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German Pages 278 [282] Year 2022
Die Politik in der Kultur und den Medien der Weimarer Republik Herausgegeben von Andreas Braune und Tim Niendorf
Weimarer Schriften zur Republik
Franz Steiner Verlag
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Weimarer Schriften zur Republik Herausgegeben von Michael Dreyer und Andreas Braune Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. Ursula Büttner, Prof. Dr. Alexander Gallus, Prof. Dr. Kathrin Groh, Prof. Dr. Christoph Gusy, Prof. Dr. Marcus Llanque, Prof. Dr. Walter Mühlhausen, Prof. Dr. Wolfram Pyta, Dr. Nadine Rossol, Prof. Dr. Martin Sabrow Band 20
Die Politik in der Kultur und den Medien der Weimarer Republik Herausgegeben von Andreas Braune und Tim Niendorf
Franz Steiner Verlag
Gedruckt aus Mitteln des Thüringer Ministeriums für Wirtschaft, Wissenschaft und Digitale Gesellschaft und in Kooperation mit Weimarer Republik e.V.
Umschlagabbildung: Die größte Kamera der Welt! Eine Riesenkamera, die auf einer deutschen Fachausstellung gezeigt wurde, Dezember 1931 © Bundesarchiv, Bild 102-12799, Fotograf: Georg Pahl. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2022 Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-13268-8 (Print) ISBN 978-3-515-13271-8 (E-Book)
INHALT Andreas Braune / Tim Niendorf Einleitung: Zu den Wechselbeziehungen von Politik, Kultur und Medien in der Weimarer Republik.................................................................................... VII ZEITUNGEN UND ZEITSCHRIFTEN Frank Jacob Die Deutsche Revolution im Spiegel eines ihrer „Märtyrer“: Das Kurt-Eisner-Bild in der Weimarer Republik .................................................... 3 Lion Reich Die FAUD(S) im Ruhraufstand. Die Rekonstruktion einer medialen Gewaltdebatte ............................................... 21 Timo Leimbach Parlament und Öffentlichkeit. Politische Berichterstattung zwischen Parteilichkeit, Substanzverlust und antiparlamentarischen Diskursen .. 41 Oliver Bahl Verbürgerlichte Arbeiterzeitungen? Die Tagesblätter der SPD und KPD und die Frage der Verbürgerlichung ............ 61 BILD, FOTOGRAFIE UND FILM Lilja-Ruben Vowe Gedruckte Bilder als politische Werkzeuge. Der Iconic Turn in den Tageszeitungen der Weimarer Republik zwischen 1924–32/33 ................. 81 Patrick Rössler „Den Film haben wir versäumt“. Linke Kinokultur und ihre Begleitpublizistik im Iconic Turn der Weimarer Republik ............................................................... 103 Janina Amrehn-Rupp Visualisierte Politik? Frauen und das politische Plakat in der Weimarer Republik............................... 129
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Inhalt
Valentin J. Hemberger Finsteres Gestern, leuchtendes Morgen? Die Darstellung der Geschichte (Sowjet-)Russlands in Illustrierten der Weimarer Republik ....... 149 LITERATUR UND PUBLIZISTIK Riccardo Altieri Rosi Wolfstein, Paul Frölich und die Weimarer Republik .................................. 175 Andreas Dorrer Im Spannungsfeld von Vergangenheit und Gegenwart: Heimkehrerfiguren in der Dramatik der Weimarer Republik .............................. 191 Lasse Wichert Erfahrung und Erwartung in Zukunftsromanen der Weimarer Republik ........... 211 Roland von Kintzel „Der Fall Rumpelstilzchen“: Adolf Steins feuilletonistische Avantgarde des Nationalsozialismus.................. 229 ARCHITEKTUR Marcel Bois Soziale Architektur und sozialistische Politik. Margarete Schütte-Lihotzky als Akteurin des Neuen Frankfurt .......................... 247 Autorinnen und Autoren ...................................................................................... 263
EINLEITUNG: ZU DEN WECHSELBEZIEHUNGEN VON POLITIK, KULTUR UND MEDIEN IN DER WEIMARER REPUBLIK Andreas Braune / Tim Niendorf Über die Kultur der Weimarer Republik zu schreiben, ohne dabei ins Klischee zu verfallen, ist kein leichtes Unterfangen – noch dazu für Politikwissenschaftler, wie es die Herausgeber dieses Bandes sind. Man ist allzu schnell bei den bekannten Bildern und Metaphern der Avantgarde, der Hochzeit der kulturellen Moderne, der Vielfalt und Zerrissenheit der Kulturlandschaft, bei neuen Medien, neuen Stilen, neuen Techniken, beim Durchbruch der modernen Massenkultur in Unterhaltung, Sport und Presse oder bei all den klingenden Namen aus Literatur, Kunst, Film, Musik, Architektur, Theater, Presse und Publizistik, die auch heute noch für ‚Weimar‘ stehen und denen etwas Heroisches anhaftet, weil all das, was sie angestoßen haben oder anstoßen wollten, 1933 jäh endete. Gerade die Kultur von Weimar, dieses große und so dynamische ‚Experimentierfeld‘ oder ‚Laboratorium der Moderne‘, steht auch in der heutigen Erinnerungskultur für ein anderes und ein besseres Deutschland, das von zu kurzer Dauer war und vom dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte abgelöst wurde. Und sie begründet in diesem Sinne auch den internationalen Ruhm ‚Weimars‘, weil eine so große Zahl an Protagonistinnen und Protagonisten der Weimarer Kultur ins Exil ging und ‚Weimar‘ so in die Welt trug. Nirgends ist dies so anschaulich wie im zur Marke geronnenen Bauhaus und seiner internationalen Rezeption und touristischen Anziehungskraft bis heute. Dieses Bild der Weimarer Kultur umweht die Sexyness des Seiner-Zeit-Vorausseins, des Unschuldig-in-den-Abgrund-gestürzt-Werdens und des Für-immer-Verlorenseins, weil es auch im spießigen Nachkriegsdeutschland der Konrad Adenauers und Walter Ulbrichts nicht wieder erblühen konnte. Und es enthält ein unterschwelliges und sehnsüchtiges „Wo könnten wir heute stehen, wenn es den Backlash ab 1933 bis in die 1960er Jahre (oder länger) nicht gegeben hätte?“. Dieses popularisierte, aber auch in vielen Teilen der Kulturwissenschaften lang gepflegte Bild der Kultur der Weimarer Republik ist schon deshalb ein Klischee, weil es die Vertreterinnen und Vertreter der ‚Reaktion‘ oftmals nur deshalb braucht, um seine Lichtgestalten noch heller leuchten zu lassen. Brüche und Aufbrüche sind zweifelsohne das Wegweisende und Interessante, aber sie sind nicht zwingend das Repräsentative. Wo Avantgarde ist, muss auch Beharrung, Tradition und Kontinuität sein – und in der Regel überwiegen sie. Das republikanisch verfasste Deutsche Reich war zudem wesentlich größer als seine Hauptstadt Berlin – die Weimarer Kultur kannte viele Zentren und Hotspots. Auch bestand Deutschland nicht nur aus
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wachsenden Großstädten, sondern war es zu einem erheblichen Teil noch kleinstädtisch und agrarisch geprägt. Konfessionelle und Milieugrenzen blieben stark, und mit ihnen auch die Einbindung der den Milieus Angehörenden in die entsprechenden kulturellen Formationen und Geschmäcker. All das prägte die Kultur und Medien in der Weimarer Republik jenseits des Klischees, und findet auch zunehmend Berücksichtigung in der Auseinandersetzung mit ihnen. Ein weiteres gern bedientes Bild, das zuletzt durch die Fernsehserie Babylon Berlin ein Revival erlebt hat, ist das vom ‚Tanz auf dem Vulkan‘. Hier beginnt es auch, politikgeschichtlich und politikwissenschaftlich interessanter zu werden. Denn der brodelnde Unterton, der in dem Bild mitschwingt, und das mit dem Tanz überbrückte Warten auf die Eruption sind klare Referenzen auf die Politik der Weimarer Jahre bzw. auf die sogenannten ‚Weimarer Verhältnisse‘. Denn dieses Bild beinhaltet auch das vermutete Verhältnis von Politik und Kultur: Abends Varieté, tagsüber Straßenschlacht. Und bei dem Vulkan weiß man immer, dass er ausbrechen wird, nur nicht so genau wann (die Nachgeborenen freilich wissen es ganz genau). Im Sinne dieses Fatalismus steht das Bild aber auch für die Trennung von Politik und Kultur: Was sollte man daran schon groß ändern: an einem Vulkan, der rumort und irgendwann alles zerstört? Was uns bleibt, ist eine schöne Zeit zu haben und das Beste daraus zu machen, bis es soweit ist. Kunst und Kultur bleiben in diesem Sinne unpolitisch, oder über der Politik schwebend. Das betrifft sogar manche Teile der Kunst und Kultur, die sich als ausdrücklich politisch begriffen, weil sie sich in den Dienst einer bestimmten Weltanschauung stellten, an einem bestimmten Menschenbild oder einer konkreten Utopie arbeiteten – aber mit den Niederungen der ‚Politik‘ der Republik, mit parlamentarischen Verfahren, Wahlen, Parteien, Interessenvertretung und politischem Personal nichts zu tun haben wollten und teilweise verächtlich auf sie hinabschauten. Eine rein gesinnungsethische Kritik an den ‚herrschenden Verhältnissen‘ oder an der Revolution und ihren Ergebnissen, so berechtigt sie im Einzelnen auch sein mochte, blendete allzu oft die realen Spielräume des politisch Machbaren und die vorhandenen Bemühungen um eine Festigung der Demokratie aus. Zugleich bildet die Kultur – und die Presse- und Medienlandschaft ohnehin – ein wesentliches Medium, in dem die politischen Fragen der Zeit verhandelt werden. Das gilt für alle modernen Gesellschaften, aber für die hochgradig politisierte Weimarer Nachkriegs- und Transformationsgesellschaft ganz besonders. Der Weltkrieg und die Revolution, das Verschwinden der Monarchien und die Gründung der Republik, ökonomische Zerrüttung, Anfangsgewalt im Innern und eine als feindselig wahrgenommene Friedensordnung: all dies sorgte für eine gesellschaftliche Sinn- und Orientierungskrise, die nicht nur im politischen Bereich für heftige Kontroversen und Auseinandersetzungen sorgte, sondern auch in Kunst und Kultur, in Presse und Medien ausgetragen wurde und auch diese (weiter) politisierte. Angesichts einer solch umfassenden Politisierung war es für Kunst-, Kultur- und Medienschaffende nahezu unmöglich, ein „Unpolitischer“ (Th. Mann) zu bleiben. Das umso mehr, als dass die Floskel vom angeblichen „unpolitisch“-Sein mehr und mehr zu einer Schutzbehauptung wurde, um gegen die Republik Stellung zu beziehen. Wo die Ausrichtung oder Teilnahme an Verfassungsfeiern oder das Engage-
Einleitung: Politik, Kultur und Medien in der Weimarer Republik
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ment von Beamten in prorepublikanischen Organisationen als angeblich „parteipolitisch“ abgelehnt wurde, um im selben Atemzug dem Kaiser zum Geburtstag zu gratulieren, wurde von der liberalen Demokratie ein Neutralitätsgebot eingefordert, das in einer böswilligen Missdeutung der liberalen Freiheitsrechte geradezu (selbst-)zerstörerisch wirken musste. Dabei waren es die in der Weimarer Reichsverfassung garantierte Presse- und Meinungsfreiheit, gepaart mit der Freiheit von Kunst, Kultur und Wissenschaft, die die Blüte der Weimarer Kultur erst ermöglichte. Mehr noch: sie eröffneten einen Diskursraum, um die aufgeworfenen Deutungskämpfe vor dem Forum der Öffentlichkeit und ohne einseitige herrschaftliche Einschränkungen austragen zu können. Auch wenn dies Grenzüberschreitungen wie Gewaltaufrufe, Verschwörungserzählungen, propagandistische Manipulation oder Feindbildkonstruktionen zur Folge hatte: Für eine demokratische Transformationsgesellschaft sind solche freiheitlichen Diskursräume essentiell, will sie über kurz oder lang zu einem gemeinsamen Verständnis der Vergangenheit und einem gesellschaftlichen Konsens der Gegenwart beitragen. Denn um beigelegt werden zu können, müssen anstehende Deutungskämpfe auch (mit zivilen Mitteln!) ausgetragen werden können. Dass eine solche Beilegung der Deutungskämpfe auf dem Forum der Öffentlichkeit in den wenigen Jahren der Weimarer Republik nicht gelang, ist nicht der freiheitlichen Ordnung anzulasten, sondern jenen Gruppierungen, die an einer solchen Beilegung nicht interessiert waren oder sie gar bekämpften. Neben einer solchen Politisierung der Kultur und Medien spielte auch eine zunehmende Medialisierung der Politik eine wichtige Rolle. Dass die Presselandschaft ganz wesentlich entlang von Milieu- und Parteigrenzen organisiert war, war eine bedeutende Kontinuitätslinie vom Kaiserreich in die Weimarer Republik. Aufgrund der nach wie vor zentralen Funktion der Printmedien änderte sich daran nicht viel, auch wenn im Zuge ihrer Modernisierung und wachsenden Ausrichtung auf ein Massenpublikum gewisse Nivellierungseffekte zu beobachten sind. Eine wachsende Ausrichtung an Sport, Unterhaltung, Freizeit und Konsum, die zunehmende Bedeutung von Bild- und Fotojournalismus sowie von Illustrierten und Magazinen relativierten die segmentierende Wirkung der Partei- und Milieupresse, ohne sie aber hinter sich zu lassen. Hinzu kam die weitere Ausdehnung des Kinos (und damit zusammenhängend: der Wochenschauen) und der Aufbau des Rundfunks als genuin neues Medium (unter staatlicher Kontrolle). Beide richteten sich stärker an ein allgemeines denn an ein parteipolitisch oder in einem spezifischen Milieu gebundenes Publikum. Wichtig war in diesem Zusammenhang auch, dass politische Akteure wie Parteien oder einzelne Politikerinnen und Politiker mit dem Übergang zur Massendemokratie und zum Typus des modernen Berufspolitikers ihre Medienund Pressearbeit weiter spezialisierten und professionalisierten. Weil die großen Blätter Parteisprachrohre blieben und da es außerhalb gewisser liberaler Medienhäuser (und auch dort nur eingeschränkt) und intellektueller Blätter wie der ‚Weltbühne‘ kaum ein Verständnis der Presse als neutraler ‚vierter‘ demokratischer Gewalt gab, trug dies aber auch eher zur Verstetigung der weltanschaulichen Segmentierung bei.
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Schließlich ist noch eine Inanspruchnahme und Förderung der Kultur durch die Politik bzw. durch den Staat zu nennen. Artikel 142 der Weimarer Reichsverfassung garantierte nicht nur Kultur- und Wissenschaftsfreiheit, sondern stellte auch eine aktive Kulturpolitik in Aussicht: „Die Kunst, die Wissenschaft und ihre Lehre sind frei. Der Staat gewährt ihnen Schutz und nimmt an ihrer Pflege teil.“ Von dieser Möglichkeit und diesem Verfassungsauftrag machten das Reich und die Länder, bei denen die Kulturpolitik im Wesentlichen lag, auch Gebrauch, etwa über staatliche Akademien der Kunst und Wissenschaft, Hochschulpolitik, auswärtige Kulturpolitik oder staatliche Förderprogramme. Die Gründung des Staatlichen Bauhauses ist sicherlich eines der bekanntesten Beispiele, oder etwa auch die Einrichtung der Sektion für Dichtkunst an der Preußischen Akademie der Künste im Jahr 1926. Ein weniger bekanntes Beispiel ist etwa die Initiierung des Programms „Kunst am Bau“ durch das preußische Innenministerium im Jahr 1928, wodurch bei öffentlichen Bauten bildende Künstlerinnen und Künstler gefördert werden sollten. Mit einer solchen aktiven Kultur- und Wissenschaftspolitik versuchten Reich und Länder einerseits, die internationale Isolation Deutschlands und die eingeschränkten außenpolitischen Möglichkeiten zu kompensieren. Immer wieder wurden Kunst und Wissenschaft als die Felder identifiziert, in denen der ‚Wiederaufstieg‘ Deutschlands und die internationale Gleichberechtigung zu erlangen seien. Andererseits – und hierfür steht wiederum Thomas Manns Wandel vom „Unpolitischen“ zum „Republikaner“ Pate – half eine solche Kulturpolitik, Befürchtungen gerade bei bürgerlichen Künstlerinnen und Künstlern hinsichtlich der ‚Kulturlosigkeit‘ der (Massen-)Demokratie zu zerstreuen. Die junge Republik schloss sich damit an das Narrativ der ‚Kulturnation‘ an, ja stellte sie in Aussicht, dass das untergegangene fürstliche Mäzenatentum durch eine demokratische Kulturpolitik abgelöst und ersetzt werden konnte. Die Politik und politische Fragen durchdrangen demnach auf vielerlei Weise und aus vielerlei Gründen die Kultur- und Medienlandschaft der Weimarer Republik. Es ist daher an der Zeit, kulturgeschichtliche Fragestellungen zur Weimarer Republik stärker als bislang mit politikgeschichtlichen Betrachtungen zu verknüpfen – und umgekehrt. Das zumindest war die Zielstellung der vierten gemeinsamen Nachwuchstagung der Forschungsstelle Weimarer Republik an der Friedrich-SchillerUniversität Jena und des Weimarer Republik e.V., die 2019 in Jena stattfand. Ergänzt um einige weitere Abhandlungen wird der größte Teil der Beiträge zur Tagung mit diesem Band vorgelegt. Die allermeisten von ihnen dokumentieren laufende oder kürzlich abgeschlossene Forschungsprojekte. Die Auswahl an Themen, politischen Strömungen sowie kulturellen und medialen Tätigkeitsfeldern ist daher eher eine Stichprobe aus dem nahezu unerschöpflich erscheinenden Schatz möglicher Themen. Der Band versteht sich daher nicht als Kompendium mit Anspruch auf Vollständigkeit, sondern als Wiedergabe der lebendigen interdisziplinären Weimar-Forschung und als Anregung, im eben beschriebenen Sinne politik-, kulturund mediengeschichtliche Fragestellungen zusammen zu denken und zu bearbeiten. Der Band versammelt Beiträge aus den Bereichen Zeitung und Zeitschriften (Abschnitt 1), Bild, Fotografie und Film (Abschnitt 2), Literatur und Publizistik (Abschnitt 3) und Architektur (Abschnitt 4). Einen Schwerpunkt bilden dabei me-
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diale, publizistische und künstlerische Infragestellungen der Revolution und Republikgründung von links und rechts, was vor allem die starke Polarisierung und den Charakter eines regelrechten Kulturkampfes unterstreicht, den die eingangs beschriebenen Deutungskämpfe oftmals annahmen. Sichtbar wird dies in FRANK JACOBS Beitrag anhand der zwiespältigen Rezeption Kurt Eisners in der Weimarer Republik. Während Eisners Person nach seinem gewaltsamen Tod zumindest auch in Teilen der Presse der gemäßigten Linken und des intellektuellen Milieus positiver eingeschätzt wurde, als dies noch während der unmittelbaren Revolutionsphase der Fall war, wurde in der rechten Publizistik ein immer entmenschlichteres Bild Eisners gezeichnet. Selbst in der Spätphase der Republik blieb Eisner demnach eine wichtige Zielscheibe nationalsozialistischer Propaganda und für sie eine zentrale Verkörperung der vermeintlichen ‚judäobolschewistischen Bedrohung‘ Deutschlands. ROLAND VON KINTZEL zeichnet dagegen anhand der publizistischen Tätigkeit des Journalisten und Feuilletonisten Adolf Stein das enge Zusammenwirken von antisemitischer Propaganda, politischem Kommentar und der Entwicklung der Presselandschaft Weimars nach. So hatte sich Stein bereits 1919 Alfred Hugenberg angedient, der ihm nahezu vollständige publizistische Freiheit einräumte und über sein wachsendes Presseimperium Steins zahllosen, häufig verfemenden und auf unbelegten Gerüchten beruhenden politischen Kommentaren eine millionenfache Verbreitung ermöglichte. LION REICH widmet sich in seinem Beitrag wiederrum der in der eigenen Gewerkschaftspresse diskutierten Frage nach der Legitimität von Gewaltanwendung innerhalb der eigentlich pazifistisch orientierten FAUD. Diese Frage drängte sich im Kontext des Kapp-Lüttwitz-Putsches und des Generalstreiks zu seiner Abwehr auf. Hierbei gelingt es Reich neben der inhaltlichen Nachzeichnung der Gewaltdebatte auch aufzuzeigen, wie die ihrem Selbstverständnis rein lokalistisch und dezentralisiert organisierte Gewerkschaft ihre schriftlichen Organe insbesondere auch als Kommunikationskanäle zwischen ihren Mitgliedern und der Berliner Leitungsebene nutze. Presse war demnach nicht nur ein Informations-, sondern auch ein Kommunikationsmittel. RICCARDO ALTIERI geht abschließend den Gründen der erinnerungspolitischen Marginalisierung kommunistischer Protagonistinnen und Protagonisten nach. So stellten Rosi Wolfstein und Paul Frölich innerhalb der Weimarer Linken sowohl aufgrund ihrer umfassenden publizistischen Tätigkeit als auch ihrer Beteiligung an parteipolitischen Auseinandersetzungen relevante und zur damaligen Zeit stark rezipierte Persönlichkeiten dar. Altieri zeigt hierbei auf, wie es trotz ihrer Relevanz in den Weimarer Tagen dazu kam, dass die Rezeption Wolfsteins und Frölichs in der Nachkriegszeit in beiden Teilen Deutschlands keine Anknüpfung an die Zeit vor 1933 mehr fand. Wie in diesen Beiträgen deutlich wird: Sowohl die Revolution wie ihr Ergebnis blieben rechts und links der politischen Mitte umstritten, ja wurden mit aller (publizistischen) Macht bekämpft. Ob Verrat am Sozialismus oder Verrat am deutschen Volk: Die Revolution und ihre Akteurinnen und Akteure blieben im gesamten Verlauf der Weimarer Republik – und darüber hinaus – die Zielscheibe von Attacken und der Gegenstand erbitterter Kontroversen. Deutlich wird dabei auch einmal mehr die Segmentierung der publizistischen und (erinnerungs-)kulturellen Landschaft, weil sich die einzelnen Weltanschauungen und Narrative in aller Regel in
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einem in sich geschlossenen, geradezu hermetischen Wert- und Deutungskosmos bewegten, der in der Nachschau in manchen Fällen geradezu paranoid anmutet. Der Beitrag von TIMO LEIMBACH verdeutlicht am Beispiel der Parlamentsberichterstattung über die Arbeit des Thüringer Landtages darüber hinaus, dass die Funktionsfähigkeit eines demokratisch kontrollierenden und einen rationalen öffentlichen Diskurs ermöglichenden Pressewesens im Laufe der Weimarer Republik sogar eher ab- als zunahm. Das hatte unter anderem mit Modernisierungsprozessen in der Entwicklung des Pressewesens zu tun, die OLIVER BAHL für die Parteipresse des proletarischen Milieus genauer untersucht. Für linke Intellektuelle und die Parteieliten in SPD und KPD stellte sich eine stärkere Ausrichtung des Vorwärts und der Roten Fahne an Unterhaltung, Sensationen, Sport und anderen als ‚unpolitisch‘ begriffenen Themen und Formaten als eine drohende ‚Verbürgerlichung‘ dar. In Konkurrenz zu bürgerlichen Blättern versuchte man auf diese Weise aber nur, die ursprünglich reinen Parteiblätter an einen sich herausbildenden Massengeschmack anzupassen und damit attraktiver für das eigene Klientel zu machen. Dass die Parteiführungen daran Anstoß nahmen, verdeutlich eher, wie konservativ und ideologisch diese dachten. Ein weiterer Aspekt dieser Modernisierung war der verstärkte Einsatz von Bildern (Fotos, Karikaturen, Grafiken) auf den Titelseiten und in den Parteizeitungen, was zu einem weiteren Schwerpunkt des Bandes überleitet. Denn dieser widmet sich einer ‚Bilderflut‘, die mit verschiedenen technischen Neuerungen in die Presse und Publizistik der Weimarer Republik Einzug hielt. Denn Fotografien wurden im Laufe der Weimarer Jahre massen-(medien-)tauglich so dass nicht nur die Illustrierten und Magazine einen enormen Aufschwung erlebten, sondern sich auch die Tagespresse an den Trend zu mehr bildlichen Darstellungen anpasste, wie LILJA-RUBEN VOWE in ihrem Beitrag noch einmal und ausführlich zeigt. Sie verdeutlicht dabei aber, dass die zunehmende Nutzung von Fotografien, Karikaturen und Bildmontagen nicht allein einem allgemeinen Anpassungstrend folgte oder einer besseren ‚Massentauglichkeit‘ diente, sondern gerade in der Parteipresse genuin politische Zielsetzungen verfolgte, wie etwa die gezielte Zuspitzung von politischen „messages“ oder eine Steigerung der Mobilisierungskraft der vormals äußerst textlastigen Propaganda. Anders gestaltete sich die Entwicklung im Bereich des Films, wie PATRICK RÖSSLER aufzeigt. So blieb dieser in der Zeit der Weimarer Republik, wenn auch mit einzelnen Ausnahmen, weitgehend „unpolitisch“. Einen entscheidenden Grund hierfür macht er im faktischen Scheitern der organisierten Arbeiterbewegung, sowohl aus finanziellen als auch ideologischen Gründen, aus, dieses Medium durch eigene Filmproduktionen gezielt zu „politisieren“. Aufgrund beschränkter Möglichkeiten eigener Produktionen konzentrierte sich die organisierte Linke auf die publizistische Rezeption „kapitalistischer“ Filme, die sich jedoch in einem konstanten Spannungsverhältnis zwischen ideologischem Aufklärungsanspruch und vermeintlich „bürgerlichen“ Unterhaltungserfordernissen bewegte. Weil man bis auf wenige Ausnahmen eigener Produktionen den Film ‚verpasst‘ habe, blieb es bei der Kritik an der kapitalistischen ‚Kulturindustrie‘. VALENTIN J. HEMBERGER wiederum kann aufzeigen, wie der gezielte und teils manipulative Einsatz von Fotografien und bildlichen Darstellungen in Illustrierten unterschiedlicher politischer Lager genutzt wurde, um ein zu der je-
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weiligen Weltanschauung passendes Bild der Sowjetunion (und ihrer vorrevolutionären Geschichte) zu zeichnen. Dass darin auch die Deutungen der eigenen, deutschen Revolution von 1918/19 mitschwangen, überrascht dabei wenig. Der Beitrag JANINA AMREHN-RUPPS wiederum beschäftigt sich mit den Geschlechter- und Rollenbildern in Wahlplakaten der Weimarer Republik und hinterfragt dabei das heute gängige Motiv der ‚neuen Frau‘, das allzu schnell mit dem Weimarer Aufbruch in die Demokratie assoziiert wird. In aller Regel und selbst bei ‚progressiven‘ Parteien dominierten bei der Ansprache von Frauen als Wählerinnen und bei ihrer bildlichen Darstellung im Plakat traditionelle Rollenbilder oder war ein Trend zu mehr Gleichstellung bestenfalls zaghaft zu erkennen. ANDREAS DORRERS und LASSE WICHERTS Beiträge aus dem Bereich der Literatur der Weimarer Republik betonen vor allem die Eigenschaft als Nachkriegsgesellschaft. Andreas Dorrers Beitrag zur Dramatik der Weimarer Republik widmet sich der literarischen Figur des Kriegsheimkehrers und dessen Wiedereingliederung in eben jene Nachkriegsgesellschaft. Er zeichnet dabei zwei zentrale Bezugspunkte nach, die den genuin politischen Charakter der Heimkehrerdramen der Weimarer Zeit kennzeichnen. Einerseits sind diese im Kontext der Weltkriegsliteratur des späten Kaiserreichs zu sehen. In dieser diente die Behandlung des Krieges und die Figur der Frontsoldaten praktisch ausschließlich der Rechtfertigung des Weltkriegs als reinem Verteidigungskampf sowie der Glorifizierung und Steigerung von Opferbereitschaft. Die Nachkriegsdramen brechen offensiv mit diesem Narrativ, indem sie die Integrationsprobleme bzw. -herausforderungen der Betroffenen in die Nachkriegsgesellschaft in den Vordergrund stellen. Dabei wird von den Dramatikern anhand dieser Integrationskonflikte auch eine Kontinuität der Geisteshaltung des Kaiserreichs in bedeutenden Teilen der Nachkriegsgesellschaft diagnostiziert und als gesellschaftliches Problem kritisiert. Komplementär hierzu wird in Lasse Wicherts Beitrag vor dem Erfahrungsraum des Ersten Weltkrieges der Erwartungshorizont eines künftigen Krieges in Zukunftsromanen der Weimarer Republik nachgezeichnet. Elemente der Science Fiction fusionierten hier mit politischer und weltanschaulicher Analyse und Prognose darüber, wie vor dem Hintergrund der jüngsten Kriegserfahrungen ein neuer, bald zu erwartender Krieg aussehen und welch welt- und menschheitsgeschichtliche Bedeutung ihm zukommen könnte. Deutlich wird daran vor allem, wie dominant das Motiv der Verarbeitung des Krieges war, aber auch, wie sehr es für viele Autoren feststand, dass dies keinesfalls der letzte Krieg seiner Art gewesen sein würde. Ob Wunsch oder Warnung, Recht sollten sie mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges bekommen. Abschließend widmet sich der Beitrag MARCEL BOISʼ der Verzahnung von Politik und Architektur, und zwar anhand der Biographie der österreichischen Architektin Margarete (Schütte-)Lihotzky, die heute vor allem für ihre ‚Frankfurter Küche‘ bekannt ist. Auf struktureller und politischer Ebene verdeutlicht der Beitrag, wie eng der architektonische Aufbruch in die klassische Moderne mit einem sozialen und wohnungspolitischen Versprechen verknüpft war, das die Nachkriegsdemokratien ihren Gesellschaften gaben – nicht nur im ‚roten Wien‘, woher Margarete (Schütte-)Lihotzky stammte, sondern auch im ‚Neuen Frankfurt‘, wo sie unter Ernst May an einem der größten Wohnbauprojekte der Nachkriegszeit mitarbeitete.
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Andreas Braune / Tim Niendorf
Auf biographischer Ebene zeigt Bois, wie der Weg der Architektin aus dem bürgerlichen Milieu über die Sozialdemokratie hin zum Kommunismus (inklusive langjähriger Tätigkeit in Moskau) auch auf spezifische personelle und politische Konstellationen in ihrem Umfeld zurückzuführen ist. Die hier versammelten Beiträge verdeutlichen in ihrer Vielfalt ein breites Spektrum an Möglichkeiten, sich dem Verhältnis von Politik und Kultur und Medien in der Weimarer Republik genauer zu widmen: sei es (werk-)biographisch, entlang spezifischer Genres, Medien oder Techniken, innerhalb bestimmter politischer oder weltanschaulicher Richtungen oder anderem mehr. Besonders lohnenswert ist dabei auch der interdisziplinäre Zugriff zwischen Kultur-, Medien-, Geschichts- und Politikwissenschaft und eine möglichst große Offenheit für die Methoden und Ansätze dieser Disziplinen. Mit einer solchen Herangehensweise gibt es noch jede Menge Stoff zur Erforschung der genuin politischen Dimension kulturellen und medialen Handelns in der Weimarer Republik.
ZEITUNGEN UND ZEITSCHRIFTEN
DIE DEUTSCHE REVOLUTION IM SPIEGEL EINES IHRER „MÄRTYRER“ Das Kurt-Eisner-Bild in der Weimarer Republik Frank Jacob Revolutionär: Allein der Ausdruck lässt Charisma, Dynamik, Schaffenskraft und den unbedingten Willen zur Veränderung erwarten. Der bekannte Chronist der Weimarer Republik, Victor Klemperer (1881–1960), schien allerdings nicht gerade begeistert, als er die charismatische Führungspersönlichkeit der bayerischen Revolution, d.h. den provisorischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner (1867–1919),1 im Dezember 1918 bei einem seiner öffentlichen Auftritte zum ersten Mal erlebte: Ein zartes, winziges, gebrechliches, gebeugtes Männchen. Dem kahlen Schädel fehlen imposante Maße, das Haar hängt schmutziggrau in den Nacken, der rötliche Vollbart wechselt ins Schmutziggraue hinüber, die schweren Augen sehen trübgrau durch Brillengläser. Nichts Geniales, nichts Ehrwürdiges, nichts Heroisches ist an der ganzen Gestalt zu entdecken, ein mittelmäßiger verbrauchter Mensch, dem ich mindestens 65 Jahre gebe, obschon er noch ganz am Anfang der Fünfzig steht. Sehr jüdisch sieht er nicht aus, aber germanisch […] oder bajuwarisch […] erst recht nicht.2
Eisner erinnerte Klemperer eher „an Karikaturen jüdischer Journalisten“3 und er schien überrascht, dass dieses „Männchen“ so vielen Menschen in Bayern, spätestens seit Anfang November 1918, als revolutionäre Identifikationsfigur dienen konnte, denn der provisorische Ministerpräsident, der eher in Bayern und dort vor allem in München durchaus bekannt war, erreichte bei Weitem nicht das Format und die (trans)nationale Bekanntheit eines Wladimir I. Lenin (1870–1924) oder, um im deutschen Kontext zu bleiben, eines Karl Liebknecht (1871–1919) oder einer Rosa Luxemburg (1871–1919). Darüber hinaus muteten Eisners Forderungen alles andere als revolutionär an, forderte er doch zuvorderst nur zwei Dinge, nämlich 1 2
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Vgl. ausführlich zu Eisners Leben und Wirken: Grau (2001): Eisner und Gurganus (2019): Eisner. Klemperer (2015): Revolutionstagebuch, S. 51. Ganz anders wurde Eisner in der Berner Chronik (7. Februar 1919) beschrieben: „Der neue Ministerpräsident von Bayern ist wohl eine der interessantesten Figuren dieses Redeturniers. Eine kleine, nicht ganz mittelgroße, hagere, nicht aber magere Gestalt. Ein Professorenkopf …, mit wallendem Bart und Mähne nach hinten. Das Gesicht ist das Auffallendste an seinem äußeren Menschen. Die Denkerstirne, klare, forschende Augen, alles ist da, um zu sagen: Ich bin’s.“ „Kurt Eisner,“ in: Berner Chronik, Nr.5/6 vom 7. Februar 1919, S. 5, in: BArch-SAPMO, NY 4060/152-1, Bl. 22. Klemperer (2015): Revolutionstagebuch, S. 51.
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Frank Jacob
Ruhe und Ordnung. In der revolutionären Erklärung aus der Nacht vom 8. November 1918 heißt es dahingehend schlicht: „Bewahrt die Ruhe und wirkt mit an dem Aufbau der neuen Welt!“4 Es wurde bereits andernorts darauf verwiesen, dass Revolutionen in ihren jeweiligen regionalen Kontexten durchaus unterschiedlich verlaufen können und nur in ihrer Gesamtheit einen nationalen Revolutionsprozess bilden,5 so dass der Erfolg Eisners mitunter darin begründet liegen mag, dass er gerade in München zumindest für einige Wochen dazu in der Lage war, unterschiedliche Strömungen der bayerischen Sozialdemokratie, also die bayerische MSDP sowie USPD, und zeitweise durchaus auch kommunistische Vertreterinnen und Vertreter auf einen gemeinsamen Kurs zu bringen. Darüber hinaus trachtete Eisner ebenfalls nicht danach, die alte Ordnung durch die zerstörerischen Kräfte der Revolution zu beseitigen, sondern drängte nach den vier Jahren des Krieges auf eine schnelle und friedliche Transformation von der Monarchie hin zum Freistaat Bayern, wie er mit dem Ende der Wittelsbacher Dynastie geschaffen worden war: „Nicht zerstören wollen wir, sondern wieder aufbauen und wir wollen allen Volksgenossen ohne Unterschied des Standes eine sichere Existenz schaffen, eine Existenz, die es jedem möglich macht, ein menschenwürdiges Dasein zu führen.“6 Der gesellschaftliche Transformationsprozess sollte sich demzufolge „in vollkommener verbürgter Freiheit und in sittlicher Achtung vor den menschlichen Empfindungen“ sowie im „Vertrauen zu dem Geist der Massen“ vollziehen.7 Die friedlichen Ambitionen des ersten bayerischen Ministerpräsidenten, die verschiedenen politischen Lager zu vereinen und auf Basis eines kantianisch-marxistischen Bildungsideals8 und der Aufklärung breiter Bevölkerungsschichten ein rätedemokratisches Bayern aufzubauen und damit Vorreiter im sozialistischen Bestreben um eine bessere Welt zu sein, konnten allerdings nicht umgesetzt werden. Eisner, der lediglich als provisorischer Ministerpräsident agierte, konnte keine breite Zustimmung für seine Pläne erhalten, was die Ergebnisse der USPD in den Landtagswahlen im Januar 1919, bei denen die „Eisner-Partei“ lediglich 2,5% der Stimmen erhielt, nur zu deutlich unterstreichen. Zu groß war darüber hinaus die Angst, Eisner würde Bayern bolschewisieren, zu groß die Furcht vor „bolschewistischen Zuständen“. Die Gegenrevolution sammelte sich und nicht nur die Münchner Thule-Gesellschaft,9 sondern auch Studentenverbindungen riefen zum Schlag gegen Eisners als illegitim wahrgenommene Herrschaft in München auf.10 4 5
Eisner (1918): Aufruf, S. 7. Vgl. Jacob (2019): Lokale Perspektiven. Dazu ausführlich mit Blick auf Unterfranken: Jacob (2019): Revolution und Räterepublik. 6 Eisner / Gandorfer (1918): Aufruf, S. 19. 7 Eisner (1918): Regierungsprogramm, S. 20. 8 Dazu ausführlich: Jacob (2019): Kultursozialismus. 9 Ausführlich zur Thule-Gesellschaft vgl.: Jacob (2010): Thule-Gesellschaft und Jacob (2013): Thule-Gesellschaft und Kokuryūkai. 10 Vgl. Flugblatt: Kommilitonen! in: Stadt- und Stiftsarchiv Aschaffenburg (SSAA), Nachlass 8, Bl. 17.
Die Deutsche Revolution im Spiegel eines ihrer „Märtyrer“
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Eisner wurde, nachdem er im Vorfeld bereits unzählige Schmäh- und Drohbriefe erhalten hatte11 schlussendlich Opfer eines Attentates. Seine Ermordung am 21. Februar 1919 durch den monarchistischen Studenten Anton Graf von Arco auf Valley (1897–1945) sollte schließlich dazu beitragen, die Revolution in Bayern zu radikalisieren. Die neugewählte Regierung unter dem SPD-Ministerpräsidenten Johannes Hoffmann (1890–1967) konnte sich nicht durchsetzen und linksradikale Kräfte gewannen in München zunehmend an Einfluss. Dies führte schließlich zur Etablierung zweier Räterepubliken in der bayerischen Landeshauptstadt, wobei die zweite von Regierungstruppen am 1. Mai 1919 niedergeschlagen wurde. Mit Blick auf die Ereignisse in München, vor allem die vielen Standgerichte in Folge des Einmarsches von Freikorps in die Stadt, sei hier an das Diktum des Leipziger Historikers Manfred Kossok erinnert, der mit Blick auf revolutionäre Prozesse und die damit oft einhergehenden Gewaltexzesse zu Recht konstatierte: „Keine Revolution bleibt eine ‚schöne‘ Revolution.“12 Der Tod Eisners stimulierte folglich die Radikalisierung der Revolution in Bayern, die durch die abgehaltenen Wahlen zur Nationalversammlung sowie die Landtagswahlen im Januar 1919 doch bereits abgewendet schien. In der Retrospektive der Weimarer Republik wurde Eisner zu einer wichtigen Figur innerhalb der Deutung der Revolution 1918/19, wobei die einen ihn als eine Art „Märtyrer“ betrachteten, während andere in ihm einen landfremden Verschwörer zu erkennen glaubten. Tragisch erscheint mit Blick auf die posthume Diskussion um Eisners Person, dass er und sein politisches Programm von den Vertreterinnen und Vertretern der MSPD als zu links, von denen der KPD als zu wenig links betrachtet wurde. Diese Ablehnung Eisners von beiden politischen Richtungen, die die Interessen der deutschen Arbeiterbewegung repräsentierten, dürfte unter anderem dafür verantwortlich sein, dass die Erinnerung an den ersten bayerischen Ministerpräsidenten im politisch linken Spektrum der Weimarer Republik doch recht schnell verblasste, wohingegen die Diffamierung Eisners, vor allem durch die Nationalsozialisten, an Einfluss gewann. Eisner wurde damit gleichfalls zur Projektionsfigur für die Erinnerung an die revolutionären Ereignisse, die das Ende des Ersten Weltkrieges markierten und die Gründung der Weimarer Republik ermöglichten. Eine Kritik derselben ging deshalb schon zwangsläufig mit einer Kritik an der Person Eisners einher. 1. EIN NEUANFANG IM NAMEN DER WAHRHEIT Die Ironie des Schicksals wollte es, dass Eisner nach seiner Ermordung wesentlich beliebter als zu Lebzeiten war. Besonders der „Mensch Eisner“ hieß es 1919 in den
11 Vgl. Jacob / Baddack (Hrsg.) (2019): 100 Schmäh- und Drohbriefe. 12 Kossok (2016): Requiem, S. 25. Zu den mit der Revolution einhergehenden Gewaltexzessen zu Beginn der Weimarer Republik vgl. auch Jones (2016): Anfang.
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Sozialistischen Monatsheften,13 würde von allen in der SPD betrauert, denn mit Blick auf seine politischen Positionen galt der erste Ministerpräsident des Freistaates Bayern doch vielen als Außenseiter.14 Besonders geschätzt hätte man Eisners „Kampf gegen die Lüge und die geistige Bestechlichkeit im öffentlichen Leben,“15 den er nicht erst in der Revolutionszeit begonnen, sondern zeit seines Lebens geführt hatte.16 Seine Arbeit als Journalist und Autor war von der Zensur des Ersten Weltkrieges immer wieder beanstandet worden, so dass es immer schwieriger wurde, Texte zu publizieren und dadurch auch ein elementarer Teil der Einnahmen im Hause Eisner wegbrach.17 Seine kritische Haltung gab er dennoch nicht auf und setzte, wie viele andere Intellektuelle des linken Spektrums, seine Kritik an den Regierenden sowie am Weltkrieg als Ausdruck ihrer Politik ungemindert fort.18 Als Ministerpräsident des Freistaates Bayern war Eisner mitunter deshalb auch nicht gewillt, die Meinungsfreiheit oder die Äußerungen seiner politischen Gegner in irgendeiner Art einzuschränken. Er hatte dahingehend bereits am 26. November 1918 das Folgende, betitelt mit „Zur Kenntnisnahme“, durch die bayerischen Presseorgane verbreiten lassen: Man bemüht sich von allen Seiten, mich aufmerksam zu machen auf die albernen Artikel, die eine gewisse Presse gegen meine Person richtet. Ich erfahre daraus allerlei interessante Bereicherungen meiner Biographie. Man erweist mir darin auch die Ehre, mich mit einem Familienund Erwerbssinn zu betagen, der mir nur in geringstem Maße bisher beschieden war. Schon habe ich meinen gesamten Familienanhang in gut bezahlten Stellungen untergebracht. Besorgte Leute verlangen von mir, daß ich gegen solche Aeußerungen, die doch nur eine Fäulniserscheinung des zusammengebrochenen Systems sind, einschreite. Ich wiederhole, daß die Presse in voller Freiheit soviel Dummes und Kluges, soviel Anständiges und Schmutziges produzieren soll, wie es ihrem geistigen und moralischen Vermögen entspricht. Ich habe in den viereinhalb Kriegsjahren soviel Verachtung gegen diese Presse aufgehäuft, daß sie genügt, um mich für den Rest meines Lebens gegen jede Neigung zu festigen, auch nur polemisch mich mit ihr zu befassen.19
Dass die hier angesprochenen negativen Pressestimmen, und das gleichwohl aus den eigenen Reihen, also der sozialdemokratischen Parteipresse, am gewaltsamen Tod Eisners allerdings nicht ganz unschuldig gewesen waren, stellten die Sozialistischen Monatshefte in ihrem Nachruf auf den ermordeten Ministerpräsidenten ebenfalls fest: „Anstatt sich der Preßhetze [sic!] entgegenzustemmen und, wo er im politischen Handeln die Kritik herausforderte, sie eben nur gegen dieses zu richten, 13 Vgl. „Eisner“, Beleg aus Sozialistische Monatshefte Nr. 4 (1919), S. 178–180, in: BArchSAPMO, NY 4060/152-1, Bl. 5–7, hier Bl. 5. 14 Vgl. Eisner (1995): Ort. 15 „Eisner,“ Beleg aus Sozialistische Monatshefte Nr. 4 (1919), Bl. 6. 16 Eisner hatte in vielen seiner Reden und Schriften versucht, die Gesellschaft des Deutschen Kaiserreiches auf Missstände hinzuweisen und für basisdemokratische sowie sozial gerechtere Alternativen zu werben. Vgl. beispielhaft Altieri et al. (2019): Reden und Schriften. 17 Vgl. dazu: Brief von Kurt Eisner an Joseph Belli, München, 13. September 1917, BArchSAPMO, NY 4060/79, Bl. 21. 18 Vgl. Jacob / Altieri (2018): Krieg und Frieden. 19 Eisner (1918): Zur Kenntnisnahme.
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verstärkte auch unsere Partei oft den Chor derjenigen, die Eisner als törichten Phantasten lächerlich zu machen und so seine Anklagen zu entkräften suchten.“20 Seine Vision einer „neuen Zeit“ hatte bei vielen Menschen eher Unverständnis ausgelöst, aber die Anerkennung der Kriegsschuld des Deutschen Kaiserreiches war als Verrat an der deutschen Nation verstanden worden und führte zu immer heftigeren Anfeindungen, die selbst nach seinem Tod nicht abebbten. Die EisnerGegner konnten sich immer wieder auf diesen angeblichen Verrat berufen, der im gleichen Zuge die Dolchstoßlegende,21 die sich seit dem Kriegsende immer mehr etabliert hatte, befeuerte. Ungeachtet dieser Verquickung anti-revolutionär-nationalistischer Narrative gab es hingegen Stimmen, die versuchten, Eisners politischen Kurs und seinen Einsatz für eine demokratische Nachkriegsordnung zu würdigen. Der Redakteur der USPD-Zeitung Der Kampf: Südbairische Tageszeitung der Unabhängigen Sozialdemokratie, Albert Winter (1896–1971), hob hervor, dass die sogenannten „Politiker“ der Revolutionszeit nicht dazu in der Lage gewesen wären, die politischen Ziele Eisners zu verstehen: Sie vermochten es nie. Darum sind sie im Januarstreik in ihrem Skatklub geblieben, darum ist die Novemberrevolution ohne ihr Zutun geschehen. Darum hassen sie die politische Eindeutigkeit, die mit rücksichtsloser Klarheit aus dem Wesen des Genossen Eisner hervorleuchtete. Darum lieben sie den Sumpf der politischen und persönlichen Korruption, in dem sie herumplätschern und aus dem sie sich nicht befreien können. Sie verleumden Eisner, indem sie ihm ehrgeizige Putschpläne unterstellen und sie weisen auf die Räterepublik als die Folgen der Politik Eisners hin. Freilich ist die Räterepublik ein tragikomisches Mißverständnis der Politik Eisner, die Folge ihrer schmalen baierischen und noch besser Münchener Basis. 22
Tatsächlich strebte Eisner in seiner Zeit als Ministerpräsident des Freistaates nicht danach, diesen nach russischem Vorbild zu bolschewisieren. Zwar hatte er sich in einem seiner früheren Texte mit Blick auf seinen politischen Standpunkt klar zum Marxismus bekannt,23 allerdings trachtete er nicht danach, den Revolutionsprozess in Deutschland, wie es Lenin in Russland getan hatte, zu korrumpieren.24 Aus Sicht Winters war Eisner alles andere als ein radikaler Revolutionär: „Ja, ehrgeizig war Eisner, ehrgeizig um der Rettung Deutschlands willen. Daß ihm dabei die geeigneten politischen Mittel fehlten und aus den Händen glitten, das war allerdings sein tragisches Verhängnis.“25 Denen, die den „Märtyrer“ der Revolution in Bayern posthum kritisierten – etwa den Redakteuren der Münchner Post – hielt Winter entgegen:
20 „Eisner,“ Beleg aus Sozialistische Monatshefte Nr. 4 (1919), Bl. 5. 21 Vgl. Barth (2003): Dolchstoßlegenden und Barth (2010): Dolchstoßlegende. 22 W[inter], A[lbert]: Eisner und die Schildbürger, in: Der Kampf. Südbairische Tageszeitung der Unabhängigen Sozialdemokratie, Nr. 142 vom 16. Dezember 1919, S. 1, BA-SAPMO, NY 4060/152-1, Bl. 32. 23 Vgl. Jacob (2020): Marx. 24 Ausführlich dazu: Jacob (2020): 1917. 25 W[inter] (1919): Eisner und die Schildbürger, Bl. 32.
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Frank Jacob Der Charakter Kurt Eisner ist unantastbar, seine Absichten sind vollständig eindeutig. Seine Politik ist die einzig mögliche Realpolitik, und wenn die „M.P.“ schreibt, daß Kurt Eisner ein sich allen Eindrücken hingebender Impressionist gewesen sei, so kann man über eine solche Verständnislosigkeit zur Tagesordnung übergehen. Es hat keinen Zweck, sich mit dem Stumpfsinn herumzuschlagen. In Deutschland weiß man noch nicht, was Politik heißt, man weiß noch nicht, daß Politik die höchste Kunst ist. In Deutschland ist Politik ein Geschäft. 26
Im Februar 1920, zur Begehung des ersten Todestages des ersten bayerischen Ministerpräsidenten erbaten sich viele Zeitzeugen das Wort – wenn man beispielsweise vom Schweigen des Vorwärts zu diesem Trauertag absieht – und hoben den Idealismus, der Eisners Politik zu Grunde gelegen haben soll, hervor. Sie gedachten damit „eine[m] der Edelsten […], den je die Erde trug“ oder einem „Wohltäter der Menschheit“.27 Heinrich Mann (1871–1950) gehörte ebenfalls zu denjenigen, die ein positives Eisner-Bild lebendig halten wollten, hatte er sich doch ebenfalls für die Demokratie entschieden, selbst wenn er seinen eigenen Rücktritt aufgrund des Attentates nicht mehr hatte vollziehen können.28 Dessen ungeachtet war Mann sich sicher, dass [d]er verewigte Kurt Eisner […] weiter beispielhaft in unserer Mitte weilen [wird], seinen Tod überdauernd gewiß durch seine Taten, aber mehr noch durch das, was er war. Wir danken ihm nicht einfach den Sturz eines verworfenen Regimentes, sondern daß dieses Regiment, das selbst in seinen weniger schändlichen Zeiten nichts anderes gewesen war als geistlose Gewalt, unvermittelt und in sinnbildlicher Art abgelöst wurde von der Menschenart, die Geist will und Geist schafft.29
In einer Art Dichotomie zu den Lügen der Obersten Heeresleitung erkannte Mann in Eisner tatsächlich einen „Mann der Wahrheit“, der nie, egal wie hoch der Einsatz auch sein würde, dieses essentielle Prinzip seiner eigenen Existenz aufgegeben hätte: In seinen Reden kannte er nichts Dringlicheres, als den Urhebern all unseres Unheils ihr schändliches Bild entgegenzuhalten, den Lügen jeden Schein und Halt zu nehmen, Deutschland geistig zu reinigen und zu erneuern. Zuerst eine Luft, in der es für Menschen der Vernunft und Wahrheit sich atmen läßt – dann bildet sich schon das neue Leben. 30
Diese Wahrheitsliebe Eisners war allerdings letztlich der Nagel seines eigenen Sarges, denn sein Blut wurde, so Mann weiter, „vergossen für die Wahrheit“. Und das
26 Ebd. 27 Eck-Troll, Max: Kurt Eisner. Zu seinem Todestag am 21. Februar, [1920], BA-SAPMO, NY 4060/152-1, Bl. 44–48, hier Bl. 44. 28 Die Frage, warum Eisner diesen nach den Wahlergebnissen nicht direkt bekanntgab und damit einer weiteren Radikalisierung sowie Zuspitzung der Lage zuvorkam, kann nicht abschließend geklärt werden, aber es dürfte sicherlich eine Rolle gespielt haben, dass Eisner auch nach den Wahlen noch mit dem revolutionären Rätesystem sympathisierte, sich schlussendlich aber gegen eine Radikalisierung der Revolution in Bayern und damit zum Rücktritt entschlossen hatte. 29 Mann, Heinrich (1920): Kurt Eisner. Zum Jahrestag seiner Ermordung, Zeitungsausschnitt, BA-SAPMO, NY 4060/152-1, Bl. 52. 30 Ebd.
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nicht, ohne dass Eisner selbst gewusst hätte, dass er sich mit seinem Bekenntnis zu eben dieser Wahrheit der größten Gefahr aussetzte. Er wusste, die Wahrheit war zu sehr verhaßt; wer sie laut behauptete und sichtbar vertrat, mußte sterben. Er hatte Gegner von einer Art, daß sie nicht einmal die Enteignung so schwer ertragen haben würden wie die Wahrheit. Zu seinen Todfeinden hat er sie nicht durch Maßnahmen gemacht, sondern durch Bekenntnisse. Er ist ein Blutzeuge des Geistes. 31
Gerade dieser Umstand war es, der Eisners Tod in vielerlei Hinsicht, aus Sicht der Intellektuellen, die mit der Revolution auch die Hoffnung auf eine geistige sowie wahrhaftige Erneuerung des Staates, aber ebenso des Menschen selbst verbunden hatten, tragisch machte. Heinrich Manns Gesamturteil über Eisners vorzeitigen Tod wog deshalb schwer: „Der erste wahrhaft geistige Mensch an der Spitze eines deutschen Staates erschien jenen, die über die zusammengebrochene Macht nicht hinwegkamen, als Fremdling und als schlecht.“32 Ähnlich bestürzt betrachtete Friedrich Muckle (1883–1942), ein Ökonom und Schriftsteller, den Tod Eisners, allerdings machte er nicht nur dessen Wahrheitsliebe und die öffentliche Geißelung der Person des Ministerpräsidenten als Motiv für den Mord verantwortlich, sondern wies auf einen Umstand hin, der sich im Laufe der folgenden Jahre noch verstärken sollte. War Eisner für Muckle ein Mann „der einer verrotteten Zeit zeigte, was Heldentum ist“, so wurde er in der öffentlichen Wahrnehmung der Weimarer Republik in einem anderen Licht dargestellt: „Eisner war Jude und Revolutionär. Das sind in den Augen derer, denen das Schamgefühl nicht verbietet, den Toten zu lästern, seine Hauptverbrechen.“33 Die Betonung der jüdischen Identität Eisners, die dieser selbst nach dem Verlassen des Elternhauses abgelegt und fortan als Atheist gelebt hatte, wurde beschworen, um aus dem ersten Ministerpräsidenten Bayerns einen ‚jüdischen Revolutionär‘ und ‚bolschewistischen Juden‘ zu schaffen, der in einer verzerrten Darstellung gerade von der Propaganda der Nationalsozialisten immer wieder angeprangert wurde, um gegen die Weimarer Republik, deren Existenz doch gerade aus bayerischer Perspektive auf der Person und den revolutionären Taten Eisners fußte, Stimmung zu machen und dieselbe dadurch zu diskreditieren. Die revolutionäre Integrationsfigur Eisner wurde im politisch rechten Spektrum dadurch zu einem Handlanger des ‚Judäobolschewismus‘, also einer ideologischen Vermengung antisemitischer sowie antibolschewistischer Ideen.
31 Ebd. 32 Ebd. 33 Muckle, Friedrich: Kurt Eisner und das deutsche Bürgertum, in: Der Kampf. Südbairische Tageszeitung der Unabhängigen Sozialdemokratie, Nr. 5 vom 8. Januar 1920, S. 1, BA-SAPMO, NY 4060/152-1, Bl. 55.
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2. EISNER ALS ‚JUDÄOBOLSCHEWISTISCHER AGENT‘ Sicherlich ist Eisner nur ein Beispiel dafür, wie aus linken Revolutionärinnen und Revolutionären in Deutschland – aber auch in Russland, um hier zumindest auf den breiteren Kontext dieser Variante der Verschwörungstheorie, die eine jüdische Weltherrschaft deklariert, hinzuweisen – „Verbrecherinnen“ und „Verbrecher“ gemacht wurden.34 Allerdings wurde er gerade im bayerischen Kontext zu einem der Repräsentanten dieser jüdischen Weltverschwörung, der Deutschland 1918/19 beinahe zum Opfer gefallen wäre, hätten Freikorps und die Konterrevolution dem durch ihn initiierten Treiben in München nicht ein Ende gesetzt. Der Schock dieser Tage saß tief und kaum etwas konnte propagandistisch so ausgeschlachtet werden wie die Angst eines Großteils der Bevölkerung vor dem Bolschewismus russischen Typs. Eisner war in dieser Sichtweise ein Revolutionär russischen Typs, ein Landfremder – immerhin kam er aus Berlin –, der Bayern in den Ruin zu stürzen trachtete. Er wurde damit einhergehend zum Vaterlandsverräter, zu einem Anti-Ludendorff, einem Anti-Hindenburg und – in der NS-Variante dieser Sichtweise – schlussendlich auch zu einem Anti-Hitler. 1925 schreibt der Stuttgarter Sonntagsanzeiger dahingehend und mit Blick auf Eisners Todestag: „An bürgerlichen Stammtischen […] spuckt man aus, wenn der Name [Eisner] fällt; man hält seinen Träger für einen Schuft, einen gemeinen Kerl, einen Vaterlandsverräter.“35 Eisner, so die München-Augsburger Abendzeitung 1928, war das Sinnbild einer „Revolution, die aus Meineid und Hochverrat geboren ist“.36 Die negative Wahrnehmung der revolutionären Ereignisse, der sozialistischen Republik unter provisorischer Führung Eisners, welche aus diesen hervorgegangen war, sowie eines der „Märtyrer“, die für die Ideale derselben gestorben waren, wurde schlussendlich vermengt und der Hass auf eben diese drei Elemente gebündelt. Dass die antisemitischen Ressentiments gegen Eisner nicht erst durch den Aufstieg des Nationalsozialismus befeuert werden mussten, sondern bereits 1918/19 offen zutage traten, offenbart ein Blick in die oben bereits erwähnten Droh- und Schmähbriefe, welche der Ministerpräsident während seiner nur kurzen Amtszeit erhalten hatte. Dabei muss hier gleichfalls daraufhin gewiesen werden, dass nicht alle Vorwürfe in den Briefen an Eisner antisemitischer Art waren, sondern er von einigen schlichtweg als ein ‚Vaterlandsverräter‘ betrachtet wurde. Ein anonymer Brief erreichte ihn beispielsweise Mitte Januar 1919. Darin wird ihm vorgeworfen, ein Agent der Entente zu sein, welcher für die Zerstörung Deutschlands bezahlt werde: „Herr Ministerpräsident! Was führen Sie als Ententebeauftragter noch gegen Deutschland im Schilde? […] Nehmen Sie sich in Acht. Sie könnten gestürzt
34 Ausführlich zum lokalen bzw. globalen Kontext des Judäobolschewismus vgl. Brenner (2019): Schatten und Hanebrink (2018): Specter. 35 Schairer, Erich: Ein Märtyrer, in: Sonntags-Zeitung (Stuttgart), Nr. 8 vom 22. Februar 1925, S. 1, BA-SAPMO, NY 4060/152-2, Bl. 129. 36 „Es war Meineid und Hochverrat,“ in: München-Augsburger Abendzeitung, Nr. 305 vom 8. November 1928, S. 3f., BA-SAPMO, NY 4060/152-2, Bl. 190, hier S. 3.
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werden und wenn die Leute dann sähen, wie das englische Gold aus Ihren Taschen herausrollt, könnten sie das doch krumm nehmen, die guten Deutschen.“37 Die Idee bzw. der Erzählstrang, dass Eisner die Revolution, wie zuvor Lenin in Russland im Auftrag der Obersten Heeresleitung,38 also im Auftrag fremder Mächte provoziert hätte, war dabei nur ein Vorwurf, mit dem der bayerische Ministerpräsident konfrontiert worden war. Dieser hielt sich auch in der Zeit der Weimarer Republik,39 allerdings wurde mit dem steten und oft zum Ausdruck gebrachten Verweis auf den ‚Juden Eisner‘ ein weiterer Aspekt wesentlich stärker, und das besonders von den Feinden der Republik, hervorgehoben. Am 18. Januar 1919 wurde ein anonymer Brief an Eisner geschrieben, in dem, mit Hinweis auf die Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts einige Tage zuvor,40 darauf aufmerksam gemacht wurde, dass auch ihn, den „Stinkjuden“, der in russischem Auftrag agiere, der Tod erwarte: Genosse Eisner! Ich habe gesehen und gelesen, daß unser Genosse Liebknecht und Rosa Luxemburg, den […] verdienten Tod erhalten haben. Die Dummheit der Arbeiter ist genügend von euch stinkenden Juden ausgenutzt worden, wo ihr nur auf Kosten der Arbeiter, mit Hetzreden die Arbeiter irreführtet und auf den Taschen der Arbeiter liegt und noch dazu Bruderkrieg führt. – Darum Genosse Eisner, verdrücke dich, so schnell wie möglich, die Stunde der Abrechnung ist da, wo mit euren Köpfen Fußball gespielt wird werden, denn glaubst Du, daß ein deutsches Volk es so einfach hin nimmt, sich mit von [sic!] Juden, die mit russischem Gelde arbeiteten, sich verraten zu lassen, wie ihr Verbrecher und Zuchthäusler und Banditen von Dreckjuden es auf Kosten der deutschen Arbeiter und Bürger getan habt? – Es kostet Judensblut [sic!] von Euch Stinkjuden. – Du bist Liebknecht’s und Rosa Luxemburg’s Nachfolger. 41
Aus der Lektüre solcher Briefe wird klar, dass Eisner schon beinahe damit rechnen musste, Opfer eines Attentates zu werden. In weiteren Briefen, die ihn erreichten, wurde darüber hinaus auf die Rolle jüdischer Revolutionärinnen und Revolutionäre verwiesen, deren Taten als Ursache der deutschen Misere, also die Niederlage im Weltkrieg aufgrund der revolutionären Erhebung im Inland, identifiziert wurden. In einem dieser – zumeist anonymen – Briefe heißt es dahingehend: Wer ist Schuld [sic!] am Untergang des deutschen Kaiser[s]: Wer hat sich am Blut unserer Helden bereichert Wer hat im Großen gewuchert Wer waren die Drückeberger überall […] Wer vernichtet die deutschen Arbeiter
die Juden die Juden die Juden die Juden die Juden
37 Anonym an Kurt Eisner, Lindau, 16. Januar 1919, SAPMO-BArch, NY 4060/64, Bl. 228, Hervorhebung im Original. 38 Dazu ausführlich: Merridale (2017): Lenins Zug. 39 Bramke (2019) gibt einen Überblick über die Bewertung der Revolution und ihrer Akteurinnen und Akteure in der Zeit der Weimarer Republik. 40 Vgl. Scriba (2014). Unterlagen dazu finden sich unter anderem in Akten des Bundesarchivs in Berlin-Lichterfelde, BArch R 43 I/2676 und 2676a-g. 41 Anonym an Kurt Eisner, Berlin, 18. Januar 1919, SAPMO-BArch, NY 4060/64, Bl. 232.
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Frank Jacob Woher kommt der Bolschewismus aus Russ[land,] Polen. & wer herrscht dort: […] Dann Deutschland wer herrscht dort Wer leitet den Umsturz in Deutschland Wer giebt [sic![ das Kapital dazu: Wer regiert die Spartakusgruppe Wer ist Levy, David, Cohen, Rosa Luxemburg, Eisner So muß man es von Mund zu Mund raunen: Tötet, steiniget [sic!] fangt die Juden Eisner, du großer Verbrecher Feigling deine Stunden sind gezählt!42
die Juden die Juden die Juden die Juden die Juden Juden
Es könnten hier zahlreiche weitere Beispiele für derlei wüste Anschuldigungen und Drohungen aufgeführt werden, stattdessen soll jedoch im Weiteren darauf eingegangen werden, wie sich diese im Verlauf der Weimarer Republik innerhalb der nationalsozialistischen Interpretation der Revolution fortsetzten und zunehmend befeuert wurden. Dietrich Eckart (1868–1923), den Adolf Hitler (1889–1945) als entscheidende Person der frühen nationalsozialistischen Bewegung würdigen würde und der den späteren „Führer“ in die einflussreichen Münchner Kreise eingeführt und dort unterstützt hatte,43 war einer derjenigen, die den Zusammenhang zwischen Judentum und Revolution in Deutschland, besonders mit Blick auf die Person Eisners, unterstrich. In Eckarts antisemitischer Zeitschrift Auf gut deutsch. Wochenschrift für Ordnung und Recht, in welcher er 1920 führende Figuren der Revolution, des „neuen Deutschland“ verunglimpfte, heißt es zu Eisner: „Mephisto, Ahasver und Adonai – Nennt Eisner, und ihr habt sie alle drei.“44 Gleich drei negative semantische Symbolfiguren des europäischen Kulturraums, nämlich der Faustsche Teufel, der „Ewige Jude“ Ahasver, der Jesus auf seinem Leidensweg nach Golgota eine Rast an seiner Tür verweigerte, und der Eigenname für den jüdischen Gott im Tanach werden dem ermordeten Ministerpräsidenten zugeschrieben. Eisner wird dadurch zu einer Art „Überjuden“ stilisiert, dessen Rolle nicht der eines revolutionären „Märtyrers“ entspricht, sondern vielmehr das repräsentiert, was in antisemitischen Kreisen als Ursache des deutschen Niedergangs betrachtet wurde, nämlich den Judäobolschewismus, welcher seit der Russischen Revolution 1917 zu einem elementaren Bestandteil antisemitisch motivierter und ausgerichteter Verschwörungstheorien geworden war.
42 Anonym an Kurt Eisner, o. O., o. D., SAPMO-BArch, NY 4060/64, Bl. 280. Eisner erhielt beispielsweise einen anonym verfassten sowie gezeichneten Steckbrief für seine Person, auf dem zu lesen war, dass er „tot oder lebend der Polizeidirektion in München einzuliefern“ sei und dass derjenige, der den Vaterlandsverräter abliefere, 30.000 Mark für den lebenden bzw. 50.000 Mark für den toten Ministerpräsidenten erhalte. Anonym an Kurt Eisner, o. O., o. D., SAPMOBArch, NY 4060/64, Bl. 331. 43 Vgl. Jacob (2018): Dietrich Eckart, S. 83–94. 44 Auf gut deutsch. Wochenschrift für Ordnung und Recht 2 (1920) 2, 3, 4 und 5, BA-SAPMO, NY 4060/152-1, Bl. 72–87, hier Bl. 81RS.
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In dem im Namen Eckarts 1924 posthum veröffentlichten Werk, Der Bolschewismus von Moses bis Lenin. Zwiegespräch zwischen Adolf Hitler und mir,45 welches auf einem wahrscheinlich fiktiven Dialog zwischen dem erzählerischen „Ich“ (Eckart) und einem antwortenden „Er“ (Hitler) basiert, wird Eisners negative Rolle als jüdischer Revolutionär im München der Revolutionszeit ebenfalls unterstrichen: „Noch jede Umwälzung,“ sagte er, „ob schlechter oder guter Tendenz, hat sich unter jüdischer Führung entwickelt. Die Umwälzungen von gemeiner Anlage waren überhaupt Judenwerk und die von edler bekamen durch den Juden sehr bald den Dreh in sein trübes Fahrwasser.“ „Kurt Eisner,“ bestätigte ich aus Erfahrung, „wehrte sich hier in München sogar mit Händen und Füssen dagegen, Salomon Kosmaowski zu heissen. Er hiess aber doch so.“46
Eisner hätte die Revolution laut weiterer Schilderungen in Eckarts Werk dazu genutzt, sich persönlich zu bereichern und riesige Vermögen ins Ausland schaffen lassen. Darüber hinaus wurde seine Erklärung zur deutschen Kriegsschuld nicht als „Politik der Wahrheit“, wie sie oben beschrieben wurde, verstanden, sondern vielmehr als Verrat am deutschen Vaterland. Im Namen des Bolschewismus habe er als Ministerpräsident zudem dafür gesorgt, die deutsche Arbeiterschaft in den Bann der Revolution zu ziehen und für die Ziele des Weltjudentums auszubeuten: „Allen Augen sichtbar, gebietet auch in Deutschland der Jude. O Arbeiter! Sich so übertölpeln zu lassen.“47 Der Zusammenhang zwischen Revolution und Judentum wird auch in Hitlers Mein Kampf (1925) unterstrichen, denn in Bayern herrschte in diesen revolutionären Tagen 1918/19 der „internationale Jude“, welcher als „beauftragter Vertreter des Judentums“48 dafür sorgen sollte, den neu gegründeten Freistaat vom Rest des Reiches zu lösen und damit den Untergang Deutschlands einzuleiten. Die Nationalsozialisten waren sicherlich nicht die einzigen, die Eisner als jüdischen sowie „landfremden“ Revolutionär brandmarkten,49 aber in der nationalsozialistischen Ideologie, die die Revolution als Verrat am deutschen Volk stilisierte und als Element der judäobolschewistischen Verschwörung gegen Deutschland immer wieder benutzte, nahm der bayerische Ministerpräsident deshalb eine durchaus wichtige Stellung ein. Als der Völkische Beobachter am 8. November 1928 an die Revolution erinnerte, sprach Wilhelm Weiß (1892–1950) gar vom „Eisner-Putsch“.50 Eisner bezeichnete der Autor des Artikels als einen „aus dem […] Osten kommende[n] Jude[n]“ bzw. einen „jüdischen Usurpator“,51 den man im November eigentlich 45 Vgl. Eckart (1924): Bolschewismus. Ernst Nolte hat diese Quelle ausführlich untersucht und ihr eine gewisse Glaubwürdigkeit bescheinigt. Zwar haben die Gespräche sicherlich nicht exakt so stattgefunden, wie sie in Eckarts Buch wiedergegeben werden, ähnliche Diskussionen zwischen ihm und Hitler sind allerdings mehr als wahrscheinlich, vgl. Nolte (1961): Quelle, S. 606. 46 Eckart (1924): Bolschewismus, S. 26. 47 Ebd., S. 48. 48 Hitler (1939): Kampf, S. 307. 49 Vgl. etwa Frankfurter Zeitung, 6. November 1928. 50 Weiß, Wilhelm: Der Eisner-Putsch. Zur Erinnerung an den 7./8. November 1918, in: Völkischer Beobachter Nr. 260 vom 8. November 1928, S. 1, BA-SAPMO, NY 4060/152-2, Bl. 217. 51 Ebd.
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nicht aus seiner Haft in Folge des Januarstreiks hätte entlassen dürfen. Unglücklicherweise hätte man „dem in Stadelheim hinter Schloß und Riegel sitzenden Revolutionshetzer wieder die Freiheit geschenkt, von der er umgehend den programmäßig vorgesehenen Gebrauch machte.“52 Die Furcht vor einer Bolschewisierung Deutschlands saß seit den Tagen der Revolution bei vielen Menschen tief und die Medien der Weimarer Republik, allen voran die Publikationen des nationalsozialistischen Spektrums, setzten Narrative fort, laut derer die Gefahr russischer Verhältnisse drohe. Dabei knüpfte die Berichterstattung an Darstellungen an, die schon im Zuge der Revolution und des Transformationsprozesses vom Deutschen Kaiserreich hin zur Weimarer Republik verwendet worden waren.53 Viele Leserinnen und Leser in Bayern dürften sich in den 1920er Jahren zudem noch an die Warnungen erinnert haben, die von Seiten der Regierung, etwa dem Ministerium für Land- und Forstwirtschaft im April 1919, mit Blick auf die Gefahr des Bolschewismus geäußert worden waren: Bauern, die letzten Wochen haben Euch gezeigt, wie das wahre Gesicht des Bolschewismus aussieht. Er hat die Maske fallen lassen und grinst Euch an, nicht anders als das schreckliche Kriegsgespenst, das wir glücklich gebannt zu haben glaubten. Leichen von verhungerten und ermordeten Menschen, brennende Dörfer zeigen den Weg, den Rußland gegangen ist. Auch in unserm Bayernland will er sich breit machen, hineingetragen von gewissenlosen, fremdländischen, wahnwitzigen Menschen.54
Ein Artikel der Kitzinger Zeitung vom 11. April 1919 – also bereits aus der Zeit der bayerischen Räterepublik – erklärte, dass der Bolschewismus lediglich auf den aufgepeitschten Instinkten der ewig Unzufriedenen [fuße], auf dem allmählig ins Blut übergegangenen und dort kreisenden Haß der Ausgebeuteten, mit den eisernen Linien des Elends im Gesicht, jener, die die eisenglitzernde Luft der Fabriken in sich hineingefressen, das kalte Lächeln des für die Ausbeuter verarbeiteten Stoffes empfunden und die Marschklänge des Uebermuts der dominierenden Gesellschaftskreise gehört haben. 55
Eisner hätte den Unmut dieser „ewig Unzufriedenen“ schließlich genutzt, um im Auftrag Moskaus die Revolution über Bayern zu bringen und zu versuchen, es ins Chaos zu stürzen. Dabei hätte sich der provisorische Ministerpräsident bolschewistischer Ideen bedient, um in ochlokratischer Manier den Niedergang des neuen Freistaates, ganz im Sinne Lenins, herbeizuführen, denn, so der oben zitierte Artikel weiter: „Man kann die werdende Kraft verstehen, die dieses System für die untersten Schichten der Gesellschaft hat, für jene Entwurzelten, die nichts zu verlieren und nur zu gewinnen haben. Nach den bolschewistischen Lehren muß die heutige Gesellschaftsordnung zugrunde gerichtet werden.“56
52 Ebd. 53 Vgl. Rürup (1993): Revolution. 54 Ministerium für Land- und Forstwirtschaft, gez. Steiner, Aufruf, Bamberg, 19. April 1919, Staatsarchiv Würzburg (StArch WÜ), Landratsamt Miltenberg 3. 55 Balling (1919): Grundlagen, S. 1. 56 Ebd.
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Der Nationalsozialismus konnte sich mit Blick auf Eisner folglich eines breiten Repertoires bereits existierender Verunglimpfungen des- bzw. negativer Ansichten über denselben bedienen und setzte in relevanten Publikationen dieselben schlichtweg fort. Es galt nicht, etwas Neues zu erfinden, um Eisner und damit die Revolution in ein negatives Licht zu rücken, sondern vielmehr wurden bestehende antidemokratische Beurteilungen und ebenso Ängste aus den Tagen nach dem Ersten Weltkrieg und auf dem Weg zur Weimarer Republik zu einem Konglomerat vermengt, das das Ende der letztgenannten forderte, weil diese schlussendlich als Konstrukt einer jüdischen Verschwörung, welche die Revolution genutzt hatte, um Deutschland zu schaden, dargestellt werden konnte. Ein Beispiel für die semiotisch-semantische Verquickung dieser Ideen findet sich in einer Sondernummer des Illustrierten Beobachters vom 20. Oktober 1927, in der die „Börsenrevolution des Jahres 1918“ eingehend betrachtet wird.57 Auf der Titelseite prangt ein Foto der Kundgebung auf der Münchner Theresienwiese am 7. November 1918, von wo aus die Revolution in Bayern unter Eisners Führung ihren Lauf nehmen sollte, welches sehr eindeutig unterschrieben ist: „Der Ausgangspunkt der Judenrevolution!“ Die Vermengung anti-revolutionärer, d.h. auch gegen die Weimarer Republik gerichteter, Ressentiments mit antisemitischen Ideen ist hier offensichtlich, dürfte für die Leserinnen und Leser allerdings nicht wirklich neu gewesen sein, da derlei Verschwörungstheorien, wie oben bereits eingehender aufgeführt, seit dem November 1918 in verschiedener Form Verbreitung gefunden hatten. Die nationalsozialistische Presse58 verstand sich gewiss als Aufklärer, denn es galt, diesen Zusammenhang immer wieder in die Öffentlichkeit zu tragen: Wir Nationalsozialisten begreifen, daß das ausschlaggebende parlamentarische Schieber-Gesindel aller Spielarten ein verdammtes Interesse daran besitzt, alles was mit der Revolution des Jahres 1918 zusammenhängt, möglichst zu vertuschen und andererseits alles rücksichtslos zu bekämpfen, was sich die Beseitigung der Folgen der 1918-Revolution zum Ziele gesetzt hat.59
Aus nationalsozialistischer Perspektive musste jedem einigermaßen denkenden Menschen klar sein, dass „der Sieg der November-Revolte die ungeheuerste Volksberaubung mit sich [brachte], die je ein Volk der Erde über sich ergehen lassen mußte.“60 Landfremde Juden, „jene Ausgeburt der Menschheit […], die vom ersten Tage der Revolution an in ganzen Zügen aus dem Osten nach Deutschland hereinströmte“,61 wurden als Drahtzieher und Hintermänner der Revolution präsentiert, einer Revolution deren einziger Zweck „die Zerschlagung der militärisch-politi-
57 Vgl. Die Börsenrevolution des Jahres 1918. In: Illustrierter Beobachter Nr. 20 vom 20. Oktober 1927, BA-SAPMO, NY 4060/152-2, Bl. 178–185. 58 Vgl. dazu einleitend: Stöber (2010): Presse. 59 Gestalten der Revolution. In: Illustrierter Beobachter Nr. 20 vom 20. Oktober 1927, Bl. 178 RS-179, S. 274f., hier S. 274. 60 Ebd. 61 Ebd.
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schen Macht Deutschlands“ gewesen sei, „um das wehrlose Volk der ungehinderten Ausplünderung zuführen zu können.“62 Die Revolution wurde als Ursache allen Übels, unter dem Deutschland seit dem November 1918 litt – was die Weimarer Republik per se natürlich einschloss – dargestellt und, so die Bewertung weiter, es „mußte und konnte die Revolution nicht die Befreiung des arbeitenden Volkes aus den Klauen des Kapitalismus bringen, sondern erst recht die Versklavung und Unterdrückung unter die vereinigten Ausbeuter und Sklavenhalter der Erde.“63 Dass diese „Ausbeuter und Sklavenhalter der Erde“ die Vertreter des internationalen Finanzjudentums waren, musste nicht weiter vertieft werden. Interessant ist hierbei, dass sowohl antibolschewistische als auch antikapitalistische Elemente miteinander verwoben wurden und ein Verschwörungsmythos geschaffen wurde, der gleichermaßen Antikommunismus und Antikapitalismus vereinte und mit dem Judäobolschewismus eine Propagandastrategie schuf, die im nationalsozialistischen Lager je nach Bedarf mehr oder weniger scharf auf beide oder eines der Elemente abzielten. In diesem Kontext verwundert es gleichfalls nicht, dass erneut ein Bild Eisners abgedruckt wurde, der wieder als Beispiel der „revolutionären Ostjuden“ des Jahres 1918 genannt wird. Unter seinem Porträt heißt es dabei: „Kusmanowski, genannt Eisner“64 Doch nicht nur die „Gestalten der Revolution“, sondern auch die revolutionären Ereignisse und ihre Auswirkungen wurden in ihrer Gesamtheit als negativ dargestellt, eine Bewertung, die sich dabei ebenso gegen die Weimarer Republik mit all ihren „Lastern“ richtete: „Anstatt sozialer und gesundheitlicher Besserung“ befördere diese „Perversitäten, u.a. die ‚Vermännlichung‘ der Frau“ und in der Kunst greife „[a]n Stelle von Schönheit und Würde Afterkunst und Bolschewisierung aller Begriffe“ um sich.65 Unter der Abbildung einer Jazzband heißt es weiter: „Selbst in der Musik zeigen sich die Früchte der revolutionären Umstellung in einer Form, daß einem das Grausen kommt.“66 Gleichzeitig wurde in der Sonderausgabe darauf hingewiesen, dass der post-revolutionäre Mensch der Weimarer Republik nur noch Zeuge des eigenen Niedergangs, der eigenen „Kretinisierung“ werden könne, sofern sich das deutsche Volk nicht von der Knechtschaft der Ordnung, geprägt von „Negerkultur und Barbetrieb, Aufhebung der Prostitutionskontrolle und des Abtreibungsparagraphen“,67 befreie, die die „Judenrevolution“ 1918 etabliert hätte: Im Spiegel der Kunst, der Literatur, des Kinos, des Modemagazins erscheint das bunte Prisma des Lebens unserer Tage, entschuldigt, idealisiert, ausgeglichen, zur Nachahmung empfohlen, von Gewissensskrupeln befreit, entspannt, entladen, entseelt, im Rausch der Entfesselung, im Nihilismus der Triebe. Das endliche Produkt dieses Zersetzungsprozesses aber ist der wurzel-
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Ebd., S. 275. Ebd. Ebd. Was die Revolution verbrochen und gebracht hat. In: Illustrierter Beobachter Nr. 20 vom 20. Oktober 1927, Bl. 181RS–182. 66 Ebd., Bl. 182. 67 Ebd.
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lose, heimatlose, ruhelose, zwischen nervenzerrüttender Arbeit und nervenaufpeitschendem Genuß schwankende Zivilisationskrüppel und Asphaltprolet. 68
Das Beispiel der post-revolutionären Sowjetunion habe doch schließlich in den letzten zehn Jahren eindrücklich bewiesen, wohin eine „jüdische Diadochenwirtschaft“ unter der Herrschaft „rassefremde[r] Despoten“69 führe müsse. Dass dieser Betrachtungsweise ebenfalls eine klare Feindschaft zur Weimarer Republik zugrunde lag, muss hier nicht eingehender betrachtet werden, sondern erklärt sich schon aus der historischen Entwicklung des Nationalsozialismus bis 1933. 3. SCHLUSSBETRACHTUNG Die Revolution von 1918/19 und einer ihrer „Märtyrer“, Kurt Eisner, wurden in der Weimarer Republik zu zentralen Elementen im Kampf um die Deutungshoheit über die Geschichte. Eisners Bild blieb, wie schon in der Revolutionszeit selbst, ambivalent. Die einen würdigten seinen Drang zur Wahrheit und den unbedingten Wunsch, einen politischen sowie gesellschaftlichen Neuanfang gegen alle Widerstände zu wagen, während vor allem die nationalsozialistische Presse in Eisner den Prototypen eines landfremden, jüdischen, von der Entente bezahlten, pro-bolschewistischen Verschwörers erkennen wollte, der versucht hatte, Deutschland in den Abgrund zu stürzen. Diese Interpretation diente gleichermaßen als Blaupause für die Weimarer Republik, die als Ergebnis der „Judenrevolution“ schon von Beginn an verdorben war. Die in ihrer Existenz bedingten Veränderungen hätten folglich schnellstmöglich revidiert werden müssen. Nach 1933 wurden diejenigen, die an eine „neue Zeit“ geglaubt hatten und als Advokaten des deutschen Republikanismus identifiziert worden waren, ebenso wie die Weimarer Republik, die als Ergebnis des Judäobolschewismus entlarvt werden konnte, weiterhin verunglimpft. In seinem Artikel zur „Fratze des Marxismus“70, der 1935 in der SS-Zeitung Das Schwarze Korps erschien, beschreibt SS-Hauptscharführer Fritz Köhler die Folgen der Revolution von 1918/19 und setzt diese in Relation zum seitherigen sozio-kulturellen Niedergang, für den Männer wie Kurt Eisner, Heinrich Mann, oder Kurt Tucholsky (1890–1935) verantwortlich wären: „Ungehemmt schütteten diese Menschen den Schmutzkübel über das deutsche Volk aus und setzten damit nur das Werk Marx’, der ja alle Grundsätze von Sitte und Moral als bürgerliche Vorurteile bezeichnete, fort.“71 Das internationale Judentum habe, so der Artikel weiter, den Marxismus schließlich nur als Mittel zum Zweck genutzt, um Deutschland und seine Bevölkerung zu schwächen und zu degenerieren, einem Ziel, dem sich lediglich der Nationalsozialismus entgegengestemmt hätte:
68 Ebd. 69 10 Jahre Sowjet-Juden Diktatur. In: Illustrierter Beobachter Nr. 20 vom 20. Oktober 1927, Bl. 185RS. 70 Vgl. Köhler (1935): Fratze, S. 14. 71 Ebd.
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Frank Jacob Der Marxismus durchdrang nicht nur Kunst, Literatur, Film und Theater mit seinem Geist, unterwühlte nicht nur den Staat als solchen, sondern er versuchte auch in die Familie einzudringen und sie seinen Zielen dienstbar zu machen. Die praktische Verwirklichung dieser Gedankengänge übernahm in der Hauptsache das Judentum. Überall planmäßiger Einsatz der Kräfte: In Literatur, Presse, Theater und Film […] So vernichtete der Marxismus mit Hilfe des internationalen Judentums planmäßig und zielbewußt die Fundamente des Staates und erniedrigte damit den Menschen zum Tier, das als höchsten Lebenszweck nur den Kampf ums Dasein kannte. Der Bolschewismus zerstörte eine Kultur, ohne eine neue bilden zu können. Daraus ergab sich für den Nationalsozialismus die Aufgabe, erst einmal wieder gesunde Grundlagen zu schaffen, die einer Kultur Möglichkeiten der Entfaltung bieten. 72
Die einzige Alternative zu einer bolschewistischen Zukunft Deutschlands war demnach der Nationalsozialismus, der damit auch all jenen eine alternative Zukunftsvision offerierte, die sich nicht mit Eisner und der Weimarer Republik identifizieren wollten, sondern sich nach nationaler Stärke und einem über allen Dingen stehenden Führer sehnten. Die Revolutionärinnen und Revolutionäre des Jahres 1918 wurden zu „Novemberverbrechern“ und aus „Märtyrern“ für eine bessere Zukunft wurden die Vorboten des Unheils, welches Deutschland seit dem Ende des Ersten Weltkrieges fest umschlossen zu halten schien, so zumindest die nationalsozialistische Interpretation der Geschichte. Dass Eisner, ebenso wie viele andere Revolutionärinnen und Revolutionäre sich selbst gar nicht als jüdisch wahrgenommen hatte, spielte dabei, vor allem in der späteren rasseideologischen Deutung des Nationalsozialismus, gar keine Rolle mehr, denn „alternative Wahrheiten“ dominierten längst, ab 1933 dann unangefochten, den Diskurs über seine Rolle während sowie die Revolution per se. Alles wofür Eisner sich eingesetzt hatte, die Ideale für die er sich stark gemacht hatte, allen voran die Wahrheit, wurden pervertiert und die Hoffnungen einer neuen Zeit in einem Meer aus Lüge und Gewalt ertränkt. Die „rote Träne“ des Jahres 1918/19 verschwand schließlich in der „braunen Welle“ von 1933. ARCHIVARISCHE QUELLEN Bundesarchiv, Berlin-Lichterfelde: Nachlass Eisner NY4060/64 NY 4060/79 NY 4060/152-1 NY4060/151-2 Stadt- und Stiftsarchiv Aschaffenburg: Nachlass 8 Staatsarchiv Würzburg: Landratsamt Miltenberg 3
72 Ebd.
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DIE FAUD(S) IM RUHRAUFSTAND Die Rekonstruktion einer medialen Gewaltdebatte Lion Reich Am 13. März 1920 fand in Berlin der sogenannte Kapp-Putsch1 statt. In dessen Folge kam es nicht nur zur Flucht der amtierenden SPD-geführten Reichsregierung, sondern auch zu einem deutschlandweiten Generalstreik der arbeitenden Bevölkerung. Trotz der sonstigen Uneinigkeiten und Streitereien riefen die sozialistischen und proletarischen Parteien, Verbände und Gewerkschaften gemeinsam zu diesem Generalstreik auf. Im industriellen Ruhrgebiet gingen die Arbeiter*innen sogar noch weiter. Es kam zum bewaffneten Aufstand, der sich nicht nur gegen die reaktionären, rechten Kapp-Putschisten richtete, sondern auch gegen die SPD-geführte Regierung um Gustav Bauer und die verhasste Reichswehr, die von Reichswehrminister Gustav Noske (SPD) geleitet wurde. Im Ruhrgebiet rangen verschiedene radikalere Arbeiterparteien und Gewerkschaften um die Vorherrschaft. So waren große Teile der Arbeiter*innenschaft in den Parteien USPD, den Unabhängigen, der KPD(S) und deren eigener Opposition KAPD organisiert.2 Doch auch Gewerkschaften spielten in der politischen Landschaft eine wichtige Rolle, vor allem die sogenannten freien Gewerkschaften und die Freie Arbeiter Union Deutschlands (Syndikalisten) (FAUD(S)). Letztere hatte um 1920, mit ca. 150.000 Mitgliedern, ihren quantitativen Höhepunkt. Außerdem bildete das Ruhrgebiet neben Berlin und Mitteldeutschland ein Zentrum des revolutionären bzw. Anarcho-Syndikalismus in Deutschland.3 Aus diesen Gründen taucht die sonst eher selten erwähnte FAUD(S)
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Über die Benennung des Putsches wird gestritten. Während zeitgenössisch und in älterer Literatur die kurze Variante Kapp-Putsch üblich war, versuchen neuere Forschungsbeiträge mit Formulierungen wie Kapp-Lüttwitz-Putsch oder Kapp-Lüttwitz-Ludendorff-Putsch auf weitere Akteure und die eher begrenzte Rolle von Kapp hinzuweisen. Vgl. beispielsweise Könnemann / Schulze (2002): Kapp-Lüttwitz-Ludendorff-Putsch. Im Folgenden wird im Sinne einer Historisierung die kurze Formel: „Kapp-Putsch“ aus der Sprache der Zeitgenoss*innen übernommen, ohne dass dabei die Ergebnisse der neueren Forschung ignoriert werden. SPD: Sozialdemokratische Partei Deutschlands, USPD: Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands; KPD(S): Kommunistische Partei Deutschlands (Spartakusbund); KAPD: Kommunistische Arbeiter-Partei Deutschlands. Revolutionärer Syndikalismus und Anarcho-Syndikalismus können synonym verwendet werden. Aufgrund fehlender anderer syndikalistischer Traditionen in Deutschland erscheint auch Syndikalismus als spezifisch genug und wird im Folgenden benutzt. Vgl. Döhring (2017): Anarcho-Syndikalismus, S. 15–18.
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in der Forschungsliteratur zum Ruhraufstand4 recht häufig auf. Ihr wird meist eine wichtige Rolle in Generalstreik und Aufstand zugeschrieben, häufig ohne diese Rolle näher zu erläutern. Während der Generalstreik noch mit der Programmatik und den Idealen der FAUD(S) konform geht, tritt ein bewaffneter Aufstand mit diesen in einen Konflikt. Denn als pazifistische und anti-autoritäre Organisation lehnte sie prinzipiell Gewalt, wie auch die Übernahme des Staates im Sinne einer Diktatur des Proletariats, ab. Trotzdem beteiligten sich große Teile der organisierten Syndikalist*innen an dem Aufstand. In den darauffolgenden Wochen und Monaten bildete dieser Widerspruch Stoff für eine öffentlich geführte Diskussion im FAUD(S)-eigenen Organ: Der Syndikalist. Der Frage, wie die Syndikalist*innen mit diesem Widerspruch umgingen, will dieser Beitrag auf den Grund gehen. Nach einer knappen Darstellung der FAUD(S) im Ruhrgebiet, deren Zielen und Vorstellungen sowie dem Forschungsstand zu ihrer Rolle im Ruhraufstand, folgt eine Rekonstruktion dieser eben erwähnten Strategie- und Gewaltdebatte einer bisher wenig beachteten Arbeiter*innenorganisation der Weimarer Republik. Die vorgebrachten Ideale, aber auch pragmatischen Argumente zeigen sowohl die Hoffnungen der Arbeiter*innen auf eine bessere Welt nach der Revolution, als auch deren Begrenztheit in einer von Krisen bestimmten Frühphase der Weimarer Republik, in der häufig eher die Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner und Kräften der Reaktion auf der Tagesordnung standen. 1. FORSCHUNGSÜBERBLICK Die Forschung zur FAUD(S) ist vergleichsweise übersichtlich. Dabei können zwei Monographien als die wichtigsten, überregionalen Studien angesehen werden. Zum einen die 1969 erschienene und 1993 neu aufgelegte Arbeit von Hans Manfred Bock zu Syndikalismus und Linkskommunismus und die 1994 erschienene Monographie zur Geschichte der FAUD von Hartmut Rübner.5 Ein neuerer Beitrag ist die Arbeit von Helge Döring, Anarcho-Syndikalismus aus dem Jahr 2017, die sich mit der internationalen Bewegung des Anarcho-Syndikalismus auseinandersetzt.6 In Bezug auf die Situation im Ruhrgebiet ist ein Aufsatz von Jürgen Jenko von 2013 zu nennen, der den Anarcho-Syndikalismus im Ruhrgebiet zwischen 1918
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Auch hierfür gibt es verschiedene Bezeichnungen wie Märzaufstand, Ruhrkrieg oder Ruhrkampf. Märzaufstand ist als parallele Bezeichnung zu anderen Konflikten in der frühen Weimarer Republik, wie beispielsweise den Januarkämpfen, zu sehen. Mit der Bezeichnung Ruhrkrieg soll auf den angeblichen Bürgerkriegscharakter des Konflikts hingewiesen werden, während Ruhrkampf als Bezeichnung die Problematik der Verwechslung mit dem Konflikt um die alliierte Ruhrbesetzung 1923 nach sich zieht. Die inzwischen recht etablierte Formulierung Ruhraufstand scheint somit am unproblematischsten und soll in dieser Arbeit Verwendung finden. Vgl. Bock (1993): Syndikalismus und Rübner (1994): Freiheit und Brot. Vgl. Döhring (2017): Anarcho-Syndikalismus.
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und 1922 betrachtet.7 Ulrich Klan und Dieter Nelles setzten sich in ihrem erstmals 1986 erschienenen Buch mit der Situation der rheinischen Anarcho-Syndikalist*innen in der Weimarer Republik und unter der Herrschaft des Nationalsozialismus auseinander.8 Für diesen Beitrag spielen neben Literatur zum Anarcho-Syndikalismus auch Forschungen über den Ruhraufstand eine wichtige Rolle. Hierin wird die FAUD(S) häufig als maßgebliche Akteurin benannt, dann aber mit Informationen gespart. Auch zum Ruhraufstand muss auf ältere Literatur verwiesen werden, da es an neuerer Literatur zum Thema mangelt.9 Für diesen Beitrag wurde hauptsächlich die Monographie aus dem Jahre 1974 von George Eliasberg zur Hilfe genommen. Hans Ulrich Ludewig setzt sich ausführlich mit der Frage der Gewalt und den verschiedenen Konflikten und Aufständen der frühen Weimarer Republik auseinander. Er hat den Fokus aber auf den Arbeiterparteien und klammert somit die FAUD(S) gewissermaßen aus. Das dreibändige Werk von Lucas Erhard zur Märzrevolution, wie er den Aufstand nennt, ist zwar sehr ausführlich, aber aufgrund seines affirmativen Charakters kritisch zu lesen.10 Eine Studie ist besonders zu nennen, da sich alle Beiträge zum Thema, insbesondere zur Rolle der Syndikalist*innen im Ruhraufstand, immer wieder auf sie bezogen. Sie wird gerne zurate gezogen, da sie Zahlen zu den beteiligten Syndikalist*innen liefert und auf eine Reihe von Quellen zurückgreift, die heute nicht mehr genutzt werden können, wie beispielsweise Zeitzeugen oder verschollene Dokumente. Es handelt sich um den Beitrag von Gerhard Colm, der schon 1921 erschien.11 Der sehr geringe zeitliche Abstand hat neben den eben genannten Vorteilen, die Quellenlage betreffend, auch Nachteile. So können nicht die heutigen Standards der modernen Geschichtswissenschaft beziehungsweise der Soziologie erwartet werden, außerdem fehlt Zeitgenoss*innen manchmal die nötige Distanz zur Objektivierung. Im Falle Colms sei aber angemerkt, dass er in seiner Einleitung ausführlich über diese Probleme und über die benutzten Quellen reflektiert.12 Weder die Literatur zur FAUD(S) noch die zum Ruhraufstand misst dem Prinzipienbruch der Syndikalist*innen oder der darauffolgenden Diskussion Bedeutung zu. Da diese Diskussion jedoch maßgeblich für die zukünftige Haltung und damit mitunter für den Niedergang der Gewerkschaft verantwortlich war, versucht der vorliegende Beitrag diese Lücke zu schließen.
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Vgl. Jenko (2013): Arbeiterradikalismus, S. 175–194. Man beachte Fußnote fünf, in der Jenko einige andere lokal- und regionalhistorische Studien angibt, die sich nicht auf das Ruhrgebiet beziehen. 8 Vgl. Klan / Nelles (1990): Flamme. 9 Zuletzt, nach dem Verfassen des Beitrags, im Kontext des 100. Jahrestag erschienen: Gietinger (2020): Kapp-Putsch. 1920 – Abwehrkämpfe – Rote Ruhrarmee und Pöppinghege (2019): Republik im Bürgerkrieg. 10 Vgl. Eliasberg (1974): Ruhrkrieg; Ludewig (1978): Arbeiterbewegung und Aufstand; Lucas (1970): Märzrevolution. Bd. 1; ders. (1973): Märzrevolution. Bd. 2 und ders. (1973): Märzrevolution. Bd. 3. 11 Vgl. Colm (1921): Geschichte des Ruhraufstandes. 12 Vgl. ebd., S. 7–10.
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Im Folgenden werden Entstehung und Prinzipien der anarcho-syndikalistischen Gewerkschaft kurz dargestellt. Dies erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern soll vielmehr dazu dienen, die später dargestellte Diskussion besser einordnen und verstehen zu können. 2. ENTSTEHUNGSGESCHICHTE DER FAUD(S) Im Kaiserreich bildete sich eine anarchistische Bewegung als vorerst interne Opposition innerhalb der Sozialdemokratie heraus. Die sogenannten Jungen wandten sich gegen die parlamentarische Vertretungspolitik der SPD und setzten sich für mehr arbeits- bzw. klassenkämpferische Methoden ein. Diese Methoden, allen voran der Streik, ließen sich zwar gut durch marxistische Theorie begründen, waren aber trotzdem nicht das Mittel der Wahl innerhalb der SPD, was 1891 zum Ausschluss der Jungen führte. Der nur für kurze Dauer bestehende Verein Unabhängiger Sozialisten (VUS) unternahm schließlich, nach der Übernahme des Presseorgans Der Sozialist durch Gustav Landauer, eine Hinwendung zum Anarchismus. Als Alternative zum abgelehnten Parlamentarismus suchte die Bewegung die Nähe lokal organisierter Berufsverbände und Gewerkschaften, den Lokalisten.13 Diese dezentral organisierten Lokalisten schlossen sich 1901 zur Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften (FVdG) zusammen. Trotzdem blieben sie föderalistisch organisiert, was eher daran lag, das preußische Vereinsgesetz umgehen zu wollen, als an einer Rezeption föderalistischer Theorien aus anderen europäischen Ländern. In der FVdG waren nicht nur Anarchist*innen organisiert, sondern durchaus auch Sozialdemokrat*innen. Zum Bruch mit der SPD kam es erst ab 1908. Maßgeblich war die Massenstreikdebatte, die vor allem von Raphael Friedeberg gegen die SPD geführt wurde. Es ging um die Kampfmittel, die auf dem Weg zum Sozialismus genutzt werden sollten. Friedeberg empfahl den Generalstreik, andere Streiks und den Boykott. Aber auch die Organisation der Maifeiern gaben Anlass zur Diskussion. Der Generalstreik hatte für ihn neben dem ökonomischen Kampf auch eine erzieherische Komponente, die Förderung der Solidarität des Proletariats.14 Ein weiterer wichtiger Stichwortgeber war Fritz Kater,15 der als Geschäftsführer der FVdG die Kampfmittel der Direkten Aktion16 empfahl. In Deutschland hatte als ers13 Vgl. Rübner (1994): Freiheit und Brot, S. 13–21 und Bock (1976): Radikalismus in Deutschland, S. 38–73. 14 Vgl. Rübner (1994): Freiheit und Brot, S. 27f. 15 Fritz Kater (1861–1945) war Gründungsmitglied der FVdG und Herausgeber des FVdG Organs Die Einheit. Später wurde er Vorsitzender der Berliner Geschäftskommission der FAUD(S), war wiederum als Herausgeber von Der Syndikalist tätig und leitete den gleichnamigen Verlag. 16 Unter Direkter Aktion versteht man Handlungen, die direkt von den Arbeiter*innen ohne Repräsentanz vollzogen werden. Beispiele hierfür sind neben dem Streik auch Sabotage oder passive Resistenz. Andere Direkte Aktionen sind Handlungen, die direkt die Forderung umsetzen, beispielsweise die Einstellung der Arbeit nach acht Stunden im Kampf um den Achtstundentag. Vgl. Linse (1982): Formen anarchistischer Gewaltanwendung, S. 252–255 und 260f.
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ter Arnold Roller diese anarcho-syndikalistischen Methoden rezipiert.17 Dieser war Mitglied in der Anarchistischen Föderation Deutschlands (AFD). Nach der Hinwendung der FVdG zum Syndikalismus vertraten die FVdG und die AFD zwar ähnliche Ideale, doch befürchtete die AFD durch die Fokussierung auf Gewerkschaftsarbeit eine Reduzierung der anarchistischen Idee auf die Ökonomie. So kam es nur auf lokaler Ebene zur Kooperation der beiden Organisationen.18 Der Erste Weltkrieg war auch für die FVdG eine Zäsur, da sie wegen ihrer antimilitaristischen Propaganda verboten wurde.19 Nach dem Krieg gab es Bemühungen, die FVdG wieder zu beleben. Als erster wichtiger Schritt ist die Herausgabe des neuen Presseorgans Der Syndikalist durch Fritz Kater in Berlin zu nennen, welche ab Dezember 1918 wöchentlich erschien und die Einigkeit ablöste. Die Freie Vereinigung profitierte im darauffolgenden Jahr davon, dass viele Arbeiter*innen von den Parteien enttäuscht waren, aber auch von der revolutionären Stimmung nach der Revolution in Russland, die den Anarchist*innen ebenso vorerst als Vorbild diente, und der Revolution im eigenen Land. Obwohl man anfangs noch offen gegenüber den linken Parteien war, gab es auf Seiten der KPD(S) und der USPD schnell Abgrenzungspolemiken gegenüber den Syndikalist*innen. Im Dezember 1919 kamen in Berlin 109 Delegierte, die beachtliche 111.675 Mitglieder vertraten, zum zwölften Syndikalisten-Kongress zusammen. Dieser Kongress sollte an die Vorkriegsgeschichte des FVdG anknüpfen, wurde aber zum Gründungskongress der FAUD(S).20 Der neue Name verband die Flügel der eher kommunistisch ausgerichteten Unionist*innen und die anarchistischen Syndikalist*innen. 3. DIE PRINZIPIEN DER FAUD(S) Nicht nur ein neuer Name wurde auf dem Kongress angenommen, sondern auch eine Prinzipienerklärung, die im Vorhinein von Rudolf Rocker21 ausgearbeitet und den Mitglieder*innen im Syndikalist vorgestellt wurde.22 Die Prinzipienerklärung bildete in der Folgezeit die Grundlage des Handelns für die Syndikalist*innen und ist damit für die später untersuchte Diskussion im Syndikalist maßgeblich. Aus der beschriebenen Entstehungsgeschichte der FAUD(S) lassen sich einige Ideale der Syndikalist*innen ablesen. Als Erstes ist die Abkehr vom Parlamentarismus zu nennen, was zu einem strikten Antiparlamentarismus führte. Ein weiterer 17 Übernommen wurden die Ideen von den Syndikalist*innen in Frankreich und Spanien. Vgl. Klan / Nelles (1990): Flamme, S. 17f. 18 Vgl. Rübner (1994): Freiheit und Brot, S. 23–32. 19 Vgl. ebd., S. 33. 20 Vgl. ebd., S. 33–36. 21 Rudolf Rocker (1873–1958) kann als spiritus rector des deutschen Anarcho-Syndikalismus angesehen werden. Dafür ist die genannte Prinzipienerklärung maßgeblich. In den folgenden Jahren war er als verantwortlicher Redakteur von Der Syndikalist tätig und trat mit einer Vielzahl von Publikationen vor allem im gleichnamigen Verlag in Erscheinung. 22 Vgl. „Der Syndikalist“ 1 (1919), H. 50.
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Punkt, der in Deutschland erst durch Repression ausgelöst und später theoretisch unterfüttert wurde, ist der Aufbau föderalistischer Gewerkschaften oder Berufsverbände. So blieb die FAUD(S) föderalistisch, in lokalen Gruppen und nach Berufen aufgegliedert. Als Kampfmittel galt die Direkte Aktion, die neben kleineren Streiks, Sabotage und Ähnlichem vor allem den Generalstreik als Mittel der Wahl ansah. Ebenso klang bereits der Antimilitarismus beziehungsweise Pazifismus an. Rocker geht in der Erklärung ebenfalls auf diese Punkte ein: Die Syndikalisten sind der Meinung, daß politische Parteien, welchem Ideenkreis sie auch angehören, niemals imstande sind, den sozialistischen Aufbau durchführen zu können, sondern daß diese Arbeit nur von den wirtschaftlichen Kampforganisationen der Arbeiter geleistet werden kann.23
Wie bei anderen Sozialist*innen auch stand der Kampf gegen den Kapitalismus bei den Syndikalist*innen im Vordergrund. Obwohl diese marxistisch geschult waren, zeigt sich in Rockers Ausführung deutlich die Orientierung an der Theorie Kropotkins von der Gegenseitigen Hilfe in der Tier- und Menschenwelt:24 Die gesellschaftliche Klassenteilung und der brutale Kampf „Aller gegen Alle“, diese charakteristischen Merkmale der kapitalistischen Ordnung, wirken in der selben Zeit auch degenerierend und verhängnisvoll auf den Charakter und das Moralempfinden des Menschen, indem sie die unschätzbaren Eigenschaften der gegenseitigen Hilfe und des solidarischen Zusammengehörigkeitsgefühls, jene kostbare Erbschaft, welche die Menschheit aus den frühen Perioden ihrer Entwicklung übernommen hat, in den Hintergrund drängen und durch krankhafte antisoziale Züge und Gewohnheiten ersetzen, die im Verbrechen, in der Prostitution und in allen anderen Erscheinungen der gesellschaftlichen Fäulnis ihren Ausdruck findet. 25
Neben der Ausbeutung der Arbeitskraft im Kapitalismus liefert der moralische Verfall, den die kapitalistische Konkurrenzgesellschaft mit sich bringt, einen Kritikpunkt. Diesem soll durch Direkte Aktionen begegnet werden, da diese neben dem wirtschaftlichen Kampf auch eine erzieherische Wirkung auf die Massen hätten, allem voran der soziale Generalstreik. Nach Rocker tritt der Staat vor allem als Mittel des Kapitals auf, um die Eigentumsverhältnisse und Produktionsweise mit der nötigen Gewalt zu verteidigen, und wird konsequenterweise ebenso abgelehnt. Dieser Antietatismus grenzt die Syndikalist*innen stark von anderen radikalen Sozialist*innen und Kommunist*innen ab, da in der marxistischen Lehre die Übernahme des Staates durch das Proletariat gefordert wird. Dieser Punkt wurde auch auf der Konferenz der Syndikalist*innen in Berlin diskutiert, auf der Rocker seine Position noch einmal deutlich machte: Versteht man unter der Diktatur des Proletariats nichts anderes als das Ergreifen der Staatsgewalt durch eine gewisse Partei – und Diktatur ist stets Herrschaft einer Partei, niemals Herrschaft einer Klasse –, so sind wir grundsätzlich Gegner der sogenannten proletarischen Diktatur, aus dem einfachsten Grunde, weil wir Gegner des Staates sind. 26
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Ebd. Vgl. Kropotkin (1902): Gegenseitige Hilfe. „Der Syndikalist“ 1 (1919), H. 50. Zitiert nach: Rübner (1994): Freiheit und Brot, S. 37.
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Obwohl die Prinzipienerklärung auf dem Kongress angenommen wurde, stellte sich gerade dieser Punkt während der Geschehnisse des Ruhraufstands und in den Folgejahren immer wieder als diskussionswürdig dar. Der Kampf gegen den Kapitalismus und den Staat soll laut Rocker nicht durch Verstaatlichung – diese führe nur zum Staatskapitalismus, nicht zum Sozialismus – wohl aber durch Vergesellschaftung der Produktionsmittel vonstattengehen. In Hinblick auf die Entwicklung der Sowjetunion und das Scheitern der internationalen Arbeiter*innensolidarität im Ersten Weltkrieg erscheint der nächste Punkt, der Antinationalismus der FAUD(S), bemerkenswert. Die Syndikalisten verwerfen alle willkürlich gezogenen politischen und nationalen Grenzen; sie erblicken im Nationalismus lediglich die Religion des modernen Staates und verwerfen prinzipiell alle Bestrebungen zur Erzielung einer sogenannten nationalen Einheit, hinter der sich doch nur die Herrschaft der besitzenden Klassen verbirgt. 27
Zusammenfassen lassen sich die Prinzipien der Syndikalist*innen in: Antiparlamentarismus, Antikapitalismus, Antietatismus, Antimilitarismus und Antinationalismus. Gewaltlosigkeit wird nicht explizit als Prinzip formuliert, diese kann aber aus der Ablehnung jeglicher Beherrschung von Menschen über Menschen und aus dem Antimilitarismus abgeleitet werden. Die abgelehnten Strukturen sollten mithilfe föderalistisch organisierter Gewerkschaften bekämpft werden, die durch Direkte Aktionen und deren erzieherische Effekte auf die Vergesellschaftung der Produktionsmittel und somit auf die Abschaffung der Ausbeutungs- und Gewaltverhältnisse von Kapital und (National-)Staat hinwirken sollten.28 4. DIE FAUD(S) IM RUHRAUFSTAND Wenige Monate nach der Gründung der FAUD(S) am 13. März 1920 kam es zum Putsch in Berlin. Die Marinebrigade Ehrhardt marschierte auf die Hauptstadt zu und nahm sie kampflos ein. Die Regierung, bestehend aus SPD, DDP und Zentrum, musste nach Stuttgart fliehen, da die Reichswehrleitung nicht gegen die Putschisten vorgehen wollte. Der militärischen Gewalt beraubt, besann sich die SPD auf ihre proletarische Tradition und rief, gemeinsam mit den beiden anderen Arbeiterparteien KPD(S) und USPD und den Gewerkschaften zum landesweiten Generalstreik auf. Große Teile der Arbeiter*innenschaft folgten dem Aufruf. 29 Im Ruhrgebiet wurden, mit Ausnahme lebenswichtiger Betriebe, alle Betriebe bestreikt. Häufig solidarisierte sich auch das Bürgertum mit den Arbeiter*innen oder verhielt sich zumindest abwartend passiv. Gleichzeitig kam es zu großen Demonstrationen in verschiedenen Städten und dabei auch schon zu Zusammenstößen zwischen den
27 „Der Syndikalist“ 1 (1919), H. 50. 28 Vgl. zum gesamten Abschnitt: Rübner (1994): Freiheit und Brot, S. 36–40 und Bock (1993): Syndikalismus, S. 153–160. 29 Vgl. Klan / Nelles (1990): Flamme, S. 76f. und Eliasberg (1974): Ruhrkrieg S. 35–45.
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Streikenden und Polizei sowie Einwohnerwehren. Colm nennt für Duisburg beispielhaft 18 Tote und 54 Verletze.30 Obwohl die Reaktion der Arbeiter*innen aus einer ex post Betrachtung sehr entschlossen aussieht, gab es verschiedene Stimmen, die sich vorerst dagegen aussprachen, sich in die Angelegenheiten der „Bourgeoisie“ in Berlin einzumischen. Auch die Arbeiterparteien, vor allem die zwei radikaleren Parteien USPD und KPD(S) und deren linkskommunistische Abspaltung, die spätere KAPD, waren sich anfangs nicht einig. Doch war der Streikwille der Arbeiter*innenschaft so groß, dass die taktischen Bedenken mancher Kader kaum Beachtung fanden.31 Neben den Arbeiterparteien spielten als zweite wichtige Organisationsform die Gewerkschaften eine große Rolle. Die FAUD(S) war inzwischen zumindest lokal, wie im Ruhrgebiet, zu einer Massenorganisation geworden.32 Im Ruhrgebiet waren in den verschiedenen Städten unterschiedliche Organisationen führend, so gab es auch Zentren der FAUD(S) wie beispielsweise Mühlheim. Noch kurz vor dem Kapp-Putsch schätzte Augustin Souchy in einem programmatischen Leitartikel: „Revolution – Diktatur – Sozialismus“, erschienen im Syndikalist, die Syndikalist*innen im Ruhrgebiet als starke Kraft ein: Im Ruhrgebiet wären vielleicht die Syndikalisten so stark, dass sie unter günstigen Umständen diese Taktik durchzuführen in der Lage wären. Kommen wir also in nicht zu langer Zeit zu einer neuen Revolution, dann können die Arbeiter sich dort in den Besitz der Gruben setzten, ohne auf eine Order vom Staate oder von einer Zentralinstanz aus Berlin oder von anderswo zu warten.33
Es war zu erwarten, dass sich die revolutionär eingestellten Syndikalist*innen an dem Generalstreik, der als wichtigste Kampfmethode angesehen wurde, in großer Zahl beteiligten. In den nächsten Tagen überschlugen sich die Ereignisse an Rhein und Ruhr. Die Arbeiter*innen versuchten sich vielerorts zu bewaffnen, um sich gegen anrückende Reichswehr- und Freikorps-Einheiten wehren zu können. Gleichzeitig übernahmen sie durch die Bildung von Vollzugsräten die lokale Macht. Die Reichswehr-Einheiten wollten ihrer Ansicht nach häufig nur für „Ruhe und Ordnung“ sorgen und mussten sich in Verhandlungen mit den bewaffneten Arbeiter*innen für oder gegen den Putsch in Berlin positionieren. Beim ersten größeren Konflikt in Wetter zeigte sich, dass diese Positionierung häufig mit alten Loyalitäten zusammenhing. Der Hauptmann Otto Hasenclever antwortete auf die Frage, auf wessen Boden seine Einheit stehe, mit dem bekannten Ausspruch, er stehe auf dem Boden des Generalleutnants von Lüttwitz und unterschrieb somit für sich und Teile seiner Einheit das Todesurteil.34 Die Reichswehrsoldaten wurden isoliert und von den zahlenmäßig stark überlegenen Aufständischen aufgerieben. Mit Siegen, wie diesem in Wetter, gewannen die Arbeiter*innen nicht nur Selbstvertrauen und 30 Vgl. Colm (1921): Geschichte des Ruhraufstandes, S. 25f. 31 Vgl. ebd., S. 25–27 und Eliasberg (1974): Ruhrkrieg, S. 69–72. 32 Jenko nennt für 1920/21 ca. 150˙000 Mitglieder*innen im ganzen Reich. Vgl. Jenko (2013): Arbeiterradikalismus, S. 179–188. 33 „Der Syndikalist“ 2 (1920), H. 10. 34 Vgl. Colm (1921): Geschichte des Ruhraufstandes, S. 31–34.
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Respekt beim Gegner, sondern erlangten immer mehr Waffen und Kriegsmaterial für weitere Kämpfe. Sie drängten die Reichswehr aus dem Ruhrgebiet zurück und waren schnell als Rote Armee, beziehungsweise in der Forschung häufig auch als Rote Ruhrarmee, bekannt. Nach der Kapitulation der Putschisten in Berlin, ließ wiederum die Regierung Reichswehr und Freikorps im Ruhrgebiet einmarschieren, beendete nach blutigen Kämpfen und Massakern den Aufstand und siegte gegen die Rote Armee.35 Grundsätzlich ist sich die Forschung heute einig, dass es sich nicht um eine Armee im eigentlichen Sinne handelte. Gründe hierfür sind fehlende Uniformen, klare Hierarchien und Befehlsketten, unzureichende Ausrüstung und Ähnliches.36 Die Zeitgenoss*innen jeglicher politischer Couleur sprachen trotzdem von der Roten Armee, was folgende Gründe hat: Der Aufstand sich bewaffnender Arbeiter*innen wurde so sprachlich größer gemacht, als er tatsächlich war. Vor allem das ausgeprägte Sanitätswesen – durch Arbeiterinnen organisiert – wird hierbei als Argument für den hohen Organisationsgrad der ‚Armee‘ angeführt. Auf Seiten der Reichswehr konnte man sich so für die peinlichen Niederlagen rechtfertigen. Gleichzeitig wurde von Regierung und Reichswehr darauf hingewiesen, dass die Aktion von kommunistischer Seite von langer Hand geplant und durchgeführt worden war. In Verbindung mit dem Namen Rote Armee konnte hiermit an die weit verbreitete Angst vor dem Bolschewismus in der Bevölkerung angeknüpft werden.37 Das wiederum rechtfertigte die blutige Niederschlagung und den Einsatz von Freikorps, die sich zuvor noch am Putsch beteiligt hatten. Zusätzlich wurden die kämpfenden Arbeiter*innen auch als „plündernde rote Horden“ und „Banditen“ dargestellt. Die kommunistischen Kader waren ähnlich ambivalent, so würde eine straff organisierte, kommunistisch geführte Armee eine hohe Kompetenz der Partei beweisen, gleichzeitig müsste man sich dann noch mehr für die blutige Niederlage rechtfertigen.38 Über die Zusammensetzung der Roten Armee macht Colm in seiner Studie recht ausführliche Angaben. Er bemüht sich dabei, vor allem Behauptungen der politischen Rechten zu widerlegen und zeigt, dass es sich nicht nur um Russen oder „unreife junge Burschen“39 handelte. In Bezug auf die FAUD(S) ist eine vielzitierte Statistik wichtig, nach der 44,9% der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter*innen der FAUD(S) angehörten und 53,2% den freien Gewerkschaften.40 Diese Zahlen werden in der Forschungsliteratur immer wieder angebracht, um die große Zahl der beteiligten Syndikalist*innen zu belegen.41 Aufgrund der sehr kleinen Stichprobe können die Zahlen nicht ohne Weiteres als repräsentativ angesehen wer35 Vgl. ebd., S. 27–46 und 135–141 und Eliasberg (1974): Ruhrkrieg, S. 79–97 und 231–248. 36 Vgl. Eliasberg (1974): Ruhrkrieg, S. 103f. 37 Vgl. Gerwarth / Horne (2013): Bolschewismus als Fantasie, S. 94–107 und Colm (1921): Geschichte des Ruhraufstandes, S. 56–61. 38 Vgl. Eliasberg (1974): Ruhrkrieg, S. 103–105 und Bock (1993): Syndikalismus, S. 288–291. 39 Colm (1921): Geschichte des Ruhraufstandes, S. 49. Vgl. zur Zusammensetzung: S. 48–50. 40 Vgl. ebd. 41 Vgl. Eliasberg (1974): Ruhrkrieg, S. 126, Rübner (1994): Freiheit und Brot, S. 135 und Bock (1993): Syndikalismus, S. 292.
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den.42 Nichtsdestotrotz ist die Annahme, dass sich auch Syndikalist*innen in nicht geringer Zahl an dem Aufstand beteiligten, nicht von der Hand zu weisen. Das zeigt die im Folgenden untersuchte interne Diskussion. Ebenso interessiert Colm die Motivation der „Rote Armee“-Kämpfer*innen. Er führt hierbei massenpsychologische Gründe an, positive, wie die mitreißende Kraft solcher Massenaktionen, aber auch negative, wie der Hass auf die Reichswehr und „die Noskes“. 43 Außerdem sei ein ausgeprägtes Klassenbewusstsein sinnstiftend gewesen, da durch den Putsch die Klassengegensätze wieder klarer zum Vorschein kamen und damit gleichzeitig einen Solidaritätszwang auslösten. Hinzu kämen, laut Colm, vereinzelt „selbstsüchtige Beweggründe“, der Reiz, Macht auszuüben oder sich in den Wirren zu bereichern.44 Das alles sind Beweggründe, die durchaus auch für Syndikalist*innen attraktiv erscheinen können. Vor allem wenn man bedenkt, dass die anfängliche Beteiligung am Generalstreik in die politische Programmatik der FAUD(S) passte. Sicher sind die aufgeführten massenpsychologischen Mechanismen wirksam, trotzdem widerspricht die Beteiligung an einem bewaffneten Aufstand und die Kooperation mit den Parteien den zuvor beschriebenen Idealen der Syndikalist*innen. Dies spiegelt sich in der Debatte wider, die in den Folgemonaten im Syndikalist vom Zaun gebrochen wurde. 5. DIE GEWALTDEBATTE IN DER SYNDIKALIST Als Erster nahm Rudolf Rocker eine Woche nach dem Kapp-Putsch, am 20. März 1920, noch vor Niederschlagung des Aufstandes, eine Einordnung der Ereignisse unter dem Titel „Die große Lehre“ im Syndikalist vor. Von Berlin aus betrachtete er freilich nicht nur die besonderen Geschehnisse im Ruhrgebiet, sondern versuchte eine überregionale Perspektive einzunehmen. Er zog ein positives Resümee, in dem er vor allem darauf verwies, dass der Generalstreik dazu geführt hatte, dass der Putsch gescheitert war. Dies verifiziere gewissermaßen die Theorie der Syndikalist*innen und nicht zuletzt Rockers selbst, die den Generalstreik als mächtigstes und wichtigstes revolutionäres Mittel propagierten. Mit Schadenfreude stellte er fest, dass selbst die SPD-Regierung, die davor mit allen (gewalttätigen) Mitteln versucht hatte, Streiks einzudämmen, dies anerkennen musste, um im „Generalstreik als politisches Kampfmittel ihre Zuflucht“45 zu finden. Die bewaffneten Auseinan42 Colm gibt an, dass er die Zahlen aus Listen der Unterstützungsaktion für die Opfer des Ruhraufstands hatte. Dabei seien bei 374 Namen die gewerkschaftliche und bei 149 Namen die politische Zugehörigkeit angegeben gewesen. Die politische Zugehörigkeit verteilte sich demnach wie folgt: SPD: 10,7%, USPD: 58.4%, KPD: 30,9%. Vgl. Colm (1921): Geschichte des Ruhraustandes, S. 49. 43 „[…] damit bezeichnete man alles, was Uniform trug, und nicht nur für Unabhängige und Kommunisten war das ein Schlachtruf, sondern auch für manchen Mehrheitssozialisten und ‚Christlichen‘.“ Ebd., S. 52. 44 Vgl. ebd., S. 50–56. 45 „Der Syndikalist“ 2 (1920), H. 12.
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dersetzungen verschwieg er zwar nicht, fand aber „diese Kämpfe, wie berechtigt und unvermeidlich sie immer gewesen sind, waren nur eine Begleiterscheinung, die im Generalstreik ihren wesentlichen Ausdruck fand.“46 Kritischer sah Rocker, dass sich die Arbeiter*innenschaft nach gelungener Abwehr des Putsches wieder in ihre (parteipolitische) Fragmentierung aufsplittete und sich anstatt der Vergesellschaftung von Produktionsmitteln zu widmen, sich um die Mitarbeit im bürgerlichen Staat und die „Harmonie zwischen Kapital und Arbeit“ bemühte. Die Aufgabe der Syndikalist*innen sah er darin, weiter an der kulturellen Erziehung des Proletariats zu arbeiten, um somit zukünftige Generalstreikbewegungen noch erfolgreicher zu gestalten.47 In der gleichen Ausgabe findet sich unter der Überschrift: „Neuer Generalstreik im Ruhrrevier“ eine kurze Einschätzung der Lage im Revier. Darin wurde auf die vermeintlich unerfüllbaren Forderungen des Bielefelder Abkommens48 hingewiesen und sie endete mit einem gleichermaßen pessimistischen wie realistischen Blick in die nahe Zukunft: „Der Militarismus ging aus den Tagen des Kapp-LüttwitzPutsches neu gestärkt hervor, die Militärkaste will Rache nehmen für ihre Niederlage. Wir gehen grauenhaften Tagen entgegen!“49 Ein weiterer Artikel schimpfte auf die „Lügenpresse“. Diese, nicht nur die bürgerliche, sondern auch die sozialdemokratische, suche die Schuld für den Aufstand bei den Syndikalist*innen. Der Autor des Artikels stellte aber fest, dass die FAUD(S) als einzige Arbeiter*innenorganisation konsequent pazifistisch sei und beschlossen hätte, bei einem monarchistischen Putsch nur mit Arbeitsniederlegungen, statt mit bewaffnetem Kampf zu reagieren. Obwohl er noch keine Kenntnisse zu den Ereignissen im Ruhrrevier habe, wies er darauf hin, dass die dort organisierten Syndikalist*innen zeitgleich in den Arbeiterparteien Mitglied seien und auf deren Geheiß kämpfen würden. Denn, so betonte er zum Schluss: „Der Kampf der Syndikalisten ist ein zweifacher: ein Kampf mit geistigen und wirtschaftlichen Mitteln. Wer andere Mittel gebraucht, zeigt damit, daß er sich noch nicht völlig zum Syndikalismus durchgerungen hat.“50 Hier zeigen sich unterschiedliche Positionen. Während Rocker entlang der politischen Linie den Generalstreik hervorhob und die bewaffneten Auseinandersetzungen als Begleiterscheinung degradierte, diese dafür aber als notwendig beschrieb, 46 Ebd. 47 Vgl. ebd. 48 Das Bielefelder Abkommen wurde auf einer Konferenz zwischen Vertretern der SPD-Regierung und lokalen Vollzugsräten, Stadtverwaltungen und Vertretern der Parteien und Gewerkschaften beschlossen. Ziel war eine friedliche Lösung des Konflikts und die Rückgabe der Macht an die Staatsgewalt. Dabei zeigten sich Spaltungen innerhalb der Arbeiter*innenbewegung. Während die gemäßigte USPD dem Abkommen zustimmte, wollten KPD und die Syndikalist*innen Nachverhandlungen und lehnten das Abkommen ab. Nachdem die Reichswehr, die nicht Teil der Verhandlungen war, dann noch ein nicht einzuhaltendes Ultimatum für die Entwaffnung der Arbeiter*innen aussprach, riefen KPD und Syndikalist*innen erneut zum Generalstreik auf. Das Abkommen und die Hoffnung auf eine friedliche Lösung scheiterten. Vgl. Winkler (1993): Weimar, S. 131–134 und Eliasberg (1974): Ruhrkrieg, S. 173–182. 49 „Der Syndikalist“ 2 (1920), H. 12. 50 Ebd. Hervorhebung i. O.
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zeigt sich im zuletzt zitierten Artikel das klare Bekenntnis zum Antimilitarismus und somit die Ablehnung jeglicher gewaltsamen Methoden. Für die nächste Nummer des „Syndikalisten“ schrieb wieder Rocker den Leitartikel. Darin versuchte er durch eine ideengeschichtliche Herleitung die Begriffe Rätesystem und Diktatur zu trennen. Diese Begriffe würden im Sinne der „Diktatur des Proletariats“, die sich im Rätesystem verwirkliche, von marxistischer Seite aus häufig zusammen gedacht. Das sei aber falsch, denn während sich das Rätesystem aus dem freiheitlichen Sozialismus heraus entwickelte, sei die Diktatur Produkt der Bourgeoisie und abzulehnen. Ob er diese scharfe Abgrenzung zu den marxistischen Arbeiterparteien aufgrund der Ereignisse im Ruhrgebiet noch einmal vornahm, bleibt Spekulation, ist aber denkbar. In einem weiteren Artikel mit dem Titel: „Aus den Tagen des monarchischen Putsches“ wird von den Kämpfen im Rhein / Ruhrgebiet und Mitteldeutschland berichtet. Stolz wird über den bewaffneten Sieg der Arbeiter*innen über die Reaktion erzählt. Sowohl über die „Parteipfaffen“, die die Verhandlungen in Bielefeld führten, als auch über die SPD-geführte Regierung, die wie alle Regierungen reaktionär sei, wird geschimpft. Die Haltung dieser Parteien und ihr Zusammenspiel mit Reichswehr und Freikorps lässt für die Autoren die blutige Niederschlagung der bis dahin siegreichen Arbeiter*innenschaft, unausweichlich erscheinen. Der Tenor lässt deutlich erkennen, dass Syndikalist*innen unter den Kämpfenden waren, was nicht kritisch, sondern positiv gesehen wurde.51 In der Nummer 14 desselben Jahrgangs finden sich zwei Artikel über den Generalstreik und ein Artikel über den Antiparlamentarismus. Der erste Artikel setzte sich mit Carl Legien, dem Vorsitzenden des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB), auseinander. Ähnlich wie gegenüber der SPD wurde hier zynisch und schadenfroh kommentiert, dass Legien, als eigentlicher Gegner des Generalstreiks, zu diesem aufrief. Im zweiten Artikel „Generalstreik als Waffe, seine Wirkung und Lehre“ wurde nicht ohne Stolz erklärt, dass das syndikalistische Kampfmittel Generalstreik, so erfolgreich eingesetzt worden war. Trotzdem sei die Erziehung zum Sozialismus nach syndikalistischen Idealen noch nicht weit genug vorangeschritten, was sich daran zeige, dass auch Teile des Proletariats, ähnlich wie die reaktionären Putschisten, darauf hofften, mit Gewalt die Macht zu übernehmen. Der Autor endete mit den Worten: „Erst Revolutionierung des Hirns, dann die soziale Revolution.“52 Im dritten Artikel gab Fritz Kater, Vorsitzender der Geschäftskommission und Herausgeber des Syndikalist, eine klare Aufforderung zum Austritt aus den Parteien. Er zitierte aus der Prinzipienerklärung die Ablehnung der Parteien und unterfütterte den Antiparlamentarismus mit der Empirie aus den Märzereignissen. Hier hätten sich die falschen Methoden der Parteien gezeigt, die Gewalt und das Paktieren mit dem Klassenfeind. Auch viele Syndikalist*innen hätten sich von den Parteien im Rhein / Ruhr-Industriegebiet zu dem Versuch der gewalttätigen Machtübernahme hinreißen lassen. Kater betonte deshalb nochmals, dass die Syndikalist*innen jegliche Gewalt und Diktatur abzulehnen haben und dass die Über51 Vgl. „Der Syndikalist“ 2 (1920), H. 13. 52 „Der Syndikalist“ 2 (1920), H. 14.
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nahme der Macht oder die Diktatur des Proletariats kein Ziel der FAUD(S) sein könne. Deshalb müsse man sich entscheiden, ob man Mitglied in der FAUD(S) oder in einer Partei sein will.53 In der 16. Ausgabe dieses Jahrgangs wurde die Diskussion weitergeführt. Die Teilnahme am bewaffneten Aufstand sei für Syndikalist*innen unakzeptabel, da diese sich der Gewaltlosigkeit verschrieben hätten. Außerdem sei sie politisch falsch, was das Scheitern der Roten Armee zeige. Die Unvereinbarkeit von Parteienpolitik und syndikalistischer Arbeit wurde erneut betont. Als Grund für die Teilnahme von Syndikalist*innen an bewaffneten Aktionen im Ruhrgebiet wurde neben dem zu großen Einfluss der Parteien, welcher auch auf nun abzulehnende Doppelmitgliedschaften zurückzuführen sei, die Verunmöglichung der syndikalistischen Propaganda und Agitationsarbeit durch die Repressionen von Oskar von Watter54 genannt. Hier setzt neben dem strikten Antiparlamentarismus auch der zweite Lösungsansatz an, die verbesserte Agitation und Organisation des Syndikalismus. Des Weiteren begegnet uns in Ausgabe 16 zum ersten Mal ein Brief von einem syndikalistischen Arbeiter aus dem Ruhrgebiet, genauer aus Kirchhörde, datiert auf den 20. April 1920. Beschrieben wurde darin hauptsächlich die Repression, die er und andere Syndikalisten im von der Reichswehr besetzten Ruhrgebiet zu erleiden hatten. Ob die Beschuldigungen gegenüber ihm und seinen Genossen frei erfunden waren oder nicht, lässt sich ebenso wie seine Haltung zum Aufstand leider nicht klären.55 In den bisher beschriebenen Artikeln ist zumeist die Meinung der Geschäftskommission und der Verantwortlichen für die Herausgabe des Syndikalist deutlich geworden. Im Leitartikel der Nummer 19 wurde mithilfe der oben genannten Argumente und dem Rückbezug auf die Prinzipienerklärung versucht, gegenteilige Meinungen zu widerlegen. Dafür wurden diese abgedruckt. Ein Krefelder Syndikalist schrieb beispielsweise, man wolle sich in Krefeld nicht die Mitgliedschaft in Parteien, hier in der USPD, autoritär von der Geschäftskommission verbieten lassen. Aus Pragmatismus heraus sei es wichtig, sich nicht dogmatisch an das „reinste und vollkommenste“ Programm zu halten, sondern Einigkeit im Proletariat herzustellen. Außerdem sei der Schritt vom Kapitalismus zum föderativen Kommunismus zu groß, weshalb ein Umweg über den Staatssozialismus nötig sei. In Bezug auf die Gewaltfrage äußerte er sich klar: „Alle am Kampf tätig gewesenen Kameraden, auch solche der Union, sind sich klar, daß der Gewalt Gewalt entgegengesetzt werden muß.“56 In einem abgedruckten Brief äußerte sich ein Syndikalist aus Dortmund zu seiner persönlichen Verwicklung und Haltung zum Aufstand. Er hätte
53 Vgl. ebd. 54 Oskar von Watter (1861–1939) war der leitende Kommandeur der Reichswehr im Ruhrgebiet. Während er den Kapp-Putsch begrüßte, wurde er durch sein rücksichtsloses Vorgehen gegen die Aufständischen im Ruhrgebiet berüchtigt. Er war maßgeblich an der blutigen Niederschlagung des Aufstands beteiligt. 55 Vgl. „Der Syndikalist“ 2 (1920), H. 16. 56 „Der Syndikalist“ 2 (1920), H. 19.
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sich nicht an dem Putsch beteiligt, da ihm Gewalt von jeglicher Seite zuwider sei. Trotzdem habe er in dem von den Arbeiter*innen kontrollierten Gebiet Polizeiaufgaben übernommen, hierbei hätte er sich aber auf das Auskunftgeben beschränkt. Er beschrieb starke Repressionen und rechtliche Verfolgung. Doch widersprach er der Anklage, Agitationsarbeit für die FAUD(S) geleistet zu haben, sondern behauptete, er hätte den Genossen lediglich Rechtshilfe gegeben. Bei ihm zeigt sich Prinzipientreue, trotz vermutlich hohem Solidaritätszwang. Dass dies in die Linie der Redaktion des Syndikalist passt, ist vermutlich kein Zufall.57 Die Diskussion um Gewalt ebbte auch Wochen nach dem Aufstand nicht ab. So sah sich die Redaktion des Syndikalist immer noch dazu genötigt, Texte gegen Gewalt zu publizieren. Vor allem Fritz Oerter tat sich mit mehreren Artikeln in verschiedenen Ausgaben hervor. In diesen deklarierte er die Gewalt als politische Sinnlosigkeit, die nur zu Gewaltmissbrauch führe. Außerdem seien der Generalstreik und die Gewaltlosigkeit die einzigen Mittel, der Gewalt ein Ende zu bereiten. Ernst Kieselwetter argumentierte ähnlich, für ihn führe Gewalt nur zu Gegengewalt. Als Beispiel diente immer wieder Ungarn, welches in diesen Jahren von revolutionärer und gegenrevolutionärer Gewalt überzogen wurde. Als konkrete Handlungsanweisung gegen Gewalt wurde die Verweigerung von Heeresdienst, Herstellung von Kriegsgerät sowie Transport von Waffen und Munition unter anderem nach Ungarn gefordert.58 Die nächste Ausgabe, die sich mit dem Thema Gewalt auseinandersetzte, ist die Nummer 39. Auf dem Titelbild findet sich eine Zeichnung. Während eine Arbeiterin mit einer Flagge samt Aufschrift: „Nieder mit der Gewalt“ die Statue des Militarismus vom Sockel stößt, stehen sich darunter Soldaten und Arbeiter*innen gegenüber. Die Arbeiter*innen, zumeist unbekleidet, bekämpfen die Soldaten nicht, sondern zerstören die Waffen, die ihnen in die Hände fallen. Das geschieht nicht ohne Opfer aufseiten der Arbeiter*innen. Während diese Karikatur in dieselbe Kerbe schlug wie die Texte von Oerter, kam in der Beilage zur selben Nummer eine andere Stimme zu Wort. Ein Syndikalist aus Mühlheim (Ruhr) positionierte sich deutlich gegen Oerter. In seinem Artikel: „Klassenkampf und Bürgerkrieg!“ argumentierte er für die Notwendigkeit bewaffneter Aktionen im Nachgang an einen Generalstreik, wie es im Ruhrgebiet geschehen war. Auch wenn er selbst kein Freund von Gewalt sei, halte er sie für unausweichlich, da sich die Herrschenden auf Gewalt stützten. Der Glaube an die Gewalt, die Gewißheit der Anwendung derselben durch die Herrschenden, läßt auch bei uns die Erkenntnis reifen, uns aufzuraffen und den Klassenkampf in seiner höchsten Potenz, den Bürgerkrieg, als unausbleiblich zu betrachten, wollen wir nicht den Massentod, den sicheren Untergang als Klasse. 59
57 Vgl. „Der Syndikalist“ 2 (1920), H. 20, Beilage. 58 Vgl. „Der Syndikalist“ 2 (1920), H. 30; H. 31 Beilage; H. 32; H. 33 und H. 35. 59 „Der Syndikalist“ 2 (1920), H. 39.
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Nach dem Bürgerkrieg und der „Zertrümmerung des Klassenstaates“ breche dann „der Tag der Gewaltlosen“ an.60 Fünf Wochen später, in der Nummer 44 wurde ein Bericht von einer Konferenz in Mülheim (Ruhr) von Syndikalist*innen aus Rheinland-Westfalen abgedruckt. Auf dieser Konferenz wurde ausführlich die Gewaltfrage diskutiert. „Die Gewalt, so wurde erklärt, könne aus bestimmten historischen Bedingungen notwendig sein“,61 wurde dabei festgehalten. Und auch wenn man organisierte Gewalt, wie Staatsgewalt, zertrümmern wolle, sei jedes Mittel recht, den Kapitalismus anzugreifen. Diese Argumentation wurde von dem Teil der Delegierten hervorgebracht, der sich für „bedingte Gewalt“ aussprach. Ihnen gegenüber stand die Gruppe der Gewaltlosen. Auf der Konferenz trat auch ein Herr Cahn aus Berlin als Referent auf, um eine Lösung für den Konflikt zu finden. Dieser versuchte vor allem dadurch die Notwendigkeit von Gewalt zu widerlegen, indem er darauf hinwies, dass für eine wirkliche Veränderung eine Erziehung hin zu den Idealen notwendig sei. Außerdem sei der Klassenfeind an seiner schwächsten Stelle, der Wirtschaft, die von den Arbeiter*innen betrieben werde, am erfolgreichsten zu bekämpfen. Da am Ende des Referats keine Gegenargumente mehr hervorgebracht wurden, ging man davon aus, dass die Seite der absolut Gewaltlosen gewonnen habe. Ob die Gegenseite wirklich überzeugt wurde oder die Syndikalist*innen durch die strikte Haltung viele Mitglieder*innen an die kommunistischen Organisationen verloren, bleibt offen.62 Zusammenfassend können folgende Punkte aus der Diskussion, die sich in den Wochen und Monaten nach den Ereignissen im März 1920 entfaltete, festgehalten werden. Einig war man sich darüber, dass der Generalstreik äußerst erfolgreich war. Das entsprach nicht nur den Idealen und Einschätzungen der Syndikalist*innen, sondern zeigte, dass dieser sowohl als wirtschaftliches als auch politisches Kampfmittel von Nutzen ist. Doch wurde für die Autor*innen deutlich, dass die syndikalistische Erziehung noch nicht weit genug vorangeschritten war. So wurde aus der Massenbewegung des Generalstreiks keine soziale Revolution. Hier setzt die Kritik vieler Artikel an den Syndikalist*innen im Ruhrgebiet ein. Auffallend dabei ist, dass diese Artikel vonseiten der Intellektuellen, wie Rocker und Oerter oder Kater, aus der Geschäftskommission und Redaktion, geschrieben wurden. Die ausgeübte Gewalt im Ruhraufstand wird dabei am stärksten kritisiert. Warum die Syndikalist*innen im Rheinland und Ruhrgebiet nicht nach den erklärten Prinzipien gehandelt haben, sondern der bewaffneten Aktion folgten, erklärten sich die Berliner „Kader“ auch aus der mangelnden syndikalistischen Erziehung. Der Einfluss der Parteien sei zu groß und der Syndikalist war lange im Ruhrgebiet verboten. Als Konsequenz fordern sie die strikte Ablehnung beziehungsweise den Austritt aus den Parteien und eine Verstärkung der Agitation zur Gewaltlosigkeit. Die Vehemenz und die Menge der Artikel, die von dieser Seite aus geschrieben wurden, zeigen, wie schwerwiegend das Problem eingeschätzt wurde, und lassen vermuten, dass
60 Ebd. 61 „Der Syndikalist“ 2 (1920), H. 44. 62 Vgl. ebd.
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große Teile der Syndikalist*innen am bewaffneten Aufstand teilnahmen. Die Argumente der Gegenseite kamen hauptsächlich von Syndikalist*innen aus dem Ruhrgebiet. Eine Ausnahme bildete hier höchstens Rocker, der in seinem frühen Artikel zumindest Verständnis für die bewaffnete Aktion aufbrachte. Obwohl die Syndikalist*innen aus dem Ruhrgebiet durch den bewaffneten Kampf und die Kooperation mit den Parteien mit den Idealen der Gewaltlosigkeit und dem Antiparlamentarismus brachen, sprach sich keiner von ihnen gegen diese Prinzipien aus. Sie alle hielten sie für richtig, entgegneten ihnen aber mit Pragmatismus: Die Einigkeit des Proletariats sei für eine Revolution notwendig und diese sei nur durch Kooperation mit anderen Organisationen möglich. Außerdem müssten die Herrschenden sowie der Kapitalismus mit allen Mitteln bekämpft werden. Und da sich die Herrschenden auf die Gewalt von Polizei und Militär stützten, müsse diese erst gebrochen werden, sonst würde man sich wehrlos ermorden lassen. Zusätzlich sei die Übernahme der Macht zwar abzulehnen, aber vorerst nützlich, um die Fesseln des Kapitalismus abzulegen und somit schrittweise zum föderativen Kommunismus zu gelangen. Während aus Berlin also hauptsächlich Prinzipientreue gefordert wurde, sahen die Syndikalist*innen im Ruhrgebiet die Notwendigkeit auch mit Gewalt – im Einklang mit den anderen Arbeiter*innen – gegen den Putsch der reaktionären, rechten Kräfte vorzugehen. 6. FAZIT Dass unter den Kämpfer*innen der Roten Armee viele Syndikalist*innen waren, wie in der oben genannten Forschungsliteratur behauptet, zeigt die hier dargestellte Debatte recht deutlich. Mit der Teilnahme am bewaffneten Aufstand und der Kooperation mit den Parteien, brachen die Syndikalist*innen aus dem Ruhrgebiet notgedrungen mit den erklärten Prinzipien der FAUD(S). Das lieferte anderen Syndikalist*innen den Anlass für harsche Kritik und theoretische Darstellungen ihrer Ideale in Artikeln des Syndikalist. Auffällig ist, dass die Forderungen nach der Rückbesinnung auf die Prinzipien und Ideale hauptsächlich aus dem intellektuellen Kreis der Geschäftskommission und Redaktion aus Berlin stammten. Dies zeigt sich vor allem in Aufforderungen zur strikten Gewaltlosigkeit und einem verstärkten Antiparlamentarismus. Die syndikalistischen Gruppen aus dem Rheinland und Ruhrgebiet, von denen anzunehmen ist, dass sie am Aufstand beteiligt waren, argumentierten weniger idealistisch als viel mehr pragmatisch. So führten sie die Notwendigkeit von Gewalt zum Sturz der Herrschenden und als Reaktion auf den rechten Putsch als auch eines vereinigten Proletariats auf. Obwohl der Zentralismus und Dogmatismus der Parteien von den Idealisten häufig kritisiert wurde, scheinen sie, selbst ebenso dogmatisch, die lokalen Gruppen im Ruhrgebiet, denen häufig eine zu große Nähe zu den Parteien vorgeworfen wird, abzuschrecken. Der antiautoritäre und föderalistische Aufbau der FAUD(S) forderte damit seine größten Verfechter in Berlin heraus. Darüber hinaus bietet die strikte Forderung nach Einhaltung der anspruchsvollen und nicht immer massentauglichen Prinzipien eine Erklärung für
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den Mitgliederschwund, den die FAUD(S) in den Folgejahren hinnehmen musste.63 Gerade das in Folge der Märzereignisse verstärkte Bekenntnis zum Antiparlamentarismus und die damit einhergehende Wahl zwischen Partei oder FAUD(S) dürfte häufig zugunsten der Parteien getroffen worden sein. Als Erklärung für den rapiden Mitgliederschwund der FAUD(S) sind jedoch zusätzlich zum Märzaufstand auch andere Ereignisse und Bedingungen zu berücksichtigen. Der herausgearbeitete Widerspruch zwischen prinzipieller Gewaltlosigkeit und der Notwendigkeit der Gewaltausübung in gegebenen historischen Verhältnissen, führte zu einer ambivalenten Haltung der Gewerkschaft, die sich in den Folgejahren in neuen Erklärungen und Ausrichtungen wiederfinden lässt. Die Debatte lässt aber nicht nur Rückschlüsse auf die untersuchte Gewerkschaft zu. Zum einen zeigt sie die Spaltung der Gesellschaft in der frühen Weimarer Republik auf, in der sich sozialistische und monarchistische Ideen unversöhnlich gegenüberstanden und mit Kapp-Putsch und Ruhraufstand den Höhenpunkt in einer Reihe von bewaffneten Konflikten fand. Interessant ist, dass beide Seiten die Weimarer Republik als noch nicht gefestigt ansahen und hofften, durch gewaltsame Aktionen ihre konträren Gesellschaftsentwürfe durchzusetzen. Dass die hier behandelten anarchistischen Kräfte ebenfalls eine Umgestaltung der Gesellschaft hin zu ihren Idealen für möglich erachteten, zeigt die Wahrnehmung der Zeitgenossen in der Umbruchphase von Krieg und Revolution in der verschiedenste Gesellschaftskonzepte diskutiert wurden. Deutschland bildete keine Ausnahme, gerade in Ostmitteleuropa kam es nach dem Zusammenbruch der Imperien zu schweren bewaffneten Konflikten, die sich an der Frage, wie die neu zu bildenden Gesellschaften auszusehen haben, entluden. Von ethnischhomogenen Nationalstaaten unter autoritärer Führung über räte-kommunistische und anarchistische Ideen bis hin zum Kommunismus bolschewistischer Lesart war alles denkbar. Zum anderen gibt der Beitrag Einblick in die Presselandschaft der frühen Weimarer Republik. Er zeigt die Trennung zwischen proletarischer und bürgerlicher Presse und inwieweit die proletarische Presse an die Organisationen der Arbeiterbewegung geknüpft war. Obwohl dadurch versucht wurde Linientreue zu erzeugen, sieht man, das zumindest in diesem Fall auch Raum für interne Kritik und konträre Meinung blieb. Auch die Offenheit, mit der radikale politische Vorstellungen und Konzepte, die der parlamentarischen Demokratie der Weimarer Republik feindlich gegenüberstanden, öffentlich diskutiert werden konnten, wird aus der Debatte ersichtlich.
63 Während 1920 der Syndikalist noch eine Auflage von 120.000 Exemplaren hatte, sank die Auflage auf 78.000 Exemplare 1922 bis sie 1924 gar nur noch 25.000 betrug. Vgl. Winkler (1984): Von der Revolution zur Stabilisierung, S. 424.
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ARCHIVARISCHE QUELLEN „Der Syndikalist“, Organ der Freien Arbeiter Union Deutschlands (Syndikalisten), Berlin 1 (1919), H. 50. „Der Syndikalist“, Organ der Freien Arbeiter Union Deutschlands (Syndikalisten), Berlin 2 (1920), H. 12; 13; 14; 16; 19; 20 Beilage; 30; 31 Beilage; 32; 33; 35; 39 und 44.
LITERATUR Bock, Hans Manfred: Geschichte des linken Radikalismus in Deutschland. Ein Versuch, Frankfurt a. M 1976. Ders.: Syndikalismus und Linkskommunismus von 1918 bis 1923. Ein Beitrag zur Sozial- und Ideengeschichte der frühen Weimarer Republik, Darmstadt 1993. Colm, Gerhard: Beitrag zur Geschichte und Soziologie des Ruhraufstandes vom März–April 1920, Essen 1921. Döhring, Helge: Anarcho-Syndikalismus. Einführung in die Theorie und Geschichte einer internationalen sozialistischen Arbeiterbewegung, Lich 2017. Eliasberg, George: Der Ruhrkrieg von 1920. (Schriftenreihe des Forschungsinstituts der FriedrichEbert-Stiftung, Bd. 100), Bonn / Bad Godesberg 1974. Gerwarth, Robert / Horne, John: Bolschewismus als Fantasie. Revolutionsangst und konterrevolutionäre Gewalt 1917 bis 1923. In: dies. (Hrsg.): Krieg im Frieden: paramilitärische Gewalt in Europa nach dem Ersten Weltkrieg, Göttingen 2013, S. 94–107. Gietinger, Klaus: Kapp-Putsch. 1920 – Abwehrkämpfe – Rote-Ruhrarmee, Stuttgart 2020 Jenko, Jürgen: Eine andere Form von Arbeiterradikalismus. Der Anarcho-Syndikalismus im Ruhrgebiet 1918 – 1922. In: Führer et al., Karl Christian (Hrsg.): Revolution und Arbeiterbewegung in Deutschland 1918 – 1920. (Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen, Bd. 44), Essen 2013, S. 175–194. Klan, Ulrich / Nelles, Dieter: „Es lebt noch eine Flamme“. Rheinische Anarcho-Syndikalisten/-innen in der Weimarer Republik und im Faschismus, 2. überarb. Aufl., Grafenau-Döffingen 1990. Könnemann, Erwin / Schulze, Gerhard: Der Kapp-Lüttwitz-Ludendorff-Putsch. Dokumente, München 2002. Kropotkin, Pëtr Alekseevič: Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt. Herausgegeben von Gustav Landauer, Leipzig 1910, zuerst 1902. Linse, Ulrich: „Propaganda der Tat“ und „Direkte Aktion“. Zwei Formen anarchistischer Gewaltanwendung. In: Mommsen, Wolfgang J. / Hirschfeld, Gerhard (Hrsg.): Sozialprotest, Gewalt, Terror. Gewaltanwendung durch politische und gesellschaftliche Randgruppen im 19. und 20. Jahrhundert. (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London, Bd. 10), Stuttgart 1982, S. 237–269. Lucas, Erhard: Märzrevolution im Ruhrgebiet. Vom Generalstreik gegen den Militärputsch zum bewaffneten Arbeiteraufstand: März – April 1920. Bd. 1, Frankfurt a. M 1970. Ders.: Märzrevolution 1920. Der bewaffnete Aufstand im Ruhrgebiet in seiner inneren Struktur und in seinem Verhältnis zu den Klassenkämpfen in den verschiedenen Regionen des Reiches. Bd. 2, Frankfurt a. M. 1973. Ders.: Märzrevolution 1920. Verhandlungsversuche und deren Scheitern, Gegenstrategien von Regierung und Militär, Die Niederlage, Der weiße Terror. Bd. 3, Frankfurt a. M. 1973. Ludewig, Hans-Ulrich: Arbeiterbewegung und Aufstand. Eine Untersuchung zum Verhalten der Arbeiterparteien in den Aufstandsbewegungen der frühen Weimarer Republik 1920 – 1923. (Historische Studien, Bd. 432), Husum 1978.
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PARLAMENT UND ÖFFENTLICHKEIT Politische Berichterstattung zwischen Parteilichkeit, Substanzverlust und antiparlamentarischen Diskursen Timo Leimbach 1. EINLEITUNG Seit der Französischen Revolution, spätestens aber seit Vormärz und Paulskirche war eine Kernforderung der liberal-nationalen Bewegung die Öffentlichkeit der parlamentarischen und landständischen Versammlungen. Diese setzte sich in den deutschen Einzelstaaten nach 1848 sukzessive durch, indem nicht nur Zuschauertribünen eingerichtet, sondern schließlich auch stenographische Sitzungsprotokolle veröffentlicht wurden.1
Abb. 1: „Tribünengäste blicken auf eine Plenarsitzung des Landtags von Thüringen“2
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Vgl. Jahr (2000): Parlament; Habermas (1971): Strukturwandel. Quelle: Ahner, Alfred: Kreide (26,3 x 34,9), Weimar o.J. [zwischen 1928 und 1930], Archiv des Thüringer Landtags Erfurt / Alfred-Ahner-Stiftung Weimar.
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Trotz dieses doppelten Erfolges kann – im modernen Sinne – allenfalls von einer teilweisen oder symbolischen Öffentlichkeit die Rede sein: Einerseits boten die Besucherränge zwangsläufig einen physisch begrenzten Raum, der in der Regel ein lokales, nicht werktätiges Publikum anzog. Andererseits sprachen aber auch die umfangreichen Sitzungsberichte eine sehr überschaubare Leserschaft an. Abgesehen von öffentlichen Institutionen, die die Stenographischen Berichte aufgrund eines bibliothekarischen oder juristischen Interesses archivierten,3 erreichten die Berichte bereits im Kaiserreich nur noch ein äußerst begrenztes (bildungsbürgerliches) Publikum und entwickelten sich zur reinen Studien- oder Nachschlageliteratur.4 Stattdessen kam der zeitgenössischen Presse eine zentrale Mittlerrolle zwischen den Vorgängen innerhalb und der Öffentlichkeit außerhalb des Parlaments zu. Da die Volksvertretungen im Gegensatz zur Exekutive verhältnismäßig spät dazu übergingen, eine eigene Öffentlichkeitsarbeit zu verfolgen (der Bundestag etwa erst ab 1970),5 waren diese einseitig von der Presseberichterstattung abhängig. Folglich kam der Presse eine Schlüsselfunktion in der Außenwahrnehmung des Parlaments zu, die sie als primärer Politikvermittler, aber auch als Meinungsgestalter ausfüllte. Im Folgenden soll diese spannungsreiche Wechselwirkung zwischen Parlament, (Print-)Medien und Öffentlichkeit anhand des Landtags von Thüringen beispielhaft analysiert werden. Hier ergibt sich zugleich ein ausschnittartiges Bild epochenübergreifender Trends und Umbrüche des medialen Massenmarkts in Form von Modernisierung, Kommerzialisierung und zuletzt Substanzverlust der Parlamentsberichterstattung. Dabei kann letzteres sowohl als Reaktion auf die anti-parlamentarischen Diskurse außerhalb des Parlaments als auch als aktiver Beitrag zu denselben gedeutet werden. 2. FRAGMENTIERTE ÖFFENTLICHKEIT: STRUKTUR UND REICHWEITE DER WEIMARER PRESSELANDSCHAFT Charakteristisch für die deutsche Presselandschaft war eine doppelte Fragmentierung, die sich einerseits aus der föderalistische Grundstruktur des deutschen Staates und andererseits aus weltanschaulichen Gegensätzen und politischen Strömungen ergab. Beides hatte seine Wurzeln im 19. Jahrhundert. Hier war die Entwicklung von Presse und Öffentlichkeit mit der Herausbildung des Parteiwesens und der Konsolidierung der sozialmoralischen Milieus verknüpft, woraus sich spätestens im Kaiserreich verschiedene Teilöffentlichkeiten ergaben. Auch nach 1918 dominierte in Deutschland der Typus der parteinahen Gesinnungs- und Meinungspresse. Ein kommerzialisierter, auf Information und Unterhaltung ausgerichteter Medienmarkt, wie er sich zur gleichen Zeit in den USA ent3 4 5
Vgl. Leimbach (2016): Landtag, S. 432–443. Vgl. Biefang (2009): Seite, S. 76–78; Burkhardt (2003): Parlament, S. 455–542. Vgl. Bösch (2012): Parlamente, S. 385.
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Parlament und Öffentlichkeit
wickelte und auch einen investigativen Journalismus („vierte Gewalt“) hervorbrachte, war im Deutschen Reich allenfalls in Ansätzen entwickelt.6 Nicht nur die politische, auch die geographische Fragmentierung setzte sich unterhalb der Reichsebene fort, wo in den Ländern kleine und kleinste Zeitungen mit Auflagen von wenigen Tausend kommerziell wie politisch miteinander konkurrierten. Zwar ordnete sich nur etwa die Hälfte der Tagespresse offen einer Partei oder Weltanschauung zu; jedoch waren auch die sich selbst als „überparteilich“ bezeichnenden Organe fast ausschließlich bürgerlich geprägt und kolportierten liberale bis konservative Ansichten. Besonders die kleinsten, auch inhaltlich auf ihren lokalen Verbreitungsraum begrenzten Blätter neigten trotz fehlender Parteibindung in ihrer Masse zu konservativ-nationalem Gedankengut.7 Zwar wurde diese Fragmentierung durch die aufkommende Massenmedialisierung und ihre milieuübergreifenden Effekte sukzessive aufgelöst, weshalb manche Historiker ab 1918 von einer Öffentlichkeit ausgehen.8 Allerdings handelte es sich hierbei um einen schrittweisen Prozess, der seine volle Wirkung erst mit der Zeit entfaltete, weshalb auch das Konzept der fragmentierten Teilöffentlichkeiten (zunächst) seine Gültigkeit behielt. Dies gilt besonders mit Blick auf die räumliche Dimension, da der Prozess der Massenmedialisierung (und Milieuaufweichung) von den urbanen Zentren ausging und erst danach in die Provinz vordrang. Auflage 1924 1926 1927
>20 000 3 1 –
Periodizität 1927
>15 000 6 1 3
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>5000 20 14 12
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Partei
KPD
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DNVP
1924 1927
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8 10
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