaftstheorie erscheinen. Damit war die ökonomische Theorie durch die soziologische Betrachtungsweise irritierbar und unter Vorbehalt gestellt, was die Nationalökonomen zunehmend verunsicherte. Eine Synthese konnte dann nur noch durch die Freilegung von Strukturen der Dauer und Beständigkeit allen Wirtschaftslebens gelingen, womit ansatzweise bereits das Projekt umrissen wäre, das Gottl-Ottlilienfeld, Spann und Oppenheimer verfolgten. Dass dann aber gleichzeitig mehrere solche »Supertheorien« miteinander konkurrierten, verstärkte nur weiter die Krise, zu deren Inbegriff die soziologischen Nationalökonomen schließlich wurden.

5.2 Othmar Spanns romantischer Universalismus 5.2.1 Othmar Spann als Nationalökonom und Soziologe in der Weimarer Republik Eine der kontroversesten Figuren innerhalb der an kontroversen Figuren wahrhaft nicht armen deutschen Nationalökonomie während der 1920er Jahre war Othmar Spann (1878–1950). Spann wird heute zumeist als Soziologe gesehen und betrachtete sich selbst als Gesellschaftstheoretiker58, jedenfalls sah er eine Theorie der Gesellschaft als Voraussetzung dafür an, zu einem adäquaten Verständnis des Wirtschaftslebens zu gelangen. Spann hatte Philosophie und Volkswirtschaftslehre in Wien, Zürich, Bern und Tübingen studiert. Nach der Habilitation 1907 in Brünn bei seinem späteren Konkurrenten Gottl-Ottlilien­ feld wurde er dort 1909 außerordentlicher und 1911 ordentlicher Professor, bevor er 1919 als Nachfolger Philippovichs an die Wiener Universität berufen wurde. Nach dem »Anschluss« Österreichs 1938 bekam er von den National­ sozialisten ein Lehrverbot erteilt und wurde, obwohl intellektueller Wegbereiter des sog. »Austrofaschismus«, in das KZ Dachau eingeliefert.59 Nach seiner Inhaftierung war er aufgrund von Misshandlungen durch die Gestapo dauerhaft sehbehindert und führte bis zu seinem Tod 1950 eine zurückgezogene Gelehrtenexistenz. In Spanns Werkentwicklung finden sich außer Schriften, etwa seiner Habi­ litation über das Verhältnis von Wirtschaft und Gesellschaft60, die bereits auf seinen universalistischen Ansatz vorauswiesen, auch theoretische Abhandlungen, wie beispielsweise ein Aufsatz über die Theorie der Preisverschiebung.61 In58 Spann, Fundament, S. 13. 59 Milford u. Rosner, Abkoppelung, S. 480. Feichtinger, S. 197. 60 Spann, Wirtschaft. 61 Ders., Preisverschiebung.

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sofern ist es nicht sonderlich erstaunlich, dass er sich bis Anfang der 1920er Jahre noch selbst partiell in der Tradition der Österreichischen Schule verortete62, von der er sich jedoch zunehmend distanzierte. Nicht nur entwickelte er seinen romantischen Universalismus seit dem Ersten Weltkrieg in zahlreichen umfangreichen Publikationen und wandte sich in den 1920er Jahren in zunehmender Schärfe gegen die Grenznutzentheoretiker. Zudem steigerte er sich in einen zermürbenden Konflikt mit seinem Kollegen Hans Mayer hinein, der als Gralshüter der ökonomischen Theorie an der Universität Wien das Erbe der Österreichischen Schule fortschreiben sollte.63 Die Bedeutung Spanns innerhalb der deutschen Nationalökonomie zu ermessen, ist äußerst schwierig. Die Forschung neigt dazu, sie als gering einzuschätzen.64 Klaus Rainer Brintzinger schreibt, das Urteil der Tübinger Fakultät, die Spann 1921 berufen wollte, er »sei einer der bekanntesten anregendsten neueren Theoretiker unseres Faches«, könne keinesfalls Allgemeingültigkeit beanspruchen. Vielmehr sei Spann bereits damals ein »allgemein isolierter Gebildetheoretiker« gewesen.65 Eine so randständige Figur war er aber sicherlich nicht, wobei die in der Tat geringe Nachwirkung von Spanns Denken nicht mit seiner zeitgenössischen Bedeutung verwechselt werden darf.66 Von Spanns Haupt­ theorien der Volkswirtschaftslehre wurden insgesamt 125.000 Exemplare und 25 Auflagen gedruckt67, und das Werk war auch in England und den USA weit verbreitet.68 Die Haupttheorien waren jedoch in erster Linie eine verständlich geschriebene Einführung in Inhalt und Geschichte der ökonomischen Theorien und Spanns universalistischer Ansatz nahm darin, zumindest in den frühen Auflagen, eine vergleichsweise moderate Stellung ein.69 Den Höhepunkt seines fachinternen Einflusses erreichte Spann im Nachklang der Wiener Tagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 1926. Mit einigen Mitstreitern gelang es ihm dort in einer Sektion, trotz des von Werner Sombart gehaltenen Haupt­referats, die Debatte auf die Auseinandersetzung um seinen Ansatz

62 Ders., Haupttheorien, S. 149. 63 Zum Konflikt Spann/Mayer vgl. Pinwinkler, S. 284 ff. Schreiben Hans Mayer an Ministerialrat Windelband (23.2.1927). GstA Rep. 76 (Kultusministerium), Va, Sekt. 5, Tit. IV, Nr.6 Bd. 2. 64 Weber, Wirtschaftswissenschaft, S. 33. 65 Brintzinger, Nationalökonomie, S.  260. Ein Beleg für diese Ansicht fehlt an dieser Stelle. Diese Ansicht vertritt auch Nolte, Ordnung, S. 179. 66 Vgl. auch die Einschätzung Spanns als eine »zu vernachlässigende Größe« in: Stadler. 67 Weinberger, Betrachtungen, S. 482. 68 Beispielsweise schrieb der amerikanische Ökonom F. W. Taussig 1924 an Edgar Salin, dass dessen Geschichte der Volkswirtschaftslehre endlich Spanns Haupttheorien in den amerikanischen Bücherregalen ersetzen sollte. Spanns Arbeit sei von vielen amerikanischen Studenten gelesen worden, um einen weiteren Blickwinkel zu bekommen, als ihn die meisten englischsprachigen Autoren zu bieten vermochten. Schreiben F. W. Taussig an Edgar Salin (16.12.1924). UB Basel, Handschriftenabteilung. Nl Salin, Fa 9731. 69 Dies veränderte sich allerdings in den späteren Auflagen.

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zu konzentrieren.70 Diese Kontroverse fand als »Kampf um Othmar Spann«71 anschließend auch publizistische Beachtung, und insbesondere Spanns Schüler waren bestrebt, diesen Konflikt zu einem existentiellen geistigen Ringen zu stilisieren. Surányi-Unger meinte 1927, die Zahl von Spanns Anhängern sei in stetem Wachstum begriffen: »Gegen Ende des ersten Viertels unseres Jahrhunderts stehen seine Lehren geradezu im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses breiter Kreise und es scheint alles darauf zu deuten, dass die eigentliche Diskussion darüber erst in den kommenden Jahren stattfinden wird.«72 Zu dieser Zeit wurde auch der Gegensatz universalistisch/individualistisch häufig als zentraler Konflikt innerhalb der Disziplin hervorgehoben. Theodor Mayer schrieb 1927 von einem in der Volkswirtschaftslehre tobenden Kampf zwischen der universalistischen und der individualistischen Schule; eine Entgegensetzung, die sich auch bei zahlreichen anderen Autoren findet.73 Hin und wieder ist man auch überrascht, wer sich positiv über Spann äußerte: etwa Wolfgang Heller und Alfred Amonn, die eher dem Lager der ökonomischen Theorie zugehörten.74 Es gab vielleicht relativ wenig dezidierte Anhänger, die sich im »Spann-Kreis« zusammenfanden und sich voll und ganz seiner Lehre verschrieben hatten (­unter den Nationalökonomen waren Walter Heinrich, Wilhelm Andreae und Jacob Baxa seine treuesten Schüler). Viele Nationalökonomen konnten jedoch Spanns Überlegungen grundsätzlich etwas abgewinnen und empfanden seine Lehren durchaus nicht als obskur, sondern als eine legitime Position innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses. Das ist insofern keineswegs selbstverständlich, weil Spanns Lehren alles andere als streng rationalistisch waren. Franz Boese bezeichnete Spann schon 1917 als einen mystischen Menschen, der kein Problem behandeln konnte, ohne den Bezug auf das große Ganze der christlichen Schöpfungsordnung herzustellen.75 Spann sah jedoch keinen Widerspruch darin, die absolute »Versenkung« als Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnis anzusehen76 und gleichzeitig seine heutzutage recht esoterisch anmutende Kategorienlehre als rational-nüchterne wissenschaftliche Leistung zu propagieren.77 Obwohl Spann dem katholisch-konservativen Milieu entstammte, spielte 70 Käsler, Streit, S. 222 f. 71 Dunkmann, Kampf. 72 Surányi-Unger, Entwicklung, S. 76. 73 Z. B. Streller, Eingliederung, S. 33 f. Sartorius v. Waltershausen, Weltwirtschaft, S. 6 f., 106 ff. 74 Heller, Besprechung. Ders., Fundament. Amonn, Gegenwartsaufgaben, S. 499 ff. 75 Schreiben Franz Boese an Arthur Spiethoff (6.3.1917). UB Basel, Handschriftenabteilung. Nl Spiethoff, A 77,35. 76 Spann, Haupttheorien, S. 193. 77 Spann wollte in der Kategorienlehre zeigen, dass der Begriff der Welt als eines wohlgeordneten Ganzen nicht das Resultat eines »Dichtertraums« sei, sondern »in nüchterner Beweisführung auf dem nüchternen Boden der Verfahrenslehre und Logik« gewonnen wurde. Spann, Kategorienlehre, S. XV.

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dieser Bezug in der Rezeption seines Werkes außer im Kreis der engsten Anhänger praktisch keine Rolle und wurde kaum jemals erwähnt.78 Spanns Einfluss innerhalb der Nationalökonomie sank spätestens seit Mitte der dreißiger Jahre, vor allem, weil die Nationalsozialisten die ständische Bewegung in ihren eigenen Reihen zurück drängten.79 Als Walter Heinrich in der Gesamtausgabe der Werke Spanns nach dem Zweiten Weltkrieg davon schrieb, der »Kampf um Othmar Spann« habe sich mittlerweile beruhigt, handelte es sich lediglich um das verklausulierte Eingeständnis, dass der Kreis der Anhänger doch mittlerweile sehr überschaubar geworden und die Wirksamkeit der Spannschen Lehren marginalisiert war.80 5.2.2 Der romantischen Universalismus und seine Wirtschaftslehre Ausgangspunkt von Spanns Denken war der, von dem Romantiker Adam ­ üller und dem deutschen Idealismus entlehnte Gedanke, dass das Ganze vor M den Teilen sei.81 Was war damit gemeint? Wie so häufig in der Nationalökonomie der damaligen Zeit zu beobachten, handelte es sich zunächst um die Forderung nach einer Perspektivverschiebung und einem neuen Sehen, das allein Wesenserkenntnis ermögliche. Nach Spann gab es letztlich nur zwei Möglichkeiten, den Aufbau und die Ordnung der Welt zu betrachten und zu erklären. Die eine bestand in der Annahme, dass Wirtschaft, Gesellschaft, Kosmos aus einzelnen Teilen, »Atomen«, zusammengesetzt seien, die sich auf irgendeine Weise zusammenfügen mussten.82 Für Spann war das die individualistischatomis­tisch-materialistische Haltung, die seiner Meinung nach von Übel war und bekämpft werden musste. Hierunter verortete er die moderne Naturwissenschaft genauso wie den ökonomischen Liberalismus. Erstere erblickte die materielle Welt als aus einzelnen Atomen zusammengesetzt und wollte ihr Verhältnis mechanisch erklären. Jede Erscheinung wurde analysiert und seziert, auf seine kleinsten Bestandteile hin untersucht und aus dem kausalen Zusam78 Briefs, Katholizismus. 79 Spann hatte Anhänger in der Politik, die kurz nach der »Machtergreifung« 1933 ihren Einfluss zeitweilig ausspielen konnten, bald aber einer Intrige zum Opfer fielen. Strem­ mel, S. 105 ff. Schneller, S. 133 ff. Die Weltbühne warnte noch 1933 vor seinen Lehren und sah seinen Einfluss als besorgniserregend an: »Unerhörte Quanten von Suggestion entstrahlen allsemesterlich seinem Katheder; er ist […] der Star der Wiener Hochschule; den besseren, nicht stumpf handwerklich gerichteten, sondern mit einem gewissen Hunger nach Theorie geladenen nationalistischen Studenten aller Spielarten bedeutet er ungefähr das, was vor einem Vierteljahrhundert uns besseren Linksstudenten Georg Simmel bedeutet hat. O tempora!« Hiller, S. 9. 80 Heinrich, Spann, S. 21 81 Zu Adam Müller s. Harada, Ökonomie, S. 66 ff. 82 Vgl. dazu die von Bernhard Harms getroffene Unterscheidung zwischen den »Gebilde«- und den »Gefüge«-Theoretikern. Harms, Ergebnis, S. 282.

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menwirken dieser Teile die Funktionsweise der Welt erklärt. Der ökonomische Liberalismus wiederum ging davon aus, dass sich die freie Verkehrswirtschaft aus einzelnen Wirtschaftssubjekten zusammensetzte, deren eigeninteressiertes Handeln durch eine unsichtbare Hand koordiniert wurde. Bei einer solchen Gesellschaft handelte es sich für Spann um einen »Steinhaufen«, eine Aufhäufung einzelner Elemente, die unverbunden nebeneinander existierten, ohne ein organisches Ganzes zu bilden.83 Dem Individualismus stellte Spann den von ihm vertretenen Universalismus gegenüber. Dieser beschrieb die Welt als einen organischen Zusammenhang, in dem jedes einzelne Glied nur in Bezug auf die ihm vorgeordnete Ganzheit adäquat bestimmt werden konnte. Der Mensch trat in seiner Bedeutung als wirtschaftendes Subjekt zurück. Es gab überhaupt keine »Teile« mehr, sondern nur noch »Glieder«, die sich allein durch Bezug auf die sie ausgliedernde Ganzheit bestimmen ließen. Das Ganze »an sich« hatte wiederum kein selbstständiges Dasein, sondern gewann dieses erst durch Ausgliederung. Erst in seinen Gliedern wurde es erkennbar. Die Glieder wiederum lieferten kein Spiegelbild des Ganzen, sondern repräsentierten es.84 Die oberste Ganzheit in Spanns theoretischer Gesamtkonstruktion war zunächst Gott als Schöpfer des Alls. Seine Schöpfung gliederte sich in weitere TeilGanzheiten, wie die der Menschheit, aus. Die Menschheit gliederte als oberste gesellschaftliche Kategorie (wirtschaftlich betrachtet) wiederum die Weltwirtschaft aus, diese wiederum die Volkswirtschaft, diese die wirtschaftlichen Verbände, diese die einzelnen Unternehmen und Haushalte, diese die einzelnen Wirtschafter.85 Die Welt wurde als hierarchischer Stufenbau verstanden, als Ausgliederung eines ursprünglichen und ursächlichen Ganzen – bis herunter zur untersten Stufe, die in der Betrachtung der Wirtschafts- und Gesellschaftslehre der einzelne Mensch darstellte. Kosmologisch gesehen hatte dieser jedoch wiederum die materiellen Dinge unter sich, deren er sich bediente und die er zu seinen Zwecken gestalten konnte. Spann griff hier auf eine alte Idee eines sinnvoll geordneten Kosmos zurück, nämlich die »großen Kette der Wesen«.86 Diese aus dem Neuplatonismus stammende Vorstellung stellte die Welt als an einer Kette angeordnet vor, die von Gott bis hin zum kleinsten Atom reichte. Spann wollte die Kette der Wesen jedoch im Unterschied zu Spinoza, neben Leibniz Hauptvertreter dieses Gedankens, nicht pantheistisch verstanden wissen: Gott goss sich nicht aus in seiner Schöpfung. Die Glieder waren mit dem Ganzen nicht identisch, sondern von ihm verschieden.87 Im Vorgang der Ausgliederung wurde eine Differenz des Gliedes zum ausgliedernden Ganzen markiert, wäh83 Spann, Staat, S. 11. 84 Für die Ähnlichkeiten zum idealistischen Systembegriff s. Riedel, System, S. 309 ff. 85 Vgl. Spann, Kategorienlehre, S. 400 ff. 86 Vgl. dazu Lovejoy. Spann variierte diesen Gedanken mittels einer Leitermetapher, um den hierarchischen Charakter seiner Kosmologie zu unterstreichen. Spann, Kategorienlehre, S. 161 ff. 87 Ebd.

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rend durch das Moment der »Rückverbundenheit« gleichzeitig der Bezug der Glieder zum Ganzen abgesichert war.88 Das vorausgesetzt, musste notwendig jede Betrachtung den wahren Sachverhalt verfehlen, die von den wirtschaftenden Subjekten ausging. Der Mensch handelte nicht autonom, sondern wurde durch die ihm vorgeordnete Ganzheit bestimmt: als Arbeiter durch den Betrieb, der Betrieb durch die wirtschaftlichen Verbände usw. Damit kam Spann in der Tat zu einer Perspektivumdrehung: Während die individualistische Sichtweise vor das Problem gestellt war, wie das Handeln der einzelnen Menschen koordiniert wurde, wie also soziale Ordnung überhaupt möglich war, setzte Spann die Existenz von Ordnung immer schon voraus. Nicht mehr die Koordinierung der Einzelhandlungen war das Problem, sondern wie sich die Menschen in eine bereits bestehende kosmologische Ordnung »gliedhaft« einfügen konnten und wie die gesellschaftlichen Institutionen so zu gestalten waren, dass sie ebenfalls dem Geist und dem Wesen dieser Ordnung entsprachen. Kontingenz und historisch wandelnde Ordnungsvorstellungen konnte es aus diesem Grund nicht geben; Deskription und Normativität fielen in eins.89 Darum konnte es, sowohl auf staatlicher wie auf wirtschaftlicher Ebene, keine Mehrzahl von Ordnungen geben, die dem weise eingerichteten Kosmos entsprachen. Es gab nur eine, die sich für Spann im Ständestaat90 bzw. dem ständischen Aufbau der Wirtschaft manifestierte. Alle anderen Staats- und Gesellschaftskonzeptionen existierten höchstens kurzfristig oder als utopische Gedankengebilde.91 Der Ständestaat allein sollte der Tatsache Rechnung tragen, dass die Menschen nicht gleich waren, sondern jedem einzelnen in der hierarchischen Ordnung bereits ein Platz zugewiesen war. An die Stelle demokratischer Entscheidungsprozesse trat Führung. Die Staatsführung sollten Politiker übernehmen, die von den Angehörigen des »schöpferischen Lehrstands«, den Philosophen, beraten und erzogen wurden.92 Auf den unteren Ebenen des gesellschaftlichen Stufenbaus wiederum sollten sich die Berufsstände selbst verwalten, wobei Spann in den Wirtschaftsverbänden, Kartellen und Gewerkschaften solche Selbstverwaltungskörperschaften bereits vorgeformt erblickte.93 Seine Wirtschaftslehre, die sich harmonisch in seine Ganzheitslehre ein­f ügen sollte, entwickelte Spann vor allem in zwei Publikationen, dem Fundament der Volkswirtschaftslehre (Erste Auflage 1918) und einer während der 1920er Jahre stetig erweiterten Aufsatzsammlung mit dem Titel Tote und lebendige Wissen­ schaft.94 Das Fundament ordnete sich dabei wie selbstverständlich in den im 88 Ebd., S. 167. 89 Spann, Grundgestalten, S. 393. 90 Dies war für Spann der »wahre Staat« (so der Titel eines 1921 erstmals erschienenen Buchs Spanns). 91 Spann, Grundgestalten, S. 376. 92 Als Überblick über den von Spann vorgestellten Staatsaufbau s. Spann, Staat, S. 210. 93 Ebd., S. 124. 94 Spann, Fundament. Ders., Wissenschaft.

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dritten Kapitel dieser Arbeit dargestellten Diskurs um die Neubegründung der Nationalökonomie ein und verstand sich selbst als eine Antwort auf die Krisensituation des Faches:95 »Es ist deutlich: diese Zerfahrenheit, diese Verwirrung [in der Volkswirtschaftslehre, R. K.] ist eine Krise an der Wurzel, eine Krise in den ersten Begriffen. Die notwendige Umkehr wird nur durch eine Klärung der Grundbegriffe, die auch das Verfahren klärt, eingeleitet werden können.«96 Das wiederum war nur möglich, wenn die Volkswirtschaftslehre als eine gesellschaftswissenschaftliche Theorie begründet wurde, die nicht in erster Linie die Wert- und Preisgesetze, sondern die gesellschaftliche Eingefasstheit der Wirtschaft als eines organischen Zweckgebildes erklären wollte: »Alle Wirtschaft meint Gesellschaft«, was hieß, dass eine autonome Betrachtung der Wirtschaft unmöglich war und ihren Sinn und Zweck verfehlte, der in ihren spezifischen Leistungen für die Gesellschaft bestand.97 Wenn so allein die Frage zugelassen wurde, was Wirtschaft innerhalb der menschlichen Gesellschaft war oder im menschlichen Leben sein konnte, so durfte, ganz gleich, ob nun von »Gesellschaft« oder von »Leben« gesprochen wurde, nach Spann nur ein Geistiges gemeint sein, das er als eine Welt der Werte bzw. Zwecke, der apriorischen Gültigkeiten definierte.98 Spann unterschied dabei diese hierarchisch geordnete Welt von einer Welt der Natur, in der die Gesetze von Ursache und Wirkung herrschten. Diese Unterscheidung rechtfertigte wohl auch die relativ positive Einschätzung der Grenznutzenlehre im Funda­ ment der Volkswirtschaftslehre, die Spann in der zeitgenössischen Literatur mitunter zum Vorwurf gemacht wurde99, weil letztere der Beschreibung der Funktionsweise der Wirtschaft auf materieller Ebene durchaus gemäß erschien, aber allein für sich dennoch Sinn und Zweck der Wirtschaft verfehlte.100 Als Spann in seinem späteren Werk die gesamte materielle Welt als Ausgliederung höherer Ganzheiten fassen wollte, also auch die Geltung von mechanischer Ursache und Wirkung in den Naturwissenschaften verneinte101, ließ sich der Gegensatz einer Welt der Zwecke und der Natur allerdings nicht mehr rechtfertigen. Das konnte insofern später ein theoretisches Problem werden, weil seine Bestimmung des Wirtschaftsbegriffs substantiell auf dieser Unterscheidung beruhte. Wirtschaft bestimmte Spann als den »Inbegriff von Mitteln für Ziele«102, wobei mit den Zielen die Erscheinung der Zwecke und Werte im Reich der Natur gemeint war. Solche Ziele konnten einerseits das System der Vitalität und Sinnlichkeit sein, aber darüber hinaus auch höhere geistige Lebensinhalte wie 95 Ders., Fundament, S. 1. 96 Ebd., S. 3. S.a. Ders.,, Krisis. 97 Ebd. 98 Ebd., S. 19. 99 Stolzmann, Krisis, S. 63 f., 79. Moeller, Besprechung, S. 232. 100 Spann, Fundament, S. 25 ff. Zur anfänglichen Faszination Spanns auf junge ökonomische Theoretiker s. Haberler, Nationalökonomie. Hülsmann, S. 466 f. 101 Spann, Kategorienlehre, S. 343 ff. Ders., Krisis, S. 15 ff. 102 Ders., Fundament, S. 25.

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Wissenschaft, Kunst, Religion oder Philosophie, die hierarchisch über den reinen Reproduktionsbedürfnissen der Menschen standen. Nun war es aber offensichtlich, dass Wirtschaft kaum jemals etwas direkt mit der Verwirklichung dieser höheren geistigen Zwecke zu tun hatte.103 Trotzdem sah es Spann als ein Vorurteil an, dass die Wirtschaft hauptsächlich der materiellen Vorsorge diente: Sobald etwas Mittel für ein Ziel wurde, wurde es »Vorstufe«, »Vorzweck«, und gliederte sich damit in die Hierarchie der Zwecke ein. Kurz gesagt: Wirtschaft wurde zur Voraussetzung dafür, dass eine Gesellschaft höhere geistige Ziele überhaupt verwirklichen konnte. Das waren ihre Funktion und ihr Wesen. Sie war also kein Selbstzweck, weshalb der Genuss und der Verbrauch für Spann nicht zur Wirtschaft gehörten und alles, was im gesellschaftlichen Rahmen als Ziel erscheinen konnte, zur Wirtschaft bestenfalls eine vermittelte Beziehung hatte. Die Wirtschaftswissenschaft hatte es also nur mit dem Gebäude der Mittel, Produktion und Distribution, zu tun, »alles andere gesellschaftswissenschaftliche Denken aber mit den Zielen selbst, d. h. mit normativ (apriorisch) aufgebauten Gegenständen, z. B. ›dem Schönen‹, ›dem Wahren‹, ›dem Rechten‹; dass also Wirtschaftswissenschaft und alle anderen Gesellschaftswissenschaften grundverschiedene Dinge sind.«104 Eine solche, rein dienstbare Wirtschaft hatte keine Chance, jemals geschichtsmächtig zu werden. Den historischen Materialismus erachtete Spann damit als erledigt. Die Wirtschaft bestand nun für Spann aus einem Gebäude von Leistungen, deren Träger die gewidmeten Mittel waren. Wenn die Wirtschaft sich als ein Gebäude von Leistungen für Ziele darstellte, hing die Bewertung der Leistungen von ihrem Entsprechungsverhältnis zu den gesellschaftlichen Zielen ab. Unwirtschaftlichkeit war dann gegeben, wenn die Mittel nicht den Zielen gemäß richtig verwendet wurden. Der Begriff der »Entsprechung« machte dabei den normativen Charakter von Spanns Lehre deutlich: Dieser Terminus wurde als universalistisches Äquivalent zum individualistischen Gleichgewichtsbegriff verwendet und bezeichnete die Gestaltung der Leistungen entsprechend dem organischen Gliederbau der Wirtschaft. Es gab somit wie einen »wahren Staat« auch eine »wahre Wirtschaft«, also die dem gesellschaftlichen Gliederbau und den gesellschaftlichen Zielen entsprechende Form der Leistungsgestaltung. Der Stufenbau der Wirtschaft als Teilganzem der Gesellschaft105 stellte sich in folgender Reihenfolge dar: Weltwirtschaft – Volkswirtschaft – Gebietswirtschaft – Wirtschaftsverbände – Betriebe – Betriebsglieder – Bedarfswirtschaft des Einzelwirtschafters (v. a. der Haushalt) – Einzelwirtschafter.106 Wie war dabei das Verhältnis der Glieder zu der sie ausgliedernden Ganzheit vorzustellen? Zunächst bestand Spann darauf, dass sich die Glieder nicht in jedem Fall auf die übergeordnete Ganzheit umfassend einzustellen hatten, sondern ein Eigen­leben 103 Ebd., S. 34. 104 Ebd., S. 37. 105 Ders., Ausgliederungsordnung, S. 82. 106 Ebd., S. 100 f.

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besaßen. Anders hätte z. B. eine Volkswirtschaft ausschließlich der übergeordneten Ganzheit der Weltwirtschaft dienstbar zu sein. Die Leistungen der Betriebe waren aber sehr wohl durch die sie umfassenden Ganzheiten bestimmt, die prinzipiell »Vorrang« hatten. Der Geltungszusammenhang der Ziele konstituierte einen Geltungszusammenhang der Mittel, worin sich idealerweise die Einheit aller Wirtschaft manifestierte. Waren die Mittel dem Geltungszusammenhang der Ziele entsprechend organisiert, handelte es sich folglich um eine Wirtschaftsform, die sich in die umfassende Ordnung der Gesellschaft und des Kosmos einfügte und deren Verwirklichung, wenn sie sich nicht von selbst ergab, angestrebt werden sollte. Verbunden war damit eine Abkehr vom Ziel des maximalen materiellen Outputs der Volkswirtschaft. Spann räumte ein, dass keine Form der Wirtschaftsorganisation leistungsfähiger war als der Kapitalismus, der aber zugleich die »wesensgemäße Ausgliederungsfülle« der Volkswirtschaft gefährdete.107 Die Selbstversorgung der niederen Stufen erachtete Spann in diesem Fall als wichtiger als die der höheren. Die Vielfältigkeit der Betriebe, Handwerke usw. war also ein Wert für sich, der durch die maximale Rationalisierung mit dem Ziel der Gewinnmaximierung gefährdet wurde.108 Autarkie war darum für Spann genauso ein legitimes wirtschaftspolitisches Ziel wie die Stärkung schwächerer montanindustrieller Gebiete wie Österreich und Schlesien gegenüber dem Ruhrgebiet.109 Indem die Wirtschaft als ein Gebäude von Leistungen verstanden wurde, bildete sie zugleich ein Gebäude von Leistungsgrößen, von Werten und Preisen. Aus diesem Grund zerfiel der Erkenntnisgegenstand der Volkswirtschaftslehre in zwei große Teilbereiche, der Wirtschaft als einem Bau von Leistungen und der Wirtschaft als einem Bau von Leistungsgrößen.110 Während die Leistungslehre den Aufbau der Wirtschaft in seiner gesellschaftlichen Bedingtheit beschrieb, umfasste die Leistungsgrößenlehre die Bestimmungsgründe von Wert, Preis und Verteilung.111 Letztere konkurrierte also direkt mit der ökonomischen Theorie, etwa der Grenznutzenlehre, von der sich Spann während der 1920er Jahre mehr und mehr distanzierte.112 Spann gab auf die Frage nach den Bestimmungsgründen der Preise eine aus seinem theoretischen Ansatz heraus folgerichtige, insgesamt jedoch wenig befriedigende Antwort, die im Wesentlichen darauf hinauslief, es gäbe keine Methode der exakten Wert- und Preisbestimmung. Nicht nur hätten Grenznutzen- und Arbeitswertlehre hier versagt, sondern das Problem war für ihn überhaupt nicht quantitativ exakt zu lösen. Leistungen waren nicht präzise messbar, weil sie sich untereinander nicht 107 Ebd., S. 128, 139. 108 Vgl. das von Lovejoy beschriebene »Prinzip der Fülle«. Lovejoy, S. 123 ff. 109 Spann, Ausgliederungsordnung, S. 138 ff. 110 Ders., Fundament, S. 280 f. 111 Ebd., S. 96. 112 Zum Streit zwischen Universalismus und Grenznutzenlehre s. Maschke, S. 81 ff.

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vergleichen ließen. Es gab nach Spann kein Maß, um die Leistung eines Stahlwerks mit der einer Kunstdruckerei zu vergleichen. Zwar gebe es naturgemäß Leistungen mit höherem und geringerem Rang, jedoch ließe sich dieser Rangunterschied eben nicht quantifizieren.113 Darum waren Preise letztlich nachrangige Phänomene. Sie hafteten den Gütern »nach Maßgabe der Ausgliederungsordnung der Wirtschaft an« und niemals konnten sie diese von sich aus verändern.114 Angebot und Nachfrage waren auch nicht quantitativ zu verstehen, sondern stellten sinnvolle Ausgliederungsergebnisse der gesamten Volkswirtschaft dar.115 Alles im Wirtschaftsleben Quantifizierbare ergab sich erst als Resultat der Leistungsordnung der Wirtschaft, und der entscheidende Fehler der individualistischen Volkswirtschaftslehre bestand darin, in der Steuerungsfunktion der Preise den eigentlichen Bestimmungsgrund der Leistungsverwendung zu betrachten.116 5.2.3 Die ontologische Dimension von Spanns Universalismus und seine Konsequenzen Spanns Werk enthielt eine massive Kritik an der Wirtschaftsordnung seiner Zeit, die er zugleich mit der Krise einer Moderne identifizierte, die er pauschal als atomistisch, materialistisch und individualistisch abqualifizierte. Diese Begriffe kennzeichneten sowohl eine Wissenschaftsauffassung wie eine bestimmte gesellschaftliche Ordnung, was für Spann untrennbar miteinander zusammenhing: aus seiner ontologischen Perspektive ging eine bestimmte Wissenschaftsauffassung in der Theorie einher mit dem Plädoyer für eine bestimmte Wirtschaftsordnung – und das wiederum bedeutete im Fall des individualistischen Atomismus statt ebenbildlicher Ausgliederung, die zum Leben und zum Sein führte, eine zum Tode und ins Nichts führende Missbildung. Es handelte sich um den Ausdruck einer selbstvergessenen Moderne, die sich ihrem, naturhaften Sein entfremdet hatte.117 Den Blick zurechtrücken hieß, das Gefühl für die eigene Position im hierarchisch gegliederten Aufbau des Kosmos und damit einen Seins- und Lebensbezug zurück zu gewinnen. Ihre Selbstvergessenheit kennzeichnete die Moderne als pathologisch, wobei die Grundprobleme jeder Konzeption einer »natürlichen« Ordnung auch bei Spann wiederkehrten: Wenn von einer Ordnung ausgegangen wurde, die dem ontologischen Status des Menschen im Kosmos gemäß war, wie konnte es sein, dass sich diese Ordnung nicht auch auf natürliche Art und Weise durchsetzte? Beziehungsweise: wenn sich diese Ordnung historisch im Mittelalter be113 Spann, Wert, S. 188 ff. 114 Ders., Tausch, S. 70 f. 115 Ders., Wert, S. 156, 250 f. 116 Ebd., S. 262 ff. 117 Vgl. Bauer, Ende.

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reits einmal durchgesetzt hatte, wie konnten die Menschen vergessen, dass dies ihre natürliche Seinsweise war? Wie war dementsprechend der Durchbruch des atomistischen Individualismus mit der Französischen Revolution118 überhaupt möglich? Spann sah dieses Problem und antwortete darauf mit verschiedenen Lösungsstrategien. Ein zentrales Argument war die Behauptung, es habe noch nie eine Gesellschaft gegeben, die nicht im Grunde ständisch gegliedert gewesen sei. Immer wieder seien aus dem Volk und der Gesellschaft heraus ständische Organisationen entstanden; so habe z. B. der ökonomische Liberalismus des Kaiserreichs mit Kartellen und Gewerkschaften bereits Gebilde geschaffen, die Keimzellen des Ständestaates darstellten. Das zweite Argument bestand im Verweis auf den Einfluss von Ideologien und Weltanschauungen. Die Organisation des Ständestaates hatte für Spann nicht zuletzt den Vorteil, den Einfluss von Agitatoren unschädlich zu machen, welche die Massen mit radikalen Versprechungen aufhetzten.119 Spann wiederholte damit einen zeittypischen, vulgär-nietzscheanischen Topos, die Moderne als eine Art intellektuelle Verschwörung gegen das Leben anzusehen, in diesem Fall gegen das natürliche Volksempfinden.120 In den Spruchweisheiten des einfachen Volkes fand Spann überall Belege für ganzheitliches Denken; außer Zitaten von Meister Eckhardt und Goethe dienten diese ihm hauptsächlich zur Illustration seiner Lehren. Letztlich spitzte sich das ganze Problem aber auf die Frage zu, wie es überhaupt Abstieg, Niedergang, gesellschaftliche Umgliederung an sich geben konnte, wenn im Ganzen der Keim zu einer perfekten Ordnung angelegt war. Hier blieb Spann zunächst nichts anderes übrig, als sich auf die Unergründlichkeit der Schöpfung zu berufen: »Die Frage, warum die Ganzheit sich nicht in ewiger Herrlichkeit eines strahlenden, einmal für immer gesetzten Gliederbaues erfreut und in seliger Ruhe ihrer selbst genießt, warum sie vielmehr in rast­ loser Veränderung sich umgliedert, wird sich wohl rein rational nie ergründen lassen.«121 Eine mögliche Antwort erahnte Spann jedoch darin, dass sich das Ganze in seiner Ausgliederung selbst nicht erreichte und die Glieder ein Eigenleben führten. Darum wohnte ihnen ein Moment der Indeterminiertheit inne, das die Perfektionierung der Ordnung sabotieren konnte. Die natürliche Ordnung musste aus diesem Grunde bei fehlerhaften Ausgliederungen wiederhergestellt werden. Wie konnte das geschehen und wer sollte das tun? Zunächst bedurfte es dafür der Einsicht in das Wesen der kosmologischen Ordnung, die für Spann allein dem romantischen Universalismus zugänglich war. Es war Aufgabe der Philosophen, des schöpferischen Lehrstands, den Wissenschaftlern, den Staats­ männern und anderen die Erkenntnis des wahren Seins zu vermitteln. Da118 Spann, Staat, S. 80 ff. 119 Ebd., S. 115 f. 120 Aschheim, S. 157 f. 121 Spann, Kategorienlehre, S. 209. Ders., Wert.

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bei waren auch die Philosophen nur Glied einer Ganzheit, weswegen sie sich niemals objektiv und distanzierend zu ihrem Untersuchungsobjekt verhalten konnten. Wahre Erkenntnis zeigte sich für Spann vielmehr in der Gewahrwerdung der eigenen Rückverbundenheit an dieses Ganze. Damit war der Erkenntnis eine Dignität garantiert, die sie in Stand setzte, für sich selbst zu bürgen. Oder anders formuliert: es gebe diese Erkenntnis nicht, wenn sie nicht wahr wäre. Wahrheitserkenntnis war auf diese Weise nicht länger das Resultat einer aktiven Verstandesleistung des Subjekts, sondern ein kontemplatives Erleben von Zusammenhängen.122 Die von Spann angesprochenen Philosophen, womit er zunächst einmal sich selber meinte, befanden sich gewissermaßen »im Wahren«. Damit behauptete die Erkenntnis ihre eigene Unbezweifelbarkeit, womit das Spannsche System seine Diskussion und Überprüfung im wissenschaftlichen Diskurs verweigerte: Es forderte bedingungslose Bejahung. Durch den unhintergehbaren Ausgangspunkt, das Ganze sei vor den Teilen, begründete Spann einen theoretischen Dualismus. Es gab die von ihm vertretene wahre und unmittelbare Erkenntnis des Seins und dessen falsche, vermittelte, abstrahierende Verkennung nach Art des materialistischen Atomismus. Spann entwickelte eine Theorie des wahren Seins, in der Deskription und Normativität in eins fielen. Die individualistische Sichtweise war darum nicht nur falsch, sondern alles, was aus ihrem Geist heraus geschaffen wurde, war falsche Ausgliederung, nicht lebensfähig und korrekturbedürftig. Als Gegenpol des wahren Seins konnte nur ein falsches zugelassen werden, das eigentlich keines war. Von einem rein theorieimmanenten Standpunkt aus wurde die Modernitätskritik von Spann im Grunde unnötig dramatisiert, weil der Individualismus gar nicht in der Lage war, dauerhafte Strukturen zu schaffen, die eine radikale Umkehr nötig gemacht hätten.123 Jedoch bestand bei Spann die Gegenwartsproblematik darin, dass sie den Höhepunkt einer Fehlausgliederung darstellte, dass sie zeigte, zu welchen Kämpfen und welchem Chaos der Individualismus führte.124 Aufgrund dieser Bedrängnis gewann die Verbreitung des universalistischen Bewusstseins seine Dringlichkeit, weil die Krise zugleich die besten Voraussetzungen dafür zu bieten schien, eine richtige Ausgliederungsordnung auch umzusetzen. Daraus rechtfertigte sich die pathetische Dringlichkeit von Spanns Sprache, obwohl der Universalismus an sich ein ruhiges Geschichtsvertrauen nahegelegt hätte.

122 Vgl. dazu ausführlich: Köster, Universalismuskonzepte. 123 Spann vermied es, diesen Widerspruch aus seinen Werken zu eliminieren. Spann, Grundgestalten, S. 396 ff. 124 Ders., Staat, S. 99 ff.

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5.3 Friedrich von Gottl-Ottlilienfeld: »Wirtschaft als Leben« 5.3.1 Der Theoretiker des Fordismus In vielem dem von Spann ähnlich und doch ganz verschieden war das Werk Friedrich von Gottl-Ottlilienfelds (1868–1958). In manchen dogmengeschichtlichen Darstellungen werden die beiden Ganzheitstheoretiker auch zusammen behandelt, obwohl sie gegeneinander polemisierten und jegliche Gemeinsamkeiten bestritten hätten.125 Gottl-Ottlilienfeld studierte in Wien, Berlin und Heidel­berg, wo der der Älteren Historischen Schule zuzurechnende Karl Knies sein akademischer Lehrer wurde. Hatte er sich zunächst hauptsächlich mit Agrarwissenschaft beschäftigt, kam er über Umwege zur Nationalökonomie, wo er rasch Karriere machte: 1902 wurde er außerordentlicher, 1904 ordentlicher Professor in Brünn. 1919 wechselte er nach Hamburg und von dort 1924 nach Kiel. 1926 wurde Gottl-Ottlilienfeld schließlich an die renommierte Berliner Universität auf einen Lehrstuhl für theoretische Nationalökonomie berufen, den er für den Rest seiner akademischen Laufbahn innehatte. Wie Gottl-Ottlilienfeld Anfang der 1940er Jahre in seiner intellektuellen Lebensbeichte schrieb, befremdete ihn schon während seines Studiums die Tat­ sache, dass die Nationalökonomie anscheinend nur die platten Tatbestände des Lebens wiedergab und nichts dazu beitrug, diese begrifflich schärfer zu fassen.126 Diesen Tatbestand benannte er in seiner 1901 erschienenen Schrift als Die Herrschaft des Wortes. Dem jedoch abzuhelfen, ließ es notwendig erscheinen, die zentralen Problemstellungen der Nationalökonomie neu aufzurollen und die kompliziertesten ontologischen Probleme zu durchdenken, ein Projekt, das vor allem Zeit brauchte, und Gottl-Ottlilienfeld selbst kennzeichnete seine Arbeitsweise als äußerst langsam.127 Während Spann und anderen die großen Werke scheinbar leicht von der Hand gingen, veröffentlichte Gottl-Ottlilienfeld seinen großen Entwurf Wirtschaft und Wissenschaft erst 1931.128 Welch hohe Selbsteinschätzung er dabei trotzdem hatte und wie sehr ihn gleichzeitig die Tatsache belastete, dass andere in dieser Zeit als Neufundierer reüssierten, spricht z. B. aus seiner Bewertung einer mehr als 20 Jahre zurückliegenden negativen Rezension der Herrschaft des Wortes, über die er 1923 an Arthur Spiethoff schrieb: »Leichtfertiger ist nie eine Hand zurückgeschlagen worden, als die, die ich der ›Forschung in Tatsachen‹ von der schärfsten Theorie her entgegenreichte. Für die innere Fühlungnahme sind damit Jahrzehnte unwieder125 Schreiben Gottl-Ottlilienfeld an Arthur Spiethoff (30.11.1923) Nl Spiethoff A 225,2. Spann, Fundament, S. 11. Streller, Herrschaft, S. 37. 126 Gottl-Ottlilienfeld, Sache, S. 2*f. 127 Ebd., S. 10*ff. 128 Ders., Wirtschaft und Wissenschaft.

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bringlich verlorengegangen. Inzwischen konnte eine ›Theorie‹ anwuchern, in der Richtung Schumpeter, Spann u. Kons., die vom Standpunkt der inneren Einheit unserer Wissenschaft einfach ein Skandal ist.«129 Wie Spann, Liefmann und andere inszenierte Gottl-Ottlilienfeld geradezu seinen Außenseiterstatus, der sich schon aus seinem Anspruch ergab, als alleiniger Besitzer nationalökonomischer Wahrheit einer Front von Ignoranten gegenüberzustehen, die nicht in der Lage waren, die Wortebene zu durchstoßen und einen erkennenden Zugriff auf die ontologischen Tiefendimensionen der wirtschaftlichen Gestaltung zu erlangen. Wie Spann, Liefmann und andere sah auch er seine intellektuellen Ahnen nicht in den Klassikern130, sondern in »Außenseitern« wie ihm selbst, namentlich Justus Möser, Friedrich List und Karl Knies. Dabei war Gottl-Ottlilienfeld in der deutschen Nationalökonomie sicherlich keine periphere Gestalt, was auch dadurch illustriert wird, dass er sich als allgemein verachteten und verlachten Außenseiter auch dann noch darstellte, als seine fachinterne Bedeutung während des Nationalsozialismus erkennbar gestiegen war.131 Seinem eigenen Anspruch konnte das jedoch nicht genügen; er hätte wohl nur eine Massenkonversion als angemessen empfunden. Während der 1920er Jahre gab es in der Tat viel Kritik an Gottl-Ottlilienfelds Ansatz132, jedoch auch zahlreiche lobende Besprechungen. Junge Nationalökonomen wie Hero Moeller, Erich Egner, Kurt Singer oder Horst Wagenführ133 schätzten ihn genauso wie Harms, Salin und Spiethoff.134 Dass sich Max Weber lobend über seine Herrschaft des Wortes und seine Technikschriften geäußert hatte, vergaß Gottl-Ottlilienfeld selten zu erwähnen.135 Vor allem letztere waren es auch, die sein Ansehen im Fach begründeten, wie sich auch heute noch der Name Gottl-Ottlilienfeld vor allem mit der von ihm stammenden Wortschöpfung »Fordismus«136 verbindet. Gottl-Ottlilienfeld wurde damit zum Theore­ tiker einer breiten Bewegung, die in der Rationalisierung eine universale Möglichkeit erblickte, Wirtschaft und Gesellschaft effektiver zu organisieren und auf diese Weise die Bedrängnisse und Konflikte der Nachkriegszeit zu überwinden. Er entwickelte dabei vor allem ein Motiv, das bis weit in das »Dritte Reich« hinein eine wichtige Rolle spielen sollte, dass unter dem Banner der Rationa­ lisierung die ideologischen und politischen Gegensätze verschwinden und einer 129 Schreiben Gottl-Ottlilienfeld an Arthur Spiethoff (30.11.1923). UB Basel, Handschriftenabteilung. Nl Spiethoff, A 225,2. 130 Gottl-Ottlilienfeld, Freiheit, S. 509. 131 Rauchenschwandtner, Erkenntniskritik, S. 215. Lenger, Sombart, S. 331. 132 Z. B.: Diehl, Wertlehre. Streller, Herrschaft. 133 Schreiben Kurt Singer an Edith Landmann. (4.8.1933) UB Hamburg, Handschriftenabteilung. Nl Singer, NKS BI5. Wagenführ, Systemgedanke, S. 334 ff. 134 Salin, Hochkapitalismus, S.  327. Schreiben Arthur Spiethoff an Edgar Salin (2.6.1927). UB Basel, Handschriftenabteilung. Nl Salin, Fa 9373. 135 Z. B. Gottl-Ottlilienfeld, Sache, S. 3*. Radkau, Weber, S. 654 f. 136 Vgl. Nolan, S. 48 f.

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neuen Arbeitsmoral Platz machen würden, die im Geiste technischer Effizienz fröhlich zur Tat schritt. Gottl-Ottlilienfeld setzte sich dabei vor allem mit der von dem amerikanischen Ingenieur Frederick W. Taylor um die Jahrhundertwende entwickelten, neuartigen Form der wissenschaftlichen Betriebsführung auseinander. Diese beruhte hauptsächlich auf der Zerlegung der Produktion in einzelne Arbeitsvorgänge, die auch ungelernte Arbeiter mit großen Effizienzgewinnen erledigen konnten. In diesem Zusammenhang propagierte Taylor die berüchtigten Zeit- und Bewegungsstudien, die von einem Großteil der Arbeiter massiv abgelehnt wurden, weil sie im Arbeitsalltag ein hohes Maß an Autonomieverlust und Disziplinierung bedeuteten.137 Gottl-Ottlilienfeld erblickte im Taylorismus nicht viel mehr als eine geistlose Technisierung des Arbeitsprozesses.138 Was er demgegenüber als »Fordismus« propagierte, stellte eine Verallgemeinerung und philosophische Überhöhung der von dem amerikanischen Automobilpionier Henry Ford in seinem Bestseller Mein Leben und Werk propagierten Arbeitsweise dar. Das Credo dieser eigenartigen Mischung aus Lebensbericht und Bekenntnisschrift lautete, dass es Ford weniger um das Geldverdienen an sich, als vielmehr um das Gestalten eines Werkes zu tun war: die großtechnische, rationale Produktion von Automobilen. Zu diesem Zweck reduzierte er die Arbeitszeit und zahlte seinen Arbeitern für die damalige Zeit hohe Löhne, damit sie die von dem Unternehmen produzierten Wagen selbst erwerben konnten und sich zugleich mit dem Werk identifizierten. Unter diesen Bedingungen entwickelten die Arbeiter nach Ford einen ganz ungewöhnlichen Elan und zeigten eine erstaunliche Kreativität, indem sie von selbst die technisch besten Lösungen fanden. Zugleich war für Fords Betriebsphilosophie ein ausgeprägter antibürokratischer Affekt charakteristisch. Arbeitete eine Belegschaft als Betriebs­gemeinschaft im echten Sinne des Wortes zusammen, wurden Rechnungslegung und Buchführung unnötig. Ford rühmte sich, die statistische Abteilung in seinem Werk geschlossen zu haben.139 Gottl-Ottlilienfeld sah in Fords Philosophie ein verallgemeinerbares Programm, das für ihn eine verblüffend einfache Möglichkeit darstellte, die technischen Potentiale der Gemeinschaft nutzbar zu machen. Zugleich ließ sich so die vom Taylorismus propagierte Zerstückelung des Arbeitsprozesses und die damit einhergehende maximale Spezialisierung des einzelnen Arbeiters vermeiden. Gesamtwirtschaftlich sollte der positive Effekt darin bestehen, dass die Unternehmer nicht mehr das Ziel der kurzfristigen Gewinnmaximierung verfolgten, sondern ihre Rationalisierungsstrategien auf eine nachhaltige Steigerung der »Ertriebswucht« ausrichteten.140 Dieser Begriff war einer der für Gottl137 Stollberg, Rationalisierungsdebatte, S. 92, 106. Prinzing, S. 65 ff. Eine andere Bewertung bei Wirsching, Weltkrieg, S. 393. 138 Gottl-Ottlilienfeld, Fordismus?, S. 8. 139 Ford, Leben. 140 Ebd., Fordismus?, S. 36 f.

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Ottlilienfeld typischen Neologismen, den er in seinem Beitrag über Wirtschaft und Technik für den Grundriss der Sozialökonomik geprägt hatte. Die Bedeutung des Begriffs beruhte auf der Unterscheidung zwischen wirtschaftlicher und technischer Vernunft. Die technische Vernunft sah Gottl-Ottlilienfeld, wie Wirtschaften überhaupt, aus dem Geist der Lebensnot geboren. Ihr kategorischer Imperativ forderte den Menschen auf, so zu handeln, dass bei der Verfolgung eines Zweckes anderen möglichst wenig Abbruch getan wurde, also mit möglichst geringem Aufwand.141 Hingegen orientierte sich die wirt­schaftliche Vernunft an der Rentabilität. Technische und wirtschaftliche Vernunft waren jeweils aufeinander angewiesen  – die technische zeigte, was möglich war, die wirtschaftliche entschied über die Realisierung. Ziel eines Unternehmens musste es sein, die Ertriebswucht zu steigern, also die wirtschaftliche und technische Vernunft harmonisierende Leistungskraft des Betriebes zu maximieren.142 In dem, was er »Fordismus« nannte, sah Gottl-Ottlilienfeld insgesamt einen Weg, die gesamtwirtschaftlichen Probleme und die geistige Zerrüttung Deutsch­ lands zu überwinden, ohne eigentlich viel ändern zu müssen: Es bedurfte keiner neuen Wirtschaftsordnung, sondern lediglich einer Bewusstseinsänderung von Unternehmern und Arbeitern, hin zu einem »weißen Sozialismus der reinen, tatfrohen Gesinnung.«143 Vor allem diese Überlegungen machten Gottl-Ottlilienfelds Technikschriften zu einer der zeitgenössisch prominentesten Auseinandersetzungen mit dem Problem des Verhältnisses von Wirtschaft und Technik. Ihm selbst wiederum war das geradezu peinlich, weil er diesem Sujet im Rahmen seines Oeuvres eine eher periphere Rolle zuwies und demgegenüber seine theoretischen Werke im Schatten stehen sah.144 Sein Projekt einer »Wirtschaftstheorie als Leben« entwickelte er schließlich nach und nach, aufbauend auf einer Grundsatzkritik an der bestehenden Nationalökonomie und der mutmaßlichen Einsicht in den fundamentalen Seinsvollzug allen Wirtschaftens, nämlich der gestalthaften Verbürgnis des dauernden Einklangs von Bedarf und Deckung.145 5.3.2 Die wirtschaftliche Dimension und die Gestaltung der Wirtschaft Bereits in seinen frühen Arbeiten meinte Gottl-Ottlilienfeld einer völlig neuen Erkenntnisweise auf die Spur gekommen zu sein146, die, wie auch bei anderen Systembildnern zu beobachten, eigentlich eine ganz einfache war. So schrieb er 141 Gottl-Ottlilienfeld, Wirtschaft und Technik, S. 13. 142 Ebd., S. 26 f., S. 116–133. Vgl. auch: Bender, S. 122 ff. 143 Gottl-Ottlilienfeld, Fordismus?, S. 37. 144 Ders., Sache, S. 1*f. 145 Ders., Wirtschaft und Wissenschaft, Bd. 1, S. 87 ff. 146 Spann, Krisis, S. 15. Gottl-Ottlilienfeld, Wirtschaft und Wissenschaft, Bd. 1, S. 575 f.

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1923: »Allem Denken geht schon über einem Schlagwort der Atem aus. Wie sehr aber bleibt für die hergebrachte Theorie, durch ihre ›Grundworte‹ in Sachen der Probleme, durch Schlagworte gleich Nutzen in Sachen der Lösung, die geistige Welt tatsächlich wie mit Brettern verschlagen! Da erweisen sich diese seltsamen ›Grenzen der Erkenntnis‹ doch als so morsch; man muss sich eigentlich wundern, warum in einer so vielgepflegten Lehre nicht längst schon jemand diese Wand eingerannt hat.«147 Bereits in seinen ersten Arbeiten beschäftigte sich Gottl-Ottlilienfeld mit den zwei Themen, die ihn zeitlebens nicht mehr loslassen sollten, nämlich der Auseinandersetzung mit der Wertlehre und der sog. »Herrschaft des Wortes«, in der für ihn das grundlegende Erkenntnishindernis der nationalökonomischen Theoriebildung lag. Die Herrschaft des Wortes bezeichnete dabei zunächst den Sachverhalt, dass bestimmte Worte das nationalökonomisch-theoretische Denken einstellten und ausrichteten. Aus diesem Grund waren sie für dessen Inhalt und die methodische Form ausschlaggebend. Diese »Wortgebundenheit« des Denkens empfand Gottl-Ottlilienfeld als größtes Hindernis einer wahrhaften Theorie. Sie führte dazu, dass sich das Denken lediglich mit selbst konstruierten Fragestellungen beschäftigte und Worte auf Worte bezog, statt zu versuchen, einen erkennenden Zugriff auf die ontologischen Grundlagen des menschlichen Wirtschaftens zu gewinnen. Die Nationalökonomie litt zudem unter der Kontaminierung ihrer theoretischen Begriffe durch deren Alltagsbedeutung.148 Damit war das Projekt, das Gottl-Ottlilienfeld verfolgte, in seinen Grundzügen bereits vorgezeichnet: eine ontologische Theorie der Wirtschaft zu entwickeln, die überhistorisch aufzeigte, was menschliches Wirtschaften wesens­gemäß ausmachte. In der Wertlehre wiederum sah Gottl-Ottlilienfeld die wahnhafte Suche nach einem »Allpreisgrund«, eines letzten »Warums aller Preise«.149 Auf diese Weise wurde das Wirtschaftsleben als eine Güterwelt konstruiert, eine Welt autonomer Objekte, der eine »Puppe«, der »Hampelmann des Erwerbs«, gegenübergesetzt wurde.150 Gemeint war damit eine ökonomische Theorie, die in den Preisen den Bestimmungsfaktor des Wirtschaftens erblickte und ihre Beziehungen kausal oder funktional miteinander in Beziehung setzen wollte. Eine solche Rechenhaftigkeit des Wirtschaftslebens verneinte Gottl-Ottlilien­ feld jedoch und lehnte damit auch eine Werttheorie ab, die von Menschen ausging, die auf rationale Art und Weise Nutzen und Kosten gegeneinander abwogen und spontan in der Lage waren, ihre Bedürfnisse größenhaft auszu­ drücken.151 Nicht nur, dass keineswegs immer von rationaler Erwägung ausgegangen werden konnte: Was dabei für Gottl-Ottlilienfeld konstruiert wurde, 147 Gottl-Ottlilienfeld, Dimension, S. 10, 208. 148 Ders., Herrschaft, S. 134, 145 ff. 149 Ders., Bedarf, S. 225. 150 Ders., Dimension, S. 7. 151 Ebd., S. 41.

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war eine modellhafte Zirkusveranstaltung, in welcher die ökonomische Theorie ein rationalistisches Zerrbild des wirklichen Wirtschaftslebens zeichnete, wo der Unternehmer zum Buchhalter »eingedorrt« würde und der Wirtschafter, »über das Hauptbuch gebeugt«, immerfort Kosten und Nutzen miteinander verrechnete.152 Das konkrete Kalkulieren sah Gottl-Ottlilienfeld als »kleinlichen Schacher«, womit dem Problem der Willensbildung in der Wirtschaft ausgewichen wurde.153 Die rationalistische Werttheorie war folglich für Gottl-Ottlilienfeld die Konstruktion einer »Allpreisfolge«, in der Preise auf Preise bezogen und darauf gründend das gesamte Wirtschaftsleben erklärt wurde. Daraus ergab sich für ihn jedoch ein Erklärungsdefizit, denn so musste unklar bleiben, wie die organische Gestaltung des Wirtschaftslebens und die wirtschaftlichen Tauschphänomene miteinander verknüpft waren und sich gegenseitig bedingten. Die individualistische Werttheorie scheiterte also letztlich an der Erklärung der konkreten Ausgestaltung des Wirtschaftslebens, wie also die Gestaltung von Betrieben und Unternehmen, die konkrete Realisierung der Technik mit dem ökonomischen Tauschverkehr zusammenhing. Wirtschaft als Leben aufzuweisen bedeutete deswegen, zu demonstrieren, dass Wirtschaft in erster Linie Gestaltung mit dem Ziel war, den dauernden Einklang von Bedarf und Deckung zu sichern. Nur mit Bezug auf diesen letzten Endzweck war der ökonomische Tauschverkehr adäquat zu verstehen. Was Gottl-Ottlilienfelds »Allwirtschaftslehre« gegenüber der von ihm kritisierten Form der ökonomischen Theorie bieten wollte, war ein »System« der grundlegenden Theorie154, eine »Grundlehre vom Wirtschaftsleben; bildlich gesprochen: […] der ›ewigen Wirtschaft‹, all das umfassend, was für seinen Teil wirklich sein muss, auf das Wirtschaft selber von Wirklichkeit ist.«155 Es handelte sich also um alles der Wirtschaft Wesentliche und Unwandelbare, mochte die Wirtschaft auch von einem Volk zum anderen und einer Zeit zur anderen »ihr Formenkleid wechseln.«156 Die Allwirtschaftslehre war dreistufig aufgebaut: Als erstes galt es herauszuarbeiten, was Wirtschaft jenseits aller historischen Formveränderungen immer und überall ausmachte. Daran anschließend sollte eine Formenlehre die Formveränderungen des Wirtschaftslebens im historischen Verlauf nachzeichnen. Am Schluss stand eine Gestaltungslehre, deren Aufgabe darin bestand, die »seinsrichtige« Gestaltung der Wirtschaft anzuleiten.157 Die weitaus größten Anstrengungen widmete Gottl-Ottlilienfeld dem ersten Teil seines Arbeitsprogramms, wobei die Charakterisierung des Tausches den 152 Ebd., S. 196. 153 Ders., Bedarf, S. 218. 154 Seiner Auffassung der Systembildung knapp zusammengefasst: Ders., Läuterung, S. 25 f. S.a. Ders., Begleitwort, S. VII–XXXII, XXVIII f. 155 Ders., Sache, S. 13*. 156 Ebd. 157 Ders., Wirtschaft und Wissenschaft, Bd. 1, S. 63 ff.

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Anfang machte. An Preisen ließ sich kein strenger quantitativer Zusammenhang der wirtschaftlichen Größen festmachen, sondern sie repräsentierten die sog. »wirtschaftliche Dimension«. Mit ihr war zunächst schlicht gemeint, dass den Gütern etwas anhaftete, das sie als wirtschaftliche kennzeichnete: ihr gemeiner Wert in einer Naturaltauschgesellschaft oder der Preis unter modernen Marktbedingungen. Die wirtschaftliche Dimension ging aus keiner Messung hervor und bezeichnete keine quantitative Wertschätzung, sondern ihre wahren Eigenschaften offenbarten sich erst bei einer Gesamtbetrachtung der wirtschaftlichen Gestaltung. Es war beispielsweise eine zentrale Eigenschaft der modernen Wirtschaft, dass prinzipiell alle Güter als Waren auf dem Markt verkauft werden konnten. Während in vormodernen Gesellschaften der Tausch eher eine randständige Rolle gespielt und mehr zur Erlangung der Güter gedient hatte, die zusätzlich zum Lebensunterhalt benötigt wurden, war der Tausch das konstituierende Merkmal der modernen Wirtschaft, das ihre Gebilde mit­einander verknüpfte und die Wirtschaft als »Allzusammenhang« konstituierte.158 Die wirtschaftlichen Gebilde waren die Haushalte, einzelnen Betriebe und Unternehmen genauso wie der Markt und der Gesamtzusammenhang der Volkswirtschaft. Diese waren jedoch keineswegs isoliert, sondern organisch miteinander verbunden, indem die »Ingebilde« durch die »Umgebilde« eingeschlossen wurden, der Betrieb also vom Unternehmen, das Unternehmen von der Volkswirtschaft usw.159 Dieser wirtschaftliche Allzusammenhang, in dem die einzelnen Gebilde durch Tausch miteinander verflochten waren, stellte nun ein Gebilde dar, in dem der menschlichen Lebensnot abgeholfen wurde. Die Wirtschaft schuf auf diese Weise stets solche Gebilde, die garantierten, dass sich Bedarf und Deckung im Einklang befanden und weiter in Einklang gehalten wurden. Die Gebilde waren also zunächst einmal dazu geschaffen, ihre eigene Fortexistenz zu sichern. Im Wirtschaften kam ein Gestaltungswille zum Ausdruck, ein »Wille zur Wirtschaft«, der auf die Verwirklichung der lebensförderlichsten Gestaltung zielte. Daraus ergab sich dann auch der ganze Sinn und die volle Bedeutung der wirtschaftlichen Dimension: sie spiegelte die Gestaltungsverhältnisse der Wirtschaft sowie die Wertschätzungen der Güter wider. Während der Preis der ab­ strahierenden ökonomischen Theorie mit dem Tausch der Vergangenheit zufiel, haftete die wirtschaftliche Dimension dem Gut weiterhin gedanklich an, etwa in Form einer »Preiserinnerung«.160 Sie war nach Streller das, was blieb, wenn der Markt vorbei war.161 Auf diese Weise stellte sie den Kontinuitätszusammenhang und die Stabilität des Gebildes sicher und schuf zugleich Anschlussmöglichkeiten für weitere Gestaltung, indem sie Veranschlagung ermöglichte. Weiter repräsentierte sie, weil alle Güter miteinander vertauscht werden konn158 Ebd., S. 105. 159 Ders., Bedarf, S. 71 f. 160 Ebd., S. 172. 161 Streller, Herrschaft, S. 50.

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ten, Verfügungs- und somit Gestaltungsmacht. Die wirtschaftliche Dimension räumte also »in dem Maße, das so nüchtern von einer Geldzahl angezeigt wird«, dem Subjekt Gestaltungsfreiheit ein.162 Die Preise hatten aber keine selbständige Steuerungsfunktion, sondern bildeten, ähnlich wie bei Spann, lediglich reale Gestaltungsverhältnisse und -spielräume ab. 5.3.3 Das Seinsrichtige in der Wirtschaft Es ist an dieser Stelle müßig, die Entwicklung der Wirtschaftslehre bei GottlOttlilienfeld weiter nachzuzeichnen und die mitunter skurril anmutende Neuschöpfung ökonomischer Grundbegriffe zu rekonstruieren, wenn er z. B. neben »Ertragswucht« und »Ertriebswucht« Kapital als »Fernfugmacht« und Kapitalbildung als »Eindickung von Fernfugmacht« fasste.163 Die Frage ist jedoch, worauf Gottl-Ottlilienfeld mit seiner Theorie eigentlich zielte. Er beanspruchte für sich eine wertfreie Seinserkenntnis der Wirtschaft, die sich für ihn im gestalthaften Verbürgnis des dauernden Einklangs von Bedarf und Deckung manifestierte. Verband sich damit aber die Option für eine bestimmte Wirtschaftsordnung oder vertrat Gottl-Ottlilienfeld, wenn Salin ihn zu der Gruppe der anschaulichen Theoretiker zählte, eher eine an den »Wirtschaftsstil«-Gedanken angelehnte Vorstellung, die einer Wirtschaftsordnung in ihren historischen Rahmenbedingungen ihr Recht ließ? Zunächst ist dazu in Betracht zu ziehen, wie sich die Gestaltung der Wirtschaft konkret verwirklichte und wovon diese Verwirklichung abhing. Vier Grundlagen waren zunächst für die konkrete Bedarfsdeckung entscheidend, der Lebenskreis, der Lebensraum, der Lebensstamm und das Lebenserbe des Gebildes. Der Lebenskreis bezeichnete die Beziehungen eines Gebildes zu den es umgebenden, etwa die Beziehung einer Volkswirtschaft zu anderen Volkswirtschaften. Mit dem Lebensraum waren die räumlichen Gegebenheiten wie Rohstoffvorkommen etc. gemeint, aber auch geographische Eigenheiten wie das Klima, welche die wirtschaftliche Gestaltung beeinflussen konnten. Unter dem Lebenserbe wurden vor allem das Wissen gefasst, dass über die Jahrzehnte und die Jahrhunderte akkumuliert wurde, was Spann in den Begriff der »Vorreife« einfasste.164. Gestaltung baute auf diesen Voraussetzungen auf und wurde durch sie determiniert.165 Es wäre aber eine falsche Vorstellung, hierin ein statisches Bild der Wirtschaft zu erblicken. So schrieb Gottl-Ottlilienfeld beispielsweise, dass Prinzip des dauernden Einklangs von Bedarf und Deckung ziele nicht auf einen maximalen quantitativen Output, sondern »auf das lebensförderlichste Zusammen162 Gottl-Ottlilienfeld, Dimension, S. 179. 163 Ebd., S. 202 ff. 164 Spann, Fundament, S. 185 ff. 165 Gottl-Ottlilienfeld, Bedarf.

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spiel aller Erfüllungen im Gebilde.«166 Damit war aber nicht wie bei Spann die Ausgliederungsfülle gemeint, sondern lediglich, dass Gestaltung auf der Ebene der Unternehmung auf Rentabilität und Ertrag zielte, und nicht auf die maximale Steigerung der Güterproduktion.167 Gottl-Ottlilienfeld sah das Ganze des Gebildes als stets vorgeordnet, und Wirtschaft war für ihn gemeinschaftliche Gestaltung.168 1928 schrieb er in Bedarf und Deckung: »Jegliche Entscheidung des Wirtschafters fällt gemäß der Rücksicht auf das lebensförderlichste Zusammenspiel aller Erfüllungen im Gebilde«.169 1931 formulierte er, jedes Gebilde gewährleiste durch die Art seines Seins gleichzeitig seine Dauer. Indem diese Andauer zugleich aber der Sinn aller Gestaltung zu Leben war, fielen in der Wirtschaft grundsätzlich Sein und Sinn der Gestaltung in eins.170 Nun war aber den Gebilden, gerade den Unternehmen als »packendste[m] Beispiel für die Gestaltung zu Leben«, eine unterschiedliche Lebensdauer beschieden. Durch den technischen Fortschritt wurde die Neuschaffung von Gebilden von einer steten Zerstörung begleitet, womit Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Konzeptionen Spanns und Gottl-Ottlilienfelds deutlich werden: Einerseits gingen beide davon aus, dass die Preise bloß die Oberfläche darstellten und ein tiefer gelegenes Sein widerspiegelten. Beide sahen den Fehler der Volkswirtschaftslehre darin, diesen Oberflächenphänomenen zu große Aufmerksamkeit zu schenken und hier selbstständige Kausalitäten zu konstruieren, die in Wirklichkeit gar nicht existierten. Während das Sein bei Spann jedoch eine statische, kosmologische Ordnung vorstellte, war »Leben« bei GottlOttlilienfeld essentiell dynamisch. Niemals genügte es sich selbst, sondern drängte auf Neuschaffung und Umbildung, die ihre Verkörperung im technischen Fortschritt fanden: als Ausdruck der Gestaltungsmacht des Menschen über die Natur. Zugleich sollte diese Dynamik aber zielgerichtet sein, indem sie die lebensförderlichste Gestaltung anstrebte. Die entscheidende Bedingung, um dieses Ziel zu erreichen, sah Gottl-Ottlilienfeld in der Geisteshaltung von Unternehmern und Arbeitern. Darum war der Fordismus für ihn so wichtig, weil er einen Weg aufzeigte, wie sich diese Gestaltung verwirklichen ließ: Als geistige Ausrichtung der Menschen auf Gestaltung, die das Volk zu einer Gemeinschaft formte und einen möglichen Gegensatz zwischen der Gestaltung der Einzel­ gebilde und des Gesamtgebildes der Volkswirtschaft ausschloss. Dabei war er aber kein Advokat eines ungezügelten freien Marktes, weil dieser, wie die Weltwirtschaftskrise demonstrierte, durchaus Fehlgestaltungen hervorbringen konnte. Der Staat musste eingreifen, um die »Selbstregelung« der Wirtschaft zu bewahren und Fehlgestaltung nach Möglichkeit zu verhindern. Dafür benötigte 166 Ders., Dimension, S. 121. 167 Ders., Wirtschaft und Wissenschaft, S. 765 ff., 1160 ff. 168 Ders., Industrie, S. 25. 169 Ders., Bedarf, S. 42, 44. 170 Ders., Wirtschaft und Wissenschaft, S. 757 (auch eine Parallele zu Spann).

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er jedoch die Einsicht in das wahrhafte Sein der Wirtschaft, die Gottl-Ottlilienfeld zu vermitteln suchte. Wo Spann unter Rückgriff auf alteuropäische Semantiken seiner Gegenwart eine statische, hierarchische Ordnung als natürliche gegenüberstellte, entsprach bei Gottl-Ottlilienfeld dieser natürlichen Ordnung ein Gebilde, in dem die lebensförderlichste Gestaltung verwirklicht wurde, in dem der Staat die Selbstregulierung der Wirtschaft beschützte und die Menschen eine Gesinnungsgemeinschaft bildeten. Abweichungen der Gegenwart wurden an diesem Bild einer seinsrichtigen Wirtschaft gemessen. Damit konnte Gottl-Ottlilienfeld als Advokat der Rationalisierungseuphorie der 1920er Jahre gelten, für die Rationalisierung weitaus mehr darstellte, als bloß eine technisch effektive Organisation der Massenproduktion. Vielmehr schien in ihren Grundprinzipien das Bild einer Gesellschaftsordnung auf, welche die innere Zerrissenheit der Weimarer Republik überwinden und den Weg in eine lichtere Zukunft weisen würde.171 Nach 1933 sah Gottl-Ottlilienfeld dann im Nationalsozialismus die Erfüllung seiner theoretischen Vorstellungen. Die nationalsozialistische Formel »Gemeinnutz geht vor Eigennutz« interpretierte er als Ausdruck einer Gesinnung, die eine »lebensrichtige« Gestaltung garantierte, um die »Lebenswucht« der Volkswirtschaft zu steigern.172 Trotz dieser Anbiederung an den Nationalsozialismus, und auch wenn seine fachinterne Bedeutung während des »Dritten Reichs«, nicht zuletzt durch die Berufung einiger seiner Schüler, erkennbar anstieg, änderte dies an Gottl-Ottlilienfelds Selbstverständnis als Außenseiter jedoch wenig.

5.4 Exkurs: Sprache und Charakter der »Begriffsnationalökonomen«173 Die Selbsteinschätzungen der hier behandelten Nationalökonomen sind für manch anekdotische Fußnote gut. Über die wenig bescheidene Meinung, die Liefmann von sich hatte, wurde bereits berichtet. Gottl-Ottlilienfeld offenbarte gleichfalls ein bemerkenswertes Sendungsbewusstsein, wenn er eine negative Rezension eines seiner Werke als epochalen Rückschlag für die gesamte Disziplin betrachtete. Für Spann war jede wissenschaftliche Richtung außer der eige171 Ders., Fordismus?, S. 36 f. 172 Ders., Wirtschaftspolitik, S. 133 ff. 173 Mit diesem Ausdruck bezeichnete Walter Eucken Nationalökonomen wie Spann und Gottl-Ottlilienfeld, die, wie er es formulierte, Deduktionen aus »pseudoaxiomatischen Thesen, die als Definitionen erscheinen« vornahmen. Daraus ergaben sich nach Eucken Wirklichkeitsfremdheit und Sektenbildung: »Worte und Definitionen werden zu Schlagworten, die Atmosphäre der Wissenschaft wird verpestet, und mit Recht schüttelt der Nicht-Nationalökonom über den unerfreulichen Tumult der Personen und der »Systeme« den Kopf.« Eucken, Grundlagen, S. 32 ff.

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nen »unfähig, an die Probleme auch nur heranzukommen.«174 Alle diese Denker zeigten eine extreme Empfindlichkeit gegen Kritik, die sie grundsätzlich als Ausdruck mangelnden Verständnisses, eines veralteten Denkens oder persönlicher Feindseligkeit ansahen. Besonders die folgende Selbsteinschätzung Johann Plenges ist es wert, ausführlich zitiert zu werden: »Ich wage zu behaupten,« schrieb er 1923, »dass die allgemeine Darstellung der Volkswirtschaftslehre hier insbesondere seit der Durchführung der Lehre von der Arbeit und der Lehre vom Kapital, eine Gestalt bekommen hat, die in die Reihe der großen Lehrsysteme wie Smith und Marx hineingehört und sie einheitlich weiter bildet, unter Hineinnahme und selbstständigen Ausbau der Privatwirtschaftslehre und planmäßigen Beachtung der technologischen Unterlagen des Wirtschaftsprozesses. Hinter diesem geschlossenen und in allen Teilen neuen volkswirtschaftlichen System steht zum ersten Male ein abgeschlossenes und durchgeführtes System der allgemeinen und vergleichenden Gesellschaftslehre mit grundlegenden Ausführungen der Organisationslehre, der Ideenlehre, der Lehre von der Propaganda und der Führerlehre als kommenden praktischen Spezialdisziplinen und mit der gerade in diesen Ruhrtagen glücklich zum Abschluss gekommenen Zusammenfassung der Menschheitsentwicklung in einem einheitlichen Weltgeschichtsbild. Der innerste Kern des Ganzen ist eine Geisteslehre, die Hegel kühn vereinfachend und die Dialektik mit den Anfangstatsachen allen bewussten Gemeinschaftslebens begründend, die tiefsten Lehren des Christentums bestätigt, ohne je aus hingenommener Überlieferung nach dieser Bestätigung gesucht zu haben.«175 Lässt sich bei solchen Aussagen nicht mit Recht die Frage stellen, ob sich die schwierigen Charaktere, aus welchem Grund auch immer, nicht doch in die Nationalökonomie verirrt haben? Ein neben Solipsismus und Größenwahn gleichfalls aufschlussreiches Merkmal sind die z. T. abenteuerlichen Sprachkonstruktionen. Die Nationalökonomen der Weimarer Republik hatten einen bemerkenswerten Hang zu Neologismen, verschachtelten Satzkonstruktionen, sprachkritischen Auseinandersetzungen.176 Viele Texte wurden auf diese Weise mit Verstehensbarrieren ausgestattet, die vom sachlichen Inhalt her nicht gerechtfertigt waren. Gottl-Ottlilienfelds Werke z. B. waren wegen der Privatsprache des Verfassers enorm schwierig zu lesen, was ihrer Wirkung allerdings nicht unbedingt Abbruch tun musste, obwohl oder

174 Zitat in: Schreiben Eduard Lukas an Ferdinand Tönnies (3.12.1927). LB Kiel. Nl Tönnies, Cb 45.56: 492. 175 Schreiben Johann Plenge an Ministerialdirektor Wende (13.4.1923). UA Münster. Pers.Akte 6956 Nr.1. Bernhard Harms, langjähriger Freund und Bewunderer Plenges, merkte später an, im Fach habe man Plenge stets auf der Grenze zwischen »Genie und Irrsinn« gesehen. Schreiben Bernhard Harms an Edgar Salin (5.3.1935). UB Basel, Handschriftenabteilung. Nl Salin, Fa 3550. 176 Streller befürchtete 1930: »Wenn es so weiter geht, wird bald jeder Theoretiker in seiner eigenen Sprache schreiben.« Streller, Herrschaft, S. 46.

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weil es sich an vielen Stellen lediglich um die Verkomplizierung von Banalitäten handelte. Dieses Phänomen hing zunächst damit zusammen, dass viele nationalökonomische Grundbegriffe in den Augen der Disziplin problematisch geworden waren. Das betraf keinen Begriff so sehr wie den des Kapitals, der zwischen Anlagekapital und Geldkapital ein breites Bedeutungsspektrum umfasste. Der Kieler Nationalökonom Richard Passow demontierte in einer weit verbreiteten Monographie diesen für die Theoriebildung so zentralen Begriff sowie den aus ihm abgeleiteten Begriff »Kapitalismus«, indem er seinen Gebrauch bei verschiedenen Nationalökonomen untersuchte und zu der Erkenntnis kam, dass ihn letztlich jeder auf seine eigene Art und Weise verwandte.177 Nach Streller hatte der Kapitalbegriff eine Mahnung für die nationalökonomische Begriffsbildung insgesamt zu sein, »dass man erst nach überhundertjährigem Gebrauch merkt, mit was für einem Wechselbalg man es zu tun hat.«178 Die Probleme mit dem Kapitalbegriff zeigen die sprachliche Penibilität betreffend der tatsächlichen oder konstruierten Doppeldeutigkeit herkömmlicher Ausdrücke179, die jedoch paradoxerweise eng zusammenging mit einer z. T. unbekümmerten Leichtigkeit bei der Begriffsneubildung. Plenge und der Soziologe Hans Lorenz Stoltenberg verhandelten das Problem 1929 in ihrem Briefwechsel auf durchaus bezeichnende Art und Weise. Stoltenberg brachte als Beispiel den Begriff »Sozialpathologie«: Weil Sozialpathologie sowohl das Kranksein Einzelner durch die Gesellschaft wie das Kranksein der Gesellschaft durch Einzelne meinen könnte, böte es sich an, das eine Phänomen als Soziopathologie, das andere als Pathosoziologie zu bezeichnen.180 Plenge warf Stoltenberg daraufhin vor, er sei mehr Sprachreformator und Wortschöpfer als Soziologe: »Terminologische Neubildung muss ihrem Wesen nach höchststehende Maßarbeit sein wollen: das Wort muss seinem Begriff auf den geistigen Leib gepasst werden.«181 Vielleicht hätte sich allerdings Plenge, von dem Wortkreationen wie »Universismus« oder »Individuologie« stammen, hier nicht so weit aus dem Fenster lehnen sollen. Auch Spann brach eine Lanze für die Neologismen. Nach seiner Ankündigung, statt des Ausdrucks »funktionell« die Worte »leistungsmäßig«, »leistsam«, »verrichtsam« zu gebrauchen, merkte er an, er sehe schon das Lächeln all jener »Sprachmenger« vor sich, »die gleichgültig genug sind, das Deutsche zur Mischsprache herabsinken zu lassen und nicht bedenken, dass Fremdwörter nur Schmuck, nicht aufbauendes Gut der Sprache werden dürfen.« Die deutsche

177 Passow, Kapitalismus, S. 58. Vgl. (mit der Kapitulation vor der Möglichkeit einer eindeutigen Definition dieses Begriffs): Brylewski. 178 Streller, Statik und Dynamik, S. 14. 179 Besonders Amonn tat sich als Begriffskritiker hervor. Z. B. Amonn, Liefmann, S. 369 ff. 180 Schreiben Hans Lorenz Stoltenberg an Johann Plenge (28.5.1929) UB Bielefeld, Nl Plenge. Stoltenberg schlug 1928 vor, in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie einen »NormenAusschuss« einzurichten, der die Bedeutung grundlegende Begriffe einheitlich festlegen sollte. Stoltenberg. 181 Schreiben Johann Plenge an Hans Lorenz Stoltenberg (27.5.1929). UB Bielefeld, Nl Plenge.

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Sprache hätte genau dieselbe Fähigkeit zu eigenschaftswörtlichen Bildungen wie das Romanische, nur hätten die Deutschen nicht dieselbe Freiheit, solche Fähigkeiten auch anzuwenden. »Es fehlt dem Deutschen so oft an der nötigen Einbildungskraft und Ausdacht, sonst würde er auch die Unbekümmertheit finden, die zu jedem Abweichen von der gewohnten Urgroßmutterwendung gehört.« Jedenfalls war Spann der Meinung, die Bildung von Neologismen dürfe nicht nur den Dichtern überlassen werden, die nur die allerlebendigsten Bildungen, die »geschliffensten und zartesten Gestalten« gebrauchten. Der Alltag bedürfte derberer Ware und die Wissenschaft im Besonderen hätte genaue und folgerichtige Wortbildungen nötig. »So möge man ›leistsam‹, ›verrichtsam‹, ›leistungsmäßig‹, ›diensthaft‹ nur beherzt aufnehmen, nachdem schon unsere Altvorderen von ›ausrichtsamen Dienern‹ gesprochen haben. Es wird bald bedeutsamer klingen als das verwaschene ›funktionell‹.«182 Auch Spiethoff machte sich mit Ein­deutschungen um die ökonomische Terminologie verdient, wobei hier allerdings nationalistische Motive die Hauptrolle spielten.183 Beide Phänomene, Selbstüberschätzung und Sprachschöpfung, verbindet, dass sie als das Resultat einer bestimmten Form der Theoriebildung verstanden werden können, nämlich des beschriebenen Systemdenkens. Der Anspruch auf das neue System, mittels dessen die geistige Erneuerung der Nationalökonomie vonstatten gehen sollte, beinhaltete auch ein neues Denken, welches das alte überwinden sollte. Dieser Anspruch war nur aufgrund des Strukturverlusts der Nationalökonomie plausibel zu kommunizieren. Wer jedoch eine Letztbegründung geleistet oder gefunden zu haben meinte, sah darin mit einer gewissen Zwangsläufigkeit eine neue Wahrheit und war darum für eine bescheidene Selbsteinschätzung in der Regel nicht zu haben. Der Apriorismus der Systembildung fand also in einem »Apriorismus des Selbstwertgefühls«184 (Aurel Kolnai) seine Entsprechung, was noch dadurch unterstrichen wird, dass die hier behandelten Ökonomen sich unbedingt mit ihren Systemen identifizierten. Anstatt im Hochmut die Ursache für das Aufstellen neuer Systeme zu erblicken, könnte also in der fachinternen Plausibilität der Theorieform des neuen Systems genauso gut die Ursache für den Hochmut entdeckt werden. Das würde es zumindest erklären, dass überzogene Selbsteinschätzungen damals keineswegs selten anzutreffen waren.185 Zugleich machte dieses neue Denken aber auch eine neue Sprache notwendig, was in der Regel jedoch weniger sprachästhetische Gründe hatte, zumal die Sprachebene in vielen Krisendiagnosen als problematisch galt, wenn etwa von 182 Spann, Fundament, S. 77. 183 Schreiben Arthur Spiethoff an Eduard Engel (25.11.1929). UB Basel, Handschriftenabteilung. Nl Spiethoff, A 165,1. Spiethoff ließ noch nicht einmal Fremdwörter in bei ihm verfassten Dissertationen zu. Kasprzok, S. 47. 184 Kolnai, Ekel, S. 70, 76, 93. 185 Vgl. als ein Beispiel aus der Geschichte bzw. Kulturphilosophie vom Brocke, Breysig, S. 44, 55 f., 186, 197.

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der »Verschwätzerung« des Zeitalters gesprochen wurde.186 Sprachgestaltung zielte vielmehr auf die angemessene und eindeutige Beschreibung eines substantiellen Seins. Mit der überkommenen Begrifflichkeit konnte das nicht funktionieren, weil mit einer bestimmten Sprache und bestimmten Begriffen ein bestimmtes Denken und eine bestimmte Weltsicht verknüpft gesehen wurden. Daraus aber resultierte gerade der tiefere Sinn von Neologismen und grammatischen Transformationen: Auf diese Weise sollte die Wortebene durchstoßen, ein Zugriff auf die Tiefendimensionen des Seins und die Generierung nicht länger standpunktgebundener Eindeutigkeit möglich werden. Gottl-Ottlilienfeld drückte das aus, als er sich beschwerte, dass seine geringe Wirkung im Fach mitunter auf seine schwer verständliche Sprache geschoben wurde: »Mindestens ihr ›Barock‹ wird als leiser Tadel vorgebracht. Man hält dies für eine eigenwillige, also vermeidbare Absonderlichkeit des sprachlichen Ausdrucks. Aber mit nur einigem guten Willen müsste man doch zugeben, dass es mir doch um eine neue, mindestens dem Fach bisher fremd gebliebene Denkhaltung geht. Ein anderes Denken fordert aber gebieterisch auch eine andere Art zu sprechen heraus. Mit spielerischer ›Eigenbrötelei‹ hat das also gar nichts zu tun.«187 Vielleicht nur eine Lappalie, aber zumindest interessant an dieser Äußerung ist, dass Gottl-Ottlilienfeld den Ausdruck »sprechen« statt »schreiben« benutzte. Denn ein Schreibstil, der sich dem »hohen Stil« der Rhetorik annäherte, löste seit der Jahrhundertwende das gleichmäßige, undramatische Stilideal ab, wie Heinz Schlaffer kürzlich am Beispiel Friedrich Nietzsches aufgezeigt hat.188 Vorbild war dabei laut Schlaffer Nietzsches Stil, der gewissermaßen eine neue Art zu schreiben populär machte, welche die wörtliche Rede imitierte. Ansätze dazu finden sich auch hier, sei es allein, dass die Autoren kaum Fußnoten setzten, als wollten sie den Sprechfluss nicht unterbrechen und zudem unbedingt den Eindruck vermeiden, sie seien intellektuell von irgendjemand abhängig.189 Was die Werke Gottl-Ottlilienfelds, Spanns, Plenges und anderer durchzieht, ist ein geradezu prophetischer Ton, der in der privaten Korrespondenz häufig von selbstmitleidigen Urteilen über die Leser abgelöst wurde, die ihre Wahrheiten nicht verstanden. Schlaffers Interpretation lässt sich jedoch sogar noch zuspitzen: Es war womöglich nicht nur Nietzsches Stil, der die Geistes- und Sozialwissenschaften des 20. Jahrhunderts so stark beeinflusste, sondern mehr noch kreierte er geradezu die »Rolle« des umstürzenden und neuschaffenden Denkers. Was das Systemdenken in seiner extremen Fassung ausmachte: der Anspruch auf Neubegründung, das Motiv des Perspektivwechsels, die Welt so anzusehen, wie es vorher noch niemand getan hatte, besaß in Nietzsche ein Vorbild, der sich ins186 Ringer, S. 221. 187 Gottl-Ottlilienfeld, Sache, S. 3*. 188 Schlaffer. Vgl. auch Bohrer. 189 Der Freiburger Nationalökonom Paul Schröder lehnte es z. B. ab, Sekundärliteratur zur Kenntnis zu nehmen, weil sie ihn ablenken würde. Brintzinger, Nationalökonomie, S. 71.

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besondere in seinen späten Werken als der »Philosoph mit dem Hammer« inszenierte.190 Wenn auch selbst kein Freund der Systeme hatte Nietzsche doch aufgezeigt, dass es Denkoptionen jenseits der kontinuierlichen Faktenakkumulierung der traditionellen Wissenschaft gab, und damit die Möglichkeit, Wahrheit dort zu finden, wo noch niemand sie gesucht hatte. Wer diese Rolle annahm, war aber auf Grund seiner höheren Einsicht auch nicht mehr bereit, sich den Kontrollmechanismen der akademischen Welt zu unterwerfen, die gefangen im falschen Denken gar nicht in der Lage war, das grundstürzend Neue der eigenen Forschungsleistung zu begreifen. Die Überspitztheit einer solchen Rollenbeschreibung scheint indes die Selbstsicht mancher, in dieser Arbeit behandelten Wissenschaftler fast noch zu verharmlosen. Was die Ausbildung von Privatsprachen weiter leistete, war, die »Schließung« der Systeme zu unterstützen. War es bereits so, dass die Zugrundelegung letzter Annahmen zu einem strukturimmanenten Theorieaufbau zwang, die Systeme daher nicht in der Lage waren, fremde Theorieelemente ohne weiteres »eklektisch« zu integrieren, ermöglichte es eine eigene Sprache wiederum, jede Anfechtung in die eigene Theoriesprache zu übersetzen und diese Übersetzung allgemein sichtbar zu markieren. Auf diese Weise immunisierten sich die Systeme gegen »Störungen« von außen und wurden zu Reformulierungsmaschinen, die ihre Leistungsfähigkeit dadurch zu erweisen meinten, jeden Sachverhalt in die Systemlogik integrieren und in der Systemsprache ausdrücken zu können. Auf diese Weise blockierten sie einen fortgesetzten und kumulativen Forschungsdiskurs nicht zuletzt dadurch, dass sie ihre Theorieelemente »infizierten«: die Übernahme z. B. Spannscher Überlegungen und Begrifflichkeiten in andere Theoriezusammenhänge war eben kaum möglich, weil mit ihnen gewissermaßen das ganze System, die Spannsche Weltsicht, gleich mitkommuniziert wurde.

5.5 Franz Oppenheimer: Ökonomische Klassik und Monopoltheorie 5.5.1 Der Theoretiker des »Dritten Weges« Es fällt nicht leicht, Franz Oppenheimer (1864–1943) in einem Atemzug mit Spann und Gottl-Ottlilienfeld zu nennen: dort der katholische Konservative und der sich später den Nationalsozialisten anbiedernde Organizist, hier der sozialistische Gesellschaftstheoretiker jüdischer Abstammung, der nach 1933 Deutschland verlassen musste. Überdies zeichnete sich Oppenheimer durch einen ausgeprägten Wirklichkeitssinn aus: Seine Beiträge waren in der Regel scharfsinnig und erscheinen dem heutigen Leser oftmals als eine Stimme der 190 Strub, S. 847 f.

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Vernunft in manchmal doch recht obskur anmutenden Debattenzusammenhängen. Kritisch wies er auf das Übermaß an Methodendiskussion hin und bedauerte, dass sich die deutsche Nationalökonomie in so viele Schulen und »Cliquen« aufgespalten habe.191 Er war durchaus kein Verächter der ökonomischen Theorie, sondern hielt ihre konsequente Vermittlung und geistige Vertiefung auf den Universitäten für unbedingt geboten. Auf der anderen Seite hat Schumpeter, als er in seinem bekannten Wort von den Verkündern von »autochthonous messages« neben Spann und Liefmann auch Oppenheimer nannte192, das nicht ohne Grund getan: Oppenheimer war ein mitunter polemischer Verfechter seiner Überlegungen und insbesondere die sog. »Bodensperre« war sein intellektuelles Steckenpferd. Er selbst entgegnete einmal ironisch auf den Vorwurf, er trage immer die gleiche Idee vor, er hätte wenigstens eine, und es war in der Tat diese Idee, um die sein gesamtes Werk kreiste: Dass es gesellschaftliche Macht- und Gewaltverhältnisse waren, die das glückliche Zusammenleben der Menschen verhinderten, dass mit der Beseitigung dieser Verhältnisse aber zugleich die Möglichkeit eines liberalen Sozialismus gegeben sei, den er als einen »dritten Weg« zwischen Sozialismus und Kommunismus auffasste.193 Franz Oppenheimer wurde in Berlin als Spross einer liberalen jüdischen Familie geboren. Obwohl er bereits früh ein großes Interesse an den Geisteswissenschaften zeigte, studierte er zunächst Medizin und begann in Berlin als Armenarzt zu praktizieren. Hier mit den Lebensbedingungen der unteren Schichten konfrontiert gab er diesen Beruf schließlich auf und begann sich auf dem Gebiet der Gesellschaftsreform und Nationalökonomie zu betätigen. Rasch entwickelte er eine enorme schriftstellerische Produktivität, die er nahezu sein gesamtes akademisches Leben aufrechterhielt. Nach einer 1896 erschienenen Arbeit über die Siedlungsgenossenschaft194 veröffentlichte er in rastloser Folge ein Werk nach dem anderen, wobei theoretisch bedeutsam vor allem seine Arbeit über Thomas Malthus195 und seine Auseinandersetzung mit der Grundrententheorie David Ricardos waren.196 Waren letztere Arbeiten indes noch überwiegend »kritisch«, so legte er 1910 mit der Kritik der reinen und der politischen Ökono­ mie die eigenen Gedanken in theoretisch geschlossener Form vor. Das Werk bildete schließlich auch den dritten Band von Oppenheimers, in den 1920er und 1930er Jahren nach und nach vervollständigtem System der Soziologie, in dem er die in der Theorie der reinen und politischen Ökonomie entwickelten Grundgedanken in einen weit gefassten, soziologischen und historischen Kontext einbettete.197 191 Oppenheimer, Erstrebtes, S. 203. 192 Schumpeter, History, S. 1154. 193 Vgl. dazu Lüdders, S. 92 ff. 194 Oppenheimer, Siedlungsgenossenschaft. 195 Ders., Bevölkerungsgesetz. 196 Ders., Grundrententheorie. 197 Ders., System.

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Nach seiner Zeit als Privatdozent in Berlin, in der er eine große Anziehungskraft auf die Studenten entwickelte, wurde er 1919 auf einen gestifteten Lehrstuhl für theoretische Nationalökonomie und Soziologie an der Universität Frankfurt berufen, wobei sich die Fakultät gegen seine Berufung massiv zur Wehr setzte. Die als »unternehmerfreundlich« geltenden Frankfurter Nationalökonomen konnten sich nur schwer damit anfreunden, einen dezidiert sozialistischen Kollegen zu bekommen.198 Oppenheimer entwickelte in der Folgezeit auch hier als Dozent eine immense Strahlkraft, so dass auch seinen Ansichten gegenüber kritisch eingestellte Wissenschaftler für seine Persönlichkeit großen Respekt bekundeten. Nicht zuletzt ist es erstaunlich, wer von Erich Preiser, Gerhard Colm, Adolf Löwe bis Ludwig Erhard alles bei Oppenheimer studierte und von ihm beeinflusst wurde, auch wenn die Schüler die sozialphilosophischen Ansichten ihres Lehrers zumeist nicht übernahmen. Den Anspruch, den Oppenheimer mit seinem System vertrat, war, wie auch bei anderen soziologischen Nationalökonomen, keineswegs bescheiden. Im Vorwort zur Theorie der reinen und politischen Ökonomie schrieb er, sein Werk werde die Wissenschaft revolutionieren; auch Oppenheimer gebrauchte übrigens die Analogie zur kopernikanischen Wende.199 Seinen theoretischen Ansatz meinte er mit solch mathematischer Stringenz und Klarheit bewiesen zu haben, dass er daraus die geschichtsphilosophische Grundtendenz ableitete, der von ihm vertretene liberale Sozialismus werde auf jeden Fall kommen, ob es sich noch einige Zeit verzögere oder nicht.200 Zwar schloss sich Oppenheimer damit an eine bei den Sozialisten übliche Rhetorik an; zugleich übte Oppenheimer jedoch auch scharfe Kritik an den Überlegungen Karl Marx’ und sah sich selbst als Vollender von Gedanken, die letzterer vielleicht geahnt, jedoch nicht zuende geführt hatte. Nach dem Ersten Weltkrieg sah Oppenheimer dann die Zeit gekommen, mit seinen Gedanken stärker auf die öffentliche Diskussion einzuwirken. In mehreren Schriften propagierte er seinen »liberalen Sozialismus«, den er als »dritten Weg« zwischen Kommunismus und Kapitalismus betrachtete. Sein zentraler Gedanke bestand vor allem darin, dass alle Ausbeutung auf der sog. »Bodensperre« beruhte, dass sich nämlich der Boden in der Hand weniger Landbesitzer konzentrierte, die damit gegenüber dem Rest der Bevölkerung ein rechtliches Monopol besaßen.201 Das war nach Oppenheimer von entscheidender Bedeutung.202 Wo vorwiegend kleine und mittlere Bauern den Boden bewirtschafteten, herrschte Wohlstand, Glück und politische Stabilität. Das durch die 198 Schreiben Andreas Voigt an Hermann Schumacher (12.7.1925). LB Oldenburg. Nl Schumacher, HS 362,1428:2. 199 Oppenheimer, Theorie, S. 49. 200 Ebd., S. IXf. 201 Haselbach, Oppenheimer, S. 85. 202 Oppenheimer bezeichnete die Einsicht in die ökonomische Wirkung der Bodensperre später als »Gnadenwahl«, die ihm die Aufgabe seines Lebens gestellt habe. Ebd., S. 84.

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Boden­sperre geschaffene Monopol brachte den Großgrundbesitzern hingegen ein arbeitsloses Einkommen, die Grundrente, und führte gleichzeitig dazu, dass die Arbeiter nicht den vollen Arbeitsertrag erhielten. Durch Aufhebung der Bodensperre und die Schaffung von »Freiland« sollte dieser Zustand beseitigt werden. Emphatisch meinte er: »Sind denn die Menschen, sind denn die Staatsmänner, ist denn die nationalökonomische Wissenschaft mit Blindheit geschlagen, dass sie nicht erkennen, was die Bodensperre für das Glück und den Wohlstand der Menschen bedeutet?«203 Zugleich erhoffte sich Oppenheimer durch seinen Ansatz eine nachhaltige Überwindung des schlechten Zustands der Disziplin. 1929 meinte er: »Man spricht heute von nichts als von der ›Krisis der Nationalökonomie‹ und bemüht sich, sie durch Besinnung auf die methodologischen Grundlagen der Wissenschaft zu heilen. Aber der Weg zur Einigung liegt in einer ganz anderen Richtung. Die Aufgabe ist klar gestellt und unabweisbar gestellt, das bisher in geradezu sträflicher Weise vernachlässigte ­Goltzsche Gesetz in den Dogmenbestand der Wissenschaft aufzunehmen und den dadurch erforderlichen Umbau entschlossen durchzuführen, wenn es auch ein vollkommener Neubau werden, wenn dadurch auch die mächtigsten Interessen des Tages verletzt, ja, wenn dadurch sogar die mächtigsten Schulen der Wissenschaft zum Umlernen gezwungen werden.«204 Das von Oppenheimer erwähnte »Goltzsche Gesetz« behauptete eine Beziehung zwischen der Größe des Großgrundbesitzes und dem Umfang der Landflucht, was die durch ersteren erzeugte soziale Unterdrückung und das durch ihn bedingte niedrige Lohnniveau beweisen sollte.205 Die Folge der Aufhebung der Bodensperre war nach Oppenheimer eine nachhaltige Verbesserung der Verhältnisse im landwirtschaftlichen Bereich. Es komme dort zu Reallohnsteigerungen, die zugleich den industriellen Arbeitsmarkt entlasteten, was auch dort zu einer Anhebung des Lohnniveaus führen und die Ausbeutung beseitigen musste. Dieser gesellschaftsreformerische Ansatz Oppenheimers beruhte auf einer theoretischen Konzeption, die eine bestimmte werttheoretische Auffassung und eine Theorie der Grundrente als Mittelpunkt besaß, die im Folgenden dargestellt werden soll.206

203 Ders., Erlebtes, S. 229. 204 Ders., Oppenheimer, S. 104. Vgl. auch Ders., System, S. 49: »Es handelt sich hier nicht um »Ansichten« und »Anschauungen« von größerer oder geringerer Wahrscheinlichkeit, sondern um zwingende Gewissheit; hier darf es kein Schwanken geben: die soziologische Staatsidee ist unabweislich; sie muss akzeptiert werden, und ihre Annahme bedeutet die Revolution aller Gesellschaftswissenschaft.« 205 Ders., Theorie, S. 500 ff. 206 Zu Oppenheimers soziologischem Werk s. Kruse, Soziologie. Haselbach, Oppenheimer.

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5.5.2 Reine und politische Ökonomie Bereits im Titel seines ökonomischen Hauptwerkes traf Oppenheimer eine Unterscheidung, die für sein gesamtes Werk wesentlich war: zwischen reiner und politischer Ökonomie. Die reine Ökonomik betrachtete er als eine Deduktion aus dem Prinzip des kleinsten Mittels, das dem wirtschaftlichen Handeln der Menschen zugrunde lag. Sie stellte »das Gedankenbild der Gesellschaftswirtschaft einer Wirtschaftsgesellschaft« dar, »die […] entstanden und lebend [ist] ohne jegliche Einwirkung des politischen Mittels.« Demgegenüber fasste er die politische Ökonomie als Inbegriff der »Gesellschaftswirtschaft aller historisch gegebener Wirtschaftsgesellschaften« auf.207 Die reine Ökonomik unternahm auf deduktivem Weg den Versuch, zu einem Bild der Sozialökonomik im »Normalzustand« zu gelangen. Die Kontrastierung mit den realen Verhältnissen sollte dann Aufschluss über die Ursache von Armut und sozialen Konflikten geben.208 Der Arzt Oppenheimer wollte zu einer Symptomatologie der sozialen Krankheit des Kapitalismus kommen, die gezielte Maßnahmen zu ihrer Heilung ermöglichte. Die Prämissen, aus denen Oppenheimer das Bild der reinen Wirtschaft ableitete, beruhten zunächst auf seiner Vorstellung von den Bestimmungsgründen menschlichen Handelns. Dieses basierte auf Trieben, die der Selbsterhaltung und der Erhaltung der Art dienten, sowie auf einem Kausalbedürfnis, das auf die sinnhafte Erklärung des menschlichen Zusammenlebens zielte. Im Bereich der Wirtschaft äußerte sich dieses triebhafte Handeln im rationalen Prinzip des kleinsten Mittels, dass also das Wirtschaften mit Kostengütern möglichst sparsam erfolgte.209 Darauf baute Oppenheimer eine Arbeitswertlehre auf, bei der die in Gütern und Dienstleistungen enthaltene Arbeit einen objektiven Wert repräsentierte. Der Preis auf dem Markt bildete sich dann aufgrund des Beschaffungspreises der Arbeit, der nach Oppenheimer der natürliche Preis war, um den der Marktpreis oszillierte.210 Insofern stellte für Oppenheimer die reine Ökonomie letztlich das System dar, in dem die gesellschaftlich verfügbare Energie, die menschliche Arbeitskraft, am effektivsten genutzt wurde.211 Auf der Ebene der reinen Ökonomie ging Oppenheimer nun mit der ökonomischen Klassik in Gestalt von Adam Smith und David Ricardo in vielen Punkten konform. Wie sie ging er davon aus, dass es unter den Bedingungen freier Konkurrenz zu einem Ausgleich der Einkommen und der Produktion kommen werde. Einseitige Lohnsenkungen waren nicht möglich, weil die Arbeiter dann 207 Oppenheimer, Theorie, S. 84 f. 208 Ebd. 209 Ebd., S. 27 f. Ders., System, Bd. 1/1, S. 199. 210 Bei diesen Überlegungen war Oppenheimer im Übrigen der »Energetik« Wilhelm Ostwalds verpflichtet, die alle soziale Interaktion unter dem Gesichtspunkt der Erhaltung von Energie betrachtete. Vgl. Krajewski, S. 65 ff. 211 Kraft, Verhältnis, S. 160.

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in andere Erwerbszweige abwanderten. Genauso werde der Prozess der Konkurrenz Erwerbszweigen mit höherer Nachfrage Arbeitskräfte zufließen lassen und aus Erwerbszweigen mit geringerer Nachfrage abziehen. Auf diese Weise würde der reale Kollektivbedarf genau entsprechend den realen Kollektivbedürfnissen produziert.212 In einem wesentlichen Punkt wich Oppenheimer jedoch von den Klassikern ab. Seiner Ansicht nach erhielten die Arbeiter in einer reinen Ökonomie jederzeit den vollen Arbeitsertrag. Die Klassiker waren zumeist von der sog. Lohnfondstheorie ausgegangen, die vereinfacht besagte, dass ein im Verhältnis zum Volkseinkommen konstanter Kapitalfonds existiert, der durch die Zahl der Arbeiter dividiert den Durchschnittslohn ergibt. Dieser Anteil konnte sich vor allem durch Produktivitätssteigerungen vergrößern, jedoch erhielten die Arbeiter niemals den vollen Ertrag ihrer Arbeit. Zugleich mussten sie an steigenden Profitraten der Kapitalisten interessiert sein.213 Das sah Oppenheimer anders: Unter den Bedingungen freier Konkurrenz sollten alle aus einer Monopolsituation entstammenden Einkommen, die Grundrente und der Kapitalzins, wegkonkurriert werden. Übrig blieben dann nur noch die Erträge aus geleisteter Arbeit, die durch die freie Konkurrenz gerecht, nämlich gemäß der eingesetzten Arbeitsenergie und der persönlichen Qualifikation, verteilt wurden. Mit der reinen Wirtschaft konstruierte Oppenheimer in der Theorie eine natürliche Ordnung ohne rechtliche Monopole, in der ein harmonisches Miteinander der wirtschaftenden Menschen herrschte. Zu Monopolbildungen sollte es, wenn überhaupt, nur vereinzelt und kurzfristig kommen; von seiner natürlichen Veranlagung her war dem Menschen die Möglichkeit zu einem glücklichen Leben gegeben. Darum war die Ursache dafür, warum sich die Wirklichkeit so beharrlich anders darstellte, das entscheidende Problem, das im Zentrum von Oppenheimers Werk stand und um die seine Auseinandersetzung mit Ricardo kreiste, den Oppenheimer als seinen entscheidenden theoretischen Widerpart erachtete.214 Oppenheimer und Ricardo verband, dass beide in ihrer Beschreibung der Ökonomie von einer Theorie der Grundrente ausgingen, des »arbeitslosen« Einkommens aus dem Besitz von Land. Was bei Ricardo indes selbstverständlich erscheint, erstaunt bei Oppenheimer, der immerhin unter den Bedingungen eines entwickelten Kapitalismus schrieb, indem der Anteil der in der Landwirtschaft beschäftigten Arbeitskräfte auf 30 Prozent gesunken war.215 Oppenheimer sah es indes als einen schweren Fehler der ökonomischen Theorie an, sich zu stark auf die Industrie zu fokussieren; die Grundlage der gesellschaftlichen Wirtschaft lag seiner Meinung nach immer noch im Agrarbereich. Das 212 Oppenheimer, Theorie, S. 373. 213 Oppenheimer stimmte Ricardos Argumentationsgang weitgehend zu, kritisierte aber dessen Prämissen. Das wird zu wenig beachtet bei: Kurz, Oppenheimer, S. 65–120. 214 Oppenheimer, Grundrententheorie, S. 100 f. 215 Vgl. Abelshauser, S. 55.

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be­gründete er aus dem sog. »geozentrischen Grundgesetz«: Danach konnte die primäre Arbeitsteilung zwischen der Urproduktion und dem Gewerbe nur in dem Maße Platz greifen, wie die erstere Nahrungsüberschüsse erzielte. Damit hing jeder ökonomischer Fortschritt von den Nahrungsüberschüssen der Urproduktion ab.216 Er konstruierte eine Art Zwei-Sektoren-Modell, in dem der landwirtschaftliche den industriellen Arbeitsmarkt regulierte: Die Industrie, die auf Arbeitskräfte angewiesen war, musste sich in ihrer Lohngestaltung immer an den Löhnen der Landarbeiter orientieren, weil sie ansonsten keine Arbeitskräfte bekam. Auf diese Weise war ein niedriges Lohnniveau in der Landwirtschaft die Voraussetzung dafür, dass eine Ausbeutung der Arbeiter in der Industrie überhaupt stattfinden konnte.217 Darum ging Oppenheimer von einer Theorie der Grundrente aus, die auch den Ausgangspunkt seiner soziologischen und historischen Darstellung im System der Soziologie bildete.218 Ricardo erklärte das Zustandekommen der Grundrente aus der Existenz von Böden unterschiedlicher Qualität. Der Preis des Getreides ergab sich für ihn aus den Arbeitskosten des Grenzbodens, also des schlechtesten Bodens, der noch zur Bewirtschaftung kam und eine Rente von Null erzielte. Die Ertragsdifferenz besserer Böden bildete für Ricardo die Grundrente. Sie hatte also weder einen Einfluss auf die Preisbildung noch war sie ein Monopolpreis. Zugleich blieb er bei der Frage, wie die bestehende Besitzstruktur des Bodens zustande gekommen war, dem seit dem 16./17. Jahrhundert vorherrschenden naturrechtlichen Argumentationsmuster verhaftet, dass sich die Menschen in einem Vorgang der ursprünglichen Akkumulation den Boden durch Arbeit angeeignet hätten. Die Grundrente war insofern keineswegs widerrechtlich, sondern Ergebnis natürlich gewachsener Verhältnisse. Hier setzte Oppenheimers Kritik an. Die Okkupation des Bodens konnte schon deswegen nicht auf diese Art und Weise stattgefunden haben, weil auf diese Weise im Verlauf der Menschheitsgeschichte noch nicht einmal die Hälfte des Erdbodens in Bewirtschaftung gekommen wäre.219 Dann blieb aber nur noch die Möglichkeit übrig, dass der Grundbesitz durch gewaltsame Okkupation entstanden war. 5.5.3 Bodensperre und liberaler Sozialismus In der Bodensperre lag nach Oppenheimer der Ansatzpunkt, der die Durchsetzung der natürlichen Ordnung der reinen Ökonomie verhinderte. Durch die Schaffung rechtlicher Monopole wurde eine Welt geschaffen, in der die Marktwirtschaft nicht zu einem Auskommen für alle führte, sondern zu Klassen­ 216 Oppenheimer, Theorie, S. 134 f. 217 Ebd., S. 397 ff. Unklar blieb nur, warum der industrielle nicht auch umgekehrt den landwirtschaftlichen Arbeitsmarkt regulieren konnte. 218 Kruse, Soziologie, S. 192 ff. 219 Oppenheimer, Theorie, S. 42 f.

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herrschaft und gewaltsamen Konflikten. Die Rente konnte seiner Meinung nach nur entstanden sein, weil der erreichbare Boden durch ein rechtliches Monopol gegen die wirtschaftliche Okkupation der selbstwirtschaftenden Bauern gesperrt war.220 Historisch geschah das durch eine gewaltsame Aneignung, in der sich die Feudalherren der Macht und des Gewaltmonopols des Staates bedienten. Alle historisch jemals existierenden Staaten, das war die Quintessenz von Oppenheimers Staatssoziologie, waren Klassenstaaten, weil sie mittels politischer Mittel einer Klasse von Grundbesitzern ein Monopol auf den Grund­besitz verschafften.221 Es ist ein Ausdruck des logischen Zusammenhangs von Oppenheimers System, dass ein Faktor durch seine Folgewirkungen zur Ursache allen Übels werden konnte. Zugleich begründete es die ideologische Blindheit gegenüber diesem Faktor, dass die bisherige Wissenschaft die Erkenntnis der sozialen Realität verfehlen musste.222 Dabei wunderte sich auch Oppenheimer, dass vor ihm noch niemand darauf gekommen war, handelte es sich ja im Grunde um einen ganz einfachen Zusammenhang.223 Ökonomisch gesehen schuf die Bodensperre eine Situation, in der die Großgrundbesitzer einen Monopolgewinn für sich be­ anspruchen konnten, der es ihnen erlaubte, sich die Arbeitsleistung der in der Landwirtschaft tätigen Menschen zu einem Preis unter dem natürlichen anzueignen, während sie ansonsten den vollen Arbeitsertrag für ihre Leistung erhalten hätten. Die Monopole verformten die Wertrelationen, so dass der niedere Landarbeiter zum Richtmaß der normalen Entlohnung wurde, woran sich ebenfalls die Lohngestaltung des Gewerbes und später der Industrie orientierte. War das Lohnniveau auf dem Land niedrig, dann war es das auch in der Industrie, was wiederum das Kapital profitabel machte und auf diese Weise einen Kapitalzins schuf, der lediglich einen von der Grundrente abgeleiteten Monopol­profit repräsentierte. Grundrente wie Kapitalzins sollten in der reinen Ökonomie verschwinden.224 Die soziale Krankheit des Kapitalismus konnte geheilt werden, indem der Monopolcharakter des Großgrundbesitzes beseitigt wurde. Insofern war Oppenheimer im klassischen Sinne ein Liberaler, weil die Gesellschaftswirtschaft bei freier Konkurrenz automatisch eine gerechte Verteilung sicherstellte. Darüber hinaus sollte die Gesellschaft insgesamt befriedet werden: Eine Gesellschaft mit einem einigermaßen gleichen Landbesitz kannte nach Oppenheimer wenig soziale Konflikte und selbst unter den Bedingungen karger Böden kaum echte Armut.225 Oppenheimer forderte die Schaffung von sog. »Freiland«, dass die Menschen in dem Ausmaß besiedeln sollten, wie sie es persönlich be220 Ders., Grundrententheorie, S. 149 f. 221 Ders., Staat, S. 42, 162 ff. 222 Kraft, Verhältnis, S. 158. 223 Oppenheimer, Weder Kapitalismus, S. 90. 224 Ders., Theorie, S. 422 ff. 225 Ders., Erstrebtes, S. 229.

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wirtschaften konnten. Der Bodenbesitz im rechtlichen Sinne sollte ganz abgeschafft werden.226 Oppenheimer konnte bereits vor dem Weltkrieg an eine lange Tradition von Reformkonzeptionen anschließen, die in der Neu- und Umverteilung von Land die Möglichkeit einer Verbesserung der gesellschaftlichen Zustände erblickten: Von dem amerikanischen Landreformer Henry George über Achille Loria bis hin zu Theodor Hertzka, der einen besonders starken Einfluss auf Oppenheimer ausübte.227 Jedoch hatte besonders Oppenheimers Konzeption mit dem Problem zu kämpfen, dass mit der zunehmenden Industrialisierung die Frage »Agrar- oder Industriestaat?« im Grunde entschieden war und eine Theorie, welche die industriellen Verhältnisse lediglich als Funktion der Zustände in der Landwirtschaft beschrieb, zunehmend an Plausibilität verlieren musste. Jedoch führte die Weltwirtschaftskrise immerhin zu einer kleinen Renaissance der landreformerischen Ideen: Siedlungskonzepte wurden breit diskutiert und in Ansätzen sogar verwirklicht.228 Das war aber jedoch vor allem der gravierenden Krise geschuldet und hatte – trotz der agrarfreundlichen Rhetorik der Nationalsozialisten und vereinzelter Siedlungsprojekte  – zumindest in Deutschland keine längerfristigen Konsequenzen. Oppenheimers Ziel der Aufhebung der Bodensperre und der Durchsetzung einer wirklich freien Marktgesellschaft waren deren Konzeptionen ohnehin völlig entgegengesetzt.

5.6 Gesellschaftliche Realität und natürliche Ordnung Der Soziologe Dieter Haselbach bezeichnet Oppenheimers Ansatz zu Recht als »messianischen Liberalismus«229 und bringt damit den utopischen Gehalt von Oppenheimers Denken zum Ausdruck, der in der Konfrontation der Gegenwart mit einer idealen Ordnung bestand.230 Zugleich war diese Ordnung als eine natürliche gedacht, deren Verwirklichung durch die gewaltsame Durchsetzung der Klassenherrschaft verhindert wurde. Insofern standen »reine« und »soziale« Theorie in Oppenheimers Werk nebeneinander, indem er den sozialen Konfliktcharakter des Kapitalismus erst durch die Verzerrung der reinen Ökonomie durch Monopolbildung entstehen sah. Daraus, dass eine krisenhafte gesellschaftliche Realität mit der Vorstellung einer »natürlichen« Ordnung kontrastiert wurde, resultierte eine »Verdopplung« der Theorie, die bei Oppenheimer in besonderer Klarheit hervortritt, letztlich 226 Ders., Grundriss, S. 54 f. 227 Ders., Erstrebtes, S. 143 ff. 228 Dietze, Gegenwartsfragen. Oppenheimer, Siedlung. 229 Haselbach, Theory, S. 65. 230 Vgl. Martin Bubers Definition des Utopismus als ein Gesellschaftsbild, »das so entworfen ist, als ob es keine anderen Faktoren als den Menschenwillen gäbe.« Buber, Pfade, S. 30 f.

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aber bei sämtlichen in diesem Kapitel behandelten Gesellschaftstheoretikern zu beobachten ist.231 Ihre Ordnungskonzeptionen bildeten einen engen logischen Konnex mit ihren Grundbegriffen und -kategorien, die zugleich das Instrumentarium bildeten, um die Gegenwart im Kontrast zu dieser natürlichen Ordnung zu beschreiben. Das Ziel bestand darin, aufzuzeigen, wie letztere vom naturgemäßen Sein abwich, um auf diese Weise ihren pathologischen Charakter sichtbar zu machen. Wenn sie zugleich davon sprachen, dass sich die natürliche Ordnung auf kurz oder lang durchsetzen musste, trafen sie parallel dazu die klassische Unterscheidung der Gegenwart als »Vorgeschichte« und der natürlichen Ordnung als »Erlösung«.232 Die Vorgeschichte implizierte dabei stets die Pervertierung der natürlichen Ordnung, warum sie selbst nach jahrhundertelangem Bestehen den Status der Abweichung nicht überwinden konnte und im Rahmen ihrer Strukturen eine dauerhafte Besserung nicht zu erwarten war. Es konnte deswegen nicht um Anpassung, sondern immer nur um Neugestaltung gehen, die zugleich die Wiederherstellung einer natürlichen (und darum alten) Ordnung sein sollte.233 Insofern rechtfertigte die Systemlogik ein ruhiges Geschichtsvertrauen, wie vor dem Weltkrieg auch teilweise zu beobachten war.234 Mittels Verzeitlichung konnte dabei das Problem gelöst oder zumindest unsichtbar gemacht werden, wie es zu der gottfernen Welt der Gegenwart überhaupt kommen konnte. Wenn es wirklich eine natürliche Ordnung gab, musste eine plausible Erklärung dafür angeboten werden, warum von ihr abgewichen wurde, warum sie sich nicht auf natürliche Art und Weise durchsetzte und warum sie ihr Wesen vor den Menschen verbarg, dass es erst zeitgenössisch möglich wurde, in ihre Gesetzlichkeiten Einblick zu gewinnen.235 Wurde das Problem jedoch durch Verzeitlichung gelöst, stellt sich auf der anderen Seite die Frage, warum sich besonders Oppenheimer und Spann nach 1918 so stark mit wirtschaftsreformatorischen Vorschlägen exponierten. Schließlich war nicht ohne weiteres einsichtig, worin überhaupt die Dringlichkeit der Umgestaltung bestand, wenn sich die natür­ liche Ordnung ohnehin durchsetzte. War diese Dringlichkeit indes theorieimmanent auf den ersten Blick nicht gegeben, ergab sie sich durch die gesellschaftlichen Zustände nach 1918 praktisch von selbst. Spann schrieb seinen Wahren Staat nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Situation Wiens, die durch Revolte, Unruhe und Hunger geprägt 231 Graf, Zukunft. Ders., »Krise«, S. 96. Ders., Optimismus. 232 Zu dieser Unterscheidung s. grundlegend: Barth, Wahrheit, S. 96 ff. 233 Der Hinweis auf die »alte« Ordnung ist ein weiterer Hinweis auf die Rücknahme moderner Differenzierungen. Denn dass das »Neue« als das »Alte« erscheinen musste, war nicht zuletzt ein wesentliches Kennzeichen des mittelalterlichen Denkens. »Es ist ein alter Kunstgriff der politischen Neuerer, dass sie das, was sie in der Zukunft verwirklicht sehen wollen, als das Alte und Naturgemäße bezeichnen […].« Mises, Gemeinwirtschaft, S. 31. 234 Oppenheimer, Theorie, S. IXf. 235 Vgl. Ders., Weder, S. 90.

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war.236 Verglichen mit der relativen Sekurität des Kaiserreichs stellten sich die Weimarer Verhältnisse vor allem in ihren Anfangsjahren als extrem prekär dar. Zu den politisch instabilen Zuständen kamen massive Versorgungskrisen, die erst seit der Mitte der 1920er Jahre als weitgehend überwunden gelten konnten, sowie die immer stärker fühlbar werdende Inflation mit all ihren Folgewirkungen.237 Zugleich gab es auch die Wahrnehmung eines allgemeinen Ordnungsverlustes und einer damit zusammenhängenden Offenheit der gesellschaftlichen Verhältnisse. Das manifestierte sich in der großen Zahl der nach 1918 veröffentlichten Entwürfe zu der Frage, wie Staat, Wirtschaft und Gesellschaft am besten zu gestalten seien.238 Hier zeigte sich ein weit verbreitetes »KönnensBewusstsein«239, ein Gefühl für die Gestaltbarkeit der gesellschaftlichen Institutionen. Während das Kaiserreich tendenziell eher als erstarrt und verknöchert wahrgenommen worden war, schien nach 1918 eine Zeit lang alles möglich. Nicht zuletzt, weil die Revolution demonstriert hatte, dass eine Ordnung, die mit ihren Werten und Verhaltensanforderungen als geradezu übermächtig empfunden worden war, innerhalb kürzester Zeit beseitigt werden konnte. Hier offenbarte sich aber zugleich, dass in der Weimarer Republik bestimmte Topoi unmöglich geworden waren, die seit der Aufklärung dazu gedient hatten, eine Antwort auf das Problem einer nicht perfekten Welt zu geben, eben die Verwirklichung der guten Ordnung am Ende und in der Aufhebung eines historischen Prozesses zu verorten.240 Die Weimarer Republik mit ihrer krisenhaften Verdichtung der Ereignisse, der traumatischen Erfahrung der Kriegsniederlage, der Erschütterung traditionell gewachsener Gesellschaftshierarchien und dem Verlust der individuellen Erwartungssicherheit in der Inflation machte anscheinend ein Vertrauen in die Vernünftigkeit des Geschichtsprozesses und eine Haltung des »Abwartens«, die gegenüber dem starken Staat des Kaiserreichs noch in gewisser Weise angemessen war, unmöglich.241 Damit aber schien die als umfassend wahrgenommene Gegenwartskrise nicht nur die Möglichkeit zur Neugestaltung zu bieten. Zugleich wurde dieses Problem mit solcher Dringlichkeit formuliert, dass sich letztlich alles auf ein Entscheidungsproblem zuspitzte. Genau das begründete letztlich die Emphase vieler Entwürfe, die sich von ihrer theoretischen Einsicht her auch ruhig hätten zurücklehnen und auf den Selbstvollzug der Geschichte hoffen können. Aufgrund der Zeitumstände blieben Erneuerungsbewegungen jedenfalls während der gesamten Zeit der Weimarer Republik anschlussfähig und konnten Anhänger gewinnen. Diese Hinweise erscheinen notwendig, um zu verstehen, worin das zeitgenössisch Faszinierende etwa von Spanns Universalismus lag. 236 Vgl. Stolper, Leben, S. 125 f. 237 Als Überblick allgemein: Feldman, Disorder. 238 Spann, Staat,, S. 115 f. 239 Zu diesem Begriff s. Meier, »Könnens-Bewusstsein«. 240 Der damit in einen geschichtslosen Zustand überführt wurde. Vgl. Barth, Wahrheit, S. 167 ff. 241 Hardtwig, Krise, S. 60 ff.

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Disziplingeschichtlich gesehen bestand eine bemerkenswerte Konvergenz darin, dass die wahrgenommene Krise der Gegenwart zugleich mit der Krise des Faches zusammenfiel und mittels eines logisch geschlossenen Systems auf beides eine Antwort gegeben werden konnte. Die von den hier behandelten, soziologischen Nationalökonomen ausgebildeten Systeme waren jedoch sowohl untereinander als auch gegenüber dem Rest der Disziplin kaum vermittel- und kommunizierbar. Das lag jedoch nicht allein am Systemaufbau, sondern etwas Weiteres kam hinzu: Sie kritisierten ihre Gegenwart von der Warte einer natürlichen Ordnung, die bei ihnen aber ganz verschieden aussah. Bei Spann ­handelte es sich um eine, sich im Ständestaat materialisierende Ausgliederungsordnung, bei Gottl-Ottlilienfeld um die seinsrichtige Gestaltung des dauerhaften Einklangs von Bedarf und Deckung, bei Oppenheimer schließlich um die reine Ökonomie ohne Klassenmonopole. Auch deswegen mussten ihre Gegenwartsdiagnosen so stark differieren, weil die Abweichung der Gegenwart von der natürlichen Ordnung stets an anderen Gesichtspunkten festgemacht wurde. Die Konstruktion von Kontrastbeschreibungen der Gegenwart konnte weitgehend im empiriefreien Raum operieren. Das ihnen strukturell Gemeinsame trennte sie zur gleichen Zeit und machte sie in der Tat zu Verkündern »autochthoner Botschaften«, die nur ihre eigene Ansicht gelten ließen.242 Doch so sehr es bei diesen Ökonomen auch um politische Fragen ging, lassen sich ihre wissenschaftlichen Positionen höchstens vermittelt auf die jeweiligen politischen Interessen zurückführen. Dass, wenn man so will, »ideologisch« argumentiert wurde, lässt sich nicht von der Hand weisen. Doch die hier vorgelegten Befunde haben gezeigt, dass theoretische Systeme nicht einfach als Funktionen politischer Haltungen interpretiert werden können. Ansonsten hätten sich die Strukturen der Politik in der Disziplin wiederfinden lassen müssen, während sich theoretisch-epistemologische Positionen politischen Haltungen höchstens unscharf zuordnen lassen. Zwar hatten konservative Denker eher einen Hang zu organizistischen Denkfiguren, aber eine politische Solidarität ist bei ihnen nicht zu entdecken. Für eine bloße Camouflage politischer Interessen erscheint überdies der getriebene theoretische Aufwand als vollkommen unangemessen. Damit soll keineswegs einer verengt ideengeschichtlichen Interpretation der Fachentwicklung das Wort geredet werden. Es geht vielmehr darum, dass auch politische Haltungen wissenschaftlich formuliert und begründet werden mussten. Das bedeutete, den besonderen Problemlagen und kommunikativen Anforderungen des Faches Nationalökonomie gerecht zu werden, was gravierende Auswirkungen auf die Theoriebildung hatte. Die Krise des Faches einfach aus der politischen Zerrissenheit dieser Jahre herzuleiten, ist zudem mit der Ver­ legenheit konfrontiert, dass auch letztere erst erklärt werden müsste. Die his242 Brintzinger, Botschaften, S. 125. und Franz Oppenheimer Adolf Löwe mit dem Stock drohen ließ, als dieser zu einer Kritik seiner Theorie der Bodensperre ansetzen wollte. Kurz, Oppenheimer, S. 116.

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torischen Probleme, auf welche die hier verhandelten Ordnungsentwürfe antworteten, dürften auch für die Radikalisierung im System der Politik zu einem guten Teil verantwortlich gewesen sein. Die Politik gehorcht jedoch anderen Regeln als die Wissenschaft. Eine andere Frage ist, ob die in diesem Abschnitt verhandelten Ordnungsentwürfe als Ausweis für den »Optimismus« der Weimarer Republik verstanden werden können, den Rüdiger Graf jüngst diagnostiziert hat.243 Lassen sie sich als Form einer, wie Graf schreibt, »Zukunftsaneignung« verstehen, als Ausdruck eines spezifischen Gestaltungsbewusstseins dieser Zeit? Diese Frage ist besonders deshalb relevant, weil die besondere Pointe von Grafs Überlegungen darin besteht, die ubiquitäre Krisensemantik der 1920er Jahre der Ermög­lichung dieser Zukunftsaneignung zuzuschreiben, ohne dabei indes die Existenz realer Problemlagen zu leugnen. Hier ist jedoch Vorsicht angebracht. Zum einen diente die Diagnose einer Krise, worauf bereits mehrfach hingewiesen worden ist, sicherlich der Ermöglichung des jeweiligen Neuentwurfs. Allerdings wäre der damit verbundene Anspruch nicht überzeugend kommunizierbar gewesen, hätten sich nicht bestimmte Problemlagen plausibel als »Krise« beschreiben lassen, die durch die Anstrengungen zu ihrer Lösung wiederum verstärkt und festgeschrieben wurde. Gerade dieser selbstreferentielle Prozess nötigt jedoch dazu, den »Optimismus« in der Nationalökonomie zu differenzieren. In ihrem Krisendiskurs ging es um die Durchsetzung eines neuen Paradigmas zur Ermöglichung von Gestaltungsmacht. Indem letztere aber an die Notwendigkeit der paradigmatischen Einheit des Faches gekoppelt wurde, trat an Stelle eines Gestaltungsbewusstseins eine daraus resultierende Ohnmacht, dass zwar die Wahrheit gefunden war, sie sich aber nicht durchsetzte. Das machte es attraktiv, solch selbstreferentiellen Dynamiken durch die Sezession in kleinen Zirkeln zu entkommen, wodurch die Chancen, gestaltungsmächtig zu werden, aber gerade minimiert wurden. Die Selbstinszenierung als »Außenseiter« scheint aus dieser Gemengelage erklärbar. Ein zweiter, wesentlicher Punkt ist, dass es zwar um den Entwurf »zukünftiger« Ordnungen ging, aber nicht einfach davon ausgegangen werden kann, dass hier allein Zukunft verhandelt wurde. Ordnungsentwürfe hatten ganz wesentlich eine heuristische Funktion, indem sie dem Verstehen einer Gegenwart dienten, die sich rational-logischer Erfassung permanent zu entziehen schien. Die Konstruktion natürlicher Ordnungen reflektierte die Unfähigkeit, den Zustand der Weimarer Republik substantiell auf den Begriff zu bringen. Statt um »Zukunftsaneignung« handelte es sich also ganz wesentlich um eine Form der »Gegenwartsaneignung«, für die Kontrastbeschreibungen bemüht wurden, deren einzig möglicher Ort die Zukunft war. Insgesamt trugen die soziologischen Nationalökonomen zur p ­ roblematischen Lage des Faches massiv bei. Durch ihren Anspruch, ihre Sprachwahl, ihre aprio­ 243 Vgl. Graf, Zukunft.

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rischen Systeme beförderten sie den Pluralismus der Disziplin. Ein relativ homogenes Milieu bildete dabei allem Anschein nach lediglich die jüngere Generation ökonomischer Theoretiker, die sich seit Mitte der 1920er Jahre vor allem mit der Konjunkturtheorie beschäftigten. Im folgenden Kapitel soll dar­ gestellt werden, wie auch hier wiederum eine Neubegründung der ökonomischen Theorie geleistet werden sollte.

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6. Aufstieg und Scheitern der Konjunkturtheorie Bislang wurde von der deutschen Nationalökonomie ein Bild gezeichnet, das kaum Gemeinsamkeiten mit der heutigen Disziplin aufzuweisen scheint. Das Fach reagierte auf eine als krisenhaft und zerrissen erlebte Gegenwart und wurde in mancher Beziehung selbst zu ihrem Spiegelbild. Wie steht es aber angesichts der fachinternen Bedeutung solcher Wissenschaftler wie Spann, GottlOttlilienfeld, Sombart und anderer mit der Behauptung, dass sich das Fach in den 1920er Jahren verstärkt der ökonomischen Theorie im engeren Sinne zugewandt habe? Viele der Ökonomen, denen die Dogmengeschichte besondere Aufmerksamkeit gewidmet hat, wurden in der bisherigen Darstellung weitestgehend übergangen. Das liegt daran, dass sie sich im Fach erst relativ spät Gehör verschaffen konnten. Sie gehörten zu einer Generation jüngerer Theoretiker, die vor allem seit Mitte der 1920er Jahre die wissenschaftliche Bühne betrat. Ihre Angehörigen wollten keine umfassende Gesellschaftstheorie entwickeln. Die Systementwürfe wurden von ihnen eher beiläufig rezipiert und spielten für ihre Theorien kaum eine Rolle. Es fällt auf, dass sich die meisten dieser jüngeren Theoretiker mit der Konjunkturtheorie beschäftigten, die das wohl avancierteste Theorieangebot der Nationalökonomie in der Weimarer Republik darstellte. Zugleich handelte es sich um ein Gebiet, das von den Vertretern des sozialphilosophischen Organizismus weitgehend gemieden wurde. Außer den jüngeren Ökonomen nahmen an der Diskussion mit Lederer und Schumpeter etablierte Fachvertreter teil, die einen theoretischen Arbeitsschwerpunkt hatten. Spiethoff, der Doyen der »Wechsellagenlehre«, entstammte zwar der Jüngeren Historischen Schule, aber auch er bemühte sich um eine theoretische Erklärung des Konjunkturphänomens. Aufgrund dieser zumindest scheinbaren Homogenität des Arbeits­ gebietes stellt die Konjunkturtheorie einen Grenzfall für die vorliegende Untersuchung dar, weil es hier zumindest einen Konsens bezüglich der Legitimität abstrahierender theoretischer Arbeit gab. Es soll jedoch gezeigt werden, dass auch die Konjunkturtheorie von der Krisenlage des Faches nicht unberührt blieb. Ein Grund dafür war zunächst negativer Natur: Es war für das Selbstverständnis vieler dieser jüngeren Ökonomen konstitutiv, einen Neuansatz der ökonomischen Theorie in Abgrenzung zu einer sich in Methodendiskussionen und sozialphilosophischen Grundsatzdebatten selbst verlierenden Disziplin zu vertreten. Stattdessen wurden verstärkt ausländische Autoren, vor allem aus dem angelsächsischen Raum, rezipiert. Andererseits war es aber keineswegs so, dass die ausländischen Arbeiten einfach nur sorgfältig hätten gelesen und verstanden werden müssen, um den Anschluss an die moderne Entwick221 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525360255 — ISBN E-Book: 9783647360256

lung herzustellen: Das Gebiet der Konjunkturtheorie war in den 1920er Jahren auch im angelsächsischen Raum weitgehend Neuland. Erst in Ansätzen gab es einen gesicherten internationalen Forschungsstand, auf den referiert werden konnte. Vielmehr mussten erst die Anforderungen geklärt werden, die eine Konjunkturtheorie zu erfüllen hatte und aufgrund welcher Kriterien zwischen verschiedenen konjunkturtheoretischen Ansätzen überhaupt entschieden werden konnte. Dieses Problem war es, das Löwe 1926 in einem vielbeachteten Aufsatz formulierte, als er in Anlehnung an eine Kantsche Formulierung die Frage stellte, wie Konjunkturtheorie überhaupt möglich sei.1 Was musste eine theoretische Konjunkturerklärung leisten, die einen legitimen Wahrheitsanspruch vertreten wollte? Dieses Kapitel soll anhand der Konjunkturtheorie zeigen, dass sich auch die ökonomische Theorie in einer Phase der theoretischen Neuorientierung befand, in der fundamentale Prämissen und Begriffe neu bestimmt wurden. Dabei spielte die Konjunkturtheorie zunächst aus dem Grund eine besondere Rolle, weil die Annahme einer zyklischen Auf- und Abwärtsbewegung der volkswirtschaftlichen Entwicklung die statische Gleichgewichtsanalyse in massive Erklärungsnot brachte. Wenn dieses Problem aber nicht im Rahmen der ökonomischen Statik zu lösen war, galt es aus diesem Grund, eine neue, dynamische Theorie des Konjunkturzyklus zu entwickeln. Damit wurde die Vorstellung vom ruhenden Gleichgewicht aufgegeben und die Nachzeichnung des Bewegungsrhythmus der Wirtschaft trat an ihre Stelle. Wenn also, von dieser Prämisse ausgehend, eine Neufundierung der ökonomischen Theorie geleistet werden sollte, war dies ohne Klärung des Konjunkturproblems nicht möglich. Auf diese Weise sollte in den 1920er Jahren eine Theorie der kapitalistischen Normalentwicklung entworfen werden, die jedoch in dem Moment an ihre Grenzen stieß, als sich die ökonomischen Verhältnisse in der Weltwirtschaftskrise alles andere als normal gestalteten.

6.1 Der Aufschwung der Konjunkturtheorie in den 1920er Jahren 6.1.1 Eine junge Generation von Theoretikern Nach dem Ersten Weltkrieg war es ein allgemein akzeptierter Standpunkt, dass die empirische Materialsammlung, der sich große Teile der Jüngeren Historischen Schule gewidmet hatten, nicht länger fortgeführt werden konnte und es einer theoretischen Synthese des Stoffes bedurfte. Im Zuge einer kurso­rischen Zeitschriftenschau, die Schumpeter 1927 unternahm, stellte er fest, dass der Anteil theoretischer Artikel in Deutschland keineswegs geringer war als in den 1 Löwe, Konjunkturtheorie.

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angelsächsischen Ländern.2 Wenn jetzt aber überall davon gesprochen wurde, dass der Historismus im geschichtlichen Wettstreit der Theorie unterlegen sei, warum konnte dann der Nationalökonom und Geschäftsführer des Vereins Deutscher Maschinenbauanstalten, Alexander Rüstow, auf den Lehrstühlen überall noch den Historismus am Werk sehen und davon sprechen, die ökonomische Theorie habe sich in Deutschland bislang nicht durchsetzen können?3 Warum schrieb Schneider über Schumpeters Berufung nach Bonn 1925, das erste Mal seit Jahrzehnten sei in Deutschland wieder ökonomische Theorie gelehrt worden?4 Hat Predöhl Unrecht, wenn er für die Zeit nach dem Krieg von einer Renaissance der ökonomischen Theorie spricht?5 War das, was Liefmann, Diehl, Bonn, Voigt, Spiethoff, Mann, Weber, Oppenheimer und andere betrieben, keine ökonomische Theorie?6 Dieser scheinbare Widerspruch klärt sich auf, wenn das Problem der unterschiedlichen Generationenzugehörigkeit in die Betrachtung mit einbezogen wird. Harms und Adolf Weber hatten ihre Opposition gegen die Jüngere Historische Schule ja bereits vor dem Krieg programmatisch damit begründet, einer jüngeren Generation von Ökonomen anzugehören.7 Diese »jüngeren« Ökonomen waren jetzt aber bereits die »älteren«, die, wie Schumacher, Wilbrandt und viele andere zwar die theoretische Arbeit befürworteten, jedoch allem Anschein nach nicht im Stande waren, selbst auch auf einem höheren Niveau theoretisch zu arbeiten. Besonders an Karl Diehl, immerhin Vorsitzender des 1922 gegründeten Theoretischen Ausschusses des Vereins für Sozialpolitik8, lässt sich gut zeigen, was die Jüngeren störte: Diehl wies in seinen einleitenden Bemerkungen zu der bekannten konjunkturtheoretischen Debatte auf der Zürcher Tagung des Vereins für Sozialpolitik 1928 auf die Gefahren einer ab­strakt-deduktiven Argumentationsweise hin, die zu einem lebensfernen Theoretisieren führen würde: »Die Nationalökonomie muss aufhören, in naturwissenschaftlichen Kategorien zu denken, und das gilt auch in besonderem Maße für die Konjunkturforschung.«9 1933 machte er diese Richtung der ökonomischen Theorie gar für die schlechte Lage des Faches verantwortlich, weil die »­Manier, durch einige wenige ›Gesetze‹ das komplizierte wirtschaftliche Geschehen auf ein paar Formeln bringen zu wollen«, den Widerspruch geradezu herausgefordert hätte.10 Ökonomische Theoriebildung sollte aus Sicht der Älteren also immer wenig abstrakt und stets in Rückbindung an die gesellschaft­ lichen Verhältnisse erfolgen, die Bedeutung des Individuell-Konkreten betonen 2 Schumpeter, Deutschland, S. 8 f. 3 Alexander Rüstow: Stellungnahme (21.9.1928). BA Koblenz. Nl Rüstow, 169/191. 4 Zit. in: Swedberg, Schumpeter, S. 103 f. 5 Predöhl, Cassel, S. 9 ff. 6 Anders: Schneider, Rückblick, S. 158. 7 Harms, Volkswirtschaft, S. 341. Weber, Aufgaben, S. 2 f. 8 Boese, Geschichte, S. 171. 9 Diehl, Einleitung, S. 284. 10 Ders., Einführung, S. 43.

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und möglichst vermeiden, zu »lebensfern« und zu universell zu argumentieren.11 Das Bekenntnis zur ökonomischen Theorie schien darum bei einigen älteren Fachvertretern nicht viel mehr als ein bloßes Lippenbekenntnis zu sein.12 Seit Mitte der 1920er Jahre stand dieser älteren jedoch eine jüngere Generation von Ökonomen gegenüber, die ihre akademische Sozialisation kurz vor dem Weltkrieg oder während der Weimarer Republik erfahren hatte. Von diesen Jüngeren fühlten sich wiederum zahlreiche besonders der ökonomischen Theorie verpflichtet und besaßen keinen Diskussionsbedarf mehr über die prinzipielle Legitimität der ökonomischen Theorie.13 Den in der Disziplin herrschenden »Tiefsinn« fanden sie eher problematisch und wenn Neisser die Nationalökonomie nicht ohne Emphase als ein »Handwerk« bezeichnete, dürfte das dem Selbstverständnis der meisten dieser Ökonomen entsprochen haben.14 Zu nennen wären dabei z. B. Löwe, Colm, Neisser, Burchardt, die seit 1926 am Kieler Institut für Weltwirtschaft eine innovative Forschergruppe bildeten, Eucken, Alexander und Hans-Joachim Rüstow, Lutz, Lampe, Marschak, Röpke, Peter, Stucken, Budge, Carell, Wolfers, Preiser, Heimann, Hahn und andere. Nachdem die Österreichische Schule an der Wiener Universität zunehmend ausgegrenzt wurde, wurde dort die reine ökonomische Theorie vor allem im Privatseminar von Mises weiter entwickelt.15 Zu diesem Seminar gehörten später so prominente Ökonomen wie Hayek, Haberler, Machlup und Morgenstern, die ebenfalls zu der Generation der jüngeren Theoretiker zu rechnen sind und sich intensiv an der konjunkturtheoretischen Diskussion beteiligten. Bei den meisten dieser Theoretiker fällt zunächst das Bedürfnis auf, sich vom Rest ihrer Disziplin abzugrenzen. Dazu diente ihnen beispielsweise die Selbst­ beschreibung der Nationalökonomie als einer technischen Disziplin16, die nicht zuletzt den Zweck hatte, philosophisch-methodologische Begründungsansprüche zu unterlaufen. Es war keine ausgearbeitete Gesellschaftstheorie vonnöten, um die ökonomische Theorie als eine Technik zu handhaben, jedoch eine fundierte Ausbildung, welche den vielen »Dilettanten« in der Nationalökonomie fehle.17 Carell brachte das 1931 in seiner Auseinandersetzung mit Sombart auf den Punkt: Er vermochte den wissenschaftlichen Wert der verstehenden Nationalökonomie durchaus anzuerkennen, meinte jedoch zugleich, für das »reale 11 Ders., Zusammengehörigkeit, S. 26. Schon 1921 hatte Diehl an Salin geschrieben, er lehne die gesamte »reine Ökonomie« aufgrund ihrer Realitätsferne ab. Schreiben Diehl an Salin (17.6.1921). UB Basel, Handschriftenabteilung. Nl Salin, Fb 1809a. Vgl. auch Hesse, Gegenstand, S. 172 f. Ders., Allgemeine Volkswirtschaftslehre, S. 493. 12 Schumpeter, Grundprinzip, S.  3. Schreiben Lukas an Moeller (7.11.1930). UA Tübingen. Nl Moeller. 13 Allerdings auch zahlreiche, für die das nicht der Fall war. Z. B. Back, Egner, Lenz, Moeller, Andreae und andere. 14 Neisser, Gegensatz, S. 239. 15 Leube, Diskontinuitäten, S. 307 ff. 16 Z. B.: Hermens, S. 111. Lampe, Notstandsarbeiten, S. 104. 17 Röpke, Geld, S. 3 f.

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Wirtschaftsleben« besäße sie keine Bedeutung. Nur die rein-theoretische und die empirisch-realistische Nationalökonomie könnten der Praxis Aufschluss über die Bestimmungsgründe des Preises, des Lohnes etc. geben. Die verstehende Nationalökonomie hingegen habe nur Bedeutung für »den nach Erkenntnis strebenden Menschen.«18 Über die Betonung der Anwendbarkeit und Praxisrelevanz grenzte man sich also von der übrigen Disziplin ab und wich den in der Methodendiskussion verhandelten Begründungsproblemen aus. Auf diese Weise wurde der Anspruch der Disziplin vorgeblich bescheiden als »Kunstlehre« und gegen ihr traditionelles Selbstverständnis formuliert, wie es Bücher in seinem Aufsatz über die Schicksalsstunde der akademischen Nationalöko­ nomie 1918 gefordert hatte.19 Aber eigentlich wurde auf diese Weise durchaus selbstbewusst die Kritik der Organizisten und anderer gekontert, die der ökonomischen Theorie ihren technischen Charakter gerade zum Vorwurf machten.20 Somit »inszenierten« diese Ökonomen einen Bruch mit der Vergangenheit und wandten sich scharf gegen das eigene Fach, das nach ihrer Auffassung an den Anforderungen der Gegenwart gescheitert war.21 Schumpeter vertrat 1932 die Meinung, die sozialphilosophischen Strömungen müssten sich »ausleben« und auf kurz oder lang aus der Disziplin verschwinden.22 Nicht wenige dieser jüngeren Ökonomen, vor allem aus dem Umfeld des späteren Ordoliberalismus, pflegten dabei ein Selbstverständnis als Avantgarde ihrer Disziplin. Die Beschäftigung mit ökonomischer Theorie bot oftmals schon während des Studiums ein probates Mittel, sich intellektuell von den Kommilitonen abzuheben, die lediglich möglichst schnell und mit geringem Arbeitsaufwand durch ihr Studium kommen wollten.23 Besonders der Briefwechsel zwischen Eucken und Rüstow zeigt auf geradezu frappierende Art und Weise, wie sich zwei ökonomische Theoretiker zur Speerspitze der deutschen Nationalökonomie stilisierten. Dabei konnte es nicht ausbleiben, dass dieses z. T. offen kommunizierte Überlegenheitsgefühl das Missfallen der Fachkollegen erweckte. So schrieb der der ökonomischen Theorie durchaus zugeneigte Predöhl (von ­1934–1945 Leiter des Kieler Instituts für Weltwirtschaft) später vom »arroganten Spott der jungen Leute aus der wiederaufkommenden Wirtschaftstheorie«24 und Salin dürfte besonders die Jüngeren gemeint haben, als er 1927 von der »überheblichen Selbstsicherheit der ›Theoretiker‹« sprach.25 Lederer urteilte 1933 über Hans-Joachim Rüstow, er trete etwas »zu bestimmt« auf, »was eine Wesensart ist, die gerade die jüngeren Vertreter einer bestimmten theoretischen Richtung auszeichnet. Denn die Geradlinigkeit des Gedankengangs gibt ein 18 Carell, Wirtschaftswissenschaft, S. 131. 19 Bücher, Schicksalsstunde. Vgl. Stolzmann, Liefmann, S. 23. 20 Eine ganz ähnliche Argumentation findet sich auch bei: Robbins, Economist, S. 11 ff. 21 Hiller, S. 9. 22 Schumpeter, Woher, S. 604. 23 Silex, S. 73. Vgl. auch König, Leben, S. 75 f. 24 Predöhl, Harms, S. 49. 25 Brügelmann, S. 8. Salin, Hochkapitalismus, S. 326.

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Gefühl der Überlegenheit, von dem aus das Denken der anderen sehr schwer ­adäquat verstanden werden kann.«26 Das Problem dieser jüngeren Generation von Theoretikern bestand allerdings darin, dass es bis weit in die 1920er Jahre kaum substantielle theore­tische Arbeiten gab, durch die der eigene Überlegenheitsanspruch auch gerechtfertigt worden wäre. Alexander Rüstow hatte nicht viel mehr als eine Monographie zur Frage Schutzzoll oder Freihandel? verfasst.27 Eucken veröffentlichte nach seiner geldtheoretischen Habilitationsschrift von 1923 lange Zeit keine größere Arbeit mehr.28 Röpke litt sicherlich nicht unter einer Schreibhemmung, aber bis zu dem Bericht über die Arbeit der Brauns-Kommission von 1931 und Krise und Kon­ junktur29 von 1932 enthielten seine Werke kaum Sensationelles.30 Löwes Ver­ öffentlichungsliste war schmal. Bei seiner Habilitationsschrift handelte es sich um einen 30-seitigen Aufsatz, der zwar sicherlich höchst anregend war, aber – wie wurde das in den 1920er Jahren gerne genannt  – »nur kritisch«.31 Eine eigenständige Konjunkturtheorie konnte er nicht anbieten und blieb sie auch später weitestgehend schuldig.32 Als Mannheim, Tillich, Lederer und Horkheimer 1930 in einem Schreiben an das Preußische Kultusministerium für Löwes Berufung nach Frankfurt plädierten, war ihr zentrales Argument, ihm müsse endlich in Form eines Ordinariats die Gelegenheit gegeben werden, sein reichhaltiges Wissen auch zu Papier zu bringen.33 Ist es insofern gar nicht so erstaunlich, dass die volkswirtschaftlichen Ordinariate an den Universitäten diesen jüngeren Wissenschaftlern zunächst verschlossen blieben, war es nicht zuletzt deren angebliche institutionelle Ausgrenzung, die Rüstow den Plan fassen ließ, einen Arbeitskreis zu gründen, dem er provisorisch den Namen »deutsche Ricardianer« gab.34 In diesem Arbeitskreis sollten sich vor allem die jüngeren Wissenschaftler des Faches zusammenfinden, um gemeinsam Fragen der ökonomischen Theorie zu diskutieren. Unter den möglichen Kandidaten sah Rüstow dabei zum einen die mit ihm befreun26 Gutachten Prof. Lederer über Hans Joachim Rüstow (31.3.1933). LB Oldenburg. Nl Schu­ macher, HS 362,2330:6. Vgl. auch Sombart, Produktivität, S. 28. Dafür, dass diese Einschätzungen nicht ganz aus der Luft gegriffen waren, vgl. Hennecke, Röpke, S. 42. Röpke, Geld. Hennecke, Röpke, S. 56. Schreiben Edgar Salin an Bernhard Harms (3.12.1931). UB Basel, Handschriftenabteilung. Nl Salin, Fb 1162. S.a. Schreiben von Walter Eucken an Alexander Rüstow (19.5.1928). BA Koblenz. Nl Rüstow, 169/2. 27 Rüstow, Schutzzoll. 28 Eucken, Geldproblem. 29 Röpke, Konjunkturpolitik. 30 Anders die (äußerst unkritische) Darstellung bei: Hennecke, Röpke, S. 49 ff. 31 S. Schreiben Arthur Spiethoff an Karl Oldenberg (2.12.1929). UB Basel, Handschriften­ abteilung. Nl Spiethoff, A 429,21. 32 Beckmann, Löwe, S. 148 ff. 33 Schreiben von Karl Mannheim, Paul Tillich, Emil Lederer, Max Horkheimer an das Preuß. Kulturministerium (9.2.1930). GstA 1. HA; Rep. 76 (Kultusministerium), Va, Sekt. 5, Tit. IV, Nr.6 Bd.1. 34 Vgl. dazu Meier-Rust, S. 43 f. Janssen, Nationalökonomie, S. 23 ff.

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deten Eucken, Heimann und Löwe, er wollte aber auch die Österreicher Mises, dessen Schüler Hayek, Lederer und Schumpeter zu einer Mitarbeit bewegen. Der Versuch der Installierung eines solchen Arbeitskreises antwortete dabei in erster Linie auf das Problem, dass sich der Generationswechsel in der Nationalökonomie erst nach und nach vollzog und noch viele Ökonomen auf den Lehrstühlen saßen, die habituell eher dem wilhelminischen Deutschland entstammten, die zudem, so wurde gemutmaßt, die Berufung von Theoretikern blockieren würden.35 Rüstows Bemühungen um die Gründung der deutschen Ricardianer waren jedoch kein durchschlagender Erfolg. So scheiterte er 1926 beispielsweise mit dem Versuch, den »Star«36 der deutschsprachigen Volkswirtschaftslehre, Schumpeter, dauerhaft für den Arbeitskreis zu gewinnen, der, durch den Tod seiner Frau kurz zuvor stark mitgenommen, an einer Mitarbeit kein rechtes Interesse zeigte. Zu diesem Zeitpunkt erschien dann auch noch sein bereits besprochener Aufsatz über Gustav v. Schmoller und die Probleme von heute, der von Rüstow geradezu als Verrat an der gemeinsamen Sache empfunden wurde.37 Er formulierte das harte Urteil, dass Schumpeter sein Genie offensichtlich mit Charakter­ mängeln bezahlen müsse.38 Anschließend fanden sich die Ricardianer zwar zu Gesprächskreisen zusammen und versuchten auf Konferenzen und den Tagungen des Vereins für Sozialpolitik ihre Interessen zu artikulieren. Es ist jedoch äußerst zweifelhaft, ob dieser Arbeitskreis institutionell im Fach jemals eine größere Rolle gespielt hat, wie Hauke Janssen meint.39 Darüber hinaus dürften die von Rüstow in den Blick genommenen Kandidaten politisch insgesamt zu heterogen gewesen sein, um auf Dauer ein schlagkräftiges Netzwerk zu bilden; immerhin waren Löwe, Colm und Neisser Sozialisten, während es sich bei 35 Rüstow konstruierte eine scharfe Frontstellung zwischen Historismus und ökonomischer Theorie innerhalb des Faches. Janssen, Nationalökonomie, S. 24. 36 Mit dieser Formulierung: Schreiben von Bernhard Harms an Christian Eckert (10.11.1925). UA Köln, Zug 317–11, Nr.1129 (Bd.2). 37 Schreiben Alexander Rüstow an Walter Eucken (11.11.1926). BA Koblenz. Nl Rüstow, 169/17. 38 Schreiben Alexander Rüstow an Walther Eucken (2.5.1929). BA Koblenz. Nl. Rüstow, 169/2. Schumpeter hatte ebenfalls keinen allzu guten Eindruck von Rüstow. Schumpeter, Briefe/ Letters, S. 131 f. 39 Janssen begeht m. E. einen Fehler, wenn er Rüstows extrem einseitige Beschreibung der deutschen Volkswirtschaftslehre (Alexander Rüstow: Stellungnahme (21.9.1928). BA Koblenz. Nl Rüstow, 169/191) und damit die Selbstbeschreibung eines eng umgrenzten Personenkreises unkritisch als historische Wahrheit übernimmt. Die jüngeren Theoretiker hatten ihre sehr eigene Sicht auf die Dinge, die sicherlich nicht weniger einseitig war, als die mancher ihrer Gegner. Das war besonders bei Rüstow der Fall, der alles, was er im weitesten Sinne als »Historische Schule« bezeichnete, damals verabscheut haben muss. Übrigens tauchen die Ricardianer praktisch nur im Nachlass von Rüstow auf. Salin, Spiethoff, Sombart u. a. haben von einer solchen »Verschwörung« der Theoretiker offensichtlich nichts mitbekommen. Außerdem erscheint die Deutung, Rüstow sei eine »Integrationsfigur der jungen Theoretiker« gewesen sei, nicht fundiert. Vielleicht für Röpke, Heimann, Eucken, also im persönlichen Freundeskreis, aber für Colm, Neisser, Mises, Hayek? Janssen, Nationalökonomie, S. 23 ff.

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Mises und Hayek um ökonomische Liberale handelte, die ihre Einstellung nicht gerade diplomatisch zu formulieren pflegten. Selbst Eucken lehnte 1929 eine Zusammenkunft der Theoretiker ab, weil er mit Löwes wissenschaftlicher Methode nicht einverstanden war. Rüstow hatte große Mühe, die Wogen zu glätten und Eucken davon zu überzeugen, die gemeinsame Sache der ökonomischen Theorie in den Vordergrund zu stellen.40 Darüber hinaus verlor aber auch das Problem des noch nicht erfolgten Generationswechsels an Dringlichkeit. Eucken in Freiburg, Röpke in Marburg, Löwe in Frankfurt und Heimann in Hamburg saßen Anfang der 1930er Jahre bereits auf ordentlichen Professuren. Hayek, dessen wirtschaftliche Existenz in Wien nicht gesichert war, schickte sich an, durch seine Berufung an die London School of Economics in England akademische Karriere zu machen.41 Lederer, der Ordentlicher Professor in Heidelberg war und 1931 nach Berlin berufen wurde, sowie Schumpeter, der 1932 von Bonn nach Harvard ging, hatten ihren Weg bereits gemacht. Die Dominanz der noch aus der Historischen Schule stammenden Lehrstuhlinhaber, sollte es sie in der von Rüstow perhorreszierten Form überhaupt gegeben haben, verflüchtigte sich somit nach und nach. Zumal es Anzeichen gibt, dass auch von staatlicher Seite die Berufung von Theoretikern gefördert wurde. So drängte das Preußische Kultusministerium beispielsweise bei der Neubesetzung der Professuren für Theoretische Nationalökonomie in Göttingen 1929 und Berlin 1931 auf die Berücksichtigung von expliziten Theoretikern. 6.1.2 Der Bedeutungsgewinn der Konjunkturtheorie seit Mitte der 1920er Jahre Es ist auffällig, dass die meisten Angehörigen dieser jüngeren Generation ökonomischer Theoretiker sich in direkter oder indirekter Form mit Problemen der Konjunkturtheorie beschäftigten, mit der Erklärung regelmäßiger Schwankungen der kapitalistischen Wirtschaftsentwicklung. Daran ist zunächst erklärungsbedürftig, dass besonders seit der Mitte der 1920er Jahre eine Vielzahl von Arbeiten zu einem Problem erschien, das in der Weimarer Republik scheinbar keine empirische Evidenz besaß, zeichnete sich die Wirtschaftsentwicklung dieser Zeit doch kaum durch »regelmäßige« Schwankungen aus.42 Woher kam diese intensive Beschäftigung mit der Konjunkturtheorie in dem relativ engen Zeitfenster 1925–1933? Hier besteht zunächst ein enger Zusammenhang mit dem Aufschwung der statistischen Konjunkturforschung seit dem Weltkrieg.43 Wie Tooze in seiner 40 Schreiben Alexander Rüstow an Arnold Wolfers (24.9.1929). BA Koblenz. Nl Rüstow, 169/4. 41 Hennecke, Hayek, S. 93 ff. 42 So Löwe, Zwanziger Jahre, S. 80. Anders: Clausing, Wechsellagen, S. 3 ff. 43 Tooze, Statistics, S. 103 ff.

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Studie über Statistics and the German State gezeigt hat, brachten die Jahre nach 1914 eine ungeheure Ausweitung des empirischen Informationsmaterials über die Wirtschaft mit sich. Fragen der Konjunktur wurden auf diese Weise seit Anfang der 1920er Jahre für eine breite wirtschaftsinteressierte Öffentlichkeit geläufig. Im Übrigen war es dabei gerade die Wahrnehmung, dass die konjunkturelle Entwicklung seit dem Krieg und selbst seit der Währungsstabilisierung ungleichmäßiger verlief als vor 1914, die der Konjunkturforschung und Konjunkturprognostik eine solche Bedeutung zukommen ließ.44 Zugleich zeigte sich jedoch, dass das empirische Material für sich allein noch nicht aussagekräftig war und der theoretischen Bearbeitung bedurfte. Ernst Wagemann, der wesentlichen Anteil am Aufbau der statistischen Konjunkturforschung in Deutschland hatte, bestritt zwar, dass ohne eine ausgearbeitete Konjunkturtheorie die Deutung des Materials nicht funktionieren könne45, die meisten Natio­ nalökonomen, die sich mit dieser Materie beschäftigten, waren jedoch anderer Meinung. Allerorten wurden Konjunkturforschungsstellen gegründet, von denen neben dem 1925 gegründeten, von Wagemann geleiteten Berliner Institut für Konjunkturforschung die von Eugen Altschul geleitete Frankfurter Gesellschaft für Konjunkturforschung (1926) und die Kieler Astwik-Gruppe (ebenfalls 1926), in der u. a. Löwe und der Finanzwissenschaftler Colm mitarbeiteten46, herausstachen.47 Bezeichnenderweise wurde 1927 gleich ein Österreichisches Institut für Konjunkturforschung ins Leben gerufen, als für den jungen Hayek ein Auskommen gefunden werden musste.48 Die empirische Konjunkturforschung stellte in zweifacher Hinsicht eine Herausforderung für die ökonomische Theorie dar. Erstens galt es, die scheinbar regelmäßigen Zyklen der wirtschaftlichen Entwicklung theoretisch zu erklären. Schumpeter ging im Anschluss an die Arbeiten Juglars von Zyklen mit 8bis 10-jähriger Amplitude aus, Röpke sprach 1922 von Zyklen mit 5- bis 10-jähriger Amplitude.49 Die 1926 erstmals in Deutschland veröffentlichten Arbeiten des russischen Statistikers Kondratieff, auf die sich Schumpeter seit den 1930er Jahren beziehen sollte, schienen sogar die Existenz »langer Wellen« mit 50- bis 60-jähriger Amplitude zu beweisen.50 Wenn es solche regelmäßigen Schwankungen jedoch wirklich gab, musste der Zyklus die Form der kapitalistischen »Normalentwicklung« darstellen. Sein Zustandekommen und seine Erscheinungsform waren darum aus der Funktionsweise der kapitalistischen Wirtschaft zu erklären. Das zweite Problem bestand darin, dass in der Beschreibung des Konjunkturzyklus empirische Zusammenhänge aufgezeigt wurden, welche die traditionelle statische Gleichgewichtsanalyse vor ein Problem stell44 Spiethoff, Beobachtung, S. 7. 45 Wagemann, Konjunkturlehre, S. 15 ff. 46 Beckmann, Löwe, S. 43 ff. 47 Kulla, Anfänge, S. 136 ff., 163 ff. 48 Hennecke, Hayek, S. 74 ff. 49 Röpke, Konjunktur, S. 21. 50 Kondratieff, Wellen, S. 573–609.

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ten. Es musste z. B. erklärt werden, warum im Zuge des Aufschwungs ein bestehendes Gleichgewicht verlassen wurde und die Tendenz zur Wiederherstellung eines neuen Gleichgewichtszustands sich allem Anschein nach nicht sofort durchsetzte. Während die statische Gleichgewichtsanalyse steigende Produk­ tionsmengen mit fallenden Preisen, steigende Zinsen mit geringerer Kapitalverwendung, steigende Löhne mit fallenden Profiten korrelierte, zeigten die empirischen Zyklen offensichtlich eine andere Verlaufsform, indem hier Preise, Löhne, Zinsen »solidarisch« stiegen und fielen.51 Schumpeter hatte bereits 1912 in seiner Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung die Meinung vertreten, dieser simultane Anstieg und Abfall der ökonomischen Größen könne nur im Rahmen einer Theorie der ökonomischen Dynamik erklärt werden, der statische Ansatz bedürfe also einer Ergänzung.52 Die Frage ist jedoch, inwiefern die befruchtende Wirkung der empirischen Konjunkturforschung allein ausreicht, die intensive theoretische Beschäftigung mit dem Konjunkturproblem zu erklären, die Gottl-Ottlilienfeld 1931 zu der Klage verleitete, die gesamte Nationalökonomie drohe mittlerweile in Konjunkturtheorie zu ersticken.53 Die Anziehungskraft der Konjunkturtheorie bestand noch in einem zweiten Moment, nämlich darin, dass sich hier eine theoretische Aufgabe stellte, deren Lösung mehr zu bieten versprach, als »nur« die Erklärung regelmäßiger Schwankungen des Wirtschaftslebens. Dem Anforderungsprofil der Konjunkturtheorie zufolge, wie es Löwe 1926 formulierte, sollte sie ein theoretisches Gesamtsystem liefern, das alle anderen Teilprobleme der Wirtschaftstheorie umfasste. Keinesfalls durfte sie, wie das z. B. bei Cassel der Fall war, der mehr oder weniger induktive Appendix einer allgemeinen Theorie sein, aus der sich diese Konjunkturschwankungen nicht zwingend ableiten ließen.54 Genauso erschien vielen Wissenschaftlern, die sich mit dem Problem beschäftigten, Schumpeters Zuhilfenahme des dynamischen Unternehmers ein untaug­liches Mittel, um regelmäßige Schwankungen des Wirtschaftslebens zu erklären. Dem Argument fehlte ihrer Ansicht die logische Notwendigkeit, vor allem, weil die Frage als unzureichend beantwortet empfunden wurde, warum die dynamischen Unternehmer stets zu Beginn des Aufschwungs in »Schwärmen« auftauchten und sich technische Innovationen auch nur in dieser Phase des Zyklus durchsetzen sollten.55 Bei der Beschäftigung mit der theoretischen Konjunkturerklärung ging es in erster Linie darum, das Phänomen regelmäßiger Auf- und Abschwünge der Wirtschaftsentwicklung im Rahmen einer allgemeinen Wirtschaftstheorie zu lösen.56 Das war gerade in den Arbeiten Spiethoffs oder Cassels nicht geleis51 Löwe, Konjunkturtheorie, S. 174. 52 Schumpeter, Entwicklung, S. 75 ff. 53 Gottl-Ottlilienfeld, Mythus, S. 54. 54 Friedrich Lutz bezeichnete Cassels Theorie als Paradebeispiel für einen theoretischen Induktionismus. Lutz, Konjunkturproblem, S. 37 f. 55 Singer, Prinzipien, S. 8. Preiser, Grundzüge, S. 22. Lederer, S. 8. 56 Löwe, Zwanziger Jahre, S. 81.

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tet, die wohl aus diesem Grund in der deutschen konjunkturtheoretischen Diskussion bis 1933 eine relativ geringe Rolle spielten, während im internationalen Kontext Spiethoff neben Schumpeter damals wohl der bekannteste und einflussreichste deutsche Konjunkturtheoretiker gewesen sein wird.57 Ähnlich wie für Cassels System die Konjunkturerklärung keine tragende Bedeutung hatte, ging es für Spiethoff vor allem darum, eine zwar theoretische, dennoch individuell-konkrete Erklärung des Konjunkturzyklus zu leisten.58 Beide negierten damit einen Punkt, der für die Konjunkturtheorie, so wie sie sich seit Mitte der 1920er Jahre entwickelte, ganz wesentlich war, nämlich eine Theorie zu formulieren, die eine endogene Erklärung des Konjunkturzyklus anbot, in deren Rahmen die Konjunkturschwankungen als notwendig erschienen, als »natürliche« Bewegungsform der kapitalistischen Verkehrswirtschaft also. Wenn es zutrifft, dass die Anziehungskraft der Konjunkturtheorie zu einem gewichtigen Teil darin gesehen werden kann, eine Theorie der kapitalistischen Normalentwicklung zu liefern, wäre damit ein Verbindungsglied zur Krise des Faches gegeben. Denn die theoretische Erfassung der kapitalistischen Normalentwicklung bedeutete zugleich die Konstruktion eines theoretischen Rahmens, der in Zukunft jede volkswirtschaftliche Detailforschung einschließen musste. Die Löwesche Frage »Wie ist Konjunkturtheorie überhaupt möglich?« hätte sich darum getrost auch als Frage formulieren lassen, wie ökonomische Theorie an sich überhaupt möglich war. Wenn Löwes Prämisse zutraf, dass der Zyklus wirklich die reale Form der Bewegung der kapitalistischen Verkehrswirtschaft mit freier Konkurrenz darstellte59, war eine ökonomische Theorie, die keine Konjunkturtheorie als ihren allgemeinen Rahmen besaß, nicht länger denkbar.60 Löwe selbst konnte den Stellenwert der Konjunkturtheorie kaum hoch genug ansetzen, wenn er schrieb, in der deutschen Nationalökonomie habe sich mittlerweile die Einsicht durchgesetzt, »dass die Konjunkturtheorie­ lehre keine theoretische Spielerei, sondern dass wissenschaftliche Feld größter Wirklichkeitsnähe darstellt, zu dem die moderne Sozialökonomik bisher durch­ gedrungen ist.«61 Insofern zielte das Projekt einer geschlossenen Konjunkturtheorie in gewisser Weise erneut auf eine Fundierung der ökonomischen Theorie und war den bereits behandelten Versuchen zur Neubegründung der Nationalökonomie nach dem Ersten Weltkrieg vergleichbar. Jedoch konnte sich hier schon deswegen eine fruchtbarere Forschungsdiskussion entwickeln, weil in bestimmten Punkten Einigkeit bestand, vor allem in der gemeinsam gesehenen Notwendigkeit einer Theorie, die den Zyklus als ein allgemeines, nicht individuelles Phänomen erklärte. Aus diesem Grund liegt die Annahme nahe, dass wenn auf dem 57 Hansen, Business-cycle Theory, S. 67 f. Vgl. auch Stoneman, S. 111 f. 58 Spiethoff, Wechsellagen. 59 Löwe, Zwanziger Jahre, S. 80 f. 60 Preiser, Grundzüge, S. 3. 61 Löwe, Bemerkungen, S. 1271.

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Gebiet der Konjunkturtheorie eine Einigung erzielt worden wäre, das einen entscheidenden Schritt aus der Krise des Faches bedeutet hätte. Möglicherweise hat nicht zuletzt der Nationalsozialismus eine solche Einigung verhindert, weil er einen bestehenden Forschungsdiskurs unterbrach und eine Vielzahl der besten Theoretiker aus Deutschland vertrieb: u. a. Löwe, Colm, Marschak, Lederer, Heimann, Röpke und Neisser. Nach dem »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich 1938 musste auch Mises in die USA emigrieren, während Schumpeter und Hayek Deutschland bereits 1932 freiwillig den Rücken gekehrt hatten.62 Unzweifelhaft schnitt der Nationalsozialismus einen bestehenden Forschungsdiskurs ab und trug massiv zur fortgesetzten Marginalisierung des Faches bei.63 Bezüglich der Frage indes, ob die Konjunkturtheorie geeignet gewesen wäre, ein neues Paradigma der nationalökonomischen Theorie zu begründen, ist Vorsicht angebracht. Es gibt eine berühmte, von den Zeitgenossen häufig zitierte Bemerkung Böhm-Bawerks, die Konjunkturerklärung habe das Schlusskapitel jedes wirtschaftstheoretischen Systems zu sein.64 Diese Formulierung lässt sich in zweifacher Weise auffassen: Einerseits stellte die Konjunkturerklärung den Baustein dar, ohne den ein umfassendes System der nationalökonomischen Theorie unvollständig bleiben musste. Andererseits wird das Schlusskapitel üblicherweise erst geschrieben, wenn der Rest des Werkes bereits vorliegt. Hier liegt sicher eine der zentralen Schwierigkeiten, mit denen sich die Konjunkturtheorie in den 1920er Jahren konfrontiert sah. Sie wollte eine Theorie der kapitalistischen Normalentwicklung liefern, deren einzelne Bausteine, die Kapitaltheorie oder die Geldtheorie, noch höchst umstritten waren. Weil aber umgekehrt ein theoretischer Rahmen, wie ihn die Konjunkturtheorie zu bieten schien, als Voraussetzung dafür angesehen wurde, die Einzelkomponenten der ökonomischen Theorie zu klären, musste gewissermaßen aus dem Nichts eine solche entwickelt werden, obwohl es dazu der theoretischen Bausteine erst bedurft hätte. Dieses Dilemma zeigt, dass angesichts der Situation der ökonomischen Theorie in Deutschland die Konjunkturtheorie als Forschungsprojekt, trotz aller innovativer Arbeit, die hier geleistet wurde, für sie eigentlich zu früh kam.65 Zu früh vor allem deswegen, weil die Weltwirtschaftskrise seit 1929 für fast alle Ökonomen unerwartet einen Problemdruck schuf, der ihre Theorien vor eine extrem schwere Probe stellte. Am Ausgang der Krise hatten viele, wenn nicht die meisten Konjunkturtheoretiker ihrer früheren Positionen revidiert, und das Projekt einer geschlossenen Theorie des Konjunkturzyklus hatte seine Attraktivität verloren. Hinzu kam, dass es auch in den Bemühungen, eine geschlossene Theorie des Konjunkturzyklus zu entwickeln, methodologisch verschiedene Positionen gab. 62 Krohn, Entlassung. 63 Janssen, Nationalökonomie, S. 421 ff. 64 Böhm-Bawerk, Besprechung, S. 132. 65 Genau umgekehrt fragt sich Gertrud Pütz-Neuhauser, warum eine solche Konjunkturtheorie nicht schon vor 1914 entwickelt wurde. Pütz-Neuhauser, S. 87 ff.

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Wenn z. B. Landauer 1930 behauptete, in der konjunkturtheoretischen Debatte im Verein für Sozialpolitik 1928 habe man sich wenigstens auf einen gemeinsamen Begriff der Konjunktur einigen können66, so ist das schlichtweg nicht nachzuvollziehen. Die beiden wichtigsten Protagonisten, Hayek und Löwe, vertraten vielmehr scharf divergierende Positionen, wobei sich gerade bei ihnen zeigte, welche Auswirkungen der Gegensatz zwischen einer »reinen« und einer »sozialen« Theorie auch in der konjunkturtheoretischen Debatte haben musste.

6.2 Das »Theoriedesign« der Konjunkturtheorie bis zur Weltwirtschaftskrise 6.2.1 Die Entwicklung der Konjunkturtheorie aus der Krisentheorie Die Konjunkturtheorie hatte ihren Ursprung in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit den in der Geschichte immer wieder auftretenden Wirtschaftskrisen, die bereits in der ökonomischen Literatur des 17.  Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielten.67 Die Klassiker indes schenkten den Krisen nur geringe Aufmerksamkeit. Sie konnten Wirtschaftskrisen in ihrer Gegenwart zwar beobachten, jedoch hatten sie in ihren theoretischen Ansätzen, mit Ausnahme von Malthus und einigen anderen, schon aus dem Grund keinen besonderen Stellenwert, weil sie vom Sayschen Theorem ausgingen, demzufolge sich jedes Angebot seine eigene Nachfrage schuf. Eine allgemeine Überproduktion bzw. Verlustabsatz war darum langfristig nicht möglich. Auch konnten sie nach Friedrich Lutz’ Meinung die Beziehung zwischen Auf- und Abschwung deswegen nicht als analytisches Problem entwickeln, weil sie vom ökonomischen Gleichgewicht ausgingen, in dem alle Produktionsfaktoren bereits optimal beschäftigt waren.68 Marx indes entwickelte bereits eine theoretische Krisenerklärung, in der er die Notwendigkeit wiederkehrender und sich verstärkender Krisen nachzuweisen versuchte. Seiner Ansicht nach führte die kapitalistische Akkumulation zu einer höheren organischen Zusammensetzung des Kapitals, d. h. einem Übergewicht des konstanten über das variable Kapital. Dadurch sank die Profitrate, weil die höhere organische Zusammensetzung des Kapitals zu einer geringeren Nachfrage nach Arbeit und darum zu geringeren Löhnen führte. Wegen der aus diesem Grund hinter der Produktion zurückbleibenden Nachfrage konnte der produzierte Mehrwert ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht länger in Geld realisiert werden. Wenn sich die Möglichkeiten für Neuinvestitionen und der Er66 Debattenbeitrag Carl Landauer, in: Spann, Krisis, S. 46 f. 67 Sombart, Versuch, S. 16. 68 Lutz, Konjunkturproblem, S. 4–25.

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schließung neuer Absatzmärkte erschöpft hatten, kam es zu einer Krise. Diese führte zwar zu einer Vernichtung des überschüssigen Kapitals und der Entwertung des übrig gebliebenen, so dass ein neuer Aufschwung möglich wurde. Zugleich war langfristig das Resultat eine noch kapitalintensivere Produktion, was das Problem der Nichtrealisierbarkeit des Mehrwerts immer weiter verstärkte. Finale Konsequenz war der Zusammenbruch des kapitalistischen Systems.69 Schumpeter vertrat später die Meinung, zentrale Erklärungsmomente des Konjunkturzyklus seien bei Marx zumindest bereits genannt70: etwa das Problem der Überproduktion/Unterkonsumption, strukturelle Veränderungen des Produktionsapparats, Wirkungen des technischen Fortschritts. Aber das Krisenproblem war trotzdem bei Marx noch etwas anders gelagert als später das Konjunkturproblem. Während Marx vor allem die Abfolge sich verstärkender Krisen nachweisen wollte, wurde im späteren Begriff der Konjunktur die kausale Beziehung zwischen Aufschwung und Abschwung, dass also der Aufschwung die Voraussetzungen für den Abschwung schuf und umgekehrt, als normale Bewegungsform der kapitalistischen Verkehrswirtschaft angenommen, die keineswegs zum Zusammenbruch des Kapitalismus führen musste. In dieser Form wurde das Konjunkturproblem in den 1860er Jahren durch Clemens Juglar formuliert, der eine rhythmische Bewegung der Volkswirtschaft nachzuweisen versuchte.71 Verstärkt seit der Jahrhundertwende setzte sich die Meinung durch, bei den Krisen handele es sich weniger um individuelle Phänomene als um ganz normale Erscheinungen, deren Ursachen in den Struktureigenschaften des Wirtschaftsprozesses gesucht werden mussten.72 Dietzel trug zwar 1909 noch einmal eine exogene Krisenerklärung vor, indem er die Ursache der Schwankungen des Wirtschaftslebens in den Ernteerträgen erblickte.73 Das war aber bereits vor dem Krieg eine Minderheitenposition. Zudem schienen die ökonomischen Abschwünge nun langsam den Katastrophencharakter zu verlieren, der sie während der 19.  Jahrhunderts noch häufig ausgezeichnet hatte. Trotzdem wurde die Bezeichnung »Krisentheorie« allgemein beibehalten und der ursprünglich privatwirtschaftliche Begriff »Konjunktur« weiterhin als Ausdruck für die momentane Geschäftslage verwendet.74 Die groß angelegte Arbeit Eugen von Bergmanns von 1895 beschäftigte sich ganz selbstverständlich mit der Geschichte der nationalökonomischen Krisentheorien und behandelte in einem Kapitel die Lehrmeinungen, die von einer Periodizität der Krisen ausgingen.75 Pohle ging 1902 ebenfalls von einer Periodizität aus, die er vor allem durch die Bevölke69 Zinn, S. 84 ff. 70 Kurz, Schumpeter, S. 45. 71 Juglar. Vgl. aber Mises, Geldwertstabilisierung, S. 56. 72 Eulenburg, Besprechung, S. 439 f. 73 Dietzel, Ernten, S. 1091–1102. 74 Wolf, Volkswirtschaft, S. 108 ff. 75 Bergmann, Wirtschaftskrisen.

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rungsbewegung bedingt betrachtete.76 Spiethoff trat ungefähr zum selben Zeitpunkt mit seiner Krisentheorie hervor, die z. T. an die Forschung des Russen Tugan-Baranowsky anschloss77 und die Krisenursache vor allem in einer überproportionalen Ausweitung der Produktionsgüterproduktion gegenüber der Konsumgüterproduktion im Aufschwung erblickte. Sombart versuchte 1904 eine Klassifizierung verschiedener Krisentypen und erhob dabei die Forderung, das Augenmerk über das »zu bestimmte« Krisenproblem hinaus auf das allgemeinere Problem der Bewegungsform der kapitalistischen Wirtschaft zu richten.78 Der später prominenteste konjunkturtheoretische Entwurf vor dem Krieg war jedoch die 1912 erschienene Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung Schumpeters.79 In dieser Arbeit versuchte er, ergänzend zu seinem früher entwickelten System der ökonomischen Statik eine Theorie der volkswirtschaftlichen Dynamik zu entwerfen. Schumpeter behauptete, dass ausgehend von einem bestehenden Gleichgewicht innovative Unternehmer neue Faktorkombinationen durchsetzten und damit gegenüber ihren »statischen« Konkurrenten einen Wettbewerbsvorteil erlangten. Um diese neuen Kombinationen zu realisieren, fragten sie verstärkt Kredite nach, wodurch zusätzliche Kaufkraft im Zirkulationsprozess geschaffen wurde, was wiederum zu steigenden Preisen führte. In der Phase der Depression wurden dann die im Boom neu entstandenen Unternehmen in den volkswirtschaftlichen Prozess eingegliedert: Darlehen wurden zurückbezahlt, Kaufkraft verschwand aus dem Zirkulationsprozess, die Liquidität der Banken stieg, die Zinsen fielen, bis ein erneuter Gleichgewichtszustand erreicht wurde. Schumpeters Ansatz war nicht zuletzt deswegen bedeutsam, weil er mit besonderer Klarheit zeigte, dass es sich bei der Depression lediglich um eine Phase einer allgemeinen volkswirtschaftlichen Wellenbewegung handelte.80 Die individuellen Krisenursachen bezeichnete er dabei sogar als »verhältnismäßig uninteressant«. Das Grundproblem bestand vielmehr darin, dass es Depressionsperioden in der Volkswirtschaft auch dann geben würde, »wenn der Wirtschaftsprozess sich selbst überlassen und frei von jenen Momenten, die man als ›Störungsursachen‹ zu bezeichnen pflegt, vor sich ginge.«81 Spätestens hier war der Konjunkturzyklus in der nötigen Schärfe als ein dynamisches Problem formuliert, bei dem es eine innerhalb des Wirtschaftskreislaufs selbst hervorgebrachte Entwicklung zu beschreiben galt. Es sollte jedoch noch dauern, bis nach dem Krieg daran wieder angeknüpft wurde. 76 Pohle, Bevölkerungsbewegung. Über die Ähnlichkeiten von Pohles Ansatz mit Spiethoff vgl. Zimmermann, Krisenproblem, S. 96. Dagegen: Spiethoff, Krisentheorien. 77 Beckmann, Einfluss. 78 Sombart, Versuch, S. 20 f. Vgl. auch Wolf, Volkswirtschaft, S. 108 ff. 79 Schumpeter, Entwicklung. 80 Ders., Wellenbewegung, S. 17 ff. 81 Ebd., S. 2, 6.

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Insgesamt gab es in Deutschland bereits vor dem Weltkrieg wichtige Ansätze zu einer theoretischen Erklärung der Konjunktur, nur firmierte diese Forschungsrichtung damals noch unter der Bezeichnung »Krisentheorie« oder »Krisenlehre«. Hier wurde jedoch bereits viel Forschungsarbeit geleistet, auf die in den 1920er Jahren zurückgegriffen werden konnte. Schumpeter sollte später sogar davon sprechen, alle wichtigen Bestimmungsfaktoren der späteren Konjunkturtheorien seien vor dem Krieg schon bekannt gewesen.82 Neben den Arbeiten von Marx, Spiethoff, Clark oder ihm selbst sprach er damit vor allem auch Wicksells Arbeit Geldzins und Güterpreise an.83 In diesem Urtext der monetären Konjunkturerklärung hatte der schwedische Ökonom die Unterscheidung zwischen dem »natürlichen Zins«84 und dem faktischen Marktzins theoretisch ausgearbeitet und die Auswirkungen auf das Preisniveau untersucht, wenn diese beiden Zinssätze differierten. Vor allem Mises und Hayek sollten diese Zinsspanne später zum Ausgangspunkt ihrer konjunkturtheoretischen Ansätze wählen. Doch obwohl alle diese Arbeiten bereits existierten, widerspricht das nicht der Tatsache, dass Mitte der 1920er Jahre viele Nationalökonomen der Meinung waren, die Konjunkturtheorie stelle einen neuen Ansatz innerhalb der Nationalökonomie dar; zumal die erwähnten Arbeiten von Wicksell und Schumpeter überhaupt erst in die Schublade »Konjunkturtheorie« eingeordnet werden mussten. Das ergab sich keineswegs von selbst. Bei einem Blick auf die Forschungslandschaft der Nationalökonomie um die Mitte der 1920er Jahre musste sich einem Beobachter noch die Frage aufdrängen, ob es das Forschungsgebiet Konjunkturtheorie in Deutschland überhaupt gab. Während des Krieges erschien das umfangreiche Werk Emanuel Hugo ­Vogels85, das in der Voraussage gipfelte, mit dem durch die Kriegswirtschaft vorgezeichneten, weiteren Vordringen der Gemeinwirtschaft würden die Konjunkturschwankungen ganz aufhören. Sombarts zweiter Band der zweiten Auflage des Modernen Kapitalismus enthielt ein konjunkturtheoretisches Kapitel, das den Aufschwung durch eine steigende Edelmetallproduktion verursacht sah.86 Nach dem Krieg erschienen dann zwei Studien, die den Begriff »Konjunktur« sogar im Titel führten, nämlich die Einführung in die Konjunk­ turlehre des Gießener Ökonomen Paul Mombert und Die Konjunktur des jungen Röpke.87 In diesen Arbeiten wurde allerdings keine eigenständige Konjunkturtheorie entwickelt.88 Weiter gab es die bereits erwähnten, vor dem Krieg erschienenen Arbeiten zur Krisentheorie sowie das lange Schlusskapitel von Cassels Theoretischer Sozialökonomie. Immerhin wurde jetzt aber bereits ver82 Schumpeter, History, S. 1134 f. 83 Wicksell, Geldzins. 84 Ebd., S. V. 85 Vogel, Theorie. Vogel verfolgte später das Projekt einer universalistischen Konjunkturtheorie. Ders., Fortbildung. 86 Sombart, Frühkapitalismus, S. 208–228. 87 Mombert, Einführung. Röpke, Konjunktur. 88 Löwe, Stand.

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stärkt von der Konjunkturlehre geredet. Sombart beschwerte sich 1917 darüber, dass die vor dem Krieg erschienene, dritte Auflage des Handwörterbuchs der Staatswissenschaften keinen eigenen Konjunkturartikel enthielt.89 In den USA sah das allerdings nicht viel anders aus. Carl Snyder, Chef-Statistiker der Federal Reserve Bank von New York, merkte an, keines der wichtigen ökonomischen Nachschlagewerke in englischer Sprache vor dem Ersten Weltkrieg enthielte ein Lemma zum Thema »business cycles«.90 Insofern war es nicht verwunderlich, dass Röpkes Arbeit von 1922 über Die Konjunktur noch stark davon geprägt war, ein »neues« Forschungsfeld überhaupt erst bestimmen und umreißen zu müssen.91 Gleich einleitend merkte er an, der Bedeutung des Begriffs der Konjunktur für die Wirtschaftspraxis entspreche ein »nahezu völliges Vakuum in der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur«.92 Diese Ansicht war zwar, wie Röpke selbst eingestand93, massiv übertrieben, aber bezeichnend dafür, dass die Konjunkturtheorie sich als ein Neuansatz im Fach verstand und erst nach und nach entdeckt wurde, wer und was alles darunter gefasst werden konnte. Schumpeters Arbeiten zur theoretischen Dynamik rechnete Röpke z. B. nicht dazu.94 Als einen Hinweis darauf, dass hier ein Forschungsfeld erst neu erschlossen werden musste, mag auch verstanden werden, dass Röpkes Arbeit mehr eine Konjunkturphänomenologie als eine selbständige theoretische Leistung darstellte. Ihm ging es darum, was der Begriff »Konjunktur« überhaupt meinte und wie sich Konjunkturen im Wirtschaftsleben auswirkten. Seine Definition von Konjunktur als die individuellen Einflussmöglichkeiten entzogene, gesamtwirtschaftliche Veränderung von Angebot und Nachfrage war jedoch unspezifisch und noch eher einem traditionellen Verständnis des Begriffes verpflichtet.95 Seit der Mitte der 1920er Jahre kam es dann zu einer sprunghaften Zunahme der konjunkturtheoretischen Arbeiten. Besonders das »Weltwirtschaftliche Archiv« machte sich zum Sprachrohr dieser Richtung, und es erschienen zahlreiche Monographien, die sich in der einen oder anderen Form mit der Konjunkturtheorie beschäftigten.96 Zum einen hatte das seine Ursache im Aufschwung der Konjunkturstatistik, die es in der zweiten Hälfte bis in die wöchentlich erscheinenden Wirtschaftsmagazine brachte und erreichte, dass »diese Dinge, die zu den schwersten Fragen der Nationalökonomie gehören, geradezu volks­ tümlich«97 wurden.98 Das ließ es jedenfalls auch für die Nationalökonomie an89 Sombart, Frühkapitalismus, S. 208. (Es gab nur den Artikel Herkners über »Krisen«) 90 Snyder, Studium, S. 19 f. 91 Peukert, Wilhelm Röpke, S. 488 ff. 92 Röpke, Konjunktur, S. V. 93 Ebd., S. 50 94 Ebd., S. 5 95 Zeitgenössisch vermerkt bei Kemény, Rezension, S. 216. 96 Z. B. Zimmermann, Krisenproblem. 97 Mises, Geldwertstabilisierung, S. 1. 98 Tooze, Statistics, S. 103 f.

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gezeigt erscheinen, sich intensiv mit einem Thema zu beschäftigen, das offensichtlich ihr genuines Aufgabengebiet darstellte.99 Das von Wagemann geleitete Institut für Konjunkturforschung wurde 1925 gegründet100, und in der Folgezeit entstanden eine ganze Reihe von Instituten und Gesellschaften, die – wenigstens teilweise – einen stärker theoretischen Schwerpunkt hatten als die vornehmlich statistische Arbeit der Berliner Einrichtung.101 Harms z. B., mit einem Blick für wissenschaftliche Talente ausgestattet, machte Löwe, der bis dahin als Referent im Reichswirtschaftsministerium gearbeitet hatte, das Angebot, in Kiel eine konjunkturtheoretische Forschungsstelle aufzubauen. Für Harms, der eine große Begeisterungsfähigkeit für neue Entwicklungen und Theorien im Fach besaß, drängte sich das Thema offensichtlich auf. Bereits 1928 konnte Mises anmerken, mit Bezug auf die Konjunkturtheorie habe man »nicht ganz mit Unrecht von einer nationalökonomischen Mode gesprochen.«102 Die Frage, die sich zu Anfang stellte, war jedoch, wie Konjunkturtheorie eigentlich betrieben werden konnte, wenn dafür zunächst scheinbar keine Vorbilder existierten. Darauf gaben bestimmte »Referenztexte« eine Antwort, die dadurch den weiteren Gang der Debatte maßgeblich bestimmen sollten. Dabei handelte es sich zunächst um Lederers 1925 veröffentlichten Beitrag Konjunktur und Krise für den vierten Band des »Grundrisses der Sozial­ ökonomik«.103 Lederer entwickelte darin eine sog. Unterkonsumptionstheorie, die das Wechselspiel der Konjunktur aus unterschiedlichen Einkommenselastizitäten erklären wollte. Im Aufschwung stiegen Preise und Zinsen an, die Einkommen jedoch nur partiell. Während es den Beziehern elastischer Einkommen, vor allem den Arbeitern, gelang, ihre Löhne dem gestiegenen Preisniveau anzupassen, war das bei den festen Einkommen, vor allem den Beamtengehältern, nicht der Fall. Der Aufschwung fand folglich dann ein Ende, wenn die Gesamtheit der produzierten Güter nicht mehr von den Konsumenten zurückgekauft werden konnte. Resultat war eine Abwärtsbewegung, in der Preise und Zinsen fielen, die Einkommen sich jedoch wiederum nur partiell anpassten. Das Ende der Krise war dann erreicht, wenn die festen Einkommen die Nachfrage stabilisierten bzw. den Impuls für einen neuen Aufschwung gaben. Diese Konjunkturerklärung, die in der Literatur viel Widerspruch erntete, war jedoch nicht das Entscheidende an Lederers Arbeit. Wichtiger war, dass er ein Schema entwickelte, an dem sich weitere konjunkturtheoretische Entwürfe orientieren konnten. Er beschrieb die Auf- und Abwärtsbewegung der Konjunktur als eine zyklische Entwicklung, die durch ein Strukturmerkmal der kapitalistischen Verkehrswirtschaft hervorgerufen wurde. Er verdeutlichte die einzelnen Phasen der Konjunktur anhand der Wechselwirkung von Kon 99 Löwe, Konjunkturtheorie, S. 165 ff. 100 Krengel, Wirtschaftsforschung. 101 Kulla, Anfänge, S. 136 ff. 102 Mises, Geldwertstabilisierung, S. 1. 103 Lederer, Konjunktur.

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sum- und Produktionsgütersektor, was in vielen späteren Entwürfen wiederholt werden sollte. In knapper Form wurde zudem ins Gedächtnis gerufen, was Schumpeter bereits ein Jahrzehnt früher geschrieben hatte, dass die Depression nur Teil eines größeren Vorgangs war und mit einer Hochkonjunktur ihren Abschluss fand. Die Krisentheorie konnte nur Teil  einer umfassenden Konjunkturtheorie sein. Schließlich berücksichtigte Lederer ebenfalls die Bedeutung monetärer Faktoren, deren Auswirkungen auf das Wirtschaftsleben durch die Inflation noch klar vor Augen standen. Das war alles für sich vielleicht nicht übermäßig originell, auf den Einfluss monetärer Faktoren hatten in Deutschland z. B. schon Schumpeter, Hahn und Cassel hingewiesen104, aber ein Schema, das Orientierung ermöglichte. Die anderen beiden Texte stammten aus der Feder Adolf Löwes. Dieser veröffentlichte zunächst 1925 in der Festschrift zu Brentanos 80. Geburtstag einen Überblick über den Stand der theoretischen Konjunkturforschung.105 Das Verdienst dieses Textes lag zum einen darin, dass er eine konzise Zusammenfassung dessen gab, was an konjunkturtheoretischer Forschung bereits existierte, wobei Löwe diesem Feld auch zahlreiche Wissenschaftler zuordnete, die bislang kaum als Konjunkturtheoretiker wahrgenommen worden waren. Zudem machte Löwe auch die internationale Forschung zugänglich, indem er zumindest deren wichtigste Ergebnisse knapp zusammenfasste.106 Davon war die deutsche Nationalökonomie bislang weitgehend abgeschnitten, weil viele ausländische Werke während des Weltkrieges und der Inflation kaum zu bekommen waren.107 Hinzu kam, dass die meisten deutschen Nationalökonomen äußerst schlecht oder gar kein Englisch sprachen.108 Noch stärker beeinflusste Löwe die Diskussion jedoch durch seinen 1926 im »Weltwirtschaftlichen Archiv« veröffentlichen Aufsatz Wie ist Konjunkturthe­ orie überhaupt möglich?, der ihn zum »Spiritus rector der konjunkturtheoretischen Diskussion in Deutschland« machte.109 Tiefgehender und gedanklich strenger als Röpke in seinem Frühwerk arbeitete Löwe heraus, welche Kriterien eine Konjunkturtheorie erfüllen musste, die den Anspruch auf logische Geschlossenheit erheben wollte. Gleich zu Anfang stellte er fest, der Konjunkturtheoretiker könne heute nicht mehr in den Abstraktionen der alten Krisentheorien denken: »Die realistischen Erkenntnisse des letzten Menschenalters haben ihn die Einsicht in komplizierte Phasenzusammenhänge gelehrt, die mit dem 104 Hahn, Volkswirtschaftliche Theorie. Cassel, Theoretische Sozialökonomie, S. 570 ff. 105 Löwe, Stand. 106 Lowe [Löwe], Rückblick, S. 94. 107 Schreiben Arthur Spiethoff an Wesley C. Mitchell (10.7.1928). UB Basel, Handschriften­ abteilung. Nl Spiethoff, A 390. 108 Die Sprache wurde nur sporadisch in der Schule unterrichtet und spielte (im Gegensatz zu heute) auch im Alltag eine sehr geringe Rolle. Ein in der angelsächsischen Forschung bewanderter und hervorragend Englisch sprechender Ökonom wie Joseph Schumpeter war darum eine absolute Ausnahme. McCraw, S. 81. 109 Krohn, Ökonom, S. 35.

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Gegensatz von Hausse und Baisse nicht zu erschöpfen sind.«110 Die empirische Konjunkturforschung hatte also ein Problem aufgeworfen, das sie selbst nicht lösen konnte. Nach Löwes Meinung war das eine genuine Aufgabe der ökonomischen Theorie, wobei er jedoch zugab, dass letztere noch nicht zu einem befriedigendem Maß an systematischer Eindeutigkeit vorgedrungen war, um über die Verlaufsform des Zyklus bereits valide Aussagen treffen zu können.111 Löwes Plan war, eine »axiomatische« Untersuchung vorzunehmen, welche die formalen Bedingungen des Konjunkturproblems und seiner Lösung klären sollte. Den Maßstab dafür sollte der Einklang der Konjunkturtheorie mit dem theoretischen Gesamtsystem bilden, d. h. inwiefern die Konjunkturbewegung einwandfrei aus der Logik des zugrundegelegten Systems der ökonomischen Theorie abgeleitet werden konnte. Nach Löwe stand dabei für die ökonomische Theorie einiges auf dem Spiel: »Gelingt es nicht, eine systemgemäße Konjunkturtheorie aufzubauen, so treibt die ›allgemeine Überproduktion‹ nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Wirtschaftstheorie in die Krise.«112 Er stellte zunächst fest, dass innerhalb des statischen Zirkulationssystems das Konjunkturproblem nicht ohne weiteres gelöst werden konnte. Nach dessen Logik musste nämlich die Veränderung einer Größe, des Zinssatzes z. B., eine spontane Anpassung aller anderen Größen hervorrufen, die teilweise in die entgegengesetzte Richtung zeigten, als in der Auf- und Abschwungbewegung der Wirklichkeit zu beobachten. Für Löwe war es deswegen eindeutig, dass der theoretische Ort für die Konjunkturlehren »nicht die Nomologik der Systembildung, sondern die Ontologik der Systemfolgerungen« sein müsse.113 Im Klartext hieß das: Gegenstand der Konjunkturtheorie waren all jene in der Wirtschaft zu beobachtenden Erscheinungen, die mit der herkömmlichen Kreislauftheorie nicht erklärt werden konnten. Anschließend untersuchte Löwe verschiedene Möglichkeiten, durch zusätzliche Annahmen dem Problem doch noch Herr zu werden, verwarf sie jedoch alle: etwa die Logik des »Zirkelschlusses«, die Aufschwung und Abschwung auseinander ableitete, ohne den strukturellen Grund anzugeben, warum es überhaupt zu dieser Bewegung kam; genauso auch die Methode der Generalisierung, die aus einer partiellen Systemveränderung eine Gesamtbewegung der Volkswirtschaft entstehen ließ, ohne erklären zu können, wie das eigentlich funktionieren sollte.114 Nach Löwe waren alle Lösungsversuche des Konjunkturproblems innerhalb der Statik zum Scheitern verurteilt. Keine der von ihm untersuchten Theorien genügte den Bedingungen eines geschlossenen, interdependenten Systems. Seine Schlussfolgerung lautete deshalb knapp: »Wer das Konjunkturproblem lö-

110 Löwe, Konjunkturtheorie, S. 165. 111 Ebd., S. 168. 112 Ebd., S. 175. 113 Ebd., S. 174. 114 Ebd., S. 176 ff. Vgl. Marschak, Wirtschaftsrechnung, S. 514 f.

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sen will, muss das statische System opfern.«115 Was aber sollte an seine Stelle treten? Die Lösung konnte für Löwe nur in einem dynamischen System liegen, in welchem die Konjunkturtheorie nicht länger als Appendix einer allgemeinen Theorie, sondern als Rahmen eines logisch geschlossenen Gesamtsystems fungierte. Dieses System musste in der Lage sein, die Bewegungsform der kapitalistischen Verkehrswirtschaft abzubilden und zu erklären. Darin manifestierte sich sein besonderer Realismus, der zugleich die ökonomische Theorie aus der Krise rettete, in die sie das Beharren auf dem statischen System Löwes Meinung nach geführt hatte.116 Löwe brachte in seinem Aufsatz die Sprengkraft des Konjunkturproblems für die nationalökonomische Theorie auf den Punkt. Zugleich erhob er die Forderung nach einer Neufundierung der ökonomischen Theorie, die an die Situation während und nach dem Ersten Weltkrieg erinnerte. Löwe formulierte im Grunde genauso die Notwendigkeit eines »neuen Systems«, womit er sich mit Lederer einig war, der in einem fast zeitgleich erschienenen Aufsatz im Archiv für Sozialwissenschaft eine nahezu gleichlautende Forderung erhob.117 In der Folgezeit war es ein zentraler Punkt der konjunkturtheoretischen Debatte, ob es dieser Neufundierung der ökonomischen Theorie wirklich bedurfte oder ob sich das Konjunkturproblem nicht doch innerhalb der Statik lösen ließ. 6.2.2 Methodologische Probleme der Konjunkturtheorie Wie Konjunkturtheorie überhaupt möglich war, blieb die entscheidende Frage, mit der sich die Nationalökonomie in der Weimarer Republik auseinandersetzen musste. Diese Debatte kulminierte schließlich auf der Tagung des Vereins für Sozialpolitik 1928 in Zürich, wo im Theoretischen Ausschuss die Meinungen der Kontrahenten direkt aufeinander prallten. Nirgendwo sonst wurde die Vielfältigkeit der konjunkturtheoretischen Diskussion während der Weimarer Republik so offensichtlich wie hier, und nirgendwo sonst wurde so klar, dass die entscheidenden Fragen dieser Diskussion methodologische waren.118 Im Folgenden soll ein Überblick über diese Diskussionen anhand der Gegensatzpaare Theorie/Empirie, Statik/Dynamik sowie monetärer/nicht-monetärer Faktoren gegeben werden, um damit dem Problem näher zu kommen, in welcher theoretischen Form das Konjunkturproblem bis zur Weltwirtschaftskrise verhandelt wurde.

115 Löwe, Konjunkturtheorie, S. 193. 116 Ebd., S. 195. 117 Lederer, Zirkulationsprozeß, S. 3, 24 f. 118 Wobei die Konjunkturforschung auch als »junger Zweig der Wirtschaftswissenschaft« diskreditiert wurde. N. N., Konjunkturorakel, S. 1150.

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a) Theorie und Empirie Den Zeitgenossen erschien es als ein kompliziertes Problem, die vielen verschiedenen Konjunkturtheorien zu klassifizieren.119 Üblicherweise differenzierte man einmal zwischen Überproduktions- und Unterkonsumptionstheorien, je nachdem, ob das Phänomen der allgemeinen Überproduktion am Ende des Aufschwungs auf strukturelle Probleme der Produktion oder auf eine Nachfrageschwäche zurückgeführt wurde. Daneben ordnete man zumeist auch noch die Theorien einer eigenen Kategorie zu, welche die Ursache des Zyklus hauptsächlich in monetären Einflüssen erblickten.120 Lutz unternahm 1932 indes eine andere Einteilung, indem er zwischen empirischen, rein-deduktiven und den sog. »Misch«-Theorien unterschied.121 Das von ihm benutzte Klassifikationsmerkmal war also, wie sich die verschiedenen Theorien zu den Ergebnissen der statistischen Konjunkturforschung verhielten. Hauptvertreter der sog. empirischen Theorien war der Leiter des Berliner Instituts für Konjunkturforschung, Ernst Wagemann. Dieser glaubte nicht nur an den Erklärungswert statistischer Erkenntnisse, sondern hielt darüber hinaus eine Konjunkturtheorie, die auf einem bestimmten Set theoretischer Annahmen beruhte, für unmöglich.122 In der Nationalökonomie hatte er jedoch nur wenige Mitstreiter, wobei Wagemann zu dem Fach ohnehin ein gespanntes Verhältnis hatte und sich mehr den Naturwissenschaften verpflichtet fühlte.123 Mit »Mischtheorien« wiederum bezeichnete Lutz Konjunkturtheorien, deren Ziel weniger die logische Geschlossenheit der theoretischen Erklärung war, sondern die in erster Linie danach strebten, die theoretische Erklärung dem empirischen Verlauf des Zyklus nachzubilden.124 Cassel entwickelte seine Konjunkturerklärung in enger Anlehnung an die historische Entwicklung der Goldproduktion. In Deutschland wurde der »mischtheoretische« Ansatz vor allem von Spiethoff und seinen Schülern125 sowie von Ökonomen im Umkreis Adolf Webers vertreten.126 Schumpeter, der wohl seit den 1920er Jahren ebenfalls als »Mischtheoretiker« bezeichnet werden kann127, fand, wie so oft, für dieses Verhältnis von Theorie und Empirie ein schönes Bild, wenn er die ökonomische Theorie als eine Zange beschrieb, um die empirische Wirklichkeit

119 Hansen, Business-cycle theory, S. 1 ff. 120 Stavenhagen, Geschichte, S. 558 ff. 121 Lutz, Konjunkturproblem. 122 Wagemann, Konjunkturlehre, S. 15 ff. Kulla, Anfänge, S. 45 f. 123 Tooze, Statistics, S. 32. Ähnlich wie Wagemann argumentierte Wolff, Lehrbuch. 124 Lutz, Konjunkturproblem, S. 26 ff. 125 Z. B. Gottschalk, Kaufkraftlehre. Zur Kritik Spiethoffs an Wagemann: Kulla, Anfänge, S. 128. 126 Carell, Konjunktur. 127 Sein Werk Business Cycles trug den Untertitel: »A theoretical, historical and statistical analysis of the capitalist process.«

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zu greifen.128 Schumpeter war es auch, der Spiethoff die Mitgliedschaft in der Ende 1930 gegründeten »Econometric Society« vermittelte129, deren Zielsetzung in der Überwindung des Gegensatzes zwischen Wirtschaftstheorie und Statistik bestand.130 Ebenfalls zu den »Mischtheorien« zu rechnen waren die Bestrebungen aus den Reihen der Betriebswirtschaftslehre, die wie der Frankfurter Fritz Schmidt die Forderung nach unternehmensbezogenen Konjunkturstudien erhoben. Damit verfolgten sie allerdings höchstens am Rande die Absicht, eine »allgemeine« Konjunkturtheorie zu entwickeln. Vielmehr wollten sie individuell angepasste Handlungskonzepte für die Unternehmensleitung ausarbeiten.131 Die Vertreter der rein deduktiven Konjunkturtheorie, wie Lutz sie nannte, bestritten schließlich überhaupt den Anspruch der Empirie, zur Entwicklung einer Konjunkturtheorie etwas beitragen zu können. Löwe meinte, die Empirie könne logische Schlüsse weder erhärten noch erschüttern. Ihm war bewusst, dass die »realistische« Richtung der Konjunkturforschung vor das Komplexitätsproblem gestellt war, das etwa in Max Webers Schlüsseltexten zur Wissenschaftstheorie deutlich formuliert wurde: Die empirische Wirklichkeit war die sinnlose Unendlichkeit der Phänomene, in die der Forscher erst durch seine Begriffsbildung Ordnung hinein brachte.132 Eine sinnvoll auswählende Beschreibung der »chaotischen Gemengen der Empirie« setzte darum eine bewusste oder unbewusste theoretische Vorentscheidung bereits voraus. Für Löwe ließ sich deswegen der Anspruch, den Konjunkturzyklus mittels statistischer Kor­ relationen erklären zu können, höchstens bei großer erkenntnistheoretischer Naivität aufrecht erhalten. Bezüglich dieser Skepsis gegenüber der Empirie war sich Löwe mit Mises und Hayek einig. Für Mises war nirgendwo in der Nationalökonomie »der Wahn, die Theorie müsse sich aus den Ergebnissen unvoreingenommener Tatsachenforschung herausdestillieren lassen«, mehr zu Hause als im Bereich der Konjunkturlehre.133 Dabei sei es auf keinem anderen Gebiet so klar wie hier, dass es ein Erfassen von Tatsachen ohne Theorie nicht geben könne: »Weder die Verknüpfung von Hausse und Baisse noch der zyklische Wechsel der Konjunktur sind Tatsachen, die wir unabhängig von der Theorie festzustellen vermögen. Erst die Konjunkturtheorie lässt uns in der wirren Fülle von Geschehnissen den Wellenzug der Konjunktur erahnen.«134 Hayek formulierte den Sachverhalt noch radikaler: Keine statistische Forschung sei in der Lage, eine Konjunkturtheorie zu bestätigen oder zu widerlegen. Falsch konnte sie nur aufgrund eines lo128 Schumpeter, Kapital, S. 187. 129 Vgl. Schreiben Charles F. Ross an Arthur Spiethoff (Dez. 1931). UB Basel, Handschriftenabteilung. Nl Spiethoff, A 126,1. 130 Zur Econometric Society s. Beaud u. Dostaler, S. 64 ff. 131 Schmidt, Industriekonjunktur. Schohl, S. 43. 132 Weber, »Objektivität«, S. 184. 133 Mises, Geldwertstabilisierung, S. 39 134 Ebd., S. 43.

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gischen Fehlers sein. Wenn sie aber logisch unanfechtbar war und dazu führte, die tatsächlich gegebenen Erscheinungen als notwendige Folge der allgemeinen Bedingungen wirtschaftlicher Tätigkeit zu erklären, konnte die statistische Untersuchung nur zeigen, dass noch andere Vorgänge in das Erscheinungsbild der Wirklichkeit mit hinein spielten. Niemals war statistisch zu beweisen, dass ein Zusammenhang anders sei, als von der Theorie behauptet.135 Im Grunde war das Verhältnis der deduktiven Konjunkturtheorie zur Empirie widersprüchlich: Auf der einen Seite hatte zu einem gewichtigen Teil erst die Konjunkturstatistik das Konjunkturproblem aufgeworfen136 und die Nationalökonomie gewissermaßen dazu genötigt, sich mit ihm zu beschäftigen. Auf der anderen Seite durfte die Empirie für die ökonomische Theorie aber höchstens eine Kontrollfunktion übernehmen. Auf der einen Seite erhob die Konjunkturtheorie den Anspruch, die kapitalistische Normalentwicklung »realistisch« zu beschreiben; auf der anderen Seite musste sie gerade zu diesem Zweck von den in der Wirklichkeit stattfindenden Vorgängen abstrahieren. Die daraus entstehende Spannung wurde mit Argumenten abzumildern versucht, welche die Position der Konjunkturtheorie zunächst einmal schwächen mussten. Löwe gestand ein, dass die Konjunkturtheorie noch nicht so weit sei, empirisch überprüfbare Hypothesen aufzustellen.137 Hier hatte sie es mit der Konjunkturstatistik aber mit einem selbstbewussten »Gegner« zu tun. Nicht nur erhob die empirische Konjunkturforschung den Anspruch, den Verlauf der Konjunktur adäquat beschreiben zu können, sondern traute sich in einem gewissen Zeithorizont sogar Prognosen über die gesamtwirtschaftliche Entwicklung zu.138 Die Theoretiker bestritten einen solchen Anspruch, konnten den anfänglichen Erfolgen der empirischen Konjunkturforschung auch nichts Vergleichbares entgegenstellen. Theorie und Empirie blieben in der Konjunkturforschung spannungsreich aufeinander bezogen, irritierten sich dabei jedoch eher wechselseitig. Die empirische Forschung hatte die zur Verfügung stehende Datenmenge drastisch erhöht und damit die Vielschichtigkeit konjunktureller Abläufe transparent gemacht, legte jedoch mehr Wert auf statistische Korrelationen als auf die Entwicklung einer geschlossenen, endogenen Theorie. Die Theorie wiederum vermeinte die Kategorien vorzugeben, mit denen die empirische Wirklichkeit geordnet werden konnte. Dabei neigte sie dazu, der statistischen Konjunkturforschung den Status einer Hilfswissenschaft zuzuweisen, indem sie Theorien bestenfalls verifizieren oder falsifizieren konnte. Einen selbständigen theoretischen Beitrag leistete sie nicht. Insgesamt war es die Mehrheitsmeinung in der ökonomischen Theorie, dass Konjunkturproblem könne nur im Rahmen einer 135 Hayek, Geldtheorie, S. 5; die Ansicht ging allerdings selbst Haberler zu weit. Haberler, Beitrag, S. 103. S.a. Peter, Grenzen, S. 43 f. 136 Hayek, Geldtheorie, S. 19. 137 Löwe, Konjunkturtheorie, S. 168. 138 Wie z. B. das »Harvard-Barometer«. Vgl. Altschul, »Harvard«-Barometer, S. 52, 109.

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geschlossenen Theorie des Wirtschaftskreislaufes oder des Wirtschaftszyklus gelöst werden. Aus Sicht der Theorie hatte die Empirie also wenig zur Lösung des Konjunkturproblems beizutragen. Das manifestierte sich insbesondere darin, dass die Beziehungen zwischen Konjunkturtheoretikern und Konjunkturstatistikern in Deutschland loser waren als beispielsweise in England oder den USA. Am Harvard-Barometer waren zahlreiche renommierte Nationalökonomen beteiligt. Im Falle des englischen Wirtschaftsdienstes hatten sich sogar Ökonomen der konkurrierenden London School of Economics und der Wirtschaftsfakultät in Cambridge zusammengeschlossen.139 In Deutschland hingegen gab es keine vergleichbare Zusammenarbeit, was jedoch auch damit zu tun hatte, dass das Institut für Konjunkturforschung mit Wagemann einen profilierten Präsidenten besaß, der von den Nationalökonomen nicht viel hielt und sich in seine Arbeit auch nicht hineinreden lassen wollte. b) Statische vs. dynamische Theorie Wollte die ökonomische Theorie das Konjunkturphänomen erklären, musste sie sowohl die Parallelentwicklung von Preisen, Zinsen und Löhnen im Aufschwung oder Abschwung begreiflich machen, als auch die Frage beantworten, wie sich Aufschwung und Abschwung logisch auseinander entwickelten. Die ökonomische Statik erklärte jedoch in erster Linie die Tendenz der ökonomischen Größen hin zum ruhenden Gleichgewicht, also einem Zustand, in dem die Produktionsfaktoren optimal beschäftigt und die Märkte geräumt waren.140 Darum war die Erklärung der Abweichung von einem existierenden Gleichgewicht ein großes Problem, das über den Erklärungswert statischer Theoriebildung und das Konzept des ökonomischen Gleichgewichts überhaupt entschied. Eine weitere Schwierigkeit, welche die statische Theorie zu lösen hatte, war das Problem der Zeit: Normalerweise reagierten in der Neoklassik die ökonomischen Größen absolut elastisch und in zeitlich gleicher Weise aufeinander, also im Prinzip ganz ohne Zeitverlust. Wenn der amerikanische Ökonom Irving Fisher die Konjunktur jedoch aus einem Hinterherhinken des Zinses gegenüber den Preisen erklärte, hieß das, dass sich bestimmte ökonomische Größen spontan anpassten, andere hingegen erst mit zeitlicher Verzögerung.141 Innerhalb eines streng aufgefassten, statischen Systems war das eigentlich nicht möglich. Worin bestand aber die Dramatik der Löweschen Forderung, das statische System zu opfern, und warum konnte es Mises 1933 als »Triumph« verkünden, das Konjunkturproblem innerhalb der ökonomischen Statik doch noch gelöst zu haben?142 In Mises’ Fall erscheint relativ klar, was auf dem Spiel stand. 139 Singer, Bemerkungen, S. 879. 140 Zu den teilweise unterschiedlichen Begriffen des ökonomischen Gleichgewichts vgl. Kurz, Störungen. 141 Fisher, Kaufkraft. 142 Mises, Grundprobleme, S. 198.

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Wie im Methodenkapitel dieser Arbeit ausgeführt, war für ihn die ökonomische Theorie nicht einfach ein System heuristischer Fiktionen, sondern eine Beschreibung der Realität und die Unhintergehbarkeit der ökonomischen Gesetze ein entscheidendes Moment dieser Weltbeschreibung. Zuzugeben, dass das statische System das Konjunkturproblem nicht lösen konnte, hieß darum, seinen Universalitätscharakter zu negieren und damit den Überlegenheits­anspruch der Österreichischen Schule aufzugeben. Denn deren Vertreter waren es, die als die mit Abstand entschiedensten Verfechter der ökonomischen Statik in den Ring traten. Wie aber sah die Lösung aus, die innerhalb des statischen Systems für die oben umrissene Problematik gefunden wurde? Der »rettende« theoretische Ausweg wurde mittels des Rückgriffs auf die von Wicksell ausgearbeitete Unterscheidung von natürlichem Zins und Geldzins entwickelt. Mises und Hayek gingen davon aus, dass die Ursache des Aufschwungs darin lag, dass der Geldzins von den Banken unter dem natürlichen Zinssatz angesetzt wurde. Das hatte aus dem Grund gravierende Konsequenzen, weil über den Zinssatz die Gewinnerwartungen der Produzenten reguliert wurden. Ein zu niedriger Zins bedeutete, dass die Produzenten ihre Gewinnerwartungen höher ansetzten, als es den realen Aussichten entsprach. Unter diesen Bedingungen wurden Unternehmungen rentabel, die es unter natürlichen Bedingungen nicht waren, und es wurden längere Produktionsumwege eingeschlagen, als bei einem »natürlichen« höheren Zinssatz der Fall.143 Wesentlich war nach Mises nun, dass diese längeren Produktionsumwege Zeit beanspruchten, bevor sie sich rentierten, und dass die Produzenten darauf angewiesen waren, während dieser Zeit die von ihnen beschäftigten Arbeiter zu unterhalten. Aufgrund der fortgesetzten Preissteigerung während des Aufschwungs, deren Ursache in der mit dem zu niedrigen Zins einhergehenden Vermehrung der Umlaufsmittel (Geld und Bankzahlungsmittel) bestand, funktionierte das am Ende des Aufschwungs jedoch nicht mehr, wenn die Banken ihr Verhalten änderten und die Kreditvergabe einschränkten.144 In diesem Moment zeigte sich, dass Anlagen errichtet worden waren, die über die Mittel der Volkswirtschaft hinausgingen, und die Depression als Phase einer schmerzhaften Anpassung setzte ein.145 Hayek argumentierte etwas anders als Mises, dessen Konjunkturerklärung in starker Weise durch die Inflationserfahrung geprägt war: Durch den niedrigen Geldzins wurde nach Hayek eine starke Nachfrage nach Rohstoffen und Produktionsmitteln geschaffen, was zum Abzug von Ressourcen aus der Konsumgüterproduktion führte. Deshalb konnten die Konsumenten diese Güter nicht mehr in dem Maße erwerben, wie sie wollten, und wurden auf diese Weise 143 Das theoretische Instrument des Produktionsumwegs war hauptsächlich von Böhm-­ Bawerk entwickelt worden, der davon ausging, dass mit höherem Kapitaleinsatz der Produktionsprozess ergiebiger wurde, sich aber auch zeitlich verlängerte. 144 Ebd., S. 51. 145 Ebd., S. 49.

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zu »erzwungenem Sparen« genötigt. Aus der Knappheit des Angebots resultierte jedoch eine Preissteigerung der Konsumgüter bis zu dem Punkt, an dem für die Produzenten die Konsumgüterproduktion rentabler wurde als die geplante Produktion von Produktionsgütern. Die Folge war, dass eingeschlagene Produktionsumwege abgebrochen wurden und die getätigten hochspezifischen Investitionen verloren gingen. Daraus resultierte eine Depression, die solange dauerte, bis ein neuer Gleichgewichtszustand erreicht wurde.146 Mises und Hayek beschrieben keine notwendige zyklische Bewegung der Volkswirtschaft, sondern erklärten den Aufschwung als Fehlentwicklung und den Abschwung als deren Korrektur, wobei die in der Depression notwendigen Abschreibungen hochspezifischer Investitionen einen riesigen volkswirtschaftlichen Verlust mit sich brachten.147 Hayek sprach deswegen konsequenterweise von einem Kredit-, statt von einem Konjunkturzyklus.148 Die entscheidende Frage war jedoch, wie der zu niedrige Geldzins eigentlich zustande kam, der die Störung des Gleichgewichts auslöste. Die unterschiedlichen Begründungen, die Mises und Hayek an dieser Stelle gaben, waren bezeichnend für den Stil ihrer wissenschaftlichen Argumentationsweise: Mises bestritt zunächst jeder anderen Konjunkturtheorie als der monetären ihre Berechtigung, weil sie die Abweichungen vom Gleichgewicht nicht erklären könnte und einer theoretischen Überprüfung nicht standhielt. Sie würden deshalb ihr Dasein nur noch »außerhalb der Wissenschaft« fristen.149 Während Wicksell die Ursache des zu niedrigen Geldzinses vor allem darin vermutet hatte, dass sich aufgrund technischen Fortschritts der Kapitalbedarf der Wirtschaft verringerte und der natürliche Zins erhöhte, was die Banken jedoch nicht unbedingt mitbekamen und das alte Zinsniveau deshalb aufrecht hielten150, ging Mises auf dieses Argument gar nicht erst ein, weil er den technischen Fortschritt als ökonomisches Argument generell nicht anerkannte. Der zu niedrige Geldzins resultierte für ihn prinzipiell aus einem ideologischen Verhalten der Banken, die in einem niedrigen Zins ein geeignetes Mittel der Wirtschaftspolitik erblickten. Auf Dauer gestellt wurde das ab dem Zeitpunkt, an dem privilegierte Notenbanken den Diskontsatz bestimmten.151 Hayeks Begründung war differenzierter und nahm die von Löwe formulierte Problemstellung ernst.152 Zunächst behauptete er, Löwes Argumentationsgang gewissermaßen spiegelnd, dass die vorhandenen Konjunkturtheorien den »Nor­

146 Hayek, Preise, S. 53 ff. Interessanterweise findet sich Hayeks Erklärung 1929 bereits schematisch auf einer halben Seite dargestellt (ohne nähere Ausführung als Kritik an Mises) in der Dissertation der jungen Ökonomin Marie Hirsch: Hirsch, Konjunkturzyklus, S. 47. 147 Vgl. Coenen, Konjunkturforschung, S. 76 ff. 148 Krohn, Wirtschaftstheorien, S. 107. 149 Mises, Geldwertstabilisierung, S. 42. 150 Wicksell, Geldzins, S. 130. 151 Mises, Geldwertstabilisierung, S. 58 ff. 152 Hagemann, Geld.

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mal­ablauf«153 der Wirtschaft, wie ihn die Statik ableitete, in Wirklichkeit gar nicht aufzulösen versuchten. Aus Sicht der Statik mussten z. B. alle Überproduktionstheorien an der Voraussetzung scheitern, dass durch den Zinssatz eine übergebührliche Ausweitung der Produktionskapazitäten verhindert wurde. Wenn der Zinssatz das nicht leistete, konnte die Erklärung nach Hayek nur eine monetäre sein.154 Die Schlussfolgerung, dass das Problem in den strengen Grenzen der Statik nicht zu lösen war, was Hayek sogar zugab, durfte also nicht dazu führen, das System der Statik ganz aufzugeben. Vielmehr musste sorgfältig nach einer Lösung gesucht werden, und die konnte für Hayek nur in einem monetären Faktor zu suchen sein. Für ihn ergab sich der zu niedrige Marktzins aus einer Eigenschaft der modernen Geldwirtschaft und des Bankensystems. Ein von einer Bank gegebener Kredit konnte dazu verwendet werden, Rohstoffe oder Produktionsgüter zu bezahlen. Der Verkäufer wiederum zahlte den Betrag per Scheck bei seiner Bank ein, wodurch sich deren Kreditspielraum ver­größerte. Dieser Effekt multiplizierte sich im Bankensystem, so dass eine gigantische Kreditvermehrung stattfand.155 Diese konnte jedoch zunächst unbemerkt bleiben, weil sich aufgrund der mit ihr einhergehenden Produktionssteigerung das Preisniveau nicht unbedingt erhöhte. Das waren die strukturellen Gründe für die Spanne zwischen Geldzins und natürlichem Zins. Hayek gab damit eine im Rahmen des statischen Systems elegante Antwort auf die Löwesche Herausforderung, indem er nachzuweisen versuchte, dass das Konjunkturproblem innerhalb der Statik doch lösbar war, ohne auf einen exogenen Faktor wie das ideologische Verhalten der Notenbank zurückgreifen zu müssen.156 Die berechtigte Frage, warum die Banken einen einmal gemachten Fehler noch einmal begangen, fand eine strukturelle Erklärung, ohne dass der universelle Charakter der ökonomischen Statik aufgegeben oder ein Einfluss der gesellschaftlichen Organisation der Wirtschaft auf das theoretische System zugegeben werden musste. Denn eigentlich handelte es sich beim Kreditmechanismus der modernen Geldwirtschaft ja nur um ein Detail, das nach Hayek dennoch große Wirkungen entfaltete. Es konnte seiner Meinung nach begründen, warum erst seit der Industrialisierung periodische Wirtschaftsschwankungen zu beobachten waren. Eigentlich galt dies als schlagendes Argument dafür, dass die kapitalistische Organisation des Wirtschaftslebens die zyklische Bewegungsform der Wirtschaft erst hervorgebracht hatte und letztere darum nur aus ihr erklärt werden konnte.157 Die extremen methodischen Schwierigkeiten, vor die das Konjunkturproblem die statische Theorie stellte, fanden bei Hayek – im Rahmen seines Sys153 Hayek, Geldtheorie, S. 19. 154 Ebd., S. 46. 155 Ebd., S. 88 ff. 156 Ebd., S. 80. Zur Kritik an Mises s. Landauer, Bankfreiheit?, S. 1670–1673. 157 Werner Sombart bezeichnete die Konjunktur signifikant als den »Atem des Ungeheuers«. Sombart, Hochkapitalismus, S. 564.

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tems – eine befriedigende Lösung. Als er jedoch 1931 an die London School of Economics wechselte, traf er dort mit seinem theoretischen Ansatz auf massiven Widerspruch.158 Zumindest erfuhr er drastische Kritik von Piero Sraffa und anderen Ökonomen aus dem Umfeld von Keynes, die teilweise darauf beruhte, dass in der englischen Nationalökonomie die Arbeiten Wicksells und BöhmBawerks nur eine relativ geringe Rolle spielten.159 Der hauptsächliche Grund bestand allerdings darin, dass Hayeks Überlegungen angesichts der Probleme der Depression kaum als adäquat erschienen.160 Wie sah es indes mit der Alternative zur ökonomischen Statik aus? Schumpeters Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung konnte gewissermaßen als Ausgangspunkt für eine alternative Form der Theoriebildung gesehen werden, die nun attraktiv wurde, nämlich die Entwicklung einer dynamischen Theorie. Die Frage war jedoch zunächst, was »Dynamik« überhaupt bedeuten sollte. Schumpeter selbst definierte diesen Begriff nicht explizit und schrieb in der ersten Auflage der Theorie der Wirtschaftlichen Entwicklung, es existiere kein essentieller Gegensatz von Statik und Dynamik. Die Dynamik beschreibe jedoch keine Entwicklung hin zum Gleichgewichtszustand, sondern dessen Störung. Diese war so fundamental, dass ein bestehender Gleichgewichtszustand verlassen wurde und sich anschließend keine sofortige Tendenz zur Wiederherstellung eines neuen Gleichgewichtszustands durchsetzen konnte. Der Au­slöser dieser Entwicklung lag jedoch weder in der Umwelt der Wirtschaft noch entstammte er »organisch« der Wirtschaft selbst.161 Vielmehr bestand er nach Schumpeter im Auftreten dynamischer Unternehmer, die neue Kombinationen von Pro­ duktionsfaktoren durchsetzten und deren Handeln er in Abgrenzung zur Rationalität des statischen Wirtschaftsmenschen modellierte. Löwes Überlegungen zufolge war eine dynamische Theorie durch die Prämisse gekennzeichnet, dass die Wirtschaft aus sich selbst heraus fortdauernde Änderungen der Ausgangsdatenkonstellation im Gleichgewicht produzierte. Im Gegensatz zu Schumpeter ging Löwe davon aus, dass die Ursache des Konjunkturzyklus in der Struktur der kapitalistischen Wirtschaft angelegt war. Es musste in der Volkswirtschaft also ein Moment geben, das bedingte, dass sie nie wirklich zur Ruhe kam. Erst wenn dieses Moment sicher identifiziert und in ein geschlossenes dynamisches System integriert war, ließ sich die Theoriekrise nach Löwe als überwunden betrachten.162 Hier fingen die Schwierigkeiten an, und es war eines der entscheidenden Probleme, um die die konjunkturtheoretische Diskussion kreiste, worin dieses 158 Vgl. die Beschreibung von Hayeks Auftritt bei Robinson, Krise, S. 39. 159 Kurz, Störungen, S. 92 ff. Die London School of Economics war, im Gegensatz zu Cambridge, stark durch die Österreichische Schule geprägt. Robbins, Depression, S. 39 ff. 160 Hayek sah seine Vorlesungen später als einen Meilenstein seiner Karriere an. Hennecke, Hayek, S. 93 f. Schumpeter, History, S. 1120. 161 Schumpeter, Entwicklung (Nachdruck der 1. Auflage 1912), S. 488 f. 162 Löwe, Konjunkturtheorie, S. 192 ff.

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endogene dynamische Moment bestehen könnte und wie es die Regelmäßigkeit der Zyklen begründete. Was noch mehr oder weniger plausibel dargelegt werden konnte, war die Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung an sich, wenn sie erst einmal in Gang gekommen war. Im Aufschwung konnte beispielsweise ein niedriger Zinssatz zu erhöhten Investitionen führen, aufgrund derer in den Produktionsgüterindustrien die Preise stiegen. Diese stellten zusätzliche Arbeitskräfte ein, wodurch sich die Lohnsumme erhöhte, was sich dann wiederum belebend auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage auswirkte usw. Hayek und Mises fanden diese Erklärungen allesamt nicht überzeugend, weil sie von einer sofortigen Anpassung des Systems an eine Störung ausgingen163, während die dynamischen Theorien ein initiales Moment als Ausgangspunkt einer Entwicklung verstanden, die eine sich selbst tragende Aufschwungbewegung hervorbrachte. Weil es darum ging, Auf- und Abschwung theoretisch zu modellieren, war die Konjunkturtheorie im Übrigen beständig dem Multiplikatorprinzip auf der Spur. Für die immanente Logik der theoretischen Konjunkturerklärungen war die Frage zentral, wie sich eine eigentlich geringfügige Datenveränderung »lawinenartig« durch die Volkswirtschaft ausbreiten und einen dynamischen Prozess in Gang bringen konnte.164 Zugleich bestand aber eben, wie beim wenig gefestigten Zustand der Konjunkturtheorie nicht anders zu erwarten, ein breites Spektrum an Meinungen über diese Ursache. Die oben skizzierten methodischen Gegensätze zeigten sich in zahlreichen verschiedenen Theorien, welche die Ursache für Überproduktion, Unterkonsumption oder monetäre Störungen in jeweils unterschiedlichen Momenten erblickten. Aber auch wenn die Vorstellung akzeptiert wurde, dass sich eine selbst­ tragende wirtschaftliche Entwicklung aus kleinen Anfängen entwickeln konnte, traten immer wieder Erklärungsschwierigkeiten auf. An Lederers Unterkonsumptionstheorie lässt sich das gut zeigen: Seiner Meinung nach begründeten unterschiedlichen Einkommenselastizitäten das Wechselspiel der Konjunktur und ließen ein dauerhaftes Gleichgewicht nicht zu. Es lag jedoch eigentlich nahe, dass der konjunkturelle Abschwung irgendwann temporär einen Gleichgewichtszustand durchlaufen haben musste, wenn die fixen Einkommen zuerst unter, am Ende des Abschwungs über dem Niveau der variablen Einkommen lagen. Warum setzte sich der Abschwung aber über diesen Punkt hinaus fort? Lederers Antwort lautete, dass in einer Volkswirtschaft antagonistische Kräfte wirkten: Auf der einen Seite gab es eine Entwicklungsdynamik, die sich im Prinzip immer weiter fortsetzte, wenn ihr nicht andere Kräfte entgegenwirkten.165 Diese antagonistischen Kräfte sah Lederer in den unterschiedlichen Einkommenselastizitäten begründet. Das hieß aber, dass der Abschwung über den Punkt hinausging, an dem sich diese Kräfte ausglichen. Denn wenn der Ab163 Hayek, Geldtheorie, S. 27 ff. 164 Carell, Konjunktur, S. 53–58. 165 Im Grunde hätte man nach Lederer nur die Einkommen in der Hausse elastischer gestalten müssen, um einen immerwährenden Aufschwung zu gewährleisten.

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schwung an dem Punkt stoppte, wo dieser Ausgleich stattfand, wie sollte dann ein neuer Aufschwung entstehen? Das war nur zu erklären, wenn die wirtschaftliche Entwicklung noch so viel »Schwung« hatte, dass sie über einen Kräftegleichgewicht hinaus den Abschwung fortsetzte, was dann in der Vorstellung einer Art »Schaukelbewegung« mündete. Das war aber ein physikalisch schiefes Bild, weil es in der wirtschaftlichen Entwicklung keine »Schwerkraft« geben konnte, die bei einem Kräfteausgleich die Schaukel wieder in Gang gesetzt hätte. Man musste durchaus nicht Hayeks statisches Theoriekonzept teilen, um die Kritik berechtigt zu finden, dass Lederer an der Erklärung scheiterte, wie die Konjunkturbewegung überhaupt zustande kam.166 Eine überzeugendere Erklärung für Störungen des Gleichgewichts war der Hinweis auf den technischen Fortschritt. Diesen hatte schon Wicksell als einen wichtigen Grund dafür angeführt, warum der Geldzins unter den natürlichen Zins fallen konnte.167 Aber für die dynamische Theorie reichte das nicht aus: Der technische Fortschritt musste als endogener Faktor berücksichtigt werden und zugleich die Regelmäßigkeit des Zyklus begründen können, wie Schumpeter und Kondratieff das gefordert hatten. Schumpeter hatte das theoretisch durch die Einführung des dynamischen Unternehmers geleistet. Wenn diese Erklärung jedoch als unbefriedigend empfunden wurde, wie sollte es dann funktionieren? Löwe sah die Antwort in Rosa Luxemburgs Weiterentwicklung der Marxschen Krisenlehre, in der gegenüber Marx zusätzlich die Möglichkeit der imperialistischen Realisierung des Mehrwerts berücksichtigt wurde. Damit entstand die zyklische Bewegung der Volkswirtschaft aus der Struktur der marxistisch aufgefassten, kapitalistischen Wirtschaft. Dementsprechend stellte Löwe es in seinem Debattenbeitrag auf der Tagung des Vereins für Sozial­ politik 1928 für das Verständnis des Zyklus als entscheidend heraus, an welchem Stadium der Entwicklung des Kapitalismus sich die Wirtschaft momentan befände. Für Hayeks Auffassung einer reinen Theorie hingegen war das ohne Belang. Das Konzept einer dynamischen Theorie war zwar in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre attraktiv, stand jedoch noch ganz am Anfang und war mit gravierenden methodischen Schwierigkeiten belastet, die erst nach und nach ins Bewusstsein rückten.168 Diese Schwierigkeiten ergaben sich nicht zuletzt aus der Notwendigkeit, eine geschlossene Theorie formulieren zu müssen, welche die zyklische Dynamik theoretisch abbildete.169 Eine dynamische Theorie konnte sich im Gegensatz zur Statik nicht damit zufrieden geben, einfach die Wechselwirkungen von Löhnen, Preisen und Zinsen zu beschreiben und alles an166 Hayek, Geldtheorie, S. 69 f. 167 Wicksell, Geldzins, S. 130. 168 Vgl. auch den Einwand Jürgen Kromphardts, das Begriffspaar »statisch/dynamisch« sei deswegen unscharf geblieben, weil es sich nicht sauber vom Begriffspaar »stationär-evolutorisch« trennen ließ. Kromphardt, Beitrag, S. 271. 169 Löwe, Konjunkturtheorie, S. 192.

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dere als externe Faktoren in den Datenkranz zu verlegen und unter Ceteris paribus-­Bedingungen zu behandeln. Sie musste vielmehr mit der Änderung der »­externen« Faktoren, vor allem dem technischen Fortschritt und der sozialen Struktur der Wirtschaft rechnen, oder diese sogar als endogene Faktoren in das System hineinnehmen. Auf diese Weise musste die Theorie jedoch äußerst komplex werden und mehr Variablen als die Statik berücksichtigen. Dadurch wurde es zunehmend schwierig, eine Konjunkturtheorie logisch stringent zu entwickeln, zumal die Anforderung der strengen Zyklizität der Entwicklung die theoretische Aufgabe weiter verkomplizierte. Schumpeters dynamischer Unternehmer ließ sich zwar vielleicht als »Deus ex machina« kritisieren, eine plausiblere Erklärung hatte die Nationalökonomie jedoch nicht anzubieten. Insofern war das Projekt einer dynamischen Konjunkturtheorie in den 1920er Jahren vor allem ein Versprechen für die Zukunft. c) Monetäre vs. Nichtmonetäre Faktoren Ein wesentlicher Bestandteil der Konjunkturtheorien der 1920er Jahre war die Einbeziehung monetärer Faktoren. Diese hatten zwar bereits bei Schumpeter, Cassel und selbst bei Sombart eine wichtige Rolle gespielt, sie dienten jedoch bei den beiden vorstehend genannten Ökonomen vor allem dazu, die Dynamik des Konjunkturverlaufs zu erklären; sie unterstützten und verstärkten die Konjunkturbewegung, ohne sie zu erzeugen: Die Investitionstätigkeit zu Beginn des Aufschwungs führte zu einer verstärkten Kreditnachfrage, wodurch die in der Volkswirtschaft vorhandene Kaufkraft erhöht wurde, während im Abschwung eine Kontraktion stattfand. Angesichts der Erfahrung der Inflation musste im Prinzip allen Theoretikern klar sein, dass Veränderungen der Geldmenge und der Geldumlaufgeschwindigkeit einen zentralen Einfluss auf das Wirtschaftsleben ausübten. Diehl benannte es 1928 dann auch explizit als Ursache für die Geldlastigkeit der Konjunkturtheorie, dass sie die Inflationserfahrung theo­ retisch zu verarbeiten suchte.170 Die Inflation selbst hatte bereits zu einer intensiven Diskussion über ihre Ursachen geführt, die sich vor allem in der Kontroverse zwischen den Quantitätstheoretikern und den Vertretern der sog. Zahlungsbilanztheorie äußerte. Letztere waren davon ausgegangen, dass die Ursache der Geldmengenvermehrung hauptsächlich in dem durch die Reparationsforderungen der Entente bedingten Kapitalabfluss zu suchen war. Dieser führte zu einem Anstieg der Devisenpreise, in deren Folge sich das allgemeine Preisniveau anhob, was dann vermittelt zur Inflation führte.171 Diese Diskussion mochte vielleicht aus heutiger Sicht nicht sonderlich ertragreich sein, sie stellte jedoch eine tiefergehende Beschäftigung mit der Funktion des Geldes im Wirtschaftskreislauf dar, als die ältere 170 Diehl, Einleitung, S. 280. Insofern trifft es nicht zu, dass Hayek, wie er selbst meinte, erst darauf hin arbeiten musste, dass monetären Ursachen in der Konjunkturtheorie Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Vgl. Hagemann, Hayek, S. 101. 171 Siehe dazu umfassend: Ellis, S. 13 ff.

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geldtheoretische Diskussion, die sich vor allem mit dem Wesen des Geldes und der Bedeutung seines Stoffwertes beschäftigt hatte.172 Die bereits zeitgenössisch viel gescholtene Staatliche Theorie des Geldes Gustav Adolf Knapps spielte im Übrigen spätestens seit der Inflation in der deutschen, geldtheoretischen Diskussion nur noch eine marginale Rolle. Das lag auch daran, dass es Knapp in erster Linie um die Frage ging, wie Geld in der Volkswirtschaft Geltung beanspruchen konnte. Das Problem jedoch, wie sich das Geld im Rahmen des Wirtschaftsprozesses auswirkte, wurde bei ihm höchstens am Rande behandelt.173 Eher war das ein Thema zweier Anhänger Knapps, nämlich von Friedrich Bendixen und Kurt Singer. Bendixen starb jedoch bereits 1920, während Singer einer der ganz wenigen verbliebenen Vertreter von Knapps Staatlicher Theorie war. Dieser selbst registrierte irritiert die bereits zeitgenössisch geäußerten Anschuldigungen, Knapps Lehren hätten Schuld an den desaströsen Auswüchsen der Inflation gehabt. Eine fehlgeleitete Geld­ politik konnte seines Erachtens jedoch höchstens aus einem Missverständnis von Knapps Fragestellung erwachsen sein. Zudem sei den verantwortlichen Personen in der Regierung und der Reichsbank bewusst gewesen, dass die massenhafte Produktion von Geldzeichen zu einer Erhöhung des Preisniveaus führte. Wenn sie dennoch weiterdrucken ließen, hatte das folglich andere Gründe. Das allein zeigt jedoch, dass Knapps Lehren in Deutschland auf dem Höhepunkt ihres Ansehens bestenfalls umstritten waren.174 Dass sie in der deutschen Nationalökonomie vorherrschten, wird zu keinem Zeitpunkt richtig gewesen sein. Die Vorwürfe gegen sie lassen sich aus diesem Grund nicht losgelöst von den zeitgenössischen geldtheoretischen Kontroversen betrachten. Aufgrund der Inflationserfahrung lag es auf der Hand, monetäre Aspekte bei der Beschreibung wirtschaftlicher Prozesse zu berücksichtigen.175 In den konjunkturtheoretischen Schriften der 1920er Jahre gab es nur ganz selten noch Arbeiten, die wie der Freiburger Nationalökonom Adolf Lampe weiterhin vom »Geldschleier« sprachen, dass die Preise also lediglich Güterrelationen wiedergaben, ohne diese selbst zu beeinflussen.176 Die Inflation hatte plastisch verdeutlicht, dass eine Ausweitung der Geldmenge das Preisniveau beeinflusste und die Geldumlaufgeschwindigkeit erhöhte, was gravierende wirtschaftliche Folgewirkungen hatte. Den Nationalökonomen war sehr wohl bewusst, dass gesamtwirtschaftlich gesehen die Auswirkungen der Inflation keinesfalls nur negativ waren: Zahlreiche europäische Länder, nicht zuletzt die Siegernationen England und Frankreich, durchlebten 1920/21 eine schwere Krise, deren Aus172 Z. B. Diehl, Fragen. 173 Hardach, Abschied, S. 149. 174 S. Knapp u. Bendixen. 175 Holtfrerich, Entwicklung, S. 105 f. 176 Lampe, Notstandsarbeiten, S. 27. So auch noch Röpke, Geld, S. 19. Beide Autoren waren der Meinung, dass zusätzliche Kreditschöpfung einen volkswirtschaftlichen Effekt hatte, den sie aber negativ beurteilten.

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wirkungen sich in Deutschland vergleichsweise milde gestalteten. Dass dies etwas mit der Inflation zu tun hatte, war ein zumindest naheliegender Gedanke. Doch trotz des evidenten Einflusses monetärer Faktoren wurde über die Frage gestritten, ob letztere den Konjunkturzyklus lediglich verstärkten oder ihn verursachten. Wie gesehen, waren vor allem Mises und Hayek der letzteren Meinung, indem sie mit der Spanne zwischen Geldzins und natür­lichem Zins ein monetäres Phänomen für die Gleichgewichtsstörungen verantwortlich machten. Mit einer etwas anderen theoretischen Stoßrichtung hatte der Bankier und Geldtheoretiker Albert Hahn in seiner 1920 erstmals veröffentlichten Volkswirtschaftlichen Theorie des Bankkredits177 behauptet, eine Geldmengenvermehrung könne prinzipiell eine positive Wirkung auf die volkswirtschaftliche Entwicklung haben. Die erste Auflage dieses Werkes enthielt ein Schlusskapitel, in dem Hahn die Ansicht entwickelte, dass durch die fortgesetzte, autonome Kreditschöpfung der Banken die Möglichkeit einer Stabilisierung der Hochkonjunktur gegeben sei. Nicht zuletzt aufgrund der Inflations­erfahrung formulierte Hahn seine Theorie in den späteren Auflagen (1924, 1929) jedoch vorsichtiger und strich den »keynesianistischen« Teil heraus.178 Der Konflikt um die monetäre Konjunkturerklärung wurde hauptsächlich zwischen den Österreichern und der Kieler Astwik-Gruppe ausgetragen. Der in letzterer beschäftigte Fritz Burchardt veröffentlichte 1928 eine detaillierte Auseinandersetzung mit den monetären Konjunkturtheorien und vertrat die These, es existiere keine monetäre Konjunkturerklärung, die in der Lage sei, den Zyklus allein aus der Wirkung monetärer Phänomene zu erklären.179 Immer müssten Zusatzannahmen getroffen werden, die auf nicht-monetäre Kausa­litäten verwiesen. Diese Meinung vertrat auch Löwe auf der Zürcher Tagung des Vereins für Sozialpolitik. Nachdem sie jedoch die Löwesche Herausforderung abgewehrt zu haben meinten, gingen Mises und Hayek auf Burchardts Ansichten nicht mehr explizit ein, zumal dessen Kritik nicht sonderlich fundiert war. So konnte er z. B. nicht überzeugend begründen, warum die Einschlagung längerer Produktionsumwege von der durch die Bankpolitik ausgelösten monetären Störung unabhängig sein sollte.180 Letztlich zeigte sich aber auch hier, dass das Problem weniger in theorieimmanenten Inkohärenzen bestand, sondern in grundlegend verschiedenen »Theoriedesigns«: Für die Österreicher war der Konjunktur- (oder: Kredit-) Zyklus letztlich nur durch monetäre Phänomene zu erklären, weil er aus ihrer Sicht durch gar nichts anderes bedingt sein konnte. Es handelte sich um die einzige vorstellbare Quelle einer dauerhaften (wenigstens bei Hayek: endogenen181) Störung, die einen Auf177 Hahn, Volkswirtschaftliche Theorie. 178 Ders., Fünfzig Jahre, S. 5. Hin und wieder gab es in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre auch noch überoptimistische Vorstellungen des Einflusses der Geldmenge auf die wirtschaftliche Entwicklung. Wedemeyer, Konjunktur. Ders., Konjunkturverschlechterungen. 179 Burchardt, Entwicklungsgeschichte. 180 Ebd., S. 125. 181 Hayek, Geldtheorie, S. 80.

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schwung mit nachfolgender Depression erzeugte. Für die Kieler Ökonomen bestand wiederum keine andere Möglichkeit, als die Ursache des Zyklus in der Struktur der kapitalistischen Wirtschaft zu erblicken. In Gestalt von Löwe auf der einen Seite, Hayek und Mises auf der anderen, standen sich gerade auf der Zürcher Tagung 1928 zwei grundlegend verschiedene theoretische Konzepte gegenüber, und es konnte keine Rede davon sein, die Einigung auf einen Konjunkturbegriff wäre gelungen. Es ist aber darauf hinzuweisen, dass auch die Theoretiker, die ihre Aufmerksamkeit stärker auf die Sphäre der Güter und Leistungen zur Erklärung des Konjunkturzyklus richteten, die Bedeutung monetärer Faktoren für die Konjunkturbewegung in der Regel nicht bestritten. Lederer und Löwe betrachteten diese jedoch nur als ein verstärkendes und kein initiales Moment. Lederer etwa erblickte in der Vermehrung der Geldmenge die Ursache für eine solidarische Steigerung der Preise im Aufschwung, die stärker anstiegen als die Löhne, wodurch sich der Unternehmergewinn vermehrte, die Konsumenten jedoch nur eine geringere Quote der von ihnen erzeugten Produkte zurückkaufen konnten. Selbst die Theoretiker, die monetäre Faktoren explizit aus der theoretischen Betrachtung ausschlossen182, sprachen ihnen die Wirkungsmächtigkeit keineswegs ab. Allerdings deutete die vorgenommene Abstraktion darauf hin, dass diese Wirkung entweder als nicht entscheidend oder als unspezifisch ange­sehen wurde.183 Innerhalb der geschlossenen Konjunkturtheorien war es in der Regel so, dass die statischen Theorien monetäre Faktoren als die Ursache des Konjunktur­ zyklus betrachteten, während für die dynamischen Theorien Veränderungen der Geldmenge und der Geldumlaufgeschwindigkeit meistens dazu dienten, den Aufschwung zu »modellieren«, also eine Kausalreihe aufzustellen, die zeigte, wie sich aus geringen Datenänderungen eine kraftvolle Aufschwungbewegung entwickeln konnte. Dabei mussten die eigentlichen Ursachen jedoch schon aus dem Grund in der Produktionsstruktur erblickt werden, weil die rein monetäre Erklärung implizierte, was ja letztlich die Pointe von Hayeks Kreditzyklen-Theo­rie war, dass der Zyklus lediglich das Resultat einer »Fehlfunktion« des Banksystems darstellte und im Wesen der kapitalistischen Wirtschaft nicht angelegt war. Gerade die sozialistischen Theoretiker mussten eine solche Annahme scharf ablehnen. 6.2.3 Die theoretische Form der Konjunkturtheorie Ende der 1920er Jahre Es lässt sich festhalten, dass die ökonomische Theorie im Bereich der Konjunkturforschung eine Renaissance erlebte, die zugleich auf einem Gebiet stattfand, das damals international als hochmodern galt. Auch in der angelsächsischen 182 Dazu umfassend: Schmidt, Wachstum, S. 42 ff. 183 Carell, Konjunktur, S. 39. Löwe, Beitrag, S. 339.

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Forschung handelte es sich (trotz Mitchells Business cycles von 1913) um ein aktuelles Forschungsproblem, und mit dem Theorienpluralismus hatte man auch dort zu kämpfen. Die Prominenz eines wenig komplexen konjunkturtheoretischen Entwurfs wie dem von Foster und Catchings zeigt im Übrigen, dass das theoretische Niveau in den USA keinesfalls höher als in Deutschland sein musste.184 Nimmt man allein Alvin Hansens Überblicksdarstellung zur ­Business cycle theory von 1927 zur Grundlage, lässt sich von einer theoretischen Rückständigkeit der deutschen Nationalökonomie auf diesem Gebiet eigentlich nicht sprechen. Zugleich machte Deutschland aber auch hier wiederum seinem Ruf als dem Land der Methodenkämpfe alle Ehre, indem intensiv darüber gestritten wurde, wie Konjunkturtheorie adäquat betrieben werden konnte und welche Voraussetzungen sie zu erfüllen hatte.185 Die methodischen Frontlinien lassen sich, wie gesagt, durch die Gegensatzpaare theoretisch/empirisch, statisch/dynamisch, monetäre/nicht-monetäre Faktoren kennzeichnen. Mit diesen Kategorien können die vorhandenen Konjunkturtheorien jedoch höchstens geordnet werden: Auch wenn sich aus heutiger Sicht durchaus Gemeinsamkeiten der verschiedenen Ansätze benennen lassen, war die zeitgenössische Wahrnehmung eher durch die Problematisierung der großen Vielzahl an Konjunkturerklärungen geprägt, bei denen es schwer fiel, eine passende Klassifikation für die verschiedenen Typen von Theorien zu finden.186 Üblicherweise wurde dabei zwischen Überproduktions- und Unterkonsumptionstheorien sowie monetären Konjunk­turtheorien unterschieden, wobei jedoch auch die Theorien desselben Typs noch jeweils stark unterschiedlich argumentierten. Viele dynamische Theorien beispielsweise modellierten den Aufschwung als eine sich selbst verstärkende Bewegung, was wiederum auf sehr unterschiedliche Weise geschehen konnte. Dieses Motiv wurde jedoch von Adolf Löwe mit dem Hinweis kritisiert, eine solche, sich selbst verstärkende Bewegung sei in der Physik unbekannt.187 Für ihn war der Zyklus im Grunde das Resultat einer Gesamtbewegung des kapitalistischen Systems, das vor allem aufgrund des technischen Fortschritts nie ein dauerhaftes Gleichgewicht erreichen konnte. Innerhalb der dynamischen Theorien gab es also nicht nur einen Dissens, was die Bewegung auslöste und wie sich Auf- und Abschwung dann entwickelten, sondern über den Charakter der Bewegungsform als solcher war man sich ebenfalls uneins. Die allermeisten Konjunkturtheorien verband trotzdem miteinander, dass sie die zyklische Bewegung der Volkswirtschaft aus einem Faktor abzuleiten versuchten. Krohn spricht von einem Ursachenmonismus188 und auch zeit­ 184 Foster u. Catchings, Überfluss. Zur Kritik s. Hayek, Widersinn. 185 Auch in den USA wurde Löwes Aufsatz indes als anregend wahrgenommen. Kuznets, Business Cycle Theory, S. 128. Hansen, Business cycle theory, S. 187, 200. 186 Hansen, Business cycle theory, S. 8 f. 187 Löwe, Konjunkturtheorie, S. 181. 188 Krohn, Wirtschaftstheorien, S. 107.

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genössische Beobachter registrierten diesen Umstand irritiert.189 In der Tat: Auch wenn man die Auf- und Abschwungbewegung z. T. ganz ähnlich model­ lierte, wurde trotzdem eine Vielzahl von »alleinigen« Ursachen vertreten, die den Zyklus verursachten: vom zu niedrigen Bankzins über unterschiedliche Einkommenselastizitäten bis hin zum dynamischen Unternehmer, dem technischen Fortschritt, struktureller Überproduktion oder zu niedrigen Löhnen. Dieser Ursachenmonismus war letzten Endes der Mitte der 1920er Jahre formulierten Notwendigkeit geschuldet, eine geschlossene Theorie des Konjunkturzyklus zu entwickeln. Es ging also zunächst, wie das auch in der defensiven Haltung gegenüber der Konjunkturstatistik zum Ausdruck kam, um die Lösung eines Theorieproblems. Das musste zuerst geleistet werden, bevor an eine Anleitung der empirischen Erforschung des Konjunkturzyklus zu denken war. Eine geschlossene Theorie des Konjunkturzyklus zu entwickeln, bedeutete aber, ein zusammenhängendes Netz von Kausalitäten zu knüpfen, in dem die Veränderung eines Datums auf das Gesamtsystem zurückwirkte und es, wie ein physikalischer Impuls, zum »Schwingen« brachte. Dabei musste im Prinzip die theoretische Modellierung von Auf- und Abschwung deswegen auf eine Ur­ sache zurückgeführt werden, weil anscheinend nur so die Regelmäßigkeit des Zyklus begründet werden konnte: in der statischen Theorie als konstanter Störfaktor, ohne gleich das ganze System in Frage zu stellen, bzw. als dynamisches Prinzip, das die Gleichmäßigkeit der Schwingung garantierte. Bei zwei voneinander unabhängigen Faktoren wäre das schon nicht mehr ohne weiteres möglich gewesen und die Grenze zur Konjunkturphänomenologie vielleicht schon überschritten. Die Probleme, um die es dabei ging, wurden explizit in einer 1926 zwischen Löwe und Singer ausgefochtenen Kontroverse über Singers Vorschlag thema­ tisiert, im »Wirtschaftsdienst« ein auf Spiethoffs Ansatz basierendes Konjunkturbarometer einzurichten, das den Roheisenverbrauch als zentralen Indikator gebrauchte. Während Löwe die Notwendigkeit logischer Strenge und Geschlossenheit der Konjunkturtheorie anmahnte und aus dieser Perspektive heraus Spiethoffs Theorie kritisierte190, meinte Singer, Spiethoff werde eine solche theoretische Geschlossenheit von Löwe erst untergeschoben. Löwe tue so, als hielte Spiethoff die Kapitalbildung für eine letzte Ursache, den Generalschlüssel des Konjunkturproblems: »Der Gegensatz, von dem wir ausgehen, betrifft nicht eine Ursache im Gegensatz zu allen anderen Ursachen, sondern das Prinzip kausaler Deutung von sinnhaften Zusammenhängen im Gegensatz zum Prinzip statistischer Zählung von beobachteten Regelmäßigkeiten.«191 Der »Mischtheoretiker« Singer wollte also im Gegensatz zum »deduktiven« Konjunktur­

189 Müller, Aussagen, S. 49. 190 Löwe, Bemerkungen zur Konjunkturforschung. 191 Singer, Duplik, S. 1278.

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theoretiker Löwe eine anschauliche Konjunkturtheorie entwickeln.192 Ein Projekt, das Spiethoff später explizit verfolgte und wenigstens den Vorteil hatte, die Limitationen geschlossener Konjunkturtheorien zu vermeiden.193 Die deutsche Nationalökonomie reflektierte den Pluralismus der Konjunkturtheorien, und es wurde aus diesem Grund bereits Ende der 1920er Jahre eine Synthese angemahnt. So verband wiederum Singer 1928 die Lage der theore­ tischen Konjunkturforschung mit der allgemeinen Krisenlage der Nationalökonomie: »So wenig die Arbeit an den Tatbeständen der uns umgebenden Wirtschaft durch die Krisis der Grundlagenforschung und den Streit der Methoden aufgehalten werden darf,« schrieb er, »so wenig kann heute der Versuch einer Festlegung des Bauplans von Teilsystemen Aussicht auf Erfolg haben. Allen Formulierungen wird notwendig ein vorläufiger, tastender, hinweisender Charakter eignen, solange nicht das Gegeneinander individueller oder kollektiver Standpunkte, Meinungen, Systemprinzipien einem neuen Stand der Dinge gewichen ist, der es erlaubt, eine bündige Ordnung der Gesichtspunkte und der Probleme aufzurichten, die jeder Forscher als gültig anerkennen muss.«194 Insofern war die Konjunkturtheorie also in der Tat noch jung und wenig gefestigt, als die Weltwirtschaft seit dem Herbst 1929 in eine Krise geriet, die der Volkswirtschaftslehre das Ausarbeiten einer »endgültigen« Konjunkturtheorie nicht mehr erlaubte.

6.3 Das »Scheitern« der Konjunkturtheorie in der Weltwirtschaftskrise 6.3.1 Die Herausforderung der Weltwirtschaftskrise Die deutsche Nationalökonomie hat mit der Weltwirtschaftskrise und ihrer einschneidenden Schwere nicht gerechnet und konnte es wohl auch nicht. Zwar werden immer wieder Ökonomen herbeizitiert, die vor den Möglichkeiten einer Krise gewarnt haben, wie z. B. Rüstow oder Hayek, jedoch bezog letzterer sich dabei vor allem auf Probleme des Preisniveaus in den USA. Genauso rechnete das Institut für Konjunkturforschung mit einer Krise, aber eben nicht mit ihrer Schwere und Länge.195 Vielmehr schien die scharfe »Zwischenkrise« im Winter 1925/26 eher zu belegen, dass die Selbstheilungskräfte des Marktes weiterhin funktionierten196, zumal viele Ökonomen durch diese Krise strukturelle Fehl192 Möglicherweise ist es in diesem Zusammenhang kein Zufall, dass Singer, wie Landmann und Salin, zum Umfeld Stefan Georges gehörte. Groppe, S. 517 ff. 193 Spiethoff, Volkswirtschaftslehre, S. 58 ff. 194 Singer, Kreditkreation, S. 297. 195 Tooze, Statistics, S. 150. 196 Gessner, Weimarer Republik, S. 81.

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entwicklungen der Inflationsjahre bereits bereinigt glaubten.197 Für die hin und wieder zu findenden düsteren Prognosen einer kommenden Depression198 vor 1929 dürfte insofern die Alltagsweisheit zutreffen, dass egal was passiert, es immer jemanden gibt, der es kommen sah. Sombart hatte noch im dritten Band des Modernen Kapitalismus die Behauptung aufgestellt, die Krisen würden sich im historischen Prozess nach und nach abmildern.199 Für Adolf Weber ist es im Nachhinein sicherlich peinlich, dass er noch in der zweiten Auflage seines Buches Das Ende des Kapitalismus? 1929 die Behauptung aufstellte, im Zuge der Entwicklung eines reifen Kapitalismus würden sich Konjunkturschwankungen in ein »sanftes Wellengekräusel« verwandeln; der Kapitalismus sei in ein »kräftiges Mannesalter« eingetreten.200 Der in den 1920er Jahren in der Kieler Astwik-Gruppe arbeitende Ökonom Gerhard Colm schrieb 1950 in einem Brief rückblickend: »The interesting question is how long confidence feeds confidence. One might become over-confident. I still remember when Gustav Cassel announced on a visit to Kiel late in the twenties that there was no longer much point in studying the business cycle because we were in a period of permanent prosperity.«201 Was die Konjunkturtheorie bis zum Ausbruch der Weltwirtschaftskrise ­leisten wollte, war die Entwicklung einer Theorie der kapitalistischen Normal­ entwicklung, eine Erklärung des sich innerhalb bestimmter Parameter bewegenden Wechselverhältnisses von Auf- und Abschwung. Bei den meisten Theo­retikern schuf die Phase der Depression selbst die Voraussetzung für den nachfolgenden Aufschwung, insofern bekam sie in ihren Arbeiten zumeist nicht den zentralen Stellenwert, den die Weltwirtschaftskrise empirisch ein­ forderte. In diesem Sinne ist auch die nicht von allen Ökonomen akzeptierte, jedoch häufig angeführte Unterscheidung von Depression und Krise zu verstehen. Während für Schumpeter die Krise ein individuelles und nur historisch zu er­k lärendes Phänomen darstellte, war die Depression ein notwendiges Stadium der kapitalistischen Entwicklung, in welcher die im Boom neu entstandenen Unternehmen eingegliedert wurden. Alfred Müller-Armack bestritt 1929 in seinem Artikel über Konjunkturforschung und Konjunkturpolitik der vierten Auflage des Handwörterbuchs der Staatswissenschaften sogar diese Erklärung. Vielmehr war die Depression für ihn aus der Warte seiner Theorie des »frei­tragenden kapitalistischen Fortschritts« überhaupt nicht theoretisch zu begründen.202 197 Röpke, Krise, S. 43. 198 Zu den Krisenprognosen Rüstows und Wagemanns s. Staudinger, Wirtschaftspolitik, S. 79. Vgl. auch Somary, Warnung. 199 Sombart, Hochkapitalismus, S. 702. Cassel, Sozialökonomie, S. 577 ff. 200 Weber, Ende, S. 54. 201 Schreiben von Gerhard Colm an Th. M. van der Beugel (26.4.1950). Library of Congress, Manuscript Division. Gerhard Colm papers, Folder 7. 202 Müller-Armack, Konjunkturforschung, S. 654.

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Das grundlegende Schema der Konjunkturtheorien, ihr rekursiver Mechanismus, wurde durch die Weltwirtschaftskrise – zumindest in den Augen der Zeitgenossen  – empirisch widerlegt. Zumal sich von einem bestimmten Zeitpunkt ab, forciert durch die Notverordnungen der Regierung Brüning, Löhne und Preise auf einem niedrigen Niveau befanden, während der Diskontsatz allerdings teilweise hoch gehalten werden musste, um den fortgesetzten Kapitalabfluss aus Deutschland einzudämmen. Trotz einer dem liberalen Dogma folgenden Wirtschaftspolitik wurde die Krise aber immer schlimmer und zerstörte auch gesunde Unternehmen.203 Eine Theorie, welche die kapitalistische Normalentwicklung erfassen wollte, musste an einer Krise scheitern, die alles andere als normal war: eine sich ins scheinbar Bodenlose selbst verstärkende Abwärtsbewegung, welche die kapitalistische Wirtschaftsordnung insgesamt in Frage stellte.204 6.3.2 Die Reaktionen der Konjunkturtheorie auf die Krise In der Weltwirtschaftskrise boten sich für die Nationalökonomen angesichts der bald als evident geltenden Einsicht, dass es sich um keine »normale« Depression handelte, drei Möglichkeiten: Erstens konnte an der bisherigen Theorie eisern festgehalten werden. Zweitens ließ sich die Weltwirtschaftskrise als Sonderfall einer allgemeinen Konjunkturtheorie interpretieren. Die dritte Möglichkeit bestand darin, die bisher vertretene Theorie zu ändern. Zu der ersteren Gruppe gehörten vor allem Mises und Hayek, die gar nicht daran dachten, von ihrem theoretischen Ansatz abzugehen. Mises hatte bereits in den Jahren zuvor den staatlichen Interventionismus massiv kritisiert, der für ihn Ursache allen wirtschaftlichen Übels war. Für ihn gab es nur die Möglichkeit, die Steuerung der Wirtschaft vollständig dem Markt zu überlassen.205 Die Schwere der Weltwirtschaftskrise bewies nach Mises nur das Ausmaß der Störung, die durch die staatlichen Eingriffe in den Wirtschaftskreislauf und die Kreditflut aus den USA erzeugt worden war, welche die Unternehmer zum Einschlagen zu langer Produktionsumwege verführt hatte. Bestimmte Sonderfaktoren hätten zur besonders schweren Ausprägung der Krise geführt.206 Für Hayek war die Krise in erster Linie durch gravierende Mängel in der Kapitalstruktur bedingt. An­gesichts der Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise war das eine durchaus provozierende These: Einige englische Ökonomen sollten Hayek und Mises 203 Wie es der damalige Staatssekretär im Reichswirtschaftsministerium ausdrückte: »Sie müssen mir glauben, dass es für jemand, der an verantwortlicher Stelle steht, seelisch schwer zu ertragen ist, die Krise ›ausbrennen‹ zu lassen, wenn er täglich sieht, was dabei mitverbrennt.« Schreiben Hans Schäffer an Moritz Julius Bonn (26.10.1931). BA Koblenz, Nl Bonn, 82/52. 204 Röpke, Krise, S. 3 f. 205 Mises, Kritik, S. 53 f. 206 Ders., Ursachen.

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wegen solcher Überlegungen später als »sadistische Deflationisten« bezeichnen.207 Eine Stärkung der Konsumnachfrage hätte nach Hayek jedenfalls die Produktionsumwege nur noch weiter verkürzt und damit die Krise verschärft. Im Übrigen hatten die Angehörigen der Österreichischen Schule durchaus Erfahrung darin, die eigenen Ansichten gegenüber dem wissenschaftlichen Mainstream zu behaupten. Röpke, der allerdings vor der Krise keine eigenständige Konjunkturtheorie ausgearbeitet hatte, ging einen anderen Weg. Er vertrat eine, wie er selbst sie bezeichnete, »monetäre Überkapitalisationstheorie«. Diese ging davon aus, dass, nachdem in der Depression die Voraussetzungen für einen Aufschwung geschaffen worden waren (Lager waren geräumt, angesammeltes Sparkapital befand sich bei den Banken, niedriger Zins), es nur eines Impulses bedurfte, damit aus diesen günstigen Bedingungen die Bereitschaft zu einer verstärkten Investitionstätigkeit entstand: »Diese Bereitschaft wächst aus eigener Kraft zu immer größerer Stärke an, teils aus psychologischen Gründen, teils auf Grund einer wirtschaftlichen Zwangsläufigkeit.«208 Zugleich war nach Röpke diese gesteigerte Investitionstätigkeit aber nicht möglich, wenn die Wirtschaft nicht gleichzeitig mit vermehrten Krediten gespeist wurde. Diese Kreditvermehrung wiederum war das Resultat der Kreditschöpfungsfähigkeit der Banken und äußerte sich, hier folgte Röpke Mises und Hayek, in einem zu niedrigen Zins. Daraus resultierte jedoch eine Überkapitalisation der Wirtschaft, worunter Röpke eine strukturelle Disproportionalität zwischen Produktionsmittelsektor und Konsumgütersektor verstand, die das Gleichgewicht der Volkswirtschaft sprengte. Die Folge musste unter normalen Umständen immer eine Depression sein, in der sich »unter schmerzhaften Rück- und Umbildungserscheinungen« langsam ein neues Gleichgewicht einstellte.209 Die Weltwirtschaftskrise aber, deren epochale Schwere und Bedeutung Röpke nicht müde wurde zu betonen, war für ihn keine einfache Depression mehr. Letztere konnte unter bestimmten Bedingungen eine Eigendynamik gewinnen. Das war dann der Fall, wenn sie eine Intensität bekam, die sich nicht mehr durch den vorangegangenen Aufschwung erklären ließ. Eine Depression hatte eigentlich die nützliche Funktion, die Volkswirtschaft von unwirtschaftlichen Betrieben zu »reinigen«. Die gegenwärtige Krise hingegen zog auch gesunde Unternehmen mit in ihren Strudel hinein. Diesen Vorgang bezeichnete er als sekun­däre Depression: »Wird in der primären Depression das Gift der Kredit­inflation ausgeschwitzt, so dringt in der sekundären Depression das neue Gift der Deflation in den Wirtschaftskörper ein […]. Die primäre Depression hat ihren Sinn der Reinigung erfüllt, aber die Selbstheilungskräfte, die jetzt wirksam werden müssen, sind ausgeschieden und an ihre Stelle ist eine immer

207 Seligman, Main Currents, S. 359. 208 Röpke, Krise, S. 89. 209 Ebd.

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weitere Schrumpfung getreten.«210 Röpke beschrieb die aktuelle Lage mit Hilfe der in der Volkswirtschaftslehre beliebten Krankheitsmetaphorik: Durch die Schwere der primären Depression waren die Selbstheilungskräfte des Patienten geschwächt, der jetzt der ärztlichen Hilfe der staatlichen Wirtschaftspolitik bedurfte. Dem fortgesetzten Niedergang war nur noch dadurch eine Grenze gesetzt, dass die Menschen aufgrund der Verelendung an ihr Erspartes gingen und dadurch wieder Kapital in Umlauf setzten.211 Im Grunde nahm Röpke mit seiner Unterscheidung von primärer und se­ kundärer Depression Schumpeters Differenzierung zwischen Depression und Krise wieder auf. Er wollte die sekundäre Depression jedoch nicht als ein in­ dividuell zu erklärendes Phänomen beschreiben, sondern in einen kausalen Zusammenhang mit der sich in den Rahmen einer allgemeinen Konjunktur­ theorie einfügenden, primären Depression stellen. Das war in der Tat ein Weg, die Möglichkeit einer geschlossenen Konjunkturtheorie zu retten. Für Röpke existierte überdies nur scheinbar eine Vielzahl sich widersprechender Konjunkturtheorien.212 Oftmals stünden diese gar nicht im Gegensatz zueinander, sondern besäßen einen gemeinsamen Erkenntniskern, den er dadurch bestimmte, dass sie die Ursachen für die Depression in der Hochkonjunktur suchten und den Mechanismus der Hochkonjunktur in einem Steigen der Kapitalanlagen gipfeln sahen, die durch eine Ausweitung der Kreditmenge finanziert wurde und in einem »Nexus der Wechselwirkungen« schließlich die gesamte Volkswirtschaft in Bewegung setzte.213 Der durch seine Teilnahme an der »Brauns-Kommission« auch politisch aktive Röpke strich auf pragmatische Weise die Gemeinsamkeiten der Konjunkturtheorien hervor. Mises oder Hayek wäre das, auch aufgrund ihrer größeren theoretischen Strenge, niemals ein­ gefallen.214 Viele andere Ökonomen dagegen, welche die konjunkturtheoretische Diskussion vor 1929 geprägt hatten, sahen sich gezwungen, ihre bisherigen Überlegungen zu modifizieren oder überhaupt zu verwerfen. Lederer veröffentlichte 1931 seine Arbeit Technischer Fortschritt und Arbeitslosigkeit, in der er die strukturelle Arbeitslosigkeit durch ein übersteigertes Tempo des technischen Fortschritts erklären wollte.215 Dieser bot den Anreiz zur Gewährung zusätzlichen Kredits, lenkte den Kapitalstrom ab, setzte Arbeitskräfte frei und führte auf diesem Wege erst zur modernen Erscheinungsweise der Konjunktur. Geschah dieser Prozess zu schnell, erzeugte er innerhalb der Volkswirtschaft strukturelle Fehlentwicklungen, denen gegenüber die Selbstregulierungsfähigkeit des 210 Ebd., S. 90. 211 Ebd., S. 91. 212 Ebd., S. 88. 213 Ebd., S. 74. 214 Mises hatte z. B. 1928 die monetäre Konjunkturerklärung etwas arg apodiktisch zur einzigen überhaupt existierenden Konjunkturtheorie erklärt. Mises, Geldwertstabilisierung. Hayek, Geldtheorie, S. 51 ff. Hennecke, Röpke, S. 84. 215 Lederer, Fortschritt.

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Marktes versagte.216 Aus diesem Grund konnte seiner Meinung eine planwirtschaftliche Steuerung des Wirtschaftsprozesses unumgänglich werden.217 Das Auseinanderfallen von technischer und ökonomischer Rationalität  – ein Gedanke, den vor allem der Betriebswirt Eugen Schmalenbach populär gemacht hatte – wurde so von Lederer in den Rahmen der Krisenerklärung eingeordnet. Von Einkommenselastizitäten als Ursache des Konjunkturzyklus wollte er jetzt höchstens am Rande noch etwas wissen.218 Ein anderes Beispiel ist der Erlanger Nationalökonom Rudolf Stucken. Dieser hatte 1926 seinen ersten konjunkturtheoretischen Versuch veröffentlicht, in ­welchem er zur Erklärung des Konjunkturzyklus einen monetären mit einem überproduktionstheoretischen Erklärungsansatz verband.219 Wesentlich war für ihn die Kaufkraftvermehrung im Aufschwung, die einen Anreiz zur Produktionsausweitung und zur vermehrten Kreditaufnahme gab. Der Aufschwung dauerte solange, wie der dabei stattfindende Zuwachs an Kaufkraft dem Warenangebot voraus eilte. War das nicht mehr der Fall, ging der Aufschwung zu Ende, was mit einem Stopp der Kaufkraftvermehrung zusammenging. Zu der Abwärtsbewegung kam es, weil die nun getätigten Ersparnisse dem Wirtschaftskreislauf nach und nach Kaufkraft entzogen. Durch das aus diesem Grund fallende Preisniveau sank zudem die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes, was einen weiteren Entzug von Kaufkraft mit sich brachte.220 Diesen geschlossenen konjunkturtheoretischen Entwurf, dessen dynamischer Mechanismus offensichtlich in der Inflation gemachte Erfahrungen in die Betrachtung integrierte221, verwarf Stucken explizit in seinem 1932 veröffentlichten Buch Die Konjunktu­ ren im Wirtschaftsleben.222 Die Konjunkturschwankungen liefen seiner Meinung nach überhaupt nicht mehr so ab wie früher.223 Insbesondere wandte er sich gegen monokausale Erklärungsmuster. In der Volkswirtschaft würden synchron so viele Änderungen passieren, dass es unzulässig sei, Konjunkturveränderungen mit einem Faktor in Verbindung zu bringen.224 Dass die strenge »Lösung« des Konjunkturproblems in einer geschlossenen Konjunkturtheorie nicht mehr angängig war, demonstrierte besonders klar die Dissertation des Freiburger Nationalökonomen Friedrich Lutz. Diese Arbeit beschäftigte sich in allgemein methodologischer Absicht mit dem Konjunktur­ problem und klassifizierte die verschiedenen Ansätze dabei, wie bereits erwähnt, anhand des Verhältnisses von Theorie und Empirie in die rein deduktiven und rein empirischen Ansätze sowie die sog. »Mischtheorien«. Die rein theore­tischen 216 Ebd., S. 112. 217 Ebd., S. 124 f. 218 Ebd., S. 5, 89. Staudinger, Wirtschaftspolitik, S. 88 f. 219 Stucken, Theorie. 220 Ebd., S. 53 ff. 221 Ebd., S. 47. 222 Stucken, Konjunkturen. 223 Ebd., S. 48. 224 Ebd., S. 49.

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Ansätze lieferten nach Lutz’ Ansicht zwar Ansatzpunkte für eine theoretische Erklärung des Konjunkturzyklus, waren allein jedoch nicht ausreichend. Gegen Löwe argumentierte er, das Konjunkturproblem sei in der ökonomischen Statik prinzipiell lösbar, die große Schwäche der deduktiven Konjunktur­t heorien bestände jedoch darin, dass sie, um logisch geschlossen zu argumentieren, bestimmte, in der Realität wesentliche Faktoren ausschalten mussten.225 Damit konnten sie dann aber auch den realen Zyklus nicht mehr erklären. Sie fungierten vielmehr als ein heuristisches Mittel, um der Erscheinungsweise des konkreten Zyklus auf die Spur zu kommen. Die rein empirischen Theorien wiederum, als deren Vertreter Lutz vor allem Wagemann und Mitchell vorstellte, wollten im Grunde gar keine Theorien entwickeln.226 Den Misch­t heorien schließlich, als deren Vertreter er in erster Linie Tugan-Baranowsky, Spiethoff und Cassel ansprach, warf er vor, fortwährend induktive Beobachtungen als Deduktionen in ihre Theorien einzusetzen und auf dieser Weise nur Scheintheorien zu entwickeln.227 Lutz setzte voraus, dass jeder Konjunkturzyklus eine individuelle Erscheinung war. Das konnte er zwar höchstens negativ, aus dem Scheitern der Versuche, eine allgemeine Konjunkturtheorie zu entwickeln, beweisen, diese Ansicht besaß aber gerade aufgrund der Weltwirtschaftskrise empirische Evidenz. Zugleich betrachtete er die geschlossenen Konjunkturtheorien als äußerst nützlich, um reale Zyklen zu erklären; nur durften sie nicht den Anspruch erheben, eine Totalerklärung des Zyklus zu liefern, die alle anderen ausschloss.228 Von den hohen Ansprüchen, die seit Mitte der 1920er Jahre mit der Konjunkturforschung verbunden wurden, blieb in der Endphase der Weimarer Republik kaum noch etwas übrig. Salin ging mit seiner Einschätzung kaum fehl, als er 1932 schrieb: »Es ist für diese Durchleuchtung der Tatsachen nicht entscheidend, auf welche besonderen ›Ursachen‹ die Krise zurückgeführt wird, zumal sowohl die Übererzeugungs- wie die Unterverbrauchslehren gegenüber der Größe dieses zugleich industriellen und agraren Zusammenbruchs versagen, und zumal auch die Anhänger der monetären Lehren zugeben müssen, dass – gleichgültig, wie man allgemein über Geld und Kredit als einzigen krisenverhütenden und krisenverursachenden Faktor denkt  – es jedenfalls bisher nicht gelungen ist, von der Geldseite her die Krisenursachen zu beseitigen und die Krisenwirkungen abzuschwächen.«229 Gottl-Ottlilienfeld konnte 1934 die Schadenfreude über den Abstieg der Konjunkturtheorie kaum verhehlen.230 Ein Autor schrieb 1933, der gegenwärtige Stand der Konjunktur­forschung sei gekennzeichnet durch detaillierteste Untersuchungen über Einzelerscheinun­ 225 Lutz, Konjunkturproblem, S. 114 ff. 226 Ebd., S. 136 ff. 227 Ebd., S. 79 ff. 228 Ebd., S. 152 ff., 161 ff.; Pütz-Neuhausers Ansicht, Lutz und Eucken wären überhaupt keine Konjunkturtheoretiker gewesen, erscheint darum zweifelhaft. Pütz-Neuhauser, S. 97. 229 Salin, Wirtschaft, S. 21 f. Auf die Erklärungsdefizite der monetären Konjunkturtheorien wies dezidiert auch Bertil Ohlin hin. Ohlin, Ungelöste Probleme, S. 18. 230 Gottl-Ottlilienfeld, Läuterung, S. 14. Schiemann, Währung, S. 235.

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gen und vollständiges Durcheinander in den grundlegenden Fragen.231 Bur­ chardt schrieb 1934 in einer Rezension zu Lutz’ Buch von den großen methodologischen und inhaltlichen Differenzen, die es in der Konjunkturtheorie gäbe. Das dürfe aber auch nicht verwundern, schließlich handele es sich um eine noch junge Forschungsrichtung. Aus diesem Grund sei die Klärung methodologischer Fragen zwar ebenso wichtig wie die Klärung des Konjunkturphänomens an sich: »Ein Blick über die lange Reihe methodologischer Arbeiten über das Konjunkturproblem zeigt allerdings, dass die Differenzen im Methodischen kaum geringer sind als in der Konjunkturtheorie selbst, zumal da sie gewöhnlich noch mit allgemein philosophisch-erkenntnistheoretischer Problematik belastet werden.«232 Die während der 1920er Jahre gepflegte Krisensemantik wiederholte sich hier nach dem »exogenen Schock« der Weltwirtschaftskrise fast bis aufs Wort. Die Festschrift zu Spiethoffs 65. Geburtstag 1933 versammelte eine Vielzahl von Beiträgen von Wissenschaftlern aus aller Herren Länder, was zugleich Spiethoffs hohen Stellenwert in der internationalen Konjunkturforschung demonstrierte. Aufs Ganze gesehen kam sie einem Abgesang auf die Konjunkturforschung gleich.233 Zwar wurde überall Forschungsbedarf angemahnt, jedoch zugleich die Lage der theoretischen und statistischen Konjunkturforschung skeptisch bewertet. Der Prognoseanspruch der letzteren hatte Schiffbruch erlitten, nachdem das Harvard-Barometer in der Weltwirtschaftskrise komplett versagt hatte und auch in die Arbeiten des Instituts für Konjunkturforschung kein Vertrauen mehr gesetzt wurde.234 Eucken, darin der Ansicht seines Schülers Lutz folgend, schrieb von der Unmöglichkeit einer allgemeinen Konjunktur­ theorie235 und viele andere folgten ihm in dieser Ansicht. Nicht zuletzt musste die Heterogenität der Beiträge erstaunen und die Frage aufwerfen, ob man sich in den letzten Jahren eigentlich mit den selben Problemen beschäftigt hatte. Die Forschungsdesiderata wurden an vielen verschiedenen Stellen erblickt, so dass allem Anschein nach noch nicht einmal eine klare Diagnose existierte, auf welche Fragen die Konjunkturtheorie bislang noch keine Antwort geben konnte. 6.3.3 Die Weltwirtschaftskrise als Prozess »fundamentalen Lernens«? Die Weltwirtschaftskrise widerlegte eine zentrale Annahme, welche die theoretische Bearbeitung des Konjunkturphänomens überhaupt ermöglicht hatte, die Annahme eines rekursiven Mechanismus, der im Abschwung die Vorausset231 Lande, Kapital, S. 420. 232 Burchardt, Konjunkturproblem, S. 98*. 233 Clausing, Stand. 234 Vgl. Landauer, Stand, S. 1281 f. Altschul, Konjunkturforschung. 235 Eucken, Beitrag, S. 76.

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zungen für den Aufschwung schuf und umgekehrt. Eine real existierenden Regelmäßigkeit schien die Grundvoraussetzung einer theoretischen Konjunkturtheorie zu sein. In diesem Sinne konnte sie gravierende staatliche Eingriffe nicht überzeugend begründen, weil dieses ihren theoretischen Prämissen widersprochen hätte. Erst durch die Weltwirtschaftskrise musste die Konjunkturtheorie wieder eine Krisenlehre mit praktischem Anspruch werden, und erst Keynes gelang die überzeugende Integration einer sich nicht von allein behebenden Krise in die Wirtschaftstheorie.236 Vorher ließen sich Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen oder eine Kreditausweitung zwar fordern, jedoch theoretisch schlecht rechtfertigen. Diejenigen, die das versuchten, waren zumeist Außenseiter, von denen Hahn und Lautenbach noch am ehesten ernst genommen wurden. Es gab jedoch nur wenig »seriöse« Stimmen, die etwa Hahns Volkswirtschaft­licher Theorie des Bankkredits positiv gegenüberstanden.237 Insofern erscheint der Vorwurf sinnlos, die Nationalökonomie habe aus Dummheit oder Ignoranz den Wert kontrazyklischer Konjunkturmaßnahmen nicht gesehen: In ihrem theoretischen Rahmen ließ sich deren Notwendigkeit kaum begründen. Erst die Weltwirtschaftskrise schuf die Voraussetzung für einen Paradigmenwechsel in der ökonomischen Theorie, der mit Keynes eine wissenschaftlich adäquate theo­ retische Fassung bekam. Dabei lässt sich auch auf der Ebene nationalökonomischer Theorien das beobachten, was Hak-Ie Kim bereits quellengestützt für die Konjunkturpolitik der Reichsregierung festgestellt hat: dass der anfängliche Konsens, die Krise eine strukturelle Reinigung der Volkswirtschaft vornehmen zu lassen, in dem Maße bröckelte, wie nach und nach ihr exzeptioneller Charakter sichtbar wurde. Mitte 1931 bildeten nach Kims Ansicht selbst die Unternehmer keine einheit­ liche deflationistische Front mehr, die kontrazyklische Maßnahmen strikt abgelehnt hätte.238 Hans Schäffer, Staatssekretär im Reichswirtschaftsministerium, hatte zu Beginn der Krise Hans Staudinger noch Abende lang aus der englischen Wirtschaftsgeschichte referiert, um ihm zu demonstrieren, dass Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen keinen Effekt hätten239; derselbe Schäffer wurde in der Reichsregierung später zum Advokaten einer aktiven Konjunkturpolitik. Bonn, der zusammen mit Stolper zahlreiche wirtschaftspolitische Eingaben an die Reichsregierung organisierte, notierte 1931, die Krise müsse sich »ausbrennen«, war dabei aber schon fast verzweifelt darum bemüht, angesichts der ökonomischen Dramatik die Nerven zu behalten.240 Eucken schrieb später nicht 236 Vgl. Willke, Keynes, S. 30 f. 237 Einen Bundesgenossen wie Honegger etwa dürfte sich Hahn kaum gewünscht haben, der den Mangel von dessen Theorie vor allem in der fehlenden philosophischen Unterfütterung erblickte. Honegger, Kredit. 238 Kim, S. 66 f. 239 Staudinger, Wirtschaftspolitik, S. 88. 240 Moritz Julius Bonn: Aufzeichnung zur Denkschrift vom 2.9.1931. BA Koblenz. Nl Bonn, 82/51.

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ohne Bitterkeit, die Wirtschaftspolitik sei in die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen geradezu hineingetrieben worden.241 Aus diesem Grund sollte man vorsichtig sein, die Empfehlungen für eine kontrazyklische Konjunkturpolitik, die in der Krise gemacht wurden, unbe­ sehen als Vorläufer keynesianischer Wirtschaftspolitik zu betrachten. Die meisten dieser Vorschläge wurden erst relativ spät, in den Jahren 1931/32 veröffentlicht, als der deflationistische Konsens bereits in sich zusammengebrochen war. Löwe und Colm beispielsweise, die stark gegen weitere Lohnkürzungen und für eine kontrazyklische Wirtschaftspolitik plädierten242, befanden sich noch 1931 unter den Unterzeichnern einer Eingabe an die Reichsregierung, die sich gegen eine Diskontsatzsenkung aussprach. Auch wenn es dafür nachvollziehbare ökonomische Gründe gegeben haben mag, wurde hier doch eine gerade gegen eine solche kontrazyklische Maßnahme argumentiert. Spätestens seit 1932 war indes den meisten Akteuren klar, dass ein »Ausbrennen« der Krise nicht länger akzeptabel war.243 Hans-Jörg Siegenthaler hat es als ein Beispiel des »Verlusts von Regelvertrauen« beschrieben, dass das Zutrauen in die Selbststeuerungsfähigkeit und Selbstheilungskräfte des Marktes während der Weltwirtschaftskrise verloren ging.244 Für die ökonomische Theorie in Deutschland hatte das zugleich zur Konsequenz, das Projekt einer geschlossenen Konjunkturtheorie zu den Akten legen zu müssen. So konnte Röpke seine Vorstellung einer sekundären Depression begründen, und das war schließlich auch die Voraussetzung dafür, dass Keynes wirtschaftstheoretische Überlegungen solch eine begeisterte Aufnahme finden konnten. Keynes ging bereits nicht mehr von einer Regelmäßigkeit der Zyklen aus. Seine konjunkturtheoretischen Ausführungen in der ­General ­Theory waren eher unscharf und durch seine Überlegungen zur säkularen Stagnation geprägt. Einen wahrhaft treuen Gefolgsmann hatte die Konjunkturtheorie vor allem in Schumpeter, dessen Werk Business Cycles in gewisser Weise zugleich den Höhepunkt und den Abschluss eines Projektes repräsentierte, dass in Deutschland mit großen Hoffnungen begonnen worden war, dann aber Schiffbruch erlitt. Dass Schumpeters Werk im Vergleich zur Gene­ ral Theory relativ geringe Aufmerksamkeit bekam, hatte aber nicht nur damit zu tun, dass es durch die schier unglaubliche Fülle an Tatsachenmaterial nahezu unleserlich wurde. Auch das Projekt einer umfassenden Konjunkturtheorie als kapitalistischer Normalentwicklung war in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre nicht mehr aktuell. Keynes’ Theorie entsprach dem durch die Weltwirtschafts241 Eucken, Entwicklung, S. 67. 242 Das Besondere bei Colm, Löwe oder Neisser war, dass sie eine kontrazyklische Wirtschaftspolitik befürworteten, auch wenn die Rentabilität der übrig gebliebenen Unternehmen noch nicht erreicht war. Vgl. Colm, Krisensituation, S. 404 ff. Neisser, Ankurbelung, S. 82. Hagemann, Lohnsenkungen. 243 Anders noch: Somary, Krisenwende?, S. 40. 244 Siegenthaler, Regelvertrauen, S. 149 ff.

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krise erzeugten Bedürfnis nach einer neuen Theorie sehr viel mehr, als Schumpeter das mit seinem Ansatz vermochte. Damit befand sich die ökonomische Theorie jedoch in einer Situation, in der ein Großteil der Forschungsarbeit, die seit Mitte der 1920er Jahre geleistet worden war, fast nur noch historischen Wert hatte. Möglicherweise hätte die Konjunkturtheorie ohne die Weltwirtschaftskrise ein neues Paradigma der ökonomischen Theorie begründen können, wenn es gelungen wäre, mit den methodischen Gegensätzen pragmatisch umzugehen. Die große Anzahl der Theoretiker im akademischen Nachwuchs des Faches legt es zumindest nahe, dass sich die ökonomische Theorie in Deutschland nach und nach auch institutionell durchgesetzt hätte. Die Weltwirtschaftskrise und schließlich der Nationalsozialismus machten dieser Entwicklung jedoch einen Strich durch die Rechnung. Das Regime, in dem es viele der fähigsten Wissenschaftler in die Emigration trieb; die Weltwirtschaftskrise, in dem sie eine empirische Herausforderung schuf, die das Projekt einer geschlossenen Konjunkturtheorie, in dessen Rahmen sich die ökonomische Theorie in Deutschland reorganisiert hatte, zunichte machte.

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7. Kartelle, Monopole und die Zukunft des Kapitalismus

Die am intensivsten geführte nationalökonomische Debatte während der Weimarer Republik war die um Kartelle und Monopole, also um die Auswirkung von Organisationen, die den freien Wettbewerb tendenziell ausschlossen und eine monopolistische Marktposition anstrebten. Das war bereits vor dem Ersten Weltkrieg ein großes Thema gewesen und hatte besonders auf der Mannheimer Tagung des Vereins für Sozialpolitik 1905 zu erregten Diskussionen geführt. In den 1920er Jahren wurde diese Debatte wieder aufgenommen, und sie ging über die bloße Einschätzung der positiven und negativen Wettbewerbseffekte von Kartellen und Monopolen weit hinaus. Vielmehr stand im Hintergrund immer die Frage, welche weitreichenden Folgen mit der zunehmenden Selbstorganisation der Wirtschaft verbunden waren und ob sich hier nicht Wandlungstendenzen des Kapitalismus zeigten, die dahin führten, dass nicht mehr der freie Markt die ökonomischen Handlungen koordinierte, sondern eine wie auch immer geartete Form der Organisation die Einzelwirtschaftspläne miteinander verknüpfte. Die Debatte verschmolz somit mit der, besonders seit den späten 1920er Jahren intensiv geführten Diskussion um die Zukunft des Kapitalismus.1 Im Kapitel über die soziologischen Nationalökonomen wurde es als eine zentrale Ursache der Krise des Faches herausgearbeitet, dass viele Wissenschaftler in ihrem Denken nicht von den bestehenden Verhältnissen ausgingen, sondern diese vielmehr mit der Vorstellung einer guten oder natürlichen Ordnung kontrastierten und von dieser Warte aus kritisierten. In gewisser Hinsicht war das typisch für große Teile der Disziplin: Sachfragen wurden zumeist wenig pragmatisch angegangen und immer wieder auf übergreifende Fragestellungen nach den Entwicklungstendenzen des wirtschaftlichen und gesellschaft­ lichen Gesamtsystems bezogen. Die Debatte um Kartelle und Monopole ist dafür das beste Beispiel, schien deren gehäuftes Auftreten in den 1920er Jahren doch grundlegende Strukturänderungen in der Wirtschaftsordnung anzuzeigen. Claus-Dieter Krohn hat darum Recht, wenn er schreibt, dass in der permanenten ökonomischen und politischen Krisensituation der 1920er Jahre die theoretischen Auseinandersetzungen im Wesentlichen ordnungspolitische Grundsatzdiskussionen waren.2

1 Lüdders. 2 Krohn, Wirtschaftstheorien, S. 14.

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Der folgende Abschnitt möchte die Diskussion um Kartelle und Monopole sowie um die Zukunft des Kapitalismus in ihrer gegenseitigen Verschränkung darstellen. Der Bezug zur Krise der Nationalökonomie besteht in erster Linie darin, eine weitere Konsequenz des Systemdenkens aufzuzeigen, das nicht allein in der beständigen Thematisierung methodischer und epistemologischer Grundlagen bestand, sondern auch darin, bestimmte Prämissen bis hin zu den daraus zu ziehenden Folgerungen für die Wirtschaftsordnung auszuarbeiten. Das zeigte sich nirgendwo sonst in solcher Klarheit wie in der Debatte, in der die Zukunft der Wirtschaftsordnung selbst zum Gegenstand wurde.

7.1 Grundlinien der nationalökonomischen Debatte um Kartelle und Monopole bis zur Weltwirtschaftskrise 7.1.1 Die Kartelldiskussion vor dem Ersten Weltkrieg Dass Marktparteien, in der Regel auf der Produzentenseite, sich zu Verbänden zusammenschließen, um die Preisbildung günstiger für sich zu gestalten, ist ein im Wirtschaftsleben seit langem bekanntes Phänomen. Ein manifestes Beispiel sind etwa die Zünfte oder die vielfältigen Praktiken des Vorkaufs, die im Mittelalter und der Frühen Neuzeit durch Marktordnungen zu regulieren versucht wurden.3 Im Deutschen Reich nahm jedoch besonders nach dem Übergang zum Protektionismus 1879 die Neigung zur Kartellbildung zu: Dieser staatliche Eingriff in die freie Preisbildung bot einerseits eine Legitimation für die Unternehmen, ebenfalls Mindestpreise zu verlangen. Andererseits brachte die Schutzzollbewegung eine Stärkung der industriellen Interessenvertretung mit sich.4 Schließlich waren manche Branchen vor das Problem gestellt, dass sie die höheren Kosten für den Bezug agrarischer Rohstoffe auf die Konsumenten überwälzen mussten, wofür sich die Kartellbildung als Mittel anbot. Kartelle kamen schließlich besonders in solchen Branchen zustande, in denen aufgrund relativ homogener Produkte eine Organisation effizient durchgeführt werden konnte, z. B. dem Bergbau oder der Eisen- und Stahlindustrie. Der Kalibergbau stellte vor dem Weltkrieg die am stärksten kartellierte Branche der deutschen Industrie überhaupt dar.5 In den Fokus der nationalökonomischen Diskussion rückte die Kartellfrage  vor allem durch eine Arbeit des Österreichers Friedrich Kleinwächter, der 1883 die erste grundlegende Studie zu dieser Problematik veröffentlichte.6

3 Vgl. Krauth, Wirtschaftsstruktur, S. 26 ff. 4 Bücher, Kartelle, S. 143. 5 Emons, Kaliindustrie, S. 10 ff. 6 Kleinwächter, Die Kartelle.

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Diese wirkte, wie Karl-Heinz Fezer meinte, geradezu wie eine »Enthüllung«.7 Kleinwächter stellte heraus, dass die Kartelle in erster Linie »Kinder der Not« waren, also vor allem der Sicherung der Preise in wirtschaftlich schlechten Zeiten dienten. Zugleich pries Kleinwächter sie als ein Mittel zur Lösung der sozialen Frage. Sie sollten den Wettbewerb regulieren und dabei vor allem zwei Zwecken dienen: der Beseitigung einer anarchischen, schrankenlosen Konkurrenz und der Sicherung einer am Bedarf orientierten Produktion.8 Die Arbeit rückte also nicht nur das Phänomen der Kartelle in das Schlaglicht der national­ ökonomischen Diskussion, sondern lieferte zugleich die ordnungspolitischen Argumente zur Rechtfertigung ihrer Existenz, welche die weitere Debatte maßgeblich bestimmen sollten. 1894 nahm sich der Verein für Sozialpolitik auf seiner Generalversammlung in Wien der Kartellfrage an, wobei Karl Bücher das vielbeachtete Hauptreferat hielt. Er bezeichnete darin die Kartelle als eine Organisationsform der Wirtschaft, deren Umfang mittlerweile kaum noch überblickt werden konnte. Längst hätte sie nicht nur die Produzentenseite erfasst, sondern auch Absatzorganisationen wie Handelsgesellschaften. Bücher verschloss durchaus nicht die Augen vor den negativen Wirkungen der Kartelle: dass sie zwar zu einer Verstetigung der Beschäftigung führten9, zugleich jedoch die Position der Arbeitgeber gegenüber den Arbeitnehmern stärkten. Weiter konstatierte er, dass vor allem die Konsumenten unter den Kartellen litten, weil sie höhere Preise für die alltäglichen Güter des Verbrauchs zu zahlen hätten. Das hinderte Bücher jedoch nicht daran, den durch die Kartellbildung eingeleiteten Umbildungsprozess der Wirtschaft insgesamt gutzuheißen: »Weil er eine Rückkehr bedeutet von der Produktionsanarchie zur Produktionsordnung, eine Disciplinierung der Gesellschaft für die höheren Kulturaufgaben, welche ihrer noch harren.«10 Um die Jahrhundertwende konzentrierte sich die Diskussion um das Kartellproblem vor allem auf die Frage des Unterschieds zwischen Kartellen und den typisch amerikanischen »Trusts«, wobei mit »Trust« zeitweilig jedes größere amerikanische Unternehmen bezeichnet wurde.11 Es ging vor allem darum, ob die zunehmende Kartellierung nur die Zwischenstation eines Prozesses war, an dessen Ende eine Vertrustung der deutschen Wirtschaft stehen werde, oder ob zentrale Unterschiede zwischen diesen beiden Formen der monopolistischen Marktbeherrschung existierten. Das war insbesondere eine entscheidende Frage, als das Kartellproblem auf der Tagung des Vereins für Sozial­ politik 1905 in Mannheim erneut verhandelt wurde. Intensiv wurde hier über Für und ­Wider der Kartelle gestritten. Besonders Schmoller vertrat eine positive 7 Fezer, Haltung, S. 51. 8 Kleinwächter, Kartelle, S. 126. 9 Brentano, Ursachen. 10 Bücher, Kartelle, S. 154. 11 Blaich, Trustkampf, S. 43.

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Einschätzung der Kartelle. Während er die amerikanischen Trusts als negatives Beispiel für die Ausnutzung einer monopolistischen Marktmacht betrachtete, gestand er den Kartellen die positive Funktion der Regulierung eines ten­ denziell anarchischen Wettbewerbs zu. Die Leiter der Trusts, wie der Ölmagnat John D. Rockefeller, waren für Schmoller Geldmacher, die ein System des Raubes und Betruges errichteten und soziale Reformen verhinderten.12 Die Leiter der Kartelle hingegen sah Schmoller als Erzieher, die den Gesamtinteressen einer Branche den Sieg über die Einzelinteressen verschafften. Zugleich sah er die Kartell­bewegung noch so im Fluss, dass eine gesetzgeberische Regulierung unmöglich sei und man einfach abwarten müsse, wie sich die Dinge weiter entwickelten.13 Dieser Ansicht wurde von Max Weber, Friedrich Naumann und anderen massiv widersprochen. Dabei galt es sogar als relativ unstrittig, dass rein ökonomisch gesehen Kartelle einen durchaus positiven Effekt haben konnten: Ihnen wurde eine preisstabilisierende Wirkung zugestanden, wodurch sie in Krisenzeiten eine ruinöse Preiskonkurrenz verhinderten. Sie sollten eine zentral gesteuerte, bedarfs- und nachfrageorientierte sowie kostensenkende Produktionsweise gewährleisten, zu einer Verbesserung der sozialen Situation der Arbeitnehmer führen und das soziale Risiko verringern.14 Was jedoch kritisiert wurde, war, dass die fortschreitende Kartellierung der Volkswirtschaft einen Umbildungsprozess des Kapitalismus anzeigte, der in Richtung einer zunehmenden Verhärtung und Bürokratisierung der Verhältnisse ging; für Max ­Weber bedeutete das nicht »Versittlichung«, sondern Erstarrung. Das war der Grund, warum die Ausbreitung der Kartelle bei zahlreichen jüngeren Nationalökonomen, wie Boese schrieb, eine »Fin de siecle«-Stimmung erzeugte, die zu der aggressiven Reaktion auf Schmollers Kartell-Lob führte.15 Gerade weil Kartelle als Indikatoren für Wandlungstendenzen der Wirtschaft galten, war es wiederum für Sozialisten und Gewerkschaften schwierig, ihnen gegenüber klar Stellung zu beziehen. Zum einen mussten Kartelle die Lebenshaltung der Arbeiter künstlich verteuern; sie dienten insofern den Profit­ interessen der Industrie. Andererseits meinten jedoch Karl Kautsky und andere in dem zunehmenden Organisationsgrad der Wirtschaft bereits die Vorform einer sozialistischen Wirtschaftsordnung zu erblicken. Der linksintellektuelle Theoretiker und spätere Finanzminister der »Weimarer Koalition«, Rudolf Hilfer­ding16, hatte ein solchen Vorstellungen zugrundeliegendes Konzept in seinem 1910 erschienenen Werk Das Finanzkapital entwickelt. Er ging von einem immer weiter zunehmenden Grad der Verflechtung der Wirtschaft aus, wofür er später auf dem Kieler Parteitag der SPD 1927 das Wort vom »Organisierten 12 Schmoller, Verhältnis, S. 1561 f. 13 Ebd., S. 1585. 14 Schütze, Kooperation, S. 210. 15 Boese, Geschichte, S. 109 ff. Vgl. Pohle, Kartelle. 16 Zu Hilferding s. Wehler, Hilferding.

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Kapitalismus« prägen sollte. Gemeint war damit die zunehmende Ersetzung des »kapitalistischen Prinzips der freien Konkurrenz durch das sozialistische Prinzip planmäßiger Produktion« im Rahmen einer formal freien Verkehrswirtschaft.17 Eine zentrale Funktion kam dabei nach Hilferding dem sog. Finanzkapital zu, vor allem den Banken, die als Kreditgeber und Aufsichtsräte einen großen Einfluss auf die Unternehmen ausüben konnten.18 Der Kapitalismus schuf also unter der Hand bereits eine planwirtschaftliche Wirtschaftsordnung, die von der Arbeiterklasse nach einer gewonnenen demokratischen Wahl nur noch übernommen zu werden brauchte.19 Statt eines revolutionären Weges zum Sozialismus propagierte Hilferding einen evolutionären Übergang.20 Sozialisten und Gewerkschaften schwankten insofern zwischen der Ablehnung der Kartelle einerseits und der zukunftsfreudigen Gewissheit andererseits, dass die Kapitalisten an ihrem eigenen Untergang kräftig Hand anlegten. Indes lässt sich die Kartelldebatte der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg insgesamt daraufhin zuspitzen, dass man Kartelle als Hinweise auf einen Gestaltwandel der Wirtschaft weg vom liberalen Laissez-faire-Kapitalismus interpretierte. Für die Vertreter der Jüngeren Historischen Schule materialisierte sich in ihnen ein spezifischer Geist der Kooperation, der sich passgenau in ihre »Versittlichungs«Konzeption einfügte.21 Insofern waren die Kartellbefürworter also in der Überzahl, wenn auch nicht immer aus den gleichen Gründen. Staatliche Eingriffe wurden dabei nur vereinzelt gefordert, wie etwa im Fall einer staatlichen Kartellaufsicht, welche die Missbräuche der durch die Kartelle geschaffenen Marktmacht verhindern sollte.22 Zustande kam eine solche Aufsicht vor dem Krieg jedoch nicht; es gab in den Jahren 1903–1906 lediglich eine große staatliche Kartellenquete, welche die Position der Kartelle und Syndikate jedoch eher stärkte.23 7.1.2 Die Kartelldebatte während der 1920er Jahre In der Wahrnehmung der Zeitgenossen verstärkte sich die Konzentrationsund Zusammenschlussbewegung nach 1914 deutlich. Nicht allein, dass immer größere Konzerne entstanden, sondern auch die Kartellierung hatte allem Anschein nach zugenommen. Da Kartelle statistisch nur schwer zu erfassen waren24, musste man sich zum Beleg dieser Behauptung allerdings auf mehr oder weniger gesicherte Schätzungen berufen.25 Wagenführ trug 1931 die verschiede17 Hilferding, Organisierter Kapitalismus, S. 6. Vgl. Petzina, Gewerkschaften. 18 Hilferding, Finanzkapital, S. 237 ff. 19 Ebd., S. 466 ff. 20 Vgl. Schefold, Hilferding, S. 24 ff. 21 Liefmann, Unternehmerverbände, S. 160. 22 Schütze, Kooperation zwischen Volkswirtschaftslehre und Jurisprudenz, S. 196ff: 23 Ebd. 24 Wiedenfeld, Gewerbepolitik, S. 111. 25 S. Pierenkemper, S. 233 ff.

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nen Schätzungen der Kartellzahlen zusammen, die – wie valide sie auch immer sein mochten – in jedem Fall zeigten, dass letztere während der 1920er Jahre massiv gestiegen waren.26 Schätzung der Zahl der Industriekartelle in Deutschland: Jahr

Zahl

Schätzung nach

1875 1887 1889 1890 1895 1896 1900 1905 1911 1922 1925 1925 1930

8 70 106 117 143 250 300 385 550–600 1000 1500 2500 2100

Sombart Philippovich Philippovich Sombart Bücher Sombart Zentralverband der deutschen Industrie Amtliche Enquete Tschierschky Liefmann Metzner Deutsche Regierung Wagenführ

Quelle: Wagenführ, Horst: Kartelle in Deutschland. Nürnberg 1931, S. XIII.

1932 sprach Wagenführ sogar von aktuell an die 2400 Kartellen.27 Der seit Mitte der 1920er Jahre verstärkt wahrgenommene Trend eines zunehmenden Organisationsgrades der deutschen Wirtschaft schien sich also weiter fortzusetzen. Andere Beobachtungen deuteten ebenfalls in diese Richtung: nicht länger gingen Unternehmen allein in der Urproduktion Kartellverbindungen ein28, sondern schlössen sich auch in der Fertigindustrie zu Kartellen oder Syndikaten zusammen.29 Die Schwerindustrie des Ruhrgebiets beispielsweise hatte sich bereits früh bei den sog. A-Produkten (Roh- und Walzstahl) zu Absatzkartellen verbunden. Einen hohen Bekanntheitsgrad erreichte etwa das 1893 gegründete Rheinisch-Westfälische Kohlensyndikat (RWKS). Vorgeblich sollte die Kartellbewegung in dieser Branche aber mittlerweile auch die sog. B-Produkte, also Zwischenprodukte und Halbfabrikate wie Röhren erfasst haben, deren Produk26 Wagenführ, Kartelle, S. XIII. 27 Ders., Konjunktur, S. 6. 28 Hier sah sogar Ludwig Mises Kartelle als sinnvoll an, weil sie zum langsameren Verbrauch absolut knapper Ressourcen führen würden. Mises, Gemeinwirtschaft, S. 382 f. 29 Beckerath, Kräfte, S. 27 f. Wobei der Autor jedoch hervorhob, dass die Kartellierung gegenüber der Trustbildung an Bedeutung verlor. Ebd.

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tion und Absatz sich aufgrund der Vielfältigkeit der Produkte eigentlich kaum in Kartellform organisieren ließ. Hinzu kam, dass während der 1920er Jahre Zusammenschlüsse stattfanden, die in den jeweiligen Branchen eine enorme Zusammenballung ökonomischer Macht schufen: War es während der Inflationsjahre vor allem Hugo Stinnes gewesen, der mit der Siemens-Rheinelbe-Schuckert-Union innerhalb kürzester Zeit ein riesiges Unternehmenskonglomerat schuf30, schienen später vor allem zwei Zusammenschlüsse auf eine neue Dimension der wirtschaftlichen Konzentration hinzudeuten. Zum einen war das die Gründung der IG-Farben im Jahr 1925, welche die deutsche Chemieindustrie nahezu monopolisierte. Zum anderen handelte es sich um den Zusammenschluss mehrerer großer Stahlkonzerne zu den Vereinigten Stahlwerken im Jahr 1926.31 Hier konnte von einer Monopolisierung zwar eigentlich nicht gesprochen werden, weil Krupp, Hoesch und andere große Unternehmen dem »Stahltrust« fernblieben, jedoch entstand auf diese Weise der größte europäische Stahlkonzern, der in jedem Fall eine enorme Marktmacht akkumulierte. Die Trustbildung nach amerikanischem Vorbild hatte ganz offensichtlich Deutschland erreicht.32 Aus historischer Sicht ist festzustellen, dass trotz der erwähnten, scheinbar eindeutigen Hinweise, die Beobachtung eines verstärkten Konzentrations- und Organisationsgrades der deutschen Industrie tatsächliche Entwicklungen stark übertrieb.33 Auch wurde der eigentlich naheliegende Zusammenhang eher selten beachtet, dass die sich im Umlauf befindlichen, hohen Kartellzahlen zwar auf die allgemeine Akzeptanz von Kartellbindungen und Preisabsprachen hindeuteten, dass sie aber nicht unbedingt für einen hohen Organisationsgrad der deutschen Wirtschaft sprechen mussten. Denn die Vielzahl der Verbindungen zeigte, dass die Kartellbindungen in den meisten Fällen relativ schwach waren.34 Offensichtlich gelang es nicht, wenn es denn gewollt war, Generalkartelle zu installieren. Die Kartellverordnung vom November 1923, welche die gröbsten Auswüchse der Kartellzusammenschlüsse verhindern sollte, beförderte sie eher noch, weil sie sicherstellte, dass die Kartellverträge von den Unternehmen gekündigt werden konnten, wenn eine massive Einschränkung ihrer wirtschaftlichen Freiheit vorlag. Das dürfte vielen Unternehmen die Hemmungen genommen haben, einem Kartell beizutreten.35 Während der Weltwirtschaftskrise wurde das Kartellrecht zwar verschärft36, eine durchgreifende Änderung brachte jedoch erst das 1933 bereits von den Nationalsozialisten erlassene Zwangskartellgesetz.37 30 Feldman, Stinnes, S. 932 ff. 31 Reckendrees. 32 Alpha (Pseudonym), S. 501. 33 So schon Röpke, Policy, S. 33. 34 Wiedenfeld, Gewerbepolitik, S. 127. 35 Feldenkirchen, Zwangskartellgesetz, S. 145 ff. 36 Vogelstein, Kartellverordnung. 37 Feldenkirchen, Zwangskartellgesetz.

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Hinzu kam, dass die Größe mancher Unternehmen, etwa in der Chemieund Elektro-, vor allem aber in der Schwerindustrie, dazu verführte, Entwicklungen in diesen Branchen als pars pro toto für die gesamte deutsche Wirtschaft zu betrachten.38 Die zumindest teilweise homogenen Produkte in der Schwerindustrie eigneten sich schließlich am ehesten für eine Kartellierung, während sich die Situation in stärker diversifizierten Branchen ganz anders darstellte. Bis zum Ruhreisenstreit 1928 wurde überdies kaum beachtet, dass sich gerade die Unternehmen der Schwerindustrie während der Weimarer Republik in einer wirtschaftlich äußerst angespannten Situation befanden. Die Absatzlage war schlecht und die Inflation hatte die Finanzen der meisten großen Konzerne stark angegriffen.39 Die Gründung der Vereinigten Stahlwerke hatte dann auch weniger mit ihrer Selbstinszenierung als »Rationalisierungsgemeinschaft« zu tun, sondern diente in erster Linie der Wertsicherung von Werken und Anlagen, die ansonsten hätten abgeschrieben werden müssen.40 Die von Teilen der älteren historischen Forschung vertretene Deutung einer Verschwörung der »Herren aus dem Westen«41 entsprach also kaum der Realität.42 Bis Anfang der 1920er Jahre wurde die Kartellfrage in der nationalökonomischen Literatur auffallend wenig diskutiert.43 Das von Liefmann verfasste Standardwerk über Kartelle und Trusts erlebte 1922 immerhin bereits seine fünfte Auflage.44 Ansonsten konzentrierte sich die Diskussion über mögliche Veränderungen der Wirtschaftsordnung in der unmittelbaren Nachkriegszeit aber vor allem auf das Problem der Sozialisierung, also der Verstaatlichung der Wirtschaft oder bestimmter Schlüsselindustrien. Ansätze dazu hatte es bereits während des Ersten Weltkrieges gegeben, wobei besonders Walther Rathenaus Schrift Die neue Wirtschaft ein großer publizistischer Erfolg war. Der AEG»Präsident« und spätere Außenminister forderte darin die gemeinwirtschaftliche Umgestaltung der deutschen Wirtschaft, die in der Forderung gipfelte, aus ihr eine große AEG zu machen, also die Prinzipien, die den Erfolg dieses Unternehmens begründet hatten, auf die Organisation der deutschen Wirtschaft insgesamt anzuwenden.45 Nach dem Krieg war die Sozialisierung dann in aller Munde. Anfang 1919 wurde von staatlicher Seite eine Sozialisierungskommission eingerichtet, in der mit Amonn, Lederer und Schumpeter auch prominente Nationalökonomen saßen. Nachdem jedoch klar wurde, dass die Vorschläge der Kommission keine Beachtung bei der Politik finden würden, vor allem, nachdem im Juli 1919 der 38 S. Schmalenbach, Betriebswirtschaftslehre. 39 Für den Fall Thyssen s. Fear, S. 431 ff. 40 Reckendrees. 41 Reger, Union. 42 Z. B. Hallgarten u. Radkau, S. 184 ff. 43 Wolfers, Kartellproblem, S.  2 f. Hinzu kam, dass sich viele Kartelle nach der Kriegswirtschaft erst neu organisieren mussten. Tschierschky, Entwicklung, S. 408*. 44 Liefmann, Kartelle. 45 Rathenau, Wirtschaft.

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Sozialisierungsskeptiker Robert Schmidt den Sozialisierungsbefürworter Rudolf Wissell als Reichswirtschaftsminister abgelöst hatte, legte die Kommission ihre Arbeit nieder. Sie wurde allerdings 1920 nach dem Kapp-Putsch noch einmal kurzzeitig wiederbelebt. Sämtliche an der Sozialisierungskommission beteiligten Nationalökonomen veröffentlichten wissenschaftliche Betrachtungen zur Sozialisierungsproblematik, wobei das Bemühen erkennbar war, einen nüchternen Blick auf die Vorbedingungen und Realisierungschancen der Sozialisierung zu werfen, ohne sie von vornherein abzulehnen.46 Lederer gehörte sogar zu den expliziten Sozialisierungsbefürwortern und sah in der Verstaatlichung der Wirtschaft eine Möglichkeit, den ansonsten seiner Meinung nach unabwendbaren Ausverkauf der deutschen Wirtschaft zu verhindern.47 Amonn blieb dagegen skeptisch; abgesehen davon, ob die Sozialisierung prinzipiell wünschenswert sei, sah er ihre Durchführung mit zahllosen praktischen Schwierigkeiten belastet. Am gravierendsten erachtete er dabei das Problem einer »bedürfnisgerechten« Zuteilung im Sozialismus.48 Heimann betonte bei grundsätzlicher Sozialisierungsfreundlichkeit ebenfalls die praktischen Schwierigkeiten der Durchführung, während sich Schumpeters Einstellung nur schwer eindeutig bestimmen lässt. Er selbst meinte später zu seiner Teilnahme an der Kommission, wenn jemand Selbstmord begehen wolle, sei die Anwesenheit eines Arztes hilfreich, wobei das jedoch möglicherweise nur seine sozialisierungsfreundliche Einstellung zu dieser Zeit ironisierte.49 Die Sozialisierungsdebatte und die Diskussion um Kartelle und Monopole verband ihr ordnungspolitischer Charakter; bei beiden spielte die Frage des Übergangs zu einer geplanten oder gebundenen Wirtschaftsordnung eine entscheidende Rolle, in welcher der freie Markt mehr oder weniger ausgeschaltet wurde. Bei der Frage der Sozialisierung ging es dagegen viel stärker um die Durchsetzung einer geplanten Organisation der Volkswirtschaft, bei der die Kriegswirtschaft zugleich als Vorbild und abschreckendes Beispiel fungierte.50 Dabei handelte es sich nur bedingt, wie das bei den Kartellen und Trust angenommen wurde, um eine organische, aus der Wirtschaft selbst erwachsende Entwicklung. Die Sozialisierungspläne offenbarten vielmehr einen ausgeprägten Planungsoptimismus, der die rationale Gestaltung der Volkswirtschaft nicht selten für problemlos machbar erachtete. Die Nationalökonomie sah demgegenüber ihre Aufgabe in erster Linie darin, aufzuzeigen, wie voraussetzungsreich die Durchsetzung einer planwirtschaftlichen Organisation der Wirtschaft war. Das richtete sich vor allem gegen jene, die mit langen statistischen Tabellen 46 Lederer, Wiederaufbau. Amonn, Hauptprobleme. Schumpeter, Möglichkeiten. 47 Lederer, Wiederaufbau, S. 70 ff. 48 Amonn, Hauptprobleme, S. 75 f. 49 Schumpeters Freund Lederer meinte jedenfalls, dieser sei bereits während des Krieges »munizipaler Sozialist« geworden. Schreiben Edgar Salin an Gottfried Haberler (8.1.1951). UB Basel, Handschriftenabteilung. Nl Salin, Fb 1093. 50 Neurath, Utopie, S. 238 f.

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nachzuweisen versuchten, wie leicht und reibungslos die Sozialisierung der Volkswirtschaft durchzuführen war, und die das Defizit der freien Verkehrswirtschaft darin erblickten, die volle Ausnutzung der Produktionsmittel zu verhindern.51 Charakteristisch für die Sozialisierungsdebatte war ihr ausgesprochen utopischer Zug, der sich besonders während der Inflationsjahre mit zahlreichen lebensreformerischen Vorstellungen der Neugestaltung der Gesellschaftsordnung verband. Während im Zuge der Kulturkrise seit 1900 die Institutionen des Kaiserreichs häufig als Inbegriff einer Verhärtung und Verknöcherung der Verhältnisse galten52, schien die Revolution geradezu das Gegenteil zu erweisen.53 Der utopische Gehalt wurde von vielen Sozialisierungsbefürwortern sogar betont, um auf diese Weise die Gestaltbarkeit der Verhältnisse zu demonstrieren. Otto Neurath, der bereits vor dem Krieg durch seine Versuche zur Begründung einer »Kriegswirtschaftslehre« bekannt geworden war und später zu den wichtigsten Protagonisten des Wiener Kreises gehörte, sah in der bewussten Planung ein »Rationalitätsmodell«, das er zum Paradigma eines strategisch-technischen Weltverständnisses verallgemeinern wollte. Dementsprechend sah er sich selbst als »Gesellschaftstechniker«, für den der Begriff der Utopie54 seinen illusionären Charakter verlieren sollte.55 Zurecht wurde es später als entscheidendes Manko der Sozialisierungsdiskussion angesehen, sich über konkrete Trans­ formationsstrategien zu wenig Gedanken gemacht zu haben.56 Etwa um die Mitte der 1920er Jahre herum trat das Kartellproblem wieder verstärkt in das Bewusstsein der Öffentlichkeit und der nationalökonomischen Diskussionen. Neu erfunden wurde es dabei gegenüber der Vorkriegszeit zwar nicht, es kam jedoch zu Akzentverschiebungen. So galt es vor dem Ersten Weltkrieg als allgemein akzeptiert, dass Kartelle in wirtschaftlich schlechten Zeiten auskömmliche Preise garantieren sollten, während umgekehrt angenommen wurde, dass die Unternehmen in guten Zeiten wie durch ein Wunder die Segnungen des freien Wettbewerbs wieder entdeckten.57 In den 1920er Jahren waren die Meinungen über diesen Punkt jedoch sehr viel gemischter. Sombart meinte 1927, die Kartellbildung sei vor allem ein Phänomen der Hochkonjunktur, weil die Aussicht auf Erhaltung günstiger Preise bei starker Nachfrage ein großer Anreiz für den Eintritt in ein Kartell sei.58 Liefmann fand eine Mitte zwischen beiden Positionen, wenn er schrieb, dass Unternehmen durch Kartellbildung wirtschaftlich schwierigen Zeiten zuvorkämen. Sie antizipierten die 51 Dagegen: Mises, Wirtschaftsrechnung. 52 Vgl. allgemein: Hepp. 53 Explizit thematisiert bei Lederer, Wiederaufbau, S. 5. S.a. Sontheimer, Denken, S. 41 ff. 54 Nach Martin Buber der Entwurf einer Gesellschaft, als ob es keine anderen Faktoren als den Menschenwillen gäbe. Buber, S. 30 f. 55 Neurath, Utopie. 56 Heimann, Soziale Theorie, S. 299. 57 Dobretsberger, Wirtschaft, S. 105. 58 Sombart, Hochkapitalismus, S. 695.

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ökonomische Entwicklung und schlössen sich zusammen, bevor sie der wirtschaftliche Abschwung in existentielle Not brachte.59 Die Beurteilung der Wettbewerbseffekte von Kartellen kreiste vor allem um das Problem, wie sich die Preisgestaltung in kartellierten Branchen gegenüber dem freien Wettbewerb verhielt. Kartellbildung war eindeutig nur dann sinnvoll, wenn auf diese Weise eine zumindest annähernd monopolistische Marktstellung erreicht wurde. Der Tenor ging jedoch dahin, dass das zwar gegenüber dem freien Wettbewerb eine Erhöhung der Preise zur Folge hatte, jedoch nicht in untragbarem Ausmaß. Zu einer Diskussion über die theoretische Bestimmung des Monopolpreises kam es dabei nur am Rande, wobei das ernüchternde Ergebnis meistens war, hier läge eines der Erklärungsdefizite der ökonomischen Theorie vor.60 Eine theoretisch weiterführende Lösung für dieses Problem sollte erst 1933 von Richard Chamberlin und Joan Robinson vorgelegt werden.61 Was sich gegenüber der Vorkriegszeit nicht verändert hatte, war die prinzipiell positive Einstellung der meisten Ökonomen gegenüber Kartellen. Die sozialpolitischen Errungenschaften der Weimarer Republik, etwa das Tarifvertragswesen, hatten zwar dazu geführt, dass ein wichtiges Argument für die Kartelle, dass sie eine größere Stetigkeit der Beschäftigung garantieren sollten, an Bedeutung verlor. Ein anderes wurde hingegen verstärkt hervorgehoben, nämlich ihre preisstabilisierende Wirkung. Wiedenfeld sah eine wesentliche Funktion der Kartelle darin, die durch den Weltmarkt bedingten, unkalkulierbaren Preisschwankungen zu glätten und damit zugleich auch die Konjunktur zu stabilisieren.62 Ein wesentlicher Zug der Kartelldebatte bis zur Weltwirtschaftskrise war, dass stärker noch als vor dem Weltkrieg Kartelle von liberalen Ökonomen verteidigt wurden, welche die Vertragsfreiheit offensichtlich höher schätzten, als die Sicherung des Wettbewerbs. So gehörte ein wirtschaftsliberaler Ökonom wie Adolf Weber zu ihren stärksten Befürwortern. Weber argumentierte dabei in einer Weise, die der Jüngeren Historischen Schule, die er vor dem Krieg so ausdauernd bekämpft hatte, durchaus alle Ehre gemacht hätte63: Er hielt Kartelle für Ordnungsfaktoren in einer ansonsten zur Anarchie neigenden Konkurrenz. Er erblickte in ihnen Organisationen, die einen ruinösen in einen geregelten Wettbewerb verwandelten. Für Weber war das »nicht Negation, sondern Bejahung der Konkurrenzwirtschaft.«64 Die Konkurrenz musste sich nach Weber nicht nach außen »in einem wilden Kampf« äußern, sondern als Regisseur des auf der Bühne sich abspielenden wirtschaftlichen Schauspiels tätig sein.65 Hier versöhnte Weber die Harmonisierungsvorstellung der Historischen Schule 59 Liefmann, Kartelle, S. 25. 60 Braess. Riemer, Struktur, S. 553 ff. 61 Robinson, Economics. 62 Wiedenfeld, Gewerbepolitik, S. 145 f. Dagegen: Lederer, Monopole, S. 27 63 Weber, Kampf. 64 Ders., Ende, S. 41 65 Ebd., S. 44.

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mit der Wettbewerbskonzeption der ökonomischen Klassik: Indem Kartelle den Konkurrenzkampf milderten, zeigten sie an, dass der Kapitalismus die Kinderkrankheiten seiner Jugendjahre überwunden hatte und in ein »kräftiges Mannesalter« eingetreten war.66 In diesem kapitalistischen Reifestadium konnte die Vorstellung des Wettbewerbs als eines Spiels, statt eines Kampfes, dann Geltung für sich beanspruchen, mit der Implikation, dass sich so alle Marktparteien am Ende besser stellten. Die Ansicht, die Funktion der Kartelle liege darin, die Auswüchse der freien Konkurrenz abzuschwächen und zu einem geregelten Wettbewerb zu führen, wurde insbesondere von Webers Schüler Georg Halm theoretisch weiter ausgebaut.67 Halms zentrales Argument war, dass Kartelle nicht den Wettbewerb verhinderten, sondern ihre Existenz erst das Resultat eines bereits stattgefundenen freien Wettbewerbs war. Dieser hatte dazu geführt, dass auf dem Markt annähernd gleichstarke Unternehmen zurückblieben. Wenn diese sich nun weiter im Wettbewerb bekämpften, war die Folge eine in der Tat ruinöse Konkurrenz, die der Gesamtwirtschaft letztlich schadete.68 Dabei vergaß er nicht darauf hinzuweisen, dass der Ausnutzung der monopolistischen Marktmacht der Kartelle Grenzen gesetzt waren, weil ein zu hohes Preisniveau auf Teilmärkten immer Außenseiter anlocke.69 Die Ansicht, der freie Wettbewerb gewährleiste es nicht mehr, dass die Unternehmen mit den Verkaufspreisen ihre Produktionskosten decken könnten, war ein häufig vorgebrachtes Argument, um die Existenz und den Sinn von Kartellen zu rechtfertigen.70 Insofern wurden sie um die Mitte der 1920er Jahre von vielen Ökonomen noch nicht primär als Zeichen des Übergangs in eine neue Wirtschaftsform, sondern als Mittel zur Milderung des Konkurrenzkampfes und Stabilisierung des Kapitalismus gesehen.71 Der Umstand, dass es dabei nicht zuletzt Liberale wie Weber oder Liefmann waren, welche die zunehmende Kartellierung der Volkswirtschaft befürworteten, bewegte Heimann schon 1924 zu dem Hinweis auf den eigenartigen Konservativismus, der die wirtschaftsliberalen Nationalökonomen der Weimarer Republik erfasst habe.72 So wenig letztere den Sozialismus befürworteten, waren sie dennoch skeptisch gegenüber der Ansicht, die Selbststeuerung des Marktes allein reiche aus, öko66 Ebd., S. 54. Mit dieser Formulierung spielte Weber auf Sombart an, der im dritten Band des Modernen Kapitalismus geschrieben hatte, die Zeit des »tatkräftigsten Mannesalters« des Kapitalismus sei vorüber: »die letzten ›Vierziger‹ haben begonnen.« Sombart, Hochkapitalismus, S. XII. 67 Halm, Konkurrenz. 68 Ebd., S. 134 ff. Müllensiefen, Kartelle, S. 32. 69 Was bei kapitalintensiven Branchen wie der Eisen- und Stahlindustrie aufgrund der hohen Einstiegsinvestitionen jedoch nur bedingt der Fall war. Ähnlich auch Liefmann, Kartelle, S. 251. 70 Dobretsberger, Wirtschaft, S. 33 f. 71 Weber, Ende, S. 54. 72 Heimann, Entwicklungsgang, S. 20.

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nomische Katastrophen zu verhüten. Das Moment der organisatorischen Regelung des Wettbewerbs konnte deswegen auf Befürworter von allen Seiten rechnen und es gab nur wenige Liberale, die Kartelle weiterhin als gesamtwirtschaftlich schädlich betrachteten.73 Diese Ansicht wird verständlich vor dem Hintergrund der ökonomischen Turbulenzen der frühen 1920er Jahre, die als ein Versagen des Ordnungsversprechens der »unsichtbaren Hand« gedeutet wurden und vor deren Hintergrund eine Zivilisierung des Wettbewerbs durch Kartelle sinnvoll erschien. Auch bedeutete aus der Perspektive der »sozialen Theorie« Wettbewerb die Austragung sozialer Konflikte, weshalb Kartelle zu einer Milderung gesellschaftlicher Konfliktlagen beitragen konnten.74 Von sozialistischer Seite wiederum schien die zunehmenden Organisationstendenzen in den 1920er Jahren lediglich das Konzept des Organisierten Kapitalismus zu bestätigen, dass die Unter­nehmen durch Zusammenschluss immer mehr den freien Wettbewerb ausschalteten und sich die Volkswirtschaft sukzessive dem Endzustand, der Verschmelzung zu einem Großunternehmen, annäherte.75 Hilferding meinte 1927, die Kapitalisten glaubten selbst nicht mehr an den freien Wettbewerb, womit der Umbildungsprozess von einer freien zu einer geplanten Wirtschaftsordnung in sein entscheidendes Stadium eintrat. Im Grunde ähnelten sich die Kartelldebatten vor und nach 1914 in vielen Punkten. Charakteristisch war, dass das Kartell- und Monopolproblem nahezu immer auf zwei Ebenen verhandelt wurde. Auf der einen Ebene ging es um die Frage der ökonomischen Wirkung von Kartellen. Dass sie insgesamt zu höheren Preisen führten, wurde dabei zumeist für gut befunden, weil das zu einer Stabilisierung des Wettbewerbs führte und eine ruinöse Konkurrenz verhinderte. Ebenfalls diskutiert wurde die Frage, ob die Kartelle wirklich effektiv Wettbewerbsvorteile besaßen und wie sich diese im Wirtschaftsleben auswirkten. Auf der zweiten Ebene wurde die Frage aber, wie es der Wiener Privatdozent Josef Dobretsberger ausdrückte, als ein soziologisches Problem behandelt.76 Kartelle und Trusts waren nicht einfach Organisationen, deren Marktmacht spezifische ökonomische Konsequenzen hatte, sondern sie wiesen auf einen Strukturwandel der Wirtschaft insgesamt hin  – und gerade die »soziologische« Beurteilung wirkte oftmals auf die Bewertung der Wettbewerbseffekte von Kartellen zurück.77

73 Bonn, Schicksal, S. 29. Als Überblick zum Verhältnis Liberalismus und Kartelle vgl. Briefs, Kartellkritik. 74 Vgl. Kolnai, Ideologie. 75 Kaliski, Wirtschaft, S. 488. 76 Dobretsberger, Wirtschaft, S. 9. 77 Kritisch für die SPD angemerkt bei: Bechtold, Kartellierung, S. 182.

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7.2 Kartelle, Trusts und Rationalisierung 7.2.1 Rationalisierung und Größenwachstum der Unternehmen Der beobachtete Strukturwandel der Volkswirtschaft wurde in den 1920er Jahren einerseits mit einer zunehmenden Organisierung, andererseits mit einer zunehmenden Rationalisierung der Wirtschaft identifiziert, wobei vor allem letztere zeitweise geradezu als Allheilmittel für die ökonomischen Probleme Deutschlands gesehen wurde. Die Rationalisierung spielte dabei für die Diskussion um Kartelle und Monopole insofern eine entscheidende Rolle, weil sie in den 1920er Jahren vor allem mit der Möglichkeit einer effizienteren und kostengünstigeren Produktion durch die Ausnutzung von Skaleneffekten gleichgesetzt wurde. Das wiederum hieß, dass ihre Potentiale nur im Rahmen großtechnischer Abläufe voll genutzt werden konnten. Da Kartelle und Trusts als Symptome eines fortschreitenden Größenwachstums der Unternehmungen galten, waren Berührungspunkte zwischen den Debatten zwangsläufig gegeben. Die sozialistische Vorstellung vom Organisierten Kapitalismus musste man nicht unbedingt teilen; dass sich aber größere Unternehmungen im kapitalistischen Wettbewerb gegen die kleineren durchsetzten, wurde kaum je bestritten. Schmoller hatte schon 1905 von der Notwendigkeit der historischen Entwicklung zu immer größeren sozialen Gebilden gesprochen78, und Bücher formulierte 1910 sein »Gesetz der Massenproduktion«, das einen Zusammenhang zwischen immer kapitalintensiveren und ergiebigeren Produktionsverfahren und dem Größenwachstum der Unternehmen herstellte.79 Max Webers Bürokratisierungsthese war ebenfalls eng mit der Vorstellung der zunehmenden Durchsetzung der Großunternehmung verknüpft. Passow versuchte 1918 den Kapitalismus durch die Vorherrschaft der Großunternehmung zu charakterisieren.80 Schumpeter schrieb 1920, auch wenn man sich mitunter eine übertriebene Vorstellung von der Schnelligkeit dieser Entwicklung gemacht habe, zeichne sich der kapitalistische Prozess dadurch aus, alte Betriebsformen durch neue zu ersetzen, wobei die neue Betriebsform fast immer auch die größere sei.81 Für dieses stetige Größenwachstum der Unternehmen wurden Gründe wirtschaftlicher und technischer Natur angegeben, wobei zahlreiche Autoren die Meinung vertraten, dass die Bedeutung beider Faktoren in der Nachkriegszeit zugenommen hätte. Konkret genannt wurden beispielsweise gestiegene Löhne und Soziallasten sowie ein verschärfter Wettbewerb, der den Kostendruck auf

78 Schmoller, S. 1581. 79 Bücher, Massenproduktion. 80 Passow, Kapitalismus, S. 124. 81 Schumpeter, Möglichkeiten, S. 312.

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die Unternehmen verstärkt hätte.82 Auf diese strukturellen Probleme mussten die Unternehmen irgendwie reagieren und als das zentrale Mittel, zu einer kostengünstigeren und effektiveren Produktionsweise zu gelangen, galt in den 1920er Jahren Rationalisierung. Es gab in dieser Zeit eine ausgeprägte Rationalisierungseuphorie83, die mit einer Versinnbildlichung Amerikas als dem Land einherging, das Europa seine Zukunft zeigte.84 Zugleich war diese Euphorie in keinem politischen Lager ausschließlich beheimatet: Sowohl Autoren aus dem linken wie dem rechten politischen Spektrum lassen sich unter den begeisterten Befürwortern finden. Entscheidende technische Innovationen hatten schon vor dem Krieg, besonders aber danach demonstriert, dass sich die Produktivität des Produktionsprozesses rasant steigern ließ: erstens durch eine Neuorganisation der Arbeitsprozesse, zweitens durch Verbesserungen der Produktions­technik oder der technischen Organisation des Produktionsablaufs.85 Wie bereits beschrieben, verband sich vor dem Ersten Weltkrieg die Forderung nach einer Neuorganisation des Arbeitsprozesses vor allem mit dem Tayloris­mus. Die von Taylor propagierte »Verwissenschaftlichung« der Betriebsführung implizierte die Zerlegung des Arbeitsprozesses in einfachste Tätigkeiten, die auch von ungelernten Arbeitern mit großen Effizienzgewinnen durchgeführt werden konnten. Er forderte die wissenschaftlich-technische Untersuchung des Arbeitsplatzes, die Aufstellung von Arbeits- und Zeitplänen, die zu einer umfassenden Reglementierung des Werktages führten. Nicht zuletzt aus diesem Grund stand die Mehrheit der Arbeiter tayloristischen Maßnahmen ausgesprochen feindlich gegenüber86, wobei zeitgenössische Beobachter allerdings zurecht anmerkten, dass die Bedeutung des Taylorismus in der öffentlichen Diskussion sehr viel größer war, als in der Wirtschaftspraxis selbst87, wie überhaupt Schlüsselinnovationen der Rationalisierung – wie z. B. das Fließband – in den 1920er Jahren nur von einem Bruchteil der Unternehmen eingesetzt wurden.88 Anders als mit dem Taylorismus sah es jedoch mit den Ansichten des amerikanischen Unternehmers und Automobilpioniers Henry Ford aus, dessen Buch Mein Leben und Werk in der Weimarer Republik zu einem Bestseller wurde. Wie die Rationalisierungseuphorie insgesamt beschränkte sich auch die Wirkung dieses Werkes auf kein bestimmtes politisches Spektrum.89 Einerseits beobachtete man die Versuche, in den Unternehmen eine WerksgemeinschaftsIdeologie zu installieren, welche die Macht der Gewerkschaften brechen sollte. Andererseits veröffentlichte der Vorsitzende der Gewerkschaft der Holzarbei82 Hesse, Einführung, S. 63 83 Radkau, Technik, S. 269 ff. 84 Nolan, Visions, S. 108. 85 Als Überblick s. Hachtmann, Industriearbeiterschaft. 86 Vgl. Stollberg, Rationalisierungsdebatte, S. 92, 106. 87 Vershofen, »Fordismus?«. 88 Hachtmann, Industriearbeiterschaft, S. 218. 89 Radkau, Technik, S. 275.

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ter, Fritz Tarnow, 1928 sein bekanntes Werk Warum arm sein?90, dessen Titel eine Kapitelüberschrift aus Fords Buch übernahm.91 War in Fords Betrachtungen bereits der pädagogische Impetus zu spüren gewesen, seine Form der Betriebsführung als Vorbild für andere hinzustellen, so leitete Tarnow aus der Fordschen Geschäftsphilosophie ein ganzes Programm für die deutsche Wirtschaft ab. Deren grundlegendes Problem erblickte er darin, dass die Absatzmöglichkeiten den Produktionskapazitäten hinterherhinkten. Dies konnte nur durch deutliche Lohnsteigerungen auf breiter Ebene kompensiert werden, wodurch die Arbeiter in die Lage versetzt würden, die vermehrte Produktion auch zu kaufen. Die Produktionskapazitäten konnten dann voll ausgenutzt und die Lohnmehrkosten durch Skaleneffekte kompensiert werden. Nach Tarnow sollte das die Unternehmer dazu zu zwingen, eine ähnliche Geschäftsstrategie zu verfolgen wie Ford: nämlich hohe Löhne mit fortgesetzter Rationalisierung zu kombinieren. Aufgrund der großzügigen Entlohnung waren die Mitarbeiter engagiert und identifizierten sich mit dem Unternehmen. Die tayloristische Vermessung des Arbeitsplatzes, die von den Arbeitern während der 1920er Jahre weiterhin abgelehnt wurde92, konnte so unterbleiben, weil die Arbeiter und Angestellten selber für Verbesserungen sorgten. Auf diese Weise befanden sich die Unternehmen in einem dauernden »Wettbewerb«, hohe Löhne mittels Einsparungen durch Rationalisierungsmaßnahmen zu kompensieren. Tarnow wollte also die Unternehmer durch das Machtmonopol des Staates zur Rationalisierung zwingen. Auf diese Weise würden sie dann, jenseits des privatwirtschaftlichen Kalküls, auch ihren Beitrag zur Erhöhung der Gesamtproduktivität der deutschen Wirtschaft leisten.93 Bei Tarnow wurde der Fordismus, den Gottl-Ottlilienfeld noch unter dem Banner eines »weißen Sozialismus« hatte segeln sehen94, nahtlos zu einem Gewerkschaftsprogramm umformuliert. Rationalisierung wurde längst nicht nur als ein Mittel zur Verbesserung der Produktionsabläufe betrachtet, sondern repräsentierte zeitweise das Allheil­ mittel zur Lösung wirtschaftlicher und sozialer Gegenwartsprobleme. Schließlich wusste niemand so genau, wo die Grenzen der Technik lagen und ob die Produktion nicht irgendwann so organisiert werden konnte, dass ein sorgenfreies und arbeitsarmes Leben für alle möglich wurde.95 Das auch in der Nationalökonomie verhandelte Problem war dabei nicht zuletzt die Frage der Versöhnung von technischer und ökonomischer Vernunft, wie sich also die technische Umsetzung eines Vorgangs mit der ökonomischen Rentabilität der Produktion harmonisieren ließ.96 Implizit wurde mit dieser Problemstellung jedoch vor90 Tarnow, Warum. 91 Ford, Leben. 92 Stollberg, Rationalisierungsdebatte. 93 Tarnow, Warum, S. 70 f. 94 Gottl-Ottlilienfeld, Fordismus?, S. 37. 95 S. Ballod, Zukunftsstaat, S. 281 ff. 96 Köster, Technikkonzeptionen.

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ausgesetzt, dass technische und ökonomische Rationalität auch in Konkurrenz zueinander stehen konnten.97 Der Gegensatz von technischer und ökonomischer Rationalität resultierte vor allem daraus, dass die technisch beste Lösung nicht immer die ökonomisch sinnvollste sein musste. Während die ökonomische Rationalität das kurzfristige Liquiditätsinteresse des Betriebes in den Vordergrund stellte, nahm die technische Rationalität ein Nachhaltigkeitsargument für sich in Anspruch: Auch wenn sich die technisch beste Lösung nicht immer rechnete, führte sie zu einer Verbesserung des ökonomischen Potentials der Gesamtwirtschaft.98 Zugleich wurde dieses Problem mit dem Hinweis darauf zu lösen versucht, dass in beiden Bereichen im alltäglichen Sprachgebrauch Effizienz als Wirtschaftlichkeit bezeichnet wurde – in Wirklichkeit also gar kein Unterschied bestände, nur das Ziel ein anderes sei.99 Warum es zu einem Konflikt von ökonomischer und technischer Vernunft kommen konnte, erscheint angesichts der historischen Rahmenbedingungen der 1920er Jahre als relativ eindeutig: Die Technik eröffnete scheinbar ungeahnte Möglichkeiten in Gegenwart und Zukunft, während sich in Wirtschaft und Politik in steigendem Maße Funktionsstörungen beobachten ließen. Das legte für die Zeitgenossen die Frage nahe, ob eine Wirtschaftsordnung, in der diese beiden Rationalitäten auseinander fielen, nicht besser durch eine andere ersetzt werden sollte. An dieser Stelle standen sich zwei Handlungsrationa­ litäten gegenüber, die jeweils die Gestaltungspotentiale des Menschen betonten und sich beide auf ein Mögliches bezogen: die ökonomische Rationalität im Rahmen der gegebenen Umstände, die technische Rationalität auf den scheinbar unbegrenzten Horizont des technisch Machbaren.100 Goldscheid schrieb in seinem Sozialisierungsentwurf von 1919: »Wem das schon zuviel ist, was ich als unerlässlich bezeichne, der hat kein Gefühl für die Stärke der Triebkräfte der Geschichte. Noch immer hat sich in bewegten Zeiten erwiesen, dass das als utopisch Gebrandmarkte nur den Fehler hatte, das ganze Ausmaß der Möglichkeiten nicht voll auszuschöpfen.«101 Insofern war der technischen Rationalität die Tendenz inhärent, Bestehendes zu ignorieren und die alten Institutionen durch neue, im Geiste technischer Effizienz gestaltete zu ersetzen. Für die hier nachgezeichnete Debatte war vor allem wichtig, dass technischer Fortschritt und Rationalisierung mit der Durchsetzung des Großbetriebes und der Großunternehmung in Verbindung gebracht wurde. Die Technik wurde, nach Hilferdings Worten, »unmittelbar entscheidend für die Größe und Ausgestaltung des Unternehmens.«102 Insofern berührte die Frage der Rationa 97 Hundt, Theoriegeschichte, S. 64 ff. 98 Waffenschmidt, Technik, S. 110. 99 Ebd., S. 104. 100 Röpke, Geld, S. 103 f. 101 Goldscheid, Sanierung, S. 20. 102 Hilferding, Eigengesetzlichkeit, S. 24. Ders., Finanzkapital, S. 246.

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lisierung zugleich die Frage der Organisationsformen bzw. der wirtschaft­lichen Ordnung insgesamt, in deren Rahmen ihr Potential am besten zur Entfaltung kommen konnte. Im Zusammenhang mit Kartellen und Trusts musste in diesem Zusammenhang die Frage auftreten, ob sie die Einführung technischer Innovationen eher behinderten oder beförderten. Das war der Lackmustest auf den eigentlichen Charakter der Kartelle. Behinderten sie die Rationa­lisierung, handelte es sich bloß um Organisationen zur Wettbewerbsvermeidung, die zugunsten partikularer Profitinteressen die Hebung des Allgemeinwohls blockierten. Förderten sie diese jedoch, konnten sie als Vorboten einer Wirtschaftsordnung erscheinen, die sich »organisch« gegen die freie Verkehrswirtschaft durchsetzte. 7.2.2 Kartelle und Trusts als Schrittmacher oder Bremser der Rationalisierung? Die Frage, wie sich die Rationalisierung und Kartelle zu einander verhielten, berührte zunächst wiederum das Problem der Wettbewerbseffekte.103 Vor dem Hintergrund der Rationalisierungseuphorie der 1920er Jahre konnte die zunehmende Kartellierung durchaus als problematisch erscheinen, verhinderte sie doch, dass die durch Rationalisierung zu erzielenden Skaleneffekte zu einer konsequenten Vergünstigung der Preise führten. Aus diesem Grund profitierte nicht nur die Bevölkerung vom technischen Fortschritt zu wenig, sondern es fehlte den Unternehmen darüber hinaus der »Rationalisierungszwang«, weil sie nicht um jeden Preis ihre Produktionskosten senken mussten. Trotzdem besaßen die Kartelle durchaus einen Anreiz zur Rationalisierung, konnten sie doch investieren, um ihre Gewinnmargen bzw. durch Kapazitätsausweitung ihre Absatzquote innerhalb des Kartells zu erhöhen.104 Bereits das sozialistische Lager war sich nicht einig, welchem Gesichtspunkt der Vorzug gegeben werden sollte. Eine Gewerkschaftszeitung schrieb 1926 in größter Deutlichkeit: »Der Kapitalismus, mit seiner ungleichen Güterverteilung, mit seiner ungerechten Verteilung der Lebenslose war nur erträglich durch seine Fähigkeit, durch Verbilligung des Produktionsprozesses immer größere Gütermengen zu schaffen und immer weiteren Schichten auch bei gleichbleibenden Lohn- und Gehaltsbezügen durch seinen Preisfall steigenden Anteil an den materiellen Gütern des Lebens zu geben.«105 Löwe meinte 1930, die Früchte der Rationalisierung würden von der Wirtschaft durch eine monopolistische Preis­ politik vergeudet.106 In erster Linie kritisiert wurde hier allerdings, dass sich die Rationalisierung nicht in sinkenden Preisen manifestierte.107 103 Für einen Überblick s. Lenel, Problematik. 104 Greiling, Eisenkartell, S. 1200. 105 Nölting, Kartelle, S. 6–12. 106 Löwe, Reparationspolitik. 107 Hilferding, Finanzkapital, S. 269 ff.

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Angesichts der prinzipiell kartellfreundlichen Einstellung der deutschen Nationalökonomie überrascht es nicht, dass die Kartelle in den meisten Fällen zumindest nicht beschuldigt wurden, die Rationalisierung effektiv zu bremsen. Für sie schien hier wiederum das Argument der Stetigkeit zu sprechen: Dadurch, dass im Rahmen des Kartells auch schwächere Werke am Leben erhalten wurden, sollte verhindert werden, dass hochspezifische Investitionen verloren gingen. Wurde der freie Wettbewerb überspitzt als »Kapitalvernichter« betrachtet, weil er zu ruinös niedrigen Preisen führte, bei denen sich Investitionen in Rationalisierungsmaßnahmen nicht amortisierten, lag gerade hier der Vorteil der Kartelle, die diesen Wettbewerb abschwächten. Zudem kompensierten sie den Preiswettbewerb nach außen durch einen Wettbewerb um Absatzquoten nach innen.108 Die diagnostizierte positive Wirkung der Kartelle auf die Rationalisierung konnte wiederum mit der Vorstellung von einem Gestaltwandel der Wirtschaft verbunden werden. Herbert von Beckerath veröffentlichte 1927 einen programmatischen Artikel, in dem er argumentierte, die Kartelle hätten seit dem Weltkrieg ihren Charakter verändert. Es ginge ihnen zunehmend nicht mehr um die Monopolisierung von Märkten, sondern sie schlössen sich zum Zweck gemeinschaftlicher Rationalisierung zusammen. Die Kartellorganisation bot sich dafür an, weil sie die Unternehmen vom betriebswirtschaftlichen Risiko hochspezifischer Investitionen entlastete.109 Auf diese Weise streiften die Kartelle nach und nach ihren privatwirtschaftlichen Charakter ab und verwandelten sich in genossenschaftliche Organisationsformen.110 Nach Adolf Drucker zeigten sich bei den Kartellen zunehmend planwirtschaftliche Tendenzen: als Fortsetzung der Kriegswirtschaft und nicht zuletzt mit dem Zweck, deren Folgelasten zu bewältigen.111 Trotzdem konnten die Augen schlecht davor verschlossen werden, dass Kartelle in erster Linie den Sinn hatten, ihren Mitgliedern ein Auskommen zu ermöglichen. Die Preisgestaltung orientierte sich dementsprechend nicht an dem mit den geringsten, sondern an dem mit den höchsten Kosten arbeiteten Unternehmen. Das wiederum musste eigentlich dazu führen, dass sich produktionstechnische Innovationen effektiv langsamer durchsetzten, als im freien Wettbewerb, weil ältere Anlagen so länger in Betrieb blieben. Gegen diese Ansicht wurde dann zumeist mit dem Argument des »ruinösen Wettbewerbs« argumentiert.112 Ob Kartelle die Rationalisierung eher förderten oder behinderten, blieb während der 1920er Jahre eine kontroverse Frage113, wobei der wahrgenommene 108 Müllensiefen, Kartelle, S. 32 f., 93 ff. 109 Beckerath, Inhaltswandel, S. 1119–1122. 110 Diese Meinung auch bei Passow, Kartelle, S. 31. 111 Drucker, Kartellproblem, S. 1194. 112 Dobretsberger, Wandlungen, S. 715 ff. 113 Wolfers, Kartellproblem, S. 101 ff.

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Wandel der Wirtschaftsorganisation zu einer insgesamt eher positiven Einschätzung führte. Dabei spielte jedoch bereits die Vorstellung mit hinein, dass Kartelle selbst eine Veränderung durchgemacht hatten und sich irgendwann tatsächlich in genossenschaftliche Organisationsformen verwandeln würden. Den Konzernen bzw. Trusts hingegen wurde allgemein zugestanden, die Ratio­ nalisierung zu befördern. Hilferding hatte schon 1910 gemeint, während sich die Kartelle des rein ökonomischen Vorteils wegen zusammenschlössen, könnten bereits die technischen Vorteile zur Fusion zu einem Trust führen.114 Dass die Vereinigten Stahlwerke sich plausibel als »Rationalisierungsgemeinschaft« inszenieren konnten, hatte damit zu tun, dass Rationalisierung scheinbar nur in großen produktionstechnischen Zusammenhängen effektiv verwirklicht werden konnte. Aus diesem Grund konnte die Trustbildung als ein Mittel verstanden werden, den gesamtwirtschaftlichen Output zu steigern. Die Überlegenheit der Trusts sollte sich auch darin zeigen, dass sie nicht nur zunehmend an volkswirtschaftlichem Gewicht gewannen, sondern sich im Rahmen der Kartelle durchsetzten, aus ihnen herauswuchsen, und den Kartellverband am Ende dominierten. Weiter sollten sie im Vergleich zu den Kartellen stärker einer einheitlichen Willensbildung unterliegen, weswegen hier die Rationalisierung auf günstige Voraussetzungen träfe. Die großen Betriebseinheiten der Trusts kamen übrigens auch dem großtechnischen Charakter der Rationalisierung entgegen, weshalb sich bei ihnen die Harmonisierung von technischer und ökonomischer Rationalität verwirklichen konnte. Dass solche Vorstellungen sich indes mit der realen Situation der Vereinigten Stahlwerke nicht deckten, war bis zu dem dramatisch verlaufenden Ruhreisenstreit 1928 nur den wenigsten bewusst.115 Erst danach entwickelte sich die Selbstkosten­ problematik der deutschen Schwerindustrie zu einem in der Öffentlichkeit zunehmend kontrovers verhandelten Thema.116 Insgesamt wurde Kartellen und Trusts bis zur Weltwirtschaftskrise zumeist zugestanden, einen positiven Beitrag zur Rationalisierung zu leisten. Häufig wurde das Argument ins Feld geführt, dass Kartelle sich zunehmend zum Zweck der Rationalisierung zusammenschlössen und nicht in erster Linie, um sich gegen die Konsumenten zu verbünden. Es wurde gesehen, dass die Kartelle und Monopole durch künstliche Preisstabilisierung den Wettbewerb einschränkten und ihnen der Anreiz zur Rationalisierung fehlen konnte. Da jedoch die Ausbreitung von Kartellen und Trusts insgesamt einen Trend zu größeren Organisationsformen anzeigen sollte, trat dieser Gesichtspunkt in den Hintergrund. Die Ansicht, Kartelle und Trusts könnten selbst ein Produkt der Rationalisierung sein, rückte indes erst kurz vor Ausbruch der Weltwirtschaftskrise in den Fokus der Diskussion.

114 Hilferding, Finanzkapital, S. 262. 115 Reckendrees, S. 434 f. 116 Z. B. Stolper, Wirtschaftskrise, S. 591 f. Rüstow, Selbstkostensenkung, S. 1403–1406.

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7.2.3 Die Fixkostenfalle Bis zum Ende der 1920er Jahre kreiste die Diskussion über den Zusammenhang von Rationalisierung und Kartellen bzw. Monopolen hauptsächlich um die Frage, inwiefern Kartelle die Rationalisierung förderten oder behinderten. An dieser Stelle brachte jedoch ein Vortrag eine Wendung in die Debatte, den der prominenteste Betriebswirt der Weimarer Republik, Eugen Schmalenbach117, im Mai 1928 in Wien auf der Tagung der Betriebswirtschaftler an deutschen Hochschulen hielt. Schmalenbach hatte 1927/28 an zwei staatlichen Gutachten der Enquete-Kommission zur Lage der Kohlenindustrie teilgenommen118 und leitete aus den dort gewonnenen Einsichten eine These ab, die für großes publizistisches Aufsehen sorgte. Schmalenbachs Vortrag mit dem Titel Die Betriebswirtschaftslehre an der Schwelle der neuen Wirtschaftsverfassung119 hatte das Problem der sog. fixen Kosten und ihre Auswirkungen auf die freie Wirtschaft zum Gegenstand. Bei den fixen Kosten, von Schmalenbach als »Kosten der Betriebsbereitschaft«120 definiert, handelte es sich nicht nur um die Kapitalkosten, sondern auch um die Kosten der Verwaltung eines Unternehmens, also um die Kosten, die anfielen, bevor die eigentliche Produktion begann. Der Anteil dieser Kosten nun war, so Schmalenbach, gegenüber den proportionalen Kosten in den 1920er Jahren vor allem durch die technische Rationalisierung so weit angestiegen, dass die Re­ aktionsmöglichkeiten der Unternehmen auf Nachfrageschwankungen massiv gestört seien. Die Unternehmen, die sich in den letzten Jahren in massive Überkapazitäten hinein rationalisiert hätten, befänden sich in der Situation, auf ein Abfallen der Nachfrage nicht mit einer Drosselung der Produktion reagieren zu können, weil so die durchschnittlichen Stückkosten massiv ansteigen würden. Aus Sicht der Unternehmen sollte es nach Schmalenbach deswegen zumindest kurzfristig vernünftiger sein, die Produktion hoch zu halten, um so die durchschnittlichen Stückkosten zu senken. Dadurch jedoch mussten auf nachfrageschwachen Märkten die Preise noch weiter fallen und sich der Krisenmechanismus verstärken. Er konstatierte also bereits vor Ausbruch der Weltwirtschaftskrise einen gravierenden Fall von Marktversagen, das als säkularer Trend nicht wieder ausgeglichen werden konnte und unweigerlich zur umfassenden Kartellierung der Industrie führen musste. Schließlich konnten sich die Produzenten nur über Absprachen ein Preisniveau sichern, das ihnen auch bei geringer Nachfrage einen Gewinn garantierte. Da aber auch die privatwirtschaftlichen Kartelle zur Überproduktion neigten, weil sich jedes einzelne Unternehmen durch vermehrte Produktion eine höhere Kartellquote versprach, blieb für Schmalenbach die Intervention des Staates die einzige Alternative. Aus 117 Zu Schmalenbach s. Kruk, Schmalenbach. 118 Potthoff, Leben, S. 146. Vgl. Landauer, Konzern. 119 Schmalenbach, Betriebswirtschaftslehre. 120 Ders., Selbstkostenrechnung, S. 34.

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diesem Grund sah er den Übergang zu einer gebundenen Wirtschaftsform als unausweichlich an. Schmalenbachs Vortrag machte bereits vor der Weltwirtschaftskrise eindringlich bewusst, dass Rationalisierung keineswegs das Allheilmittel für die Weimarer Wirtschaft darstellte. Vor allem die großen Konzerne des Ruhrgebiets dienten ihm als Beispiel dafür, wie die Unternehmen durch Kapital­ kosten und Überkapazitäten belastet wurden.121 Interessanterweise begründete er seine These dabei nicht mit der Vorstellung eines organischen Gestaltwandels der Wirtschaft, sondern anhand eines scheinbar nebensächlichen Defekts, der Fixkosten, der dennoch enorme Folgewirkungen hatte. Vor allem argumentierte Schmalenbach eindringlich, die Unternehmen würden durch den Zwang zur Rationalisierung und zu einer immer kapitalintensiveren Produktion geradezu genötigt, Kartellbindungen einzugehen. Weil aber selbst innerhalb dieser Kartelle immer noch Wettbewerb herrschte, der einen Anreiz zur Kündigung des Kartellvertrages bot, war ein staatliches Generalkartell auf die Dauer unvermeidlich. Um Schmalenbachs Rede entspann sich in der Folgezeit eine breite Diskussion, die zum einen den ökonomischen Kern des Fixkostenarguments proble­ matisierte, zum anderen nicht zu Unrecht herausstellte, dass Schmalenbach die westfälische Schwerindustrie als pars pro toto für die gesamte Industrie betrachtete.122 Dabei wurde der in der Tat wesentliche Punkt von Schmalenbachs Rede thematisiert, dass Rationalisierung und Kartellbildung ursächlich miteinander zusammenhingen und dass der zunehmende Organisationsgrad der Wirtschaft zwangsläufig aus der Notwendigkeit einer immer kapitalintensiveren Produktion folgte.123 Das Interessante an Schmalenbachs Vortrag war, dass er bereits vor Ausbruch der Weltwirtschaftskrise eine zumindest scheinbar sehr viel skeptischere Sicht gegenüber der Rationalisierung vertrat, als das während der 1920er Jahre üblich war, wo z. T. extrem übersteigerte Hoffnungen an sie geknüpft wurden. Er griff dabei einerseits die Diskussion auf, in der Kartelle und Monopole als Zeichen einer durchgreifenden Strukturänderung der Wirtschaftsordnung erschienen.124 Indem er jedoch die Folgen der Rationalisierung im Vergleich zu den meisten seiner Zeitgenossen sehr viel nüchterner bewertete, deutete er bereits auf eine Wendung der Debatte hin, die sich dann besonders in der Weltwirtschaftskrise zeigen sollte, während der sich die ökonomische Bewertung der Rationalisierung schlagartig ins Negative wendete. Zugleich behauptete Schmalenbach aber, wenn seine Prognose eintreffe und die Wirtschaft sich wirklich in ein staatlich geführtes Generalkartell transformiere, müsse die Betriebswirtschaftslehre in Zukunft einen Bedeutungsanstieg erfahren: Wenn die ge121 Kleinschmidt, Rationalisierung, S. 357 f. 122 Stolper, Betriebswissenschaft, S. 1223–1226. 123 Mises, Kritik, S. 48. Ähnlich Weber, Ende, S. 37 f. 124 Köster, Schmalenbachkontroverse.

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samte Volkswirtschaft sich am Ende in ein Unternehmen verwandelte, konnte sie schließlich darüber Auskunft geben, wie dieses Unternehmen am besten zu organisieren war. Hier zeigten sich die während der 1920er Jahre latenten Konflikte zwischen Nationalökonomie und Betriebswirtschaftslehre ganz deutlich, was zu den scharfen Reaktionen auf Schmalenbachs Rede beitrug, deren Zukunftsprognose an sich keineswegs sensationell war.125 Je stärker die Wirtschaftswissenschaften insgesamt auf Praxisbezug festgelegt wurden, konnte die Betriebswirtschaftslehre der Nationalökonomie zunehmend selbstbewusst entgegentreten.126 Schmalenbach betonte im Übrigen erneut einen zentralen Punkt der Debatte, dass Kartelle und Trusts in erster Linie geschaffen wurden, um die großtechnische Produktion zu ermöglichen, weswegen sie trotz ihrer Wettbewerbseffekte lange Zeit positiv bewertet wurden. Er spitzte diesen Zusammenhang aber noch zu, indem er die Kartellierung als zwangsläufige Folge der Rationa­ lisierung betrachtete und diese Ansicht mit dem Widerspruch zwischen ökonomischer und technischer Vernunft begründete. Zugleich sollte dies jedoch zu einer Wirtschaftsverfassung führen, in der die technische Vernunft – und damit die von Schmalenbach propagierte Wirtschaftlichkeit – zum entscheidenden Merkmal der neuen Wirtschaft werden würde. Mehr als er selbst ahnen konnte, nahm er damit die Wendung der Diskussion in der Weltwirtschaftskrise bereits vorweg.

7.3 Die Weltwirtschaftskrise und die »Wandlungen des Kapitalismus« 7.3.1 Strukturelle und konjunkturelle Ursachen der Weltwirtschaftskrise Bernhard Harms hielt anlässlich der Gründung des Enquete-Ausschusses 1926 eine Rede, in der er darauf hinwies, dass konjunkturelle Schwankungen und Strukturwandlungen der Wirtschaft sorgfältig auseinander gehalten werden müssten. Die Aufgabe des Ausschusses bestehe darin, letztere zu untersuchen. Da sich die Strukturwandlungen nach Harms vor allem in dem immer höheren Organisationsgrad der Wirtschaft zeigten, sollte die Untersuchung von Kartellen und anderen monopolartigen Organisationsformen einen Schwerpunkt der Arbeit des Ausschusses bilden.127 Die Unterscheidung zwischen konjunkturellen und strukturellen Faktoren wurde im Zuge der Weltwirtschaftskrise in dem Maße wichtig, wie der exzep125 Bezüglich der Kartellfrage etwa: Sommer, Kartellmitgliedschaft, S. 505 f. 126 S. Völker. 127 Harms, Strukturwandlungen, S. 263*f.

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tionelle Charakter der Krise ins Bewusstsein rückte.128 Die Frage war dabei vor allem, ob es sich lediglich um einen schweren konjunkturellen Abschwung handelte, oder ob die Krise nicht das Symptom einer tiefgreifenden strukturellen Fehlentwicklung darstellte. Das Meinungsbild zu dieser Frage war zunächst gemischt, seit Beginn des Jahres 1931 setzte sich jedoch mehr und mehr die Ansicht durch, dass in den strukturellen Fehlentwicklungen die eigent­liche Krisenursache erblickt werden müsse. Oppenheimer schrieb 1931, selbst die größten Optimisten fingen »angesichts dieser schwersten und längsten Krise der kapitalistischen Geschichte« an, es für möglich zu halten, »dass es sich nicht bloß um eine ›Konjunkturkrise‹, sondern um eine ›Strukturkrise‹ handeln möchte.«129 Bei der Suche nach solchen strukturellen Fehlentwicklungen rückten Kartelle, Trusts sowie die Rationalisierung nahezu automatisch in den Fokus der Betrachtung. In den 1920er Jahren waren sie – wie gesehen – noch zumeist positiv als Stabilitätsfaktoren in einem zunehmend ruinösen Wettbewerb gesehen worden, als eine Möglichkeit, sich aus dem Desaster des Krieges durch Organisation und technische Planung zu befreien. Sie erwiesen sich nun aber allem Anschein nach keineswegs als so positiv und stabilisierend, wie Adolf Weber und viele andere gehofft hatten. Es lag also nahe, gerade im zunehmenden Organisationsgrad der Wirtschaft eine der Ursachen der Weltwirtschaftskrise zu erblicken. Den radikalsten Wandel in der Bewertung erlebt dabei zunächst die Rationalisierung. Wurde sie vorher mitunter als Allheilmittel gesehen, wobei es warnende Stimmen jedoch bereits in den 1920er Jahren gab130, galt sie nun zahlreichen Beobachtern als wesentlicher Grund für die Krise. Die nach Abschluss des Dawes-Abkommens 1924 massenhaft nach Deutschland einströmenden amerikanischen Kredite hätten zu einer übermäßigen Ausweitung der Produktionsanlagen geführt. Nachdem diese kurzfristigen Kredite jedoch gekündigt wurden, saßen die Unternehmen auf ihren Überkapazitäten fest. Immer häufiger wurde beklagt, die technische Rationalität hätte das kaufmännische Rentabilitätsdenken verdrängt, was zu massiven strukturellen Fehlentwicklungen geführt habe.131 Ein Motiv, das seine Bedeutung vor allem durch die Arbeiten Lederers und seines Bonner Kollegen Hermann von Beckerath gewann, war der »zu schnelle« technische Fortschritt.132 Während der 1920er Jahre sollten technische Innovationen zu schnell eingeführt worden sein, was zu gravierenden Fehlallokationen geführt habe: Es wurde nicht im gleichen Maße eine kaufkräftige Nachfrage geschaffen, welche die vermehrte Produktion auch hätte aufnehmen können. Die Folge war eine strukturelle Überproduktion, der in der Krise eine gigantische 128 Janssen, Nationalökonomie, S. 381 ff. 129 Oppenheimer, Weder, S. 21. 130 Vershofen, Grenzen. Unger, S. 255. 131 Bernhard, Exzesse, S. 1844–1846. 132 Lederer, Technischer Fortschritt. Beckerath, Technischer Fortschritt, S. 336 f.

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Kapitalvernichtung und die massenhafte Freisetzung von Arbeitskräften folgte. Der Zusammenhang von Rationalisierung und Arbeitslosigkeit wurde auch von Moeller in einem längeren Aufsatz untersucht.133 Er kam zwar zu einer weniger düsteren Einschätzung der Rationalisierung, vertrat aber die Meinung, es gebe viele theoretisch denkbare Fälle, wo gesamtwirtschaftlich gesehen Rationalisierung die durch sie ursprünglich erzeugte Arbeitslosigkeit nicht kompensieren könne. Die eigentliche Pointe von Moellers Aufsatz war aber, dass es mit der zunehmenden Kapitalintensität der Produktion immer schwieriger wurde, die Rentabilität einer Investition sicher vorherzusagen. Je kapitalintensiver die Produktion wurde, umso mehr entzogen sich die Unternehmen einer rationalen Steuerung und umso anfälliger wurde die Wirtschaft für strukturelle Fehlentwicklungen. Darin lag für Moeller der Zusammenhang von Rationalisierung und Wirtschaftskrise.134 Bei der Frage nach dem »Beitrag« von Trusts und Kartellen für die Depression waren die Antworten zumeist weniger eindeutig. Zunächst gab es Stimmen, die auch sie für die Weltwirtschaftskrise verantwortlich machten.135 Die meisten Autoren machten jedoch weniger die Kartelle für den Ausbruch der Krise verantwortlich, sondern hoben vielmehr hervor, dass Kartelle und Trusts die Überwindung der Krise durch ausbleibende Preisanpassungen verhinderten.136 So schrieb etwa der schwedische Ökonom und spätere Nobelpreisträger Bertil Ohlin 1931, die Kartelle hätten die Anpassungsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft drastisch geschwächt.137 Überhaupt war die Ansicht weitverbreitet, dass sich in der Krise die Nachteile der Großunternehmung besonders deutlich zeigten und deswegen die Unternehmen allgemein verkleinert werden müssten.138 Andere Autoren legten indes Wert auf die Feststellung, dass den Kartellen keineswegs die Schuld, wenigstens nicht die alleinige, an der Weltwirtschaftskrise gegeben werden musste. Adolf Weber beispielsweise bemüßigte sich, darauf hinzuweisen, dass die Kartelle als »Marktverbände« letztlich auch keinen anderen Charakter als die Gewerkschaften hatten. Wollte man den Kartellen darum die Schuld an der Krise geben, mussten letztere in mindestens gleicher Weise angesprochen werden.139 Genauso meinte Dobretsberger, nicht die Kartelle hätten die Krise verursacht, sondern die Krise habe umgekehrt den Bestand der Vereinbarungen und Verbände gefährdet. Seines Erachtens waren relativ stabile Verhältnisse die Voraussetzung dafür, dass Kartelle und vergleichbare Organisationen funktionieren konnten. Er drehte die Frage von Ursache und Wirkung also einfach um.140 133 Moeller, Rationalisierung. 134 Ebd., S. 422. 135 Bayer, Problem, S. 2076. Brech, Kartelldiskussion, S. 1735. 136 Tismer, Preispolitik, S. 220. Landauer, Kartellpolitik, S. 153. 137 Ohlin, Probleme, S. 21. 138 Berkenkopf, Unternehmensgrößen, S. 1346. 139 Weber, Gewerkschaften. 140 Dobretsberger, Kartelle, S. 45.

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In der Krise wurde auch vermehrt ein Gesichtspunkt hervorgehoben, der bereits früher eine gewisse Rolle in der Debatte gespielt hatte, aber noch nicht durchgängig negativ bewertet wurde: dass nämlich der zunehmende Organisationsgrad der Wirtschaft auf das Handeln und die Einstellung der Unternehmer zurückwirken sollte. So war in den 1920er Jahren die Meinung weit verbreitet, die Generation der dynamischen Pionierunternehmer, der Krupps, Thyssens und Haniels, sei untergegangen: Die Unternehmer sollten immer mehr Beamten und die Konzernspitzen bürokratisierten Verwaltungen gleichen.141 Schumpeter, der in der Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung noch emphatisch vom dynamischen Unternehmer gesprochen hatte, zeichnete 1920 bereits das Bild einer zunehmenden »Verbürokratisierung« der Wirtschaftsführer, deren Arbeit sich zunehmend einer Verwaltungstätigkeit annähere. Gründe dafür waren in erster Linie die Strukturwandlungen der Wirtschaft, das Entstehen immer größerer ökonomischer Einheiten, immer kapitalaufwendigere Produktionsprozesse und damit die eingeschränkte Möglichkeit der kreativen Neukom­bination von Produktionsfaktoren.142 In dem Maße, wie allgemein eine Veränderung der Wirtschaftsordnung wahrgenommen wurde, konnte das sogar direkt den Lehrbetrieb betreffen: So forderte der Betriebswirt Heinz Ludwig 1927, die Handelshochschulen müssten den neuen, »rationalen« Unternehmer ausbilden, der nicht länger »freihändig« zu wirtschaften verstand.143 Dieser Punkt wurde in der Weltwirtschaftskrise vermehrt aufgegriffen und sehr viel kritischer gesehen. So startete der Betriebswirt Wilhelm Hasenack 1932 mit seinem Buch Unternehmertum und Wirtschaftslähmung einen Generalangriff auf die Wirtschaftsführer144, wobei er eine umfassende Krise der Unternehmen in betrieblicher und moralischer Hinsicht konstatierte. Durch die zunehmende Zahl an Aktiengesellschaften und anderen Organisationsformen glichen die Konzernspitzen immer mehr Verwaltungen, deren Beamte nicht persönlich für Gewinne und Verluste hafteten. Dadurch würde das ursprüngliche Gewinnstreben gedämpft, das die Eigentümer-Unternehmer noch ausgezeichnet hatte. Darüber hinaus war für Hasenack aber die Kostenkrise größtenteils selbst verursacht: durch Fehlrationalisierungen sowie eine verfehlte Preis­politik, die vor allem der vernachlässigten Selbstkostenrechnung geschuldet war. Mit Blick auf die Fixkosten mahnte er, gerade die wissenschaftliche Buchführung müsse die Grundlage eines organischen Kapazitätsabbaus der Unternehmen sein.145 Genauso meinte Goetz Briefs, dass das freie Spiel der Kräfte weder einen tragbaren wirtschaftlichen Ausgleich noch eine gesellschaftliche Befriedigung erwirkt habe. Er vertrat die Meinung, die jüngere Unternehmer141 So hatte z. B. Joseph Schumpeter bereits 1920 seine später in Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie explizit entwickelte These vom Absterben der Unternehmerfunktion vorweggenommen. Schumpeter, Möglichkeiten, S. 316 ff. 142 Ebd. 143 Ludwig, Erziehung, S. 383 f. 144 Hasenack, Unternehmertum. 145 Ebd., S. 78 ff.

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generation denke schon fast ausschließlich in der »Kartellkategorie«, sei dem freien Wettbewerb weitgehend entwöhnt und strebe immer nach institutioneller Regelung statt freiem Wettbewerb.146 Damit wurde den Kartellen zumindest indirekt eine Schuld an der Krise zugewiesen, weil sie einen für die freie Verkehrswirtschaft unge­eigneten Menschentypus hervorbrachten. Letzterer war nicht in der Lage, sich am eigenen Schopfe aus dem Sumpf zu ziehen, also mittels dynamischer Eigeninitiative die Selbstheilungskräfte des Marktes zu aktivieren. Leumundszeugnisse für den Unternehmercharakter kamen vor allem aus den Reihen der Liberalen. Wiedenfeld hatte den deutschen Unternehmer als stärker kooperativ gesinnt beschrieben als beispielsweise den englischen, den er vor allem als dynamischen Individualisten vorstellte. Johannes Gerhardt, ein Schüler Adolf Webers, schrieb 1930 eine ausführliche Analyse der Rolle und Bedeutung des Unternehmers in der Volkswirtschaft und kam zu dem Er­gebnis, dass es nach wie vor den »dynamischen« Unternehmer gäbe, während der große Mangel des Sozialismus darin bestand, der Unternehmertätigkeit nicht genügend Raum zu geben, damit er seine volkswirtschaftliche Funktion erfüllen konnte.147 Während also die Rationalisierung im Verlauf der Weltwirtschaftskrise zunehmend negativ bewertet wurde, blieb die Einschätzung der Kartelle und Trusts gemischt. Der Grund hierfür lag nicht zuletzt darin, dass die Krise plausibel als finaler Prozess eines Gestaltwandels interpretiert werden konnte, den diese in den letzten 50 Jahren vorbereitet hatten. Die Frage wurde virulent, welche Wirtschaftsordnung angesichts des allgemein konstatierten Fundamentalversagens der freien Verkehrswirtschaft angestrebt werden sollte. 7.3.2 Die Wandlungen des Kapitalismus: Planwirtschaft, starker Staat oder »dritter Weg«? Im dritten Band des Modernen Kapitalismus schrieb Sombart von der zunehmenden Tendenz zum Ausgleich der Konjunkturentwicklung und dass die Krisen sich zunehmend abschwächen würden. Als Gründe dafür nannte er u. a. Staatsinterventionen und die zunehmende Selbstorganisation der Wirtschaft, was ihn zu der Frage verleitete, ob sich letztere eigentlich noch als »hochkapitalistisch« bezeichnen ließe.148 Die Antwort hob er sich für seinen Vortrag auf der Jahrestagung des Vereins für Sozialpolitik im September 1928 in Zürich auf. Sombarts Referat mit dem Titel Wandlungen des Kapitalismus zeichnete oberflächlich ein durchaus ähnliches wirtschaftliches Zukunftspanorama wie Schmalenbach.149 Sombart ordnete aktuelle Entwicklungen in das von ihm 146 Briefs, Werden, S. 216 f. 147 Gerhardt, Unternehmertum. 148 Sombart, Hochkapitalismus, S. 711. 149 Ders., Wandlungen.

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entworfene Schema Frühkapitalismus/Hochkapitalismus/Spätkapitalismus ein und behauptete, die Wirtschaft befinde sich auf der Schwelle zum Eintritt in das Zeitalter des »Spätkapitalismus«.150 Hinweise darauf erblickte er in der Verlangsamung der Kapitalakkumulation, Bürokratisierungstendenzen, der geistigen Verbeamtung der Unternehmer und nicht zuletzt der immer stärkeren Organisation der Unternehmen in Kartellen und Konzernen. Hinzu kam, dass die bislang hauptsächlich agrarisch geprägten Länder der Peripherie anfingen, sich selbst zu industrialisieren. Dadurch würden die internationale Arbeitsteilung gestört, der Nahrungsspielraum geschmälert und die Wachstumschancen der Industrie geringer. Langfristig sei damit das Ende der freien Wirtschaft besiegelt. Was Sombart auf prägnante Thesen zuspitzte, war an sich keineswegs neu. Auch nachdem die Sozialisierungsdiskussion nach der Revolution im Geschäftsgang versandete, war immer wieder das Ende der liberalen Verkehrswirtschaft propagiert worden. Keynes hatte 1926 vom Ende des Laissez-faire und damit vom Anbruch einer Epoche gesprochen, in der die Steuerung des Wirtschaftslebens immer weniger dem freien Spiel der Kräfte überlassen wurde.151 Bemerkenswert ist dabei, dass Keynes Diagnose in der Wirtschaftspresse kaum widersprochen wurde.152 Bereits Mitte der 1920er Jahre waren viele Ökonomen der Ansicht, dass man sich auf dem Weg in eine gebundene Wirtschaftsform befinde, die sich mit der Kartellbewegung vor dem Krieg bereits angekündigt und durch den Krieg eine entscheidende Beschleunigung erfahren hatte.153 In der Diskussion um Sombarts Vortrag setzte sich das fort. Man mochte zwar über die Richtung des Gestaltwandels unterschiedlicher Meinung sein, dass sich jedoch die Wirtschaft in einem solchen Transformationsprozess befand, wurde kaum bestritten.154 Eine weitere vielbeachtete Arbeit, die einen solchen Gestaltwandel schon vor Ausbruch der Weltwirtschaftskrise prognostizierte, war die 1929 erschienene Soziale Theorie des Kapitalismus Eduard Heimanns.155 Heimann gehörte zwar zu den jüngeren Theoretikern im Fach, hatte jedoch einen ausgeprägten sozialphilosophischen Schwerpunkt; genauso wie Löwe hatte er z. B. Anfang der 1920er Jahre zu einem Diskussionskreis um den Religionsphilosophen Paul ­Tillich gehört.156 Heimann bot im Vergleich zu Hilferding eine andere Lesart des Strukturwandels der deutschen Volkswirtschaft an. Er verglich dabei zunächst das Bild, das die liberale Theorie vom Kapitalismus gezeichnet hatte, mit dessen Wirklichkeit: Anders als vom Liberalismus behauptet, habe die wirt150 Der Begriff scheint keine Erfindung der 1920er Jahre zu sein. Zumindest findet er sich schon in Müller-Lyer, S. 179. 151 Keynes, Ende. 152 Frisch, Ende, S. 171. 153 Ebd. 154 Muhs, Chance, S. 20. 155 Heimann, Soziale Theorie. 156 Rieter, Heimann, S. 243.

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schaftliche Freiheit nämlich nicht zur kleinbetrieblichen Demokratie, sondern zur Selbstaufhebung der Freiheit im Großbetrieb geführt.157 Nach Heimann handelte es sich um das Resultat des Privilegcharakters des Eigentums, dessen Idee im Kapitalismus verkehrt worden sei: »Aus dem Eigentum, das seiner Idee nach dazu dienen sollte, die Freiheit und Würde der Person zu sichern, machte der Kapitalist den obersten sozialen Wert.«158 Nicht zuletzt aufgrund dieses Privilegcharakters waren die Kapitalisten in der Lage, in immer stärkerem Maße Monopole auszubilden.159 Insofern konnte keine Rede davon sein, dass im Wirtschaftsleben die reinen ökonomischen Gesetze wirkten, sondern Machtfragen spielten eine entscheidende Rolle. Sozialpolitik war in erster Linie das, was die unteren Schichten der Monopolstellung der kapitalistischen Produzenten entgegensetzten. Letztere konnten immer weiter gehende Forderungen erheben, nur machten die Arbeiter irgendwann nicht mehr mit. Unter dem Banner der »sozialen Idee«, die Heimann als die Betonung der Freiheit gegen die Herabsetzung der Arbeitswürde im Kapitalismus bestimmte, schufen sie eine Gegenmacht. Auf diese Weise war nach Heimann eine Sozialisierung von unten zu erreichen. Mittels Sozialpolitik, so glaubte er, war eine Aneignung der Institutionen im Zuge eines langfristigen Prozesses zu erreichen. Die Bedeutung der Monopole fasste Heimann dialektisch auf: Erst durch die Machtentfaltung der kapitalistischen Organisationen wurde die soziale Bewegung als Gegenmacht hervorgebracht: »Die bürgerliche Welt zwingt […] durch ihren Widerstand die soziale Bewegung zur Entfaltung ihrer Kraft und tritt ihre Verantwortung nicht eher ab, als die Kraft da ist.«160 Hier zeigte sich, wie weit bereits vor dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise innerhalb der Nationalökonomie die Meinung verbreitet war, dass in den letzten Jahrzehnten entscheidende ökonomische Strukturwandlungen stattgefunden hatten. Das kam auch in der weitverbreiteten, von Fritz Naphtali herausgegebenen Schrift zum Ausdruck, die mit der Wirtschaftsdemokratie gleichfalls eine Art »Sozialisierung von unten« befürwortete.161 Schmalenbach, Sombart und Heimann erklärten und deuteten diese Entwicklung jedoch anders, als das vor dem Ersten Weltkrieg die Jüngere Historische Schule oder Sozialisten wie Hilferding getan hatten. Diese Diskussion verstärkte sich in der Weltwirtschaftskrise, deren Dramatik es ausmachte, diese Strukturwandlungen auf ein Entscheidungsproblem zuzuspitzen: Ob es nämlich noch einmal möglich war, die freie Verkehrswirtschaft zu retten, oder ob eine neue Wirtschaftsform die alte ersetzen werde. Hier waren die Meinungen innerhalb des Faches tief gespalten. 157 Heimann, Soziale Theorie, S. 41. 158 Ebd. 162. 159 Ebd., S. 74. 160 Ebd., S. 320. 161 Naphtali.

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Mit der Verschärfung der Krise breitete sich in Deutschland mehr und mehr eine antikapitalistische Grundstimmung aus.162 Harms bemerkte 1932, die allermeisten Menschen würden es als ein großes Unglück betrachten, wenn die bisherige Wirtschaftsordnung fortbestände. Ganz gleich ob Nationalsozialisten oder Kommunisten: »Einig aber sind sich alle Richtungen darin, dass das privatkapitalistische Wirtschaftssystem mit seinen sozialen und politischen Begleiterscheinungen die wesentliche Ursache der heutigen Not sei und nur ein völliger Umbau der Wirtschaft die große Krisis, die über uns hereingebrochen ist, überwinden und ihre Wiederkehr verhindern könne. Masse und auch Individuen sehen den alleinigen Ausweg in der Heraufführung einer alles ökono­ mische Leben in Deutschland umfassenden ›Planwirtschaft‹.«163 Bonn, der sich in einem Schreiben aus der Zeit fast entschuldigend einen »unverbesserlichen alten Liberalen«164 nannte, meinte 1931: »Wohl sehe ich es mit Sorge, dass gerade unsere akademische Jugend, die berufen sein sollte, sich auf die Führerschaft im Wirtschaftsleben vorzubereiten, an der Zukunft des heutigen Wirtschaftssystems zu zweifeln beginnt. Wir können zur Zeit nichts anderes von ihr erwarten. Ein System, das der Jugend keinen neuen Gedanken gibt, und sich in seinen inneren Widersprüchen vor ihr zerreißt, kann ihre Herzen nicht schneller schlagen machen.«165 Wobei Bonn in der Weltwirtschaftskrise allerdings keine Krise der freien, sondern der gebundenen Wirtschaft erblickte, die daraus resultierte, dass überall Organisation an die Stelle der Konkurrenz getreten sei: »Wirklich freien Wettbewerb gibt es in Deutschland nur im Sport.«166 Die »journalistische« Fundamentalkritik am Kapitalismus kam während der Weltwirtschaftskrise von nahezu allen Seiten. Besonders hervor tat sich der sog. »Tat«-Kreis um den Publizisten Hans Zehrer, der dem Umfeld der »Konservativen Revolution« zuzuordnen ist.167 Als maßgeblicher Autor schrieb Ferdinand Fried168 zahlreiche volkswirtschaftliche Beiträge in der Zeitschrift »Die Tat«, die er schließlich zu seinem Bestseller Das Ende des Kapitalismus zusammenfasste.169 Darin nahm er zahlreiche Argumente auf, die bereits die sozialphilosophische Diagnostik der 1920er Jahre beherrscht hatten wie die zunehmende Verbürokratisierung der Wirtschaft, die daraus resultierende Persönlichkeitskrise der Unternehmer oder die allgemeine Abschwächung der kapitalistischen Dynamik. Konsequenz war für Fried die Forderung, die Wirtschaft autark zu machen und sicherzustellen, dass sie sich aus sich selbst heraus erhalten konnte. 162 Hock, Antikapitalismus, bes. S. 70 f. 163 Harms, Planwirtschaft, S. 6. 164 Schreiben Moritz Julius Bonn an Carl Landauer (21.12.1931). BA Koblenz. Nl Bonn, 82/29. 165 Bonn, Moritz Julius: Wirtschaftsgestaltung und Hochschulziele (Rede seiner Magnifizienz des Rektors der HH Prof. Dr. M. J. Bonn an der Jubiläumsfeier am 27.10.1931). BA Koblenz. Nl Bonn, 82/10d. 166 Ebd. 167 Sontheimer, Tat-Kreis, bes. 238 ff. 168 Pseudonym für Ferdinand Friedrich Zimmermann. 169 Fried, Ende.

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Die Nationalökonomie war in der Frage des notwendigen Umbaus der Wirtschaft uneins. Dabei kam es, soweit sich das beurteilen lässt, während der Krise höchstens in Ansätzen zu einer Renaissance der nach dem Ersten Weltkrieg verhandelten Reformprojekte. Oppenheimer brachte zwar 1931 eine Neuauflage seines Werkes Weder Kapitalismus noch Kommunismus heraus, wobei er in der Einleitung einen Bezug zwischen der Lage nach dem Ersten Weltkrieg und der Weltwirtschaftskrise herstellte.170 Besondere Resonanz erlangte er jedoch in Deutschland damit nicht mehr. Das lag mutmaßlich daran, dass von dem Utopismus der unmittelbaren Nachkriegszeit in der Weltwirtschaftskrise kaum noch etwas übrig geblieben war. Angesichts des nun vorherrschenden, dezi­ sionistischen Zuges der Debatte ging es weniger um die Herstellung einer »besten« Ordnung, als um die Wiederherstellung von Ordnung überhaupt.171 Die mit der Weltwirtschaftskrise einhergehende politische Radikalisierung führte in der Nationalökonomie zunächst dazu, dass viele Ökonomen, die sich trotz ihrer grundsätzlich sozialistischen Einstellung zumindest in ihrer Theoriebildung auf den Boden des Kapitalismus gestellt hatten, nun nach und nach verstärkt den Übergang in eine neue Wirtschaftsordnung forciert sehen wollten. Das war etwa bei Löwe der Fall, der sich in seinen Beiträgen in den »Neuen Blättern für den Sozialismus« zunächst gegen die deflationäre Wirtschaftspolitik wandte. 1931 meinte er noch beschwichtigend, dass die Arbeiterklasse zur Krisenüberwindung zunächst die Macht der Monopole brechen müsse. So bliebe zwar die liberale Verkehrswirtschaft erst einmal erhalten, was jedoch nur das erste, nicht das letzte Wort der Arbeiterbewegung sein sollte.172 Ein Jahr später forderte Löwe bereits offen eine Sozialisierung der Großbetriebe und sah die Instrumente der Konjunkturpolitik als ein Mittel, die Transformation in eine planwirtschaftliche Ordnung durchzuführen.173 Lederer wiederum stürzte die Wirtschaftskrise in tiefe Verzweiflung, und er vermochte keine Möglichkeit eines Auswegs im Rahmen der bestehenden Verhältnisse zu entdecken.174 Trotz der zahlreichen Befürworter der Umgestaltung der Wirtschaft bezeichnete es der Berliner Ökonom Carl Landauer 1931 als eine erstaunliche Tatsache, dass die meisten Nationalökonomen weiterhin an die kapitalistische Verkehrswirtschaft glaubten.175 Zwar ist es durchaus denkbar, dass Landauer durch das Milieu, in dem er sich bewegte, zu dieser Meinung gebracht wurde: An der Berliner Handelshochschule hatte er mit Bonn, Palyi und anderen explizit wirtschaftsliberale Kollegen. Zudem war er ein enger Mitarbeiter von Gustav Stol170 Oppenheimer, Weder, S. VIIff. 171 Z. B. für den Ordoliberalismus: Haselbach, Liberalismus, S. 69. 172 Löwe, Sinn. 173 Schreiben Adolf Löwe an Alexander Rüstow (30.11.1932). BA Koblenz. Nl Rüstow, 169/6. Löwe, Beitrag, S. 160. Auch Krohn nennt das Ausmaß von Löwes Radikalisierung »auf­ fallend«. Krohn, Ökonom, S. 44. 174 Vgl. a. Lederer, Lähmung, bes. S. 28. Staudinger, Wirtschaftspolitik, S. 88 f. 175 Landauer, Planwirtschaft, S. 3.

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per, der zu den prominenten Liberalen der Weimarer Republik gehörte.176 Trotzdem ging Landauer mit seinem Urteil nicht ganz fehl, weil es in der Tat in der Nationalökonomie zahlreiche Verteidiger der freien Verkehrswirtschaft gab, die sie entweder gegen die zahlreichen Vorwürfe verteidigen wollten oder sogar bestritten, dass ihr Bestand überhaupt bedroht war. Fricke schrieb z. B. 1931, der liberale Kapitalismus habe sich noch niemals in einer so starken Position befunden wie gegenwärtig: denn obwohl der Liberalismus in den politischen Parteien nur noch eine verschwindende Anzahl an Befürwortern hätte, wäre kaum eine »liberalere« Wirtschaftspolitik als die der Regierung Brünings denkbar.177 Für Hesse war die Bedeutung der Weltwirtschaftskrise so epochal, dass er ein ganzes Lehrbuch über sie verfasste. Zugleich war er nicht der Meinung, die Krise zeige die Untauglichkeit der kapitalistischen Wirtschaftsordnung an oder bedrohe gar ihren Bestand.178 Allerdings sah er in der Kartellierung eine der Ursachen für die ideologischen Grabenkämpfe, weil deren Mitglieder nur noch in den Denkschemata ihrer Organisationen denken könnten und darum kein Verständnis mehr für andere Standpunkte aufbrächten.179 Auch die Befürworter der freien Verkehrswirtschaft sahen jedoch die Strukturwandlungen des Kapitalismus und reagierten auf die Krise. Mises etwa konnte dabei auf die Argumente zurückgreifen, die er in seinem Buch Kritik des Interventionismus entwickelt hatte, in dem er 1929 die zahlreichen Aufsätze zusammenfasste, die zum Thema Staatsinterventionismus aus seiner Feder geflossen waren.180 Für Mises gab es letztlich nur die Alternative zwischen freier Verkehrswirtschaft und Sozialismus. Zwischenformen ließ er nicht zu, und zwar deswegen nicht, weil er von einer Systemdynamik ausging: Wenn einmal in den freien Markt eingegriffen wurde, etwa durch die Festsetzung von Höchst­ preisen, führte das zu einer aus der Behinderung des Marktmechanismus resultierenden Störung. Um diese Störung zu korrigieren, musste wiederum ein Eingriff erfolgen, und am Ende entstand ein Torso sich gegenseitig korrigierender Interventionen, so dass die Illusion entstehen konnte, eine staatlich zentralisierte Planwirtschaft könne die ökonomischen Probleme effektiver lösen. Dabei war das Versagen der Steuerungsfunktion des Marktes nach Mises lediglich der Tatsache geschuldet, dass der Staat nicht bereit war, die Ergebnisse des freien Wettbewerbs zu akzeptieren.181 Indem er aber vermeinte, dessen Folgen lindern zu können, machte er alles nur noch schlimmer. Am Ende blieb, von Mises gedanklichen Voraussetzungen her durchaus konsequent, nur die Alternative Markt- oder Planwirtschaft übrig.182 176 Nicholls, S. 37. Klausinger, Stolper. 177 Fricke, Ursachen, S. 28 f. 178 Hesse, Einführung, S. 1 ff. 179 Ebd., S. 17. 180 Mises, Kritik. 181 Mises, Legende, S. 26 f. 182 Ders., Kritik, S. 53 f.

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Aufgrund der vielfältigen staatlichen Eingriffe in das Wirtschaftsleben war Mises ohnehin der Meinung, bereits in einer sozialistischen Gesellschaft zu leben, wobei er die sozialistische Planwirtschaft vor allem an der Unmöglichkeit einer adäquaten Wirtschaftsrechnung scheitern sah. Hier fiel die Selbststeuerung der Wirtschaft durch die eigeninteressiert handelnden Akteure aus und an ihre Stelle trat eine Bürokratie, die vielleicht noch die Gesamtheit der Bedürfnisse schätzen konnte, jedoch keine Möglichkeit besaß, die Produktion der entsprechenden Konsumgüter richtig zu bewerten: In der freien Verkehrswirtschaft stellte nach dem Grenznutzenansatz die Konsumgüternachfrage eine indirekte Nachfrage nach Produktionsmitteln dar, insofern waren die mensch­ lichen Bedürfnisse mit der Produktion der entsprechenden Genussgüter immer schon koordiniert. Das funktionierte nach Mises im Sozialismus nicht.183 In diesen Bahnen sollte später auch Hayek in The road to serfdom argumentieren.184 Mises wie Hayek verband ein extrem weites Verständnis von Sozialismus, den sie als nahezu umfassenden Gegenbegriff ihrer liberalen Auffassung der freien Verkehrswirtschaft betrachteten. Explizite Verteidiger der liberalen Verkehrswirtschaft waren auch die »ordoliberalen« Ökonomen Eucken und Rüstow. Sie setzten sich dabei nicht zuletzt intensiv mit Heimanns Sozialer Theorie des Kapitalismus auseinander. Eucken und Rüstow teilten dessen sozialistische Auffassung zwar nicht, wurden jedoch in der Frage, welche Strukturveränderungen der Kapitalismus in den letzten Jahrzehnten durchlebt hatte, von seinen Überlegungen stark beeinflusst. Eucken veröffentlichte 1932 im Weltwirtschaftlichen Archiv einen vielbeachteten Aufsatz mit dem Titel Staatliche Strukturwandlungen und die Krisis des Kapi­ talismus.185 Darin beschrieb er das Verhältnis von Staat und Wirtschaft seit der Frühen Neuzeit als ein Drei-Phasen-Modell: Während in der Zeit des Merkantilismus der Staat den Kapitalismus erst geschaffen habe, setzte sich im Verlauf der Industrialisierung eine weitgehende Trennung von Staat und Wirtschaft durch. In dieser zweiten Phase funktionierte die Wirtschaft ziemlich genau nach den in der ökonomischen Theorie formulierten Gesetzen. Die Konkurrenz und die freie Preisbildung leisteten eine exakte Steuerung der Wirtschaft, die sich dementsprechend günstig entwickelte. Im späten Kaiserreich und besonders in der Weimarer Republik sah Eucken dann jedoch die dritte Phase angebrochen, in der sich die Trennung von Staat und Wirtschaft zunehmend auflöste: Die zunehmend in der Wirtschaft organisierten Interessengruppen regierten in die Politik hinein, die Politik wiederum in die Wirtschaft durch Sozialpolitik. In manchen Branchen breiteten sich Kartelle und andere monopolistische Organisationsformen mehr und mehr aus, so dass die Konzernspitzen zunehmend Verwaltung glichen und die Wirtschaftsführer den Charakter von Beamten an-

183 Mises, Wirtschaftsrechnung, S. 106 ff. Pallas, Pionier, S. 164. 184 Hayek, Road. 185 Eucken, Strukturwandlungen.

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nahmen. Resultat all dessen war für Eucken der Verlust der Selbststeuerungs­ fähigkeit der Wirtschaft und eine »Versumpfung« des Kapitalismus.186 War dieses Phänomen der besonderen Schwere der Weltwirtschaftskrise geschuldet, so fällt bei Eucken doch auf, dass er im Prinzip mit der Entwicklungsprognose Heimanns weitgehend übereinstimmte: einem zunehmenden Organisationsgrad der Wirtschaft und einem gestiegenen Einfluss der Sozialpolitik auf die Wirtschaft. Nur erblickte in diesem Prozess den Grund für Fehl­ entwicklungen, die sich in der Weltwirtschaftskrise schonungslos offenbarten. Ein Ausweg konnte für ihn nur darin liegen, die vormals bestehende Trennung von Staat und Wirtschaft wiederherzustellen. Weil das von der Wirtschaft jedoch nicht geleistet werden konnte, brauchte es dazu das Machtmonopol eines autoritären Staates. Angesichts solcher Aussagen hat Dieter Haselbach in einem kontroversen Buch die Positionen von Eucken, Rüstow und anderen, die später die Gruppe der Ordoliberalen bilden sollten, als autoritären Liberalismus bezeichnet.187 Seine Argumentation fußt dabei auf Carl Schmitts Kritik am Zustand des »totalen Staates«, in welchem die Grenze zwischen Gesellschaft und Staat zunehmend verwischt.188 Bei Betrachtung insbesondere von Euckens Staatliche Struktur­ wandlungen lassen sich Haselbachs Überlegungen kaum von der Hand weisen, zumal Eucken Schmitt programmatisch zitierte.189 Hier wurde es explizit als Ziel formuliert, der Staat müsse gegenüber der Gesellschaft und insbesondere der Wirtschaft seine Handlungsfähigkeit zurückgewinnen. Rüstow wurde öffentlich und in seinem Briefwechsel noch deutlicher190: Wenn sich das liberale Idealbild einer »demokratischen« Konkurrenz relativ kleiner Unternehmen nicht von selbst durchsetzte, sollte der Staat eine solche Wettbewerbssituation herstellen. Konkret hieß das, der Staat müsse die Kartelle und Syndikate zerschlagen und auf künstliche Weise kleinere Unternehmensgrößen erzwingen. Dadurch sollte der ökonomische Wettbewerb reinstalliert werden, dessen Fehlen Rüstow für die Entstehung und Schwere der Weltwirtschaftskrise verantwortlich machte.191 Die nach dem Zweiten Weltkrieg von Röpke so dramatisch formulierte Angst vor einer zu starken wirtschaftlichen Konzentration hatte ihre Wurzeln also in der Befürchtung, ein hoher Selbstorganisationsgrad der Wirtschaft führe nicht nur zu Machtzusammenballungen, sondern beeinträchtige auch die Funktionsweise des Kapitalismus und des Staates.

186 Ebd., S. 315. 187 Haselbach, Liberalismus. 188 Ebd., S. 37. 189 Eucken, Strukturwandlungen, S.  307. Neben Schmitt zitierte Eucken als einziges noch Meineckes Geschichte der Staatsräson, was genauso programmatisch gemeint war. 190 Rüstow, Interessenpolitik. 191 Schreiben Alexander Rüstow an Adolf Löwe (25.11.1932). BA Koblenz. Nl Rüstow 169/6. S.a. Meyer-Rust, S. 42 ff.

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7.3.3 Die Diskussion um Kartelle und Monopole und die Krise der Nationalökonomie Im fünften Kapitel dieser Arbeit über die soziologischen Nationalökonomen wurde vorausgesetzt, dass die wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung der Weimarer Republik nicht nur als verbesserungswürdig, sondern zugleich als bereits in der Transformation befindlich betrachtet wurde. Dieser Gesichtspunkt lässt sich nun klarer benennen. An der Debatte über Kartelle und Monopole lässt sich zeigen, dass die deutsche Nationalökonomie in den 1920er Jahren auf breiter Ebene Strukturwandlungen des Kapitalismus zu beobachten meinte, wobei darüber, wohin dieser Prozess letztlich führte, eine Vielzahl von Vorstellungen existierte. Diese Wahrnehmung war keineswegs allein durch die Weltwirtschaftskrise bedingt: sie ging bereits auf die Diskussion um Kartelle und Monopole vor dem Ersten Weltkrieg zurück, und auch während der 1920er Jahre gab es viele Wissenschaftler, die von einem im Vollzug befind­ lichen Gestaltwandel der Wirtschaft ausgingen. Sombarts »Spätkapitalismus«Konzept und Schmalenbachs Fixkostenfalle sind hier nur zwei besonders prominente Beispiele. Die Weltwirtschaftskrise brachte es dann mit sich, dass in dem Maße, wie der epochale Charakter dieser Krise immer mehr ins Bewusstsein rückte, sich diese Strukturwandlungen auf ein Entscheidungsproblem zuzuspitzen schienen: In der Krise sollte sich die Frage der zukünftigen Wirtschaftsordnung beantworten. Das wiederum ging einher mit einer in der späten Weimarer Republik insgesamt zu beobachtenden, jedoch auch für die Nationalökonomie zu konstatierenden, politischen Radikalisierung. Diese reichte von der Forderung nach der autoritären Durchsetzung der liberalen Marktgesellschaft bis hin zur Schaffung einer gebundenen Wirtschaft oder einer sozialis­ tischen Planwirtschaft. Der die Debatte um Kartelle und Monopole schon vor dem Ersten Weltkrieg auszeichnende sozialphilosophische Zug verstärkte sich in der Weltwirtschaftskrise massiv. Das hatte nicht zuletzt zur Folge, dass mitunter die Frage nach den konkreten Möglichkeiten, wie die Krise im Rahmen des bestehenden Systems überwunden oder abgemildert werden konnte, aus den Augen verloren wurde. Vielmehr erschien die Schaffung einer neuen Ordnung als einzige denkbare Möglichkeit eines Auswegs überhaupt. Der Unterschied zu der Sozialisierungsdiskussion nach dem Ersten Weltkrieg bestand allerdings darin, dass die utopisch-rationalistischen Elemente hier sehr viel schwächer ausgeprägt waren und die Debatte sehr viel stärker dezisionistische Züge trug. Die Glückseligkeit verheißenden Mittel der Technik hatten ihren Charme verloren; es ging weniger um die Verwirklichung einer »besten« Ordnung, als um die Wiederherstellung von Ordnung überhaupt, wobei auch dezidiert liberale Ökonomen vor autoritären Modellen nicht zurückschreckten.192 192 Vgl. dazu ausführlich Köster, Technikkonzeptionen, S. 575 ff.

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Die Wahrnehmung, dass sich die Wirtschaft in einem Transformationsprozess befand, hatte für das Fach jedoch auch noch aus anderen Gründen Konsequenzen. Der sozialphilosophische Charakter der Debatte wirkte auch auf die Behandlung konkreter Einzelfragen zurück: Indem die Wirtschaft als ein Gesamtsystem aufgefasst wurde, konnte jede Veränderung eines Merkmals auf eine Veränderung dieses Gesamtsystems hindeuten. Zugleich wirkte dieser wahrgenommene Transformationsprozess massiv auf die nationalökonomischen Debatten zurück. Für die wenigen konsequent liberalen Ökonomen konnten z. B. deswegen kontrazyklische Maßnahmen in der Weltwirtschaftskrise unter keinen Umständen legitim erscheinen. Stolper etwa lehnte Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen schon deshalb ab, weil für ihn die Tatsache, dass der Staat lenkend in den Wirtschaftsprozess eingriff, bereits einen entscheidenden Schritt auf dem Weg zum Sozialismus bedeutete.193 Mises sah die Ordnung der deutschen Wirtschaft bereits in den 1920er Jahren im Prinzip als eine so­ zialistische an. Aus seiner systemdynamischen Vorstellung heraus gab es letztlich keine Alternative zwischen planwirtschaftlichem Sozialismus und freier Marktwirtschaft. Eucken gab 1932 seine ganz eigene Erklärung der Krise der Nationalökonomie. Für ihn resultierte sie daraus, dass der Wissenschaft das lebendige Objekt ihrer Anschauung verloren gegangen sei. Im 19. Jahrhundert sei für die Menschen die Steuerung des Wirtschaftslebens durch die Konkurrenz noch offensichtlich gewesen, während das wegen der zunehmenden »Vermischung« von Staat und Wirtschaft nicht mehr der Fall sei.194 Auch deswegen gäbe es so viele, der freien Verkehrswirtschaft gegenüber feindlich eingestellte Wissenschaftler. Was immer von dieser Erklärung zu halten ist, trifft sie doch den wesentlichen Punkt, dass die Strukturwandlungen der Wirtschaft massive Rückwirkungen auf die ökonomische Theorie hatten. Wenn die Nationalökonomie der 1920er Jahre größtenteils davon ausging, dass die ökonomischen Gesetze nicht a priori galten, sondern durch die institutionellen Rahmenbedingungen erst Geltung bekamen, musste die zunehmende Organisierung der Wirtschaft auch massive Rückwirkung auf die Wissenschaft haben. Wie etwa sollte man sich auf ein gemeinsames Paradigma der ökonomischen Theorie verständigen, wenn die Strukturwandlungen der Wirtschaft deren Geltung offensichtlich den Boden entzogen? Wilhelm Gerloff drückte das aus, als er 1932 meinte: »Was aus der skeptischen Beurteilung des Standes unserer Wissenschaft spricht, ist ja im Grunde etwas anderes als ihre Verneinung: es ist das wirtschaftswissenschaft­ liche Bedürfnis unserer Zeit. Dieses ist freilich so tief und dringend wie kaum je zuvor. Das braucht nach dem Umwälzung der letzten Jahrzehnte, die nicht mehr und nicht weniger als die alte Wirtschaftsverfassung überhaupt in Frage gestellt haben, hier nicht weiter ausgeführt zu werden. Die ›Krisis‹ der Volkswirt-

193 Klausinger, Stolper, S. 258 f. 194 Eucken, Strukturwandlungen, S. 320.

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schaftslehre, von der man gelegentlich gesprochen hat, ist vielmehr eine Krise unserer Wirtschaftsgesinnung als der Wirtschaftswissenschaft.«195 Für eine gebundene Wirtschaft bzw. eine Planwirtschaft war wiederum eine andere Theorie vonnöten. Dass es über die Gestalt der zukünftigen Wirtschaftsordnung vielfältige Vorstellungen gab196 hatte dann nicht nur zur Folge, dass innerhalb der Disziplin intensiv über Probleme gestritten wurde, die mit der unmittelbaren Krisenbekämpfung direkt nichts zu tun hatten, sondern es wurde darüber hinaus das Problem der Neubegründung der Nationalökonomie weiterhin anschlussfähig gehalten: als das Problem, eine Theorie für die neue Ordnung zu liefern, welche die alte der Weimarer Republik ablösen sollte. Das spielte nicht zuletzt in den Versuchen, nach 1933 eine »neue« Wirtschaftslehre zu begründen, eine wichtige Rolle.197 Die Nationalökonomie thematisierte die disziplinäre Krise nach 1930 nur noch selten, nachdem die Diskussion um Sombarts Drei Nationalökonomien noch einmal einen Höhepunkt des Krisendiskurses dargestellt hatte. Das lag jedoch keineswegs daran, dass die Probleme gelöst waren, sondern hatte eher damit zu tun, dass angesichts der Weltwirtschaftskrise eine ausbordende Selbstbespiegelung der Wissenschaft nicht mehr opportun erschien. Irgendwann musste sich die Krisensemantik auch abnutzen, die nach Hans Kretschmars Einschätzung nur noch trivialen Charakter besaß.198 Zugleich brachte es die, von der Weltwirtschaftskrise erzeugte politische Radikalisierung mit sich, dass selbst die zerbrechlichen Grundlagen einer produktiven Diskussionskultur gefährdet wurden. Sogar in der »Front« der jüngeren Theoretiker begannen sich tiefe Risse zu zeigen. War es Eucken, Rüstow und anderen Liberalen vorher noch möglich gewesen, in der ökonomische Theorie einen gemeinsamen Nenner zu finden, traten die zwischen ihnen bestehenden Gegensätze nun immer deutlicher zu Tage. Konnte sich ein sozialistischer Ökonom wie Löwe während der 1920er Jahre wenigstens temporär noch auf den Boden der kapitalistischen Wirtschaftsordnung stellen, forderte er Anfang der 1930er Jahre offen die Umgestaltung.

195 Gerloff, Wirtschaftswissenschaft, S. 10 f. 196 Lüdders, S. 87 ff. 197 Wiskemann, Wirtschaftswissenschaft, S. 69 f. 198 Kretschmar, S. 1.

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Schluss Bevor Joseph Schumpeter 1932 von Bonn nach Harvard wechselte, hielt er vor seinen Studenten eine launige Abschiedsrede, in der er über das Woher und Wo­ hin unserer Wissenschaft reflektierte.1 Hier zeichnete er noch einmal in knappen Sätzen ein Bild der Situation der deutschen Nationalökonomie, die sich noch immer nicht aus ihrer Krise befreit hatte. Erneut wies er kritisch auf die Folgen der Methodenlastigkeit hin, die zu unfruchtbaren Debatten und Grundsatzstreitigkeiten geführt habe, wo pragmatisches Arbeiten an den drängenden Problemen der Gegenwart angemessen gewesen wäre. Die Zerrissenheit der deutschen Nationalökonomie äußerte sich seines Erachtens im absoluten Beharren auf dem eigenen Standpunkt und in »harten Rezensionen«, die die Argumente der Gegenseite nicht würdigten, sondern sie verächtlich zu machen strebten. Zugespitzt meinte er, nichts sei so relativ wie das Absolute, und: »wir müssen weniger philosophieren, um als Ökonomen leistungsfähiger zu werden.«2 Explizit kritisierte er das halbe Dutzend Nationalökonomen, die der Meinung waren, die absolute Wahrheit gefunden zu haben: »Ich habe keine Sympathie für jene Lehrer, welche ihre wissenschaftliche Impotenz verhüllen mit den Fetzen aus den philosophischen Mänteln von Plato, Hegel oder Husserl, und aus einem Wort eine Tyrannis machen. Der Umstand, dass sie Erfolg haben, beweist, dass der Boden für sie vorhanden ist. Das muss sich ausleben.«3 Auf die hier in knappen Worten skizzierte Krise bezog sich Schumpeter in seinen Arbeiten der 1920er Jahre immer wieder und manche, auf den ersten Blick überraschend erscheinende Wendungen seines Denkens, sind ohne sie nicht nachzuvollziehen. Diese Krise historisch zu rekonstruieren, war das Ziel dieser Arbeit. Es ging darum, die Gründe zu verstehen, warum es in der Disziplin während der Weimarer Republik einen so ausgeprägten Pluralismus gab, so dass eine produktive Diskussion über die wirtschaftlichen Probleme nicht zustande kam, warum sie auf so weitgefächerte Problemstellungen antwortete und warum sie, obwohl sie ihre Krise ständig thematisierte, nicht in der Lage war, eine Besserung dieses Zustands herbeizuführen. Das erschien nicht zuletzt deswegen interessant, weil sich die Lage des Faches in den Jahren 1918–1933 so diametral von der heute zu beobachtenden Dominanz des neoklassischen Mainstreams unterscheidet. Während sich die heutige Volkswirtschaftslehre durch eine große Einheitlichkeit auszeichnet, lässt sich bei der deutschen Nationalökonomie der 1920er Jahre das Nebeneinander verschiedenster Schulen und Rich1 Schumpeter, Woher, S. 598–608. 2 Ebd., S. 603. 3 Ebd., S. 603 f.

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tungen beobachten, die sich untereinander bekämpften und zwischen denen eine Vermittlung allem Anschein nach nicht möglich war. Vielleicht ist es der heute herrschenden »Monokultur« der neoklassischen Synthese geschuldet, dass in dem Pluralismus des Faches während der 1920er Jahre mitunter auch etwas Positives gesehen wird. Karl Häuser wies auf zahlreiche interessante Ansätze hin, von denen er es bedauerte, dass sie später nicht weitergeführt wurden.4 Harald Hagemann betonte in diversen Aufsätzen das theoretische Innovationspotential der 1920er Jahre. Bertram Schefold entwi­ ckelte Spiethoffs »Wirtschaftsstil«-Konzept weiter.5 Jüngst haben z. B. Gerold Blümle und Nils Goldschmidt das Konzept einer »Theoriegeschichte als Kulturgeschichte« vorgestellt, dass durchaus an die methodologischen Diskussionen der 1920er Jahre anschließt.6 Doch auch wenn es in dieser Zeit zahlreiche interessante Ansätze und spannende Diskussionen gab, ändert das nichts daran, dass die Nationalökonomie der Weimarer Republik ihre Lage selbst als problematisch und bedrückend empfand. Sie suchte nach einem Ausweg, fand ihn jedoch nicht. Vielmehr verstrickte sie sich in Methodendebatten, die mit einer gewissen Berechtigung später als »unfruchtbar« bezeichnet wurden: Denn ihr Ziel, den Paradigmenverlust des Faches zu überwinden, erreichten sie nicht. Wie Schumpeters kleine Rede demonstriert, hatte sich an dieser Lage auch 1932 noch nichts Grundsätzliches geändert. Walter Eucken sah sich selbst im Jahr 1940 noch genötigt, in seinen Grundlagen der Nationalökonomie programmatisch mit den Erscheinungen zu beschäftigen, die im Rahmen dieser Arbeit als Krisen­phänomene hervorgehoben wurden: die Existenz »letztbegründeter« Systeme, Schulen- und »Sekten«-Bildung, unfruchtbare Polemiken. Dass es zu dieser verfahrenen Situation kommen konnte, hatte ganz entscheidend mit dem methodischen und theoretischen Vakuum zu tun, das durch das Ende der Jüngeren Historischen Schule entstand. Letztere war in ihren Forschungsmethoden und inhaltlichen Schwerpunkten, trotz aller Kritik im Einzelnen, untrennbar mit dem Kaiserreich und seinen Institutionen verbunden. Für sie stellte der Staat den entscheidenden Bezugspunkt der wirtschaftlichen Betrachtung dar. Seine sozialpolitische Reformierbarkeit garantierte die sukzessive Versittlichung der gesellschaftlichen Institutionen. Aus dem Vertrauen in die Vernünftigkeit des Geschichtsprozesses resultierte eine ruhige Zukunftsgewissheit, die es im Zweifel erlaubte, bei wichtigen Sachfragen die Dinge auch einmal laufen zu lassen. Diese Haltung ließ sich jedoch bereits seit der Jahrhundertwende, angesichts der Verhärtung sozialer Konfliktlagen, der »Kulturkrise« und »fin de siecle«-Stimmung, nicht mehr vertreten, ohne zumindest mit heftigem Widerspruch rechnen zu müssen. Weiter benötigte eine komplexer werdende und zunehmend bürokratisierte Wirtschaft mehr und mehr technisches Wissen, das die Volkswirtschaftslehre nicht bieten konnte. Verstärkt wurde aus 4 Häuser, Ende, S. 47 ff. 5 Schefold, Wirtschaftsstile. 6 Blümle u. Goldschmidt, Bedingtheit.

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diesem Grund gegen sie der Vorwurf der Praxisferne erhoben und teilweise aus ihren Reihen selbst eine stärkere Theorieorientierung gefordert. Doch erst mit dem Untergang des Kaiserreichs wurde der Geschichtsoptimismus der Jüngeren Historischen Schule, die so stark auf die Evolution der Institutionen vertraut hatte, unmöglich. Angesichts der mit Erstem Weltkrieg, Revolution und Nachkriegswirren einhergehenden gesellschaftlichen Umwälzungen sah sich das Fach vor die Notwen­digkeit einer grundlegenden Neuorientierung gestellt. Dieses Problem wurde in den Fachzeitschriften ungefähr seit der Mitte des Ersten Weltkriegs intensiv verhandelt und allgemein wurde eine »neuen Synthese« gefordert, welche die bisherige Forschung zusammenführen und zu einem neuen Bild erweitern würde, um so eine realistische Beschreibung der sozioökonomischen Verhältnisse zu ermöglichen. Es ist der deutschen Nationalökonomie später vorgeworfen worden, dass sie sich in dieser Zeit nicht an den bereits vorhandenen Erkenntnissen der Volkswirtschaftslehre anderer Länder, vor allem der angelsächsischen Theorie und der österreichischen Neoklassik, orientierte. Doch davon abgesehen, dass bezüglich der englischen und amerikanischen Literatur die Sprachbarriere und die mangelnden Bezugsmöglichkeiten wichtiger Bücher und Periodika ein Problem darstellte, herrschte allgemein die Wahrnehmung vor, dass sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen seit der Jahrhundertwende und verstärkt durch den Ersten Weltkrieg so stark verändert hatten, dass es eines wirklich neuen Ansatzes bedurfte. Besonders der österreichischen Neoklassik wurde vorgeworfen, sie sei »steril« und lebensfern, weil sie die soziale Dimension der Wirtschaft aus der ökonomischen Theorie weitgehend ausblendete. Die Zeitumstände legten es aber nahe, dass ohne ihre Berücksichtigung das Wirtschaftsleben nicht adäquat verstanden werden konnte. Es wurde ein »neues System« gefordert, dass die veränderten Umstände der Nachkriegs­ gesellschaft plausibel erklären und gleichzeitig die Nationalökonomie als Wissenschaft neu begründen sollte. Schon vor dem Krieg fühlten sich einige Ökonomen berufen, diese Neu­ begründung zu leisten. Bereits in dieser Zeit gab es also im Fach das Gefühl, dass die existierenden Theorien an der Erklärung der wirtschaftlichen Gegenwart gescheitert waren. Seit dem Ersten Weltkrieg aber stieg die Anzahl von Kandidaten fortlaufend an, die diese Synthese zu leisten versprachen. Sie reagierten auf den Paradigmenverlust des Faches, in dem sie Theorien entwickelten, die von bestimmten Prämissen ausgehend eine Totalerklärung der kapitalistischen Verkehrswirtschaft zu leisten versprachen. Diese waren aufgrund ihrer Architektur, der Reichweite ihres Erklärungsanspruchs und dem Anspruch auf Neubegründung der ökonomischen Theorie nur schwer miteinander zu vermitteln. Robert Liefmann, Karl Diehl, Othmar Spann und andere beschäftigten sich dementsprechend intensiv damit, sich gegenseitig in den Fachzeitschriften ihre wissenschaftliche Minderwertigkeit nachzuweisen. Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs konnte sich also ein Theorienpluralismus voll entfalten, der sich seit der Jahrhundertwende im Schatten der Historischen Schule bereits zu ent309 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525360255 — ISBN E-Book: 9783647360256

wickeln begonnen hatte. Das führte dazu, dass die Nationalökonomie anfing, sich als eine zerstrittene Wissenschaft wahrzunehmen und als »in der Krise« zu beschreiben. Ein signifikanter Topos war in diesem Zusammenhang besonders die Selbstbeschreibung als eine »junge« Wissenschaft, von der Aussagesicherheit nicht erwartet werden konnte. Dieser Pluralismus äußerte sich keineswegs allein darin, dass es Wissenschaftler gab, die ihr eigenes System vertraten. Vielmehr machte es die Krise wesentlich aus, dass die gesamte Disziplin durch den Widerstreit der verschiedenen Richtungen geprägt wurde. Das zeigt sich nicht zuletzt an den Fachzeitschriften. Während sie heute durch ihre Begutachtungsverfahren den Mainstream stärken, war bei den nationalökonomischen Fachzeitschriften in der Weimarer Republik keine eindeutige Veröffentlichungspolitik zu erkennen. Hier standen wirtschaftshistorische neben theoretischen, universalistische und organizistische neben wirtschaftspolitischen Artikeln. Sie spiegelten den Pluralismus des Faches genauso getreulich wider wie zahlreiche Berufungsverfahren, in deren damals noch wenig formalisierter Auswahl oftmals ein Organizist neben einem Theoretiker um die freie Stelle konkurrierte und die Fakultät sich nicht entscheiden konnte, wem sie nun den Vorzug geben sollte. Wären Wissenschaftler wie Spann, Gottl-Ottlilienfeld und andere im Fach isoliert gewesen, dann hätten sie ihre Aufsätze nicht in den Fachzeitschriften unterbringen und keine großen Verlage für ihre Werke gewinnen können, dann wären sie nicht so intensiv diskutiert und nicht an renommierte Universitäten berufen worden. Die Disziplin reagierte auf diesen Pluralismus und die sich zunehmend daran anschließende Krisensemantik seit Beginn der 1920er Jahre mit einer weitausgreifenden Methodendiskussion, in der es weniger um Verfahrensfragen ging, als darum, die Grundlagen nationalökonomischer Erkenntnis zu klären. Eine Einigung konnte in diesen Debatten allerdings nicht erzielt werden. Vielmehr verstärkten sie die Krise noch: Am Ende standen sich so zahlreiche, »letzt­ begründete« Standpunkte gegenüber, welche die Wahrheit allein für sich reklamierten. Das wiederum hing eng damit zusammen, was in dieser Arbeit als »Systemdenken« bezeichnet wurde: Nicht nur, dass es zahlreiche Versuche gab, logisch geschlossene Systeme zu entwickeln, sondern zugleich wurde ein Bewusstsein dafür geschaffen, dass prinzipiell jede Aussage auf bestimmten Prämissen beruhte und deswegen als »ideologisch« beschrieben werden konnte. Eine pragmatische Diskussion über Sachprobleme wurde auf diese Weise erschwert. Die Methodendebatte stand in engem Zusammenhang mit der Schaffung logisch geschlossener Systeme, von denen es in der Nationalökonomie der 1920er Jahre eine Vielzahl gab. Zugleich setzte sich damit ein Theorietypus durch, der von bestimmten Prämissen ausgehend eine Totalerklärung der modernen kapitalistischen Verkehrswirtschaft leisten wollte. Der Erklärungsanspruch dieser Systeme ging also über die Absicht, die Wirtschaft im engeren Verständnis theoretisch erfassen zu wollen, häufig weit hinaus. Die gesellschaftlichen Umwälzungen des Krieges und der Anfangsjahre der Weimarer Republik ließen 310 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525360255 — ISBN E-Book: 9783647360256

es als evident erscheinen, dass sich die gesellschaftliche und die wirtschaft­liche Ordnung in hohem Maße gegenseitig bedingten. Ohne eine umfassende Gesellschaftstheorie war darum auch die Wirtschaft nicht adäquat zu beschrei­ben. Hier berührten sich soziologische und nationalökonomische Fragestellungen und begannen sich gegenseitig zu irritieren: Vor allem, weil viele »soziologische« Nationalökonomen dem Fach vorwarfen, nur Scheintheorien zu produzieren, indem sie die soziologische Fundierung des Wirtschaftslebens vorgeblich ausblendeten und nur dessen Oberflächenerscheinungen mit ihren Theorien erfassten. Damit kam ein weiterer Faktor ins Spiel, der die Entstehung einer pro­ duktiven Diskussionskultur blockierte und der Schulenbildung weiteren Vorschub leistete. Denn es ging den soziologischen Nationalökonomen nicht allein darum, die gesellschaftliche und wirtschaftliche Realität der Weimarer Republik theoretisch zu erfassen. In dem Maße, wie diese als instabil und bedrückend wahrgenommen wurde, sollte nicht nur eine Antwort auf die Krise der Nationalökonomie, sondern gleichzeitig auch auf die Krise der staatlichen und wirtschaftlichen Ordnung gegeben werden. Deren Problemlagen wurden dabei keineswegs als eine vorübergehende Dysfunktionalität gedeutet, sondern als Höhepunkt einer Krise der Moderne insgesamt, die es zu überwinden galt. Spann, Gottl-Ottlilienfeld und Oppenheimer stehen dafür, wie einer als genauso krisenhaft wie künstlich empfundenen Moderne das Bild einer natür­ lichen Ordnung gegenübergestellt wurde, in welcher deren Zerrissenheit überwunden war. Ihre Systeme wiesen dabei charakteristische Gemeinsamkeiten auf: sie entwickelten aus bestimmten, als letztbegründet behandelten Grundannahmen das Bild einer natürlichen Ordnung, dass sie ihrer Gegenwart als Kontrast vorhielten und das aufzeigen sollte, wie die Krise der Weimarer Republik zu überwinden war. Über das Bild dieser natürlichen Ordnung herrschte bei ihnen jedoch stark divergierende Ansichten, was wiederum die Desintegration der Disziplin beförderte. Dass Spann und Gottl-Ottlilienfeld die Neuartigkeit ihres Denkens auch noch durch eine charakteristische Sprachgestaltung unterstreichen zu müssen glaubten, führte zur Entstehung zusätzlicher Kommuni­ kationsblockaden. Es gab jedoch prinzipiell durchaus erfolgversprechende Versuche, das Fach aus dieser misslichen Situation herauszuführen. Diese verbinden sich besonders mit einer jüngeren Generation von Theoretikern, die seit Mitte der 1920er Jahre im Fach verstärkte Aufmerksamkeit gewann und die vor allem die damals in Mode kommende Konjunkturtheorie zu ihrem Arbeitsfeld erklärte. Auch wenn hier prinzipiell eine Einigkeit über die Legitimität nationalökonomischer Theorie­bildung bestand, so war jedoch auch dieses Gebiet keineswegs homogen. Vielmehr existierte eine kaum übersehbare Vielzahl verschiedener Konjunkturtheorien, die den Zyklus vor allem aus einem Faktor ableiteten. Nach der hier vorgetragenen Interpretation war dies vor allem dem seit Mitte der 1920er Jahre formulierten Anspruch geschuldet, eine geschlossene Theorie des Konjunkturzyklus zu entwickeln, die letzteren als Form der kapitalistischen Normalent311 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525360255 — ISBN E-Book: 9783647360256

wicklung interpretierte. In diesem Rahmen war in erster Linie der Gegensatz von Statik und Dynamik bedeutsam. Während es der neoklassischen Statik in Person von Mises und Hayek vor allem darum ging, das statische Theoriegebäude zu retten, bedeutete die Schaffung einer dynamischen Konjunkturtheorie wiederum den Versuch, einen allgemeinen Rahmen für die ökonomischen Theo­riebildung zu schaffen, zielte also letztlich wiederum auf eine Neubegründung. Für die ökonomische Statik wie für die Dynamik stellte dann jedoch die Weltwirtschaftskrise eine dramatische Herausforderung dar. Je gravierender sich diese Krise gestaltete, umso mehr wurde das Scheitern der Konjunktur­ theorie konstatiert und das Projekt einer geschlossenen Theorie des Konjunkturzyklus verlor an Attraktivität. Die Debatte über Kartelle und Monopole schlussendlich war davon geprägt, das Problem der Wettbewerbseffekte von Kartellen mit der »soziologischen« Fragestellung zu vermischen, in welcher Weise das gehäufte Auftreten solcher Organisationsformen auf einen Gestaltwandel der Wirtschaft insgesamt hinwies. An dieser Debatte lässt sich insbesondere zeigen, dass sich mit der Weltwirtschaftskrise der ordnungspolitische Charakter und damit der sozialphilosophische Gehalt der Debatten verstärkte. Immer wieder ging es um die Frage, welche Wirtschaftsordnung am Ende der Krise stehen würde; letztere wurde somit als eine Entscheidungssituation aufgefasst. Dieser Aspekt lenkte die Diskussion jedoch nicht nur von der pragmatischen Auseinandersetzung mit den Problemen der Weltwirtschaftskrise ab, sondern durch den verstärkten »weltanschaulichen« Charakter der Debatten rückte auch die »Einigung« der Disziplin in weite Ferne. Insgesamt befand sich die Nationalökonomie der Weimarer Republik nach dem Krieg in einer Situation der existentiellen Verunsicherung und Orien­ tierungslosigkeit. Zusammen mit der gesellschaftlichen Anspruchshaltung an das Fach resultierte daraus ein permanenter Problemdruck, die Neufundierung der Disziplin zu leisten, um wieder festen Boden unter den Füßen zu gewinnen. Insofern bestand bezüglich der Art der Krise durchaus ein Konsens, dass sie nämlich durch die Vielzahl einander bekämpfender Richtungen begründet sei, deren Folgen Unsicherheit der Erkenntnis, Ratlosigkeit gegenüber den Problemen der Gegenwart und fehlender Bezug zur Praxis waren. Zugleich konnte eine Einigung über die Therapie nicht erzielt werden. Sie hätte eben in der »neuen Synthese« bestanden. Nur konnte der Wahrheitsanspruch jeder Totalitätskonstruk­tion von der Warte einer anderen aus kritisiert werden. Insofern wurden die Versuche zur Überwindung der Krise selbst zum Krisenfaktor, weil sie die Strukturen eines Denkens reproduzierten, in deren Rahmen eine Lösung gerade nicht erzielt werden konnte. Die Konjunkturtheorie bot nicht zuletzt aus dem Grund einen Ausweg, weil ihre Vertreter den im Fach üblichen sozialphilosophischen Begründungsanspruch unterliefen, in dem sie die Nationalökonomie als eine »technische« Disziplin auffassten. Jedoch blieb auch ihr letztlich nur ein Zeitfenster von vier Jahren, bevor die Weltwirtschaftskrise sie vor Herausforderungen stellte, an denen sie letztlich scheitern musste. 312 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525360255 — ISBN E-Book: 9783647360256

Generell ist darauf hinzuweisen, wie wenig Zeit der Nationalökonomie eigentlich zur Verfügung stand, um ihre Schwierigkeiten in den Griff zu bekommen: Gerade einmal etwas mehr als 14 Jahre, in der eine Wirtschaftskrise die nächste ablöste, die Deutschland in so gravierender Ausprägung noch nicht gekannt hatte. Es gab politische Unruhen und Umsturzversuche, die Folgen der Versailler Vertrages, die Ruhrgebietsbesetzung usw. Das gilt es im Blick zu halten, bevor zu schnell ein hartes Urteil über die Nationalökonomie der Weimarer ­Republik gefällt wird. Abschließend lässt sich der Bezug zwischen der Krise des Faches und dem häufig geringen theoretischen Niveau genauer bestimmen, der zu Beginn dieser Arbeit problematisiert wurde. Die Krise des Faches schuf eine ständig präsente Begründungsproblematik nationalökonomischer Erkenntnis, die nicht nur zur Folge hatte, dass nachgewiesen werden musste, von welchen epistemologischen Voraussetzungen ausgegangen wurde, sondern der Anschluss an bereits vorhandene Forschung wurde extrem erschwert. Wilhelm Gehlhoff merkte diesen Punkt in einer der knappsten und zugleich treffendsten Auseinandersetzungen mit der Krise des Faches während der 1920er Jahre an, indem er darauf hinwies, dass die Krise eine Situation schuf, in der immer wieder von Neuem angesetzt werden musste.7 Das erklärt wohl auch den von Andreas Predöhl angemerkten Kontrast zwischen der Kompliziertheit der methodologischen Forschung und der relativen Einfachheit der Theorie: es musste sehr viel intellektuelle Anstrengung auf die methodologische Begründung des eigenen Ansatzes verwandt werden, wobei die aus den schließlich gefundenen Obersätzen abgeleitete Theorie dann häufig relativ schlicht blieb. Theorien gewinnen ihre Komplexität durch ihre Anschlussfähigkeit, dass ihre Elemente sich ergänzen, dass Bausteine hinzugefügt und weggenommen werden können, ohne den Gesamtbau zu gefährden. Das alles war in der Nationalökonomie der Weimarer Republik nicht der Fall. Aufs Ganze betrachtet hatte das massive Konsequenzen für das Niveau der theoretischen Forschung. Joseph Schumpeter hatte zu den sozialphilosophischen Systemen gemeint, diese müssten sich »ausleben«. Damit war seiner Meinung nach die Aufmerksamkeit, die Spann, Gottl-Ottlilienfeld und anderen zuteil wurde, durch zeit­ bedingten Problemlagen bedingt, mit deren Verschwinden auch der Stellenwert dieser Wissenschaftler im Fach sinken musste. Zugleich lässt sich Schumpeter dabei aber auch so interpretieren, dass es nicht nur um einzelne Schulen oder Systeme ging, sondern dass er damit übergreifend eine Problemstellung und ein Selbstverständnis der Nationalökonomie ansprach, dem er ein sukzessives Verschwinden prophezeite: nämlich den Anspruch, das Wesen der Wirtschaft letztgültig ergründen und damit zugleich eine Epochenkrise überwinden zu wollen. »Ausleben« taten sich die organizistischen und sozialphilosophischen Richtungen in der Volkswirtschaftslehre tatsächlich, es sollte aber noch dauern. Viele organizistische Richtungen, insbesondere die von Gottl-Ottlilienfeld vertretene, 7 Gehlhoff, Zukunft, S. 264 ff.

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konnten sich während des »Dritten Reiches« behaupten.8 Es gab auch in dieser Zeit eine spannungsreiche Koexistenz zwischen der ökonomischen Theorie auf der einen, Diskussionen über die nationalsozialistische Wirtschaftsordnung und sozialphilosophischen Entwürfen auf der anderen Seite. Der Nationalsozialismus beendete die Krise der Nationalökonomie zunächst also nur insoweit, wie er den Spielraum des Sag- und Schreibbaren beschnitt und damit schon die Rede von der Krise als Beschreibung des Zustands der gegenwärtigen Volkswirtschaftslehre massiv erschwerte. Es handelte sich um eine autoritäre Durchsetzung vor allem in den ersten zwei Jahren nach der »Machtergreifung«, in denen der Disziplin klar gemacht wurde, was gesagt werden durfte und was nicht.9 Vor allem brachte die »Machtergreifung« durch die Emigration und die geringe Wertschätzung der Nationalökonomie seitens der Nationalsozialisten, wozu das propagierte »Primat der Politik« beigetragen haben dürfte, eine weitere Schwächung des Faches mit sich. Trotz aller soziologischer »Einbettung« blieb die Nationalökonomie letztlich die Lehre von der Eigenlogik der Wirtschaft und gerade diese Eigenlogik versuchten die Nationalsozialisten nach 1933 machtstaatlich zu bezwingen – in den ersten Jahren der Diktatur scheinbar mit großem Erfolg.10 Auch das fortgesetzte Absinken der Studentenzahlen während der 1930er Jahre legt die Interpretation nahe, dass die kurze Konjunktur der Nationalökonomie nach dem Ersten Weltkrieg nun endgültig vorbei war und sie wieder ein kleines Fach wurde. Die Krise der Nationalökonomie blieb jedoch auch in den 1930er Jahren weiter präsent. Das lässt sich besonders anhand des Problems einer genuin nationalsozialistischen Wirtschaftslehre demonstrieren. So sah beispielsweise Erwin Wiskemann, der sich wie wenige andere Ökonomen rasch und nachhaltig zum neuen Regime bekannte, im Nationalsozialismus die Voraussetzung dafür, um der Krise des Faches Herr zu werden. Für ihn war er der weltanschauliche Boden, auf dem eine Überwindung der Krise möglich erschien.11 Aber auch wenn die Nationalsozialisten die Forschungsgegenstände und Semantiken zu beeinflussen trachteten, blieb der Charakter einer genuin nationalsozialistischen Volkswirtschaftslehre umstritten. Formeln wie »Gemeinnutz geht vor Eigen­ nutz« wurden zwar stark propagiert, eine selbständige, »neue« Wirtschaftslehre war damit aber noch nicht begründet. Das war möglicherweise auch einer der Gründe dafür, warum sich die ökonomische Theorie während des NS behaupten konnte. Schließlich tätigte sie keine explizite politische Aussage, sondern unterlief diese als »Technik« vielmehr. Nach Hauke Janssens Meinung konnte sich gewissermaßen im Schat 8 Janssen, Nationalökonomie, S. 234 ff. 9 Als Beispiel: Schlüter-Ahrens, S. 104 ff. 10 Zu den Auswirken vgl. Schreiben Franz Eulenburg an Ferdinand Tönnies (14.11.1934). LB Kiel. Nl Tönnies, Cb 54.56: 263. 11 Wiskemann, Wirtschaftswissenschaft, S. 69 f.

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ten der offiziellen Ideologie eine »neue« Wirtschaftslehre entwickeln, wobei dies a­ llein schon eine Semantik war, die sich an den Krisendiskurs der 1920er Jahre anschloss. Es gibt diverse Hinweise darauf, dass die während der Weimarer Republik typischen Problemlagen des Faches auch im Nationalsozialismus weiter existierten. Etwa wenn Preiser sich massiv über die im Fach übliche, unfruchtbare methodologische Kritik beschwerte12 oder Eucken im methodologischen Einleitungskapitel seiner Grundlagen der Nationalökonomie sich ex­plizit mit den Krisensymptomen auseinander setzte, die in dieser Arbeit beschrieben wurden.13 Auch wenn sich die Krise während des Nationalsozialismus nicht mehr voll entfalten konnte, kam es gleichzeitig nicht zur Durchsetzung eines dominanten Paradigmas in der Disziplin, bzw. soweit dies geschah, konnte daran nach 1945 nicht mehr angeschlossen werden. Aus diesem Grund befand sich das Fach in Deutschland Anfang der 1950er Jahre im Grunde immer noch in der Situation, wie nach dem Ersten Weltkrieg: dass es nämlich anscheinend viele, ganz unterschiedliche Problemstellungen, Theorien und Methoden gab, die unter der Bezeichnung Nationalökonomie firmierten. Hier war es nun wahrhaft bemerkenswert, wie das Fach seine Situation bewältigte. Es »inszenierte« gewissermaßen seine eigene Rückständigkeit, um den Anschluss an den angelsächsischen Theorieapparat begründbar zu gestalten, der sich in den 1960er Jahren schließlich in Form der neoklassischen Preistheorie auf ganzer Linie durchsetzte. Dieser wies mittlerweile einen deutlichen und klar sichtbaren Vorsprung gegenüber dem deutschen Stand der Theorieentwicklung auf, der im Rahmen der deutschen Fachtradition auch nicht mehr einholbar schien. Letztendlich wurde erst jetzt die Krise beendet, die sich in der Rückschau als ein langer, schmerzlicher Übergangsprozess darstellt, in der sich nicht nur die Methoden, die Gegenstände und die Inhalte des Faches gravierend veränderten, sondern auch dessen Selbst­ verständnis und Selbstbeschreibung. Die deutsche Fachtradition wurde dabei – wie Jan-Otmar Hesse schreibt – konsequent entsorgt.14 Der Volkswirtschaftslehre gelang es in den 1950er und 1960er Jahren, klare »Außengrenzen« des Faches zu definieren und somit zugleich den Prozess der Ausdifferenzierung von Nationalökonomie und Soziologie (in deren Verlauf die Selbstbeschreibung des Faches als Geistes- oder Sozialwissenschaft ebenfalls verschwand)  semantisch nachzuvollziehen. Das funktionierte indes nur, weil sich parallel dazu ein neues Paradigma im Fach, nämlich der keynesianistische bzw. (in Konkurrenz dazu stehende und doch mit ähnlichen Methoden operierende) neoklassische Theorieansatz etablierte. Ab da brauchte über Methodenfragen nicht mehr viel diskutiert zu werden und ihre Behandlung wurde konsequent aus der Disziplin herausgedrängt. Sie fand zunächst noch als externe Kritik an der theorieorientierten Volkswirtschaftslehre statt und wurde schließ12 Preiser, Rezension, S. 71* 13 Ein exzellentes Beispiel dafür ist Nötel, S. 491, 496. 14 Hesse, Wirtschaft, S. 389 ff.

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lich zu einem allein noch in den Sozialwissenschaften und an den »­häretischen« Rändern der Volkswirtschaftslehre diskutierten Problem. Bezeichnenderweise geschah dieser Wandel jedoch nicht auf die Weise, dass sich eine Position im Rahmen eines rationalen Diskurses als die objektiv wahrste Theorie durchgesetzt hätte.15 Vielmehr wurde die Krise beendet, indem die Disziplin ihren Wandel als »modern« inszenierte und Methodenfragen beschwiegen bzw. genervt beiseite geschoben wurden. Das Ende der Krise kam also nicht unbedingt in dem Rahmen, in dem sich die Nationalökonomie in den 1920er Jahren deren Ende selbst hätte vorstellen können. Abschließend soll noch auf eine Problemstellung zurückgekommen ­werden, die geeignet erscheint, die Frage nach den Ursachen der Krise in einen etwas weiter gezogenen, disziplinhistorischen Kontext einzubetten. Hesse bezeichnet es als die grundlegende Paradoxie der Wirtschaftswissenschaft, Kontinuität und Stabilität durch einen Kern von fundamentalen Problemen aufweisen und gleichzeitig wissenschaftlichen Fortschritt generieren zu müssen.16 Die Volkswirtschaftslehre benötigt also offensichtlich einen paradigmatischen Kern, einen dominanten Theoriekomplex. Nimmt man diese Aussage einmal so hin, lässt sich die Krise der Nationalökonomie zumindest klar definieren: dass es ihr gerade nicht gelang, ein stabiles theoretisches Gerüst zu schaffen, das sie von gesellschaftlichen Wandlungsprozessen unabhängig gemacht hätte. Die Vielzahl an Theorien, Schulen und Richtungen schien vielmehr die Irritierbarkeit der Nationalökonomie durch historische Veränderungen massiv zu erhöhen, was sich besonders in der weitverbreiteten Beobachtung von Forschungspositionen als »ideologisch« festmachen lässt. Weshalb aber muss die Volkswirtschaftslehre den von Hesse skizzierten Anforderungen genügen? Warum, anders gefragt, empfand sie in den 1920er Jahren das Fehlen eines stabilen paradigmatischen Kerns als so problematisch, dass sie darauf geradezu panisch reagierte? Die Vermutung liegt nahe, dass das Bedürfnis der Nationalökonomie nach Einheit in den 1920er Jahren ganz wesentlich damit zu tun hatte, dass die Nationalökonomie keine »klientelfreie« Wissenschaft war. Vielmehr wurde ihr eine gesellschaftliche Aufgabe zugeschrie­ben, die sie für sich selbst äußerst ernst nahm, nämlich vor dem Hintergrund einer als zerrissenen und krisenhaften empfundenen Gegenwart Orientierung zu ermöglichen. Oft genug ging es ihr dabei nicht nur darum, die materiellen, sondern auch die geistigen Notlagen der Zeit zu heilen, und sie litt darunter, dass sie dieser gesellschaftlichen Rolle nicht gerecht wurde. Insofern treffen die Pauschalvorwürfe einer angeblichen Praxisferne die Nationalökonomie der Weimarer Republik eigentlich nicht. Ganz im Gegenteil: sie 15 So schrieb Erich Preiser beispielsweise 1953 zum in den 1920er Jahren so virulenten Streit um den Kapitalbegriff: »Der alte Streit um den Kapitalbegriff ist eingeschlafen, nicht, weil er entschieden wäre, sondern aus Mangel an Interesse. Man streitet nicht mehr um Begriffe, und es wäre sinnlos, das Kriegsbeil wieder auszugraben.« Preiser, Kapitalbegriff, S. 242. 16 Hesse, Wirtschaft, S. 14.

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wollte eine große, praktische Wissenschaft sein, ein Arzt der Gesellschaft gewissermaßen.17 Sie wollte Handlungsorientierung in einer schwierigen Zeit ermöglichen. Wäre sie so weltabgewandt und praxisfern gewesen, wie oftmals behauptet, hätte sie niemals ihre Krise als so dramatisch empfunden und hätte sich dann vor allem Zeit geben können, um in Ruhe ihre Probleme zu lösen. Angesichts der krisenhaften Rahmenbedingungen war aber genau das nicht möglich und nicht zuletzt aus diesem Grund war Einheit für die Nationalökonomie so wichtig, weil dies Aussagesicherheit in einer Zeit ermöglicht hätte, die genau dies von ihr erwartete. Der in diesem Sinne verstandenen Praxisorientierung der Nationalökono­mie muss es nicht widersprechen, wenn es in der Disziplin einen Konflikt zwischen zwei verschiedenen Selbstbildern des Faches gab18, ob die Nationalökonomie nach Erkenntnis um der Erkenntnis willen streben oder ob sie eine »Kunstlehre« sein sollte. Lehnten viele Gelehrte das letztgenannte Selbstverständnis ab, hatte das jedoch weniger mit einer praxisfernen Einstellung zu tun, als dass sie befürchteten, eine Beschränkung der Problemstellungen des Faches auf prak­ tische Tagesfragen würde zugleich ein weniger an Erkenntnis bedeuten. Sombart oder Salin wollten keine praxisferne Wissenschaft, sondern eine Ökonomik, die auf Wesenserkenntnis zielte; eine Frage, die sich eine Kunstlehre gar nicht stellte. Wesenserkenntnis sollte aber die Voraussetzung dafür sein, dass die Nationalökonomie ihren Anspruch, praktische Wissenschaft zu sein, authentisch einlösen konnte. Hier kommt man den langfristigen Erfolgsbedingungen der ökonomischen Theorie näher. In der Krise der Nationalökonomie zeigte sich, dass die Ver­ suche, eine Wesenserkenntnis der Wirtschaft zu leisten, zunehmend in Aporien hineinführten. Eine Einigung zwischen verschiedenen Ansätzen konnte nicht erzielt werden und das Fach verstrickte sich in methodologische Grundsatzdebatten, bei denen es immer klarer wurde, dass diese die Probleme eher verschärften, als sie einer Lösung näher zu bringen. Die ökonomische Theorie, wie sie auf dem Gebiet der Konjunkturtheorie wiederum »neu« begründet wurde, war einerseits in der Lage, auf klare Fragen klare Antworten zu geben, ohne gleich die Veränderung der ordnungspolitischen Rahmenbedingungen zu fordern. Weiter hatte sie den unschätzbaren Vorteil, den philosophischen Begründungsanspruch nationalökonomischer Erkenntnis zu unterlaufen. Die Krisenlage des Faches bot also den Hintergrund dafür, dass die jüngeren Theoretiker den Charakter der Nationalökonomie als einer »technischen« Disziplin emphatisch betonen konnten. Damit musste jedoch langfristig eine Verengung der Problemstellungen einhergehen, was damals noch viele Wissenschaftler als unbefriedigend empfanden. Insofern lässt sich die These aufstellen, dass die ökonomische Theorie im 20. Jahrhundert nicht allein wegen ihrer Problemlösungskompetenz so erfolg17 Wilbrandt, Nationalökonom. 18 Schumpeter, Edgeworth, S. 192.

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reich war, auf die besonders der Staat, indem er vor allem seit dem Ersten Weltkrieg als bestimmender Akteur auf die wirtschaftspolitische Bühne trat, immer mehr Wert legte. Sie bot zugleich eine Lösung für eine disziplininterne Problemlage, die sich in der Weimarer Republik in dramatischer Art und Weise offenbart hatte. Diese bestand darin, dass sich die Anforderung, Expertise für Politik und Wirtschaft zu liefern, nicht ohne weiteres mit dem Anspruch zusammenbringen ließ, eine umfassende Theorie der gesellschaftlich-wirtschaftlichen Verhältnisse zu entwickeln. Von der Nationalökonomie wurde Aussagesicherheit gefordert, die sie aber schon deswegen nicht bieten konnte, weil eine einheitliche Gesellschaftsbeschreibung unter den Bedingungen einer pluralistischen Moderne auch im disziplinären Kontext nicht durchsetzbar war. Dadurch wiederum hatte eine ökonomische Theorie langfristig besondere Erfolgschancen, die diese Schwierigkeiten vermied, indem sie die Wirtschaft als ein autonomes Funktionssystem beschrieb und die Frage ihrer gesellschaftlich-histo­ rischen Bedingtheit nach und nach aus den Problemstellungen eliminierte. Für einen Außenstehenden hat die Volkswirtschaftslehre heute das erreicht, was die Nationalökonomie der Weimarer Republik erreichen wollte: nämlich die Herstellung von Einheit in der Wissenschaft. In dieser Hinsicht war ihre Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg also extrem erfolgreich. Zugleich sollte vielleicht die Mahnung beherzigt werden, die Luhmann eher nebenbei geäußert hat, dass nämlich paradigmatische Einheit keineswegs ein Zeichen für die »Reife« einer Wissenschaft sein muss.19 Mit übergroßer Einheitlichkeit verbinden sich sogar spezifische Probleme: es können nur noch bereits existierende Theoriekomplexe immer weiter ausgebaut werden. Die Variabilität der wissenschaftlichen Kommunikation sinkt und abweichende Fragestellungen können nicht mehr integriert werden. Forderungen nach Strukturänderungen werden argwöhnisch beäugt, denn zu viel auf einmal müsste geändert werden. So sehr also ein Übermaß an Methodendebatten auf die Krise einer Disziplin hin­deutet, so wenig muss deren fast völlige Abwesenheit unbedingt ein Zeichen dafür sein, dass sie sich in einem besonders guten Zustand befindet.

19 Luhmann, Wissenschaft, S. 412 f.

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Abkürzungen AfRWPh Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie AfSS Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik BA Bundesarchiv DDP Deutsche Demokratische Partei FA Finanzarchiv GBAG Gelsenkirchener Bergbau AG GG Geschichte und Gesellschaft GHH Gutehoffnungshütte AG GStA Geheimes Staatsarchiv, Preußischer Kulturbesitz HdSW Handwörterbuch der Staatswissenschaften HH Handelshochschule HZ Historische Zeitschrift IG Interessensgemeinschaft LB Landesbibliothek JbNS Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik MEW Marx/Engels Gesammelte Werke MWG Max Weber Gesamtausgabe NPL Neue Politische Literatur OSG Othmar Spann Gesamtausgabe RDI Reichsverband der Deutschen Industrie RWKS Rheinisch-Westfälisches Kohlensyndikat RWM Reichswirtschaftsministerium RWWA Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv SJ Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft UA Universitätsarchiv VfS Verein für Sozialpolitik VfZ Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte VSWG Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte WA Weltwirtschaftliches Archiv ZfGS Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft ZfS Zeitschrift für Sozialwissenschaft

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Universitätsarchiv Köln

Personalakte Fritz Karl Mann Akten der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät

Universitätsarchiv Münster

Personalakte Johann Plenge Akten der Staatswissenschaftlichen Fakultät

Universitätsarchiv Tübingen Nachlass Hero Moeller Nachlass Woldemar Koch

Universitätsbibliothek Basel, Handschriftenabteilung Nachlass Edgar Salin Nachlass Arthur Spiethoff

Niedersächsische Landesbibliothek Oldenburg Nachlass Hermann Schumacher

Universitätsbibliothek Hamburg, Handschriftenabteilung Nachlass Kurt Singer

Schleswig-Holsteinsche Landesbibliothek Kiel Nachlass Ferdinand Tönnies

Universitätsbibliothek Bielefeld Nachlass Johann Plenge

Geheimes Staatsarchiv, Preußischer Kulturbesitz, Berlin Nachlass Werner Sombart Akten des Preußischen Kultusministeriums

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