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German Pages 230 [232] Year 2022
Unternehmertum und Politik in der Weimarer Republik
Schriftenreihe zur Zeitschrift für Unternehmensgeschichte
In Verbindung mit Hartmut Berghoff, Andreas Fahrmeir, Christina Lubinski, Mary O’Sullivan, Werner Plumpe und Raymond Stokes Herausgegeben im Auftrag der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte von Carsten Burhop, Jan-Otmar Hesse und Christian Kleinschmidt
Band 36
Unternehmertum und Politik in der Weimarer Republik Aufzeichnungen des Textilindustriellen Gottfried Dierig Herausgegeben und eingeleitet von Stephan H. Lindner und Christian A. Müller
ISBN 978-3-11-077955-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-077970-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-077980-6 ISSN 2509-291X Library of Congress Control Number: 2022931649 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: © Dierig Holding AG Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Danksagung Sehr herzlich möchten wir uns an dieser Stelle bei den Menschen bedanken, die bei der Umsetzung des vorliegenden Editionsvorhabens halfen und beteiligt waren. Unser besonderer Dank gilt dem Staatsarchiv Breslau (Archiwum Państwowe we Wrocławiu), Außenstelle Kamenz (Kamieniec Ząbkowicki), wo sich das hier edierte Dokument befindet. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Außenstelle waren nicht nur während des Forschungsaufenthalts von Stephan H. Lindner ausgesprochen hilfsbereit. Krystyna Drożdż, die Leiterin der Außenstelle des Staatsarchivs Wrocław in Kamieniec Ząbkowicki, gewährte freundlicherweise zudem die Edition dieser Quelle. Ein sehr großer Dank gilt der Leitung der Firma Dierig, vor allem Christian Dierig. Man gewährte uns völlig freien und unbeschränkten Zugang zum Archiv des Unternehmens. Dies erst ermöglichte eine fundierte Edition. Ferner danken wir dem Archiv der Deutschen Bank, namentlich Martin L. Müller, und dem Bundesarchiv, wo wir weitere Akten zu Dierig bzw. zur Wirtschaftsgruppe Textil einsehen durften. Moritz Jonas sei gedankt für die Unterstützung bei der umfangreichen Personenrecherche. Unseren Dank ausdrücken wollen wir auch gegenüber Elżbieta Opiłowska und Krzysztof Ruchniewicz von der Universität Wrocław für ihre hilfreiche Unterstützung. Der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte, vor allem Andrea SchneiderBraunberger, gilt unser Dank, dass die Edition in die Schriftenreihe der Zeitschrift für Unternehmensgeschichte aufgenommen wurde. Last but not least möchten wir Bettina Jung-Lundberg und Sissy Weyrich danken für ihre Unterstützung bei der Fertigstellung dieses Buches. Stephan H. Lindner und Christian A. Müller
https://doi.org/10.1515/9783110779707-001
Inhalt Einleitende Anmerkungen Stephan H. Lindner Provenienz der Aufzeichnungen und biographische Informationen zu Gottfried Dierig 3 Christian A. Müller Formaler Aufbau und Einordnung der Aufzeichnungen Gottfried Dierigs 21 Richtlinien der Edition 31 Verzeichnis der Literatur und der gedruckten Quellen (ohne Zeitschriften und archivalische Quellen) 33
Gottfried Dierig Wirtschaftliche Entwicklung, Lohnpolitik und politische Entwicklung in ihrem Einfluß auf C.D. [Christian Dierig AG] Nach der Währungsstabilisierung 37 Lohnentwicklung 83 Wirtschaftskrise 92 Politik 1928 bis zum Ende der schwarz-rot-goldenen Republik 127 Fortgang und Tiefpunkt der Krise 1930 – 32. Ausblick auf den Aufschwung 1933 143 Anmerkungen 219 Personenregister 221
Einleitende Anmerkungen
Stephan H. Lindner
Provenienz der Aufzeichnungen und biographische Informationen zu Gottfried Dierig Der bedeutende französische Historiker und Mediävist Marc Bloch suchte die Menschen in der Geschichte zu verstehen, ja postulierte das Wort „verstehen“ als „Leitstern“ historischer Forschung.¹ Laut Bloch sei der Historiker immer weniger der „etwas griesgrämige Untersuchungsrichter“, als der er gerne dargestellt würde. Er sei aber auch nicht „leichtgläubig“ geworden, sondern wisse, dass „seine Zeugen sich irren oder lügen können“. Vor allem bemühe ein Historiker sich, seine Zeugen „zum Sprechen zu bringen, um sie zu verstehen“.² Eine wichtige Möglichkeit, Zeugen der Vergangenheit für die Geschichtswissenschaft zum Sprechen zu bringen, ist es, deren schriftliche Darlegungen zu edieren – ob überliefert in Form von Aufzeichnungen, Denkschriften oder Korrespondenzen. Die hier edierten Aufzeichnungen mit dem Titel „Wirtschaftliche Entwicklung, Lohnpolitik und politische Entwicklung in ihrem Einfluß auf C.D.“ befinden sich im Staatsarchiv Breslau (Archiwum Państwowe we Wrocławiu), Außenstelle Kamenz (Kamieniec Ząbkowicki), Nr. 565 „Dierig“ w Bielawie 1905 – 1944 (Firma Dierig Langenbielau), Ordner 14. Und diese Aufzeichnungen aus dem Jahr 1944 verdienen es, ediert zu werden – trotz des Problems der „Masse historischer Quellen“ in der Neuesten Geschichte, die, wie der Historiker Horst Möller schrieb, „eine erkenntnistheoretische Herausforderung ersten Ranges“ darstelle.³ Denn nur selten findet sich ein derartiges Dokument in einem Archiv. Diese Aufzeichnungen sind eine zentrale Quelle über das Verhältnis von Unternehmertum und Politik in der Weimarer Republik und über unternehmerisches Handeln in dieser Zeit: Ein Großunternehmer legt in persönlichen Aufzeichnungen ausführlich, auf nahezu 200 Seiten,
Marc Bloch, Apologie der Geschichtswissenschaft oder der Beruf des Historikers. Nach der von Etienne Bloch edierten französischen Ausgabe herausgegeben von Peter Schöttler, Stuttgart 2002, S. 160. Ebd., S. 102. Horst Möller,Wie sinnvoll sind zeitgeschichtliche Editionen heute? Beispiele aus der Arbeit des Instituts für Zeitgeschichte, in: Quelleneditionen und kein Ende? Symposium der Monumenta Germaniae Historica und der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München, 22./23. Mai 1998, hrsg. von Lothar Gall und Rudolf Schieffer, München 1999 (Historische Zeitschrift, Beiheft 28), S. 93 – 112, hier S. 113. https://doi.org/10.1515/9783110779707-002
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für die Zeit von der Hyperinflation 1923 bis zur Bildung der nationalsozialistischkonservativen Koalitionsregierung unter Adolf Hitler 1933 seine persönlichen Ansichten über Unternehmens- und Industriepolitik dar, berichtet über eigene unternehmerische Strategien und Vorgehensweisen, spricht offen über Mitarbeiter, Kollegen oder Gegner – und formuliert seine politischen Ansichten sowie persönliche Gedanken mit äußerster Freimütigkeit. Diese Freimütigkeit mag auch daran liegen, dass die Aufzeichnungen wohl nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren. Allerdings war der Autor der Aufzeichnungen, Gottfried Dierig, grundsätzlich ausgesprochen offen und geradeheraus in seinen Äußerungen. Dies wird besonders deutlich in seinen nicht wenigen Denkschriften als Unternehmer, die, wie er schrieb, „ihrem Zwecke entsprechend rein negativ“ seien.⁴ Er erläuterte dies: „Zum Verständnis dieser Denkschriften muß bemerkt werden, daß sie keineswegs abgefaßt waren, um unsere Verdienste herauszustreichen, auch nicht einmal, um eine objektive Bestandsaufnahme zu geben, sondern in erster Linie, um die Mängel unserer Geschäftsführung hervorzuheben. Wenn man diese Mängel mit einem leidenschaftlichen Willen zu ihrer Abstellung vorträgt, ergibt es natürlich ein einseitiges Bild mit zahlreichen Überspitzungen.“⁵ Neben der Freimütigkeit ist auch der Entstehungszeitraum der Aufzeichnungen bemerkenswert: Sie wurden zwischen dem 24. Januar und dem 30. Juli 1944 verfasst, also in einer Zeit, als die deutsche Niederlage im Krieg absehbar wurde – nach den verlorenen Schlachten gegen sowjetische Verbände in Stalingrad und Kursk sowie der erfolgreichen Landung der Alliierten in Italien und der Normandie. Zehn Tage vor Abschluss der Aufzeichnungen, am 20. Juli 1944, hatten einige Militärs und Politiker um Claus Schenk Graf von Stauffenberg noch vergeblich versucht, das Regime von innen zu stürzen. Aber nichts davon findet gedanklich Eingang oder gar Erwähnung in den Aufzeichnungen. Überhaupt wird die gesamte Spanne des „Dritten Reichs“ nicht behandelt. Der Autor spekuliert zwar über eine mögliche Koalitionsregierung von Adolf Hitler und Heinrich Brüning, kritisiert die Rolle von Alfred Hugenberg im Präsidentschaftswahlkampf 1932 – und lobt Franz von Papen dafür, dass er einen Bürgerkrieg verhindert hätte, indem er sich für Hitler als Reichskanzler einsetzte. Schließlich erwähnt er am Ende noch kurz den wirtschaftlichen Erfolg des Dierig-Konzerns in den Jahren 1933 – 1941 – konkreter wird er jedoch nicht.
Gottfried Dierig,Wirtschaftliche Entwicklung, Lohnpolitik und politische Entwicklung in ihrem Einfluß auf C.D., 1944, S. 188 im Originaldokument, hier S. 217. Ebd., S. 68 f. im Originaldokument, hier S. 105.
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Verfasst wurden die Aufzeichnungen von Gottfried Dierig, wie aus dem überlieferten Dokument selbst jedoch nicht eindeutig hervorgeht. Es erschließt sich allerdings klar aus den Festschriften der Firma Dierig seit 1955, in denen Gottfried Dierig wiederholt mit einem prägnanten Zitat aus dem Schlussteil der Aufzeichnungen wiedergegeben wird.⁶ Und es ergab sich aus dem Besuch des Archivs der Christian Dierig AG in Augsburg. Dort konnten neben den im Staatsarchiv Breslau, Außenstelle Kamenz, überlieferten Aufzeichnungen weitere Aufzeichnungen Gottfried Dierigs zur Familien- und Unternehmensgeschichte eingesehen werden, die zwischen Ende Dezember 1938 und Ende Januar 1945 entstanden.⁷ Gottfried Dierig, der Autor dieser Aufzeichnungen, wurde am 28. Januar 1889 in Langenbielau im schlesischen Eulengebirge als Sohn des Fabrikbesitzers Friedrich Dierig geboren. Er besuchte die Volksschule in Langenbielau, danach das humanistische Gymnasium Maria-Magdalena in Breslau. Im Anschluss studierte er Chemie an der Universität in Straßburg. Dann ging er nach MönchenGladbach auf die Höhere Webschule, um seine Ausbildung in Färberei und Weberei abzurunden. Nach der Ausbildung folgten einige Jahre praktischer Arbeit im In- und Ausland. 1914 wurde er Mitinhaber und Teil der Geschäftsführung der Christian Dierig GmbH.⁸ Allerdings unterbrach im gleichen Jahr der Ausbruch des Ersten Weltkrieges seine eben erst begonnene Karriere im Familienunternehmen. Er und sein zehn Jahre älterer Bruder Dr. Wolfgang Dierig, der seit 1904 führend im Unternehmen tätig war, wurden 1914 einberufen und dienten über den gesamten Krieg trotz Verwundungen im Felde. Gottfried Dierig lernte im Zuge seiner zweiten Verwundung seine Frau kennen, die er noch während des Krieges, im Juli 1918, heiratete.⁹ Nach dem Krieg hatte Wolfgang Dierig, in den Aufzeichnungen als „Dr. Wolfgang“ bezeichnet, weitgehend die Gesamtleitung des Unternehmens inne,
Christian Dierig AG (Hg.), Das Werk von fünf Generationen. 150 Jahre Dierig, Augsburg 1955, S. 5; Christian Gottfried Dierig, Über uns und etwas mehr, Augsburg 1993, S. 7; Dierig Holding AG (Hg.), Dierig – Weber – Seit 1805, Heidelberg 2005, S. 77. Dierig, Über uns, S. 13 f. schreibt, dass es Aufzeichnungen seines Vaters Gottfried Dierig gebe, die gerettet worden seien und „auf etwa 500 Schreibmaschinenseiten“ über die Entwicklung der Firma und der Familie Dierig berichteten. BArch Berlin NS/5/VI-17563: Artikel, biographische Notizen zu Dierig Gottfried, hier getippter Lebenslauf G. Dierigs aus dem Handbuch des Aufbaus der gewerblichen Wirtschaft Band I, 1935/ 36. Ebd.; „Dr. Wolfgang Dierig und Major Hillmer 60 Jahre alt“, in: Dierig-Blätter (Aug./Sept. 1939); Dierig, Über uns, S. 83 und 102– 105; Dierig, Weber, S. 62 f. und 171.
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Abb. 1 Hauptwerk des Christian Dierig Konzerns in Langenbielau (Schlesien) in der Zwischenkriegszeit (Quelle: Dierig Holding AG)
bis er, als das Unternehmen 1928 in eine Aktiengesellschaft umgewandelt wurde, den Vorsitz im Aufsichtsrat übernahm.¹⁰ Wie genau sich Wolfgang und Gottfried die Aufgaben in den ersten Nachkriegsjahren teilten, ist nicht ganz klar überliefert. In einer jüngeren Festschrift heißt es, Gottfried sei 1918 der Geschäftsführer des Unternehmens geworden.¹¹ In der Festschrift von 1955 hieß es, während Wolfgang Vorsitzer des Aufsichtsrates der Dierig-Gruppe gewesen sei, wäre Gottfried die „markanteste Persönlichkeit im Vorstand“ gewesen. Und weiter hieß es dort: „War Wolfgang mehr der Praktiker, ein Mann des Betriebs, so widmete sich Gottfried vor allem organisatorischen und grundsätzlichen wirtschaftlichen Fragen. Ein ungewöhnliches Allgemeinwissen und vielseitige geistige Interessen zeichneten ihn aus. Beim Aufbau der Dierig-
Ebd.; „Dr.Wolfgang Dierig und Major Hillmer 60 Jahre alt“, in: Dierig-Blätter (Aug./Sept. 1939). Dierig, Weber, S. 63.
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Gruppe war er der in erster Linie Führende.“¹² Auch in den hier edierten Aufzeichnungen sieht er sich selbst eher als strategischen Kopf, nicht als einen im Alltag wirkenden Geschäftsführer: „Abgesehen vielleicht von einzelnen ureigensten Arbeitsgebieten, wie etwa der Lohn- und Sozialpolitik und dem Verrechnungswesen, ist die einzelne Tat, da wo die Dinge sich hart im Raume stoßen, nie meine Sache gewesen. Auch die schließlich erlösenden guten Gedanken haben meist andere gehabt. Ich habe sie höchstens manchmal angeregt.“ Und er fügte hinzu: „Da ich etwa seit 1924 mich von der Abwicklung des laufenden Geschäftes immer mehr zurückgezogen habe, weil ich meinen Kopf frei halten wollte, und vielleicht auch, weil ich sah, daß andere das besser konnten als ich, konnte ich mich auf einen Beobachtungsposten zurückziehen, und meine Sache
Dierig, Das Werk, S. 62 f.
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Abb. 2 Wolfgang Dierig 1879 – 1945 (Quelle: Dierig Holding AG)
war es, die Gesamtsituation jeweils zu durchleuchten (nicht etwa nur zahlenmäßig).“¹³ In jedem Fall teilten sich die Brüder Wolfgang und Gottfried die Leitung des Unternehmens – und schufen gemeinsam durch mehrere Übernahmen einen bedeutenden Textilkonzern, der im Jahr 1938 unter den 100 größten deutschen Unternehmen als Arbeitgeber auf Platz 36 stand.¹⁴ Politisch stand Gottfried Dierig der Weimarer Republik, wie in den Aufzeichnungen deutlich wird, nicht nur indifferent oder ablehnend gegenüber, sondern in tief empfundener Gegnerschaft. Die Revolution von 1918 traf ihn, schrieb er an anderer Stelle, „wie ein Keulenschlag“. Sie war für ihn „Volksverrat Gottfried Dierig, Wirtschaftliche Entwicklung, Lohnpolitik und politische Entwicklung in ihrem Einfluß auf C.D., 1944, S. 188 f. im Originaldokument, hier S. 217. Martin Fiedler/Howard Gospel, The Top 100 Largest Employers in UK and Germany in the Twentieth Century. Data (ca. 1907, 1935/38, 1955/57, 1972/73, 1992/95), in: Cologne Economic History Paper, Nr. 3 (2010), S. 12.
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Abb. 3 Gottfried Dierig 1889 – 1945 (Quelle: Dierig Holding AG)
vor dem Feind, Schändung der Waffenehre, der Sieg der Deserteure und alles Minderwertigen“. In ihm kam damals, so Dierig, „das alte echte Preußentum zum Bewußtsein, das jede Gemeinschaft mit diesem Staat ablehnte“. Zur Weimarer Republik hieß es entsprechend: „Wir und die rote Republik, das war Feuer und Wasser.“ Und diese Haltung änderte sich über die gesamte Dauer der Weimarer Republik nicht, sie wurde „trotz aller sachlichen Arbeit bis zum 31.1.1933 unentwegt durchgehalten“.¹⁵
Gottfried Dierig zitiert nach Dierig, Über uns, S. 108 f.
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Wie hier deutlich wird, galt seine Ablehnung vor allem der SPD, den Gewerkschaften und dem Zentrum. In einer anderen Aufzeichnung von Ende März 1944 äußerte sich Gottfried Dierig explizit zu seinen politischen Ansichten, in der er seine „vorbehaltlose Gegnerschaft zur schwarz-rot-goldenen Republik“ bekannte – als „Ausdruck unserer preußisch-soldatischen Tradition und unserer innersten Anschauung“. Da die Familie traditionell der konservativen Partei im Kaiserreich angehört hätte, suchten sie Anbindung an deren Nachfolgepartei, der DNVP: „Auf einen offenen Beitritt zum Stahlhelm haben wir nach einigem Schwanken schließlich mit tiefem Bedauern verzichtet, weil dieses Bekenntnis zum unbedingten Antisemitismus unserem Geschäft einfach den Boden ausgeschlagen hätte.“ Daher hätten sie sich „auf materielle und ideelle Unterstützung des Stahlhelms beschränken müssen“.¹⁶ Wenngleich Dierig das Soldatische und Preußische beim Stahlhelm besonders wichtig war, so war letztendlich das Geschäft wichtiger als eigene Überzeugungen – man trat dem Stahlhelm nicht bei, denn man wollte nicht die wichtigen jüdischen Geschäftspartner verlieren. Auch in die NSDAP trat Dierig lange nicht ein. Hier war der Grund ein anderer: Es lag an der Programmatik, vor allem der Wirtschaftsauffassung der Partei. Denn insgesamt war Dierig den Nationalsozialisten und auch ihrem Antisemitismus gegenüber weitgehend positiv eingestellt, wie er in einer Aufzeichnung vom März 1944 deutlich machte: „Im übrigen sah ich im Nationalsozialismus von Anfang an eine geistige Zukunftsbewegung von höchster Bedeutung. In der Formel, nach welcher der Jude für alles Unheil, einschließlich dem des Marxismus, verantwortlich gemacht wurde, erblickte ich eine volkstümliche, handgreifliche Kampfansage gegen den zersetzenden jüdischen Geist, dem auch ich die Hauptschuld an unserem ganzen Elend zumaß.“ Aufgrund seines Interesses an der NSDAP befasste sich Dierig eingehend mit dem nationalsozialistischen Programm, las Hitlers „Mein Kampf“ und besuchte Parteiveranstaltungen. Bei einer dieser Veranstaltungen hätte er nach den wirtschaftlichen Programmpunkten gefragt, die „uns einigermaßen wirr und unklar erschienen“. Als Antwort hätte der Parteivertreter ihm konzediert, dass er diese im Einzelnen selbst nicht begreife, aber sie seien auch nicht „das wesentliche am Nationalsozialismus“. Bis 1933 hätte Dierig „vergeblich versucht, Sinn in alle die Wirrnisse zu bringen, die im Lande von allerhand unzuständigen Leuten über die nationalsozialistische Wirtschaftsform verbreitet wurden“. Zudem musste er konstatieren, dass in Hitlers „Mein Kampf“ „sehr wenig über die Wirtschaft zu finden war“. Die wirtschaftsprogrammatischen Ausführungen von Gottfried Feder, dem damaligen Wirt-
Christian Dierig Archiv (Augsburg), Gottfried Dierig: Ergänzung zur Firmengeschichte. Unsere persönliche Einstellung zur Politik, Langenbielau, den 29. März 1944, S. 1.
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schaftstheoretiker der NSDAP, wären „begreiflicherweise wenig geeignet“ gewesen, „einen nüchternen, kritischen Industriellen zu überzeugen“. Durch Otto Wagener, damals Leiter des Wirtschaftspolitischen Hauptamts der NSDAP, den Dierig im Sommer 1933 kennenlernte, wäre ihm die Sicht der Partei klar geworden: „Er sagte kurzer Hand, daß ein im einzelnen praktisch durchdachtes Wirtschaftsprogramm gar nicht bestehe und daß eine derartige Festlegung keineswegs der Parteistrategie entsprochen haben würde. Die wirtschaftlichen Punkte des Parteiprogrammes, wie Autarkie, Brechung der Zinsknechtschaft usw. stellten alles andere dar als materiell durchdachte Systeme. Sie seien lediglich weithin leuchtende Zielpunkte, welche dem leidenden Volk gemeinverständlich sagen sollten, wo die Stellen lägen, bei denen angepackt werden müsse. Die Brechung der Zinsknechtschaft sei keineswegs gleichbedeutend mit der Abschaffung des Zinses, wie naive Leute das auffaßten, sondern wolle lediglich die Verhältnisse so ändern, daß der strebsame Wirtschaftler nicht schuldlos in die hoffnungslose Situation käme, lediglich für Geldgeber arbeiten zu müssen. Die nationalsozialistische Wirtschaft sei keineswegs ein ausgeklügeltes System, sondern sie solle erst jetzt nach dem Umbruch aus der Praxis heraus organisch wachsen.“¹⁷ Die Ausführungen Wageners schienen Dierig bis zu einem gewissen Grad zu beruhigen. Sie vermögen wohl auch bis zu einem gewissen Grad Dierigs Engagement in der NS-Wirtschaft in den kommenden Jahren zu erklären, da er unter den so formulierten Bedingungen wohl glaubte, auf die Entwicklung der NSWirtschaft aktiv Einfluss nehmen zu können. Aber NSDAP-Mitglied wurde Dierig nicht: „Wie es aber damals lag, war der Entschluß, der NSDAP beizutreten, für einen Industriellen von unserem Verantwortungsbewußtsein und unserer Gründlichkeit (im positiven wie im negativen Sinne auszulegen) eine Unmöglichkeit.“¹⁸ Obwohl er nicht „Parteigenosse“ wurde, sah er, gerade im Zuge seiner massiven Ablehnung der Weimarer Republik, der er jegliche Fähigkeit absprach, die politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Probleme der Zeit zu lösen, die Chancen, die das „Dritte Reich“ bot: „Jetzt benutzten wir aufgeschlossen die
Christian Dierig Archiv (Augsburg), Gottfried Dierig: Ergänzung zur Firmengeschichte. Unsere persönliche Einstellung zur Politik, Langenbielau, den 29. März 1944, S. 2 f. Zu Dr. Otto Wagener siehe Henry A. Turner (Hg.), Hitler aus nächster Nähe. Aufzeichnungen eines Vertrauten 1929 – 1932, Frankfurt a. M. 1978, vor allem die Einleitung Turners, S. I-XVII; zu Wageners Rolle bei der Gleichschaltung des RDI siehe Johannes Bähr/Christopher Kopper, Industrie, Politik und Gesellschaft. Der BDI und seine Vorgänger 1919 – 1990, Göttingen 2019, S. 114– 125. Christian Dierig Archiv (Augsburg), Gottfried Dierig: Ergänzung zur Firmengeschichte. Unsere persönliche Einstellung zur Politik, Langenbielau, den 29. März 1944, S. 3.
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Möglichkeiten, die der Nationalsozialismus bot, um wirklich etwas Praktisches und Nachhaltiges zur Überbrückung der Klassengegensätze beizutragen.“¹⁹ Im Konzern wurde er im Auftrag des Vorstandes Betriebsführer, was er bis Ende 1941 blieb.²⁰ Deren Rolle und auch seine persönliche Version von Nationalsozialismus und nationalsozialistischer Wirtschaft legte Gottfried Dierig in einer Rede 1936 in Bad Hersfeld dar.²¹ Damals führte er aus, dass man „wohlverstandenen Eigennutz“ nicht abschaffen müsse, er müsse vielmehr „in den Dienst der Allgemeinheit“ gestellt werden. Und „wenn die Schicksalsgemeinschaft aller in der Wirtschaft Schaffenden eine seelische Selbstverständlichkeit geworden ist, dann, aber auch nur dann, werden wir die nationalsozialistische Wirtschaft bekommen, und zwar ganz von selbst.“ Dierig fügte hinzu: „Ob wir das Ganze dann noch Kapitalismus oder das Gegenteil davon nennen, ist eine recht uninteressante Frage.“ Allerdings bestünde zwischen Unternehmer und Arbeitnehmer „immer ein naturgegebener Gegensatz“, was ja, so Dierig, auch Hitler so sehe. Dieser Gegensatz müsse nun nicht vertieft, sondern überbrückt werden – und an dem „Brückenschlag zwischen Unternehmer und Gefolgschaft“ mitzuwirken, sei „die hohe Aufgabe der Arbeitsfront“. Über ein halbes Jahrhundert, so Dierig, seien die Arbeiter indoktriniert worden, dass die Unternehmer ihr „Feind“ seien und sie betrügen wollten. Die Rolle der Deutschen Arbeitsfront (DAF) sei nun, „dem Gefühl der Volks- und Schicksalsgemeinschaft in allen Schaffenden zum Durchbruch zu verhelfen“, den Arbeitern „eine neue Ehre zu geben, eine Freude an der Arbeit, einen Berufsstolz“. Und dies sollte sie keinesfalls „mit den alten Mitteln“ von Sozialdemokraten und Gewerkschaften versuchen und „an den Schweinehund im Menschen“ appellieren, sich bei den Arbeitern „auf billige Weise beliebt“ machen. Aber die Haltung der Amtswalter der DAF gegenüber dem Unternehmer sei, so Dierig, „in sehr vielen Fällen noch falsch“. Der Betriebsführer solle sich das Recht, am besten für seine Mitarbeiter zu sorgen, nicht nehmen lassen, dieser allein bilde „den eigentlichen Kern im Werden der Werksgemeinschaft“. Um ihn käme auch die DAF nicht herum – und sie solle nicht nur um den Gottfried Dierig, Wirtschaftliche Entwicklung, Lohnpolitik und politische Entwicklung in ihrem Einfluß auf C.D., 1944, S. 187 im Originaldokument, hier S. 216. Dierig-Blätter, 7. Jg. Nr. 1/3, Jan./März 1942. Zur Rolle des „Betriebsführers“ und der „Betriebsgemeinschaft“ im Nationalsozialismus vgl. Felix Rössler, Der Führer des Betriebs (insbesondere: die Rechtsnatur der Betriebsgemeinschaft und des Führeramts), Jena 1935; Matthias Frese, Betriebspolitik im „Dritten Reich“. Deutsche Arbeitsfront, Unternehmer und Staatsbürokratie in der westdeutschen Großindustrie 1933 – 1939, Paderborn 1991. BArch Berlin R13 XIV, 94a: Wirtschaftsgruppe Textilindustrie, Rundschreiben Nr. 160/A, 5. September 1936, Rede von Gottfried Dierig gelegentlich der Hersfelder Tagung der Reichsbetriebsgemeinschaft 2 Textil: „Infolge sinnentstellender und sinnverkehrender Kürzungen bei der Wiedergabe meiner Hersfelder Rede in der Presse“ nachstehend „Rede im Original“.
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Arbeiter werben, sondern auch um den Betriebsführer. So falsch wie es sei, „sich beim Arbeiter an den Schweinehund zu wenden“, so falsch sei es, „das beim Betriebsführer zu tun“. Und Dierig wurde deutlich: „Mit Drohungen wenden Sie sich immer an die Jämmerlichkeit, an die Schlaffheit, auf deutsch an den Schweinehund. Führung ist unteilbar!“ Ein Betriebswalter solle nur „ein Helfer des Betriebsführers“ sein: „Nie aber darf er sich als zweiter Führer oder gar als Spitzel der Arbeitsfront im Betriebe führen oder gebärden. Beides bezeichnet die falsche Richtung, beides muss Abwehr und Mißtrauen des Betriebsführers hervorrufen, es ist ganz und gar unnationalsozialistisch. Und dann (Dr. Ley hat es zu meiner Freude gestern auch gesagt): bitte nicht von außen in den Betrieb hereinregieren.“ Was Dierig damit meinte, machte er ganz unverhohlen deutlich: Ein Betriebswalter der Deutschen Arbeitsfront hätte einem Betriebsführer keine Anweisungen zu geben, ihm nicht zu drohen, keine Unruhe in den Betrieb zu bringen – sondern um ihn zu werben. Wer sich dagegen der Arbeitsfront im Unternehmen beuge, sei „ein Jämmerling, aber beileibe kein nationalsozialistischer Betriebsführer.“²² Offenbar nicht nur mit dieser Rede und der darin vertretenen Einstellung hatte er sich bei der DAF und dessen Leiter Dr. Robert Ley wenig beliebt gemacht. Dafür hatte er aber offenbar die Wertschätzung von Reichswirtschaftsminister Hjalmar Schacht gewonnen. Zwar hatten sich schon in der Weimarer Republik Gottfried und Wolfgang Dierig in fachlichen Wirtschaftsorganisationen engagiert.²³ Ab 1933 aber übernahm Gottfried Dierig höchst wichtige Positionen als Wirtschaftsfunktionär. Von 1933 bis 1938 war er Leiter der Wirtschaftsgruppe Textilindustrie. Unter Reichswirtschaftsminister Kurt Schmitt wurde er zudem im Zuge des geplanten „neuen organischen Aufbaues der deutschen Wirtschaft“ Leiter der Hauptgruppe VI der deutschen Wirtschaft, die Textil, Bekleidung und Leder umfasste.²⁴ Im Dezember 1936, nur wenige Monate nach der Hersfelder Rede, wurde Gottfried Dierig schließlich von Reichswirtschaftsminister Hjalmar Schacht zum Leiter der Reichsgruppe Industrie ernannt, der diese Stelle offenbar mit einem „Mann seines Vertrauens“ besetzen wollte.²⁵ Dierig hatte sich als Mitinhaber des größten deutschen Textilkonzerns aktiv an dem 1934 von Schacht initiierten Nationalen Faserprogramm beteiligt. Mit dem Ausbau der Produktion von Ersatzfasern wie Zellwolle sollte die Abhängigkeit von importierter Baumwolle reduziert Ebd. Dierig, Das Werk, S. 63. BArch Berlin NS/5/VI, 17563: darin Artikel der Textil-Zeitung vom 22. Oktober 1938 über Gottfried Dierig. Bähr/Kopper, Industrie, S. 143.
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Abb. 4 Empfang österreichischer Industrieller durch Hitler während ihres Deutschlandaufenthaltes 1937 – Hitler (Mitte), Hjalmar Schacht (3. v. rechts) Gottfried Dierig (2. v. rechts) (Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1989-0125-503)
werden. Dabei hatte Dierig auch eine wichtige Denkschrift dazu verfasst und sein Unternehmen beteiligte sich direkt an dem Programm mit der Gründung der Schlesischen Zellwolle AG in Hirschberg.²⁶ Schacht erhoffte sich offenbar auch Rückhalt von Dierig in seinen Auseinandersetzungen mit Hermann Göring, der sich allerdings offensichtlich auch mit diesem gutstellen wollte – und alle Mitglieder der Reichsgruppe Industrie zur Jahreswende 1936/37 zur Unterstützung Görings als Beauftragten des Vierjahresplans aufrief. Nachdem Schacht den Machtkampf gegen Göring verlor und im November 1937 zurücktrat, konnte sich Dierig noch bis Herbst 1938 im Amt halten. Im Oktober wurde er von Reichswirtschaftsminister Walther Funk abberufen und
Ebd.; Gottfried Dierig, „Die Textil- und Bekleidungswirtschaft im Rahmen des Vierjahresplanes“, in: Der Vierjahresplan. Zeitschrift für nationalsozialistische Wirtschaftspolitik, Jahrgang 1 (Januar 1937), S. 137 f.; „Die Zellwolle in den Dierig-Betrieben und ihr Werdegang“, in: DierigBlätter, 5. Jg., Mai 1940; siehe auch: Christian Dierig Archiv (Augsburg), German Industrial Complexes: The Christian Dierig Complex, German Economic Department. Central Office for Germany and Austria, Dezember 1945, S. 6 f.
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von Wilhelm Zangen, dem Generaldirektor der Mannesmann-Werke abgelöst.²⁷ Offiziell hieß es, Dierig trete von diesem Amt und als Leiter der Wirtschaftsgruppe Textil zurück, da er sich nunmehr ausschließlich seinem Unternehmen widmen wollte und seine Gesundheit keine weitere Belastung zuließe.²⁸ Trotz seiner wichtigen Positionen in der Selbstverwaltung der Wirtschaft findet sich kein biographischer Eintrag über ihn in den maßgeblichen biographischen Nachschlagewerken der Geschichtswissenschaft.²⁹ Allerdings finden sich zwei wichtige Falschmeldungen zu seiner Rolle im „Dritten Reich“, die sich auch weiter verbreitet haben: Dierig diente niemals als persönlicher Wirtschaftsberater Hitlers, Pressechef der Reichsregierung und Staatssekretär im Reichspropagandaministerium, wie die Verfasserin einer rechtswissenschaftlichen Arbeit fälschlich schrieb.³⁰ Und er war auch nicht in einer führenden Position bei der antisemitischen ADEFA (Arbeitsgemeinschaft deutsch-arischer Fabrikanten der Bekleidungsindustrie) oder gar Vorsitzender dieser Organisation, wie es ebenfalls fälschlich in einigen neueren Publikationen zur Textil- und Bekleidungsindustrie heißt.³¹
Bähr/Kopper, Industrie, S. 144 f. BArch Berlin NS/5/VI, 17563: darin Artikel der Textil-Zeitung vom 22. Oktober 1938 über Gottfried Dierig. Weder in Ernst Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich.Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt a. M., 5. Aufl., 2015, noch in Robert Wistrich, Wer war wer im Dritten Reich? Ein biographisches Lexikon. Anhänger, Mitläufer, Gegner aus Politik, Wirtschaft und Militär, Kunst und Wissenschaft, Frankfurt a. M. 1987. Daniela Kahn, Die Steuerung der Wirtschaft durch Recht im nationalsozialistischen Deutschland. Das Beispiel der Reichsgruppe Industrie, Frankfurt a. M. 2006, S. 505; Bähr/Kopper, Industrie, S. 144, Fn. 22, betrachten diese Zuordnung zur Biografie Dierigs als eine Verwechslung mit Walther Funk, Reichswirtschaftsminister in den Jahren 1938 – 1945. Siehe dazu Irene Guenther, Nazi Chic? Fashioning Women in the Third Reich, New York 2004, S. 178; Uwe Westphal, Berliner Konfektion und Mode. Die Zerstörung einer Tradition 1836 – 1939, Berlin, 2. Aufl., 1992, S. 110 f.; Julia Schnaus, Kleidung zieht jeden an. Die deutsche Bekleidungsindustrie 1918 bis 1973, Berlin 2017, S. 112 f. Bei einer genauen Durchsicht von Unterlagen und Artikeln zur ADEFA fand sich nie eine Nennung des Namens Gottfried Dierig: BArch Berlin R 3101/8646, Gedächtnisniederschrift der Auflösungs-Mitgliederversammlung vom 15.08.1939; siehe „Adefa und Einzelhandel“, in: Textil-Woche Nr. 2 vom 9. Januar 1937; „Adefa-Tagung in Breslau“, in: Textil-Woche Nr. 10 vom 6. März 1937; Otto Jung, „Deutsche Menschen – Deutsche Kleider!“, Hans Müller, „Im Scheinwerfer der Öffentlichkeit“ und Willy Rollfinke, „Die Zukunft der Adefa“, alle drei Artikel in: Textil-Woche Nr. 36 vom 4. September 1937; Otto Jung, „Der AdefaGedanke“, Willy Rollfinke, „Die ‚Adefa‘ beim Aufmarsch!“ und Hans Müller, „Ware aus arischer Hand“, alle drei Artikel in: Textil-Woche Nr. 2 vom 8. Januar 1938. Siehe jetzt korrekt zur Adefa: Uwe Balder, Kleidung zwischen Konjunktur und Krise. Eine Branchengeschichte des deutschen Textileinzelhandels 1914 bis 1961, Stuttgart 2020, S. 390 – 397.
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Dierig begann nun neben seiner Tätigkeit für das Unternehmen an seinen Aufzeichnungen zu arbeiten, die insgesamt den Charakter des sich Erklärens und auch des sich Rechtfertigens haben. Mit Beginn des Krieges wurde er offenbar zunehmend durch die DAF unter Druck gesetzt. So trat er 1940 oder 1941 der NSDAP bei, nach der familiären Darstellung quasi unter Zwang. Sein Sohn Christian Gottfried Dierig stellte dies 1993 wie folgt dar: Zwischen Gottfried Dierig und Reichsmarschall Göring wäre es zu Meinungsverschiedenheiten gekommen, als sein Vater Leiter der Reichsgruppe Industrie war. Im Zusammenhang mit dem Ausbau von Salzgitter sei es „zu einem Riesenkrach“ gekommen, woraufhin Dierig sein Amt niedergelegt hätte. Im Frühjahr 1941 sei dann ein Herr in Langenbielau gewesen, der ihm von Göring „einen schönen Gruß“ ausgerichtet hätte und ihm riet, umgehend in die NSDAP einzutreten, sonst geschehe „ein Unglück“. Ley hätte schon einen „Einlieferungsbefehl in’s KZ“ unterschrieben. Da Dierig nicht ins KZ eingeliefert werden wollte, hätte er sich zum Eintritt in die NSDAP „überreden“ lassen und dafür zahlen müssen: „Kosten: schlichte 100.000 RM!“ Laut der Überlieferung in der Parteikanzlei beantragte Dierig dagegen die Mitgliedschaft in der NSDAP bereits ein Jahr früher, am 30. März 1940, und wurde bereits am 1. Juni 1940 aufgenommen (Mitgliedsnummer 7664371).³² Ende 1941 wurde Gottfried Dierig schließlich von einem der Schwiegersöhne seines älteren Bruders Wolfgang Dierig, Fritz Seidel, als Betriebsführer des DierigKonzerns abgelöst.³³ Wenngleich Dierig damit auch im Unternehmen massiv an Einfluss verloren hatte, bekam er noch, zusammen mit seinem Bruder Wolfgang, einen positiven und wertschätzenden Artikel über ihr Wirken in der Wochenzeitschrift „Das Reich“ am 4. Januar 1942 unter dem Titel „Die Dierigs. Industrieadel vierter Generation“. In dem Artikel wurde nicht nur der Aufbau des Dierig-Konzerns in den 1920er Jahren durch die Brüder Wolfgang und Gottfried Dierig positiv gewürdigt, zu letzterem hieß es noch: „Gottfried ist der breiteren Oeffentlichkeit dadurch bekannt geworden, daß er nach 1933 Jahre hindurch an der Spitze der Reichsgruppe Industrie stand, bis ihn Wilhelm Zangen ablöste. Damals hat er das Seinige getan, um die deutsche Industrie nach dem gewaltigen Umbruch den neuen Aufgaben zu verpflichten, im besonderen aber die Textilindustrie, denn auch deren Wirtschaftsgruppe hat er geleitet.“ Und dann ging der Artikel noch auf die beiden Brüder ein und suchte sie zu charakterisieren: „Aber
BArch Berlin (ehem. BDC), NSDAP-Zentralkartei und -Gaukartei: Gottfried Dierig, Vorstandsmitglied; zum Familiennarrativ siehe Dierig, Über uns, S. 175: Diese Überlieferung kann durchaus zutreffen, unzutreffend ist die Datierung des Ausscheidens aus dem Amt des Leiters der Reichsgruppe Industrie mit 1939 und wohl auch das hier mit „Frühjahr 1941“ angegebene Antrags- und Aufnahmedatum. Dierig-Blätter, 7. Jg. Nr. 1/3, Jan./März 1942.
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sonst ist es schwer, die Leistung der Brüder zu trennen. Wolfgang als der Aeltere arbeitet länger in der Leitung. Er ist vor allem der Mann der Textilveredlung, aber man kann nicht sagen, daß Gottfried nun auf Spinnen und Weben spezialisiert ist.“ Weiter hieß es: „Gottfried ist die verkörperte Sachlichkeit, ein Mann, der sein Glück in der Familie findet, Wolfgang ist weltläufiger. Was Gottfried einmal als richtig erkannt hat, dafür kämpft er, wenn es sein muß, auf Biegen und Brechen, Wolfgang dagegen weiß, was Verständigung zur rechten Zeit bedeutet. So ergänzen sie sich, gleichen ihre Wesenheit aus und sind damit im Grunde eine Einheit. Was das bedeutet, zeigt ihr Erfolg.“³⁴ Waren sie bisher gemeinsam auf ihrem Weg erfolgreich gewesen und machten auch noch Gewinne bis in den Krieg, so nahm ihnen dieser Krieg aber auch einige ihrer Kinder. Von Wolfgang fiel einer der Söhne, von Gottfried fielen zwei der Söhne im Krieg.³⁵ Ende Juli 1944 hatte Gottfried Dierig noch am Ende der Aufzeichnungen geschrieben: „Seien wir dankbar, daß diese Arbeit in der Vergangenheit schließlich gesegnet war, und so wollen wir mit Ruhe und Gelassenheit in die undurchsichtige Zukunft schauen.“³⁶ Nur wenige Monate später aber war die Front nur wenige Kilometer entfernt, Material und Akten und auch Einwohner wurden gen Westen, vor allem nach Bayern, evakuiert. Es herrschte zudem große Angst vor den vorrückenden sowjetischen Truppen. Mehrere Mitglieder der Familie Dierig, darunter Wolfgang Dierig mit seiner Frau und einer Tochter, versuchten ebenfalls gen Westen zu fliehen. Wolfgang und seine Familie wurden aber von Tschechen oder sowjetischen Truppen bei Großgrünau (Sudetengebiet) aufgehalten – und begingen in dieser Lage gemeinsam am 16. Mai 1945 Suizid. Gottfried Dierig hatte vielleicht ebenfalls darüber nachgedacht, mit seiner Frau in den Westen zu fliehen – sie entschieden sich aber schließlich dagegen; gemeinsam mit seiner Frau beging er am 11. Mai 1945 Suizid.³⁷ Jürgen Kuczynski, der Doyen der Wirtschaftsgeschichte in der DDR, schrieb zu Beginn der 1960er Jahre in einem polemischen Artikel über unternehmenshisto-
BArch Berlin NS/5/VI, 17563: Artikel „Bilder aus der Wirtschaft. Die Dierigs. Industrieadel vierter Generation“, in: Das Reich vom 4. Januar 1942. Diesen Artikel erwähnt auch Christian Gottfried Dierig mit dem Hinweis, er habe zu „Scherereien“ mit der NSDAP geführt, siehe: Dierig, Über uns, S. 177 f. Dierig, Über uns, S. 177; Dierig, Weber, S. 96, 99. Gottfried Dierig, Wirtschaftliche Entwicklung, Lohnpolitik und politische Entwicklung in ihrem Einfluß auf C.D., 1944, S. 189 im Originaldokument, hier S. 218. Dierig, Das Werk, S. 72; Dierig, Über uns, S. 177; Dierig, Weber, S. 106 f. und S. 100 f. (Abdruck des Abschiedsbriefs von Gottfried Dierig an Julius Graf, 28. 3.1945); Dierig Holding AG (Hg.), Stoff für Augsburg. 1918 – 2018. Dierig an Lech und Wertach, Augsburg 2018, S. 105.
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rische Darstellungen in Westdeutschland: „Manche Kapitalisten sahen mit dem Zusammenbruch des faschistischen Systems keinen Ausweg mehr und entzogen sich feige und lumpig durch Selbstmord der Verantwortung. Typisch dafür war ein Teil der Familie Dierig.“³⁸ Gottfried Dierigs Sohn wertete den Suizid von Wolfgang und Gottfried Dierig mit ihren Frauen völlig anders. Die Brüder wären, so seine Erklärung, aus Pflichtgefühl bis zum Schluss geblieben: „Ein Kapitän verläßt sein sinkendes Schiff nicht.“³⁹ Von diesem Geist ist in dem Brief von Gottfried Dierig an seinen Mitvorstand Julius Graf vom 28. März 1945 zu spüren: „Sie können sich vorstellen, daß es uns bei unserer hiesigen Stellung zur Bevölkerung sehr schwer fallen würde, uns vorzeitig in Sicherheit zu bringen.“ Aber es schien doch die Resignation vorzuherrschen. So sah Gottfried Dierig sich kaum mehr in der Lage, aus der „Klemme zwischen Russen und Tschechen“ herauszukommen. Und er fügte hinzu: „Ich würde mich vielleicht doch dazu entschließen, wenn ich die Empfindung hätte, daß es ohne mich unter keinen Umständen ginge. Ich möchte aber fast daran zweifeln, daß ich mich in den Verhältnissen zurechtfinden werde, wie ich sie zum mindesten für die Übergangsjahre voraussehe, und auch mein Bruder kann sich keineswegs zum Türmen entschließen.“⁴⁰ Gottfrieds Suizid war ein anderer als der Wolfgangs, der mit Frau und Tochter auf der Flucht, zu der er sich doch noch entschlossen hatte, aus einer realen bzw. empfundenen Notlage heraus, Suizid beging. Gottfrieds Suizid scheint überlegter gewesen zu sein – und aus Resignation geboren, wie sein Abschiedsbrief an Julius Graf zeigt. Den schloss er mit den Worten: „Wenn ich auf der einen Seite mit einem gewissen Fatalismus und Resignation vor all den ungeheuren Umwälzungen stehe, die ich in der Welt voraussehe, so möchte ich doch ausdrücklich bemerken, daß ich meine Hoffnung immer noch nicht aufgebe, es werde aus diesem Chaos des Abendlandes noch einmal irgend etwas Vernünftiges aufsteigen, ganz anders, als irgend einer der Lebenden sich das vorstellen kann.“⁴¹ Aber er sah offen-
Jürgen Kuczynski,Westdeutsche Unternehmensgeschichte über den Wiederaufbau der Firmen in Westdeutschland nach dem zweiten Weltkrieg, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 1963, Bd. 4, Heft 2, S. 143 – 202, hier S. 146. Er fügte auf S. 146 gegen die Dierig-Festschrift von 1955 noch hinzu: „Dierigsche Geschichtsschreibung. Die positiven Helden der Geschichte, soweit sie nicht Selbstmord begehen, Frauen und Töchter umbringen, haben alles verloren – natürlich mit Ausnahme der im Westen gelegenen Betriebe! Andere Kapitalisten sterben nicht ganz so unappetitlich und feige den Heldentod moderner monopolistischer Geschichtsschreibung.“ Dierig, Über uns, S. 13, 179. Abschiedsbrief von Gottfried Dierig an Julius Graf, 28. 3.1945, abgedruckt in: Dierig, Weber, S. 100 f., Zitate S. 101. Ebd.
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sichtlich in der Zukunft, auch der näheren, auf dieser Welt keinen Platz mehr für sich. Man wird niemals genau ergründen können, was Gottfried und seine Frau dazu bewog, den Freitod zu wählen. Eine Ähnlichkeit zum Suizid Albert Vöglers, des Generaldirektors der Vereinigten Stahlwerke, scheint nahezuliegen: Er war wie Dierig ein Industrieller, der ein hohes Verantwortungsbewusstsein gegenüber seinem Unternehmen hatte, er war ein wichtiger Wirtschaftsfunktionär im „Dritten Reich“ gewesen und hatte sich tief mit dem NS-Staat verstrickt. Und vielleicht teilten sie auch das Gefühl, dass man nicht zwei verlorene Kriege überleben dürfe.⁴² Bei Gottfried Dierig kam noch die Besonderheit der Verbundenheit zur Heimat hinzu. Er war sehr schlesisch gesinnt, wollte sein Unternehmen immer als schlesisches gesehen wissen, trotz der erworbenen Betriebe in West- und Süddeutschland. So verwahrte er sich Mitte 1941 gegenüber Darstellungen, dass Dierig kein schlesisches Unternehmen im Zuge der Konzernbildung mehr wäre: „Schlesisch soll unser Konzern trotz allem bleiben, nach unserem Wunsche soll Langenbielau nach wie vor Träger und Kraftquelle des Konzerns bleiben.“⁴³ Und er wusste im Mai 1945: Heimat und Werk in der Heimat waren verloren.⁴⁴ Insgesamt gesehen war Gottfried Dierig eine zutiefst von sich überzeugte Persönlichkeit, er war antidemokratisch und antisemitisch gesinnt. Gleichzeitig war er jedoch freimütig und offen sowie klug und informiert. Deutlich wird dies auch am Ende seiner Aufzeichnungen, wo er sich direkt an mögliche Leserinnen und Leser wendet und sich „einige Bemerkungen in eigener Sache“ erlaubt: „Ich habe mich um eine objektive Schilderung redlich bemüht. Um Gedächtnisfehler zu vermeiden, habe ich immer wieder in den Quellen nach Bestätigung gesucht (Denkschriften, Notizen, VS-Protokolle). Aber Goethe hat wohlbedacht über seine Lebenserinnerungen geschrieben: Dichtung und Wahrheit. Da man ja tausend Einzelheiten unter den Tisch fallen lassen, da man ja, um die Entwicklungslinie
Siehe Hannes Liebrandt, „Das Recht mich zu richten, das spreche ich Ihnen ab!“ Der Selbstmord der nationalsozialistischen Elite 1944/45, Paderborn 2017, S. 143 – 145. Staatsarchiv Breslau (Archiwum Państwowe we Wrocławiu), Außenstelle Kamenz (Kamieniec Ząbkowicki), Nr. 565 „Dierig“ w Bielawie 1905 – 1944 (Firma Dierig Langenbielau), Ordner 22: Denkschrift über die Verflechtung von CD [Christian Dierig] mit den übrigen Konzerngesellschaften und die Entwicklung und Verteilung der Gewinne, einerseits auf CD und seine Töchter, andererseits auf die verschiedenen Arbeitsgebiete, Langenbielau, den 19. Juni 1941, Zitat S. 15. Siehe auch die Sonderausgabe der Textil-Woche Nr. 34 vom 24. August 1934: „Schlesien – Weberland“ mit einer Einleitung von Gottfried Dierig als Führer der Hauptgruppe Textil, Bekleidung und Leder. Zur damaligen Stimmung in Schlesien siehe nun in literarischer Form: Hans Pleschinski, Wiesenstein. Roman, München 2018.
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aufzuzeigen, manches Verwirrende hin und her zusammenfassend und vereinfacht darstellen muß, wird jede solche Schilderung bis zum gewissen Grade subjektiv.“ Und er fügte hinzu: „Da solche Erinnerungen sich nun mal im Gedächtnis und in der Auffassung des Verfassers spiegeln, wird seine Person immer etwas in den Vordergrund treten, wenn er ehrlich ist.“⁴⁵ Nicht zuletzt diese Ehrlichkeit und Direktheit machen die hier edierten Aufzeichnungen Gottfried Dierigs zu einer interessanten Lektüre.
Gottfried Dierig, Wirtschaftliche Entwicklung, Lohnpolitik und politische Entwicklung in ihrem Einfluß auf C.D., 1944, S. 187 f. im Originaldokument, hier S. 216 f.
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Formaler Aufbau und Einordnung der Aufzeichnungen Gottfried Dierigs Wenn in einer historischen Quelle in hohem Maße persönliche und unpersönliche Bezüge zugleich entfaltet werden, ist mit einem vielschichtigen Dokument zu rechnen. Eine solche Gleichzeitigkeit drängt sich im Falle der vorliegenden Aufzeichnungen geradezu auf, denn der schlesische Textilindustrielle Gottfried Dierig (1889 – 1945) schrieb sie nicht nur als handelnder Unternehmer, sondern zugleich auch als bilanzierender Chronist, der dem eigenen Anspruch nach mehr bieten wollte als bloße Erinnerungen an bewegte Zeiten. Wenn auf diese Weise die Rolle von Akteur und Analytiker zusammenfallen, kann es lohnend sein, die verschiedenen Dimensionen der Aufzeichnungen einleitend etwas zu sortieren. Die 192 Seiten umfassenden Aufzeichnungen wurden von Gottfried Dierig im Laufe des Zweiten Weltkrieges als Teil einer größer angelegten historischen Unternehmensdarstellung angefertigt. Die Niederschrift des vorliegenden Teils erfolgte zwischen Januar und Juli 1944, wobei sich Vorarbeiten zum Text im Augsburger Unternehmensarchiv der Dierig Holding AG auf Dezember 1938 zurückverfolgen lassen. Angesichts dieser Schreibsituation lässt sich die Frage stellen, um welche Textsorte es sich hier genau handelt. Die Aufzeichnungen enthalten auf den ersten Blick eine detaillierte Schilderung der Unternehmensentwicklung zwischen den Jahren 1923 und 1934, in der das schlesische Unternehmen Christian Dierig außergewöhnliche Veränderungen erfuhr: Der 1805 gegründete Familienbetrieb wurde 1928 zu einer Aktiengesellschaft, aus der im Jahre 1932 der größte Baumwollkonzern Kontinentaleuropas hervorging: In 19 Werken arbeiteten zu diesem Zeitpunkt etwa 15.000 Menschen an mehr als 800.000 Spindeln und 14.000 Webstühlen.¹ Auf einer Liste der größten deutschen Unternehmen aus dem Jahre 1938 kam die Christian Dierig AG auf Platz 36, was für ein Textilunternehmen eine hohe Platzierung darstellte.² Ausgangspunkt dieser Entwicklung war eine wirtschaftliche Expansion in Folge zahlreicher Unternehmensübernahmen, die Engagements in allen Wertschöpfungsstufen begründeten. Dierig selbst bezeichnet seine Aufzeichnungen daher einmal folgerichtig als
Christian Dierig AG (Hg.), Das Werk von fünf Generationen. 150 Jahre Dierig, Augsburg 1955, S. 60. Martin Fiedler/Howard Gospel, The Top 100 Largest Employers in UK and Germany in the Twentieth Century. Data (ca. 1907, 1935/38, 1955/57, 1972/73, 1992/95), in: Cologne Economic History Paper, Nr. 3 (2010), S. 12. https://doi.org/10.1515/9783110779707-003
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„Firmengeschichte“ (S. 187 im Originaldokument, hier S. 216), seine Ausführungen gehen allerdings – und das ist entscheidend – weit über das Unternehmen als Ort der Planung und Umsetzung von Produktionsprozessen hinaus. Die Geschichte des Dierig-Konzerns wird nämlich nicht nur anhand von unternehmerischen, sondern ebenso anhand von politischen und nicht zuletzt biographischen Bezügen entfaltet. Bevor der formale Aufbau des edierten Werkes vorgestellt wird, soll auf diese drei grundsätzlichen und eng miteinander verschränkten Dimensionen des Textes eingegangen werden.
Das Unternehmerische – das Politische – das Biographische Die Unternehmensentwicklung wird ausführlich und durch den gesamten Text hindurch in einen unternehmerischen Zusammenhang gestellt. Was waren die weichenstellenden Entscheidungen und unter welchen Umständen wurden sie getroffen? Wer waren die Entscheidungsträger und wer die Organisatoren der Expansion nach dem Ersten Weltkrieg? Die Ausführungen sind detailliert, aber nicht immer umfassend, wie etwa das Beispiel von Paul Schleich zeigt, dessen Abkehr von Dierig zwar erwähnt, aber nicht weiter erläutert wird (S. 35 im Originaldokument, hier S. 73). Ebenso erwähnt Dierig seine Teilnahme am Reichswirtschaftsrat und der Zolltarifschema-Kommission, seine Rolle als Hauptgruppenleiter und später als Vorsitzender der Reichsgruppe Industrie bleibt jedoch unerwähnt, obwohl die intendierte Leserschaft der Aufzeichnungen – wie die biographische Einleitung von Stephan H. Lindner deutlich macht – auf das engste Umfeld Dierigs verweist und daher umfangreiche Kenntnis der Ereignisse unterstellt werden kann. Die Unternehmensentwicklung wird weiterhin in politische Zusammenhänge gestellt, was insbesondere auf die gesetzlichen Rahmenbedingungen von Unternehmen und Interessensausgleich zielt. Im Mittelpunkt steht immer wieder die Lohnpolitik, die letztlich jedoch als Ausdruck eines von Grund auf zerrütteten Verhältnisses von Wirtschaft und Staat betrachtet wird. Zurückgeführt wird diese Schieflage auf die Folgen weitreichender technischer Veränderungen im 19. Jahrhundert, die Dierig an anderer Stelle geschildert hat. In seiner Funktion als Leiter der Hauptgruppe VI (Leder, Textil, Bekleidung) führte er 1935 hierzu aus, dass der technische Einsatz von Maschinen auf Seiten der Unternehmer zwingend eine Steigerung der Betriebsgrößen erfordert habe, was wiederum die soziale Gruppe der Arbeiterschaft vergrößert habe, deren Schutz vor Verelendung zu einer
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staatlichen Aufgabe geworden sei.³ Aus dem Zusammenspiel von technischem Fortschritt und dem Aufkommen industrieller Arbeitsbeziehungen erwuchs somit – so Dierig – der Staat als einflussreicher Regulator der Wirtschaft.⁴ Augenscheinlichen Niederschlag fand diese Entwicklung im System der sogenannten Zwangsschlichtung, innerhalb dessen die Lohnhöhe nicht mehr durch den Unternehmer und nach dem Gesichtspunkt der Rentabilität, sondern vielmehr politisch auf dem Wege der staatlichen Schlichtung im Zuge von Verbindlichkeitserklärungen festgesetzt wurde.⁵ Als entscheidende Gestaltungsaufgabe seiner Zeit betrachtete es Dierig demgegenüber, die Zunahme staatlicher Eingriffe wieder zu begrenzen und mit der Autonomie und Autorität des Unternehmers in Einklang zu bringen, dessen Initialfunktion er als wichtige Größe des Wirtschaftssystems ansah.⁶ Insbesondere das Verhältnis von Unternehmer und Arbeiter müsse wieder „neu beseelt“⁷ werden, um die über Jahrzehnte angelaufenen sozialen Gegensätze zu entschärfen. Dierig beschrieb diesen Grundkonflikt eindringlich auch in seiner Rede über die „Schicksalsgemeinschaft in der deutschen Wirtschaft“, die er auf der Reichstagung der Reichsbetriebsgemeinschaft 2 Textil im Jahre 1936 in Bad Hersfeld hielt. Ausgangspunkt dieser Hersfelder Rede war die Gegensätzlichkeit und zugleich Angewiesenheit von Unternehmer und Arbeiter, deren Beziehung sich am Ende jedoch nur unter Leitung des sogenannten Betriebsführers entfalten könne.⁸ Der Betriebsführer bilde „den eigentlichen Kern im Werden der Werks-
Gottfried Dierig, Die Fachorganisation im neuen Reich, in: Der deutsche Volkswirt, Nr. 44 vom 2. August 1935, S. 2044. Die Rolle des Staates, dessen Eingriffe in die Wirtschaft nach dem Ersten Weltkrieg deutlich zunahmen, wurde freilich nicht nur in der Textilindustrie, sondern branchenübergreifend thematisiert, siehe: Reichsverband der Deutschen Industrie, Aufstieg oder Niedergang? Deutsche Wirtschafts- und Finanzreform 1929. Eine Denkschrift des Präsidiums des Reichverbandes der Deutschen Industrie, Berlin 1929, S. 8. Dazu: Werner Plumpe, Der Reichsverband der Deutschen Industrie und die Krise der Weimarer Wirtschaft, in: Andreas Wirsching (Hg.), Herausforderungen der parlamentarischen Demokratie. Die Weimarer Republik im internationalen Vergleich, München 2007, S. 151. Johannes Bähr, Staatliche Schlichtung in der Weimarer Republik, Tarifpolitik, Korporatismus und industrieller Konflikt zwischen Inflation und Deflation, Berlin 1989. Dies verweist letztlich auch auf die grundsätzliche Frage nach der Legitimation von Unternehmern. Schon früh zu dieser Thematik: Jürgen Kocka, Legitimationsprobleme und -strategien der Unternehmer und Manager im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Hans Pohl/Wilhelm Treue (Hg.), Legitimation des Managements im Wandel, Wiesbaden 1983, S. 17. Gottfried Dierig, Die Fachorganisation im neuen Reich, in: Der deutsche Volkswirt, Nr. 44 vom 2. August 1935, S. 2044. BArch Berlin R13 XIV, 94a: Wirtschaftsgruppe Textilindustrie, Rundschreiben Nr. 160/A vom 5. September 1936, Rede von Gottfried Dierig gelegentlich der Hersfelder Tagung der Reichsbetriebsgemeinschaft 2 Textil, S. 4 ff.
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gemeinschaft“ und begründe eine unvertretbare und obendrein „unteilbare“ Position im Unternehmen.⁹ Der Führungsauftrag des Unternehmers beinhaltete nicht zuletzt, den Klassenkampf nicht weiter eskalieren zu lassen, der allerdings durch ein jahrzehntelanges Misstrauen zwischen Unternehmer und Arbeiter befeuert worden sei.¹⁰ Für die vorliegenden Aufzeichnungen sind diese gesellschaftspolitischen Vorstellungen Gottfried Dierigs von zentraler Bedeutung, da sie Wirtschaft und Unternehmen in übergreifende Entwicklungen des 19. und 20. Jahrhunderts einordnen. Das Unternehmen erhält auf diese Weise eine entscheidende Rolle in irreversiblen sozialen Umwälzungen, deren Handhabung schließlich auch zum Dreh- und Angelpunkt der Unternehmensführung wird. An der konkreten Frage der Weimarer Lohnpolitik manifestiert sich somit ein historisch gewachsenes Missverhältnis von Wirtschaft und Staat, das es – so Dierig – durch den Unternehmer neu auszubalancieren gälte. Neben dieser politischen Dimension, die das Unternehmen in den Kontext seiner gesetzlichen Regulierung stellt, haben die Aufzeichnungen schließlich eine tiefgreifende biographische Dimension, die dem Text eine dritte Stoßrichtung verschafft. Im Kern verweist diese Dimension auf die Frage nach der zugrundeliegenden Motivation zur Niederschrift. Im biographischen Einleitungsteil ist deutlich geworden, dass zum Zeitpunkt der Niederschrift zwischen Januar und Juli 1944 eine militärische Niederlage absehbar wurde und auch Dierig selbst musste schon zuvor den Verlust seiner Söhne Friedhelm und Wolfgang hinnehmen, die in Russland ums Leben kamen. Dem voraus ging seit Ende der 1930er Jahre ein deutlicher Karriereeinbruch: 1938 war der Textilfabrikant Dierig noch Leiter der Reichsgruppe Industrie, im Jahre 1941 nicht einmal mehr Betriebsführer im eigenen Unternehmen. All dies geschah angesichts einer seit 1805 bestehenden schlesischen Familientradition, die es für die Brüder Gottfried und Wolfgang Dierig als Repräsentanten der vierten Generation mit allen Mitteln aufrecht zu erhalten galt, was deutlich macht, dass der objektive und ordnende Ton der Aufzeichnungen in eine Zeit des tiefgreifenden biographischen Umbruchs fiel. Im
Ebd., S. 9 f. Zur Rezeption der Rede in der Textilbranche siehe beispielsweise: o.V., Die große Textil-Tagung in Bad Hersfeld. Aufschlussreiche Referate führender Wirtschaftler, in: Die TextilWoche, Nr. 30 vom 24. Juli 1936, S. 7. BArch Berlin R 13 XIV, 94a: Wirtschaftsgruppe Textilindustrie, Rundschreiben Nr. 160/A vom 5. September 1936, Rede von Gottfried Dierig gelegentlich der Hersfelder Tagung der Reichsbetriebsgemeinschaft 2 Textil, S. 5. Zur Deutung der einschneidenden Umwälzungen im 19. Jahrhundert siehe auch: Gottfried Dierig, An alle Betriebsführer der deutschen Industrie und alle Gliederungen der Reichsgruppe. Rundschreiben des Leiters der Reichsgruppe Industrie zum Jahreswechsel 1936/37, Berlin 1936, S. 4.
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Rückblick begann in den ausgehenden 1930er Jahren eine Entwicklung, an deren Ende Dierig seinen Platz in der Welt verlor, zweifelte er doch zunehmend daran, dass er sich „in den Verhältnissen zurechtfinden werde, wie ich sie zum mindesten für die Übergangsjahre voraussehe“, wie er es eindringlich in einem Abschiedsbrief an Julius Graf vom 28. März 1945 schrieb.¹¹ Alle drei Dimensionen der Aufzeichnungen – das Unternehmerische, das Politische und das Biographische – fließen zusammen und begründen eine bisweilen undurchsichtige Kohärenz der Darstellung. Die Lektüre wird zusätzlich dadurch erschwert, dass der Text keiner einheitlichen Beschreibungssprache folgt. Die Darstellung ist deskriptiv (anhand von Betriebszahlen oder Wahlergebnissen), analytisch (anhand begründeter Urteile über einen Sachverhalt), normativ (anhand von Ordnungsvorstellungen und Wertungen) und nicht zuletzt subjektiv (anhand von Eindrücken und Erinnerungen). Es mischen sich somit Chronik, Erfahrungsberichte, Unternehmensdaten,Wertungen und Erinnerungen, was eine Gemengelage begründet, die aus der zeitgenössischen Situation Dierigs heraus freilich kein Widerspruch darstellte. Aus historischer Perspektive hingegen folgt hieraus ein Spannungsfeld, das die Lektüre ebenso lesenswert wie voraussetzungsreich macht. Der auf den ersten Blick eingeschlagene Pfad einer sachlich erzählten Firmengeschichte wird bei genauerem Hinsehen – so unser Deutungsvorschlag – zu einem weit ausholenden Versuch, angesichts einer entgleitenden Zukunft Rechenschaft abzulegen über die eigenen Führungsentscheidungen. Es sind diese zwei Seiten ein und derselben Motivation zur Niederschrift, die dem Text eine gleichermaßen persönliche wie unpersönliche Stoßrichtung verleihen, auf die eingangs hingewiesen wurde. Die Fülle an Ausführungen und Details sowie die oft wechselnden Darstellungsebenen sollten hierbei nicht als Zeichen der Inkonsistenz oder Nachlässigkeit Dierigs gedeutet werden.¹² Sie resultieren vielmehr aus einer besonderen Lebenslage, welche den existenziellen Ausgangspunkt der vorliegenden Aufzeichnungen darstellt: Die Unternehmensge-
Abschiedsbrief von Gottfried Dierig an Julius Graf, 28. 3.1945, abgedruckt in: Dierig Holding AG (Hg.), Dierig – Weber – Seit 1805, Heidelberg 2005, S. 100 f. In einem einen Tag später formulierten vertraulichen Lagebericht Gottfried Dierigs wird deutlich, wie sehr sich mittlerweile auch die Situation in Schlesien zugespitzt hatte, dessen geographische Lage Kriegshandlungen bislang verhindert hatte, siehe: HADB (Historisches Archiv der Deutschen Bank), PO 3790, Dr. Wolfgang Dierig an Oswald Rösler, Anhang: Gottfried Dierig, Vertraulicher Bericht, 29. März 1945. Ganz im Gegenteil war der schriftliche Ausdruck das immer wieder gewählte Mittel Gottfried Dierigs, was sich an seinen zahlreichen Denkschriften für die Unternehmensführung ablesen lässt. Dierigs Sohn Christian Gottfried Dierig hat einmal berichtet, dass der Berufswunsch seines Vaters ursprünglich nicht Unternehmer, sondern Wissenschaftler gewesen sei. Siehe: Christian Gottfried Dierig, Über uns und etwas mehr, Augsburg 1993, S. 178.
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schichte wird zum Ausgangspunkt einer sich aufdrängenden Vergewisserung des Unternehmers.
Der formale Aufbau der Aufzeichnungen Die Aufzeichnungen bestehen aus fünf Teilen, die sich aufgrund der Detailfülle und Bezüge nur schwer zusammenfassen lassen. Die Schrift setzt ein mit der Währungsstabilisierung im Herbst 1923. Geschildert werden die Lohnverhandlungen von Arbeitgebern und Gewerkschaften, die im Rahmen der ebenfalls 1923 eingeführten staatlichen Schlichtungsordnung erfolgten. Für Dierig war das entscheidende Merkmal seiner Zeit die Verschränkung von Wirtschaft und Politik, die einen lohnpolitischen Teufelskreis begründet habe: Gewerkschaftlich vorangetriebene Lohnerhöhungen hätten Unternehmer zu Rationalisierungen gezwungen, was Entlassungen zur Folge gehabt habe, was wiederum die soziale Lage der Arbeiter gefährdete, deren Verbesserung ja der ursprüngliche Anstoß der Intervention gewesen sei. Der gewerkschaftliche und staatliche Eingriff in die Lohnentwicklung kopple letztlich die Frage der Entlohnung an den politischen Stimmenfang. Widerstand gegen die Schlichtungsordnung sei bei den Arbeitgebern allerdings nicht mobilisierbar gewesen, eine Erfahrung, die bei Gottfried Dierig tiefe Spuren hinterlassen hat. Dierig thematisiert im Anschluss – gegenüber Weimar und dem Parlamentarismus zutiefst kritisch eingestellt – zahlreiche Konfliktherde bis ins Jahr 1930 wie etwa Ruhrbesetzung, Dawes-Plan oder auch den Tod von Reichspräsident Ebert. Ein Perspektivwechsel lenkt den Blick auf detaillierte Unternehmensdaten, die Rationalisierungspläne ebenso wie Fragen der Betriebsorganisation enthalten. Erstmals genannt werden auch die Anfang der 1920er Jahre begonnenen Gespräche mit F. H. Hammersen in Osnabrück über die Bildung einer Interessensgemeinschaft, deren Zustandekommen daraufhin um die konfliktreiche Auseinandersetzung mit Hammersen-Hauptaktionär Fritz Häcker kreist. Die Ausführungen zur Unternehmensentwicklung sind breit gefächert und reichen von der Einrichtung einer Telefonanlage bis hin zu Maßnahmen der sozialen Fürsorge, von detailliert bezifferten Bankschulden bis hin zu neuen Buchführungsmethoden, von Fragen der Disposition bis hin zur Umgestaltung des Sortiments, von den Nachteilen textilwirtschaftlicher Kostenstrukturen bis hin zu Entscheidungen über die Fertigungstiefe und nicht zuletzt von Absatzeinbrüchen und Kreditfragen bis hin zur Neuausrichtung der Verkaufspolitik in den 1920er Jahren. Die Bandbreite reicht demnach – salopp gesprochen – vom Telefonanschluss bis zur Lage der Nation. Im Kern entfaltet Dierig immer wieder das Bild einer zwangsläufigen Aufeinanderfolge von Lohnpolitik und Wirtschaftskrise. Die
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gesamte Unternehmensentwicklung sei, soweit es den beeinflussbaren Bereich der Unternehmensführung betrifft, eine Reaktion auf die lohnpolitischen Interventionen und Irritationen im Zuge der Zwangsschlichtung gewesen. Unter der Überschrift „Lohnentwicklung“ wird im zweiten Teil der Aufzeichnungen das Ausmaß der staatlichen Lohnpolitik illustriert, die den bereits angesprochenen Teufelskreis begründet habe. Für die Schrift insgesamt ist aufschlussreich, dass Dierig mehrfach die Überbrückung sozialer Klassengegensätze einfordert, die sozialen Verhältnisse aber mit den herkömmlichen Mitteln des Klassenkampfes als nicht mehr gestaltbar ansieht. Die Überwindung gesellschaftlicher Gegensätze und der damit einhergehende Abbau sozialer Verwerfungen seien mit den Weimarer Mitteln des Klassenkampfes nicht mehr zu erreichen gewesen. Der dritte Abschnitt „Wirtschaftskrise“ steht im Zeichen der heraufnahenden Krise. Entscheidende Zäsuren wie die Umwandlung des Familienunternehmens in eine Aktiengesellschaft und die Verbindung mit Hammersen werden angesprochen, aber zunächst nicht weiter ausgeführt. Im Kern des Abschnitts stehen vielmehr Maßnahmen zur Kostensenkung vor dem Hintergrund einer umfassenden Reorganisation des Unternehmens, die von Dierig als einzige Möglichkeit der Krisenvorbereitung betrachtet wurde. Dies beinhaltete 1929 eine grundsätzliche Neuordnung der Gehälter, die in der Vergangenheit unverhältnismäßig angestiegen seien. Dierig schildert eine regelrecht „wilde Unkostenjagd“ (S. 71 im Originaldokument, hier S. 107), die bis zum Bürobleistift reichte und selbst den Vorstand nicht verschonte. In hohem Maße symbolisch war ein Arbeitskampf mit den Gewerkschaften im Jahre 1929, bei dem es zu einer zeitweiligen Stilllegung von Buntweberei und Ausrüstung und einer sich hieran anschließenden Arbeiteraussperrung kam. In diesem spektakulären Vorgehen eskalierten die aus Sicht des Unternehmers unerträglich gewordenen Lohnverhältnisse, ein Konflikt, der erst im Zuge eines Besuchs einer Delegation des Arbeitsministeriums aufgelöst werden konnte. Die Beilegung des ein Jahr andauernden Arbeitskampfes führte zu einer Anpassung des Entlohnungssystems, wobei Dierig stets betonte, dass es eben diese vernünftige Ausgestaltung der Entlohnung gewesen sei, die in späteren Krisenzeiten die Beschäftigung gesichert habe. Für Dierig stellt das Geschehen geradezu exemplarisch ein Ausgleich sozialer Gegensätze dar, der nicht mehr im System der Weimarer Lohnpolitik, sondern nur noch durch die exponierte Tat eines Unternehmers gelang. Unter der vierten Überschrift „Politik 1928 bis zum Ende der schwarz-rotgoldenen Republik“ setzt Dierig seine Darstellung der politischen Entwicklung in der Weimarer Republik fort. Behandelt werden etwa Reparationszahlungen oder – wie Dierig es deutet – die Selbstsuspendierung des Bürgertums vom politischen Gestaltungsauftrag Anfang der 1930er Jahre im Zuge der Reichspräsidentenwahl
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(S. 102 im Originaldokument, hier S. 136 f.). Einzelpersonen wie Brüning oder Hugenberg werden hinsichtlich ihres Charakters und mit Blick auf die drängenden Herausforderungen der Zeit beschrieben. Dierigs Ausführungen über das revolutionäre soziale Element, das sich auch in der 1934 erlassenen Betriebsordnung der Dierig-Werke niederschlug, gehen weit über das rein Wirtschaftliche im Sinne der Textilproduktion hinaus. Der vierte Abschnitt variiert damit das Leitmotiv der Aufzeichnungen: Die Weimarer Republik sei aus sich heraus, also aus systemischen Gründen, oder, in den Worten Dierigs, „mit den alten Mitteln“ (S. 106 im Originaldokument, hier S. 142) nicht mehr handlungsfähig und in der Lage gewesen, die angelaufenen gesellschaftlichen Konflikte in den Griff zu bekommen. Der im Januar 1933 zum Reichkanzler ernannte Adolf Hitler wird daher von Dierig folgerichtig als ein „Repräsentant der Zukunft“ (S. 99 im Originaldokument, hier S. 134) bezeichnet. Der Nationalsozialismus war aus Sicht des Unternehmers nicht aufgrund seiner ohnehin nur diffusen wirtschaftspolitischen Programmatik interessant, sondern stellte vielmehr eine weltgeschichtliche Gelegenheit dar, tiefe soziale Brüche und Verwerfungen zu beseitigen. Der fünfte und letzte Textabschnitt wird unter der Überschrift „Fortgang und Tiefpunkt der Krise 1930 – 32. Ausblick auf den Aufschwung 1933“ behandelt und kommt zurück auf die konkrete Unternehmensentwicklung zwischen Ende der 1920er Jahre und dem Jahre 1933/34. Auch dieser Abschnitt enthält zahlreiche Aspekte: Dierig bilanziert zunächst die erfolgreiche Reorganisation des Betriebs, um daraufhin den Zusammenschluss mit Hammersen zu thematisieren, der durch eine Fusion im Jahre 1934 zum Abschluss kam. Auch hier enthalten die Ausführungen so unterschiedliche Aspekte wie die Kreation von Stoffmarken, die Umstrukturierung von Verkaufsabteilungen, Gehaltsverzicht auf Führungsebene, Werbemittel wie Travisé-Tees und Fleurette-Walzer bis hin zur Einrichtung eines Berliner Modestudios im Sommer 1931. In den Mittelpunkt rückt nun die Konzernentwicklung, die im Zuge von Übernahmen eine Vereinheitlichung von Meldewesen und Buchführung erforderlich machte. Die Übernahme bestehender Betriebe brachte stets unbekannte und bisweilen bewusst verschleierte Rentabilitätsverhältnisse mit sich, die es möglichst schnell aufzudecken galt. Im Schlussteil der Schrift bilanziert Dierig die Geschäftsentwicklung bis in das Jahr 1933 hinein: Sinkende Margen bei gleichzeitigen Lohnsteigerungen hätten Rationalisierungen geradezu erzwungen, die in Verbindung mit einer expansiven Betriebserweiterung das Überleben des Unternehmens gesichert hätten. Während man in technischer Hinsicht den Höchststand in der Branche erreicht habe, sei in Bereichen wie Werbung und Produktpolitik eine solide Alleinstellung erzielt worden. Man habe nun – in den Worten Dierigs – den eigenen „Stil gefunden“ (S. 179 im Originaldokument, hier S. 209). Die Konzernentwicklung geriet daraufhin jedoch – was allerdings nur vage ausgeführt wird – im Zuge der NS-Bewirt-
Formaler Aufbau und Einordnung der Aufzeichnungen Gottfried Dierigs
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schaftung seit 1934 unter veränderte Vorzeichen, was die Fortsetzung des eingeschlagenen Entwicklungspfades vorerst unmöglich gemacht habe. Die große unternehmerische Leistung der krisenfesten Aufstellung des Konzerns sei jedoch – das ist die unausgesprochene Botschaft – bereits vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahre 1933 erfolgt. Dierig thematisiert abschließend seine eigene Rolle als Autor der Aufzeichnungen im Spannungsfeld von Eigeninteresse und Objektivitätsanspruch. Ausdrücklich nimmt er zu seinen unternehmerischen Qualitäten Stellung und relativiert bisweilen – im Gegensatz zu manch herausgehobener Bedeutung im Textverlauf – seine eigene Rolle: Seine Aufgabe sei ab Mitte der 1920er Jahre vornehmlich die Beobachtung und weniger „die einzelne Tat“ (S. 188 im Originaldokument, hier S. 217) gewesen. Die Frage, was den wirtschaftlichen Erfolg des geschilderten Zeitraums ermöglicht habe, beantwortet Dierig schließlich mit Verweis auf eine kollektive Leistung: Es sei die hart arbeitende Gemeinschaft des Vorstandes gewesen, dem der Unternehmenserfolg trotz widriger Umstände zu verdanken sei. Er lokalisiert damit die „Kraftquellen“ des wirtschaftlichen Erfolges nicht nur innerhalb des Unternehmens, sondern auch innerhalb Schlesiens, was nicht unwichtig ist, da Dierig nach eigenen Angaben zunehmend mit dem Vorwurf konfrontiert worden sei, der Unternehmenserfolg beruhe hauptsächlich auf außerschlesischen Voraussetzungen wie etwa den neu hinzugekommenen westdeutschen Betrieben.¹³ Jenseits der konkreten Unternehmensentwicklung bieten die Aufzeichnungen somit zahlreiche Einblicke in eine nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Selbstbeschreibung eines Unternehmers. Die Rolle Dierigs als „ausgesprochener Fabrikant“ (S. 137 im Originaldokument, hier S. 171), der sich von den sog. Finanzleuten ebenso wie von den Modestudios und der nachschaffenden Welt des Verkaufs abgrenzte, galt es angesichts einer sich mehrfach ändernden Unternehmensverfassung immer wieder neu zu definieren, angefangen vom Familienbetrieb über die Aktiengesellschaft bis hin zum Großkonzern und der NS-Bewirtschaftung. Die vorliegenden Aufzeichnungen zeigen eindrücklich, dass sich das Bewährungsregime für unternehmerischen Erfolg in nur wenigen Jahren rapide gewandelt hatte: Die Antwort auf die Frage, was es hieß, ein hart arbeitender Textilunternehmer zu sein, fiel in den 1930er Jahren gänzlich anders aus als noch
Staatsarchiv Breslau (Archiwum Państwowe we Wrocławiu), Außenstelle Kamenz (Kamieniec Ząbkowicki), Nr. 565 „Dierig“ w Bielawie 1905 – 1944 (Firma Dierig Langenbielau), Ordner 22: Denkschrift über die Verflechtung von CD [Christian Dierig] mit den übrigen Konzerngesellschaften und die Entwicklung und Verteilung der Gewinne, einerseits auf CD und seine Töchter, andererseits auf die verschiedenen Arbeitsgebiete, Langenbielau, den 19. Juni 1941, S. 1.
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im Jahre 1918, als der noch junge Kriegsheimkehrer Gottfried Dierig wieder in das Unternehmen seines Vaters eintrat.
Richtlinien der Edition Die vorliegenden edierten Aufzeichnungen von Gottfried Dierig stellen eine Textfassung „letzter Hand“ dar. Es kann davon ausgegangen werden, dass Dierig seine Aufzeichnungen aus dem Jahre 1944 diktiert hat und sie in einem nochmaligen Durchgang mit handschriftlichen Änderungen versehen hat. Diese Änderungen wurden ohne gesonderte Kennzeichnung übernommen, ansonsten wurden zusammen mit der Anpassung der in falscher Reihenfolge überlieferten Seiten 33 und 34 nur geringe Modifikationen am Text bei der Rechtschreibung, bei Leer- und Satzzeichen vorgenommen. Vereinzelte sprachliche Fehler oder auch fehlende Satzanpassungen im Zuge der oben genannten handschriftlichen Ergänzungen wurden teilweise auch belassen und mit einem sīc erat scriptum [sic] gekennzeichnet. Hinsichtlich der Hervorhebungen im Text wurden die durch zusätzliche Leerzeichen hervorgehobenen Worte (z. B. K e h l) kursiv gesetzt. Die Personendaten in den Anmerkungen entstammen der Deutschen Biographie, ausgewählter Forschungsliteratur, zeitgenössischen Nachschlagewerken oder Einzelrecherchen.¹ Die Seitenwechsel im Originalmanuskript sind mit einem senkrechten Strich im Manuskript | und der folgenden Seitenzahl des Manuskriptes in den Marginalien gekennzeichnet.
An zeitgenössischen Nachschlagewerken wurde insbesondere verwendet: Deutscher Wirtschaftsführer. Lebensgänge deutscher Wirtschaftspersönlichkeiten. Ein Nachschlagebuch über 13000 Wirtschaftspersönlichkeiten unserer Zeit, bearb. von Georg Wenzel, Hamburg u. a. 1929; Wer leitet? Die Männer der Wirtschaft und der einschlägigen Verwaltung einschl. Adreßbuch der Direktoren und Aufsichtsräte (1941/42), hrsg. von Paul C. W. Schmidt, Berlin 1942; Handbuch der Deutschen Aktien-Gesellschaften (Bd. 1– 4), 38. Aufl., Berlin 1933. https://doi.org/10.1515/9783110779707-004
Verzeichnis der Literatur und der gedruckten Quellen (ohne Zeitschriften und archivalische Quellen) Bähr, Johannes, Staatliche Schlichtung in der Weimarer Republik, Tarifpolitik, Korporatismus und industrieller Konflikt zwischen Inflation und Deflation, Berlin 1989. Bähr, Johannes/Kopper, Christopher, Industrie, Politik und Gesellschaft. Der BDI und seine Vorgänger 1919 – 1990, Göttingen 2019. Balder, Uwe, Kleidung zwischen Konjunktur und Krise. Eine Branchengeschichte des deutschen Textileinzelhandels 1914 bis 1961, Stuttgart 2020. Bloch, Marc, Apologie der Geschichtswissenschaft oder der Beruf des Historikers. Nach der von Etienne Bloch edierten französischen Ausgabe herausgegeben von Peter Schöttler, Stuttgart 2002. Christian Dierig AG (Hg.), Das Werk von fünf Generationen. 150 Jahre Dierig, Augsburg 1955. Deutscher Wirtschaftsführer. Lebensgänge deutscher Wirtschaftspersönlichkeiten. Ein Nachschlagebuch über 13000 Wirtschaftspersönlichkeiten unserer Zeit, bearb. von Georg Wenzel, Hamburg u. a. 1929. Dierig, Christian Gottfried, Über uns und etwas mehr, Augsburg 1993. Dierig, Gottfried, Die Fachorganisation im neuen Reich, in: Der deutsche Volkswirt, Nr. 44 vom 2. August 1935, S. 2041 – 2045. Dierig, Gottfried, An alle Betriebsführer der deutschen Industrie und alle Gliederungen der Reichsgruppe. Rundschreiben des Leiters der Reichsgruppe Industrie zum Jahreswechsel 1936/37, Berlin 1936. Dierig, Gottfried, Die Textil- und Bekleidungswirtschaft im Rahmen des Vierjahresplanes, in: Der Vierjahresplan. Zeitschrift für nationalsozialistische Wirtschaftspolitik, Jahrgang 1 (Januar 1937), S. 137 – 138. Dierig Holding AG (Hg.), Dierig – Weber – Seit 1805, Heidelberg 2005. Dierig Holding AG (Hg.), Stoff für Augsburg. 1918 – 2018. Dierig an Lech und Wertach, Augsburg 2018. Fiedler, Martin/Gospel, Howard, The Top 100 Largest Employers in UK and Germany in the Twentieth Century. Data (ca. 1907, 1935/38, 1955/57, 1972/73, 1992/95), in: Cologne Economic History Paper, Nr. 3 (2010). Frese, Matthias, Betriebspolitik im „Dritten Reich“. Deutsche Arbeitsfront, Unternehmer und Staatsbürokratie in der westdeutschen Großindustrie 1933 – 1939, Paderborn 1991. Guenther, Irene, Nazi Chic? Fashioning Women in the Third Reich, New York 2004. Handbuch der Deutschen Aktien-Gesellschaften (Bd. 1 – 4), 38. Aufl., Berlin 1933. Kahn, Daniela, Die Steuerung der Wirtschaft durch Recht im nationalsozialistischen Deutschland. Das Beispiel der Reichsgruppe Industrie, Frankfurt a. M. 2006. Klee, Ernst, Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt a. M., 5. Aufl., 2015. Kocka, Jürgen, Legitimationsprobleme und -strategien der Unternehmer und Manager im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Hans Pohl/Wilhelm Treue (Hg.), Legitimation des Managements im Wandel, Wiesbaden 1983, S. 7 – 21.
https://doi.org/10.1515/9783110779707-005
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Verzeichnis der Literatur und der gedruckten Quellen
Kuczynski, Jürgen, Westdeutsche Unternehmensgeschichte über den Wiederaufbau der Firmen in Westdeutschland nach dem zweiten Weltkrieg, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 1963, Bd. 4, Heft 2, S. 143 – 202. Liebrandt, Hannes, „Das Recht mich zu richten, das spreche ich Ihnen ab!“ Der Selbstmord der nationalsozialistischen Elite 1944/45, Paderborn 2017. Möller, Horst, Wie sinnvoll sind zeitgeschichtliche Editionen heute? Beispiele aus der Arbeit des Instituts für Zeitgeschichte, in: Quelleneditionen und kein Ende? Symposium der Monumenta Germaniae Historica und der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München, 22./23. Mai 1998, hrsg. von Lothar Gall und Rudolf Schieffer, München 1999 (Historische Zeitschrift, Beiheft 28), S. 93 – 112. Pleschinski, Hans, Wiesenstein. Roman, München 2018. Plumpe, Werner, Der Reichsverband der Deutschen Industrie und die Krise der Weimarer Wirtschaft, in: Andreas Wirsching (Hg.), Herausforderungen der parlamentarischen Demokratie. Die Weimarer Republik im internationalen Vergleich, München 2007, S. 129 – 157. Reichsverband der Deutschen Industrie, Aufstieg oder Niedergang? Deutsche Wirtschafts- und Finanzreform 1929. Eine Denkschrift des Präsidiums des Reichverbandes der Deutschen Industrie, Berlin 1929. Rössler, Felix, Der Führer des Betriebs (insbesondere: die Rechtsnatur der Betriebsgemeinschaft und des Führeramts), Jena 1935. Schnaus, Julia, Kleidung zieht jeden an. Die deutsche Bekleidungsindustrie 1918 bis 1973, Berlin 2017. Turner, Henry A. (Hg.), Hitler aus nächster Nähe. Aufzeichnungen eines Vertrauten 1929 – 1932, Frankfurt a. M. 1978. Westphal, Uwe, Berliner Konfektion und Mode. Die Zerstörung einer Tradition 1836 – 1939, Berlin, 2. Aufl., 1992. Wer leitet? Die Männer der Wirtschaft und der einschlägigen Verwaltung einschl. Adreßbuch der Direktoren und Aufsichtsräte (1941/42), hrsg. von Paul C. W. Schmidt, Berlin 1942. Wistrich, Robert, Wer war wer im Dritten Reich? Ein biographisches Lexikon. Anhänger, Mitläufer, Gegner aus Politik, Wirtschaft und Militär, Kunst und Wissenschaft, Frankfurt a. M. 1987.
Gottfried Dierig Wirtschaftliche Entwicklung, Lohnpolitik und politische Entwicklung in ihrem Einfluß auf C.D. [Christian Dierig AG]
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Langenbielau, den 24. Januar 1944 Wirtschaftliche Entwicklung, Lohnpolitik und politische Entwicklung in ihrem Einfluß auf C.D. Nach der Währungsstabilisierung. Als die Währungsstabilisierung gelungen war und man sah, daß der Geldwert sich nun nicht mehr von Tag zu Tag änderte, hatte das deutsche Volk die Empfindung, aus einem wüsten Traum erwacht zu sein. Es waren etwa die Gefühle eines Kindes, das sich nach Angstträumen morgens wieder in seinem hellen Zimmer geborgen fühlt und nur einen Gedanken hat: die Schreckbilder der Nacht nicht wieder heraufzubeschwören. Auf die endlosen Wortgefechte der Vergangenheit darüber, inwieweit die Erhöhung des Nominallohnes die Kaufkraft steigern könne oder nicht, hatten die nicht weg zu diskutierenden Tatsachen zunächst einmal eine handgreifliche Antwort gegeben. Die Leute hatten Millionen und MilliardenBeträge in der Hand gehabt und konnten sich dafür kaum ihr trockenes Brot kaufen. Die Errungenschaften der Revolution in Gestalt der 48-Stunden- oder gar 46-Stunden-Woche hatten sich in den bitteren Zwang der 24-stündigen oder 16stündigen Arbeitswoche verkehrt. Die Gewerkschaften mit ihren stolzen Programmpunkten hatten jeden Kredit verloren, massenweise traten die Arbeiter aus. Gewiss waren die Folgerungen, die sie daraus zogen, verschieden. Ein Teil der Leute, die chaotischen und zum Fanatismus neigenden Elemente, warfen sich dem Nihilismus in die Arme. Die Verkehrtheit der jetzigen Weltordnung schien erwiesen, also alles einreißen: es kann höchstens besser werden. Aus diesem Teil des Volkes zog der Kommunismus neue Kraft. Der weit überwiegende Teil der Arbeiterschaft hatte aber nur einen Gedanken: von diesen köstlichen Goldpfennigen, mit Hilfe deren man sich wieder die altgewohnte Dreier-Semmel kaufen konnte, so viel wie irgend möglich zu verdienen und den Genuß auszukosten, wieder unbeschränkt arbeiten zu dürfen. Die Arbeitgeber hatten nur das eine Ziel: Produktion, stabile Löhne und Preise, sozialer Frieden. Nach der Entmächtigung der Gewerkschaften trat der Klassenkampf, der allen bis an den Hals stand, vorübergehend zurück. Die Gewerkschaften hatten durch die Inflation nicht nur ihre Leute, sondern auch ihr Geld verloren. Sie konnten kaum ihre Funktionäre | bezahlen und ihren Ver- 2 pflichtungen gegenüber ihren Mitgliedern nachkommen, geschweige denn an Arbeitskämpfe denken, denn die Streikkassen waren leer und der Mitgliederstand hatte ihre Auffüllung in weite Ferne gerückt. So hatten die Arbeitgeber das Heft in der Hand, damit aber auch die Verantwortung, und die fühlten gerade die Arbeitgeber, die am meisten in dem ihnen
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aufgedrungenen Kampf die Zähne gezeigt hatten. Seit Ende Oktober arbeitete die Bezirksgruppe Reichenbach an einem Goldlohn-Tarif. Die alten Tarife waren nicht nur in den Zahlen, sondern auch im Aufbau unbrauchbar geworden. Kuhhandel und Teuerungszulagen in absoluten Beträgen hatten allmählich alles verwischt und Sinn in Unsinn verkehrt. Der Frauenlohn war zeitweise auf 88 % des Männerlohnes gestiegen, einen Unterschied zwischen Facharbeiter und Hilfsarbeiter gab es praktisch nicht mehr, die Staffelung der Jugendlichen-Löhne war verwischt, die Ortsklassen hatten sich verflüchtigt. Kurz entschlossen griffen wir nun auf die Friedensverhältnisse zurück. Die Friedenslohnstaffelung hatte sich unter dem Gesetz von Angebot und Nachfrage allmählich eingeschaukelt und konnte nicht ganz sinnlos sein. Erhebungen der in Lohnfragen führenden Firmen, C.D., Meyer Kauffmann, Hain, Erxleben, wurden mit größter Sorgfalt angestellt. Das Ergebnis war ziemlich einheitlich, nur lag C.D. in einzelnen Positionen, wie etwa den breiten Webern, etwas höher und mußte sich Abstriche gefallen lassen. Natürlich gingen wir dabei zunächst einmal davon aus, daß die Friedenspreise erreicht werden sollten und daher nicht die Wochenlöhne, sondern die Stundenlöhne den Friedensverhältnissen grundsätzlich angeglichen werden sollten. Der Ausgleich für die verkürzte Arbeitszeit sollte bei den Akkord-Arbeitern allmählich durch Leistungssteigerung, unter Benutzung der technischen Verbesserungen (Mehrstuhlsystem, 3-Seiten-Bedienung in der Spinnerei), erzielt werden, vorläufig auch durch verlängerte Arbeitszeit. Die sehr niedrigen Friedenszeitlöhne (Männer 18.5 – 22.5 Pfg., Frauen 15 – 18.5 Pfg.) sollten gleich erhöht werden und zwar auf den Satz des Arbeitsministeriums von 26 Pfg. für die Männer und 19.5 Pfg. für die weiblichen Facharbeiter, mit einem Zuschlag für qualifizierte Ausrüstungsarbeiter. Diese Erhöhung war sinnvoll, da bei den Zeitlöhnern sich eine Leistungssteigerung nicht ohne weiteres ausdrückt und der von uns auch in der 3 Ausrüstung angestrebte Akkord bezw. das | Prämiensystem nicht bei allen Leuten durchführbar war. Wenn man noch bedenkt, daß es sich bei den Friedenslöhnen um effektive Löhne handelte, bei dem Aufbau des Tarifes aber um Tariflöhne, die erfahrungsgemäß von den Akkordarbeitern beträchtlich überstiegen wurden, bedeutete dieser Goldmark-Tarif immerhin schon eine Erhöhung der Friedenslöhne um mindestens 10 – 15 %. Während einzelne Arbeitgeber gewohnheitsgemäß schon wieder nach Zugeständnissen blinzelten, da wo sie Widerstand erwarteten, trat ich mit anderen für unbedingte Gerechtigkeit auf der einen, aber Kompromißlosigkeit auf der anderen Seite ein, wobei mir Podewils¹ besonders unbedingte Gefolgschaft leistete. Dr.
Carl Podewils (1881 – nicht ermittelbar, zukünftig als n.e. abgekürzt), Generaldirektor und u. a.
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Schäfer² fürchtete sich schon wieder vor dem Kampf wegen der Ortsklassen in Bezug auf den Rengersdorfer Betrieb. Wir hielten eisern daran fest, aber nicht etwa an dem überhohen Abstand von 20 – 25 % in der Vorkriegszeit, auch nicht an den 10 % von 1919, sondern legten maßvoll 6 % fest. Dieser Unterschied erschien uns aber durchaus gerechtfertigt, einerseits wegen der gemütlicheren Arbeitsauffassung in der Grafschaft, andererseits wegen der fraglos etwas billigeren Lebenshaltung. Bei unserem weiteren Vorgehen kam uns die Sturheit der örtlichen Gewerkschaftsleitung zu Hilfe. Das Reichsarbeitsministerium hatte 26 Pfg. für Männer mit 25 % Abschlag für Frauen festgelegt und alles andere der Einigung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern überlassen. Diese Einigung kam in anderen schlesischen Bezirken zustande, natürlich schon wieder mit allerhand Kompromissen. Im Reichenbach-Langenbielauer Bezirk gebärdete sich erstaunlicherweise der weit überdurchschnittlich kluge Gewerkschaftssekretär Lang³ in diesem Fall, wie schon nach dem Streik von 1922, als wilder Mann. Er wollte sich wohl in seinem brennenden Ehrgeiz einen besonderen Namen bei seinem Berliner Vorgesetzten machen und wollte dabei die Kommunisten vor seinen Wagen spannen. Nach ganz kurzen Verhandlungen, in denen Lang einige aufreizende Reden zum Fenster hinaus gehalten hatte und zwar mit schweren Beschimpfungen der Arbeitgeber, brachen wir ab und gingen zum Schlichtungsausschuß nach Schweidnitz. Dort legten wir unseren bis ins letzte ausgearbeiteten Friedenstarif, gestützt auf unsere jederzeit nachweisbaren Betriebszahlen vor, dem die Gewerkschaften lediglich alberne Redensarten ohne jegliches Zahlenmaterial oder gar auf solches gestützte Gegenvorschläge entgegensetzen konnten. So brachte Maak⁴, für den ja die 26 Pfg. des Arbeitsministeriums eine autoritive Grundlage | bildeten, am 15.12. einen einstimmigen Schiedsspruch zustande, der unseren Tarif 4 voll annahm, einschließlich der neuen entscheidend wichtigen Bestimmungen, daß Webarbeit an 2 schmalen Stühlen Frauenarbeit sei, deren Richtsätze nicht auf den Männerlöhnen aufgebaut werden könnten, wobei wir uns auch wieder auf
Vorstandsvorsitzender der niederschlesischen Meyer Kauffmann Textilwerke AG sowie im Aufsichtsrat der Schlesischen Zellwolle AG in Hirschberg. Hans Schäfer (1880 – 1945), Generaldirektor der Meyer Kauffmann Textilwerke AG und u. a. Vorstandsmitglied des Verbandes Schlesischer Textilindustrieller. Josef Lang (1880 – 1961), Tuchmacher, Gewerkschafter und Politiker, war u. a. zwischen 1910 – 1927 Geschäftsführer des Textilarbeiterverbandes in Langenbielau, zwischen 1910 – 1923 Vorsitzender des Gewerkschaftskartells bzw. des Ortsausschusses des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes in Langenbielau, zwischen 1927– 1933 Mitglied des Hauptvorstandes des Textilarbeiterverbandes in Berlin und mehrfach Mitglied des Preußischen Landtages. N.e.
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Friedenszahlen stützen konnten. Alte Männer, die wegen geringerer Leistungsfähigkeit nur schmale Stühle bedienen konnten, sollten einen nicht akkordfähigen Zuschlag erhalten, der sie auf den Zeitlohn für Facharbeiter bringen sollte. Unsere, der Stunde angepaßte, neue Praxis, dieses Mal kein Kuhhandelangebot zu machen, sondern gleich unser letztes Wort zu sagen, gestützt auf einen nachweisbar gerechten Tarifaufbau, hatte sich bewährt. Nun wollte Lang bei der Regierung in Breslau neue Verhandlungen erzwingen. Wir zeigten die kalte Schulter und wiesen demgegenüber auf die neue Schlichtungsordnung hin, nach der in zweiter Instanz zunächst nur der einmal gefällte Schiedsspruch zur Debatte gestellt und entweder verbindlich erklärt werden müsse oder nicht. Die Regierung wollte Ruhe und nicht neue aufreizende Verhandlungen. Es kam also schon am 20.12. zur Verbindlichkeitserklärung vor dem neuen Schlichter, dem früheren sozialdemokratischen Oberpräsidenten Philipp⁵, der in den folgenden Jahren eine große, nicht immer ruhmvolle, Rolle in der Textilindustrie gespielt hat. Immerhin war er im Grunde ein anständiger, rechtlich denkender Mann. Im übrigen hatte über alle Verwirrungsmanöver von Lang und Feinhals⁶ unser schlüssiges Material gesiegt. Besonders durchschlagend war, daß wir die Gewerkschafts-Statistik von 1913 gegen alle Verschleierungsversuche ausspielen konnten, eine Statistik, nach welcher die Friedenslöhne auch nominal noch mindestens 10 % unter den von uns errechneten lagen. Diese Statistik war natürlich seinerzeit nach unten entstellt worden, konnte aber von den Gewerkschaften jetzt nicht gut als falsch bezeichnet werden. So konnte denn nach den im Augenblick noch herrschenden Tendenzen von Wiederherstellung der Friedenslöhne, sogar mit „Entbehrungsfaktor“, Philipp nichts anderes tun, als den Schiedsspruch für verbindlich erklären, insonderheit weil er die Ablehnung und nachfolgenden neuen Verhandlungen mit Rücksicht auf die innere Ruhe nicht auf sich nehmen wollte. Der Tarif war bis Ende Februar befristet und gab uns erstmalig wieder einen festen Grund unter die Füße. Daß Lang versucht hat, den Schlichter, der entschieden nach bestem Wissen gehandelt hatte, in ein Ausschlußverfahren aus der sozialdemokratischen Partei zu ver5 wickeln, sei nur nebenbei bemerkt. Natürlich | hat er nichts erreicht, aber immerhin war dem guten Philipp, der ein überzeugter alter Kämpfer der sozialdemokratischen Partei war, dieser Terrorangriff etwas in die Knochen gefahren, was bei seinem späteren Verhalten offenkundig wurde. Felix Philipp (1868 – 1933), Gewerkschaftssekretär, sozialdemokratischer Politiker und Metallarbeiter. Philipp war u. a. Oberpräsident der Provinz Schlesien bzw. Niederschlesien. Josef Feinhals (1871– 1951), ab 1919 Hauptvorstandssekretär des Textilarbeiterverbandes, Mitglied im Bundesausschuss des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbunds und ab 1923 Mitglied des vorläufigen Reichswirtschaftsrates.
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Im übrigen gingen wir jetzt insofern zur Offensive über, daß wir uns weigerten, uns künftig mit Lang an einen Tisch zu setzen. Da tatsächlich eine wüste Beleidigung der Arbeitgeber vorlag, welche die Gewerkschaften bei der augenblicklichen allgemeinen Stimmung nicht brauchen konnten, konnten wir diese Maßnahme viele Monate durchhalten. Bei Ablauf des Tarifes Ende Februar wandte sich die Gewerkschaft an das Arbeitsministerium, um die verfahrene Sache wieder ins Gleis zu bringen. Da der Lebenshaltungsindex seit der Festlegung des 26 Pfg.-Lohnes durch das Arbeitsministerium am 20.11. inzwischen von 153 auf 103 gesunken war, hatten wir starkes Oberwasser. Trotzdem kam es schließlich zu einer provisorischen Vereinbarung einer Lohnerhöhung von 26 auf 27.3 Pfg., mit dem nachdrücklichen Wink des Arbeitsministeriums an die Gewerkschaft, daß der endliche Abschluß einer kompletten Tarifvereinbarung im Bezirk, unter Beteiligung der Arbeiter, wie er überall sonst zustande gekommen wäre, dringend erwünscht sei. Da wir, wie gesagt, unsere Weigerung, mit Lang zu verhandeln, mit unabweisbaren Gründen aufrecht erhielten, kam schließlich der vernünftige Schrader⁷ aus Berlin selbst nach Reichenbach, um das Kriegsbeil zu begraben. Er hatte wohl die richtige Empfindung, daß die Gewerkschaft sich durch ihre sture Haltung zwischen zwei Stühle gesetzt hatte zu Gunsten der Arbeitgeber einerseits und der Kommunisten andererseits. So kam es am 15. 5.1924 unter günstigen Auspizien zu verhältnismäßig sachlichen Verhandlungen, in welchen unser Tarif, der sich über 4 Monate fast ohne Reibungen bestens bewährt hatte, mit wenigen kleinen Änderungen von den Gewerkschaften in freier Vereinbarung angenommen wurde. Damit waren wir einen großen Schritt weiter. Daß wir eine Lohnerhöhung auf 30.3 Pfg. in Kauf nehmen mußten, war unabwendbar auf Grund der neuen Praxis, die sich leider schon wieder, geführt vom Arbeitsministerium, in anderen Tarifbezirken herausgebildet hatte. Doch davon später. Ich bin sowieso vorausgeeilt. Um die Entwicklung der Wirtschaft nach der Stabilisierung richtig zu verstehen, sind einige politische Hinweise nötig, da die wirtschaftliche Entwicklung nunmehr stark mit der politischen verwoben war. | Als nach der Revolution und den vernichtenden Waffenstillstandsverhand- 6 lungen die völlige Hoffnungslosigkeit der außenpolitischen Lage ganz entschleiert und jeder Versuch des Widerstandes sinnlos geworden war, wollte 90 % des überanstrengten Volkes nichts als Ruhe. Ruhe wollten auch die Berufspolitiker der den Staat nunmehr tragenden Parteien. Diese zogen sich mit ihrer in-
Karl Schrader (1868 – n.e.), Vorsitzender des Textilarbeiterverbandes und Mitglied im Bundesvorstand des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes.
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nenpolitischen Beute nach dem idyllischen Weimar zurück, um dort in aller Behaglichkeit, gelegentlich nur peinlich gestört durch die unvorstellbar grauenhaften Friedensverhandlungen, ihre parlamentarischen Errungenschaften durch eine entsprechende Verfassung zu sichern. Die sogenannte Weimarer Koalition (Zentrum, Demokraten und Sozialdemokraten) war aufgebaut auf lauter inneren Unwahrheiten. Die dort versammelten Mehrheitssozialisten dachten an alles andere als an ihre revolutionären Programmpunkte. Nur nicht den Feind reizen oder die unheimlichen Arbeitermassen in Bewegung bringen. Dafür die parlamentarischen Rechte der Volksvertreter recht schön ausbauen! Das Volk hatte ja die Errungenschaften der Revolution in Gestalt des 8Stunden-Tages, sie konnten schöne Tarifverhandlungen mit steigenden Löhnen führen. Die Frauen sollten ihr Wahlrecht bekommen und anderes mehr an Köstlichkeiten. Nun mußte der eigentliche Parlamentarismus der Berufspolitiker zum Recht kommen. August Winnig ⁸ hat einmal sehr treffend gesagt, es sei ein sozialistisches Kaisertum möglich oder eine sozialistische Diktatur der Masse bezw. die Gewaltherrschaft einzelner Demagogen, ein sozialistischer Parlamentarismus sei ein Widerspruch in sich. Er hat damit den Nagel auf den Kopf getroffen. Als sich die sozialistischen Führer der Gemütlichkeit des parlamentarischen Kuhhandels verkauften, hatten sie ihre eigenen Ideale verraten. Die Mehrheitssozialisten, immer noch die große Masse der Partei, hatten sich, wenigstens soweit sie ein Amt oder Ämtchen hatten, den kleinbürgerlichen Kanapee-Idealen verschrieben. Ich habe einmal auf einer Fahrt nach Berlin den noch im Weltkrieg gefürchteten Demagogen Löbe⁹ aus Breslau gesehen, wie er in tiefster Behaglichkeit zeitungslesend mit einer dicken Zigarre in der Ecke seines Abteils 1. Klasse saß, angetan mit einem schwarzen Rock und einer kamelhaarnen Strickweste, während zwischen Zugstiefeln und Hosenbeinen warme wollene Stricksocken gemütliche Wellen schlugen. Dieses Bild ist mir zum Symbol der damaligen Sozialdemokratie geworden. Mit Seherblick hat schon damals Spengler¹⁰ das Wort gesprochen: die sozialdemokratische Partei ist am 9.11.1918 zu Grabe getragen worden. | 7 Im Zentrum war der rechte feudale Flügel, der vor dem Weltkrieg zur schwarzblauen Mehrheit neigte, nunmehr geschickt hinter dem linken demo-
August Winnig (1878 – 1956), Gewerkschaftsfunktionär, Politiker und Schriftsteller und u. a. 1927 Gründer der Altsozialistischen Partei. Paul Gustav Emil Löbe (1875 – 1967), sozialdemokratischer Politiker, Reichstagspräsident und später Mitglied des Bundestags sowie dessen Alterspräsident. Oswald Spengler (1880 – 1936), Geschichtsphilosoph und im Zuge seines Werkes „Der Untergang des Abendlandes“ (Bd. 1: 1918) einer der prominentesten Intellektuellen der Weimarer Republik. Spengler positionierte sich als Gegner des parlamentarischen Systems.
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kratischen Flügel zurückgetreten, der von dem Schieber Erzberger¹¹ geführt wurde. Sie hofften durch ihr widernatürliches Bündnis mit der religionsfeindlichen Sozialdemokratie ihren Platz in der Regierung zu sichern und für die katholische Kirche Vorteile in den Hafen zu bringen. Einzig die Demokraten waren ihrem Programm treu geblieben. Die Weimarer Koalition hat nun, manchmal mit kleinen Varianten in der Regierungsbildung, fast 4 Jahre, d. h. bis zum Herbst 1922, ziemlich ungestört regiert. Da sie keinerlei zündende Parolen und noch weniger fruchtbare Taten aufzuweisen hatte, da sie mit den Friedensverhandlungen nach außen und der fortschreitenden Inflation nach innen belastet war, konnte sie weder bei rechts noch bei links viel Sympathien erwerben, und ihr neues schwarz-rot-goldenes Banner wehte recht trübselig in einer matten Luft. Was sie an der Macht hielt, war lediglich das immer noch vorherrschende Ruhebedürfnis des ganzen Volkes, das nur gelegentlich durch einzelne Aktionen gestört wurde, wie etwa durch den wüsten Spuk der Münchener Räteherrschaft, den jämmerlich dilettantischen Kapp-Putsch mit dem Kommunistenaufstand im Ruhrgebiet als Antwort oder durch die Brandschatzung der Holtz’schen Banden in Sachsen und Thüringen im März 1921. Andererseits drohten die rechtsradikalen Geheimbünde wie die Brigade Ehrhard, die Organisation Eschrich¹² [sic] und schließlich der allmählich aufflammende Nationalsozialismus, für den in München der rote Terror den Boden bereitet hatte. Erst die Morde an Erzberger und Rathenau¹³ im Sommer 22, die weiter Schule machen konnten, brachten die satten Regierenden ernsthaft in Unruhe und führten zu den Halbheiten des Republikschutzgesetzes. Schließlich, im November 1922, machte sich der mit Füßen getretene nationale Stolz und die Unbefriedigung der Masse infolge der fortschreitenden Inflation mit ihrer sozialen Not in der Regierung Kuno¹⁴ (Deutsche Volkspartei, Zentrum und Demokraten, ohne Sozialdemokraten) Luft. Als im Jahre 23 die Ruhrbesetzung erfolgte, flammte der Widerstand endlich auf. In dem anfangs grandios durchgeführten passiven Widerstand fand endlich der nationale Le-
Matthias Erzberger (1875 – 1921), deutscher Publizist und Politiker (Zentrum) im Kaiserreich und der Weimarer Republik. Unterzeichner des Waffenstillstands und Reichsfinanzminister (1919 – 1920), 1921 im Zuge eines Attentates ermordet. Die Organisation Escherich war eine 1920 in Regensburg gegründete landesweite Dachorganisation für Einwohnerwehren unter der Leitung des bayerischen Forstrates Georg Escherich (1870 – 1941). Walther Rathenau (1867– 1922), deutscher Industrieller (AEG), Politiker und Schriftsteller. Nach 1918 wirtschaftlicher Berater der Reichsregierung, Minister für Wiederaufbau (1921) und Reichsaußenminister (1922). 1922 im Zuge eines Attentates ermordet. Wilhelm Cuno (1876 – 1933), Reeder und Politiker sowie u. a. Reichskanzler zwischen 1922– 23.
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benswille einen Sammelpunkt. Freilich nur vorübergehend! Die Finanzierung des passiven Widerstandes durch die Notenpresse ließ die Währung zusammenbrechen und Kuno wurde im August 1923 gestürzt. | 8 Nun trat Stresemann¹⁵ in Erscheinung und – gestützt auf die sogenannte große Koalition (Deutsche Volkspartei, Demokraten, Zentrum, Sozialdemokraten) – brachte eine Regierung zusammen, die ich als eine temperierte nationale Notgemeinschaft bezeichnen möchte. Sie trug den Tatsachen Rechnung und brachte den Mut auf, den aussichtslos gewordenen Ruhrkampf nunmehr zu liquidieren. Am 26.9.23 wurde der passive Widerstand aufgegeben. Die Verhältnisse waren nun trostlos. Putschgefahren von rechts (Bayern) und links, Aufruhr der Masse durch die Hochinflation, das alles verlangte gebieterisch nach diktatorischen Maßnahmen, so daß Stresemann ein Ermächtigungsgesetz verlangte. Die Sozialdemokratie, die sich in keiner Weise nach vergrößerter Verantwortung drängte, wollte zuerst nicht mitmachen, bis sie, durch das fortschreitende WährungsChaos verängstigt, endlich nachgeben mußte. Am 3.10. nahm der Reichstag das Ermächtigungsgesetz an, das Stresemann fraglos mit Mut und Geschick handhabte. Der offene rote Widerstand von Sachsen und Thüringen zwang zu einer Reichsexekution, die auch tatsächlich durchgeführt wurde. Das war nun aber wieder den Sozialdemokraten zu viel, weil sie fürchten mußten, nun weiter an Boden in der großen Masse zu verlieren, und sie stürzten am 23.11. das Kabinett Stresemann, um sich gleichzeitig aus der Verantwortung zurückzuziehen. Es bildete sich jetzt ein Minderheitskabinett Marx¹⁶ (Zentrum) mit Zentrum, Demokraten und Volkspartei, in welchem der parteilose, aber rechtsstehende, Luther¹⁷ als Finanzminister auf diesem Gebiete Ordnung schaffen sollte. Hier tritt der Einfluss der Rechtsparteien, wenn auch anonym, erstmalig in Erscheinung. Inzwischen hatte die Politik erstmalig in die Wirtschaft eingegriffen, denn Stresemann hatte, gestützt auf das Ermächtigungsgesetz, am 30.10. die Schlichtungsordnung erlassen, wohl in der ehrlichen Absicht, auf dem Lohngebiet Ordnung zu schaffen. Diese Verordnung war von entscheidender Bedeutung, denn sie führte die staatliche Lohnbildung ein. Wohl hatte es schon vorher die Schlichtungsausschüsse gegeben, wobei dem Demobilmachungskommissar das Recht
Gustav Ernst Stresemann (1878 – 1929), deutscher Politiker, Reichskanzler und Außenminister. Stresemann wurde 1926 als erster Deutscher mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet (zusammen mit seinem französischen Amtskollegen Aristide Briand). Wilhelm Marx (1863 – 1946), Politiker und Reichskanzler, war Vorsitzender der ZentrumsFraktion im Reichstag, zwischen 1923 – 1925 und 1926 – 1928 Reichskanzler und Kandidat der Weimarer Koalition bei der Reichspräsidentenwahl 1925. Hans Luther (1879 – 1962), Oberbürgermeister von Essen, Reichsernährungs- und Finanzminister sowie Reichskanzler und Reichsbankpräsident.
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der Verbindlichkeitserklärung zustand, welches er wieder an die Regierungspräsidenten delegiert hatte. Aber beides waren nebenamtliche Einrichtungen gewesen. Vor allem von der Verbindlichkeitserklärung wurde sehr vorsichtig Gebrauch gemacht, schon um den geheiligten Klassenkampf, in dem sich die Gewerkschaften zunächst als die Überlegenen fühlten, mit seinem Streikrecht nicht zu beeinträchtigen. | Jetzt war aber die Schlichtungseinrichtung sozusagen offen plakatiert mit 9 hauptamtlichen Stellen, die sich ganz dieser Arbeit widmen sollten. Die Schlichtungsausschüsse erster Instanz blieben wie bisher bestehen, wobei die provinziellen hauptamtlichen Schlichter in erster Linie als zweite Instanz für die Verbindlichkeitserklärung gedacht waren. Allmählich haben dann die Schlichtungsausschüsse zunehmend an Bedeutung verloren. Der Schlichter zog die großen Streitigkeiten sofort an sich und das Arbeitsministerium als dritte Instanz betrieb nunmehr am laufenden Band Verbindlichkeitserklärungen. Doch damit bin ich zeitlich schon vorausgeeilt. Zunächst einmal schlug die Schlichtungsordnung wie eine Bombe ein. Man sah die Wirtschaft, die auch in der schwarz-rotgoldenen Republik grundsätzlich frei gewesen war, unter Staatszwang kommen. Die Unternehmer, welche nach den bösen Inflationserfahrungen die Zeit stabiler Lohnverhältnisse aufdämmern sahen, glaubten mit Recht die Stabilität wieder ernstlich bedroht, ehe sie überhaupt Tatsache geworden war. Zum ersten Male nahm die Industrie, die nicht umsonst durch das Fegefeuer der Inflation gegangen war, eine ernstlich drohende Haltung gegen die Regierung, insonderheit gegen Stresemann, ein. Dieser zeigte sich auch hier im inneren sofort als der gleiche geschickte Taktiker wie später in der Außenpolitik. Er warf der Wirtschaft einen Knochen hin in Gestalt des Arbeitszeitgesetzes. Dieses bestimmte das Anordnungsrecht des Arbeitgebers für Überstunden bis zu 54 Wochenstunden. Erst bei einer Erhöhung über 54 Stunden hinaus sollte das Einverständnis des Betriebsrates nötig sein. Wenn man in Betracht zieht, daß die Gewerkschaften fortgesetzt versucht hatten, Überarbeit zu verhindern und sogar die Überstundenverweigerung der einzelnen Arbeiter zu einem wirkungsvollen Kampfmittel auszubauen, das sehr viel billiger war als der Streik, so kam dieser Verordnung wirklich eine sehr hohe Bedeutung zu. Sie wirkte auch sofort als Erisapfel, denn kurzsichtige industrielle Kreise wurden von diesem sofort realisierbaren Geschenk der Arbeitszeitverlängerung so stark angelockt, daß für sie die drohende Lohnschraube, die ja erst in Zukunft wirksam werden konnte, in den Hintergrund trat. Trotzdem gaben aber die weitsichtigen Industriellen den Widerstand noch lange nicht auf. Wenn sie auch keineswegs die Bedeutung der Arbeitszeitverordnung übersahen, so ließen sie sich doch andererseits von dem Taumel der 54- und 60-stündigen Arbeitszeit nicht blenden, in der | richtigen Erkenntnis, daß der 8-Stundentag längst zum 10
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geheiligten internationalen Recht geworden war und daß die Bedeutung der Arbeitszeitverordnung nicht in einer allgemeinen Arbeitszeitverlängerung, sondern lediglich in dem, natürlich hochwichtigen, Recht lag, dringende Überstunden ohne Schwierigkeiten durchzuführen. Nachdem die Währungsstabilisierung die Verhältnisse wieder halbwegs konsolidiert hatte, wurde die Rücknahme der Schlichtungsordnung kategorisch verlangt, und es wurden Stimmen, wohl ausgehend von der „nordwestlichen Gruppe“ des Arbeitgeberverbandes, laut, die ernstlich in einen Generalstreik der Arbeitgeber durch Schließung ihrer Betriebe eintreten wollten, wenn dem Verlangen nicht stattgegeben würde. Zunächst sollte für diesen Gedanken geworben und die Stimmung sondiert werden. Im hiesigen Bezirk kamen ganz wenige Unternehmer zu einer streng vertraulichen Fühlungnahme in einem Nebenraum des Gasthauses „Zur Sonne“ in Reichenbach zusammen. Ich entwickelte mit Nachdruck und Begeisterung den Gedanken – und stieß zunächst einmal auf fassungsloses Entsetzen bei Dr. Schäfer, mit dessen nüchterner Einstellung ich durchaus gerechnet hatte. Für ihn war es plötzlich eine Angelegenheit der Weltanschauung: „Wir verurteilen den Generalstreik auf der Gegenseite, weil er den parlamentarisch demokratischen Idealen ins Gesicht schlägt.“ Ich antwortete: „Ich verurteile gar nichts, nachdem wir erfahren haben, daß nur die Macht sich durchsetzt und die Gegenseite sie skrupellos zu benutzen versteht.“ Die anderen schlossen sich grundsätzlich meiner Meinung an, aber waren schon wieder recht bedenklich gestimmt. Es war mir schlagartig klar, daß, wenn Leute wie Dr. Schäfer, der die Konsequenzen der Schlichtungsordnung völlig übersah, schon eine derartige, auf ehrlichen Grundsätzen beruhende, Haltung einnahm, die weichen Arbeitgeber, in erster Linie die jüdischen, nicht mitmachen würden, und ich erlebte das erste Mal, daß die Industriellen niemals zu einer entschlossenen Tat, die aufs Ganze geht, zusammenzubekommen waren. Ob die Angelegenheit überhaupt in Breslau noch verhandelt worden ist, weiß ich nicht mehr. Es war jedenfalls bald zu merken, daß die Sache auch in den anderen Bezirken zu Wasser wurde. Der Köder der Arbeitszeitverordnung und der Opportunismus der Unternehmer hatte wieder einmal die Einheitsfront, die anfangs unter den furchtbaren Eindrücken der Vergangenheit ausnahmsweise da war, zerschlagen. | 11 Man wird sich heute, nachdem die wahre Verantwortung der Wirtschaft ein ominöser Begriff und die staatliche Lohnbildung eine Selbstverständlichkeit geworden sind, schwer in unsere damalige Auffassung hineindenken können. Ich habe mich heute, nachdem ich die Hoffnungslosigkeit des Klassenkampfes schon in den Jahren 1925 – 30 klar erkannt habe, längst zu der Ansicht bekannt, daß die staatliche Lohnbildung – allerdings nur in der großen Linie – unvermeidbar ist. Zwingende Voraussetzung dafür ist aber eine autoritative Regierung. In Zeiten der schwarz-rot-goldenen Regierung, in der alle Parteien – wohlgemerkt: ein-
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schließlich der Deutschnationalen – immer bereit waren, die Gunst der Massen durch Konzessionen gerade auf diesen Gebieten zu erbetteln, mußte eine staatliche Lohnbildung, sofern sie sich nicht auf Einschreiten in Notfällen beschränkte, zu dem unheilvollen Wettrennen zwischen Löhnen und Preisen führen. Daß die Schlichtungsordnung tatsächlich unsere damaligen Befürchtungen voll gerechtfertigt und zur Katastrophe der Wirtschaft maßgebend beigetragen hat, wird später erläutert werden. Es muß in diesem Zusammenhang festgestellt werden, daß keine Partei im parlamentarischen System den Mut gehabt hat, für eine gradlinige Wirtschaftspolitik einzutreten. Hier war einmal Gelegenheit gegeben, sich ohne parlamentarische Unterstützung durch Selbsthilfe Respekt zu verschaffen, eine Gelegenheit, die nur wenige Wochen vorhanden war und wohl nie wieder kommen würde, denn damals hatten die Unternehmer ausnahmsweise das Heft in der Hand. Mathematisch beweisen kann man freilich nicht, wie diese Aktion verlaufen wäre und was für Erfolge sie, auf lange Sicht gesehen, gehabt hätte. Aber die Möglichkeiten der nie widerkehrenden [sic] Stunde waren des großen Einsatzes wert, eines Einsatzes, zu dem sich leider das Bürgertum nie und nirgends aufgerafft hat. Nachdem diese Sache versandet war, fühlte ich mich wie nach einer verlorenen Schlacht. Ich habe mich vielleicht bei diesen Dingen reichlich lange aufgehalten, aber ich glaubte, es tun zu sollen, weil nichts das aufwühlende Erlebnis dieser wilden Inflationszeit so charakterisieren kann wie die Tatsache, daß in den Kreisen der vorsichtig abwägenden Industriellen Gedanken an derartige Gewaltaktionen, wie sie wohl in der Geschichte der modernen Wirtschaft unerhört sind, aufkommen konnten. | Hatte die mannhafte Tat des Ruhrkampfes trotz ihres schließlichen Mißer- 12 folges weiten Kreisen im Inland den Glauben an das deutsche Volk bis zum gewissen Grade zurückgegeben, so war er meiner unumstößlichen Überzeugung nach auch nicht ohne Einfluß auf die außenpolitische Atmosphäre geblieben. Zunächst einmal erwachte im Ausland, wenn auch nur uneingestandenermaßen, unter der Oberfläche der Öffentlichkeit doch wieder etwas wie Achtung vor dem deutschen Volk. Außenpolitisch ließ der Griff Frankreichs nach dem Ruhrgebiet die Erinnerung an die traditionelle englische Gleichgewichtspolitik wieder erwachen. Das immer weiter steigende Übergewicht Frankreichs in Europa fing an unheimlich zu werden. Aus anderen Gründen wünschte Amerika endlich eine Ordnung in Europa, in der Deutschland wieder als wertvoller Handelspartner auftreten konnte. So hatten die Vereinigten Staaten unmittelbar nach dem Ruhreinmarsch ihre Besatzungstruppen aus dem Rheinland zurückgezogen, ein deutlicher Wink, daß es mit dieser wilden Politik nichts mehr zu tun haben wollte. England ließ im August 1923 durch seinen Kronjuristen feststellen, daß die Ruhrbesetzung gegen
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die bestehenden Verträge verstieße. Auch gegen Frankreichs Verhalten in der pfälzischen Separatistenfrage nahm England Stellung, wenn es auch nicht recht wagte, über theoretische Feststellungen seiner Ansicht hinauszugehen. Dieser Machtzuwachs Frankreichs begann auch im englischen Volk ein gewisses Ärgernis zu erregen, und da auch die große Wirtschaftskonjunktur der ersten Nachkriegsjahre abgeflaut war, fand die Stimmung in einem Regierungswechsel Ausdruck. Im Januar 1924 trat an die Stelle des Konservativen-Kabinetts Baldwin¹⁸ der Führer der Arbeiterpartei Macdonald¹⁹. Auch im französischen Volk, dessen Regierung vorläufig den wilden Mann stur weiter spielte, machte sich langsam Unbehagen geltend. Unter anderem war die nun auch in Frankreich deutlich werdende Inflation ein bedenklicher und recht enttäuschender Erfolg der Ruhrbesetzung. Bei den Kammerwahlen im Mai 1924 verlor der nationale Block 123 Sitze, so daß Poincaré²⁰ sich veranlaßt sah, vom Posten des Ministerpräsidenten zurückzutreten. Als später im Laufe des Jahres 1925 der Franc immer weiter fiel und der Finanzminister Caillaux²¹ nach New York fuhr, um die Streichung der französisch-amerikanischen Kriegsschuld durchzusetzen, erhielt er die nüchterne Antwort: „Ein Volk, das eine Riesenarmee unterhält, um sich Extravaganzen wie die Ruhrbesetzung zu leisten, und Geld genug hat, um die Polen zu bewaffnen, könne auch seine internationalen Schulden zahlen.“ So wird auch Frankreich 13 sehr zum Mißvergnügen seiner | einflußreichen Generäle langsam reif für eine gewisse Verständigungspolitik, für welche Briand²² als Außenminister (April 1925) die erste Andeutung ist. Also: es sieht in der Welt doch etwas anders aus als in den ersten Jahren nach Kriegsende. Inzwischen war im Juni 1924 der Dawes-Ausschuß zusammengetreten, ein Kollegium internationaler Sachverständiger, welches die deutsche Zahlungsfähigkeit prüfen und Wege suchen sollte, wie der deutsche Staatshaushalt und seine
Stanley Baldwin (1867– 1947), einflussreicher konservativer Politiker in Großbritannien der Zwischenkriegszeit. Er war in den Jahren 1921– 1937 Handelsminister, Schatzkanzler und mehrfach Premierminister. James Ramsey MacDonald (1866 – 1937), Politiker, Regierungschef, Pazifist und Sozialdemokrat, war britischer Labour-Abgeordneter, zweifacher Premierminister und Außenminister. Raymond Poincaré (1860 – 1934), französischer Politiker, Jurist, Präsident, Minister und Senator. Er war u. a. Ministerpräsident und Außenminister (1912– 1913), Präsident der Republik (1913 – 1920), Ministerpräsident und Außenminister (1922– 1924) und Ministerpräsident und Finanzminister (1926 – 1929). Joseph Caillaux (1863 – 1944), französischer Politiker und Schriftsteller. Er war u. a. zwischen 1899 – 1935 mehrfach Finanzminister und Premierminister (1911– 1912). Aristide Briand (1862– 1932), französischer Politiker. Briand war zwischen 1906 – 1932 mehrfach französischer Minister, u. a. für Justiz und Äußeres. Ihm wurde 1926 zusammen mit Gustav Stresemann der Friedensnobelpreis verliehen.
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Finanzen überhaupt geordnet werden könnten. Es bezeichnet einen Tiefpunkt in der ruhmlosen Geschichte der Republik, daß die Regierung einwilligen mußte, dem Ausland wie ein zahlungsunfähiger Kaufmann sozusagen alle Bücher offen zu legen, einschließlich denen der Staatsbetriebe, wie der Reichsbahn usw. Der Dawes-Plan²³ wurde im Juli 1924 auf der Londoner Konferenz zum Abschluß gebracht und im August durch den deutschen Reichstag angenommen. Diese Abmachungen sind, international gesehen, der Ausfluß eines gewissen Ordnungswillens.Vor allem die Vereinigten Staaten, aber auch England, hatten es aus reinen Zweckmäßigkeitsgründen satt, die tolle Willkür weiter mitzumachen, die schließlich zur Auflösung der deutschen Wirtschaft durch die Inflation geführt hatte, und in deren Schlußakt, der Ruhrbesetzung, die kontinentale Welt in ein dauerndes Chaos zu stürzen drohte. Schließlich hatte auch Frankreich Interesse an der Wiederaufnahme der Reparationen, die natürlich in der Inflation untergegangen waren, und zwar zur Stützung seiner eigenen bedenklich schwankenden Wirtschaft. Der Dawes-Plan war ein raffiniertes Ausbeutungsinstrument mit der Grundtendenz, die Henne nicht zu schlachten, welche die goldenen Eier legen sollte. Er brachte Deutschland eine Festlegung der Reparationslasten, die 1928 die „Normalhöhe“ von 2.5 Milliarden erreichen sollte, einer Summe, die bestimmt auf die Dauer nicht transferierbar war. Auch sonst brachte er bedenkliche Errungenschaften, wie die Kommerzialisierung der Reparationsschulden in Gestalt einer Hypothekenbelastung der deutschen Industrie von 5 Milliarden und der Reichsbahn von 11 Milliarden, ferner blamable Kontrollen, Verpfändungen usw. Aber – er setzte an die Stelle von Willkür und immer neuen Erpressungen: Ordnung! Sanktionen müssen nunmehr von allen Gläubigerstaaten (nicht nur von der Mehrheit!) gutgeheißen, schon getroffene wieder aufgehoben werden, so die Ruhrbesetzung, wenn in diesem Fall auch erst in einem Jahr, d. h. im Sommer 1925. | Es ist billig, auf Regierung und Reichstag zu schimpfen, weil sie dem Volk 14 diese untragbaren Lasten aufgebürdet haben. Hätten sie ablehnen sollen? Kein Heer, keine Flotte, zahlungsunfähig, ein Reichstag, der mit seinen Berufspolitikern noch genau so albern war wie der im Weltkrieg, dahinter ein geschundenes Volk, in dem wohl der nationale Behauptungswille langsam wieder Platz griff, ohne jedoch bisher die Arbeiter in nennenswertem Umfang ergriffen zu haben. Die waren überwiegend noch immer überzeugte international denkende Marxisten und ausnahmslos (bis auf die Radau-Elemente) ruhebedürftig. Um sie für die Benannt nach Charles Gates Dawes (1865 – 1951), Politiker, Rechtsanwalt, Bankier, Botschafter und in den Jahren 1925 – 1929 Vizepräsident der USA. 1925 erhielt er zusammen mit dem englischen Außenminister Joseph Chamberlain den Friedensnobelpreis. Dawes war u. a. Vorsitzender der alliierten Sachverständigenkommission zur Regelung der deutschen Reparationszahlungen.
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nationalsozialistische Erhebung reif zu machen, war erst noch der Leidensweg der Massenarbeitslosigkeit nötig. Umgekehrt war auch die internationale Atmosphäre für eine deutsche Ablehnung ohne die Folgen wilder Zwangsmaßnahmen noch nicht reif. Die Demonstration des Ruhrkampfes (denn eine Demonstration war sie ja schließlich geblieben) konnte man nur einmal machen. Der Dawes-Plan war ein Diktat: annehmen oder ablehnen. Ablehnen ging nicht, also mußte man ihn wohl oder übel annehmen, da er wenigstens die nötige Ordnung brachte, ohne die es im Augenblick nicht ging, und mußte das übrige der Zukunft überlassen. Am 20.7.1925 begann die Räumung des Ruhrgebietes. Die Atmosphäre der Verständigung machte schüchterne Versuche, sich zu verdichten. Italien begann als unbequemer Nachbar Frankreichs mit eigenen Ideen aufzutreten, die französische Isolierung stieg, der Franc sank. Das waren wohl die Motive, die nach Locarno (Oktober 1925) führten. Wie der Dawes-Plan brachte auch der Locarner Vertrag neue Vergewaltigungen und Lasten, die teilweise sogar über den Versailler Vertrag hinausgingen. Aber auch er setzte Ordnung an die Stelle von Willkür. Die Grenze zwischen Frankreich und Deutschland wurde neu bestätigt und zwar unter Garantie aller Vertragsmächte. Das bedeutete Bestätigung des Verzichtes auf Elsaß-Lothringen, aber andererseits das Ende der unaufhörlichen Quertreibereien, wie der Separatistenaufstand, hinter dem ja letzten Endes der Griff nach der Rheingrenze drohte, nach dem tausendjährigen Plan, den Frankreich immer noch nicht aufgegeben hatte. Schiedsverträge mit Frankreich und anderen Staaten traten nun an die Stelle einseitigen Rechtsbruches. Im übrigen galt von der Frage, sollte man in Locarno abschließen oder nicht, ähnliches wie von Annahme oder Ablehnung des Dawes-Planes. | 15
. . . . ʺ . . ʺ . . im März ʺ
Räumung der Kölner Zone Eintritt Deutschlands in den Völkerbund Stresemann und Briand in Thoiry Zurückziehung der interalliierten Militärkommission tagt der Völkerbundsrat unter dem Vorsitz von Stresemann
Man hat diesen Abschnitt der deutschen Außenpolitik durch die Einreihung unter den Begriff „Erfüllungspolitik“ nach allen Regeln der Kunst verächtlich gemacht. Gewiß treibt es einem immer wieder die Schamröte ins Gesicht, wenn man sieht, wie damals mit Deutschland Schindluder getrieben wurde. Wir wollen nicht orakeln, wie alles gekommen wäre, wenn Deutschland 1918 nicht in Würdelosigkeit versunken wäre. Nun war aber diese Schmach Tatsache geworden, nun war der Widerstandswille des Volkes gebrochen, nun hatten wir einmal die Segnungen des Weimarer Parteienstaates. Nun standen wir, verächtlich geworden
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durch eigene Schuld, einer Welt rachsüchtiger Neider machtlos gegenüber. Zu einem Levée en masse war vor den bitteren Jahren der Wirtschaftskrise weder das deutsche Volk reif genug, noch die Feinde mürbe genug, um diese Erhebung tatenlos hinzunehmen. Dazu war erst die Aufdeckung ihrer Pleite in der Weltwirtschaftskrise nötig, der Pfund-Sturz, die Versandung und Entmächtigung des Völkerbundes, der zunehmende innere Verfall Frankreichs und anderes mehr. Wenn man unvoreingenommen bedenkt, von welchen nicht weg zu diskutierenden Tatsachen Stresemann ausgehen mußte und wenn die Politik eine Kunst des Möglichen ist, hat er diese Kunst mit Erfolg geübt. Bis 23 herrschte einfach der Kriegszustand weiter, unter welchem Deutschland täglich den Fußtritten der Feinde ausgesetzt war. 1927 hatte Deutschland doch wieder eine Rechtsstellung unter den Völkern (wenn auch eine schlechte) und konnte in einem halbwegs geordneten Friedenszustand in Ruhe arbeiten. Bis 1923 konnte Deutschland im Vorzimmer warten (das gilt fast buchstäblich), bis es zu einer Entscheidung der Siegerstaaten vorgelassen wurde. 1927 präsidierte Stresemann den Völkerbundsrat. Auch derartige Äußerlichkeiten spielen praktisch und im Unterbewußtsein der politischen Strömungen eine ganz beträchtliche Rolle. Ich glaube, daß Stresemann in den 6 Jahren seiner politischen Wirksamkeit der Mann war, den wir in der damaligen Zeit brauchten. Vielleicht ist er Ende 1929 in dem Augenblick gestorben, als seine Mission erfüllt war. In den kommenden Jahren hätte er wohl mit den feinen Waffen seiner Politik nichts mehr ausrichten können. | Eines ist sicher: hätte unsere Innenpolitik ebenso das bestmögliche aus der 16 Sachlage herausgeholt wie die Außenpolitik, wäre manches anders gekommen. Doch dieses negative Urteil gilt zunächst nur von Regierung und Parlament. Im Volk machte sich die erwachte Selbstbesinnung zunehmend bemerkbar. Während die rechtsradikalen Geheimbünde bisher mehr landsknechtartigen Frondeurcharakter mit jederzeitiger Putschbereitschaft gehabt hatten, trat der Stahlhelm, der zwar schon 1918 gegründet worden war, aber erst bei der Kommunistengefahr des Jahres 1923 seine Bedeutung erlangt hatte, nunmehr ohne Versteckspiel nach außen hin in Erscheinung. Allgemein trug man seine schwarzweiß-rote Gesinnung wieder offen zur Schau. Als am 13.4.1924 der erste Reichstag der Republik wegen Ablehnung des notwendigerweise unbefriedigenden Aufwertungsgesetzes aufgelöst wurde, trat eine gewaltige Umschichtung zu Tage. Die Sitze der Deutschnationalen stiegen von 47 auf 106, die der Deutschen Volkspartei von 21 auf 61, letztere zu Lasten der Demokraten, die von 73 auf 28 zurückgingen, was besonders bemerkenswert ist. Die Mehrheitssozialisten und Kommunisten zusammen fielen von 197 auf 161. Das Zentrum gab von 88 Sitzen 16 an die abgespaltene Bayerische Volkspartei ab, 7 an die Rechtsparteien. Wenn man die 32
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Sitze der Deutschvölkischen unter Ludendorff ²⁴ in Betracht zieht, waren die Rechtsparteien von 68 auf 199 Sitze gestiegen. Da man in vielleicht entscheidenden Fragen auch die 16 Abgeordneten der Bayerischen Volkspartei mit zur Rechten zählen konnte, wären diese von 16 % auf 46 % gestiegen, d. h. verdreifacht, blieben aber immer noch in der Minderheit. Eine ganz neue Sachlage ergab sich, als der Reichspräsident Ebert²⁵, der sich durch seine zurückhaltende und nicht würdelose Amtsführung gewisse Sympathien über seine Kreise hinaus erworben hatte, wenige Monate vor Ablauf seiner Amtszeit plötzlich starb. Der Rechtsblock (Deutschnationale und Deutsche Volkspartei) einigten sich auf den parteilosen Oberbürgermeister Jarres²⁶, die Sozialdemokraten stellten Braun²⁷ auf, das Zentrum Marx, die Bayerische Volkspartei Held²⁸, die Demokraten Hellpach²⁹ und die Kommunisten Thälmann³⁰. Die Deutschvölkische Partei, welche eine parlamentarische Auffangorganisation für die Nationalsozialisten darstellte, präsentierte Ludendorff. Im ersten Wahlgang erhielten: Jarres Braun Marx
. Mill. Stimmen . ʺ ʺ . ʺ ʺ
17 die übrigen sehr viel unbedeutendere Stimmzahlen. Das war ein großer | Erfolg für
die Rechte, aber man konnte sich trotzdem ausrechnen, daß bei einer Einigung der Linksparteien diese im zweiten Wahlgang doch das Rennen machen würden.
Erich Ludendorff (1865 – 1937), General im Ersten Weltkrieg, Politiker, Militärschriftsteller und Kriegstheoretiker. Friedrich Ebert (1871– 1925), sozialdemokratischer Politiker, seit 1913 SPD-Vorsitzender, Vorsitzender des Rats der Volksbeauftragten. Ebert war seit 1918 Reichskanzler bzw. seit 1919 erster Reichspräsident der Weimarer Republik. Karl Jarres (1874– 1951), Jurist und Politiker (DVP) in der Weimarer Republik. Er war Oberbürgermeister von Duisburg, zeitweilig Innenminister und Kandidat für die Reichspräsidentenwahl im ersten Wahlgang 1925. Otto Braun (1872– 1955), sozialdemokratischer Politiker in der Weimarer Republik, zwischen 1920 – 1932 mit Unterbrechungen preußischer Ministerpräsident und Kandidat im ersten Durchgang der Reichspräsidentenwahl 1925. Heinrich Held (1868 – 1938), Journalist, Politiker und Mitbegründer der Bayerischen Volkspartei (BVP). Von 1924 bis zu seiner Absetzung 1933 bayerischer Ministerpräsident. Willy Hugo Hellpach (1877–1955), deutscher Politiker, Psychologe und Nervenarzt, u.a. kandidierte er 1925 für die Deutsche Demokratische Partei (DDP) bei der Wahl zum Reichspräsidenten. Ernst Thälmann (1886 – 1944), Politiker in der Weimarer Republik und zwischen 1925 – 1933 Vorsitzender der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), die er im Reichstag vertrat und für die er in den Reichspräsidentenwahlen von 1925 und 1932 kandidierte.
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Da verfiel man rechts auf den mitreißenden Gedanken, Hindenburg³¹ aufzustellen, der nach erheblichem Zögern schließlich einwilligte. Das jagte den Linksparteien einen beträchtlichen Schrecken ein, die sich nunmehr in einem Volksblock zusammenschlossen. Der selbstverständliche Kandidat für den Volksblock wäre eigentlich Braun gewesen, der genau noch einmal so viel Stimmen gehabt hatte wie Marx. Man hatte wohl aber die richtige Empfindung, daß bei der Entscheidung zwischen Hindenburg und einem Sozialdemokraten eine große Schar kleinbürgerlicher Mitläufer, vor allen Dingen aber auch rechtsstehende Teile des Zentrums, Hindenburg zufallen würden. Es ergab sich also die Groteske, daß die Sozialdemokratie, welche durch ihre Revolution sozusagen der Vater des neuen Staates war, auf die Aufstellung eines Kandidaten für dessen Spitze einfach verzichtete. Beim Wahlkampf gingen die Wogen hoch. Der Stahlhelm trat als imposant geschlossene und disziplinierte Macht für seinen alten Heerführer auf, was der Sache einen guten Hintergrund gab. So gelang denn der große Schlag. Im zweiten Wahlgang erhielten: Hindenburg Marx Thälmann
. Mill. Stimmen . ʺ ʺ . ʺ ʺ
Das ganze deutsche Volk hatte mit Spannung am Radio gesessen und das dramatische Schwanken des Züngleins an der Waage verfolgt. Entsprechend groß war die Begeisterung, als gegen 2 Uhr in der Nacht das Ergebnis im wesentlichen feststand. Die Bedeutung dieser Wahl kann wohl kaum überschätzt werden. Nach außen hin bewies das deutsche Volk, daß es sich in weiten Kreisen wieder auf sich selbst besonnen hatte, wodurch es, ähnlich wie schon im Ruhrkampf, in der internationalen Welt einfach an Gewicht zunahm. Innen hatten alle deutschfühlenden, ganz gleichgültig welcher Parteirichtung, einen Kristallisationspunkt, der außerhalb der politischen Drecklinie lag. Auch die Marxisten konnten die Person Hindenburgs nicht bespeien, ohne mit Protest in ihren eigenen Reihen rechnen zu müssen. Als 2 ½ Jahre später am 18.9.1927 Hindenburg bei der Tannenberg-Feier sich feierlich von der Kriegsschuldlüge lossagte, erhielt diese ganze Entwicklung eine Krönung. Diese Tat war ein symbolischer Ausdruck für all das, was das | deutsche Volk von Hindenburg erwartete. Hieran sei im übrigen eine sehr nüch- 18 terne Erwägung geknüpft. Diese erste entscheidende Absage an den Versailler Vertrag wäre vor der Verständigung von Locarno, um diesen Namen zum Aus Paul von Beneckendorff und von Hindenburg (1847– 1934), Generalfeldmarschall im Ersten Weltkrieg und von 1925 – 1934 Reichspräsident.
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druck der allgemeinen Stimmung zu machen, nicht möglich gewesen. Oder zweifelt jemand daran, daß eine derartige Erklärung einige Jahre vorher mit wüsten Repressalien beantwortet worden wäre? In weitem Abstand von diesem glückhaften Aufraffen des Volkes wickelte sich die Innenpolitik der politischen Mächte ab. Die Deutschnationalen, als nunmehr stärkste Partei im neuen Reichstag (106 Sitze gegen 100 der Mehrheitssozialisten), konnten trotzdem in die Regierung nicht gut eintreten, da gerade der Dawes-Plan zur Debatte stand, den sie mit Rücksicht auf ihre Wähler natürlich nicht annehmen konnten, für dessen Ablehnung sie aber begreiflicherweise die Verantwortung auch nicht übernehmen wollten. So ergab sich die parlamentarische Groteske, daß das Minderheitskabinett Marx (Zentrum, Deutsche Volkspartei, Demokraten und einige rechtsstehende Parteilose wie Luther und Jarres) trotz der völligen Umschichtung des Reichstages im Amt blieb. So wurde am 29.8. der Dawes-Plan vom Reichstag angenommen, wobei die Deutschnationalen mit lautem Protest ablehnen konnten, da die Mehrheit ja ohnehin sichergestellt war. Es wirkt wie ein Scherz, daß beim Reichsbank-Gesetz, welches verfassungsändernd war und einer 2/3-Mehrheit bedurfte, die Hälfte der Deutschnationalen brav mit Ja stimmte, weil sonst der ganze Dawes-Plan ins Wasser gefallen wäre. Nichtsdestoweniger wurden diese „Ja-Sager“ von ihrer Partei wütend mit Dreck beschmissen, was wir in einer Deutschnationalen Versammlung in Reichenbach (Graf Seidlitz³²) mit erlebten. Dieses seiltänzerische Kunststück darf man aber der Partei nicht übel nehmen. Es war einfach die unumgängliche Folge der parlamentarischen Regierungsform. Sachlich regieren und Propaganda treiben sind eben zwei sehr verschiedene Dinge, die nicht immer zu einander passen. Tatsächlich war es ja auch dringend nötig, daß irgend eine Partei den berechtigten Zorn der Patrioten gegen die unerhöhrten Zumutungen der im Augenblick leider unvermeidbaren Erfüllungspolitik wachhielt. So kin’sch ist nun mal die Welt! Nun, nachdem das Hindernis des Dawes-Planes weggeräumt war, wollten die 19 Deutschnationalen begreiflicherweise in die Regierung hinein. Das gab | eine große Verlegenheit, da man daraus, nicht ganz mit Unrecht, Komplikationen kommen sah, andererseits nach parlamentarischen Spielregeln die stärkste Partei keinesfalls von der Regierungsbildung ausgeschlossen werden konnte. Als eine nochmalige Auflösung des Reichstages im Herbst keine entscheidende Veränderung der Sachlage brachte, kam es nach einer wochendauernden Kabinettskrise zur Bildung des Kabinetts Luther (Parteilos), unter Einbeziehung der Deutschnationalen. Es ist bezeichnend, daß sich die Deutschnationalen jetzt, da sie in der
Ernst Julius Graf von Seidlitz-Sandreczki (1863 – 1930), war Vorsitzender der Deutschkonservativen Partei und Mitglied des preußischen Herrenhauses.
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Regierung saßen, der Locarno-Politik nicht entziehen konnten. So verhinderten sie das Zustandekommen des Locarno-Paktes am 15.10.1925 nicht, mussten sich aber wenige Tage vor der Ratifizierung durch den Reichstag, welche am 27.10. erfolgte, sich [sic] aus der Regierung zurückzuziehen, da sie der Empörung in ihren Reihen nicht standhalten konnten. Nach der üblichen Kabinettskrise kam im Januar 1926 ein zweites Kabinett Luther zustande, ohne die Deutschnationalen, und wieder ohne die Sozialdemokraten. Schließlich traten die Deutschnationalen im Januar 1927 wieder in das vierte Kabinett Marx ein, welches bis in den Juni 1928 im Amt blieb. In knapp 5 Jahren hatten wir, schlecht gerechnet, 6 Kabinette verbraucht. Bemerkenswert ist, daß die Sozialdemokraten sich 4 ½ Jahre nicht an der Regierung beteiligten. Anfang 1925 begann, als Himmelsgeschenk für die Rechtsparteien, der Riesenschieber-Prozeß gegen die Brüder Barmat³³, durch welchen sozialdemokratische Minister schwer und einige Zentrumsleute leichter bloß gestellt wurden.Während sich das Zentrum, geschickt wie immer, den Folgen halbwegs zu entziehen wußte, zog die Empörung gegen die Roten weiteste Kreise. Die Sozialdemokraten rächten sich dann, man kann fast sagen in landesverräterischer Weise, durch die Hetze gegen die Reichswehr (Scheidemann-Rede), der Seeckt³⁴ zum Opfer fiel am 8.10.1926. Damit war es den Sozialdemokraten gelungen, die Linksparteien wieder einigermaßen mißtrauisch gegen den Zug nach rechts zu machen und ihnen sozusagen wieder eine Parole zu geben. In diesen Jahren der temperierten Rechtsregierung ist fraglos in vielen Beziehungen wacker gearbeitet worden, jedenfalls wenn man es mit den Vorjahren vergleicht. Aber auch der Einfluß der Rechten hat an dem ewigen Kuhhandel nichts geändert, und gerade die Deutschnationalen waren jederzeit bereit, Konzessionen auf dem Gebiet der sozialen Mißwirtschaft zu machen, wenn dadurch ihre ureigensten Belange, vor allem die der Landwirtschaft, nicht unmittelbar berührt wurden. Vielleicht | ein unentrinnbarer Ausfluß des parlamentarischen Systems! Für mich, der ich 20 damals als Mitglied des Reichswirtschaftsrates den Dingen in Berlin schon ziemlich nahe stand, war es jedenfalls eine bittere Enttäuschung.
Julius (1889 – 1938) und Henri (Herschel) (1893 – nach 1962) Barmat. Julius Barmat war ein in der niederländischen sowie deutschen Sozialdemokratie aktiver Kaufmann. Sein Barmat-Konzern, dessen Aufbau am Anfang der 1920er Jahre durch Kredite finanziert war, wurde 1924 zahlungsunfähig, was in den Folgejahren zu einer öffentlichkeitswirksamen Anklage und Verurteilung führte. Hans von Seeckt (1866 – 1936), preußischer Generaloberst, war u. a. zwischen 1920 – 1926 Chef der Heeresleitung und prägender Organisator der Reichswehr als „Staat im Staat“. Zwischen 1930 – 1932 hatte er ein Reichstagsmandat für die Deutsche Volkspartei (DVP).
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Die Reichstags-Neuwahl vom 20. 5.1928 führte zu einem erheblichen Ruck nach links. Die Mehrheitssozialisten und Kommunisten zusammen stiegen auf 200 Sitze, die Deutschnationalen und Deutschvölkischen fielen auf 90. Einzig die Deutsche Volkspartei hielt sich, während andererseits die Demokraten ihren Abstieg fortsetzten. Die bürgerlich-liberale Weltanschauung des 19. Jahrhunderts hatte offensichtlich ihre Zugkraft verloren. Was war nun der Grund für dieses Zurückgleiten nach links? Ich glaube, daß es nach dem unerwarteten umfassenden Aufschwung der deutschen Wirtschaft dem Volk schon wieder zu gut ging. Das neue Kabinett Müller³⁵ (Sozialdemokrat) regierte bis März 1930 und mußte (zum Heile der Rechtsparteien!) das Odium des Wirtschaftszusammenbruches auf sich nehmen, obgleich meiner festen Überzeugung nach der Keim zu diesem Zusammenbruch schon bei seinem Amtsantritt gelegt war. Damit wenden wir uns wieder der Wirtschaft zu, die nach der Stabilisierung erstaunlich schnell wieder in Gang kam. Der angestaute Bedarf des Handels machte sich sogar schon vor der Stabilisierung, d. h. an Hand der Rentenmark und des wertbeständigen Notgeldes wieder geltend, so daß schon im November ein recht schöner Verkauf einsetzte. Das erste Vierteljahr 1924 ergab einen Rekordverkauf, der später nie wieder erreicht wurde, und zwar von 95.000 Stück im Monatsdurchschnitt, so daß der Gewebebestand bis April um mindestens 50.000 Stück auf 183.000 Stück zurückging und der Finanzstatus sich um ca. 4 Mill. Mark erleichterte. Natürlich gingen wir jetzt Anfang 1925 sofort im Garn- und Rohgewebeeinkauf scharf ran. Außerdem wurden die alten Pläne wieder aufgenommen. Für Gellenau hatten wir ja schon Ende 1922 die Eisenkonstruktion für den Shed gekauft und sie dann während der Hochinflation im Jahre 1923 liegen lassen müssen. Also wurde zunächst einmal schon im Jahre 1924 an den Bau des Gebäudes gegangen. Im Jahre 25 wurden dann die Stühle bestellt. Im übrigen war das im Jahre 1923 bezahlte Eisen nicht teuer. Vor allen Dingen aber wollten wir keine Stunde verlieren, um die begonnene Rationalisierung mit Macht weiterzutreiben. In der sicheren Erwartung schwieriger Zeiten wollten wir rüsten, solange die Geschäfte gut gingen. Es war damals die Zeit, in welcher wir mit Macht an den 21 Maschinenkombinationen in der Ausrüstung arbeiteten | und über das rein maschinelle hinaus die Herstellung einer Fließbandfertigung durch verbesserte Betriebsorganisation betrieben. In der Weberei ging die emsige Kleinarbeit weiter. Unter anderem trieben wir die Umstellung von bunt auf roh durch Einbau von Schnelläuferladen (die Karierladen kamen in Reserve) voran. In der Spinnerei suchten wir die Spinnerei 2 mit den Hartmann-Maschinen, die bei den Garnbe-
Hermann Müller (‐Franken) (1876 – 1931), sozialdemokratischer Politiker und u. a. Reichsaußenminister (1919 – 1920) und Reichskanzler (1920, 1928 – 1930).
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schaffungsschwierigkeiten und den hohen Garnpreisen sich längst mehr als einmal bezahlt gemacht hatten, in Ordnung zu bringen. Wir gingen wohl damals auch schon an die erste Beschaffung von Rietermaschinen. Auch die I.G.-Verhandlungen mit Hammersen waren bereits im Februar 1924 wieder aufgenommen worden und hatten im September 24 zu dem bekannten Abschluß geführt, der dann wieder zerplatzte, so daß uns die I.G.-Verhandlungen in ihren verschiedenen Stadien von Februar 1924 bis September 1925 stark in Atem hielten und allerhand Aufregungen mit sich brachten. Im Sommer jagte uns plötzlich eine ruckartige Flaute ganz ungewöhnlichen Ausmaßes einen gewissen Schrecken ein. Im Juni verkauften wir nur 8.000 Stück, im Juli 13.000. Ein Grund für diesen plötzlichen Geschäftszusammenbruch ist nicht zu sehen, zumal die Baumwolle nach leichter Abschwächung im April sich wieder gut konsolidiert hatte. Der Grund kann nur eine gewisse Nervosität einzelner Grossisten gewesen sein, die sich schon wieder überkauft hatten. Daher war der Schreck auch im August schon wieder überwunden, und der Herbst brachte ein gutes Geschäft. Im übrigen war 1924 noch ein Vorbereitungsjahr für die technische Umstellung und Erweiterung, die im 1. Halbjahr 1925, gestützt auf ein hervorragendes Frühjahrsgeschäft (Monatsdurchschnitt des 1. Vierteljahres 92.000 Stück), planmäßig in größtem Umfange eingeleitet wurde. Über die Ausmaße geben die Bewilligungen des 1. Halbjahres Auskunft: Gellenau Betrieb Spinnerei Umänderungen Kraftanlage (Kessel ) Laugenfabrik Sonstiges Ausrüstung Filteranlage Garnfärberei Ausbau Technisches Büro Selbstwähler-Fernsprechanlage | neue Feuerwache Kasino (ohne Haus) Buchungsmaschinen Erweiterung Mühlbach Wohnhäuser Bielau, Gellenau, Mühlbach Drellstühle Weberei
. RM . ʺ . ʺ . ʺ . ʺ . ʺ . ʺ . ʺ . RM . ʺ . ʺ .. ʺ . ʺ . ʺ
Hammersen Aktien gekauft dazu Investierung Grünau Betriebskapital Mühlbach und Gellenau, insonderheit Garne
.. RM . ʺ . ʺ .. ʺ .. RM
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Von diesen Ausgaben ist eigentlich nur die Feuerwache ausgesprochen unproduktiv. Die Wohnhäuser gehören auf das Sozialgebiet, was unter keinen Umständen vernachlässigt werden durfte. Die Notwendigkeit, für unsere Angestellten eine vernünftige Bleibe und vor allen Dingen einen preiswerten Mittagstisch für die Unverheirateten zu schaffen, war so wichtig, daß man sie schon unter die produktiven Aufgaben rechnen kann. Die Erweiterung von Mühlbach war eine wohl erwogene Maßnahme. Ganz abgesehen, daß wir alle Veranlassung hatten, die Damastproduktion, die eine unserer besten Verdienstquellen darstellte, zu erweitern, mußten wir sie auch modernisieren mit Verdolmaschinen und anderem mehr, um unsere führende Stellung nicht zu verlieren. Außerdem galt es, das richtige Verhältnis zwischen Maschinen für Bettdamast und Tischdamast herzustellen. Die Kesselanlage war ein Schritt weiter auf dem Ausgleich unserer Kraftund Wärmewirtschaft. Die Telefonanlage war dringend erforderlich zur Ermöglichung eines reibungslosen Verkehrs innerhalb von Betrieb und Verkaufsabteilung. Die Buchungs- und Fakturiermaschinen zeigen durch die Höhe dieses Postens, welche Umstellungen wir in der Innenorganisation vor hatten. Etwas reichlich war vielleicht das Grünauer Programm geraten, vielleicht weil hier die Sache mit der Bewilligung noch nicht so ins System gebracht war. Die Zahl setzte sich etwa wie folgt zusammen: Bleiche Maschinen Bleiche Bau Filteranlage Kraftanlage Sonstiges
RM ʺ ʺ ʺ ʺ
. . . . .
RM
.
23 | Die Filteranlage war eine bittere Notwendigkeit und schließlich konnten wir im
übrigen die alte Wolfsohn’sche Bruchbude, mit der wir aber sehr viel verdient hatten, nicht ewig in diesem Zustand lassen, ohne daß sie schließlich verrottete. Diese Zahlen lassen einerseits erkennen, daß wir mit großem Schneid an das Geld Ausgaben [sic] gingen. Im Januar 1925 war schon der Finanzstatus (Debitoren, Kasse usw. minus Kreditoren) minus 1.400.000 RM, die Bankschulden einschließlich D.N.F.³⁶ und Akzepte minus Kasse und Bankguthaben betrugen 12.8 Mill., denen Waren-Debitoren in Höhe von 11.6 Mill. RM gegenüber standen.
DNF bzw. Deutsch Niederländisches Finanzabkommen steht für eine Kreditgewährung niederländischer Banken an das Deutsche Reich im Zuge des 1920 vereinbarten sog. TredefinaKredits (Treuhandverwaltung für das Deutsch-Niederländische Finanzabkommen), mit dem die Einfuhr von Lebensmitteln sowie Rohstoffimporte für die Industrie finanziert wurde.
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Andererseits zeigte eine Denkschrift vom 6. 8.1925, daß wir eisern gewillt waren, unsere Finanzen in Ordnung zu halten, denn schließlich ist es immerhin schon ein Entschluß, auf 12 Mill. Schulden ein Investierungsprogramm von 6 ½ Mill. zu setzen. Für diese Ordnung hatten wir jetzt ganz andere Unterlagen als früher. Auch früher schon hatten wir der Kontrolle der Ausgaben und dem Finanzvoranschlag größte Sorgfalt zugewandt, aber mit durchaus unzulänglichen Unterlagen. Nach allerhand eigenen Versuchen, welche uns nicht weiterführten, haben wir im Sommer 1923 Vorversuche mit dem Verbuchungssystem Just gemacht, welches wir ab 1.1.1924 richtig anlaufen lassen konnten. Das Jahr 24 war ein Einrichtungs- und Verbesserungsjahr, welches das System zu einem vorläufigen Abschluß brachte, so daß wir nunmehr sowohl eine vernünftige Kalkulation als eine sinnvoll gegliederte Ein- und Ausgaben-Buchführung mit entsprechenden Voranschlägen führen konnten (Einzelheiten an anderer Stelle). Am 21.6.1924 findet sich die erste Notiz über Bewilligungsbesprechungen. Es wird anläßlich der oben geschilderten Flaute die Frage angeschnitten, welche Kosten bei Einschränkungen gedrückt werden können. Am 6.7.25 erfolgt die erste ernsthaft begründete Ausgabenschätzung, die auf den tatsächlichen Einnahmen und Ausgaben von Februar bis Mai fußt. Eine Denkschrift vom August 25 geht davon aus, daß die eingeleiteten Maßnahmen unter allen Umständen ergriffen werden mußten, daß wir aber unter allen Umständen die Ausgaben fest in der Hand behalten mußten. Da im Juli gerade wieder eine Lohnerhöhung eingetreten war (seit dem 26 Pfg.-Lohn vom November 23 waren bereits 5 Lohnerhöhungen auf 44 Pfg. = plus 70 % eingetreten), wird betont, daß alle Lohnerhöhungen durch Leistungsteigerungen | aufgefangen werden müssen, da Preiserhöhungen nicht möglich seien, ohne den 24 Verkauf zu beeinträchtigen. Daß u. a. die Lohnpolitik des Arbeitsministeriums schließlich zur Wirtschaftskrise führen muß, ist klar erkannt.
Anlage zu S. 24: Nachträglich finde ich einige Unterlagen für unsere immer wiederkehrende 24a Ansicht, daß eine schwere Wirtschaftskrise über kurz oder lang unvermeidlich sei. Diese Ansicht, die in vieler Hinsicht zum Angelpunkt unserer Geschäftsgebarung wird, gründet sich auf die uns von Anfang an beherrschende Empfindung, daß wir im schwarz-rot-goldenen Deutschland eine grobe Mißwirtschaft trieben. Diese drückt sich unter anderem in folgenden Zahlen aus, die ich überwiegend von der Reichsverbandstagung in Köln im Juli 1925 mitgebracht hatte (Schacht³⁷, Sie-
Hjalmar Horace Greeley Schacht (1877– 1970), Politiker und Bankier, von 1923 – 1930 und von
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mens³⁸). Die Produktion der gesamten deutschen Volkswirtschaft wird auf nur 70 % der Vorkriegsproduktion geschätzt. Der Etat von Reich, Ländern und Gemeinden sei von 4.8 Mill. Mark 1913 im Jahre 24 auf 11 Mill. gestiegen, die Sozialabgaben auf 2 Milliarden, letzteres heißt auf über 40 % der öffentlichen Ausgaben von 1913. Die Pensionsausgaben der Reichsbank seien auf 8 % der Bruttoeinnahmen gestiegen (Versorgungsstaat war ein damals in rechtsstehenden Kreisen aufkommendes Schlagwort). Die Staats- und Kommunal-Gehälter betrügen 8 Milliarden = 25 % des Volkseinkommens. Preußen hatte 83.000 Beamte mehr als im Frieden, trotzdem ein erheblicher Teil der Länderaufgaben ins Reich übergegangen sind. Diese Entwicklung wird, wie mir eben einfällt, damals durch irgend jemand zu dem treffenden Bild zusammengefaßt: die produktive Wirtschaft zieht den Volks- und Staatswagen; die Regierung ist der notwendige Kutscher. Wenn aber immer mehr der ziehenden Volksgenossen sich drücken und unvermerkt in den Wagen einsteigen, muß er eines Tages stehen bleiben. Im Reich wurden die Ausgaben nunmehr infolge des oben geschilderten neuen Kurses etwas bekämpft, in den Ländern kaum, und in den Gemeinden herrschte eine völlige Wahnsinnswirtschaft mit fürstlichen Gehältern, nicht nur für Bürgermeister, sondern auch beispielsweise für Feuerwehrhauptleute und was sich überhaupt bei den Magistraten herumdrückte. Es wurden Rathäuser, Denkmäler, Stadien und derartige Dinge in jeglichem Ausmaß gebaut, meist finanziert durch Auslandsanleihen. Aber auch in der Wirtschaft steigt, ganz abgesehen von der Arbeitszeitverkürzung, der Leerlauf.Wir hatten 1923 nachgewiesen, daß in unserem Betriebe die unproduktiven Arbeitsstunden im Verhältnis zu den produktiven 43 % höher lagen als 1913. Dieser Prozentsatz ist wohl etwas ad usum delphini eingerichtet. Wenn er auch etwas übertrieben sein mochte, so lag die Wahrheit nicht weit entfernt. In einem 1926 auf einem parlamentarischen Bierabend der Baumwollindustrie gehaltenen Vortrag behauptete ich, und zwar gestützt auf das Ergebnis 24b der Textilenquete, von der damals | außerordentlich viel gesprochen wurde, daß die Produktionskosten in der Baumwollweberei 2 1/3 mal so hoch seien wie im Frieden (einschließlich Steuern, gestiegenem Verwaltungsapparat usw.). Unter all diesen Umständen müsse die Handelsbilanz immer passiver werden. Der Anteil des deutschen Außenhandels am Welthandel war bereits von 1/8
1933 – 1939 Reichsbankpräsident, von 1934– 1937 Reichswirtschaftsminister sowie bis 1943 Minister ohne Geschäftsbereich. Carl Friedrich von Siemens (1872– 1941), deutscher Industrieller. Seit 1919 Vorsitz in den Aufsichtsräten der beiden damaligen Siemens-Stammgesellschaften sowie u. a. Präsidiumsmitglied des Reichsverbands der Deutschen Industrie.
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auf 1/20 zurückgegangen. Im ersten Halbjahr 25 überstieg unsere Einfuhr die Ausfuhr um 55 %. Große Sorge macht uns auch die Schutzzollpolitik fast aller für unseren Export in Frage kommenden Staaten. Die Frage der Handelsverträge wird besonders akut, seitdem Deutschland 1925 seine durch den Versailler Vertrag anfangs beschränkte Zollsouveränität wieder erhalten hat (Oktober 1925 erste Zolltarif-Novelle). Durch meine Zugehörigkeit zur Zolltarifschema-Kommission sitzen wir in dieser Hinsicht sozusagen an der Quelle der Erkenntnisse (es war übrigens recht interessant, den ganzen Mechanismus der Zolltarife und der HandelsvertragsVerhandlungen einmal kennen zu lernen). Unsere Regierung erscheint in Handelsvertrags-Verhandlungen viel zu weich, unter anderem da sie sich vor dem Geschrei der Konsumentenpresse fürchtet, die in demagogischer Weise gegen jede Zollerhöhung als angebliche Erhöhung der Lebenshaltungskosten Stellung nimmt. So fallen in Deutschland Presse und Parteien der Regierung immer in den Rücken, obgleich diese es in den Handelsvertrags-Verhandlungen auf Grund der handelspolitischen Verhältnisse, deren Darlegung hier zu weit führen würde, sowieso schon schwer hat. Schacht, um auf die Reichsverbandstagung zurückzukommen, warnt vor Auslandsanleihen und empfiehlt Kapitalbildung, ganz im Sinne der von uns angestrebten Selbstfinanzierung. Ganz aus unserem Herzen gesprochen ist ferner der Hinweis, daß die Gewerkschaften, um sich wieder beliebt zu machen und ihren geschwundenen Mitgliederstand aufzubessern, Lohnkämpfe mit Lohnerhöhungen an sich brauchen, jenseits aller wirtschaftlichen und auch aller sozialen Vernunft, denn was die kombinierte Lohn- und Preisschraube bedeutet, hatten wir ja in der Inflation kennen gelernt. Durch peinliche Vermeidung aller Streiks seien die Streikkassen wieder einigermaßen gefüllt. Bei dem immer noch geringen Streikwillen der Arbeiterschaft in ihrer großen Mehrheit brauchten die Gewerkschaften sich nicht vor dem Ausufern von Streikbewegungen fürchten, die ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit über den Kopf | wachsen könnten. Sie konnten die Streiks da ansetzen 24c und lokalisieren, wo die Lage für sie jeweils am günstigsten war. All diese Erwägungen deckten sich genau mit der von uns immer wieder vertretenen Meinung, daß nicht die Arbeiterschaft, so wild sie sich im einzelnen manchmal gebärdete, der Feind sei, sondern einzig die Gewerkschaften, und daß auch die Kommunisten erst dann gefährlich würden, wenn die Wirtschaft zusammenbreche. Ein befriedigender Wirtschaftsverlauf, ohne übertriebene Arbeitslosigkeit, sei das beste Mittel zur Bekämpfung des Kommunismus. Im übrigen war eines sicher: die große Stunde des Unternehmertums an der Jahreswende 1923 auf 24 war unwiderruflich verpaßt.
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Dies zur Untermauerung unserer immer wachen Furcht vor der kommenden Wirtschaftskrise und zur Erklärung unseres fast hastigen Bestrebens, vorher möglichst „fertig“ zu sein. Da ich jedoch beim Nachholen bin, so finde ich auch noch eine andere Notiz aus dieser Zeit bezüglich unseres Investierungsprogramms. Wenn wir die Überleitung von Buntweberei auf Rohweberei betreiben, sei es durch Umänderung von bunten Stühlen auf roh, sei es durch Einrichtung der Roh-Säle 2c und 2d mit neuen Vomag-Schnelläuferstühlen und vor allem durch den Bau der Rohweberei Gellenau, so treibt uns hier nicht nur der Drang nach Betriebserweiterung, sondern auch die Erwägung, daß wir in Krisenzeiten unsere Buntweber zum Teil auf Rohstühle in Doppelschicht werfen und so auf Kosten unserer Rohgewebe-Lieferanten auch in Zeiten allgemeiner Betriebseinschränkung voll arbeiten könnten. So dient auch der Anbau von Gellenau indirekt der Rationalisierung und der Vorbereitung auf die erwartete Krise. |
Fortsetzung S. 24: Es gilt also die Finanzen zu regeln und die Rentabilität zu steigern. Da der gute Verkauf des 1. Halbjahres die Gewebevorräte von 271.000 Stück Ende Oktober 1924 auf 190.000 Ende Mai 25 herabgedrückt hatte, war die Finanzlage etwas besser geworden. Der Status zeigte Ende Mai ein Plus von 2.3 Mill. Die Schulden betrugen 11 Mill., denen Waren-Debitoren von 14.2 Mill. RM gegenüber standen. Immerhin sollte ja das Bezahlen erst losgehen. Da wir unsere Schulden auf lange Sicht hin keineswegs steigern dürfen, muß ein scharfer Bewilligungsstop eintreten, vor allen Dingen, da schätzungsweise noch 400.000 Mark für laufende Verbesserungen investiert werden müssen, immer in der Erkenntnis, daß die Rationalisierung unter keinen Umständen eine Unterbrechung erleiden darf. Diese rund 7 Mill. verteilen sich schätzungsweise bis zum 1.10.1926. Sie sollen in drei annähernd gleichen Teilen finanziert werden, 1. durch die Abschreibungen, 2. durch die Gewinne (die durch möglichst geringe Ausschüttungen nicht zu sehr vermindert werden sollen), 3. durch Verkürzung des Produktionsganges. Auf diesen dritten Punkt legten wir damals entscheidenden Wert, weil unser Produktionsgang damals durch allzu viele Improvisationen äußerst schleppend war. Dieser Punkt steht damals fast im Mittelpunkt unserer Erwägungen. Die Fließfertigung sollte ohne Aufenthalt von der I.G.-Rohweberei bis zum Kunden gehen. Montags sollte ein Wagen von Gellenau eingehen, Dienstags einer von Kottern, Mittwoch einer von Hammersen, Donnerstags einer von Haunstetten. Die Parole hieß damals weiter: vom Eisenbahnwagen in die Bleiche, von dort auf die Maschinenkombination (die Teffermaschine ging damals ihrer Vollendung entgegen), von dort ohne Bildung von Warenfriedhöfen (Verbands-Schmidt) auf den ange-
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schlossenen Legetisch. Dort empfängt sie der Einteiler (Büro kommt in den Betrieb!) mit der Versandaufgabe, dann über die Fakturiermaschine in den bei Pusch³⁹ vorfahrenden Postwaggon. So konnte ein Stück Ware, das morgens die Bleiche verlassen hatte, abends unter Umständen im Eisenbahnwagen sein. Es wird ausgerechnet, daß eine 14-tägige Verkürzung der gesamten Herstellungsdauer eine Einsparung an Betriebskapital von 2 Mill. bringt, und es wird Bergmann⁴⁰ und Pusch empfohlen, beim Schlafengehen und beim Aufstehen jeden Tag an die Beschleunigung des Flusses zu denken. Hier handelte es sich nicht nur um das technische, sondern auch um die Organisation. Und es wurde Lipp⁴¹ zur Aufgabe gemacht, das ganze Verrechnungswesen von der | Auftragsbehandlung 25 über die Betriebsdispositionen und Bestandserfassung zur Einteilung und zum Versand in ein einheitliches Buchungssystem zu bringen, eine Aufgabe, die übrigens bis zum heutigen Tage noch nicht voll gelöst ist. Es wird in der Denkschrift darauf hingewiesen, daß für 4. Quartal 9 Mill. Meter Rohware disponiert seien, dazu käme der Anfall von 1 Mill. Meter Damast und 3 Mill. Meter Buntgewebe = 13 Mill. Meter oder ca. 80.000 Stück je Monat. Davon seien 10 Mill. Meter für die Ausrüstung = rund 2.500 Stück täglich. Da wir 3.000 Stück täglich brauchen, um zu einer wirklich vollen Ausnutzung der Ausrüstung zu kommen, setzen wir uns als Ziel den Verkauf von 100.000 Stück im Monat. Dann können wir auch gewisse Dinge, wie z. B. Weißwaren für die Berliner Grossisten und die westdeutsche Kundschaft und Damaste in Grünau und Frankenberg ausrüsten lassen, ohne für Bielau Lohnaufträge zu brauchen. Diese werden als störend bezeichnet, da sie die Glätte des Arbeitsflusses behindern. Es war die gleiche Zeit, in welcher Brieger⁴² Doktor [sic] die Pressierer mit seinem Haß verfolgte, weil sie ihm den Arbeitsfluß störten und die Fabrikation mehr aufhielten als beschleunigten. Das waren vielleicht etwas überspitzte Ansichten, aber auch ich war damals sehr für die allmähliche Aufgabe der Lohnausrüstung, schon um den ganzen Kundenapparat mit all seinen Komplikationen und der vielen Arbeit im Betriebe abzubauen. Daß wir nicht so weit gegangen sind, hat N.e., Mitarbeiter der C. D. AG Adolf Bergmann (n.e.), Prokurist der C. D. AG für die Zweigniederlassung Hammerbleiche in Frankenberg. Carl Lipp (1895 – n.e.), Direktor, Vorstand der C. D. AG und u. a. im Aufsichtsrat der ActienGesellschaft für Bleicherei, Färberei, Appretur und Druckerei Augsburg sowie der Ernst Mallinckrodt Aktiengesellschaft Leipzig. Seit 1937 im Vorstand der Hoesch-KölnNeuessen AG für Bergbau und Hüttenbetrieb. Nach kurzzeitiger Verhaftung durch Behörden der Militärregierung 1945/1946 schied Lipp 1949 im Zuge seiner Pensionierung aus dem Vorstand der Hoesch AG aus. Brieger (n.e.), ein Mitarbeiter der C. D. AG, der Anfang der 1920er Jahre in die Firma eintrat zur Beseitigung von Mängeln in der Ausrüstung. Er wurde daraufhin tätig im Bereich der Rationalisierung von Warenflüssen und Kalkulationssystemen.
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sich durch die eigentümliche Entwicklung der Verhältnisse später als zweckmäßig erwiesen. Überhaupt steht die großzügige Disposition und der glatte Arbeitsfluß damals im Vordergrund. Ich predige bei jeder Gelegenheit wieder die Notwendigkeit der Kleinhaltung des Sortimentes. Die Denkschrift weist auch darauf hin, daß wir uns in der Buntware nicht verzetteln sollten. Daher die Bevorzugung des Inlet-Geschäftes. Es wird nach der Aufgabe des Schürzenverkaufes erwogen, ob wir nicht auch andere Nebenartikel fallen lassen und durch unsere gute Gellenauer Einrichtung, unsere billige Naphtolfärberei und Garnbleiche nicht das gesamte Züchengeschäft an uns reißen sollten. Dazu sei aber nötig, daß wir, im Gegensatz zu unserer bisherigen Einstellung, gleich den anderen Firmen auf 30er Kette übergingen (was natürlich eine Qualitätsverschlechterung bedeutete) und dann unsere gesamte Züchenfabrikation auf eine Ketteneinstellung einrichten müßten. | Das war die Verkürzung des Arbeitsganges. Beim zweiten Punkt, der Finan26 zierung durch Geldverdienen, könne man es durch Rationalisieren allein wohl kaum schaffen. Es sei daneben eine Umsatzsteigerung nötig, schon wegen unserer naturgegebenermaßen hohen fixen Kosten, und zwar eine Umsatzsteigerung ohne Erhöhung der fixen Kosten. Es wird für das zweite Semester ein Monatsumsatz von 5 Mill. verlangt. Es war uns durchaus klar, daß derartig schneidige Dispositionen, die wir für das 4. Quartal in Rohgewebe getroffen hatten, bei Absatzstockung eine riesige Gefahr bedeuteten. Einer der vielen Gedanken, welche zur I.G.-Bildung trieben, war auch der Gedanke, daß die Spinnereien und Rohwebereien mit ihrer starken Finanzkraft die Finanzierung tragen helfen sollten. Man kann die Sache betrachten wie man will, immer wieder kommt man auf die Notwendigkeit einer Angliederung von Spinnereien und Rohwebereien. Es war schließlich damals so, daß dank der starken Umstellung von bunt auf ausgerüstet und dem Zunehmen des technischen Bedarfes die Rohwebereien in einer viel günstigeren Lage waren als die Buntwebereien und auch als die Ausrüster. Ganz im Gegensatz zu den letzten Jahren vor diesem Kriege saßen damals die Halbfabrikate-Erzeuger gegenüber den Fertigwaren-Erzeugern am längeren Hebelarm, und wenn wir bei den I.G.-Verhandlungen den Abschluß auf der Basis gleich zu gleich fertig gebracht haben, so können wir auf unsere Verhandlungserfolge fraglos stolz sein. Alles in allem war die damalige Atmosphäre mit Risiko richtig geladen, wobei man nicht vergessen darf, daß das Baumwollrisiko, auf das wir später kommen, noch dazu kam. Von den Forderungen der Denkschrift an die nächste Zukunft hat die Umsatzsteigerung auf 5 Mill. im 2. Halbjahr sehr gut geklappt. Der Jahresumsatz stieg 1925 auf 56.9 Mill. Dazu kamen noch die Umsätze der damals selbständigen Grünauer und Frankenberger A.G. mit folgenden Zahlen:
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Grünau Fabrikation ʺ Kleinverkauf Frankenberg
RM ʺ ʺ
.. .. .
RM
..
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so daß wir auf einen Gesamt-Umsatz von über 60 Mill. RM kommen, allerdings bei einem Baumwollstand von 23 cts. und zwar wohlgemerkt Gold-cts. Auch mit dem Verdienen ging es 1925 über Erwarten gut. | Ob die 2 Mill. Freisetzung von Betriebskapital durch Verkürzung der Fertigzeit 27 voll funktioniert hat, ist schwer festzustellen. Fraglos erfolgte damals eine erhebliche Steigerung der Umschlagsgeschwindigkeit. Die Enttäuschungen und Schwierigkeiten kamen dann von einer anderen Seite und zwar von einer alles bisher für möglich gehaltene übersteigenden Absatzkrisis. Die ersten 8 Monate des Jahres 1925 hatten ein vorzügliches Geschäft zu steigenden Preisen gebracht bei einem ziemlich stetigen Baumwollstand von 23 – 25 cts. Im Oktober stürzte die Baumwolle plötzlich von 23.50 auf 19.40 cts. Das führte, ausgehend von den Grossisten, die sich wie immer bei steigenden Preisen natürlich wieder einmal überkauft hatten, zu einer Panik. Daß die Baumwolle sich im November wieder konsolidierte und bis Februar zwischen 19 und 20 cts. schwankte, besserte die Sachlage keineswegs, so daß wir im Dezember, der bei unserer Einzelhandelskundschaft immer noch ein guter Monat war, auf den erschreckend niedrigen Verkauf von 12.000 Stück sanken und sich die Lage im Januar und Februar auch nicht wesentlich besserte (Januar und Februar durchschnittlich 24.000 Stück). Aus dem Anhalten der Flaute kann man schließen, daß ein Jahr eines befriedigenden und ¾ Jahre eines wirklich guten Geschäftes genügt hatten, um trotz der allgemeinen Abgerissenheit am Schluß der Inflation schon wieder eine gewisse Überdeckung im Handel herbeizuführen. Ab Februar war die Baumwolle schwach rückläufig, um dann, nach leichter Erholung im Sommer, von 18.90 cts am 1.9.1926 auf 12.15 cts am 3.12.26 zu stürzen. Trotz dieser Katastrophe war der Verkauf im 2. Halbjahr mit 55.000 Stück im Monatsdurchschnitt schon wieder sehr viel besser als im 1. Halbjahr mit dem erschreckenden Durchschnitt von 28.000 Stück. Diese Steigerung ging fraglos zum Teil schon auf unsere Abwehrmaßnahmen zurück, auf die ich später komme. Diese Stockung führte begreiflicherweise zu einer Steigerung des Lagers von 190.000 Stück im Mai 1925 auf 560.000 Stück (Verdreifachung) im Juni 26. Dadurch und infolge des systematischen Weiterkaufes von Hammersen-Aktien verschlechterte sich unser Finanzstatus (einschließlich Tochtergesellschaften und TT) von plus 2.3 Mill. auf minus 8.3 Mill. Mark, obgleich die Investierungen im wesentlichen planmäßig aus Gewinn, Abschreibungen und Verkürzung des Arbeitsganges finanziert worden waren. Daß die Bankschulden (einschließlich Ak-
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28 zepte, Rembourse und D.N.F.) | gleichzeitig nur von 10.1 Mill. auf 12.3 Mill. stiegen,
lag im wesentlichen daran, daß die Waren-Debitoren von 14.4 Mill. auf 8.4 gesunken waren. So saßen wir schon wieder in der Geldklemme, da es völlig unmöglich war, in Deutschland einen langfristigen Kredit zu bekommen, wie wir ihn zu einer ruhigen Geschäftsführung unbedingt gebraucht hätten. Leider ist der Versuch, etwas von dem Goldstrom, der nach Annahme des Dawes-Planes aus Amerika floß, in unsere Kanäle zu leiten, fehlgeschlagen. Im November 1924 verhandelten wir mit Mr. Fiske⁴³ vom New Yorker Bankhaus Dillon Read wegen einer I.G.-Anleihe. Fiske war nach Deutschland gekommen in der Auffassung, daß die deutsche Wirtschaft jetzt wieder zum großen Aufbau übergehe und suchte sich an Geschäften zu beteiligen, die etwas ganz Besonderes versprachen. Burkhardt⁴⁴ und ich verhandelten mit ihm. Da er kein Wort deutsch sprach, führte Burkhardt die Verhandlung, und ich suchte, nur gelegentlich mal ein Wort einwerfend, den Verhandlungen einigermaßen zu folgen und wenn das nicht der Fall war, mir von Burkhardt verdolmetschen zu lassen. Wir haben Fiske fraglos den Eindruck beigebracht, daß es sich bei der I.G. mit Hammersen um den Anfang einer epochemachenden Konzernbildung in der deutschen Baumwollindustrie handle, so daß wir schließlich in der 2. Verhandlung ziemlich einig geworden sind wegen eines 5-Jahres-Kredites von 2 ½ Mill. Dollar = 10 ½ Mill. Mark zu 7 % mit einem kleinen Aufschlag entsprechend der I.G.-Dividende, gegen hypothekarische Eintragung bei C.D. Diese 2 ½ Mill. Dollar waren natürlich für Dillon Read ein kleines Versuchsgeschäft, mit dem Gedanken späterer erheblicher Ausdehnung bei der Weiterentwicklung dieses in der deutschen Baumwollindustrie zur Führung berufenen Konzerns. Für uns wäre ein Kredit von 10 Mill. Mark die Gewähr für einen ruhigen, von Nervosität freien, Aufbau unseres Geschäftes gewesen. Wir hätten uns dann nicht vor jedem großen Lageranbau und jeder bedenklichen Baumwollschwankung fürchten müssen. Hier kommen wir auf eine viel besprochene grundsätzliche Frage. Der amerikanische Kreditstrom, der sich im Anschluß an den Dawes-Plan über Deutschland ergoß, ist fraglos überwiegend zum Unsegen geworden, aber nur deshalb, weil diese Kredite, vor allem in den Händen von Kommunen und kommunalen Unternehmungen zu Konsumkrediten geworden sind. Wenn man sich Geld borgt, um es nachher zum Fenster rauszuschmeißen, so braucht man sich nicht zu wundern, wenn man es nachher nicht
Vermutlich William Fiske (1879 – 1940), Senior Partner beim amerikanischen Bankhaus Dillon, Reed & Co. Otto Burkhardt (1894– 1964), war zwischen 1925 – 1938 Vorstandsmitglied der C. D. AG und zwischen 1938 – 48 Bankier im Bankhaus Burkhardt & Co. in Essen. Burkhardt war zwischen 1948 – 1960 Präsident der Landeszentralbank von Schleswig-Holstein und Mitglied des Zentralbankrats der Bank deutscher Länder.
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zurück zahlen kann. Deswegen war es ja später eine der ersten Taten von Schacht als Reichsbankpräsident, | daß er den Kommunen die Auslandskredite sperrte. 29 Für einen verantwortungsbewußten und klar rechnenden Unternehmer jedoch, der Kredite zum Vorgriff auf eine zukünftige Kapitalbildung benutzt, waren damals die amerikanischen Kredite eine überaus nützliche Hilfe zu einem rascheren Wiederaufbau. Ohne auf die Frage Kapital oder Arbeit eingehen zu wollen möchte ich nur darauf hinweisen, daß 1932 Kapital in Gestalt der durchrationalisierten Fabriken und voller Läger in reichlichem Umfang da war und daß ledilgich [sic] infolge eines Fehlers im wirtschaftlichen Rhythmus der hemdenlose Weber den Weg zum stehenden Webstuhl mit eingelegter Kette nicht fand. Nach der Inflation hatten wir aber einen ausgesprochenen Kapitalmangel. Wir hatten durch den Inflationsverzehr und Export ausgepowerte Warenbestände und einen veralteten bezw. abgewirtschafteten Maschinenpark. Wir hatten also nach der Inflation ausgesprochenen Kapitalmangel, im Jahre 1933 Überfluß an beschäftigungslosem Kapital, welches bei einem energischen Anstoß in der Lage war, weiter Kapital zu bilden. An dieser Stelle muß noch auf die Riesengefahren hingewiesen werden, die einem Unternehmer mit so großer Lagerhaltung aus den Schwankungen des Baumwollpreises drohte. Erfreulicherweise hatten wir das in der Inflation bewährte Gegenrechnungs-System inzwischen auf die Baumwollfixierung übertragen (hierzu sei auf meine Denkschrift für Herrn Dr. Kehl⁴⁵, der unser System immer nicht ganz begreifen wollte, aus dem Jahre 1934 oder 1935 hingewiesen betreffend Eisernen Bestand, Fabrikantenstandpunkt und Geldgeberstandpunkt). Diese „Fixierungstabelle“ gab uns – im Gegensatz zu den meisten anderen Baumwollfabrikanten – jeder Zeit Grund unter die Füße. Wir konnten durch genaue Gegendeckung theoretisch jede Spekulation ausschließen, jedenfalls wußten wir ganz genau, wo die Spekulation anfing und wie hoch jedes Mal das Risiko war, wenn wir spekulieren wollten oder mußten. Ich brauche hier absichtlich das ominöse Wort, weil Spekulation in gewissem Umfange vom Baumwollmarkt einfach nicht zu trennen war. Eine völlige Ausschaltung der Spekulation war schon deswegen nicht möglich, weil wir sonst jeden Tag nach dem Baumwollstand unsere Preisliste hätten ändern müssen, was ja die Spinner und Rohweber bis zu einem gewissen Grade konnten, aber meist nicht systematisch genug taten. Im Gegenteil war es ein bekannter Spinner-Grundsatz, daß an den Garnpreisen nichts zu verdienen sei, die eigentlichen Gewinne müsse die Spekulation bringen.
Zur Erläuterung des für die Dierig-Konzernbildung wichtigen Bankiers Werner Kehl (1887– 1943) siehe S. 113 im Originaldokument, hier S. 148, Fußnote 139.
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Das war beispielsweise der verhängnisvolle Grundsatz von Moser⁴⁶, der das zu30 nehmende Mißverhältnis von | Fabrikationskosten und Margenerlös durch vermehrte Spekulationen ausgleichen wollte. Er hat es mit Wirth⁴⁷ zusammen bis zu 30.000 Ballen Termingeschäfte gemacht [sic]. Da man immer damit rechnen mußte, daß die Konkurrenten bei einer vorübergehenden Baumwollsenke stark einsteigen, kam man unter Umständen in eine unmögliche Situation, wenn man die Sache nicht mitmachte, denn stieg die Baumwolle nachher wieder, so hatten die anderen billig eingekauft und konnten einem bei einem engen Baumwollmarkt unterbieten. Wir unsererseits hatten bei unserer Abneigung – ich kann fast sagen Ängstlichkeit – gegen jede wirkliche Spielerspekulation den immer wieder bewährten Grundsatz, bei Rückgang der Baumwollpreise nicht auf den „billigsten Punkt“ zu warten, den man doch immer verpaßt, sondern bei sinkenden Preisen zunehmend an die Überdeckung zu gehen, um bei steigenden dann nachzulassen. So haben wir bei den fortgesetzten Schwankungen der Baumwolle im allgemeinen die Wellentäler ganz schön ausgenutzt und dadurch einen bescheidenen Zusatzgewinn geschaffen. Das Risiko bei dieser Praxis war, daß, wenn einmal der Wiederanstieg nicht in absehbarer Zeit erfolgte, man dann hereingefallen war, wenn auch im allgemeinen in mäßigen Grenzen, da man ja laufend nach unten fixiert hatte. Schwierig konnte die Sache nur werden bei einem lang andauernden Riesensturz, wie er im Herbst 1926 zu drohen schien. Trotzdem beschlossen wir, nach unten scharf ranzugehen, weil wir ein dauerndes Stehenbleiben wesentlich unter 12 cts für ausgeschlossen hielten. Man glaubte Unterlagen zu haben, daß die Farmer bei den damaligen Lebenskosten mit 12 cts bestenfalls gerade auskommen könnten, also die Baumwolle bei der damaligen Konjunktursteigerung in Amerika vermutlich wieder steigen würde. Immerhin rechneten wir laut einer Aufstellung vom 26.10.1926 aus, was wir verlieren könnten, wenn wir bei je 100 Punkten Abschwächung je 6.000 Ballen fixierten, bei einem Kursfall von 14 auf 6 cts (damals ein völlig grotesker Gedanke), wenn die Baumwolle auf 6 cts dauernd stehen bleibe. Es waren 960.000 Dollar = 4 Mill. Mark. Das wäre sozusagen der Spitzenverlust gewesen, wenn alles völlig verkehrt liefe. Stiege demgegenüber die Baumwolle von 6 cts langsam wieder auf 12 cts (was, wie gesagt, in eingeweihten Kreisen als der tiefstmögliche, aber unwahrscheinliche, Dauerstand galt), so
Friedrich Moser (n.e.), Fabrikdirektor und u. a. im Vorstand und später im Aufsichtsrat der Baumwoll-Spinnerei am Stadtbach sowie im Aufsichtsrat der Mechanische Weberei am Fichtelbach in Augsburg. Vermutlich Max Wirth (1881– 1952), u. a. im Aufsichtsrat der Baumwollspinnerei am Stadtbach in Augsburg. Er leitete seit 1905 bis zur seiner Auswanderung nach Brasilien die familieneigenen Spinnereien, Zwirnereien und Webereien in der Schweiz und Deutschland und betrieb deren Ausbau und Modernisierung.
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hätten wir, wenn alles klappte, 450.000 Dollar = knapp 2 Mill. Mark verdient. Zum Durchhalten dieser Transaktion hätten wir ca. 2 Mill.-Mark-Kredite gebraucht, um nicht exekutiert zu werden. Derartig theoretische Rechnungen konnten natürlich nur dazu dienen, um sozusagen die Grenzen | abzustecken, innerhalb deren man 31 operieren konnte, ohne den Boden unter den Füßen zu verlieren und Gefahr zu laufen, eines Tages zahlungsunfähig zu sein. Tatsächlich blieb die Baumwolle bei 12 cts stehen, um bis 1.9.1927 auf 23.10 heraufzugehen und sich dann allmählich um 17 cts herum auf lange Zeit hin zu stabilisieren. Wir hatten damals den kleinen eisernen Bestand von 15.000 Ballen zum Preise von 12– 14 cts auf den großen eisernen Bestand von 25.000 Ballen erhöht (kleiner e.B. = Maschinenbelag mit knappen Lägern, großer e.B. mit reichlichem Lager und teilweise gedeckten Debitoren. Im übrigen siehe Denkschrift für Kehl!). Da wir bei 17 cts wieder auf den kleinen e.B. zurückgingen, haben wir immerhin ein Differenzgeschäft von etwa 800.000 Mark zu unseren Gunsten gemacht. Im übrigen waren es alles in allem recht aufregende Zeiten, die an Nerven, Entschlußkraft und Arbeitsleistung der Leitung allerhand Ansprüche stellten, zumal wir Ende 1926 zu allem anderen Kummer noch den schweren Entschluß fassen mußten, den unabsehbaren Krieg gegen Hammersen zu eröffnen, um nicht schließlich um alle unsere Anstrengungen einfach betrogen zu werden. Auf die schwierige Entwicklung in der Lohnfrage komme ich später zurück. Zunächst einmal standen wir im Frühjahr 1926 vor unheimlich steigenden Lägern und fallenden Preisen. Da wir wegen unserer durch die Eigenart unseres Geschäftes, wie gesagt, hohen Kosten Fabrikation und Warenumschlag keineswegs auf die Dauer einschränken konnten, blieb nur übrig, mit Gewalt den Verkauf zu steigern. Sehr bald waren wir uns klar, daß es wahnsinnig wäre, das etwa durch Preisermäßigungen auf der ganzen Linie zu versuchen. Unsere führende Stellung brachte es mit sich, daß jede Preissenkung von unserer Seite den Markt vollends verderben mußte. Wir waren einfach in der Zwangslage, den Markt stützen zu müssen und mit Preisermäßigungen den anderen nachzulaufen. Wenn wir durch billige Preise einmal unseren Umsatz steigern wollten, konnten wir das nur durch Sonderaktionen tun, die auf die gesamte Marktgestaltung keinen unmittelbaren Einfluß hatten. Wir haben später diese Kunst erheblich ausgebildet. Wenn es also nicht die Preise sein konnten, so blieb für eine expansive Verkaufspolitik nur die Verbesserung der Verkaufsmethode übrig, und die trat nunmehr in den Vordergrund. Zunächst war die Frage, warum wir so wenig an die Konfektion und an die Warenhäuser | verkauften. Lindau⁴⁸ hat uns schließlich 32
Georg Lindau (n.e.), Mitarbeiter der C. D. AG.
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davon überzeugt, daß der Verkauf in diesem Bereich zu tief unter den unseren liegenden Preisen möglich sei, Preise, die wir bisher nie unseren Vertretern hatten glauben wollen. Hier liegt ein unbestreitbarer Verdienst von Lindau, der, nach der Pleite bei der D.T.G., damals unser Berliner Haus leitete, daß er diese Sache klar erkannte. Er ist der eigentliche Vater der K-Preise. Wir beschlossen nämlich jetzt, völlig unabhängig von unserem anderen Geschäft, große Mengen an die Konfektion und Warenhäuser zu verkaufen, zu Preisen, die zwar nicht die fixen Kosten des Endaufschlages, aber immerhin die fixen Kosten der Betriebe, vor allem der Ausrüstung, deckten. Hierdurch konnten wir den Markt nicht verderben, da niemand unterboten wurde und daß K-Geschäft sich in erster Linie auf Weißwaren und ähnliche Ausrüstungswaren beschränkte, so daß unsere Detail-Kunden von diesem Geschäft nichts merkten. Das gefährliche für uns war immer nur der Verkauf an Grossisten, den wir im großen ganzen vermieden. Es zeigte sich damals schon, daß der Einzelhandel allein nicht in der Lage war, unser gesamtes Produkt abzunehmen, was später zu der Erwägung führte, die Verbindung mit Witt⁴⁹ anzubahnen. Später wurde eine gesonderte W- und K-Abteilung (Wilkens⁵⁰) eingerichtet, da diese Leute anders behandelt werden mußten, als unsere DetailKundschaft. Natürlich mußten diese billigen K-Preise ausgeglichen werden durch Steigerung des Geschäftes mit A- und B-Kunden. Hier waren, wie gesagt, billige Preise zwecklos, sondern die individuelle Behandlung der Kunden durch die Rayons war das wesentliche. Wir verkleinerten also die Vertreterbezirke, setzten die Provision herab und führten dafür Reisespesen ein, damit auch die kleinen Plätze besucht wurden. Später richteten wir eine immer verfeinerte Platzstatistik ein, um die Vertreter zu kontrollieren und Möglichkeiten einer Verkaufssteigerung aufzuspüren. So versuchten wir beispielsweise (bei aller Erkenntnis der Unzulänglichkeit dieses Versuches), den Umsatz einzelner Orte und Bezirke mit den örtlichen Einwohnerzahlen und anderem mehr zu vergleichen, worin Döring⁵¹ äußerst findig war. Es war uns weiter klar, daß unsere Verkaufs-Prokuristen unsere vielen, zum Teil neuen, Artikel noch nicht voll beherrschten und bei der Größe der Kollektion gar nicht so beherrschen konnten wie die Verkäufer in Spezialgeschäften. Daher kam der Gedanke an Warenspezialisten auf. | 33 Theoretisch gesprochen sollten zwei Einteilungen der Verkaufsabteilungen nebeneinander stehen, einmal die bezirkliche zur individuellen Behandlung der Zur Erläuterung des Textilhändlers Josef Witt (1884– 1954) siehe S. 180 ff. im Originaldokument, hier S. 210 ff. Hugo Wilkens (1892 – n.e.), Fabrikdirektor, Vorstand und Betriebsführer der Augsburger Buntweberei, vorm. L. A. Riedinger. Herbert Döring (n.e.), Prokurist der C. D. AG.
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Kunden, zweitens die fachliche zur Forcierung des einzelnen Artikels. Diesen Gedanken, der in der Theorie einfach war, in der Praxis aber voller Reibungsmöglichkeiten steckte, haben wir lange bedacht und ausprobiert, bis er schließlich in einer etwas anderen Form Gestalt annahm. So wurden Abteilungen für Modedruck und Futterstoffe geschaffen, wobei der Verkauf dieser Waren den Rayons fast ganz (wie bei Futterstoffen, wo es sich im großen um eine andere Kundschaft handelte) oder teilweise (wie bei Modedrucks) entzogen wurde. Außerdem wurden nebenamtliche Spezialisten geschaffen, wie beispielsweise Lembke⁵² für konfektionierte Ware und Brauer⁵³ für einen Teil der Ausrüstungsware. Der einzige hauptamtliche Spezialist war Rumler⁵⁴, den wir für Buntware einstellten. Er hat fraglos allerhand in Bewegung gebracht. Auf die Dauer schien es aber doch zweckmäßig, einen Rayon-Chef, nämlich Kroner⁵⁵, zum Inlet- und Buntware-Spezialisten zu machen, daneben Wachsmann⁵⁶. Ein Teil dieser Maßnahmen, vor allem die K-Preise hatten bestimmt eine gewisse sofortige Wirkung, so daß wir im 2. Halbjahr 1926, gerade der Zeit des tollsten Baumwollsturzes, unseren Verkauf von 28.000 Stück monatlich im 1. Halbjahr, wieder auf 55.000 Stück steigern konnten. Das Signal zu einer ganz neuen, bisher in der Baumwollindustrie unerhörten, Verkaufsmethode gab der Treffergedanke, in welchem sich verbesserte Betriebsgestaltung und neue Verkaufsmethode trafen. Dr. Wolfgang⁵⁷ hatte sich schon immer geärgert, daß spinnwebendünne Baumwollgewebe mit vieler Mühe in der Ausrüstung mit Tonerde und ähnlichen schweren Stoffen gefüllt werden mußten, um damit das Volk zu betrügen, jedenfalls insoweit, als es sich um Waschartikel handelte, deren Scheußlichkeit nach der ersten Wäsche klar in Erscheinung trat, ohne daß das törichte Volk sich daraus Witz kaufte. In diesem Volksbetrug waren fraglos die jüdischen Grossisten führend. Außerdem führten die knappen Breitenmaße und ähnliches zu einer fürchterlichen Schinderei im Betriebe. Nun war natürlich Voraussetzung für die Verdrängung der billigen Hemdentuche mit
Robert Lembke (n.e.), Mitarbeiter der C. D. AG. Johannes Brauer (n.e.), Prokurist der C. D. AG. Vermutlich Georg Rummler (1896 – n.e.), u. a. Prokurist bei der Haunstetter Spinnerei und Weberei Augsburg. Hermann Kroner (n.e.), Prokurist der C. D. AG. Alfred Wachsmann (n.e.), Prokurist der C. D. AG. Wolfgang Dierig (1879 – 1945), Vorsitzender des Aufsichtsrates der C. D. AG sowie u. a. Vorsitzender des Aufsichtsrates der Ernst Mallinckrodt AG in Leipzig, stellvertretender Vorsitzender des Aufsichtsrates der F. H. Hammersen AG, der Gebrüder Moras AG sowie der Spinnerei und Weberei Kottern und Mitglied im Aufsichtsrat der Augsburger Buntweberei vorm. L. A. Riedinger sowie der Deutsche Bank. Wolfgang Dierig wird in den vorliegenden Aufzeichnungen von seinem Bruder Gottfried als „Dr. Wolfgang“ bezeichnet.
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Füllappretur durch solide Ware, daß der Mehraufwand an Baumwollfäden durch Verbilligung in der Fabrikation halbwegs ausgeglichen wurde. Denn wenn die 34 Preise hoch über denen der gefüllten Ware | gelegen hätten, wären die Leute doch immer wieder darauf hereingefallen. Hier kam der von Dr. Wolfgang gegen den anfänglichen Widerspruch der Betriebsleiter konsequent verfolgte Gedanke der Maschinenkombination entgegen. Wann die Ware von der Bleiche über die endlich soeben zum einwandfreien Funktionieren gebrachte Treffermaschine lief und über den angeschlossenen Lagetisch herausging, waren bei zwei- und dreifacher Schicht, die auf der Treffermaschine tatsächlich bald erreicht wurde, die Kosten ab Bleiche gleich null, so daß hier die höhere Qualität der Rohware durch enorm vereinfachte Fabrikation ausgeglichen werden konnte. Eines war dabei natürlich klar. Die Warenhäuser und Grossisten, deren Geschäfte sich teilweise auf die Schwindelware aufbaute, würden einen dauernden Widerstand leisten und auch die konservativen Einzelhändler würden schwer zu bekehren sein. Daher war eine Propaganda bei den Konsumenten kaum zu umgehen, ein nicht nur für unsere Firma, die sich entsprechend ihrem Grundsatz „mehr Sein als Scheinen“ nur sehr schwer zur Propaganda überhaupt entschloß, sondern auch für die gesamte Baumwollindustrie ganz neuer Gedanke! Wichtig dabei war ein zugkräftiger Name. Zunächst war Treff-As geplant, was sich aber wegen Schutz dieses Namens nicht durchführen ließ. Man kam schließlich auf „Treffer“, was fraglos noch besser war. Es wurde der Treffer-Pfeil entworfen und so weiter. Weihnachten 1926 gaben wir unseren ersten, recht primitiven, Treffer-Kalender heraus, wodurch wir das Publikum das ganze Jahr auf Treffer und unsere Erzeugnisse hinwiesen und zugleich den Einzelhändlern gefällig sein konnten, da wir ihnen wegen der großen Auflage einen zugkräftigen Kalender zu einem lächerlich billigen Preis bieten konnten, den sie ihrerseits ihrer Kundschaft zum Geschenk machen konnten. In dieser Zeit taucht nun ein Name auf, der in unserer Firma nach außen hin eine Reihe von Jahren fraglos eine maßgebende Rolle gespielt hat: Dr. Schleich ⁵⁸. Wir hatten ihn Ende 1924 zunächst einmal für Hammersen engagiert, damit er neben Kremser⁵⁹ den unglücklichen Ernst Häcker⁶⁰ unterstützen sollte, der bei dem damals tobenden Krach mit seinem Bruder ganz allein auf weiter Flur stand. Schleich sollte bei Hammersen eine Art Hauptverwaltung einrichten. Daß Ernst
Paul Schleich (1889 – n.e.), beruflich zunächst in der Schwerindustrie tätig, dann textilwirtschaftliche Tätigkeit im Bereich Werbung bei der C. D. AG. Daraufhin Geschäftsführer der 1934 gegründeten „Arbeitsgemeinschaft Deutsche Textilstoffe“. Alfred Kremser (1878 – n.e.), Fabrikdirektor und Vorstandsvorsitzender bei der Spinnerei und Weberei Kottern bei Kempten. Ernst Häcker (n.e.), Bruder des schwäbischen Textilindustriellen und Dierig-Kontrahenten Fritz Häcker.
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Häcker diesen weitgereisten, gewandten Mann überhaupt schluckte, war wohl nur darauf zurückzuführen, daß er in seinem glänzenden Abiturzeugnis vor allem in Religion „sehr gut“ hatte. Als dann im September 25 die I.G. platzte, wollte Ernst Häcker Schleich als Erinnerung an diese Zeit wieder los sein, und wir haben ihn übernommen und zwar mit dem Sitz in Berlin. | S. sollte dort sozusagen Mädchen für alles sein, Fühlung mit allen Stellen 35 halten und unter anderem die Geschäftsführer, in erster Linie mich, in irgendwelchen Sitzungen vertreten. Ich erinnere mich daran, daß ich ihm die Aufgabe gestellt habe: Sie müssen solche Fühlung mit allen maßgebenden Kreisen haben, daß Sie Gesetze schon kennen, ehe sie rauskommen und immer wissen, wohin der Hase läuft. S. hat sich seiner Aufgabe mit erstaunlichem Geschick unterzogen. Sein hervorragender Geist, vielleicht mehr rasch als gründlich, fand sich spielend in alle Materie ein, gleichgültig ob es sich um Lieferungs- und Zahlungs-Bedingungen, Zollschema, Umsatzsteuer-Pauschalierung oder Türkischrot handelte. Er war gern gesehen in Wirtschafts- und Geschäftsführerkreisen, im Wirtschaftsministerium bei Geheimrat Hagemann⁶¹ ebenso wie im Finanzministerium oder Auswärtigen Amt. Beim Tanztee gewann er die Herzen der Mode-Redaktricen und anderes mehr. Schleich konnte man überall hinschicken, weniger um Sachen durchzubiegen, als um Fühlung zu halten. Er hatte sozusagen seine Hand dauernd am Pulsschlag des Lebens in Berlin. Im übrigen war es vielleicht weniger seine Art, Dinge durchzuziehen als aufzupassen. Wenn man ihn in irgend eine Sitzung schickte, so war er vielleicht nicht in der Lage, irgend etwas durchzusetzen, aber im großen ganzen verstand er es, einen Beschluß gegen C.D. zu verhindern oder aufzuschieben. Das lag in seinem ganzen liebenswürdigen Wesen. Zudem war er tief durchdrungen von der unerhörten Bedeutung von C.D. und dem Hochstand seiner leitenden Persönlichkeiten. Er brauchte sozusagen den Glanz von C.D., um sich selbst darin zu sonnen. In dieser Weise ging von ihm ein faszinierendes Fluidum, immer mit einer Kleinigkeit liebenswürdiger Schaumschlägerei gemischt, aus, und er wirkte als Propaganda für C.D. einfach in being. Warum wir uns in der Beengtheit der Wirtschaftskrise wieder von Schleich getrennt haben, ist eine Sache, die hier zu weit führen würde. Immerhin glaube ich doch, daß eine Firma von unserer Bedeutung in Berlin eine prominente Persönlichkeit haben müßte. Es braucht nicht unbedingt gerade ein Mann vom Wesen Dr. Schleich zu sein, denn derartige Persönlichkeiten sind einmalig, und die Person
Werner Hagemann (1881– 1960), seit 1924 Ministerialrat bzw. seit 1934 Ministerialdirektor im Reichswirtschaftsministerium. U. a. Vorsitzender der Devisenzuteilungskommission und Reichsbeauftragter für Seide, Kunstseide und Zellwolle.
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muß sich nicht nur nach dem Amt richten, sondern auch das Amt nach der nun einmal gegebenen Person. | 36 Da in Schleichs Aufgabengebiet natürlich die Verbindung mit der Presse fiel, war zur Propaganda nur ein Schritt. Das war für S. genau das richtige Betätigungsfeld, und er stürzte sich mit wilder Begeisterung darauf. Der Treffergedanke kam der allgemeinen Stimmung durchaus entgegen. Auf den Schwindel der Inflationszeit hin, die sich an die „Ersatz“-Wirtschaft des Krieges angeschlossen hatte, machte sich im Volke gerade damals ein starker Hang zur Solidität geltend. Dafür, insonderheit für die wirtschaftlichen Kenntnisse der praktischen Hausfrauen, wurde besonders von den Hausfrauenvereinen nach Kräften Stimmung gemacht. Da war begreiflicherweise das „Hausfrauentuch Treffer, der Wäschestoff ohne Füllappretur“ das richtige Schlagwort. S. gewann sofort das Herz einer in der Zentrale der Hausfrauenvereine maßgebenden Frau, die ebenso betriebsam wie große Dame war. Den damals sehr bekannten Namen habe ich leider vergessen. Die Verbandsleitung machte darauf die Treffer-Sache zu der ihren. S. hielt belehrende Vorträge in Vereinen, schulte Rednerinnen aus den Vereinen selbst, gewann irgend einen geschickten Wanderprediger und versah alle Welt mit Zahlen und Anschauungsmaterial. Soviel Eisenbahnzüge Kartoffeln werden der Volksernährung entzogen und in Gewebe geschmiert! Soviel Familien könnten davon ernährt werden (alles natürlich mit bildlicher Darstellung)! So sieht beiliegendes Gewebe vor und nach der ersten Wäsche aus usw.! Nähstuben und Gewerbeschulen erhielten Trefferproben und dann weitere Mengen für ihren laufenden Bedarf käuflich zur Verfügung gestellt. Es wurden Preisausschreiben mit Rudolf Presber⁶² als Preisrichter gemacht. Sogar in der Gesolei in Düsseldorf traten wir auf. Dieser Ausstellungsversuch war allerdings etwas primitiv. Ebenso hielt Schleich Vorträge bei irgendwelchen Detaillisten-Tagungen über Treffer und später andere Wirtschaftsfragen, so daß er bald ein gesuchter Programmpunkt zur Belebung derartiger Tagungen wurde. Wenn wir von der Publikumsseite in den Geschäften Nachfrage nach Treffer schufen, so kamen wir dem bei unseren Kunden von der anderen Seite entgegen und zwar nicht nur mit Prospekten und Aufklärungsblättern, sondern auch mit Treffer selbst. Da gerade im Jahre 26 jeder Einzelhändler das Risiko des Einkaufes scheute, waren die Leute hochbeglückt, wenn wir ihnen Treffer als Kommissionsware kostenlos und risikofrei ins Haus legten. Dadurch wurde das Interesse der Händler für den Artikel gewonnen, so daß sie nun auch ihrerseits die Kundschaft über die Vorzüge von Treffer aufklärten. Und wenn dieser erste Schritt getan war, so folgte der zweite von selbst,
Rudolf Presber (1868 – 1935), Journalist, Schriftsteller und Drehbuchautor. U. a. Herausgeber und Chefredakteur der Zeitschrift „Über Land und Meer“ sowie Redakteur der „Lustigen Blätter“.
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denn jede | Hausfrau, die unter Hinweis auf die hohen Waschqualitäten Treffer 37 einmal gekauft hatte, stellte fest, daß die Ware tatsächlich nach der Wäsche noch besser aussah als vorher, was sie ja von dem, was sie sonst im Laden kaufte, nicht gewöhnt war. Anfang 1925 sind wir wohl mit Treffer herausgekommen und nach Einsetzen der Konjunktur im Jahre 1927 verkauften wir bereits in einem Monat 19.600 Stück Treffer oder im ganzen ersten Vierteljahr 600 Stück im Tagesdurchschnitt. Das war ein Wort. Vor allen Dingen war aber nun C.D. als Weißwarenlieferant plötzlich in aller Munde und zwar in dem Sinne, daß wir Qualitätsware lieferten. Diesen Ruf unterstützten wir, indem wir in große [sic] Umfange Waren von fast übertriebener Dichtigkeit verkauften wie T 16. So konnten wir uns plötzlich Ettlingen und den Elsäßern an die Seite stellen. Überall, auch in der Presse, waren wir jetzt die interessanten Leute, und als Baruch⁶³, der Inhaber der Textilwoche, uns hier in Langenbielau einen Besuch machte, sprach er das köstliche Wort: „Ihr Vater hat Ihnen e’ Fabrik vermacht, Sie werden vermachen Ihren Kindern e’ Artikel.“ Nebenbei bemerkt hatte die Lieferung von Kommissionsware schon wieder einen Sturm im Buntweberverband erzeugt, eingeleitet durch die Austrittserklärung von Cohn in Reichenbach (Aktenvermerk Dr. Bötzelen⁶⁴ vom 20.7.26). Waren wir mit Ausrüstungsware an die Lieferungs- und Zahlungsbedingungen des Bundweberverbandes gebunden? Wir machten den Leuten klar, daß wir uns mit unserer Ausrüstungsware unmöglich in allen Punkten an die Verbandsbedingungen halten könnten, wenn unsere prominenten Konkurrenten in Ausrüstungswaren sich darum nicht zu kümmern brauchten. Wir ließen mit Entschiedenheit merken, daß wir in diesem Punkt unsere vitalen Interessen nicht zu opfern bereit wären. Andererseits machten wir die Buntweber auf den Riesenvorteil aufmerksam, wenn C.D. solch gewaltige Mengen von Ausrüstungsware und Damasten im wesentlichen zu den Bundweberbedingungen verkaufe. Dies könne den Anfang von Einheitsbedingungen darstellen. Tatsächlich konnten wir im normalen Geschäft ja gar keine Ausnahme für Ausrüstungsware machen, ohne in eine bodenlose Verwirrung zu stürzen. Der Verband drohte wieder mal aufzufliegen, denn ohne uns war er nicht möglich, und schließlich haben wir uns wohl irgend wie geeinigt, daß wir in den entscheidend wichtigen Punkten wie Zinsberechnung usw. die Verbandsbedingungen einhalten würden. An unserer Kom-
Siegfried Baruch (1876 – n.e.), Verleger und Generaldirektor der Verlagsgesellschaft Textilwoche A.G. Herausgeber der Fachzeitschrift „Textilwoche“, dem Organ des Reichsbundes des Textileinzelhandels. Hermann Bötzelen (1885 – 1958), u. a. Vorstandsvorsitzender der F. H. Hammersen AG in Osnabrück, seit 1935 im Vorstand der C. D. AG sowie im Aufsichtsrat der Ernst Mallinckrodt AG Leipzig.
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missionsware in Treffer hielten wir aber eisern fest. Schließlich mußten wir ja den Verband stützen, um dem Vorkriegschaos der Kundenwillkür zu entgehen, bei 38 dem der Fabrikant Spielball in den Händen | der Kundschaft war. Aber leicht ist es uns wirklich nicht gemacht worden, im Buntweberverband zu bleiben. Im Anschluß an diese Verbandskrise hatten wir eine starke Stimmung für die Einheitskondition geschaffen, sowohl in Buntweberkreisen als sonst, denn dem Ausrüster- wie dem Spinnweberverband konnte es ja auch nicht gleichgültig sein, ob das Kartell der Buntweber, Leinenweber, Genuakordweber und zweier weiterer kleinerer Verbände aufflöge, denn dieses Kartell war sichtlich die Stütze für die guten Sitten auf dem Konditionen-Gebiet. Schließlich verkauften die Leute alle nach den Buntweberbedingungen und beriefen sich auf sie. So fuhren dann Rosenberger⁶⁵, Flügel⁶⁶, Otten⁶⁷ und ich bald darauf einmal nach Stuttgart, das erste Mal allerdings vergeblich. Auch Verhandlungen während der Wirtschaftskrise, so etwa 30 oder 31, unter Einbeziehung der Woll- und der Futterstoff-Leute, scheiterten am Ende, nachdem die Sache fast fertig geworden war. Es hat bis nach dem Umbruch gedauert, ehe die Einheitsbedingungen der deutschen Textilindustrie endlich Tatsache wurden. Ich glaube aber, wir können uns als deren Vater bezeichnen. Um auf die Propaganda zurückzukommen, so war Treffer der geeignete Mittelpunkt hierfür, ohne daß wir sie natürlich auf den einen Artikel beschränken konnten, zumal unsere liebe Konkurrenz aus unserer angeblichen Umstellung auf Weißware Kapital zu schlagen suchte. Gleichzeitig mit der Trefferreklame lief die für Travisée, zusammen mit I.G. Farben. Was die Presse anbetrifft, so spezialisierten wir uns mit Anzeigen auf die eigentliche Textilfachpresse und nahmen von der Publikumspresse nur die soliden Hausfrauenzeitungen mit. Eine rege Zusammenarbeit kam für Treffer und Travisée mit den Bayer-Schnitten zustande.Vor allen Dingen suchten wir mit Erfolg auch in den redaktionellen Teil der Presse hineinzukommen, was nicht nur billiger, sondern auch wirkungsvoller war. Schleich war überall. Wenn unsere Modetees mit Fleurette-Walzer uns – auch wieder mit freundlicher Unterstützung durch unsere Konkurrenz – den Ruf eintrugen, daß wir uns von den Inlets ab, und der Modewelt zugewandt hätten, wurden die Betten-Spezialgeschäfte mit Frauen nach Bielau eingeladen zu Fa-
Heinz Rosenberger (1871 – n.e.), schlesischer Textilindustrieller und u. a. Vorsitzender des Verbandes Schlesischer Textilindustrieller, Vorstandsmitglied des Arbeitgeberverbandes der Deutschen Textil-Industrie sowie Mitglied des Hauptausschusses des Reichsverbandes der Deutschen Industrie. N.e. Karl-Josef Otten (1879 – 1936), Textilunternehmer und Gründer der K. Jos. Otten Tuchfabrik in Mönchengladbach im Jahre 1909.
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brikbesichtigungen mit Inletbelehrung, Kasino und Sieben Kurfürsten. Das sind nur gewisse Andeutungen, was damals auf dem Propaganda-Gebiet alles los war. Es würde zu weit führen, die Lehren herauszukristallisieren, die wir im Laufe der Jahre aus all diesen, zum Teil im Anfang kindlichen, Versuchen gezogen haben. | Propaganda setzt, wenn sie fruchten soll, immer voraus, daß den Worten 39 Taten, d. h. Leistungen entgegenkommen.Wurde von C.D. überall gesprochen und geschrieben, so erschien C.D. schließlich leibhaftig in Gestalt von zahlreichen auswärtigen Lägern, die umgekehrt auch wieder propagandistischer aufgemacht wurden, als das bisher üblich war. Da wir auf Grund unserer geographischen Lage unseren Absatz in den abgelegensten Gegenden, auch im Herzen unserer Konkurrenz-Industrie, suchen mußten, konnten wir nicht umhin, näher an den Feind ranzugehen. Da der Buntweberverband keine Frachtübernahme gestattete, sondern ab Fabrik oder Lager geliefert werden mußte, rückten wir mit unseren Lägern an die Kundschaft heran. Schon im Laufe der Inflation hatten wir in Mühlbach ein gut sortiertes Verkaufslager eingerichtet und Berlin und Hamburg waren vom Frieden her aufrecht erhalten geblieben. Schon Ende 1923 oder Anfang 1924 hatten wir in Königsberg ein gut gelegenes Haus gekauft und zwar in Roggenmark, soweit der Kaufpreis stehen blieb. Nun kamen, neben einigen kleinen Vertreterlägern, Leipzig, Köln, Frankfurt a. M., Bielefeld und M.-Gladbach, letzteres für Futterstoffe, dazu. Die Lager wurden so aufgemacht, daß sie wirklich zum Kundenbesuch vom Lande einladen sollten. Etwas ganz Besonderes sollte das Berliner Haus werden, das wir Anfang 1928 für 571.000 Mark nicht teuer kauften und dann ganz auf modern umbauen ließen. Hoch oben der Name Dierig, der an der Ecke Kaiser Wilhelm-Straße – Spandauer Straße in großen leuchtenden Buchstaben vom Dach herab prangte. Diese Läger wurden nun in jeder Beziehung propagandistisch ausgewertet. Da damals das neue Wort „Dienst am Kunden“, von Amerika herüber gekommen, überall eine große Rolle spielte, kamen wir dem mit dem Begriff des „C.D.-Eildienstes“ entgegen. Eigentlich war dieser C.D.-Eildienst weiter nichts als die Feststellung der Tatsache, daß wir an den betreffenden Orten wohl sortierte Läger unterhielten. In dem Prospekt jedoch sah man, wie der Ladeninhaber sorgenvoll die Textilzeitung liest: wechselnde Moden – fallende Preise. Man sieht bildlich dargestellt den Ansturm der Kundschaft bei leeren Regalen oder die brechenden Läger mit gähnenden Verkäufern ohne Kundschaft. Zwischen diesen beiden Möglichkeiten mußte bisher der Geschäftsmann wählen. C.D.-Eildienst ändert alles mit einem Schlage. Beim beginnenden Ansturm der Kundschaft sehen wir einen überaus eleganten Einkäufer lässig am Telefon sitzen. Darauf kommt der Eildienst in Gang, das Auto rast und eilfertige Hausdiener bringen die Ware auf den Ladentisch. All diese Bemühungen hatten | zur Folge, 40 daß wir im Jahre 1929 255.000 Stück = 37 % des Inlandversandes über die auswärtigen Läger leiteten.
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Erinnert werden muß in diesem Zusammenhang noch an den großen Rummel mit den Vertreter-Autos, welche wir, anfangs in einheitlichen Typen, unseren Vertretern gegen Verrechnung zur Verfügung stellten. Es hat sehr große Schwierigkeiten gemacht, bis die Leute so weit waren: man könne doch nicht beim Kunden Besuch machen, nachdem man vorher bei einer Panne auf der Landstraße unter dem Wagen gelegen hatte. Sie haben sich allmählich daran gewöhnt, und heute bedarf es keiner Worte mehr, daß nur das selbst gesteuerte Auto es dem Vertreter ermöglicht, mit großen Kollektionen viele kleine Plätze zu besuchen. Von den auswärtigen Lägern sind wir dann später wieder abgekommen, da die Kosten schließlich alle Voranschläge überstiegen. Wir glauben, daß die Zukunft beim Sortiment 33 liegt, d. h. bei der schlagfertigen Belieferung von der Fabrik aus mit Hilfe eines kleinen, geschickt zusammen gestellten, StandardSortimentes, was damals natürlich noch völlig unmöglich war. Insonderheit das Berliner Haus hat uns zum Schluß mehr Kosten als Freude gemacht. Zu dem Kaufpreis von 571.000 Mark kamen, neben den Umbau-Kosten, die für das geschaffene nicht übertrieben waren, noch geradezu sadistische Forderungen der Berliner Baupolizei dazu, welche allein mehrere hunderttausend Mark betrugen. So kam uns das Haus über 1 Mill. zu stehen und hat, zum mindesten ab 1934, als die Nachfrage das Angebot dauernd überstieg, nichts mehr genutzt. Auch die Propaganda haben wir nach vielem Tasten auf ein Maß zurückgeführt, das uns nötig und zweckmäßig erscheint. Vor allem haben wir gelernt, in welcher Richtung unsere Propaganda liegen muß und wie sie geschlossen zusammen gefaßt werden kann. Interessieren werden die Kosten in den wichtigsten Jahren:
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in tausend Mark auswärtige Läger Reklame
| In den Jahren 1937, 38 und 39 haben für [sic] Propaganda im Durchschnitt 227.000 Mark ausgegeben. Das ist etwa die Größenordnung, die uns angemessen erscheint. Die auswärtigen Läger sind im wesentlichen verschwunden. Trotz dieser nachträglichen Erkenntnisse waren damals die geschilderten Anstrengungen zur Absatzsteigerung unbedingt nötig. Wir mußten etwas ganz Besonderes tun, um vom Ruf des alten Buntwebers, der auch allerhand mehr oder weniger gute Ausrüstungswaren verkaufte, loszukommen und als der beherrschende deutsche Baumwoll-Lieferant – gleichermaßen in Bezug auf Inlet,
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Weißwaren und Modedrucks – anerkannt zu werden. Ob man, wenn mans nochmal machen sollte, alles genau so machen würde, bleibe dahingestellt. Aber der von uns eingeschlagene Weg hat offensichtliche Erfolge gehabt, auch da, wo wir später wieder von ihm abgekommen sind. Freilich hat uns unsere expansive Verkaufspolitik, zu der wir aus den unerbittlichen Verhältnissen heraus genau so gezwungen waren, wie das deutsche Reich zu seiner „militaristischen Politik“, genau so wie dem Reich den Ruf der „Agressoren“ eingebracht, der leichter getragen werden konnte, solange die Bewunderung die Mißgunst überdeckte, der aber zurzeit äußerst unbequem ist. Ich habe bei der Schilderung unserer Verkaufspolitik bis in das Jahr 1929 vorgegriffen, da die Ereignisse aus der Absatzkrisis von 1926 den Anstoß zu dieser Entwicklung gegeben hatten. Das Hochkonjunkturjahr 1927 konnte uns über die geschilderten Notwendigkeiten nicht täuschen. Wenn die allgemeine Erwerbslosigkeit Anfang 1926 um etwa 1 Mill. gegen 1925 gestiegen war, so zeigte die Tatsache, daß sie ab Sommer 26 bis zum winterlichen saisonmäßigen Hochstand kaum mehr stieg, daß es nun wieder bergauf ging. So scheint das Weihnachtsgeschäft gut gewesen zu sein, und der Verkauf hielt sich bis Mai 1927 auf hohem Stand, um dann, nach kurzer sommerlicher Abschwächung, bis zum September anzuhalten. Januar bis Mai verkauften wir durchschnittlich 86.000 Stück. Am 1.9.27 erreichte die Baumwolle sogar wieder einmal 23.10 cts. Selbstverständlich wurde nun 1927 sofort unsere unterbrochene Investierungstätigkeit verstärkt aufgenommen und das notgedrungen versäumte nachgeholt. Die in den Jahren 1927– 28 fertig gewordenen Anlagen geben ein Bild von dem, was 1927 eingerührt worden ist. |
Rohweberei II Gellenau Vergrößerung Tannenberg Websaal IIb und II d Jacquard-Stühle Hochverzugsstreckwerk Ausrüstung (Kombination, Spritzdruckmaschinen u. a.m.) Kraftanlage (Turbine II, Kessel u. , Wärmespeicher, Schornstein, Kohlenlager, Abdampfleitung) Elektrifizierung Weberei Molkereianlage Wohnhäuser Berliner Haus Mühlbach
in tausend Mark . . . . .
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Daß Mühlbach mit 850.000 Mark erscheint, beweist, daß der Anbau 1925 zwar bewilligt, aber höchstens begonnen worden ist. Es ist aber auch möglich, daß der Beginn sich noch verzögert hat und der Plan dann 1927 in etwas verkleinerter Form durchgeführt worden ist. Ich halte das sogar für das wahrscheinlichere. Nicht eingerechnet in obigen Zahlen ist das vermehrte Betriebskapital für den 2. Anbau Gellenau und für Tannenberg, ferner nicht die neu zugekauften Hammersen-Aktien. Des weiteren fehlen bei den Aufstellungen für 1925, 27 und 28 die Bewilligungen aus den Jahren 24 und 26, ebenso die Überschreitungen des Voranschlages für 1925. Später haben wir das Bewilligungssystem so verfeinert (Voranschlag und Nachbewilligung), daß wesentliche Überschreitungen kaum mehr vorgekommen sind. An anderer Stelle haben wir festgestellt, daß wir von der Stabilisierung bis zum Eintritt der Wirtschaftskrise 12 Mill. an Anlagen neu geschaffen haben, nicht gerechnet die Betriebsverbesserungen über Unkosten. Natürlich gab es bei dem ansteigenden Geschäft im März sofort wieder eine Lohnerhöhung und zwar von 44 auf 48 Pfg., der im Februar, sozusagen als kleines Zwischenspiel, ein 14-tägiger Streik vorausgegangen war mit einem recht harmlosen Verlauf. | 43 Nach der normalen sommerlichen Saurengurkenzeit setzte das Geschäft umso kräftiger wieder ein, so daß im September 81.000 Stück verkauf wurden, alles zu guten Preisen.Vor allem gingen die guten Damaste und Inlets enorm. 1927 war bei weitem das beste Inlet-Jahr. Die Tatsache, daß wir sie kaum rausschaffen konnten, veranlaßte Wrensch⁶⁸ zu allerhand Kunststücken, die im Augenblick des Trubels auch von der Kundschaft kaum bemerkt wurden, nachträglich aber unserem Ruf als Inlet-Weber fraglos einigen Abbruch getan haben. Auch das LohnAusrüstungsgeschäft ging toll.Wenn ich mich recht erinnere, haben wir im August bei den damals guten Leipziger Preisen einen Gesamt-Facon-Umsatz in der Langenbielauer Ausrüstung, ohne Kaliko-Abteilung, von über 1 Mill. Mark gemacht. Die Investierungen allein hätten uns nicht viel Kummer gemacht, denn wir erzielten 1927 ein Arbeitsergebnis von rund 7 Mill., von denen etwa 600.000 Mark für Ausschüttungen abgingen. Die Ertragssteuern werden wohl nicht viel über die Abschreibungen hinausgegangen sein, zumal wir meiner Erinnerung nach etwa 2.5 Mill. dem Wohlfahrtsverein zuführten. Die Dotationen an den Wohlfahrtsverein in den Jahren 1925 – 1927 von insgesamt 4 Mill. Mark einschließlich 1 Mill. Rückstellungen für die Pensionsverträge berührten die Liquidität ja nicht. Erwähnen möchte ich noch, daß wir gerade in der Krise von 1926 die ArbeiterPensionen einführten mit einem Etat von 100.000 Mark jährlich. Den Anstoß dazu
Konrad Wrensch (n.e.), Handlungsbevollmächtigter der C. D. AG für die Augsburger Zweigniederlassungen in Mühlbach und Fichtelbach.
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gab die Erwägung, daß wir uns bei der schlechten Beschäftigung auf diese Weise von den alten, über 65jährigen, Leuten entlasten und zugleich ein wirklich soziales Werk tun könnten, denn die Versicherungsrenten waren damals noch sehr niedrig. Die gewaltigen Schwierigkeiten des Jahres 1928 kamen von einer ganz anderen Seite, nämlich von einer noch nie dagewesenen Lagersteigerung. Nachdem die I.G. vorläufig geplatzt und der Produktionszuwachs der Rohweberei Gellenau und Tannenberg, 2b und 2 c noch sehr gering war, mußten wir wieder stark im freien Markt kaufen. Da mußte man sich in solchen wilden Konjunkturzeiten langfristig ranhalten, wenn man nicht eines Tages ohne Rohgewebe dastehen wollte, und das durfte uns bei unserer Aufbauarbeit am Absatz nicht passieren. So hatten wir schon Ende September gewaltige Abnahmeverpflichtungen in Garnen und Geweben. Im Oktober bot der Rückgang des Verkaufes auf 66.000 Stück | an sich noch keinerlei Anlaß zur Sorge. Aber wir 44 glaubten doch schon die Anzeichen einer kommenden Absatzschrumpfung zu spüren. Nach erheblichem Schwanken kauften wir schließlich doch noch einmal ein – und waren uns bereits im November klar, daß wir mit diesem Nachkauf eine Dummheit gemacht hatten. Im Oktober hatten wir Abnahmeverpflichtungen von 13 Mill. Meter Rohgewebe und 1.2 Mill. kg Garnen. Für die eigene Spinnerei und Froehlich, den wir damals zum Teil im Lohn mit beschäftigten, waren wir auf 5 Monate in Baumwolle eingedeckt. Der Verkauf ging im November und Dezember auf 48.000 und 39.000 Stück zurück. So schloß das Jahr des allgemeinen Taumels 1927 mit einem bedenklichen Mißklang, wenn auch noch keinerlei Anlaß zu ernster Sorge vorhanden war. Wir ahnten damals natürlich nicht, daß wir, d. h. die Textilwirtschaft, schon Ende 1927, d. h. fast 2 Jahre vor der deutschen Gesamtwirtschaft, in die große Wirtschaftskrise eintraten, die wir seit 1919 und erneut seit 1924 erwartet hatten und auf die wir Arbeitgeber und Gewerkschaften immer wieder hingewiesen haben. Sie dauerte für uns über 5 Jahre. Richtigstellung: Auf Grund von Unterlagen stellte ich nachträglich fest, daß der dramatische Gewebeeinkauf, der mir noch deutlich in Erinnerung steht, vom Oktober 1927 in den Oktober 1925 verlegt werden muß. Damals war die Sachlage besonders zugespitzt, weil die I.G., die wir ein Jahr lang praktisch durchgeführt hatten, im September endgültig aufgeflogen war, und wir wieder an die alten Lieferanten heran mußten, denen wir untreu geworden waren. So kauften wir im Oktober 25 bei dem alten Fuchs Dillmann⁶⁹ (Häckers⁷⁰ Freund!) noch einmal ein,
Eugen Dillmann (1869 – n.e.), Generaldirektor und Vorstand der Spinnerei und Weberei
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was wir kriegen konnten und zwar für III. Quartal 1926. Wir hatten nun 22.4 Mill. Meter Gewebe und für 7 Monate Garne abzunehmen. Rohstoff-Verpfl. Auftragsbestand
. Mill. Mark . ʺ ʺ
ungedeckt . Mill. Mark oder per Saldo Unterdeckung . Mill. Mark Demgegenüber Oktober : Rohstoff-Verpfl. . Mill. Mark Auftragsbestand . ʺ ʺ ungedeckt . Mill. Mark oder per Saldo Unterdeckung . Mill.
Warendebitoren Lieferantenschulden, Remb., Akzepte überdeckt mit
.
Warendebitoren Lief.Schulden, Remb., Akzepte
.
. .
. .
45 | 1927 hatten wir also sehr viel kleinere Rohstoff-Verpflichtungen und trotzdem ist
die Unterdeckung größer, in erster Linie durch das ungünstige Verhältnis von Debitoren zu Lieferantenschulden. 1925 hatten wir noch mehr hereinzubekommen, 1927 hatten wir schon mehr drin. Es wird in dem Abschnitt Wirtschaftskrise zu erörtern sein, warum wir 1928 in noch sehr viel größere Schwierigkeiten gekommen sind.
Pfersee in Augsburg und u. a. Ausschussmitglied des Vereins Süddeutscher Baumwollindustrieller. Fritz Häcker (1874– 1945), Fabrikant, Generaldirektor und seit 1908 Vorstandsmitglied der F. H. Hammersen AG. Mitglied im Aufsichtsrat zahlreicher Unternehmen wie etwa der Augsburger Buntweberei vorm. L. A. Riedinger, der Haunstetter Spinnerei und Weberei oder der Spinnerei und Weberei Kottern. Im Zuge der Fusion von Dierig und Hammersen wurde Häcker Mitglied im Aufsichtsrat der C. D. AG. Ausführlich ist seine Rolle bei den Verhandlungen und Schwierigkeiten der Fusion dargestellt im Originaldokument auf S. 111 ff, hier S. 146 ff.
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Lohnentwicklung. Hier muß angeknüpft werden an die auf Seite 5 geschilderten Tarifverhandlungen vom 15. 5.1924, die uns in freier Vereinbarung einerseits die Anerkennung unseres Goldlohn-Tarifes in seinem Aufbau, auf der anderen Seite eine Erhöhung des Ecklohnes von 27.3 Pfg. auf 30.3 Pfg. gebracht hatten. Es war seit der Stabilisierung der erste in freien Verhandlungen getätigte Abschluß und ist, meiner Erinnerung nach, zugleich der letzte unter dem schwarz-rot-goldenen Regime geblieben. Die Schlichtungsordnung hat uns genau das gebracht, was wir von ihr erwarteten. Eine entscheidende Rolle spielte in der ganzen Lohnentwicklung der Arbeitsminister Brauns⁷¹, dessen bemerkenswerte Persönlichkeit einer Würdigung bedarf. Er hieß, glaube ich, mit Vornamen Pitter und war ne kölsche Jung, der seine rheinische Art in bestechendem Charm mit priesterlicher Salbung zu vereinigen wußte. Gelegentlich celebrierte der Herr Reichsminister in einer nahe gelegenen Kapelle schnell mal eine Messe, um seine Weihen nicht zu verlieren. Im übrigen war er ein gerissener Zentrumsfuchs, der im Laufe von 5 Jahren 6 Kabinette überdauert hat, von der großen Koalition Stresemanns im Herbst 1923 bis zum Antritt des Kabinetts Müller im Sommer 1928, wo er von dem patriarchalischen Sozialdemokraten Wissel⁷² abgelöst wurde. Klug war er bestimmt. Ob er über wirtschaftliche Dinge ernsthaft nachgedacht hat, lasse ich dahingestellt. Jedenfalls stand im Mittelpunkt seines Handelns der Gedanke: wenn das Zentrum sich der Sozialdemokratie gegenüber halten will, muß es sich der Straße gegenüber immer noch etwas sozialer gebärden als die Roten. So ist er der hauptverantwortliche für die unheilvolle Lohnpolitik, die, wie wir sehen werden, eine der gewichtigsten Ursachen der großen Wirtschaftskrise war, wenn man auch immer wieder versucht, diese Seite der Angelegenheit totzuschweigen. | Zur Zeit der Stabilisierung war es der alles beherrschende gesunde Gedanke, 46 daß zunächst einmal die Preise gesenkt und dann festgehalten werden müßten. Daher keine Lohnerhöhung ohne Mehrleistung, sei es durch Mehrleistung der Arbeiter, sei es durch Rationalisierung. Es ist geradezu erstaunlich, daß der Lebenshaltungsindex, der am 26.11.1923 noch 154 % von 1913 betragen hatte, am 11. 2.1924 auf 103 herunter war. Wenn er dann im März wieder auf 106 stieg, so muß diese Steigung nicht unbedingt auf die bereits eintretenden Lohnerhöhun Heinrich Brauns (1868 – 1939), deutscher Zentrums-Politiker, katholischer Theologe und zwischen 1920 – 1928 Reichsarbeitsminister. Rudolf Wissell (1869 – 1962), Gewerkschafter und Politiker, war u. a. Reichswirtschaftsminister (1919), Reichsarbeitsminister (1928 – 1930) und Schlichter für den Bezirk Berlin-Brandenburg (1924– 1932). Die Schreibweise des Nachnamens wurde auf den Folgeseiten angepasst.
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gen zurückzuführen sein. Dann ging die Geschichte aber los. Der März brachte uns, wie gesagt, eine 10 %ige Lohnerhöhung, der April eine weitere 9 %ige, der Oktober 10 %, der Februar 1925 8 %, der Juli 25 aber (infolge der guten Konjunktur!) bereits 16 % und zwar auf 44 Pfg., d. h. insgesamt 70 % von 26 Pfg. Da das in allen Industrien so ging, wenn auch vielleicht nicht ganz in gleichem Tempo, so war der Lebenshaltungsindex schon wieder auf 143 gestiegen, d. h. um ca. 40 %. Die Lebenshaltungskosten liefen also den Löhnen mit Abstand nach. Mit all diesen Lohnerhöhungen hatte die Arbeiterschaft wenig zu tun, es war eine reine Gewerkschaftsarbeit. Die 16 % Erhöhung vom Juli 1925 gingen auf einen Schiedsspruch des Schlichters Philipp zurück, welcher nicht nur von den Arbeitgebern, sondern – trotz der besonders großen Erhöhung von 16 % – bezeichnenderweise auch von den Gewerkschaften abgelehnt wurde, obgleich die Gesamterhöhung, wie gesagt, 70 % betrug, gegen 40 % beim Lebenshaltungsindex. Nun suchten sich die Gewerkschaften, ganz im Sinne der an früherer Stelle beleuchteten Befürchtungen, die schwächste Stelle für einen Streik aus, nämlich die kleine Untergruppe Görlitz. Die Aussperrung der paar Görlitzer Arbeiter konnte die Gewerkschaft nicht ärgern, da sie überaus billig war. Nun gelang es aber erfreulicherweise, trotz der guten Konjunktur, einen Aussperrungsbeschluß für ganz Schlesien mit seinen etwa 50.000 Arbeitern durchzusetzen, und die Gewerkschaften wurden weich. Sie nahmen den Schiedsspruch nachträglich an, und auch die Arbeitgeber mußten nunmehr wohl oder übel zustimmen, denn eine Aussperrung gegen den Schiedsspruch ließ sich zurzeit kaum durchführen. Nun kam im Herbst der Zusammenbruch der Konjunktur, so daß es 1926 Ruhe gab, worauf der Lebenshaltungsindex prompt durch Stillstand und sogar vorübergehend durch leichte Abschwächung reagierte. Kaum setzte aber Anfang 1927 das Geschäft wieder ein, als die Lohnschraube sofort wieder in Drehung überging. | 47 Wir konnten nun darauf hinweisen, daß die Flaute von 1926 in Schlesien offensichtlich wieder sehr viel nachdrücklicher gewirkt hatte als anderswo. Die Arbeitslosenzahl war in ganz anderem Tempo gestiegen als wo anders. Die verkehrsmäßige Abschnürung von Schlesien zeigte sich auch in dieser Beziehung handgreiflich. Etwas überspitzt ausgedrückt konnte man sagen: in dem entlegenen Schlesien wird erst dann gekauft, wenn die anderen ausverkauft sind. All diese Dinge und der Hinweis, daß ja die Löhne wesentlich mehr gestiegen seien als der Index, interessierten in gar keiner Weise. Im März wurde, und zwar unter Beteiligung des Reichsarbeitsministers höchstpersönlich, eine Lohnerhöhung von 9 % dekretiert, nachdem kleinere Teilstreiks zu einer 6-tägigen Aussperrung geführt hatten, die aber harmlos verlief. Zwei Berichte meinerseits nach Breslau aus dieser Zeit besagen, daß die Arbeiter diesen Dingen mit völliger Gleichgültigkeit gegenüber standen. Der Ar-
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beitsminister wich also nicht etwa einem Druck der Massen, sondern die Lohnerhöhung war nötig, damit der ganze Schlichtungsapparat nicht umsonst da war, genau wie wir es Ende 1923 vorausgesehen hatten. Die Tarifverhandlungen finden nunmehr stets in Breslau statt (gleichmäßige Aufschläge auf die in ihrem verschiedenartigem Aufbau bestehen bleibenden Tarife der 7 Untergruppen Reichenbach, Grünberg, Landeshut, Lauben, Görlitz, Breslau und Neustadt). Ich hielt jeweils eine Rede, in der ich, wenigstens in den ersten Jahren, versuchte, die Wirtschaftslage und die Auswirkung von Lohnerhöhungen sachlich darzulegen. Die Gewerkschaften, die bezeichnenderweise kaum Arbeiter zu diesen Verhandlungen mitbrachten, hielten einige demagogische Reden zum Fenster hinaus, die sich zur Unterlage für eine Pressehetze eigneten. Natürlich erfolgte keine Einigung. Der Schlichter zog die Sache an sich heran und gelangte ausnahmslos zu einer Erhöhung. Wenn eine der beiden Parteien annahm, wurde der Schiedsspruch regelmäßig vom Arbeitsministerium für verbindlich erklärt, nachdem auch dort ein Verhandlungstheater losgelassen worden war. Denn Brauns mußte ja um die Stellung des Zentrums fürchten, wenn er sich dem Vorwurf ausgesetzt hätte, weniger sozial zu denken als die in ihrer Mehrheit sozialdemokratischen Schlichter. Die Form der Verhandlungen wurde immer niederziehender. Ich will mich nicht in Einzelschilderungen ergehen, aber das Niveau der Gewerkschaftssekretäre sank immer weiter (Wicsnewsky⁷³!).Von sachlicher Behandlung der Probleme konnte gar keine Rede mehr sein, vor allem da das Arbeitsministerium viel zu weit von der Praxis entfernt saß, um in die Materie | einzudringen. Hatten die Ge- 48 werkschaftssekretäre schon immer gelogen wie gedruckt, so hatte man sie im Bezirk doch immer wieder einmal auf ihren falschen Angaben festnageln können. Im Arbeitsministerium jedoch schwand jede Hemmung. Brachte man richtige Zahlen, so wurden sie glattweg bestritten und aus dem Stegreif durch völlig unsinnige ersetzt, wie es gerade paßte.Wies man ihnen etwa in der nächsten Sitzung ihren Schwindel nach, so war es ein Mißverständnis gewesen, und beim Dezernenten des Arbeitsministeriums, der, wenn er nicht schon wieder gewechselt hatte, zwischendurch 20 Verhandlungen über die verschiedensten Gegenden und Industrien geführt hatte, ging alles durcheinander. Schließlich waren auch wir zum Schwindeln gezwungen, wenn wir nicht ganz unter den Schlitten kommen wollten. Ich und auch andere haben zunehmend unter diesen entwürdigenden Zuständen gelitten, und damals hat sich in mir die Überzeugung gebildet, daß die soziale Frage durch den Klassenkampf in der alten Gesellschaftsordnung nicht zu lösen sei. Einmal ist allerdings den Leuten ihre allzu skrupellose Lügerei doch
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schlecht bekommen. Die Verhandlungen der Schlichterkammer waren unter Strafandrohung vertraulich, aus dem durchaus berechtigten Gedanken heraus, daß offene Aussprachen in der Schlichterkammer nicht zur Hetze gegen einzelne Mitglieder mißbraucht werden dürften. Auf Grund dieser Vertraulichkeit hatten die Gewerkschaftssekretäre keinerlei Bedenken, sich in den verschiedenen Schlichterkammern diametral zu widersprechen. Es durfte ja nicht darüber geredet werden. Schließlich wurde es Dr. Klaue⁷⁴ einmal zu dumm. In der Schlichterkammer Dresden hatte Wicsnewsky eine breit ausgearbeitete Rede gehalten, nach welcher die schlesischen Löhne zwar dem äußeren Bilde des Tarifes nach unter den sächsischen lägen, daß aber in Schlesien in Wirklichkeit sehr viel höhere Verdienste herauskämen als in Sachsen. Er belegte dies mit einem umfangreichen Zahlenmaterial. Als nun kurze Zeit darauf im Arbeitsministerium die Verbindlichkeitsverhandlungen über Schlesien stattfanden, hatte W. die Frechheit, dort fast mit den gleichen Worten genau das umgekehrte zu behaupten, gestützt auf Zahlen, welche den in Dresden vorgebrachten vollkommen widersprachen. Jetzt zog Dr. Klaue ein Stenogramm hervor, in dem er W.‘s Ausführungen in Dresden wörtlich festgehalten hatte. Er ließ sich durch die empörten Zwischenrufe über die Vertraulichkeit nicht stören und erzielte in diesem Falle einen großen Erfolg. Allerdings war dieser Erfolg nur psychologisch, denn verbindlich erklärt wurde die betreffende Lohnerhöhung doch. Auch ein andermal 49 wurde im Jahre 1929 | allerhand Schwindel aufgedeckt, als eine Delegation des Arbeitsministeriums, geführt vom Ministerialdirektor Sitzler⁷⁵, in Schlesien war und Einsicht in unsere Lohnlisten nehmen konnte. Feinhals entzog sich dieser Situation mit einem gewissen Humor, indem er etwa ausführte: „Ja, das habe ich ja immer gesagt, der Herr Dierig is’n schlauer Mann. In Berlin tut er immer so, als ob er keinen Pfennig bewilligen könnte, und dann zahlt er zuhause ganz anständige Löhne, treibt Altersfürsorge usw. Das tut er natürlich nur, damit er den anderen Firmen die guten Leute wegschnappt.“ Dieses Eingeständnis ist immerhin ein bemerkenswertes Dokument. Ein ewiger Streitpunkt blieb die Regulierung verrutschter Akkorde, die in den Ausführungen vom 29.7.42 (Sozialpolitik in der Inflationszeit) auf Seite 16 unter dem Stichwort „Akkordschweinereien“ näher behandelt worden sind. Zu den
Hermann Klaue (1884 – n.e.), zunächst Syndikus der Fachgruppe Textilindustrie des Reichsverbandes der Deutschen Industrie und des Arbeitgeberverbandes der Deutschen Textilindustrie, später Hauptgeschäftsführer der Wirtschaftsgruppe Textilindustrie und Reichsbeauftragter der Prüfungsstelle Textilindustrie. Friedrich Sitzler (1881– 1975), Ministerialdirektor und Hauptabteilungsleiter im Reichsarbeitsministerium. Zwischen 1924– 1933 Leiter der Abteilung III (Arbeitsrecht, Arbeitsschutz, Lohnpolitik).
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Leuten, welche sich durch die Verwirrungsmanöver der Gewerkschaften allmählich um den gesunden Menschenverstand bringen ließen, gehörte auch unser guter Philipp. Wohl schon bei dem Schiedsspruch vom 8.7.1925, sicher aber am 3. 3.1927, hatten sie ihn, wohl auch durch Drohungen hinter den Kulissen, so weit, daß er ausdrücklich auch die Erhöhung der Stücklöhne um den gleichen Prozentsatz dekretierte, was dann prompt vom Arbeitsministerium verbindlich erklärt wurde. Abgesehen vielleicht von Sitzler, der im Grunde genommen wohl allmählich durch die Verwirrungsmanöver hindurchsah, hat niemand im Wirtschaftsministerium jemals die Sache begriffen. Mit der Erzwingung der schematischen Erhöhung der Stücklöhne begann die eigentliche Katastrophenentwicklung. Es zeigte sich auch jetzt wieder, daß man von der Herabsetzungsmöglichkeit auf 12 % praktisch während der Gültigkeit der gleichen Löhne keinen Gebrauch machen konnte, sondern nur bei Lohnerhöhungen, und das war hier verhindert. Schließlich kam auf diese Weise die ganze Akkord-Entlohnung durcheinander, so daß sie zum Hohne für das Leistungsprinzip und die Gerechtigkeit wurde. Im Abschnitt Wirtschaftskrise müssen wir, was unsere Firma angeht, nochmals des näheren darauf eingehen. Doch nun wieder zur Lohnschraube des Arbeitsministeriums. Der Arbeitgeberverband deutscher Textilindustrieller war nicht gewillt, dieser Wahnsinnsentwicklung widerstandslos zuzusehen. Es muß überhaupt betont werden, daß der Arbeitgeberverband ein sehr viel höheres Niveau hatte als | die meisten 50 wirtschaftlichen Verbände der Textilindustrie. Es war schon ein Unterschied, daß beispielsweise alle Fragen des Buntweberverbandes nackte Konkurrenzfragen waren, während hier zwar auch Konkurrenzfragen mitsprachen, aber doch hinter dem Kampf gegen den gemeinsamen Feind zurücktraten. Bemerkenswert hoch war im Arbeitgeberverband auch das durchschnittliche Niveau der bezirklichen Geschäftsführer. Kisker⁷⁶, und vor allen Dingen Dr. Klaue, die sich ideal ergänzten, hatten die Solidarität in der Textilindustrie so weit gefördert, daß nunmehr Folgerungen daraus gezogen werden konnten. Bereits von Juni 1927, d. h. mitten in der Hochkonjunktur, habe ich eine Notiz über das Bestehen der Gefahrengemeinschaft. Das war zunächst einmal, meiner Erinnerung nach, ein freiwilliger Zusammenschluß einzelner Bezirke mit der Verpflichtung, sich gegenseitig bei Arbeitskämpfen zu unterstützen und zwar pekuniär aus zu diesem Zweck gebildeten Fonds. Natürlich setzte diese Unterstützung bei Arbeitskämpfen voraus, daß die in der Gefahrengemeinschaft zusammengeschlossenen Verbände wech-
Georg Kisker (1862 – n.e.), Textilfabrikant aus Bielefeld und u. a. Vorsitzender des Arbeitgeberverbandes der Deutschen Textilindustrie in Berlin sowie zweiter stellvertretender Vorsitzender der Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände.
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selseitig bei ihren Lohnverhandlungen mitwirkten. Allmählich wurde daraus eine Organisation des gesamten Arbeitgeverbandes [sic], zunächst wohl mit Ausnahme von Sachsen. Daß für Süddeutschland ein besonderer Arbeitgeberverband bestand, war äußerst bezeichnend und sei hier nur am Rande erwähnt. Als im Jahre 1928 die neue Lohnbewegung losging, waren bereits Millionen-Beträge als Kampffond gesammelt. Daß inzwischen in der Textilindustrie die Konjunktur zusammengebrochen war und die Arbeitslosigkeit langsam zu steigen begann, interessierte die Gewerkschaften ebenso wenig wie die Schlichtungsbehörden, und es ist fraglos ein Verdienst dieser neuen straffen Organisation, daß die im Herbst 1928 und Frühjahr 1929 einsetzende wilde Lohnbewegung einigermaßen aufgefangen werden konnte. Lediglich in Schlesien ist die Sache schief gegangen, worauf wir später zurückkommen. Es bestand ein Vertrauensausschuß, welcher bei Streitigkeiten in irgendwelchen Gegenden von Deutschland sofort dort zusammenkam, um in die Lohnbewegung einzugreifen, und zwar auf Grund eines Bildes, was man sich an Ort und Stelle machte. Dieser Vertrauensausschuß hatte einerseits das Recht, gegen die Absicht der bezirklichen Vereinigung, eine Lohnerhöhung zu gewähren, Einspruch zu erheben, worauf dann die Unterstützungspflicht ausgelöst wurde, oder aber zu sagen: ihr müßt nachgeben, hier zahlen wir nicht. Letzterer Fall ist wohl kaum vorgekommen. In meinen Reisespesenabrechnungen finde ich auch Sitzungen einer Kampfleitung, deren Be51 deutung mir nicht mehr | ganz klar ist. Jedenfalls war es eine aufreibende, aber hochinteressante Zeit. Ich aber war bei all diesen Dingen immer dabei. Wenn ich das jetzt so sehe, da drängt sich mir eine Erklärung auf für manches, was wir in der letzten Zeit besprochen haben. Schon beim großen Streik an der Jahreswende 1921/22 war unsere Firma führend und Abu Weil⁷⁷ erklärte seinen randalierenden Arbeitern: bedanken sie sich beim Generalkommando in Bielau. Speziell durch die jüdischen Fabrikanten, natürlich abgesehen von Fleischer⁷⁸ und Dr. Schäfer, erfuhren die Arbeiter schließlich immer was los war. Im Frühjahr 1922 erregte unser entscheidender Sieg über die Gewerkschaften und die Kommunisten in der Ferienfrage Aufsehen. In Reichenbach war ich Vorsitzer der Tarifkommission, in Breslau ebenso. Jedenfalls leitete ich schon bald nach der Inflation die Tarifverhandlungen, nachdem sich Heinz Rosenberger als Verbandsvorsitzender davon zurück hielt, wohl in der richtigen Erkenntnis, daß dabei nichts zu verdienen sei. Uns ist es natürlich auch nicht verborgen geblieben, daß ich mich durch diese Dinge stark exponierte, N.e. Willy Fleischer (1871– 1939), jüdischer Textilfabrikant, Leiter der A. Fleischer Textilwerke im schlesischen Reichenbach und Vorsitzender der Bezirksgruppe Reichenbach des Verbandes Schlesischer Textilindustrieller.
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aber es war eben niemand anderes da, und wir haben uns immer nach Kräften für die Sache eingesetzt, auch wenn es für den einseitigen Standpunkt unserer Firma unzweckmäßig erschien. Im Sommer 1926 wurde ich in den Reichswirtschaftsrat gewählt und vertrat seit Anfang 1927 die Textilindustrie im sozialpolitischen Ausschuß und zwar allein, während im wirtschaftspolitischen Ausschuß zum mindesten zwei, Müller-Oerlinghausen⁷⁹ und Frowein⁸⁰ saßen. Daß ich auch in der Vereinigung der Arbeitgeberverbände, erst in der Tarifkommission, dann im Vorstand, für die Solidarität des Unternehmertums eintrat, blieb begreiflicherweise auch nicht geheim. Als die Vereinigung bei irgend einer Gelegenheit dem Minster [sic] Brauns auf die Bude rückte, vertrat ich wieder die Textilindustrie, obgleich ich damals noch gar nicht im Vorstand der Vereinigung war, sondern Heinz Rosenberger. Dann kam unser einjähriger 1929/30 Kampf. Welch gewaltiges Aufsehen dieser Streit erregte, geht daraus hervor, daß das Arbeitsministerium zu seiner Schlichtung seinen besten Mann nach Schlesien schickte. Es machte uns nicht beliebter, daß schließlich die Gerechtigkeit unserer Entlohnung und unsere soziale Einstellung immer offensichtlicher hervortraten und unsere Arbeiterschaft der Gewerkschaft über einen gewissen Punkt hinaus ihre Gefolgschaft versagte. | Aus dieser Atmosphäre heraus ist es auch zu erklären, daß schon vor dem 52 Umbruch die Partei uns gegenüber ein großes Mißtrauen an den Tag legte. Jetzt erst wird mir die Bedeutung jenes Ausspruches eines alten Kämpfers ganz klar: „Wir dachten eben, wenn sie sich nicht vor den Kommunisten gefürchtet haben, werden sie sich auch vor uns nicht fürchten.“ Nun zurück zur Lohnschraube. Feinhals hat einmal, als allgemein die Rede von der Rückständigkeit der deutschen Industrie und ihren „chinesischen Zuständen“ war, im Arbeitsministerium zum Schluß in den Saal gerufen: „Wir werden die Industrie durch Lohnerhöhungen zur Rationalisierung zwingen.“ Das ist den Leuten geglückt! Rationalisierung heißt Arbeitslosigkeit, in Deutschland so wie in Amerika, Arbeitslosigkeit jedenfalls, solange nicht eine planvolle Wirtschaftslenkung die freigesetzten Arbeiter neuer produktiver Beschäftigung zuführt. Nachstehende Tabelle zeigt die Entwicklung der Löhne in der Bezirksgruppe Reichenbach, des Lebenshaltungsindexes und des aus beidem errechneten Reallohnes auf Basis 1913:
Georg Müller-Oerlinghausen (1878 – 1954), Textilfabrikant, Inhaber und Geschäftsführer der Firma Carl Weber & Co., Präsidiumsmitglied des Reichsverbands der Deutschen Industrie, Vorsitzender der Fachgruppe Textilindustrie sowie zwischen 1920 – 1933 Mitglied des Vorläufigen Reichswirtschaftsrates. Abraham Frowein (1878 – 1957), deutscher Textilfabrikant, ab 1919 stellvertretender Vorsitzender des Reichsverbandes der Deutschen Industrie sowie Mitglied des Reichswirtschaftsrates.
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. November . März . April ʺ . Juli ʺ . Oktober ʺ . Februar . Juli ʺ Januar . März . Mai . Juli . April . April . Januar Januar
Ecklohn Lebenshaltungsindex Reallohn . . Pfg. . ( Tief. ʺ stand) . . ʺ . . ʺ . . ʺ . . ʺ . . ʺ . ʺ . . ʺ . . ʺ . (Höchst.) . ʺ . . ʺ . . ʺ . . ʺ . ʺ
Wie verhalten sich demgegenüber die Preise? Ich habe Ende 1930 eine Berechnung aufgestellt, derzufolge die Margen im Durchschnitt von 21 unserer Haupt53 artikel von 169.1 Pfg. im August 1925 auf 100.5 Pfg. | im Dezember 1930 zurückgegangen waren, d. h. um 40 %. Demgegenüber sind die Nominallöhne in der gleichen Zeit von 44 Pfg. auf 60 Pfg. gestiegen, d. h. um 36 %. Diese Zahlen sprechen für sich. Nur schärfste und erfolgreiche Rationalisierung, natürlich unter erheblicher Verringerung der Gefolgschaft, haben es zu Wege gebracht, daß wir dabei nicht unter den Schlitten gekommen sind, wie das Gros der übrigen schlesischen Baumwollindustrie, sondern nach schweren Verlusten im Jahre 1929 – 1930 gerade so herauskamen und 1931 bei weiterem Konjunkturverlust zum ersten Male wieder ein positives Arbeitsergebnis hatten. Wie sich der Segen der Lohnerhöhungen auf die Arbeiter ausgewirkt hat, zeigt folgende Errechnung: Im Februar 1925 waren in der Bezirksgruppe Reichenbach 19.602 Arbeiter beschäftigt und zwar mindestens 48 Wochenstunden. Im Oktober 1930 waren beschäftigt: Vollarbeiter Kurzarbeiter Beschäftigte . % Arbeitslose
. . . . .
zu . ʺ . im Durchschnitt . . im Durchschnitt .
Wochenstunden ʺ Wochenstunden ʺ ʺ
Die 19.602 Arbeiter verdienten also in Friedenskaufkraft zusammen:
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im April ʺ Okt.
. x Pfg. . x . ʺ
x Std. x . ʺ
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= . Mark = . ʺ = . %
Freilich erhielten die Arbeitslosen und zum Teil die Kurzarbeiter Arbeitslosenunterstützung. Da aber weder der Staat noch die Wirtschaft die Arbeitslosenunterstützung aus Gewinnen oder Reserven zahlen konnten, ging diese Unterstützung wieder anderen von ihrem Einkommen ab, so zum Beispiel den beschäftigten Arbeitern selbst in Gestalt von 6 % Arbeitslosenhilfe. Die Kaufkraftsenkung ließ die Produktion weiter zurückgehen, und so drehte sich die Schraube nach unten. Und nun soll mir einer sagen, daß die Lohnpolitik unserer damaligen parlamentarischen Kuhhandelsregierung, geführt in diesem Falle vom Zentrumsminister Brauns, nicht allein genügt hätte, die Wirtschaftskrise heraufzubeschwören, selbst wenn Reparationen, Weltwirtschaftskrise und die Mißwirtschaft von Ländern und Gemeinden nicht dazu gekommen wären. Alles zusammen bewirkte die Zustände, die wir 1928 – 1932 erlebt haben. |
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Auf den Seiten 43 – 45 habe ich den Wechsel von der Hochkonjunktur zur Krise bereits kurz angedeutet. In Wirklichkeit war der Übergang etwas weniger ruckartig, als es nach der dortigen Schilderung vielleicht scheinen könnte. Sehr bemerkenswert ist es, daß bereits am 9.9.1927, d. h. mitten in der Konjunktur (Verkauf im August 76.000 Stück, im September 82.000 Stück) in einer Geschäftsführerbesprechung Bedenken zur Sprache kommen, ob wir uns durch den damaligen Taumel vielleicht zum Eingehen von Verpflichtungen veranlassen ließen, die uns bei einem Zusammenbruch des Geschäftes in ernste Schwierigkeiten bringen könnten. Ich weise darauf hin, daß trotz des erfreulich guten Versandes (66.00 Stück im Jahresdurchschnitt 28) das Gesamtlager seit März wieder in langsamem, aber stetigem Anwachsen begriffen sei und daß wir in so und so viel Monaten je 100.000 Stück Ausrüstungsware verkaufen müßten, um wieder auf ein Soll-Lager zu kommen, wie es unseren bekannten Bestrebungen nach Verkürzung der Umschlagsdauer angemessen sei, ein Soll-Lager, dessen knappe Bemessung allerdings allgemein als undurchführbar bezeichnet wird. Graf ⁸¹ weist auf unsere Bestrebungen hin, unter allen Umständen den Verkauf zu steigern, Treffer, Linette, westfälische Qualitäten, Travisée. Wenn wir bei Anhalten der Konjunktur, womit man ja auch rechnen müsse (tatsächlich hat ja die allgemeine wirtschaftliche Konjunktur in den Jahren 1928, 29 einen Höhepunkt erreicht), dann keine Rohware hätten, könnten wir um mindestens ein Jahr zurückgeworfen werden und die günstige Gelegenheit verpassen, uns endgültig in den Sattel zu setzen. Bei diesen Erwägungen tritt immer wieder unsere unzerstörbare Meinung zu Tage, daß die große Wirtschaftskrise ja nur eine Frage der Zeit sei und daß man die Gelegenheit bis dahin wahrnehmen müsse, sich technisch, kaufmännisch und organisatorisch auf die Höhe zu bringen. Dr. Wolfgang gibt Herrn Graf grundsätzlich recht, sucht aber nach dem Grenzpunkt, wo bei rückläufiger Konjunktur die Verluste an Rohwarenmargen (gegen die es ja keine Gegendeckung gibt wie beim Baumwollpreis) größer werden könnten als die Gewinnmöglichkeit durch gute Beschäftigung der Ausrüstung. Schließlich wird 55 der Standpunkt von Herrn Graf im Grunde voll anerkannt, aber | nach einer mittleren Linie für Rohgewebeeinkauf gesucht. Es soll in der billigen westfäli-
Julius Graf jun. (1896 – 1952), im Vorstand der C. D. AG, im Aufsichtsrat zahlreicher Tochtergesellschaften sowie im Beirat der Wirtschaftsgruppe Textilindustrie in Breslau. Neben Wolfgang und Gottfried Dierig gilt Graf als wichtigster Einfluss auf die Unternehmensentwicklung in der Zwischenkriegszeit und war dementsprechend im März 1945 auch der Adressat des sog. politischen Testamentes, eines vierseitigen Briefs von Gottfried Dierig, in dem Graf der Wiederaufbau des Unternehmens nach dem Krieg anvertraut wurde.
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schen Ware weiter rangegangen, in süddeutscher dagegen kurz getreten werden. Burkhardt weist darauf hin, daß bis Jahresschluß unsere Bankschulden (immer abzüglich Kassenreserve) sowieso auf ca. 12 Mill. Mark steigen würden, und ich stelle überschläglich fest, daß wir bei einer vorübergehenden Lagersteigerung infolge Absatzschrumpfung einen weiteren Überbrückungskredit von 5 – 7 Mill. Mark brauchen würden. Burkhardt meint, daß wir diesen Kredit bei unserem großen Ansehen in Bankkreisen wohl kriegen könnten. Es wird beschlossen, rechtzeitig, d. h. noch vor Eintritt einer evtl. Krise, entsprechende Schritte zu ergreifen und im übrigen an der festgelegten Einkaufslinie festzuhalten (tatsächlich haben wir dann von der Handelsgesellschaft einen 8-Mill.-Kredit bekommen, und alles in allem sind dann später unsere Schulden von 9 auf 21 Mill. gestiegen und zwar am 31.10.1928). Die weitere Entwicklung der Wirtschaftslage wird besser als durch Worte durch die Verkaufszahlen gekennzeichnet: Oktober 66.000 Stück, November 48.000 Stück, im Weihnachtsmonat Dezember 39.000 Stück. Im November wird folgender Feldzugsplan entwickelt: Rohwarenkäufe natürlich jetzt aufs äußerste drosseln, aber keineswegs Betriebseinschränkungen. Da die Einzelhändler unser volles Ausrüstungskontingent nicht verdauen können, sind wir auf den Verkauf erheblicher Mengen zu K-Preisen angewiesen. Diese knappen Preise vertragen aber nicht die Unkostensteigerung, die eine beträchtliche Einschränkung bei unseren, von Natur hohen, fixen Kosten im Gefolge hat. Keinesfalls große Mengen Buntware, die dann auch bei Besserung des Geschäftes kaum verkäuflich sein werden, herstellen (insonderheit das Züchengeschäft läßt seit Jahr und Tag immer mehr nach!), sondern Rohware auf allen irgendwie dafür verwendbaren Buntstühlen arbeiten; unsere schweren Renforces (T 16) lassen sich notfalls auch auf Köperstühlen weben. Bis Jahresschluß gehen wir langsam von 53 auf 48 Stunden zurück. Die sollen aber unter allen Umständen gehalten werden, im Gegensatz zur Krise von 1926 (tatsächlich haben wir 1928 22.7 Mill. Meter gewebt gegen 21.6 Mill. Meter 1927. Dieses Mehr von 1.1 Mill. Meter fällt dabei ziemlich genau auf Gellenau, wo die R 2 erst 28 voll in Betrieb kommt. Im übrigen wird Tannenberg auf Kosten von Bielau | verstärkt, dort die Rohware auf Kosten 56 von Buntware. Schon seit 1925 arbeiten wir in der Pietsch-Fabrik auf alten Schürzenstühlen Rohware im 6-Stuhlsystem. Auch die kleine Inlet-Lohnweberei bei Fechtner Curt soll vorläufig erhalten werden, so daß wir im ersten Halbjahr 1928 in der Inlet-Herstellung einen einmaligen Höhepunkt erreichen). Im übrigen aktive Verkaufs-Politik! Die große Gemeinschaftswerbung zusammen mit IG-Farben in Travisée wird vorbereitet. Die Kollektionen sollen ohne Rücksicht auf die Musterungsunkosten so ausgestattet werden, daß wir mit einem
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Schlage einen Ruf auch als Modedrucker erringen, ähnlich wie bei Weißware durch Treffer. Vorläufig wollen wir bei ziemlich stabiler Baumwolle den Markt nicht durch eine gesenkte Liste völlig zerstören, aber den Vertretern Möglichkeit geben, im Preise entgegenzukommen (damals sind wohl die nach Preisgruppen gestaffelten Provisionen eingeführt worden, um die Vertreter selbst am Hochhalten der Eingruppierung zu interessieren). In einer Geschäftsführerbesprechung vom 22.11.1927 erste Teilmobilmachung zwecks Einsparungen! Hinweis, daß durch den Investitions-Rummel alle Nebenkosten, wie Lastautos, Gespanne, Hofekolonne, Speicher, Handwerker usw., ins unermessene gestiegen sind. Einstellungssperre! Jeder einzustellende Arbeiter (allerdings über 16 Jahre, woraus man erkennt, daß wir die Nachwuchsfrage in keinem Augenblick vernachlässigt haben) muß schriftlich bei der Geschäftsführung beantragt und dort protokollarisch bewilligt werden. Neue Jagd auf Überstunden! Es kommt zur Sprache, daß Anlagenprojekte immer noch beträchtlich den Voranschlag übersteigen, wenn auch längst nicht mehr in dem Umfange wie 1925. Es wird das System des Voranschlages und der einzelnen Nachbewilligungen eingeführt, damit Änderungen, vor allem Erweiterungen der Projekte im Laufe der Durchführung, sich nicht anonym einschleichen und das Bild verwirren. Insonderheit sind die Ingenieure angehalten, sich ein genaues Bild von den Nebenkosten und dann noch einen gewissen erfahrungsgemäß nötigen Aufschlag für Unvorhergesehenes zu machen. Es ist weiter typisch für den Rummel von 1927, daß der Unkosten-Etat um 650.000 Mark überschritten worden ist. In Zukunft müssen Überschreitungen des laufenden Etats nicht nur in der Bewilligungsbesprechung, sondern auch in der Geschäftsführerbesprechung bewilligt werden. | 57 1925 seien nach Zurückstellung des Mühlbachprojektes in Höhe von 1.500.000 Mark Anlagen und 550.000 Mark Betriebskapital nur 3.984.000 (allerdings mit nachträglichen gewaltigen Überschreitungen) und 500.000 Mark Hammersen-Aktien bewilligt worden. Demgegenüber 1927 Anlagen dazu nötiges Betriebskapital Überschreitungen des Unkosten-Etats geschätzte Überschreitungen der Voranschläge
.. Mark . ʺ . ʺ . ʺ
dazu Hammersen-Aktien
.. Mark .. ʺ .. Mark
Bemerkenswert ist, daß wir damals noch keineswegs einen Anlagen-Stop um jeden Preis machen. In einer Sonderbesprechung vom 20.12.1927 wird ein genauer
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Plan vorgelegt, was in der Ausrüstung noch geschehen müsse. Es werden abschließend noch 272.000 Mark bewilligt und 104.000 Mark bis zum Sommer 28 zurückgestellt, unter der interessanten Voraussetzung, daß „damit ein grundsätzlicher Abschluß der Umstellung in der Ausrüstung erreicht ist“ abgesehen allerdings von der Bleiche, deren völlige Umstellung auf das neue System erst in Angriff genommen werden solle, wenn die neue Grünauer Bleiche sich 1 Jahr lang bewährt hat. Auch Ende Februar 28 haben wir die Ruhe nicht verloren. Es wird ein radikaler Investitions-Stop beschlossen, aber nach Bewilligung von 250 – 300.000 Mark für Wohnungen, da wir Unterlassungen von 1927 nachzuholen haben und uns nicht den Vorwurf machen lassen wollen, daß bei derartig großen Investierungen die sozialen Dinge zu kurz gekommen seien. Seit November 1927 sind bei weichenden Baumwollpreisen zwei ermäßigte Listen herausgekommen. Trotzdem lägen wir noch weit über Hammersen. Der noch unter Musper’s⁸² Leitung stehende Spinnweberverband wird damals nicht sehr ernst genommen! Da die Baumwollpreise seit März langsam, aber stetig, steigen (25.2. 19.05 cts, 1.5. 22.30 cts), taucht die Frage nach einer Listenerhöhung auf. Wir fürchten, daß eine Preissteigerung in diesem Augenblick das Geschäft ganz abwürgen könne, da die Kundschaft, aus sehr verständlichen Gründen, an eine Weiterentwicklung nach oben nicht glaubt. Im übrigen ist nicht zu verkennen, | daß wir im Preise noch immer über den anderen liegen. Unter diesen 58 Umständen kommen wir auf einen neuen Gedanken. Wir beschließen Anfang Mai 28, die Listen an einem bestimmten Termin zu erhöhen, teilen das den Vertretern unter dem Siegel der Verschwiegenheit mit, unter dem Hinweis, daß wir ihnen Gelegenheit geben wollten, besonders guten Kunden vorher noch etwas zu verkaufen, wie gesagt, alles unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Damit haben wir den Verkauf noch einmal, trotz der bereits eintretenden Stagnation, hochgerissen. Diese Aktion wird nachträglich als „Mai-Fischzug“ bezeichnet. Es soll schon an dieser Stelle vorweg genommen werden, daß wir es 1928 noch fertig gebracht haben, 736.000 Stück zu versenden, davon 179.000 Stück von auswärtigen Lägern (natürlich ist dabei ein beträchtlicher Restauftragsbestand aus 1927). Wir können darin, daß wir, ganz im Gegensatz zu 26, unseren Verkauf im Jahre 28 noch so gut halten, fraglos einen Erfolg unserer „agressiven“ Verkaufspolitik sehen. In einer Geschäftsführerbesprechung vom 21.5.28 wird darauf hingewiesen, daß die von der Handelsgesellschaft bereitgestellten 8 Mill. Kredit bereits im Juli aufgebraucht sein werden. Darauf entspinnt sich eine erregte Debatte über die Möglichkeiten des Lagerabbaues, den ich, unter vielseitigem Protest, mit 10 Mill. bewerte. Bezeichnenderweise macht uns in diesem Augenblick weniger die
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Geldbeschaffung Sorge als die Zinsbelastung, die bei einem durchschnittlichen Zinssatz von 7.9 % (trotz billiger DNF-Kredite!) bereits 1.5 Mill. jährlich ausmacht. Im übrigen haben wir neben dem laufenden Geschäft auch noch ganz andere Sorgen. Am 11.4. hat eine Generalsversammlung in Berlin stattgefunden, in welcher wir den bedenklichen Gesellschaftern klar machen müssen, daß uns die Umgründung in eine A.G. unumgänglich erscheint. Um durch finanzielle Beengung nicht unsere Zukunftsentwicklung gegebenenfalls abzuschneiden, brauchen wir eine A.G., deren Aktien wir jederzeit an die Börse bringen können, d. h.: der nächstliegende Entwicklungsabschnitt wird die harmlose Herausgabe einer Obligationsanleihe sein. Erst im Hintergrund, für Notfälle, steht die AktienEmission, die wir vor allem nicht vermeiden können, wenn einmal die erwünschten Angliederungen von Spinnereien und Rohwebereien akut werden. Tatsächlich ist ja dies auch 1930 Wirklichkeit geworden, wenn auch in einer etwas 59 abgewandelten Form. Damit die Mehrheit fest in der Hand der Familie | bleibt, ist eine Zusammenfassung aller Familienaktien in der TT⁸³ unumgänglich. Dieser Punkt, d. h. die Zwischenschiebung einer Holding-Gesellschaft zwischen CD und der Familie, fiel eigentümlicherweise einem Teil der Gesellschafter, wie z. B. Radike⁸⁴, am allerschwersten. Das einzige wirkungsvolle Reizmittel waren die TTObligationen, welche den Gesellschaftern eine gewisse Zinsgarantie gaben und außerdem für die Gesellschafter gegebenenfalls die Geldbeschaffung durch Beleihung oder Verkauf der Obligationen erleichterten, ohne die Beteiligungsquote zu gefährden. Ferner war die steuerfreie Tilgung der Obligationsanleihe eine äußerst angenehme Nebenwirkung. Schließlich wurde alles genehmigt mit dem Hinweis, daß die Geschäftsführung bisher die Interessen des Werkes und der Familie immer bestens gewahrt hätte, so daß die Gesellschafter auch in diesem Fall das feste Vertrauen zu der Zweckmäßigkeit bezw. Unumgänglichkeit der vorgeschlagenen, unangenehmen Maßnahmen hätten. Dieses Vertrauensvotum war ehrend, belastete uns aber mit einer großen Verantwortung. Schließlich nimmt auch der Hammersen-Prozeß und ernsthafte Einigungsverhandlungen, die damals über Roesch⁸⁵ geführt wurden, einen breiten Raum in den Geschäftsführerbesprechungen ein, wobei die Prozeßlage nicht allzu rosig beurteilt wird.
Abkürzung für Textil-Treuhand, die als neu gegründete GmbH die Aufgabe hatte, die Firmenanteile der Christian Dierig AG zu bündeln. Nur Familienmitglieder durften Gesellschafteranteile halten und im Falle eines Verkaufs musste auch der Käufer Familienmitglied sein. Richard Radike (n.e. – 1940), langjähriges Aufsichtsratsmitglied der C. D. AG. Carl Roesch (1858 – 1931), Textilfabrikant aus Mülheim und u. a. stellvertretender Vorsitzender des Aufsichtsrates der F. H. Hammersen AG.
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Außer dem Zusammenhang sei hier noch auf eine Notiz hingewiesen, die ich zufällig finde. Im Jahre 1927 betrugen die Wohlfahrtsausgaben 519.000 Mark gegenüber 490.000 Mark Dividenden. Unter Dividenden ist wohl die tatsächliche Ausschüttung an die Gesellschafter über den Monatsratenvertrag zu verstehen. Bezeichnend ist, daß dieser Vertrag auch als IG-Genehmigungsvertrag bezeichnet wurde, weil die Gesellschafter ihre Genehmigung zum Abschluß der IG nur geben konnten, wenn ihre Interessen der Familie irgendwie sichergestellt würden. Das bedenklichste Ereignis dieses turbulenten Halbjahres war eine ab 1.5. gültige Lohnerhöhung und zwar dieses Mal gleich um 15 % von 48 auf 55.2 Pfg., noch dazu bei einer Indexsteigerung von nur 4 % seit dem Inkrafttreten des letzten Lohntarifes. Daß so ein Narrenstreich mitten in einer Textilkrise möglich war, zeigt, wie weit wir in der gedankenlosen Mißwirtschaft schon gekommen waren. Mit Hilfe welcher Instanzen diese Lohnerhöhung schließlich zustande gekommen ist, kann ich im Augenblick nicht feststellen. Eingeleitet wurde die Lohnbewegung jedenfalls durch eine umfassende, wohl organisierte Streikbewegung. Es ist bemerkenswert, daß die Gewerkschaften dieses Mal, | ganz im 60 Gegensatz zur bisherigen Haltung der Arbeiter in einer Mehrheit, die Leute so weit brachten, daß selbst bei unserem Betrieb 84 % der Gefolgschaft die in einer Streikversammlung beschlossene Kündigung aussprachen. Gewiß mag, wie im Geschäftsführerprotokoll ausdrücklich bemerkt ist, der Versammlungsbeschluß, wie so oft, unter dem Terror einer kleinen Minderheit gefasst worden sein. Daß die Leute jedoch, wohlgemerkt auch die vielen, die nicht bei der Versammlung waren, dann bis zur aktiven Handlung der Kündigung gebracht werden konnten, ist eine Tatsache, die 1926 wohl noch außer dem Bereich des möglichen gelegen hätte. Dieser bedeutende Sieg der Gewerkschaften war wohl darauf zurückzuführen, daß vorläufig einmal die fortgesetzten Lohnerhöhungen der Arbeiterschaft wirklich eine beträchtliche Verbesserung ihrer Lebenslage gebracht hatten, und das dicke Ende, welches im vorigen Abschnitt geschildert worden ist, erst nachkommen sollte. Daß bei dieser imposanten Machtentfaltung der Gewerkschaften (man denke an ihren Zusammenbruch 1923!) alles zusammenklappte, wohl einschließlich der Mehrheit der Arbeitgeberschaft, braucht niemanden Wunder zu nehmen. Dieser Verlauf entspricht im übrigen zeitlich genau dem Riesenerfolg der Sozialdemokraten und Kommunisten bei der Reichstagswahl vom 20.5.28. Ich kann hier meine auf Seite 20 gemachte Bemerkung nur wiederholen: es ging dem deutschen Volke wohl schon wieder zu gut! An die Möglichkeit einer derartigen Lohnerhöhung in diesem Augenblick hatten wir tatsächlich nicht gedacht. Sie machte einen vernichtenden Eindruck auf uns schon als Symptom für die Weiterentwicklung der Verhältnisse nach dem Abgrunde zu. Dieses Mal waren wir nicht ohne weiteres gewillt, die Sache ganz stillschweigend und tatenlos hinzunehmen. Wir entschlossen uns zu einem of-
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fensichtlichen Protestschritt, mit dem wir gleichzeitig einen beträchtlichen praktischen Erfolg erzielen wollten. Wir hatten in Gellenau die größten Schwierigkeiten, die Buntweber in die Rohweberei und überhaupt auf das MehrstuhlSystem zu kriegen. Wir kündigten nun 30 Webern, die bei 2-Stuhlbedienung einen sehr schlechten Nutzeffekt hatten bezw. durch ihr Verhalten den Arbeitsfrieden immerfort störten. Obgleich es bei 30 Arbeitern noch gar nicht nötig gewesen wäre, machten wir eine Stillegungsanzeige beim Regierungspräsidenten, indem wir darauf hinwiesen, daß wir seit dem 100jährigen Bestehen unserer Firma noch niemals Leute entlassen hätten, aber dieses Mal zu unserem größten Bedauern 61 dazu gezwungen seien, weil das Weben von Rohware auf | gewissen, genau bezeichnete, Buntstühlen (genaue Erklärung der schlesischen Wirtschaftslage) bei den um 15 % erhöhten Löhnen nunmehr gänzlich unmöglich geworden sei. Eine gleiche Stillegungsanzeige machten wir bezüglich Bielau, wo wir ganz aus den gleichen Gründen 30 Webern kündigten, außerdem etwa 100 Ausrüstungs-, insonderheit Druckerei-Arbeitern, über deren Stänkereien wir uns schon immer blau geärgert hatten. Um auf der einen Seite den Ernst der Situation klar herauszustellen, auf der anderen Seite nicht unnötig provokatorisch zu wirken und die Sache als Maßregelung klassenbewußter Arbeiter erscheinen zu lassen, fügten wir hinzu, daß wir gemäß unserer Übung die Leute, soweit sie älter seien, gegebenenfalls unterstützen würden, falls sie nach Ablauf der Erwerbslosenunterstützung noch keine Arbeit gefunden hätten. Diese Stillegungsanzeige war ein kleiner Auftakt zu unserer großen Aktion im Frühjahr 1929, der wohl nicht ganz ohne Wirkung geblieben ist. Ein anderes Sturmzeichen war ein Bericht aus Süddeutschland über die Beschäftigungsschrumpfung und zwar in Gestalt einer durch den Arbeitgeberverband in die Presse lancierten Notiz mit einer langen Liste der eingeschränkt arbeitenden Betriebe. Nach dieser Aufstellung sollte angeblich beispielsweise Riedinger nur noch 32.5 Stunden und die Bamberger Kalikofabrik nur 30 Stunden arbeiten. Ganz so schlimm wird die Sache ja nicht gewesen sein. Aber immerhin begann doch die Krise langsam auch nach außen hin sichtbar zu werden. Inzwischen mehren sich die Krisenzeichen, wobei man vorläufig natürlich immer noch an eine vorübergehende Flaute wie 1926 glauben kann. Eine leichte Wiederabschwächung der Baumwolle im August (18.55 cts) hat ein Preiswettrennen nach unten zwischen Hammersen und dem Spinnweberverband zur Folge. Hammersen ermäßigt seine Preise fast täglich um ½ Pfg., worauf der Spinnweberverband mit seiner besseren Ware in diese Preise jeweils eintritt und Häcker zu einer neuen Preisermäßigung veranlaßt. Sollen wir auch wieder ermäßigen? Nein! Es belebt den Markt doch nicht. Nur die K-Preise müssen den Konkurrenzpreisen halbwegs angepaßt werden.
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Am faulsten sieht es im Buntwarengeschäft aus. Die Züchenverkäufe betrugen auch schon im Konjunkturjahr 1927 nur 2/3 von 1925. Aber auch Inlets fallen gegen 1927 nunmehr völlig ab. Der Buntwarenverkauf im ersten Semester 1927 hatte 22.000 Stück im Monatsdurchschnitt betragen, im Jahre 1928 nur noch 11.000 Stück. | Der Gesamtlagerbestand erreichte im Juli 1928 einen noch nie da gewesenen 62 Höhepunkt von 639.000 Stück = ca. 35 Mill. Meter gegen 345.000 Stück im März 1927 und 190.000 Stück im Mai 1925 (zwischendurch war bei der Flaute von 26 das Lager im Juli auch schon auf 560.000 Stück gestiegen). Daß [sic] Riesenbuntwarenlager von 73.000 Stück (bei einem zur Zeit gar nicht erreichten Soll-Verkauf von 14.000 Stück = einem Bestand von 5 Monaten) durchschlagend herunter zu kriegen, erscheint auch bei einer gewissen Besserung des Geschäftes unmöglich. Ähnlich liegt es zurzeit bei den Damasten. Daher Einschränkung der Buntweberei und Mühlbach auf 35 Stunden unvermeidlich. Dafür Rohstühle vermehrt in Doppelschicht, so daß im I. Quartal 1929 in Gellenau schon 809 Rohstühle in Doppelschicht beschäftigt sind. Vorläufig müssen wir uns aber leider auch entschließen, die Rohweberei mit einzuschränken. Letzteres erscheint inkonsequent, da wir planmäßig weniger Rohgewebe hätten kaufen müssen. Aber das klappt nicht immer so zusammen. Zunächst einmal verdirbt uns ein gänzlich unerwarteter Zusammenbruch des Geschäftes in den hohen Renforce-Qualitäten (T 16, 22/ 23 aus 30/24) völlig das Konzept. Auf diese Einstellung, von der wir bis vor kurzem gar nicht genug hatten schaffen können, haben wir bei einem Lager von 830.000 Meter 400 Stühle laufen. Nachdem wir nunmehr leider haben einsehen müssen, daß der Drang nach höheren Qualitäten im Publikum bereits wieder völlig ins Gegenteil umgeschlagen hat, muß sofort etwas geschehen, um das Lager nicht ins unermessliche steigen zu lassen. Außerdem liegt in der vorübergehenden Einschränkung auch der Rohweberei auf 35 Stunden wohl auch eine Demonstration der Arbeiterschaft gegenüber, die immer noch in Hochkonjunkturstimmung ist und zu keiner leistungssteigernden Umstellung zu haben ist. In Tannenberg erhöhen wir z. B. die Arbeitszeit der 6Stuhlweber nach einiger Zeit wieder auf 51 Stunden. Immerhin haben die Einschränkungskosten in den Haupteinschränkungsmonaten September bis November je RM 100.000 betragen. Auch der Gedanke, die Buntweberei Gellenau, soweit die Stühle weiter auf bunt laufen sollen, nach Bielau zu verlegen, gewinnt Gestalt. Neben der Absicht, in Gellenau, ungestört durch eine Buntwarenabteilung, allmählich auf das Rohweberei-Tempo zu kommen, spricht die Möglichkeit mit, in Langenbielau dann auf Revolverstühlen mit völlig neuen Akkordsätzen anzufangen. Graf rechnet überschläglich aus, daß wir bei völlig neuer Regelung der ganz und gar ver-
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rutschten Akkorde in der Weberei Bielau allein jährlich etwa ½ Mill. sparen könnten. | Wie soll das aber bei dem Widerstand der von den Gewerkschaften aufge63 hetzten Arbeitern durchgeführt werden? Vorläufig wenden wir uns mal den vielgeliebten „unproduktiven Abteilungen“ (richtiger gesagt nur mittelbar produktiven Kosten) zu. Schon den ganzen Sommer über liefert das seit 1925 im wesentlichen funktionierende neue Verrechnungssystem wertvolle Vergleiche. Fast überall sind die Kosten gestiegen, auch da, wo rationalisiert worden ist. So haben wir 7 Lastautos und zahlreiche Elektrokarren angeschafft, und trotzdem gehen die Gespannleistungen nicht zurück, auch nachdem der Investitionsrummel abgeflaut ist. Wir haben seit 1925 2.2 Mill. in die Wärmewirtschaft gesteckt, und trotzdem sind die Kosten 28 gegen 25 um 328.000 Mark gestiegen, was auch durch die gestiegene Produktion nicht ohne weiteres aufgeklärt ist. Durch rücksichtslose Verhandlungen mit den Versicherungsgesellschaften durch einen Hamburger Makler haben wir die Versicherungsprämien erheblich herabgesetzt, trotzdem ist der Aufwand kaum rückgängig, weil wir offenbar in unserer bisherigen Großzügigkeit allgemein in die Überversicherung gegangen sind. Dies sollen nur einige bunt herausgegriffene Beispiele sein. Es dämmert uns nun langsam die später zur völligen Klarheit ausgebildete Erkenntnis: die technische Rationalisierung allein macht es nicht, vor allem, wenn sie in so wilder Dynamik vorgetrieben wird, und in unserem Falle vorgetrieben werden mußte, um vor der drohenden Krise fertig zu sein. Die kostenhochhaltende Wirkung wird verstärkt, wenn die mißleitete Arbeiterschaft es ablehnt, die leistungssteigernden Folgerungen aus der Rationalisierung zu ziehen. Hat man mit Hilfe der Gewinne aus der Hochkonjunktur die technische Rationalisierung durchgeführt, so muß die organisatorische Rationalisierung nachfolgen, für die sich insonderheit Krisenzeiten eignen. Am 31.10. liegt eine umfassende Denkschrift mit einer neun Seiten langen Zahlenaufstellung vor über die Entwicklung der Generalunkosten in den Jahren 1925 bis 1. Semester 1928, wobei unter Generalunkosten alle Kosten verstanden werden, die außerhalb der textilen Produktionsstätten anfallen. Um die Vergleichbarkeit nicht zu stören, sind alle Kostensteigerungen, welche zwangsläufig aus den tariflichen Lohn- und Gehaltserhöhungen erfolgen, ausgeschaltet. Ergebnis: Nach dieser Ausschaltung sind diese Generalunkosten 1925 – 28 gestiegen von 9.465.000 auf 13.154.000 Mark. Interessant ist, daß wir damals auch Er64 tragssteuer | und Ausschüttungen an die Gesellschafter, gleichgültig in welcher Form sie erfolgen, als Unkosten ansehen, erstere weil wir sagen: der Steuergewinn hat mit dem kaufmännischen Ergebnis nichts zu tun (eiserner Bestand-Rechnung!), letztere weil sie als Existenzminimum der Familie in irgend einer Form unvermeidbar sind.
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Schalten wir die Steuererhöhungen mit 777.000 Mark und die Gründungskosten mit vorläufig 80.000 Mark als unabwendbar bezw. außerordentlich aus, ebenso zunächst einmal die Unkostensteigerung der auswärtigen Läger mit 317.000 Mark und die der Reklame mit 483.000, überlassen wir die 328.000 Mark erhöhte Kraft-Dampf-Kosten einer technischen Spezialuntersuchung usw., so kommen wir schließlich auf ein Plus von 1.5 Mill. für das Allgemeine: vom Geschäftshaus bis zur Hofekolonne, Feuerwehr und Gärtnerei, von den Zinsen über die Wohlfahrt bis zu den Spenden. Diese 1.5 Mill. müssen weg! 886.000 Mark allein beträgt die Steigerung bei den Kapitalbeschaffungskosten. Bei den anderen noch verbleibenden 732.000 Mark kommen wir zu einem Ergebnis, das uns völlig überrascht und verblüfft. Ein ganz bedeutender Teil fällt auf die Gehaltssteigerungen, wohlgemerkt Gehaltssteigerungen nach Ausschaltung der Tariferhöhungen und trotz eines beträchtlichen Abbaues in der Angestelltenzahl, den wir seit Ende der Inflation, wo wir wahllos Leute hatten einstellen müssen, um mit dem Zahlenchaos fertig zu werden, systematisch betrieben haben. So ist beispielsweise in der Buchhaltung das Durchschnittsgehalt um 60 % gestiegen, während die Tariferhöhungen nur 33 % betragen haben, d. h. außerhalb der Tarifsteigerung um ca. 20 % (133 + 20.3 % = 160). Die Gründe hierfür konnten also nur sein: Aufrückung in eine höhere Altersgruppe,Verheiratung,Vermehrung der Kinderzahl, Versetzung in eine höhere Tätigkeitsgruppe. Wir waren zunächst sprachlos. Allmählich wurde uns klar, daß wir bei den Kündigungen grundsätzlich ältere Leute geschont hatten, daher eine Erhöhung des Durchschnittsalters mit fortschreitender Familienbildung im Gefolge. Vor allem aber hatte sich die Katastrophe aus unserer Gesamteinstellung zu unseren Angestellten entwickelt. Als nämlich die Arbeiterschaft immer mehr in den Klassenkampf hineingehetzt wurde und eine zunehmende Nivellierung zwischen Gehältern und Löhnen eintrat, behandelten wir mit Betonung unsere Angestellten als unsere vertraulichen Mitarbeiter, deren Abgleiten auf das Gewerkschaftsniveau wir glaubten verhindern zu können, indem wir sie, unabhängig von den hinter den Lohnsteigerungen zurückbleibenden Gehaltstarifen mit ihren blödsinnigen Eingruppierungen, nach unserem Ermessen bezahlten. Wir | setzten sozusagen das uns angemessen er- 65 scheinende Gehalt primär fest und rangierten dann der Ordnung halber den Mann in die diesem Gehalt entsprechende Gruppe ein, gleichgültig ob seine Tätigkeit in diese Gruppe paßte. Machte ein 22jähriger Lediger die gleiche Arbeit wie ein 32jähriger Verheirateter mit 2 Kindern, der Jüngere vielleicht sogar etwas besser als der Ältere, so näherten wir der Billigkeit halber das Gehalt des Jüngeren dem des Älteren an, so daß dieser vielleicht Gruppe 2, jener Gruppe 3 ½ kriegte.Wurde nun der Jüngere älter und heiratete, vielleicht sogar unter Nachlassen seiner Leistungen, so war er viel zu hoch bezahlt und zog womöglich einen neuen, benachbarten Kollegen, der nicht schlechter bezahlt sein sollte, nach. Verstärkt
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wurde diese Tendenz noch dadurch, daß wir die persönlichen wirtschaftlichen Verhältnisse des einzelnen auch noch berücksichtigten, auch wieder ohne zum Ausdruck zu bringen, daß es sich um eine Zulage über die in Frage kommende Tätigkeitsgruppe hinaus handelte. Man wird uns vielleicht rückschauend wegen dieser Handhabung für außerordentlich töricht halten, aber einmal habe ich um der Prägnanz der Darstellung willen begreiflicherweise etwas übertrieben, andererseits darf man nicht vergessen, daß die Tarifbezahlung nach dem Weltkrieg etwas ganz Neues darstellte und mit ihrer Gleichmacherei von uns grundsätzlich negiert wurde. Wir, ebenso wie unsere Angestellten, waren stolz darauf, daß wir sie besser und individueller behandelten als andere, mußten aber jetzt feststellen, daß wir aufs falsche Gleis geraten waren. Eine einzelne Firma kann das Absinken einer sozialen Schicht, wie sie in diesem Falle durch das Tarifwesen herbeigeführt wurde, auf die Dauer nicht von sich aus aufhalten. Wir haben uns 4 Wochen mit dieser Frage – man kann fast sagen Tag und Nacht – herumgeschlagen. Geschehen mußte etwas. Eine generelle Gehaltsherabsetzung schied zunächst aus unseren Erwägungen als unmöglich aus. Aber Ordnung mußte hineinkommen. Am 29.11. kamen wir nach zahllosen Untersuchungen, Besprechungen und Entwürfen in einer bis 21 Uhr dauernden Vorstandssitzung zu folgenden Entschlüssen: Im allgemeinen wurde jeder Angestellte, unter vorläufiger Belassung seines Gehaltes, schematisch in die seiner Tätigkeit entsprechenden Gruppe einrangiert, 66 was wegen des unklaren Tarifaufbaues nicht immer | ganz einfach war, wie z. B. bei den Kontokorrentbuchhaltern und Lageristen. Die sich aus dieser Eingruppierung ergebenden Überverdienste wurden in Leistungszulagen (1 = ½ Gruppe) und Außerordentliche Zulagen (A = ca. ½ Gruppe) eingeteilt. L sollte bei Aufrücken in eine höhere Altersstufe, bei Verheiratung, bei Tariferhöhungen usw. mit erhöht werden, bei A behielten wir uns eine entsprechende Aufrechnung vor. Zu diesem Zweck wurde allen tariflich bezahlten Angestellten, unter einleuchtender Darlegung der Gründe und Absichten, gekündigt, mit der Maßgabe, daß die neue Eingruppierung in Gültigkeit treten sollte, wenn nicht bis zu einem bestimmten Datum dem widersprochen wurde. Meiner Erinnerung nach sind Einsprüche nicht erfolgt. Außerdem wurden folgende Einzelmaßnahmen vorgesehen: 1.) zur Entlassung kommen jüngere Angestellte, bei denen keine besondere soziale Rücksichten genommen werden müssen, wenn sie, etwa durch Zusammenlegung von Abteilungen, frei werden und notorisch leistungsunfähig und vor allem leistungsunwillig sind. Grenze nach oben etwa 35 Jahre.
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2.) Weiterbeschäftigung als Arbeiter kommt für unfähige oder unwillige Geschäftsgehilfen und Wochenlöhner in Frage, wenn sie durch direkte oder indirekte Bindung an das Arbeitstempo einer Maschine zur produktiven Arbeit gebracht werden können. 3.) Pensionierung kommt in Frage für über 60 Jahre alte Leute, die gerade nur „ihre Arbeit machen“, unter Beantragung einer vorzeitigen Rente. 4.) Bei Leuten, die für 1– 3 nicht in Frage kommen und notorisch unfähig und vor allen Dingen unwillig sind (oder im Gegensatz zu früher geworden sind), kann eine Streichung der A-Zulage sofort erfolgen, aber nie über 20 % und nie über 10 % in einer Etappe, d. h. schlimmstenfalls die Ankündigung des 10 %igen Abbaues per 1.4.29, weitere 10 % per 1.7.29. 5.) führten wir indirekt einen Heiratskonsens ein, indem wir Leuten, die nichts leisteten, mitteilten, daß sie im Falle einer Heirat auf eine Werkswohnung nicht rechnen könnten. Wir hatten uns nämlich ausgerechnet, daß eine Unterbringung in einer Werkswohnung einer sehr beträchtlichen Gehaltszulage gleichkam. | Von dem Gehaltsabbau nach Ziffer 4 haben wir nur in wenigen Einzelfällen 67 Gebrauch gemacht. In einzelnen Fällen hielten wir es für psychologisch wichtig, um einmal den Ernst zu zeigen, damit spätere Aufrechnungen nicht zu Enttäuschungen führen würden, und außerdem bei den anderen, die vorläufig nicht dran kamen, Befriedigung zu erwecken. Im großen und ganzen wurden diese Maßnahmen nicht ohne Verständnis aufgenommen. Auch die übertariflichen Angestellten waren zum Teil erheblich verrutscht, dadurch daß aus Gefühlsgründen alle Tariferhöhungen prozentual unverkürzt zugeschlagen wurden. Hier fiel es uns begreiflicherweise besonders schwer, etwas zu tun, aber natürlich konnten die gehobenen Angestellten keineswegs ausgelassen werden. Mit Schreiben vom 12.1.29 teilen wir unseren übertariflichen Angestellten mit, unter Erklärung der bisherigen Entwicklung, daß uns diese aus freundschaftlichen Gefühlen ihnen gegenüber durchgeführte Handhabung hoch über unsere Konkurrenz hinaus gebracht habe. Vorläufig beschränken wir uns aber auf eine Ankündigung, daß in Zukunft übertarifliche Angestellte „von Fall zu Fall“ individuell behandelt und evtl. Zulagen, sowohl in Höhe als im Zeitpunkt, von tariflichen Erhöhungen völlig unabhängig gemacht werden sollten. Das bedeutete vorsichtig ausgedrückt zunächst einmal einen gewissen Stop, mit dem Bemerken, daß in Zukunft Zulagen bei Tariferhöhungen wegfallen und nur noch nach Leistung bezahlt werden würde. Inzwischen war die Zeit weiter fortgeschritten. Eine Baumwollsteigerung (15.8.28 17.65 cts, 17.10. 20.20 cts, 26.11. 21.00 cts, 8.3.29 21.65 cts) hatte bemerkenswerterweise keinerlei nachhaltigen Auftrieb gebracht. Der Januar (norma-
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lerweise einer der besten Monate) brachte eine Steigerung des Verkaufes nur, von reichlich 50.000 Stück in den Vormonaten, auf 67.000 Stück, dem bereits wieder ein Februarverkauf von nur 51.000 Stück folgte. Unsere Lage war bei völlig gedrosseltem Rohwareneinkauf nunmehr in Bezug auf Ausrüstungsware leicht rückläufig, ebenso die Schulden. Zweifellos waren wir aber im laufenden Geschäft am Geld verlieren, ohne daß vom Markt her irgendwelche Anzeichen einer Besserung zu spüren waren. Unsere Konkurrenz hatte in ihrer Verzweiflung angefangen, unsere Methoden nachzuahmen. Der Spinnweberverband brachte „Gloria“ heraus, Wäschetuch | 68 ohne jede Appretur, wobei er unsere Füllappreturlosigkeit zu übertrumpfen strebte. Gminder tat das gleiche mit dem fraglos witzigen Zusatz „auch nicht mit Reklamekosten beschwert“. Nebenbei bemerkt fand am 17.10.28 7 Uhr vormittags die sensationelle Besprechung zwischen dem ausbrechenden Hammersen-Vorstand Walz⁸⁶ und mir im Wartesaal zu Heilbronn statt, wodurch der Hammersen-Prozeß in ein ganz neues Stadium trat, welches schließlich zu den Begroß-Prozessen gegen die Verwaltung führte und für uns wieder einmal eine nervenbeanspruchende Nebenbeschäftigung brachte. Am 5. 3.1929 fand schließlich die denkwürdige Vorstandssitzung statt, in welcher wir zur völligen Klarheit kamen, daß es sich nunmehr nicht mehr um eine Geschäftsstörung, wie etwa im Jahre 1926, handeln konnte, sondern daß der befürchtete Generalzusammenbruch der Wirtschaft auf dem Textilgebiet vorgreifend begonnen hatte, der Zusammenbruch, den wir seit Jahren mit unerschütterlicher Überzeugung kommen sahen. Diese Wochen und Monate sind für die Entwicklung unseres Unternehmens so entscheidungsträchtig, daß ich auf eine Reihe, zum Teil sehr umfassender, Denkschriften verweisen möchte, die irgendwie fast alle Probleme berühren, die sich aus dem laufenden Geschäft jener Jahre ergeben haben. Es sind dies die Denkschriften vom 29.10.1928 über „Zunahme der Generalunkosten in den Jahren 25, 26, 27, 28 (1. Halbjahr 2 x)“ vom 8.11.1928 über „Verluste bei den sogenannten Handlungsunkosten (Endaufschlag)“ vom 16.1.23 über „Grundlegende Erfahrungen, Erfordernisse und Fragen unseres Absatzes“
Fritz Walz (1887– 1974), u. a. zwischen 1920 – 1941 Fabrikdirektor und Vorstand der F. H. Hammersen AG sowie zwischen 1941– 1955 Direktor des Staatlichen Technikums für Textilindustrie Reutlingen.
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vom 30.1.29 über „Lagerbildung und Absatz im Lichte von Finanzen und Rentabilität“ vom 9.3.29 „Betrachtungen über Ergebnis und Unkosten des Jahres 28 und entsprechende Rückschlüsse auf 29“ „Jahresbericht über die Verkaufsabteilung von Dr. Bötzelen“ Weiter zurück reicht noch die „Denkschrift betreffend Interessengemeinschaft“ vom 21.7.1924. Zum Verständnis dieser Denkschriften muß bemerkt werden, daß sie keineswegs abgefaßt waren, um unsere Verdienste herauszustreichen, auch nicht einmal, um eine objektive Bestandsaufnahme zu geben, sondern in erster | Linie, 69 um die Mängel unserer Geschäftsführung hervorzuheben. Wenn man diese Mängel mit einem leidenschaftlichen Willen zu ihrer Abstellung vorträgt, ergibt es natürlich ein einseitiges Bild mit zahlreichen Überspitzungen, welche einmal Herrn Graf zu der Äußerung veranlaßten: „Nach Ihren Denkschriften könnte man meinen, unser ganzer Vorstand bestünde aus Deppen“. Das wollte ich mit meinen Denkschriften nicht sagen. Dieser Vorstandssitzung lag die oben angeführte Denkschrift vom 9.3.29 zu Grunde, welche mit der Bilanz-Besprechung anfing. Es wird zunächst einmal ausgewiesen ein Arbeitsergebnis mit minus 835.000 Mark, bei welchem allerdings nur der Baumwollverlust entsprechend unserem System ausgeschaltet ist, nicht aber der Margenverlust, den wir dann später als Konjunkturverlust bezeichnet haben, weil er zwar einen wirklich [sic] Verlust darstellt, der aber mit der Konjunktur zusammenhängt und nicht mit der Leistungsfähigkeit eines Unternehmens. Weiter wird festgestellt, daß der Status im Laufe des Jahres 28 von ca. + ./. Null auf ./. 5 Mill. gesunken ist, die Anlagen um 5 Mill. gestiegen sind. Hätten wir nicht in den Jahren 25 – 28 12 Mill. investiert und 5 Mill. Hammersen-Aktien gekauft und das Lager auf dem Soll-Bestand belassen, hätten wir im Augenblick keine eigentlichen Bankschulden. Die Betriebe haben, unter Einbeziehung der Ausrüstung, noch mit einem Gewinn gearbeitet, wobei nachdrücklich auf die sinkenden Ausrüstungspreise verwiesen wird. Der Verlust im Endaufschlag hat nach Richtigstellung 1.168.000 Mark betragen. Dieser läßt sich nicht durch stumpfsinnige Umsatzsteigerung beheben. Zu seiner Beseitigung war nämlich nötig, daß monatlich entweder oder ʺ ʺ ʺ
. Stück . ʺ . ʺ . ʺ . ʺ
Damaste mehr verkauft würden Buntware Kunstseide (Travisée und Indra) Ausrüstungsware zu A-, B- und C-Preisen Ausrüstungsware zu K-Preisen
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Aus letzterer grotesken Zahl geht schlagend hervor, daß die K-Preise fixe Endaufschlagkosten so gut wie überhaupt nicht tragen und nur der Beschäftigung der Ausrüstung dienen. Diese theoretische Berechnung war zur Beleuchtung der Ertragsfähigkeit der einzelnen Warengruppen auf je eine Warengruppe allein abgestellt. Darunter folgt eine weitere praktische Erwägung, wie hoch wir den Umsatz, unter vernünftiger Verteilung auf die einzelnen Warengruppen, steigern müßten, um den Endaufschlag-Verlust auszugleichen. | Dabei gehen wir von einem Soll-Umsatz aus, der mit gewissen Modifikationen 70 etwa dem durchschnittlichen Monatsumsatz des Jahres 28 entspricht. Es wäre nötig folgende Steigerung: Soll-Umsatz von und ʺ
. Stück Damast um . ʺ Buntware ʺ . ʺ Ausrüstungsware ʺ . Stück
. Stück auf . ʺ ʺ . ʺ ʺ
. Stück . ʺ . ʺ . Stück
Es ist völlig klar, daß ein derartiger Umsatz, noch dazu ohne Preissenkungen, in absehbarer Zeit keinesfalls zu schaffen ist. Eine zweite Möglichkeit des Verlustausgleiches bestünde in der Erhöhung von ca. 20.000 Stück um eine Preisklasse. Beides soll als Fernziel unbedingt sofort in Angriff genommen werden (z. B. durch Bildung kleinerer Vertreterbezirke, siehe Jahresbericht Dr. Bötzelen). Dies alles aber dauert Jahre. Wenn wir nicht bis dahin längst pleite sein wollen, sind Sofort-Maßnahmen unbedingt erforderlich. Wir müssen uns klar sein, daß die an anderer Stelle beschriebenen Lohnerhöhungen auf der einen und Preisermäßigungen auf der anderen Seite eine völlig neue Sachlage ergeben haben. Die Zeit der Übergewinne der Jahre 25 – 27 ist endgültig vorbei, selbst eine gewisse Konjunkturverbesserung und Umsatzsteigerung kann sie nicht wieder bringen. Eine Umsatzsteigerung im großen ist aber für die nächste Zeit gar nicht zu erwarten. Infolgedessen bleibt nur eine durchgreifende Unkostensenkung als einziger Ausweg übrig. Die organisatorische Rationalisierung der Betriebe bleibt vorbehalten. Zunächst einmal muß aber die 1.5 Mill.-Unkostensteigerung bei den Generalunkosten weg und die „unproduktiven Abteilungen“ von der Hauptverwaltung bis zur Hofekolonne müssen sofort in Angriff genommen werden. Unsere Stimmung in dieser Vorstandssitzung kann am besten zum Ausdruck gebracht werden durch Anführung der Schlußsätze besagter Denkschrift. Es heißt dort: „Zur allgemeinen Konjunkturlage sei gesagt: Das Bild, welches sich in Berlin im Gesamtverband, Buntweberverband und in der Fachgruppe Textilindustrie entwickelte, war in allen Teilen so entmutigend, daß man an eine Besserung in
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absehbarer Zeit nicht glauben kann (die Läger vor allen Dingen müssen bei der Industrie, im Gegensatz zum Handel, über | alle Begriffe hoch sein). Daß uns 71 derartig langandauernde Krisen bei unseren einzig dastehenden unvermeidlichen Kosten vernichtend treffen müssen, sei nochmals unterstrichen. Mit einer entscheidenden Steigerung der wesentlich unkostentragenden Umsätze dürfen wir in absehbarer Zeit nicht rechnen, wenn nicht ein wirtschaftliches Wunder geschieht. Ohne Umsatzsteigerung oder tiefgreifende Einschränkungen keine ausreichende Lagerverminderung, ohne Lagerverminderung keine Zinsentlastung, ohne Zinsentlastung keine Rentabilität, ohne Rentabilität keine genügende Schuldenabdeckung, und so weiter im Kreise. Es scheint mir nach allem außer Zweifel: wenn nicht etwas Durchgreifendes geschieht zur Senkung der Ausgaben, stehen wir vor einer bedenklichen, zwangsläufigen, das Tempo progressiv beschleunigenden, Abwärtsentwicklung. Wann diese aufzuhalten ist, kann nicht übersehen werden, je später, desto schwieriger. Der Gedanke des Herrn Graf, eine sofortige Senkung der Unkosten und des Lagers durch umfassende Stillegungen herbeizuführen, muß bei aller Schwierigkeit unverzüglich eingehend geprüft werden, und zwar auch für Ausrüstungsabteilungen. Die Preissenkung in der Ausrüstung wird ohne Radikalmittel nicht zu tragen sein. Alles in allem: derartige Verhältnisse überwindet man nicht mit normalen Maßnahmen. Anmerkung: Ich habe absichtlich in dieser Schrift in erster Linie auf die Maßnahmen hingesteuert, die sofort ergriffen werden müssen zur Beseitigung der augenblicklichen Notlage. Das Gebiet der Verkaufspolitik und die Frage, ob wir nicht doch im Hinblick auf die weitere Zukunft Systemänderungen großen Stils nötig haben werden, habe ich absichtlich nicht berührt.“
Dies war am 5. 3.1929. Auf Grund dieser Beschlüsse erfolgte zunächst einmal eine wilde Unkostenjagd bei den Nebenabteilungen unter begeistertem persönlichem Einsatz des gesamten Vorstandes. Diese Sache füllt natürlich den ganzen Sommer 29 und wurde auch später systematisch fortgeführt. Doch möchte ich hier schon vorgreifend diesen Abschnitt unserer Reorganisation erledigen, um dann ungehindert bei den Betriebsreorganisationen bleiben zu können. Die Sache begann mit den Autospesen des | Vorstandes und reichte bis zu dem Bleistiftverbrauch der 72 Büros und dem Nägelverbrauch der Tischlerei. Bei den Autospesen beispielsweise kassierten wir von den 5 Firmenchauffeuren 2 oder 3 und bewogen die Vorstandsmitglieder, ihre eigenen Autos auch für Dienstfahrten kostenlos zur Verfügung zu stellen gegen Treibstoff-Lieferung auch für Privatfahrten und kosten-
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lose Erledigung kleiner Reparaturen auf der Feuerwache. Beide machten dabei ein gutes Geschäft. Zur Erfassung der Kleinigkeiten wurde ein sehr einfaches System in die Sache gebracht. Mühmer⁸⁷ wurde als Sparkommissar eingesetzt und unter Lipp’s Leitung auf immer neue Gebiete gehetzt. Da man ja keinerlei Unterlagen für Sollverbrauch beispielsweise an Bleistiften hatte, stellte er einfach alle Verbräuche bis in die kleinsten Kleinigkeiten bei den verschiedenen Abteilungen gegeneinander. Wenn beispielsweise der Rayon Haake im Monat 30 Schreibfedern brauchte und der Rayon Betensted nur 4, ging man der Sache nach. Desgleichen bei Glühlampen und ähnlichem. Natürliche war dieses Verfahren grob, aber man kam doch enorm weiter, und vor allen Dingen kriegten die Abteilungsleiter einen Riesenschrecken. Sie wurden nunmehr für den Verbrauch in ihren Abteilungen verantwortlich gemacht, und es gelang fraglos, einen sportlichen Wettbewerb der Abteilungsleiter im Unkostendrücken wachzurufen. Welchen Umfang die Einsparungen auch bei den Kleinigkeiten erreichten, geht aus folgenden Zahlen hervor: der Verbrauch betrug Schreibbedarf Auto-Betriebsstoff Gespanne sog. Verwaltungs- und Verrechnungsabt. Personenautos Lastenbeförderung Feuerwehr (ohne Gegenrechnung der Leistungen)
. . . . . . .
. RM . ʺ . ʺ . ʺ . ʺ . ʺ . ʺ
Diese wenigen herausgegriffenen Zahlen bedürfen keines Zusatzes. Bei den fortgeschrittenen Verhältnissen konnten wir an dem Abbau der Gehälter bei gehobenen Angestellten auch nicht mehr vorbeigehen. Dieser Entschluß wurde uns unsagbar schwer und wurde schließlich nur im Rahmen mit der großen Stillegungsaktion gefaßt. In der Vorstandssitzung vom 5.3. heißt es, daß 73 der Situation „durch normale Mittel“ nicht Rechnung | zu tragen sei. Angedeutet wird der Graf’sche Gedanke an einen ganz großen Schlag, nämlich die Buntweberei Langenbielau vorübergehend stillzulegen. Die Lohnverhältnisse waren, wie gesagt, völlig unerträglich geworden. Eine Herabsetzung der Akkorde auf Grund der zahllosen, im einzelnen vielfach unbedeutenden, technischen Verbesserungen, war praktisch nicht durchzusetzen, und da die gute Gelegenheit, anläßlich der Tariferhöhung zu regulieren, durch 2 Schiedssprüche mit schematischer Stücklohnerhöhung ausgeschaltet war, war N.e., Mitarbeiter der C. D. AG.
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seit dem Juli 25, d. h. seit 3 ¾ Jahren, an den Stücklöhnen für alte Artikel nichts mehr geändert worden, während sie natürlich für neue Artikel richtig angesetzt waren. Es verdienten im Gruppendurchschnitt Weber an 3 breiten Rohstühlen 59.6 Pfg., an 2 breiten Buntstühlen 72.4 Pfg. Die geringwertigsten Akkordarbeiter, die es überhaupt gibt, die Spuler, erreichten in der Schußspulerei 72 Pfg., also 12.4 Pfg. mehr als der Weber an 3 breiten Rohstühlen. Wurde ein Weber an andere Stühle versetzt oder kriegte er auch nur andere, neuere, Artikel, gab es jedes Mal eine Revolution, und die Gewerkschaften gossen dann Öl ins Feuer. Das mußte allmählich zur völligen Auflösung aller Ordnung und Gerechtigkeit führen. Andererseits war, wie oben geschildert, das niedergehende Buntwarengeschäft, in Verbindung mit unserem Riesenlager, ein kaum zu lösendes Problem. Schließlich herrschte in der gesamten Organisation unserer Buntweberei immer noch ein patriarchalisches, gemütliches System, das nur im Wege einer Radikalmaßnahme geändert werden konnte. Wir faßten nun den gewaltsamen Entschluß, die eigentliche Buntweberei, d. h. 1.654 Stühle (wohl ohne Pietschfabrik und die Säle 2b, 2c, 2d mit ca. 350 Stühlen) mit einem Schlage stillzulegen und während dieser Stillegung gleichzeitig etwa 600 Stühle hinauszuwerfen (teils Austausch, teils Reservestellung und durch Gellenauer Karierstühle zu ersetzen). Unter diesen Umständen hofften wir bei Wiederinbetriebnahme auch die Akkorde ganz neu aufbauen zu können, wobei wir uns der gewissen Rechtsunsicherheit von vornherein bewußt waren. Gleichzeitig sollte dieses Ereignis, „C.D. legt seine ganze Buntweberei, d. h. seinen weltbekannten Stammbetrieb still“, als Fanal wirken, was bei den vor der Tür stehenden Lohnverhandlungen bis zum Arbeitsministerium hinauf den größten Eindruck machen mußte. | Ebenso nachhaltig mußte aber die Wirkung auf unsere Gefolgschaft sein und 74 eine völlige Umwälzung der Stimmung zur Folge haben. Auch der stumpfsinnigste Angestellte mußte nun einsehen, daß wir diese Maßnahme nur aus bitterster Not ergreifen konnten. Wenn sonst ein Gehaltsabbau als gemeine Knickrigkeit gewirkt hätte, so mußten die Leute jetzt froh sein, zunächst einmal überhaupt weiter beschäftigt zu werden und mußten im Verzicht auf einen Teil ihrer Bezüge einen Versuch zur Rettung des Unternehmens und damit ihrer eigenen Existenz sehen. So stellten wir etwa am 20.3.29 beim Regierungspräsidenten den Antrag auf Stillegung der Buntweberei und der gesamten Ausrüstung, in welcher wir gleichzeitig die organisatorische Rationalisierung der technischen folgen lassen wollten. Am 28.3. fand die vorgeschriebene Stillegungsverhandlung beim Regierungspräsidenten statt. Er mußte sich allmählich davon überzeugen, daß es uns ernst war und daß keine der ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, eine Stillegung zu verhindern, durchschlug. So mußte er sie schließlich per 14.4.29 genehmigen.
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Die Wirkung war unbeschreiblich. Es war etwas geschehen, was kein Mensch für möglich gehalten hätte. Die Welt sah plötzlich ganz anders aus. Nun versammelten wir die gehobenen Angestellten und legten ihnen eindrucksvoll unsere Zwangslage dar.Wir hätten uns immer für sie eingesetzt, hätten ihnen Pensionsverträge zugestanden, nun könnten wir aber in unserer freundschaftlichen Großzügigkeit nicht mehr weiter. Eine Gehaltskürzung von etwa 20 % sei unvermeidlich. Selbstverständlich ginge der Vorstand mit gutem Beispiel voran. Wir baten die Leute, sich auf diese ermäßigten Gehälter einzustellen. In guten Jahren hofften wir ihnen durch Gratifikationen einen reichlichen Ausgleich für diese Beschneidung schaffen zu können. Jetzt ginge es aber nicht anders. Wir schickten ihnen also Kündigungsschreiben mit der Ankündigung einer Gehaltskürzung in 2 Etappen und zwar am 30.9. und 31.12.29. Einsprüche sind nicht erfolgt, und wir hatten die Empfindung, daß die Leute im großen und ganzen mitgingen. Nun konnten wir auch die A-Zulagen abbauen, was sich natürlich in einzelnen Fällen, wo Leute gänzlich unsinnig gestiegen waren, recht hart auswirkte. Im übrigen verweisen wir auf das Rundschreiben an den Aufsichtsrat vom 30.3., in welchem wir die Stillegung ankünden. | 75 Diese Stillegung war wohl der einschneidenste und riskanteste Entschluß, den wir, neben dem Entschluß zur IG und, als zwangsläufige Folgerung, zur Aufnahme des Prozeßkampfes gegen Hammersen, in der Zeit zwischen den beiden großen Kriegen gefaßt haben. Es folgte nun auf die technische Rationalisierung, insonderheit in den Jahren 25 – 28, der Abschnitt der organisatorischen Rationalisierung. Inzwischen waren die am 30.4. ablaufenden schlesischen Lohntarifverträge am 20.3. von den Gewerkschaften gekündigt worden mit den üblichen irrsinnigen Lohnforderungen, die in einzelnen Positionen bis zu 40 – 50 % Erhöhung gingen. Mit Schreiben vom 11.4. stellten die Arbeitgeber einige Forderungen auf Textänderungen, insonderheit Wegfall der verschiedenen Akkordregulierungsklauseln, d. h. bei Reichenbach beispielsweise die berühmten 12 %. Der Sinn dieser Maßnahme ist mir nicht mehr ganz klar. Auf der einen Seite wollten wir mit diesen, für Außenstehende missverständlichen, Klauseln fraglos einen Stein des Anstoßes wegräumen. Eigentümlich dabei bleibt nur, daß wir keinerlei Ersatzfassung forderten. Vielleicht wollten wir uns in den Verhandlungen auf den Standpunkt stellen, daß wir ohne Klauseln auf Null % abbauen könnten, um dann schließlich zu der vielbesprochenen, jetzt in Westdeutschland allgemein durchgedrungenen, Formel zu kommen, daß der Abbau nur vorgenommen werden könne, falls die Überverdienste nicht in der Person des Arbeiters lägen. Diese Klausel war für einen vernünftigen Schlichter unanfechtbar und immer noch viel besser als die
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bei uns üblich gewordene schematische Erhöhung, zum mindesten in Krisenzeiten, wo der Arbeitgeber ja sehr viel größere Möglichkeiten hatte. Die Verhandlungen waren auf den 23.4. festgesetzt und verliefen natürlich ergebnislos. Da die Arbeitgeber ja genau wußten, daß sie, entsprechend dem Verlauf in anderen Gegenden Deutschlands, um eine kleine Schlußlohnerhöhung nicht herumkommen würden, so irrsinnig das auch bei der derzeitigen Wirtschaftslage war, riefen sie den Schlichter an. Bei diesen Verhandlungen, die vermutlich Anfang Mai stattgefunden haben, gaben die Arbeitgeber ihre Bereitwilligkeit zu einer kleinen Lohnerhöhung zu erkennen, vermutlich um 3 % auf 58 Pfg., unter der ausdrücklichen Voraussetzung, daß die Akkorde nicht schematisch mit erhöht würden. Die Gewerkschaften spielten dieses Mal von vornherein die wilden Leute. Lang beleidigte den braven Philipp schwer, so daß dieser den Bock kriegt | und die Fällung eines Schiedsspruches kurzweg ablehnte. Nun hatten die 76 Arbeitgeber ein gewisses moralisches Übergewicht. Da fast alle Betriebe eingeschränkt hatten und hoffnungslos auf Lager arbeiteten und zahlreiche kleine Firmen, zumal in Görlitz, schon ganz zugemacht hatten, beschloß man, in der durch unsere Teilstillegung geschaffenen Atmosphäre, einfach alle Betriebe zu schließen, d. h. über 50.000 Arbeiter auszusperren. Damit war ein grober Keil auf einen groben Klotz gesetzt, in voller Erkenntnis der damit verbundenen Gefahr zu einer Zeit der gewerkschaftlichen Machtfülle. Aber unsere Ansicht, daß man mit „normalen Mitteln“ nicht mehr weiterkam, hatte sich allmählich auch der Allgemeinheit mitgeteilt. Alle hatten die Empfindung: wir können im Augenblick einen Betriebsstillstand lange aushalten. Die Aussperrung trat am 27. Mai in Kraft, also 6 Wochen nach der C.D.Stillegung, bei welcher wir in der Weberei Bielau 1.224 Arbeiter von 1.350 entlassen hatten, in der Ausrüstung 259 von 1.749. Diese Aussperrung von 50.000 Arbeitern war immerhin eine Sache, die das Arbeitsministerium auf den Plan rief. Dort war im Sommer 28 der Sozialdemokrat Wissell als Nachfolger von Brauns eingezogen und hatte eine nicht ganz leichte Erbschaft übernommen. Ob wir uns mit diesem Wechsel verschlechtert hatten, ist schwer zu sagen. Fraglos ging zunächst einmal mit der von den Sozialdemokraten beherrschten Regierung der Strom weiter nach links. Immerhin hatte Wissell wohl die Empfindung, mit der Lohnschraube könnte es nicht ins uferlose weitergehen. Er als Sozialdemokrat hatte es nicht ganz so nötig wie ein Zentrumsmann, immer noch weiter nach links zu schielen. Wir hatten schon vor einiger Zeit vom Arbeitgeberverband Textilindustrie aus einen Vorstoß bei ihm gemacht wegen der Entwicklung der Verhältnisse im Westen. Dort griff er dann ernsthaft ein und ernannte einen Sonderschlichter, der die Lohnstreitigkeiten von 32 meist kleineren Gruppen durch 32 Schiedssprüche nicht unvernünftig erledigte. Natürlich endeten alle mit einer Lohnerhöhung von we-
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nigen Prozent, brachten aber, wie gesagt, einheitliche Akkordklauseln bezüglich Akkordregulierung bei technischen Verbesserungen. Das Arbeitsministerium lud nun zu Einigungsverhandlungen ein. Diese Verhandlungen begannen immer mit einer Plenarsitzung, zu der die Gewerkschaften eine Reihe von Arbeitern, wie zum Beispiel Teichgräber⁸⁸, mitbrachten. Dort 77 hielten die Gewerkschaftssekretäre allgemein Volksreden | mit wüsten Beschimpfungen der Arbeitgeber und des Schlichters und mit Drohungen gegen das Arbeitsministerium, worauf dann diese Plenarverhandlungen abgebrochen wurden und der Ministerialdirigent Mewes⁸⁹ oder der Ministerialrat Doberstein⁹⁰ mit beiden Parteien einzeln zu verhandeln begann. Gelegenheitlich holten sie dann auch von jeder Seite ein oder zwei Leute zusammen und versuchten erfolglos, irgend eine Einigung zustande zu bringen. Das Gros der Gewerkschaftssekretäre und Arbeiter saß meistens bis abends in der Kantine zusammen und war, wenn dann am späten Abend die Schlußplenarbesprechung stattfand, meistens zum Teil einigermaßen blau. Da die Verhandlungen ergebnislos verliefen, verwies das Arbeitsministerium die Sache an den Schlichter zurück, welcher zurzeit auf die Gewerkschaften eingeschnappt war und streikte. Nun mußte er wider Willen einen Schiedsspruch fällen. Da Philipp gerade frisch gestärkt aus Landeck zurück gekommen war, hielt er es 13 Stunden aus und fällte am späten Abend des 15. Juni einen Schiedsspruch, der schlimmer war als alles vorstellbare. Dieser Spruch erhöhte die Löhne von 55,2 Pfg. auf 58,– per sofort und auf 60,– Pfg. per 1.4.30, so daß also mitten in der Gesamtwirtschaftskrise mit steigender Arbeitslosigkeit noch einmal eine Erhöhung stattfand. Dazu schematische Erhöhung der Stücklöhne. Wie Philipp, der im Grunde genommen ein ganz vernünftiger Mensch war, das machen konnte, obgleich wir ihm dieses Mal umfassendes Material unterbreiten konnten, wie wahnsinnig sich die schematischen Erhöhungen vergangener Schiedssprüche ausgewirkt hatten, bleibt immer schleierhaft. Ihm saß fraglos noch das Parteiausschlußverfahren vom Dezember 1923 in den Knochen, und er mag sich gesagt haben: wenn ich durchaus einen Schiedsspruch fällen soll, so mache ich es eben, werde aber den Teufel tun, das Odium unsozialer Einstellung wieder auf mich zu nehmen. Die Leute werden ja sehen, was für ein Unsinn bei der Sache rauskommt.
Richard Teichgräber (1884– 1945), gelernter Schlosser, Politiker und seit 1918 Bezirksleiter des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes. Richard Meves (1885 – 1954), Ministerialdirigent und Unterabteilungsleiter im Reichsarbeitsministerium. U. a. seit 1924 Leiter der Unterabteilung „Lohnpolitik“. N.e.
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Die Gewerkschaften hatten nunmehr, was sie wollten und beantragten die Verbindlichkeitserklärung. Nun wandten wir uns mit einer kleinen Kommission des Arbeitgeberverbandes, geführt von Kisker und Dr. Klaue, unter Beteiligung von Abraham Frohwein [sic] an den Wirtschaftsminister Curtius⁹¹ und stellten ihm mit Hilfe von erdrückendem und prägnant zusammengestelltem Material die ganze Sachlage dar. Er begriff durchaus, was los war und meinte, Philipp hätte offenbar in Landeck einen Brunnen-Collaps gekriegt. Er versprach, auf Wissell einzuwirken, daß dieser Schiedsspruch nicht verbindlich erklärt werden dürfe. | Nun nahm sich Ministerialdirektor Sitzler selber der Sache an. Wie ich schon 78 an anderer Stelle andeutete, ist Sitzler wohl der einzige gewesen, der die Geschichte mit der Akkordregulierung und dem Unterschied zwischen Gruppenakkord und individuellem Akkord einigermaßen begriff. Wir konnten ihm vorzügliches Material vorlegen über die gesamte wirtschaftliche Lage von Schlesien und über die Auswirkung der Lohnerhöhungen, insonderheit der schematischen Akkordregulierung. Wir überzeugten ihn, daß dieser Schiedsspruch nicht verbindlich erklärt werden könne, was dann auch vom Arbeitsministerium abgelehnt wurde. Was nun? Die Aussperrung dauerte über 4 Wochen. Sie verlief dieses Mal sehr viel disziplinierter als früher, weil sie ja, nicht wie 1921, aus einer Erregung der Massen entsprungen, sondern aus wohl überlegter Taktik der Gewerkschaften entstanden war. Unter diesen Umständen konnten wir mit allen Stuhlmeistern die Webstuhl-Umstellung in erheblichem Tempo weiter betreiben und auch in der Spinnerei erhebliche Umstellungen durchführen. Vorläufig war von Streikmüdigkeit auf beiden Seiten nicht allzu viel zu merken. Nur die nichtorganisierten Arbeiter begannen Not zu leiden. Andererseits begann sich die Presse und die politischen Parteien zunehmend mit der Sache zu beschäftigen. Es mußte also unbedingt etwas geschehen. Wissell wollte die Sache offensichtlich gut machen und ernannte, da Philipp versagt hatte, einen Sonderschlichter in der Person eines gewissen Engler⁹², Leiter des Landesarbeitsamtes in Frankfurt a. Main. Er entstammte wohl dem Baugewerbe und hatte keinerlei Ahnung von Akkordsystem. Als Badener kannte er die schlesische Textilindustrie eigentlich nur von
Julius Curtius (1877– 1948), Jurist und Politiker der DVP. Er war seit 1926 Reichswirtschaftsund zwischen 1929 – 1931 Reichsaußenminister. Wilhelm Engler (1873 – 1938), Gewerkschafter und sozialdemokratischer Politiker. Er war u. a. badischer Arbeitsminister (1921– 1923) und Präsident des hessischen Landesarbeitsamtes (1928 – 1933).
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Gerhard Hauptmann⁹³. Diese Verhandlung vom 4.7.1929 bedeutete wieder einmal einen Tiefpunkt in unseren gesamten Tarifverhandlungen. Die Gewerkschaften nutzten Englers völlige Unkenntnis der Materie aus. Sie bestritten die Notlage der schlesischen Textilindustrie nicht ohne weiteres, behaupteten aber, es läge alles an den völlig rückständigen Arbeitgebern. Da Engler noch nie in Schlesien gewesen war, entwickelten sie von der schlesischen Textilindustrie ein Bild, demzufolge wir etwa in strohgedeckten Scheunen mit vorsintflutlichen, mittels Stricken zusammengeflickten, Webstühlen arbeiteten. Sie verstiegen sich bis zu der Behauptung: wenn die schlesische Textilindustrie nicht lebensfähig sei, müsse sie eben sterben und die Regierung müsse dann für andere Beschäftigung der Arbeiter sorgen. Diese Darstellungen paßten ausgezeichnet in Englers Weltbild, und alle Versuche, ihm mit sachlichem Material zu kommen, liefen an ihm 79 ab wie Regen an einem Ölmantel. Mit fröhlicher | Unbekümmertheit hielt er alberne Reden. Unter Hinweis darauf, daß man Dinge, welche die Zukunft einer ganzen Industrie angingen, nicht mit einer Handbewegung erledigen könnte, stellten wir dann den offiziellen Antrag, Engler solle nach Schlesien kommen und sich davon überzeugen, daß alle Behauptungen der Gewerkschaften grobe Unwahrhaftigkeiten darstellten. Engler bemerkte mit lächelnder Überlegenheit, daß er das nicht nötig hätte, weil er völlig im Bilde sei. Er kannte ja, wie gesagt, die schlesischen Verhältnisse von Gerhard Hauptmann her. Diesen Tag habe ich noch so genau in Erinnerung, daß ich mich noch auf den Platz besinne, an welchem ich bei diesen Verhandlungen gesessen habe. Die ganze Würdelosigkeit der Situation mußte an jedem Beteiligten fressen, und seit diesem Tage hat sich in mir endgültig die Überzeugung festgesetzt, daß mit den alten Methoden des Klassenkampfes und des parlamentarischen Kuhhandels eine Befriedigung der sozialen Verhältnisse unmöglich sei, sondern nur durch irgend etwas ganz Neues. Unsere Stimmung kann nicht besser zum Ausdruck gebracht werden, als durch ein Kraftwort von Dr. Hildebrand⁹⁴ aus Grünberg. Als ich nämlich, nachdem die Gegenpartei und der Schlichter den Saal verlassen hatten, meinen Gefühlen mit rauhen Worten Ausdruck gab, erklärte er nur: „Wenn Sie es von mir verlangen, kotze ich in den Saal.“ Schließlich fällte Engler einen Schiedsspruch, der so ungefähr das irrsinnigste darstellte, was man sich ausdenken kann. Die 58 und 60 Pfg. nahm er einfach an, weil ihm diese Zahlen bei seinen Frankfurter Maurertarifen nicht Gerhart Hauptmann (1862– 1946), schlesischer Schriftsteller und Nobelpreisträger. Bekannt wurde er insbesondere durch das 1892 veröffentlichte Drama „Die Weber“, das von einem gescheiterten Weberaufstand in Schlesien im Jahre 1844 handelt. Das Textilunternehmen Dierig geht literarisch als Firma Dittrich in die Handlung des Stücks ein. N.e.
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imponieren konnten. Die schematische Akkorderhöhung kam natürlich auch, allerdings abgeschwächt insofern, als die Erhöhung nicht ganz mit dem Tarif (5 % + 3.6 %) mitging, sondern nur 4 + 3 % betragen sollte. Schließlich brachte eine Regulierungsklausel auf [sic], indem er die Bestandteile der verschiedensten sonstigen Klauseln zu einem Salat zusammenmischte. Sie hieß nämlich: „Haben bei der künftigen Entwicklung der Akkorde aus anderen Ursachen als wegen gesteigerter Arbeitsleistung des Arbeitnehmers, also insbesondere wegen Verbesserung des Materials, der Maschinen und der Arbeitsmethode, oder bei großem Irrtum bei Aufstellung der Akkordsätze diese den tariflichen Satz wesentlich überschritten, so kann eine Regulierung gefordert werden. Der Arbeitgeber hat sich darüber mit der gesetzlichen Betriebsvertretung ins Einvernehmen zu setzen. In vorstehendem Falle darf der Verdienst nicht unter den Akkordrichtsatz + 15 % sinken.“ |
Also zunächst einmal nur bei der künftigen Entwicklung der Akkorde! Das der- 80 zeitige Chaos, nach dem beispielsweise bei uns die Schußspuler 72 Pfg. verdienten und die rohen 3-Stuhlweber 59,– Pfg., war verewigt. Ferner waren die bekannten, behelfsmäßigen 12 % aus dem Reichenbacher Vertrag beibehalten und sogar auf 15 % erhöht, obgleich sie ja jetzt überhaupt nicht mehr paßten. Selbst bei grobem Irrtum, wie er bei Einführung eines gänzlich neuen Artikels immer vorkommen konnte, war die Berichtigung nur bis auf 15 % über Akkordrichtsatz möglich, so daß die Leute es in der Hand hatten, durch Zurückhaltung in den Artikeln, in denen die Erfahrung fehlt, von vornherein die 15 % zu erzwingen. Schließlich bedeutete das Einvernehmen mit dem Arbeiterrat, so wie die Dinge augenblicklich lagen, vollkommene Verhinderung jeder Regulierung. Sitzler selber war erschlagen über diesen Erfolg ehrlicher Bemühungen. Die Sache war nun vollkommen festgefahren. Bei den Arbeitern, vor allen Dingen den nichtorganisierten, machte sich nun allmählich eine verzweifelte Stimmung geltend. Infolgedessen schrieb ich an Dr. Meißner⁹⁵ einen Brief: nun müsse noch kurz durchgehalten werden, damit die Sache von selber zusammenfiele. Am nächsten Tag muß ich das allerdings widerrufen, denn Raczkowski⁹⁶ von Suckert war bei mir, um mir zu erklären, daß, wenn er nicht in spätestens 8 Tagen mit dem Kollektionieren beginnen könne, er für eine ganze Saison ausfiele, und damit sei das
Rudolf Meißner (1880 – 1969), u. a. Vorstandsmitglied des Arbeitgeberverbandes der Deutschen Textilindustrie, Vorstand des Verbandes Schlesischer Textilindustrieller, Hauptgeschäftsführer der Industrie-Abteilung der Wirtschaftskammer Niederschlesien und der Bezirksgruppe Schlesien der Wirtschaftsgruppe Textilindustrie in Breslau sowie Geschäftsführer der Bezirksgruppe Schlesien-Lausitz der Fachgruppe Baumwollweberei in der Wirtschaftsgruppe Textilindustrie in Berlin. Karl Raczkowski (n.e.), Aufsichtsratmitglied der Kattundruckerei F. Suckert A. G.
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Schicksal der Firma Suckert entschieden. Derartige Stimmen hörte man jetzt allenthalben und Dr. Meißner war – man kann fast sagen Tag und Nacht – bemüht, ausbrechende Unternehmer zurückzuhalten. Nun wurde Wissell von den politischen Parteien bestürmt, Schluß zu machen. Schon längst war der schlesische Arbeitskampf über die Gewerkschaftspresse hinaus in die Tagespresse gedrungen und der „Vorwärts“, als führendes Blatt der Sozialdemokraten, hatte mit einer wüsten Hetze begonnen. Wissell versuchte mit allen Mitteln, um die Verbindlichkeitserklärung herumzukommen. Er berief neue Verhandlungen, die er dieses Mal einem Ministerialrat oder Ministerialdirigenten Classen⁹⁷ übergab, der zwar sonst den Bergbau und derartige Industrien bearbeitete, von dessen Überzeugungskraft er sich aber viel versprach. Diese sogenannten Einigungsverhandlungen dauerten wieder einen ganzen Tag. Classen verhandelte nach den üblichen Plenarverhandlungen immer abwechselnd mit den einzelnen Parteien und versuchte zwischendurch in ganz kleinem Kreise zur 81 Einigung zu kommen. Schließlich versuchte er, Dr. Meißner, der | trotz seiner ausgesprochenen Kampfstellung schließlich auch bei den Gewerkschaftssekretären ein gewisses Vertrauen genoß, allein mit Feinhals zusammenzuspannen. So ging es den ganzen Tag hin und her. Wir gingen in dem schön gepflegten Garten des Arbeitsministeriums spazieren, wenn wir nicht gelegentlich mal in der Kantine etwas aßen. Dort tagte wieder nur die Arbeitnehmerseite durchgehend. Als ich in den späten Abendstunden einmal den guten, alten Vater Fritsch⁹⁸, der die schlesischen Textilgewerkschaften schon in den Vorkriegsjahren geführt hatte und damals als Hetzapostel galt, an dem Ort, wo sich auch feindliche Parteien treffen, traf, gab ich meinem Ärger etwa in folgenden Worten Ausdruck: „Na, hören Sie mal, Sie haben aber feine Kollegen.“ Fritsch knurrte darauf in seinen Spitzbart: „Drei Jahre dienen müßten die Kerle, da wäre vieles besser.“ Dieser Ausspruch eines ehrlich überzeugten alten Sozialdemokraten ist immerhin bemerkenswert. Alle Versuche Classens, die schematische Akkorderhöhung noch zu hintertreiben und der Regulierungsklausel des Westens zur Annahme zu verhelfen, scheiterten. Die Gewerkschaften wußten, daß sie im Augenblick am längeren Hebelarm saßen und lehnten alles ab. Andererseits konnte sich Wissell, dem zwischendurch immer wieder der Stand der Verhandlungen vorgetragen wurde, und der sich auch selber einmal mit den Parteien in Verbindung gesetzt hatte, dem Druck der politischen Parteien nicht mehr entziehen. Er war der Meinung,
Vermutlich Bruno Claußen (1884 – n.e.),Verwaltungsjurist und Ministerialbeamter, ab 1926 im Reichswirtschaftsministerium, 1933 – 1934 Staatssekretär im Reichsarbeitsministerium. Otto Fritsch (1870 – 1943), Textilarbeiter, Gewerkschafter und sozialdemokratischer Politiker. U. a. zwischen 1904– 1933 Bezirksleiter des Textilarbeiterverbandes für Schlesien.
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daß heute unbedingt Schluß gemacht werden müßte. So wurde der Schiedsspruch nachts um 2 Uhr für verbindlich erklärt. Es ist ja bekannt, daß man sich nach so einem Tage wie ein ausgewundenes Handtuch fühlt, und wir begaben uns nunmehr auf die Suche, wo es um diese Zeit noch etwas zu essen gäbe. Schließlich fanden wir am Kurfürstendamm noch irgend ein Lokal, wo wir unseren Kummer hinunterspülten. Als wir dann das Lokal verließen, war es inzwischen hell geworden, und ich kam mir vor wie ein Student, der gegen Morgen mit wüstem Kopf von der Kneipe kommt. Nun hatten die Gewerkschaften wohl gedacht, wir würden es nach einer 7wöchigen Arbeitsruhe sehr eilig haben, mit der stillgelegten Weberei wieder in Betrieb zu kommen. Wir taten aber, ohne Rücksicht darauf, daß wir demnächst wieder Buntware brauchen würden, das genaue Gegenteil. Nicht einmal den kläglichen Rest von 169 Personen, die wir nach der Stillegung noch in der Weberei Bielau gehabt hatten, stellten wir vollzählig wieder ein, von 1.464 Ausrüstungsund Nebenarbeitern nur 1.141 und von 450 Spinnereiarbeitern gar nur 265. In der Weberei | ließen sich Exner⁹⁹ und Ahr¹⁰⁰ die Leute einzeln kommen, zuerst na- 82 türlich die besten und vernünftigsten, erklärten ihnen die ganze Sachlage und stellten sie dann nur unter der schriftlichen Vereinbarung ein, daß sie bereit seien, an so und so viel Stühlen und zu den und den Sätzen zu arbeiten. Dabei beschränkten wir uns wöchentlich auf kleine Gruppen: etwa 10 Weber, 10 Spuler, 5 Zettler usw. Erst wenn es sich gezeigt hatte, daß die Leute anstandlos auf ihren Lohn kamen, folgten in der betreffenden Abteilung (Köperweberei, Züchenweberei) die nächsten. Aber nicht nur die Buntweberei hatten wir während der Aussperrung auf den Kopf gestellt, sondern auch die Spinnerei, Gellenau usw. So stellten wir in Gellenau keine Leute für die Buntweberei ein, sondern nur für die Rohweberei, wo die Stücklöhne ja sowieso neu angesetzt und noch nicht verrutscht waren. Dafür fingen wir dann in Bielau mit neuen Karierlöhnen an, gingen in der Spulerei teilweise von Strangberechnung zur Kiloberechnung über und führten in der Spinnerei einen ganz neuen Spinnplan mit neuen Mischungen, Verzügen und Drehungen ein. Wir machten im allgemeinen möglichst andere Artikel auf anderen Maschinen, kurz, wir versuchten, „auf Grund technischer Umstellungen und Verbesserungen“ die Vergleichbarkeit mit den Verhältnissen vor der Aussperrung möglichst zu stören. Da beispielsweise in der Spinnerei fast die Hälfte der Leute noch draußen waren und nach der 7-wöchigen Aussperrung sich in äußerst gedrückter Stimmung befanden, waren die Arbeitenden durchaus zufrieden.
N.e., Mitarbeiter der C. D. AG. N.e., Mitarbeiter der C. D. AG.
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Diese hoffnungsvollen Verhältnisse änderten sich aber, als Wicziewski¹⁰¹ Ende August von Berlin angereist kam und alles durcheinander brachte. Nun legte u. a. in der Pietschfabrik ein Teil der Weber, zugestandenermaßen auf Betreiben der Gewerkschaften, die Arbeit nieder, nachdem wir 2 Weberinnen, welche die bei der Einstellung vereinbarte Arbeit an 6 Stühlen nachträglich verweigert hatten, in einen anderen Websaal versetzt hatten, wo sie wesentlich weniger verdienten. Mit den Webern selbst kamen wir schnell zu einer durchaus vernünftigen Vereinbarung, die aber von der Gewerkschaft nachträglich wieder hintertrieben wurde. So kam es, unter Bruch der Friedenspflicht von seiten der Gewerkschaften, zu einem richtigen Streik. Da wir unsererseits nunmehr die kalte Schulter zeigten und uns einfach an der Weiterentwicklung der Dinge desinteressierten, nahmen die Weber allmählich einer nach dem anderen die Arbeit wieder auf. Inzwischen hatten die Gewerkschaften drei Klagen beim Arbeitsgericht wegen Nichterfüllung des Schiedsspruches anhängig gemacht und so den Kampf auch auf diesem Gebiete eröffnet. | 83 Inzwischen wuchs die Beunruhigung bei der Regierung in Breslau. Die Provinzialbehörden merkten langsam, daß es sich hier um mehr handelte als um eine bloße Arbeitsstreitigkeit. Der unselige Schiedsspruch hatte auch bei anderen schlesischen Firmen – und zwar gerade bei den bedeutendsten – zu ähnlichen, wenn auch natürlich nicht so umfassenden, Schwierigkeiten geführt wie bei uns. So tauchte plötzlich der Vizepräsident Schwendi¹⁰² (Oberpräsidium oder Regierung?) aus irgend einem Grunde in Bielau auf, und es kam zu einer Aussprache mit Leuchtenberger, Herrmann¹⁰³ und mir auf dem Rathaus. S. ging davon aus, daß die Regierung den allergrößten Wert darauf legen müsse, die Lage der Stadt Langenbielau, welche durch die zunehmenden Wohlfahrtsunterstützungen verzweifelt zu werden begänne, zu erleichtern und wieder zu Arbeitereinstellungen zu kommen. (Wir hatten von 3.718 Leuten vor der am 14.4. erfolgten Stillegung jetzt Anfang Oktober erst wieder 2.232 eingestellt, also etwa 60 %.) Ich erklärte ihm in dem gleichen sachlichen, entgegenkommenden Tone, in dem er selber die Verhandlungen führte, daß wir dies brennend gern tun würden, daß wir aber durch die beim Arbeitsgericht eingereichten Klagen der Gewerkschaften daran verhindert würden. Wir hätten zwar das Bewußtsein, auch juristisch völlig im Recht zu sein, immerhin aber gebe es in dieser Hinsicht noch kaum eine Judikatur des neu eingerichteten Reichsarbeitsgerichtes, so daß große Rechtsunsicherheit bestehe. Sollten wir in dieser Sache Unrecht bekommen, so könne von einer Wiederauf-
N.e. N.e. N.e.
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nahme des Betriebes gar nicht mehr die Rede sein (wobei ich ihm sachlich die ganze Situation erklärte), so daß wir zu umfassenden Wiedereinstellungen erst kommen könnten, wenn diese Klagen entschieden seien. Schwendi versuchte nun, auf die Streitigkeiten einzugehen, insonderheit die Behauptung, daß wir den Schiedsspruch nicht erfüllt hätten. Ich konnte ihm nun, unter Anbietung jederzeitiger Nachprüfung, erklären, daß unsere Löhne im Verhältnis zu den Löhnen vor der Aussperrung im Generaldurchschnitt 5.5 % höher lagen, während der Schiedsspruch nur 5 %, und bei Stücklöhnen 4 %, verlangte. Wir hätten also den Schiedsspruch materiell sogar reichlich erfüllt. Die Gewerkschaften suchten also nur juristische Spitzfindigkeiten, um Unfrieden zu stiften. Leuchtenberger machte nun eine sehr unglückliche Figur, da er indirekt meine Behauptung nur bestätigte, indem er immer wieder auf die formelle Erfüllung des Schiedsspruches zurückkam. Schließlich wurde er durch das freundliche Drängen Schwendis so in die Enge getrieben, daß er zugab, daß er sich hinter strikte Weisungen von Berlin zurückziehen müsse, ihm seien, was er mit einem gewissen Bedauern aussprach, die Hände völlig gebunden. Schwendi ließ sich nun die Anschrift | der Textilar- 84 beiterzentrale in Berlin geben, um direkt dorthin zu schreiben. Alles in allem standen wir in einem zunehmend guten, die Gewerkschaften in einem entsprechend schlechten Licht. Nun war für uns die Verhandlung der vorliegenden Klagen von entscheidender Wichtigkeit. Soweit sie die stillgelegte Weberei betrafen, galt es nachzuweisen, daß durch die Stillegung und völlige technische Neuorganisation der Betriebe die Kontinuität unterbrochen sei und daher die Forderung des Schiedsspruches auf 4 %ige Erhöhung der Stücklöhne nicht durchgriff. Es war uns klar, daß bei der Linksrichtung der Arbeitsgerichte auch dies eine zweifelhafte Angelegenheit war. Bei den anderen Betrieben, wo die Kontinuität offensichtlich nicht in dem Umfang unterbrochen war, lag die Sache fauler, und wir waren auf allerhand rechtliche Konstruktionen angewiesen. Da wir Akkorde überhaupt nur bei „künftiger Entwicklung“ regulieren durften, waren wir auf die Behauptung angewiesen, daß die Betriebe während der Aussperrung völlig umgestellt seien und damit nach der Aussperrung sozusagen ein neues Leben begänne. Ganz sicher hatten wir hier gegen den Tarif verstoßen, indem wir in keinem Falle das „Einvernehmen“ mit dem Betriebsrat herbeigeführt hatten, weil dies von vornherein hoffnungslos gewesen wäre. Wir konnten uns nur darauf berufen, daß der Betriebsrat, der im Augenblick gern den Kopf in den Sand steckte, der Neuregelung nicht widersprochen habe. Unser einziger Vorteil war der, daß wir alle Zusammenhänge völlig übersahen und immer wieder mit neuen Argumenten kommen konnten, während für die Gewerkschaften die gesamten Betriebsverhältnisse und die Lohnbildung im einzelnen böhmische Dörfer darstellten. So hatten sie sich zunächst einmal glücklicherweise die für sie ungünstigsten Fälle
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zur Klage ausgesucht, wobei sie schon die größten Schwierigkeiten hatten, überhaupt Arbeiter zu finden, die sich zu einer Unterschrift unter die Klage bereit erklärten. Das Arbeitsgericht stand selbstverständlich all diesen Dingen mit völliger Verständnislosigkeit gegenüber. So setzten wir die Hoffnung auf einen der Beisitzer, nämlich den Herrn von Tschierschki-Bögendorf ¹⁰⁴ (derselbe Tschierschki, der dann später als junger Mann von Papen¹⁰⁵ bekannt wurde). Ich fuhr nach Költschen, um T. mit den Verhältnissen vertraut zu machen und die Rechtslage – natürlich in unserem Sinne – darzustellen. Es gelang mir, den ehrgeizigen jungen Mann für die Sache zu interessieren. Er war intelligent genug und konnte auch bis zu einem gewissen Grade abstrakt denken, so daß es mir gelang, | 85 ihm die Hauptgrundsätze einzuhämmern. Bei den Verhandlungen beherrschte er völlig die Situation, weil auch der Vorsitzer völlig schimmerlos war, und brachte es fertig, daß schließlich ein zwar unklarer, aber im wesentlichen günstiger, Spruch gefällt wurde. Inzwischen machte Dr. Meißner, wirkungsvoll unterstützt von Dr. Klaue, weniger wirkungsvoll von der Vereinigung der Arbeitgeberverbände, überall Stimmung gegen den unmöglichen Schiedsspruch und seine Folgen. Unter anderem wurde auch Curtius wieder eingespannt. Klaue, Meißner und ich machten einen Vorstoß bei Sitzler und mahnten ihn an sein Versprechen, nach Schlesien zu kommen und damit das Engler’sche Versäumnis nachzuholen. Tatsächlich erschien Ende November eine große Kommission bestehend aus Sitzler, Mewes¹⁰⁶, Doberstein vom Arbeitsministerium, Feinhals und anderen Gewerkschaftssekretären. Letztere hatten sich auch noch den berühmten Textil-Reichstagsabgeordneten Krätzig¹⁰⁷ aus Schobergrund mitgebracht. Meiner Erinnerung waren sie zuerst in Neustadt und fuhren von uns weiter nach Landeshut und Grünberg. Bei dieser Besichtigung gelang es uns, das Märchen von den rückständigen schlesischen Betrieben gründlich zu zerstören. Unser gesamter Betrieb, von Spinnerei
Fritz-Günther von Tschirschky und Bögendorf (1900 – 1980), deutscher Diplomat und Politiker. Bis 1937 enger Mitarbeiter von Papens, daraufhin bis 1952 Emigration nach England, wo er als Kaufmann tätig war. Seit 1952 in der Protokollabteilung des Auswärtigen Amtes und seit 1960 als Konsul in Lille tätig. Franz von Papen (1879 – 1969), Offizier und Zentrums-Politiker, war u. a. 1932 kurzzeitig Reichskanzler eines Minderheitenkabinetts und zwischen 1933 – 1934 Vizekanzler im Kabinett Hitlers. Danach bis 1944 Botschafter in Wien und Ankara. Siehe: Richard Meves. Hermann Krätzig (1871– 1954), Textilarbeiter, Redakteur und sozialdemokratisches Reichstagsmitglied. U. a. Tätigkeit beim Textilarbeiterverband, Redakteur des Verbandsorgans „Der Textilarbeiter“, zwischen 1918 – 1922 zweiter Vorsitzender der Reichsstelle für Textilwirtschaft und zwischen 1929 – 1932 Referent im Reichsarbeitsministerium.
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und Buntwaren-Appretur angefangen, unsere Treffermaschine mit den Brieger’schen Unterlagen machten einen überwältigenden Eindruck auf alle Beteiligten. Die Lohnlisten zeigten die Haltlosigkeit der gewerkschaftlichen Behauptungen über Lohnhöhe und Nichterfüllung des Schiedsspruches. Besonders wirkten natürlich unsere Wohlfahrtseinrichtungen und unsere Wohnhäuser, bei denen Werner¹⁰⁸ raffiniert führte. Zum Schluß stellte ich die „Zigarrenkiste“ vor als unser ältestes Wohnhaus aus dem vorigen Jahrhundert, wobei Krätzig, der inzwischen warm geworden war, in alten Erinnerungen schwelgte. Dort zeigte Werner unter anderem eine Wohnung von Philemon und Baucis, eines alten pensionierten Stuhlmeisters mit einer überaus sauber angezogenen weißhaarigen Muttel, welcher voll Begeisterung erzählte, daß er über 30 Jahre hier wohne und was er alles bei der Firma erlebt hatte. Ein besonderer Witz ereignete sich bei Besichtigung der Krippe. Ich muß vorausschicken, daß der „Vorwärts“ ein sehr geschickt aufgemachtes Bild von den „Palästen“ am Butterberg gebracht hatte. Als die Leute in angeregter Stimmung aus der Krippe herauskamen, zeigte Dr. Meißner auf die arme Leute-Treppe zum oberen Stockwerk und sagte: „Hier wohnt Herr Dierig“. „Wie meinen Sie?“ Dem Hinweis, daß ich da oben wohnte, schloß Dr. Meißner eine sehr geschickte Schilderung an, wie wir für unsere Leute sorgten und unsere eigenen Ansprüche zurückstellten. Wenn die | Leute in meine Woh- 86 nung gekommen wären, hätten sie ja festgestellt, daß sie ganz hübsch war, aber der ärmliche, dunkle Aufgang hatte einen geradezu unerhörten Eindruck gemacht. Als am Schluß Sitzler seiner Meinung Ausdruck gab, daß sie alles doch sehr wesentlich anders gefunden hätten, als die Gewerkschaften es dargestellt hätten und er nicht einsehen könne, daß hier eine Einigung nicht möglich sei, konnten sogar die schnoddrigen Bemerkungen von Feinhals die Situation für die Gewerkschaften nicht retten. Dieser Besuch war bestimmt sehr wesentlich für die weitere Einstellung des Arbeitsministeriums. Inzwischen war in der Spinnerei die Klima-Anlage fertig geworden und die Spinnerinnen waren begeistert über Luft und Temperatur. Wir erklärten uns bereit, nunmehr weitere 100 Spinnereiarbeiter einzustellen, wenn die entsprechende Anzahl von Spindeln bedient und damit unsere Konkurrenzfähigkeit hergestellt würde. Wir wurden mit unseren Leuten, einschließlich Betriebsrat, schnell einig und auch die örtliche Gewerkschaft konnte sich dem nicht entziehen, mußten aber alles von der Berliner Genehmigung abhängig machen. Meiner
Gustav Werner (n.e.), Prokurist der C. D. AG. Werner war nach Ankunft des russischen Militärs in Langenbielau Vorsteher eines Geschäftsführer-Ausschusses, unter dem die Arbeit in der Fabrik wieder aufgenommen worden sei.
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Erinnerung nach kam Feinhals selber angereist und hintertrieb alles, wobei zum Ausdruck kam, daß sie hofften, beim Reichsarbeitsgericht die schematische Erhöhung aller Akkorde durchzudrücken. Also wurde, sehr zum Kummer der arbeitslosen Spinnereiarbeiter, zunächst niemand eingestellt. Wie wir die Sache dann klar gekriegt haben, ist mir nicht mehr erinnerlich. Jedenfalls hat sie später geklappt. In der Weberei stellten wir im Laufe des 4. Quartals planmäßig laufend weitere Leute ein und zwar 400 = 30 Personen je Woche, denn schließlich mußten wir ja auch unser Buntwaren-Sortiment wieder komplett liefern. Es ist bemerkenswert, daß wir trotz Stillegung und Aussperrung 1929 fast die gleiche Stückzahl geliefert haben wie 28, nämlich 535.000 Stück, wobei das Lager um 355.000 Stück auf einen durchaus normalen Rest von 283.000 Stück zurückging und die Bankschulden sich von 22 Mill. auf 9.5 Mill. gesenkt hatten. Der Versand von den auswärtigen Lägern hatte 1929 mit 255.000 Stück seinen Höhepunkt erreicht. Ihre starke Belegung war uns während der Aussperrung sehr zustatten gekommen. Diese erfreulichen Tatsachen dürfen nicht über den Ernst der Sachlage hinwegtäuschen. | 87 Die schwersten Sorgen machten uns die Klagen. Die eine zumindest war inzwischen in 2. Instanz verhandelt und zu unseren Ungunsten entschieden worden. Sie hing jetzt beim Reichsarbeitsgericht. Fielen wir hier rein, so standen wir einfach vor einem Chaos und zwar einem unentwirrbaren. Es war schwer vorstellbar, wie wir dann überhaupt den Betrieb aufrecht erhalten sollten. Ich kann wohl sagen, daß diese Wintermonate zu den sorgenvollsten gehören, die wir erlebt haben. Auf mir vor allem, in dessen Arbeitsgebiet ja die ganze Sache fiel, lastete die Verantwortung zentnerschwer. Nun hatte Sitzler bei seiner Schlesienfahrt schon von Einigungsverhandlungen gesprochen. Dem Arbeitsministerium konnte eine Entscheidung des Reichsarbeitsgerichtes sehr unbequem werden, da damit gegebenenfalls der ganze Wahnsinn des vom Arbeitsministerium verbindlich erklärten Schiedsspruches zu Tage treten konnte. Sitzler ließ sich nun nach weiterer Bearbeitung durch Dr. Meißner bereit finden einzugreifen und zwar stellte das Arbeitsministerium nun seinen besten Mann zur Verfügung, Dr. Völkers¹⁰⁹, Suevia Tübingen, vornehmer Mann, Schlichter und Staatsrat von Bremen, dem es soeben gelungen war, die überaus verfahrene Lage bei den Arbeitsstreitigkeiten der Reichsbahn in Ordnung zu bringen. In der 2. Februar-Hälfte kam Völkers nach Schlesien, um bei C.D. und
Carl Völckers (1886 – 1970), deutscher Jurist. Er war u. a. zwischen 1933 – 1945 Präsident der Behörde für Schifffahrt, Handel und Gewerbe in Bremen und seit 1940 Beauftragter des Reichskommissars für die besetzten niederländischen Gebiete für die Stadt Rotterdam.
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auch einigen anderen Bezirken zu schlichten. Völkers war ein Mann aus bestem Hause, typischer Tübinger Schwabe, ein klarer Rechner, der die Möglichkeiten, und vor allem die Nichtmöglichkeiten, der Schlichtung genau kannte. Er sah von vornherein zunächst einmal von jeder Redeschlacht ab, ließ sich in Breslau von Meißner einerseits die ganze Sachlage genau erklären und verhandelte andererseits mit den Gewerkschaften, in beiden Fällen ohne sich irgendwie zu verausgaben. Dann kam er mit Dr. Meißner nach Bielau, ließ sich nach einer Fabrikbesichtigung, unter stichprobenweiser Einsichtnahme in die Unterlagen, die Hauptstreitpunkte erklären und verhandelte dann ohne unser Beisein mit dem Betriebsrat. Er mußte mit seinem kritischen Verstande sehr schnell erkannt haben, daß auf unserer Seite zum mindesten die klare Linie zu erkennen war, auf der anderen Seite aber eine ungeheure Konfusion herrschte, mit der Tendenz, im trüben zu fischen. Allerdings äußerte er sich in keiner Weise darüber, auch nicht nach einer sehr amüsanten Kaffeestunde bei mir. Zufällig gab es Laugenbrezeln und meine Frau bot sie ihm mit den Worten an: „Das haben Sie bestimmt noch nie gegessen“, worauf er in den erfreuten Ausruf ausbrach: „Ja, Laugenbrezeln, das erinnert mich an meine Tübinger Studentenzeit.“ Erst jetzt | kam seine Corps- 88 Zugehörigkeit heraus und bot begreiflicherweise Anlaß zu allerhand näherer Fühlungnahme und einem unausgesprochenen Einverständnis, welches sich auf der Rückfahrt nach Breslau zwischen Dr. Meißner und Völkers ganz besonders vertiefte. Beide merkten sehr schnell, daß sie Beamte alten Stiles seien, fanden gemeinschaftliche Bekannte im Auswärtigen Amt usw. Völkers war viel zu klug und objektiv, um sich etwa durch solche Dinge vom graden Wege abbringen zu lassen. Immerhin war aber ein gegenseitiges Verhältnis allenthalben festgestellt, welches es gestattete, sich offener über die Dinge auszusprechen als es sonst möglich gewesen wäre. So bat er mich auch um Einigungsvorschläge, weil er von der Gegenseite ja doch nichts vernünftiges erhielte. Ich konnte ihm gleich sagen, wenn nur wir einseitig Vorschläge machen sollen, dann könnten die natürlich nur für ihn persönlich vertraulich gemeint sein und er dürfe unter gar keinen Umständen den Gewerkschaften gegenüber davon Gebrauch machen. Er erklärte dies ohne weiteres, und auf eine spätere Frage, ob meine Vorschläge das letzte Wort seien, konnte ich ihm mit großer Offenheit sagen, in den und den Punkten das letzte Wort, in anderen lassen wir mit uns reden, nicht aber über den Grundsatz, daß von schematischer Erhöhung der Akkorde in keinem Falle die Rede sein könne. Völkers fuhr dann wieder nachhause und sagte, er würde in einigen Wochen wieder kommen und dann bis zur Einigkeit hierbleiben. Wir vereinbarten die Vorlegung genauer Unterlagen über die Durchschnittsverdienste, möglichst aufgestellt nach namentlich und entsprechend gegliederten Lohnlisten, und er bat, die Unterschrift des Betriebsrates über die sachliche Richtigkeit bald mitzubrin-
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gen, so daß darüber bei den nächsten Verhandlungen kein Zweifel mehr herrschen könne. Wie war nun die strategische Lage? Daß wir alles Interesse daran hatten, die Sache beizulegen, ehe die Entscheidung des Arbeitsgerichtes, einer immerhin stark politisch gefärbten Behörde, vorlag, wurde schon gesagt. Conditio sine qua non war für uns: völlig neuer Aufbau der Akkorde und gerechter Lohnaufbau, Bedingungen, ohne die jede Einigung für uns sinnlos gewesen wäre. Über die Höhe ließ sich notfalls streiten. Aber auch die Gegenseite hatte allen Grund, das Kriegsbeil zu begraben. Wir hatten mit unmißverständlicher Deutlichkeit immer wieder gesagt, daß wir bei einer Entscheidung des Reichsarbeitsgerichtes gegen uns den Betrieb wieder schließen müßten, und unsere durch nunmehr fast 1 Jahr bewiesene Zähigkeit hatte ihnen gezeigt, daß unsere Drohungen nicht leicht | 89 genommen werden konnten. Die Arbeiterschaft in Langenbielau war zunehmend mißmutig und die örtlichen Gewerkschaftssekretäre drängten zu einer Beilegung. Das Arbeitsministerium, wie gesagt mit dem Sozialdemokraten Wissell an der Spitze, verlangte diese Einigung unbedingt, und die Gewerkschaften machten eine zunehmend unglückliche Figur. Hinzu kam, daß die Wirtschaftskrise sich inzwischen von der Textilindustrie auf die gesamte Wirtschaft ausgedehnt hatte. Im Februar 1930 hatten wir 2.4 Mill. Arbeitslose mehr als im Februar 28, also war der grundlegende Einigungswille auch bei der anderen Seite da. In den letzten Märztagen erschien Völkers wieder. Er lehnte von vornherein jede Debatte über Tariferfüllung in juristischer Beziehung ab und ließ sich nur auf das gesamte Gehaltsniveau vor und nach der Erhöhung ein und verlangte Vorbringung der Beschwerden in den einzelnen Akkordarbeitergruppen. Natürlich versuchten die Gewerkschaften ihre bekannten Verwirrungsmanöver, die ihnen aber auf Grund der vorgelegten, vom Betriebsrat gegengezeichneten, Unterlagen verhältnismäßig wenig nützten. Es wurde mit ungeheurer Sorgfalt über alle Einzelheiten gesprochen. Soweit es sich herausstellte, daß die verlangten Unterlagen nicht voll ausreichten, um die Behauptungen der Gegenseite zu entkräften, verlangte Völkers unerbittlich neue Unterlagen, ohne sich auf irgend eine Meinungsäußerung einer Partei zu verlassen. Wir fuhren also wieder nachhause, um am übernächsten Tag uns in Breslau wieder zu treffen. Inzwischen fuhr wohl Völkers zu irgend einem anderen Betrieb. Mit Hilfe von Nachtarbeit haben Werner und Exner (in erster Linie kam letzterer in Frage) mit subtiler Genauigkeit neue Listen aufgestellt, so daß am letzten Tage der Verhandlung tatsächlich irgendwie wesentliche Unklarheiten nicht mehr aufkamen. Da es sich bei den Verhandlungen ausgesprochenermaßen um praktische Einzelheiten des Betriebes handelte, traten die Gewerkschaften, vor allem die Berliner, immer mehr zurück und Teichgräber wurde immer wärmer. Ohne Rücksicht auf die Gewerkschaften gaben die Leute schließlich immer wieder ihre Übereinstimmung zu erkennen. Dabei
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passierte ein netter kleiner Scherz. Während Völkers über irgend eine Ausrüstungsfrage verhandelte, hatten sich Exner, Ahr, Teichgräber, Leuchtenberger und sonst noch wer in ein Nebenzimmer zurückgezogen und waren über eine Frage, ich glaube der Schlichterei, unter sich einig geworden, was sie dann bei Gelegenheit Völkers mit Begeisterung verkündeten. Es war doch sehr interessant, daß selbst ein Mann von hohem Niveau wie Völkers sich auf den Schlips getreten fühlte und plötzlich meinte: „Ja, dann brauchen mich die Herren | vielleicht nicht 90 mehr.“ Im übrigen wollte Völkers alles bis auf den i-Punkt fertig machen. Es wurde schließlich die Erhöhung der Stücklohnsätze bis in die einzelnen Qualitäten und Breiten festgelegt, beispielsweise bei schmalem CD-Köper 2 %, bei 130 cm breitem 3 %, bei 160 cm breitem 7 % usw. Gegen abend um 6 Uhr tauchten nach ganztägiger Verhandlung wieder einige Schwierigkeiten auf, nach denen es aussah, als ob die Verhandlungen noch längere Zeit dauern würden. Als Meißner Völkers fragte, ob man vielleicht doch eine Kleinigkeit essen sollte, wehrte V. erschrocken ab und erklärte das für einen großen psychologischen Fehler. Auf den Einwurf, ich meine ja nur, daß wir uns ein Schinkenbrot kommen lassen, sprach V. das gewichtige Wort: „Selbst ein Schinkenbrot kann geradezu katastrophale Folgen haben.“ Er hatte recht, denn wir waren in verhältnismäßig kurzer Zeit einig, und er hörte nicht auf, bis die viele Seiten lange Einigung beiderseits unterschrieben war. Geschehen am 1.4.1930. Ich glaube, daß die Genugtuung, daß nun dieser einjährige Streit begraben war, bei Teichgräber und Leuchtenberger ebenso groß war wie auf unserer Seite. Daß wir bei der Einigung hier und da einige Prozent würden zugeben müssen (meiner Erinnerung war die höchste Erhöhung 8 %) war uns von Anfang an klar, im Gegenteil waren diese Erhöhungen durch die Erfahrungen nötig geworden, und wir hatten lediglich zurückgehalten, um etwas zum Handeln zu haben. Das spielte gar keine Rolle. Im übrigen waren wir mit unserem System und der neuen, gerechten Entlohnung völlig durchgekommen. Der Kampf schloß also für uns mit einem 100 %igen Siege (in diesem Fall paßt dieses Modewort wirklich einmal), und dieser Sieg war fraglos auch ein Segen für die Arbeiterschaft. Denn während fast alle anderen Firmen in den folgenden Jahren immer mehr Leute entlassen mußten und zunehmend auf den Hund kamen, konnten wir unsere nunmehrige Arbeiterschaft von ca. 2.800 Mann in Bielau durch die ganze Krise durch halten, wobei die abbröckelnden Leute fast ganz durch die reichlich eingestellten Jugendlichen ersetzt wurden. Mit diesen 2.800 Arbeitern leisteten wir nicht viel weniger wie vorher mit 3.700. Zunächst einmal begab ich mich mit Exner, Werner und Ahr in den damals neuen Raiffeisen-Keller im Rathaus, welches mir ein den Beteiligten angemessenes Lokal schien, und feierte ein solennes Fest. Ich hatte, abgesehen von der
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ungeheuren Erleichterung, noch das fröhliche Gefühl, daß alle drei ihr bestes hergebeben [sic] hatten und über den Erfolg genau so begeistert waren wie ich. | Was Dr. Meißner bei diesem Kampf für unsere Firma geleistet hat, läßt sich 91 mit Worten kaum ausdrücken. Schlagend war der Erfolg der ganzen Reorganisation. Ich finde darüber eine Aufstellung vom 3.10.1930, in der ich nach dem Einnahme- und Ausgabebuch die Kosten des 1. Vierteljahres 28 mit dem 2. Vierteljahr 30 vergleiche. Dabei sind die Unkosten proportional zum Umsatz als nicht zum Betrieb gehörig ausgeschaltet. Es ist ein Ausgleich bezüglich der tariflich erhöhten Löhne und Gehälter gemacht und auch sonst einige Zufälligkeiten ausgeschaltet. Es ergibt sich dabei, daß wir im 2. Quartal 30 1.056.000 Mark weniger Unkosten gehabt hatten als im 1. 1928. Multipliziert man diese Zahl mit 4, so ergibt sich eine Jahresersparnis von 4.264.000 Mark, welche sich im wesentlichen auf folgende Posten verteilen: Löhne Gehälter Kohle, Strom Kapitalbeschaffung
.. RM . ʺ . ʺ . ʺ .. RM
Was die Leistung anbetrifft, so ist die Schußleistung im 2. Quartal 30 15 % höher als im 1. Quartal 28 (allerdings bei etwas verändertem Wert des Schusses, da weniger Inlet und mehr Rohware gemacht wird). Die Webstuhlstunden sind um 5 % niedriger, was aber durch die Nutzeffektsteigerung überkompensiert wird. Die Spinnerei hat mit ihren Spindelstunden das 1. Quartal 28 etwas überschritten. Lediglich die Ausrüstungsabteilung hat metermäßig etwa 15 – 20 % weniger gemacht, dem aber eine Mehrleistung in Grünau und Frankenberg gegenübersteht. Alles in allem ist die Leistung im 2. Quartal bestimmt keine 10 % geringer als im 1. Quartal 28. Natürlich lassen sich bei der überschläglichen Rechnung nicht alle Zufälligkeiten ausscheiden, aber man kann wohl sagen, daß uns bei gleicher Leistung die gesamte Umstellung von Betrieb, Vertrieb und Verwaltung mindestens eine Einsparung von 2 Mill. Mark gebracht hat. Wir haben sie bei der sich weiter verschlimmernden Wirtschaftslage bitter nötig gehabt. Es ist überhaupt nicht abzusehen, was geschehen wäre, wenn wir in die eigentlichen Jahre der Wirtschaftskrise, 1930 – 1932, mit den alten Unkosten eingetreten wären. |
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Politik 1928 bis zum Ende der schwarz-rot-goldenen Republik. Im Juni 1928 war das Kabinett Hermann Müller ans Ruder gekommen (s. Seite 20), in einem Augenblick, als noch alles erfüllt war von dem Wirtschaftsaufstieg und erst einige klar denkende Menschen die Krisenanzeichen sahen. Die erste Schwierigkeit für das Kabinett ergab sich daraus, daß 1928 nach dem Dawes-Plan das erste „Normaljahr“ war, in welchem 2.5 Milliarden Reparationen bezahlt werden sollten. Das Kabinett Müller suchte vergeblich nach einer Möglichkeit zu „erfüllen“, denn auch das Reparationszahlen mit Hilfe von Auslandsanleihen wurde immer schwieriger, zumal die Gemeinden ihre schönen Dollaranleihen zu unproduktiven Anlagen verbuttert hatten. Aus den Produktionskrediten waren Konsumkredite geworden. Auf dem Gebiete der Reparationen war also irgend eine Entlastung bitter nötig. So trat im Jahre 29 wieder einmal in Paris eine Sachverständigen-Kommission zusammen, bei welcher der Amerikaner Young¹¹⁰, nicht als Vertreter der USA-Regierung sondern als Privatsachverständiger, eine ausschlaggebende Rolle spielte. Die deutschen Sachverständigen wurden diesmal bemerkenswerter Weise ausschließlich aus Wirtschaftskreisen gestellt: Reichsbankpräsident Schacht, Albert Vögler¹¹¹, Melchior¹¹² (Warburg) und Kastl¹¹³ (Reichsverband der deutschen Industrie). Es wurde nunmehr der sogenannte Young-Plan aufgestellt, der, auf sachlicher Grundlage aufgebaut, zunächst einige Erleichterungen brachte, die Gesamtsumme der Reparationen nunmehr endgültig festsetzte und sie vollständig kommerzialisierte. Der Young-Plan gab Deutschland seine volle finanzielle Souveränität wieder. Darüber hinaus gewährleistete er die Räumung der dritten Rheinland-Zone, d. h. die Beendigung der Feindbesetzung. Vögler ließ sich von all dem nicht blenden, sondern erklärte die Belastung für
Owen D. Young (1874– 1962), Diplomat, Rechtsanwalt und Manager. U. a. 1924 Mitglied des Sachverständigenauschusses zur Neuregelung der Reparationsschulden und 1929 Leiter der Reparationskonferenz von Paris. Namensgeber des dort ausgehandelten Reparationsplanes. Albert Vögler (1877– 1945), führender deutscher Großindustrieller und Politiker. U. a. zwischen 1926 – 1936 Vorstands- und Aufsichtsratvorsitzender der von ihm mitbegründeten Vereinigten Stahlwerke AG Düsseldorf. 1929 gehörte er zur deutschen Delegation bei der ReparationsSachverständigenkonferenz in Paris. 1945 beging Vögler Selbstmord. Carl Melchior (1871– 1933), Jurist, Bankier und Politiker und wurde u. a. 1925 als deutsches Mitglied in den Finanzausschuss des Völkerbundes gewählt. Seit 1930 war er zudem stellvertretender Vorsitzender des Verwaltungsrats der Internationalen Bank für Zahlungsausgleich in Basel. Ludwig Kastl (1878 – 1969), Beamter und Wirtschaftsfachmann, u. a. zwischen 1925 – 1933 geschäftsführendes Präsidialmitglied beim Reichsverband der Deutschen Industrie und zwischen 1929 – 1932 Mitglied bei der Mandatskommission des Völkerbundes.
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völlig untragbar und schied aus, während die anderen Sachverständigen schließlich im späten Frühjahr unterschrieben. Daß der Realist Schacht an die Erfüllbarkeit des Young-Planes geglaubt haben sollte, erscheint völlig ausgeschlossen. Trotzdem hielt auch er im Augenblick die Unterschrift offenbar für eine unumgängliche Notwendigkeit. Nun ging einerseits der politische Kuhhandel der Regierungen um den Young-Plan los, der vorläufig ja nur ein SachverständigenGutachten war, andererseits machten die Rechtsparteien, die in der erfreulichen Lage waren, parlamentarisch keine Verantwortung tragen zu müssen, begeistert 93 Stimmung gegen den Plan. Das war ihre Pflicht, denn das Volk | mußte ja über die Untragbarkeit der Lasten aufgeklärt und auf schamlose Ausplünderung Deutschlands durch die Mächte des Versailler Vertrages immer wieder hingewiesen werden. Auch der von Hugenberg¹¹⁴ unter Beteiligung von Hitler¹¹⁵, dem Stahlhelm und dem Landbund zusammengebrachte „Ausschuß für ein Volksbegehren gegen die Versklavung Deutschlands“ (Freiheitsgesetz) lag an sich propagandistisch richtig, wenn es jeden Minister mit Zuchthaus wegen Landesverrats bedrohte, der seine Hand zu Belastungen gab, die auf der Kriegsschuldlüge, von der sich Hindenburg ja feierlich losgesagt hatte, aufgebaut waren. Nur die Form eines Volksentscheides gegen den Young-Plan war offensichtlich falsch, denn für jeden Menschen mit einigem Gefühl für die Volksstimmung mußte es von vornherein klar sein, daß dieser Volksentscheid jämmerlich zusammenbrechen und damit dem Ausland eine willkommene Waffe in die Hand geben würde, daß das deutsche Volk ja offenbar gar nicht an der Erfüllbarkeit zweifelt. Das konnte den Nationalsozialisten schließlich gleich sein, weil sie ja doch auf einen revolutionären Umsturz aller politischen Verhältnisse hinarbeiteten. Für die Deutschnationalen war aber dieses Volksbegehren von vornherein Selbstmord. Deswegen lehnten wir unseren Beitritt zu dem Ausschuß auch ab mit der klaren Begründung, daß wir durchaus gegen den Young-Plan seien, ein Volksbegehren im Augenblick aber unmöglich sei, da der voraussehbare negative Ausgang eine Katastrophe für Deutschland bedeuten würde. Tatsächlich brachte das Volksbegehren mit 10.2 % der Stimmen die nötige Stimmenzahl für den Volksentscheid, dieser selbst führte aber am 22.12.29 zu dem erschütternden Ergebnis von nur 13 % Ja-Stimmen. Theoretisch waren also 87 %
Alfred Hugenberg (1865 – 1951), Montan-, Rüstungs- und Medienunternehmer, der im Pressebereich Zeitungen, Zeitschriften und Nachrichtenagenturen ebenso wie Unternehmen der damals noch jungen Filmbranche besaß. Zwischen 1928 – 1933 war Hugenberg Parteivorsitzender der DNVP, 1933 kurzzeitig Reichswirtschaftsminister. Adolf Hitler (1889 – 1945), Vorsitzender, Neugründer und Führer der NSDAP, Reichskanzler und ab 1934 als „Führer und Reichskanzler“ Deutschlands Regierungs- und Staatschef und Oberster Befehlshaber der Wehrmacht.
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des deutschen Volkes dem Augenschein nach für den Young-Plan. Frankreich hatte genau das, was es brauchte. Das Kabinett Müller allerdings war in einer unvorstellbaren Situation. Am 12.3.30 mußte es wohl oder übel den Young-Plan annehmen. Da Schacht in gerissener Taktik 5 Tage vorher unter Protest gegen den „seit seiner Unterschrift völlig veränderten“ Young-Plan seinen Rücktritt erklärt hatte (Nachfolger Luther), ruhte alles Odium auf der derzeitigen Regierung, zumal die Sozialdemokraten aus Opposition gegen das Volksbegehren sich so weit hatten drängen lassen, den unerfüllbaren Young-Plan auch noch anzupreisen. In ihrer Geistesverwirrung ging sie sogar so weit, die beamteten Ja-Sager beim Volksbegehren zu maßregeln, ein Bruch der Verfassung, den sich gerade die Mehrheitssozialisten | nicht leisten 94 konnten. Die Mehrheitssozialisten hatten sich durch ihr Verhalten in der YoungPlan-Angelegenheit endgültig das Grab gegraben; die Regierung Müller war überreif zum Sturz. Der Anlaß hierzu bot sich bald. Hindenburg hatte seine Zustimmung zum Young-Plan nur gegeben unter der ausdrücklichen Bedingung, daß die allerersten Vorbedingungen für seine Erfüllung, nämlich eine Ordnung der Staatsfinanzen, nunmehr mit Nachdruck betrieben werden würde. Dieser Aufgabe, die nur auf dem Wege schwerer Belastungen des ganzen Volkes durchzuführen war, entzog sich das Kabinett Müller und dankte am 27.3.30 ab. Nun ergriff Hindenburg ganz persönlich die Initiative. Er übertrug die Regierungsbildung einem Manne, der zwar Vorsitzender der Reichstagsfraktion des Zentrums, aber dennoch kein Parteimann im eigentlichen Sinne war: Brüning¹¹⁶! Zu diesem alten Frontsoldaten glaubte Hindenburg besonderes Vertrauen haben zu können. Als nämlich im November 18 die in die Heimat zurückflutende Armee der dort in der Durchführung begriffenen Revolution mit einer gewissen Ratlosigkeit gegenüberstand, hatte sich der Oberleutnant der Reserve Brüning erboten, mit den Resten des von ihm geführten Bataillons die Revolution in Köln ganz auf eigene Faust niederzuschlagen, eine Tat, die leider im letzten Augenblick von einer unschlüssigen übergeordneten Stelle verhindert worden war. Brüning war als Idealist aus der christlichen Arbeiterbewegung hervorgegangen, ohne vom parlamentarischen Kuhhandel im Innersten angekränkelt zu sein. Er war eine heldisch-asketische Natur, belastet allerdings mit einem übergroßen Verantwortungsbewußtsein, das ihn unbeweglich und starrmachte [sic]. Seine von tiefem Ernst getragene Liebe zu Volk und Vaterland kann wohl kaum bezweifelt werden.
Heinrich Brüning (1885 – 1970), Reichskanzler der Jahre 1930 – 1932 und führender Politiker der katholischen Zentrumspartei. Seit 1934 lebte Brüning in den USA im Exil.
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Der „eigenartige Vertrag“ (Ausdruck aus einer deutschnationalen Broschüre), den Hindenburg mit Brüning gemacht hatte, bestand augenscheinlich darin, daß B. sich zu einer nationalen und wirtschaftlich soliden Politik mit Anlehnung nach rechts verpflichtete, wogegen H. ihm seine, durch die Verfassung garantierte, Macht zu Notverordnungen zur Verfügung stellte. B. bildete nun eine bürgerliche Regierung ohne Sozialdemokratie. Da Hugenberg nicht „auf den Leim“ der Beteiligung an einer Regierung der Mitte kriechen wollte, zog B. nicht parteigebundene rechtsstehende Leute wie Treviranus¹¹⁷ (volkskonservativ) und Schiele¹¹⁸ (Landbund) zu. Bezeichnend ist, daß er im 95 Oktober 31 (sogenannte 2. Kabinett Brüning) | sogar den linken Zentrumsflügel (Wirth¹¹⁹) abhängte und einen stramm rechts gerichteten Mann wie SchlangeSchöningen¹²⁰ (Landvolk) als Ostkommissar aufnahm. Die Brüning’sche Politik der Notverordnungen ist noch in unser aller Erinnerung. Der deflationistische Kurs seiner Politik entspricht seinem schweren Temperament: Solidität, Sparen! Er, selbst wie gesagt der Arbeiterbewegung entsprossen, scheut sich nicht vor den unpopulärsten Maßnahmen. So beginnt er gleich damit, die Krankenscheingebühren einzuführen, um damit das Krankfeiern zu erschweren. Er senkt die Beamtengehälter um 9 %, die Löhne um 10 % bezw. 15 %, er baut die Preise der Markenartikel um 10 % ab, er führt neue belastende Steuern ein, beschneidet die Kommunen in ihren Ausgaben und anderes mehr. Die beiden schlesischen Lohnermäßigungen vom 1.4.31 um 6 % auf 56,4 Pfg. und vom 1.1.32 um 15 % auf 47,9 Pfg. sind Ausdruck seines Systems. Andere Notverordnungen wieder wenden sich gegen den Straßenterror. Ob diese Maßnahmen im einzelnen alle glücklich waren, bleibe dahingestellt. Ich glaube aber, daß der Asket Brüning innenpolitisch der Mann für die Notzeit
Gottfried Treviranus (1891– 1971), Politiker, Reichsminister und Publizist. U. a. ab 1924 Mitglied im Reichstag für die Deutschnationale Volkspartei (DNVP), 1929 Parteiaustritt. 1930 Gründer der Volkskonservativen Vereinigung, Reichsminister für die besetzten Gebiete und später Reichskommissar für die Osthilfe (1930/1931) und Reichsverkehrsminister. Martin Schiele (1870 – 1939), Agrarpolitiker und Landwirt, Mitbegründer der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), 1925 Innenminister und 1927– 1928 sowie 1930 – 1932 Leiter des Reichsministeriums für Ernährung und Landwirtschaft. 1928 Präsident des Reichslandbundes. Joseph Wirth (1879 – 1956), badischer Zentrumspolitiker und Reichskanzler (1921– 1922). Wirth war zudem Reichsfinanzminister (1920 – 1921), Reichsminister für die besetzten Gebiete (1929 – 1930) und Reichsinnenminister (1930 – 1931). Hans Schlange-Schöningen (1886 – 1960), Agrarpolitiker und Diplomat, Mitglied im preußischen Landtag und des Reichstages. Nach heftigen Auseinandersetzungen Austritt aus der Deutschnationalen Volkspartei und Mitgründung der Christlich-Nationalen Landvolk- und Bauernpartei. 1931– 1932 war er Reichsminister ohne Geschäftsbereich und im Herbst 1931 Reichskommissar für die Osthilfe im Kabinett Brüning.
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war, den wir damals nötig hatten. Über die Deflation will ich nicht theoretisieren. Den Aufstieg wird sie wohl nicht bringen können, aber sie kann ihn fraglos vorbereiten. Die Senkung des Lebenshaltungsindex von ca. 150 % auf 120 % war jedenfalls eine geeignete Grundlage für das spätere Festhalten der Löhne in den Jahren der Wirtschaftsbelebung. Brüning war nicht der Mann, ein Volk zu einer neuen Zeit hochzureißen, aber um ihm den Ernst klarzumachen. Dies war die wirtschaftliche Seite von Brünings Politik. Die eigentlich innenpolitische Situation der damaligen Zeit kann man nicht würdigen, ohne sich mit Brünings Gegenspieler Hugenberg beschäftigt zu haben. Im Jahre 1927 hatte sich, wie gesagt, die Deutschnationale Volkspartei während ihrer Beteiligung an der Regierung recht weit in den Kuhhandelsbetrieb des Weimarer Systems hineinziehen lassen. Als dann bei den Wahlen vom 20. Mai 28 die Deutschnationalen von 103 auf 73 Sitze zurückgingen, während die Deutsche Volkspartei sich wesentlich besser gehalten hatte, machte sich wohl eine gewisse Katzenjammerstimmung breit und, wie so oft, erscholl der Ruf nach einem starken Manne. Im Herbst 28 wurde Hugenberg Parteivorsitzender. H., Industrieller | und 96 Vorsitzender der Fachgruppe Bergbau im Reichsverbande der deutschen Industrie, war der Typ des draufgängerischen Unternehmers mit handfesten wirtschaftlichen Anschauungen. Die deutsche Erde lag ihm näher als der internationale Welthandel. Sein Wirtschaftsprogramm war weitgehende Autarkie mit Schutzzöllen oder noch besser Einfuhrverboten. Ihm als starker Persönlichkeit lag das parlamentarische Kompromiß nicht; auch als Parteivorsitzender war er nicht für Beratungen und Abstimmungen, sondern verlangte als Parteidiktator persönliche Gefolgschaft. Unter diesen Umständen war es kein Wunder, daß die Parteien der Mitte ihm von Grund auf unsympathisch waren, wogegen er von der Zukunft der Nationalsozialisten tief durchdrungen war und sich ihren Methoden in vieler Hinsicht näherte. Sein offen ausgesprochenes Ziel war, möglichst bald mit den Nationalsozialisten zusammen eine absolute Rechtsmehrheit zu bekommen, deren Zusammensetzung er sich etwa aus 200 Nationalsozialisten und 100 Deutschnationalen dachte. Damit hoffte er in eine kontrollierende Schlüsselstellung zu kommen. Unter diesen Umständen war sein taktisches Handeln begreiflicherweise in erster Linie von zwei Gesichtspunkten bestimmt: 1. war er bestrebt, eine Annäherung Hitlers an eine andere Partei zu verhindern, 2. glaubte er sich so radikal gebärden zu müssen, daß die „stets revolutionär eingestellte Jugend“ ihm nicht zu Hitler davonliefe. Letzteres war an sich richtig gesehen, er vergaß aber dabei, daß das Gros seiner Wähler nun einmal konservativ und nicht revolutionär war und daß andererseits dieser naturnotwendigerweise konservativen Partei jener unbeschwerte Schwung fehlte, welcher die revolutionäre Jugend mitreißt. So mußte er sich von vornherein notwendigerweise zwischen zwei Stühle setzen: Das Verhältnis war schließlich nicht 200 zu 100 sondern 230 zu 37.
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In diesem Maße darf sich ein Politiker nicht in der Abschätzung der Möglichkeiten täuschen. Es fehlte Hugenberg offensichtlich in einem für solch einen alten Praktiker erstaunlichen Umfange das Augenmaß für die Stimmung der Massen. Sonst hätte er auch den oben besprochenen Volksentscheid gegen den YoungPlan, als dessen Vater er sich selbst nachdrücklich bezeichnet, nicht starten können, um anstatt einer Mehrheit nur 13 % der Stimmen zu erhalten. Das gleiche gilt später von der Aufstellung Duesterbergs¹²¹ als Kandidat für die Reichspräsidentenwahl. Das Volksbegehren und seine grundsätzliche Opposition gegen die Mitte 97 brachte ihm zunächst einmal die Absplitterung des Christlich sozialen | Volksdienstes (Treviranus), dem bald auch der frühere Parteivorsitzende Graf Westarp¹²² folgte, um sich mit Treviranus zur Volkskonservativen Partei zusammenzuschließen. So verlor Hugenberg allein hier 14 Mandate = 25 % seines Bestandes. Die Wahlen vom 14.9.30 – um dies vorauszunehmen – brachten eine Verachtfachung der nationalsozialistischen Sitze von 12 auf 107 und fast eine Halbierung der deutschnationalen von 73 auf 41. Nach der Zusammensetzung des alten Reichstages konnte Brüning parlamentarisch, d. h. ohne die an sich unerwünschte Form der Notverordnungen des Reichspräsidenten überhaupt nur regieren, solange die „Bewährungsfrist“ sich positiv auswirkte, die Hugenberg ihm zunächst zubilligte. Das dauerte aber keine drei Monate, denn als die Sozialdemokraten und Kommunisten sich gegen die auf Brünings Vorschlag von Hindenburg erlassenen drückenden Notverordnungen wandten, stimmten nicht nur die Nationalsozialisten in ihrer Eigenschaft als radikale Oppositionspartei, sondern auch die Deutschnationalen mit den Roten, so daß der Reichstag aufgelöst werden mußte. Daß die Deutschnationalen sich mit dieser Frontstellung gegen Hindenburg bei ihren Wählern beliebt machen würden, war eigentlich eine recht naive Annahme. Das Wahlergebnis war die Antwort. Wenn Hugenberg darauf spekulierte, daß er sich den Nationalsozialisten als unumgänglicher Bundesgenosse würde an die Seite stellen können, so stieß der Rückgang der Mandate von 73 auf 41 bereits ein empfindliches Loch in diese Berechnung. Die Bündnisfähigkeit der Deutschnationalen Partei war entscheidend herabgesetzt, was sich im Herbst bei Bildung der Harzburger Front sehr schnell peinlich herausstellte.
Theodor Duesterberg (1875 – 1950), Zweiter Bundesführer des deutschnationalen Frontkämpferbundes Stahlhelm und Kandidat der Deutschnationalen Volkspartei bei den Reichspräsidentenwahlen 1932. Kuno Graf von Westarp (1864– 1945), Politiker, Jurist und Publizist, u. a. Fraktions- und Parteivorsitzender der Deutschnationale Volkspartei (DNVP). 1930 erfolgte der Parteiaustritt und er wurde Mitgründer der Konservativen Volkspartei.
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Der neue Reichstag hätte an sich gerade noch eine parlamentarische RechtsMitte-Regierung ermöglicht, denn die Parteien rechts von den Demokraten hatten die knappe Mehrheit. Diese Mehrheit stellte sich aber keineswegs hinter Brüning, so daß dieser auch im neuen Reichstag wieder auf die Sozialdemokraten angewiesen war, sofern er überhaupt parlamentarisch regieren wollte. Von der Sozialdemokratie wurde er toleriert, weil diese ihre Felle in jeder Hinsicht davonschwimmen sah und dem plötzlich gewaltig anschwellenden Nationalsozialismus in völliger Ratlosigkeit gegenüberstand. Diese wohlwollende Neutralität der Sozialdemokratie war aber nur zu erkaufen durch Beibehaltung des Bündnisses zwischen Zentrum und Sozialdemokraten im Preußischen Landtag, ein Bündnis, das gar nicht einmal nur eine mittelbare Folge der Hugenberg’schen Politik war, sondern eine bewußt gewollte. | Hugenberg wollte nämlich die Mitte, insonderheit das Zentrum, „auf die 98 Sozialdemokratie drücken“ und es „in seinem eigenen Fett schmoren lassen“. Man glaubte auf diese Weise das Zentrum unmöglich machen zu können und schimpfte dann, daß Brüning Anlehnung nach links suchte. Der gleichen Absicht entsprang auch die Sezession aus dem Reichstag. Als Anfang 31 die Nationalsozialisten den Reichstag verließen, um ihre Scheidung vom Parlamentarismus endgültig und folgerichtig zu dokumentieren, machte Hugenberg diesen Exodus mit, ohne zu überlegen, ob dieser revolutionäre Radikalismus seiner Partei gut zu Gesichte stand. Im Sommer 31 kam Hitler und Hugenberg zusammen, um dann im Herbst auf einer Tagung in Harzburg mit den vereinigten vaterländischen Verbänden (Stahlhelm, Kyffhäuserbund usw.) unter Beteiligung von Schacht sich zu der Beseitigung der Regierung Brüning zusammenzuschließen. Bemerkenswerter Weise schloß sich sogar die Deutsche Volkspartei dieser Opposition an, wohl in dem Empfinden, sie dürfe den Anschluß nicht verpassen. Ich sehe hierin schon eine gewisse Auflösungserscheinung bei den bürgerlichen Parteien. Daß die Harzburger Front in dieser Form ein Fehlschlag war, gibt Hugenberg selbst zu, indem er sagt, daß eine Ausmünzung dieser Tagung leider nicht erfolgt sei, sondern daß die Nationalsozialisten sich unmittelbar hinterher überhaupt nicht mehr um ihren neuen Bundesgenossen gekümmert hätten. Frick¹²³ habe schon in Harzburg Journalisten gegenüber von einem unangenehmen Mischmasch ge-
Wilhelm Frick (1877– 1946), Beamter und NSDAP-Politiker. In den 1920er Jahren war Frick u. a. Leiter der Münchener Kriminalpolizei sowie Reichstagsabgeordneter und Fraktionsvorsitzender der NSDAP. 1930 übernahm er, als erster nationalsozialistischer Minister einer Landesregierung, das Amt des Innen- und Volksbildungsministers in Thüringen. Zwischen 1933 – 1943 Reichsinnenminister sowie seit 1939 Generalbevollmächtigter für die Reichsverwaltung.
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sprochen. Später habe Hitler sich sogar nicht gescheut, ohne Befragung Hugenbergs mit den Mittelparteien Fühlung zu nehmen! Dies bezieht sich, wenn nicht schon früher eine Fühlungnahme zwischen Hitler und Brüning stattgefunden hat, zweifellos auf die Reichspräsidentenfrage. Im Mai 1932 sollte nämlich Hindenburgs Amtszeit ablaufen. Brüning wollte alle Verwirrung vermeiden und von der verfassungsmäßigen Möglichkeit Gebrauch machen, die Amtsperiode durch den Reichstag verlängern zu lassen. Zu diesem Zweck suchte er mit Hitler Fühlung, der zunächst keineswegs abgeneigt schien, sich mit Brüning über eine nationale Regierung zu verständigen. Eine Schwierigkeit scheint gewesen zu sein, daß Hitler auf die Reichstagsauflösung drang, was Brüning wegen der damit verbundenen Beunruhigung scheute. | 99 Daß Hitler und Brüning sich vielleicht hätten einigen können – mehr will ich gar nicht behaupten – ist ein Gedanke von so ungeheurer Tragweite, daß wir einen Augenblick bei ihm verweilen müssen. Die damals hier und da geäußerte Meinung, daß Hitler sich zu Brüning hingezogen fühle, hat zu viel für sich, als daß man sie ohne weiteres abtun könnte. Beides Frontsoldaten, beides persönlich Asketen, beide aus dem Volke und voller Hingabe für Volk und Vaterland, beide von einer gewissen Mystik durchgeistigt. Es ist kindisch, zu orakeln, ob eine derartige Zusammenarbeit möglich gewesen wäre und wie sie sich ausgewirkt hätte. Immerhin ist es reizvoll, sich einmal die Möglichkeiten auszumalen, die ein Anschluß des katholischen Gewerkschaftsmannes Brüning und des evangelischen Preußen Hugenberg an den Führer und Repräsentanten der Zukunft, Adolf Hitler, mit sich gebracht hätte. Ob Hitler unter Umständen gewollt hätte, weiß niemand, vielleicht nicht einmal er selbst. Daß Hugenberg nicht wollte, hat er unmißverständlich ausgesprochen. So wie er war, konnte er das auch nicht wollen. Ein Zusammenarbeiten der Nationalsozialisten mit dem Zentrum, dem er sich natürlich nicht hätte entziehen können, konnte Hugenbergs Gesamtplan, demzufolge es ohne die Deutschnationalen nicht gehen sollte, nur allzu leicht zum Scheitern bringen (tatsächlich hätten auch die Wahlen vom 31.7.32 den Nationalsozialisten, dem Zentrum und der Bayerischen Volkspartei mit 317 Mandaten die absolute Mehrheit auch ohne die Deutschnationalen gegeben). Hugenberg legte sich also quer und schließlich scheiterte die Amtsverlängerung der Reichspräsidentschaft durch den Reichstag. Nun folgte eine erschütternde Tragikomödie, in deren Verlauf sich die bürgerliche Rechte selbst das Grab grub und damit das unwiderrufliche Ende des zweiten deutsch-preußischen Reiches, das seit 18 nur in einem Dornröschenschlaf zu liegen schien, einläutete. Da die Amtsverlängerung durch den Reichstag gescheitert war, wurde die Volkswahl ausgeschrieben. Nun bot sich Brüning eine wohl ihm selbst uner-
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wartete Gelegenheit. Daß das Zentrum sich hinter Hindenburg stellen mußte, verstand sich von selbst, da die Regierung Brüning alle ihre Möglichkeiten nur in der Person Hindenburgs sehen konnte. Die Sozialdemokraten hätten durch einen sozialdemokratischen Gegenkandidaten in diesem Augenblick ihre Schwäche nicht nur | enthüllt, sondern sie sozusagen in übertriebener Weise in Erscheinung 100 treten lassen. Es gab eine Parole für Hitler: Umsturz nach rechts, eine für Thälmann: Umsturz nach links, eine für Hindenburg: Rückkehr zur alten nationalen Wehrkraft, aber bestimmt keine für eine Partei, die sich in der Weimarer Koalition zum Träger dieses neuen Staates gemacht hatte, der jetzt so jämmerlich versagte. Die echten Marxisten hätten Thälmann gewählt, die bürgerlichen Mitläufer Hindenburg, so daß eigentlich für einen mehrheitssozialistischen Kandidaten nur die eingeschriebenen Parteimitglieder übrig geblieben wären. Unter diesen Umständen verfielen die Sozialdemokraten auf einen genialen Trick: sie stellten sich hinter Hindenburg. Sie waren sich klar bewußt, in welch unabsehbare Verwirrung sie die gesamte Rechte durch eine marxistisch unterstützte Kandidatur Hindenburgs stürzen würden. Was sollte nun Brüning tun? Nach dem vergeblichen Anschlußversuch nach rechts ergriff er die von links gebotene Hand und unvermutet wurde Hindenburg von sämtlichen Mittelparteien und den Sozialdemokraten als Kandidat aufgestellt. Ob man Brüning aus diesem Eingehen auf den sozialdemokratischen Trick einen Vorwurf machen soll, ist schwer zu sagen. Hätte es überhaupt einen Erfolg gehabt, den Rechtsparteien einen Wink zu geben, damit sie sich rechtzeitig anschließen könnten? Die Situation war nun für diese höchst fatal. Trotzdem hätte man immer noch etwa die folgende Formel finden können: Selbst die Marxisten sehen ein, daß es nicht so weiter geht! Das deutsche Volk wählt geschlossen Hindenburg als Ausdruck seines Lebenswillens. Für Hitler mochte eine derartige Parole innenpolitisch seine Schwierigkeiten haben. Es lag nahe, daß seine ungeduldigen Leute nunmehr endlich eine Kandidatur Hitler verlangten, anstatt mit den Marxisten zusammen Hindenburg zu wählen. Für die Deutschnationalen gab es, wenn überhaupt, nur die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten: entweder konnte sich Hugenberg der Kandidatur Hitler anschließen, was bei seiner Ablehnung jeden Anschlusses an die Mitte eine gewisse Folgerichtigkeit gehabt hätte. Aber Hitler gegen Hindenburg? Das konnte der Stahlhelm nicht mitmachen. Das hätte wohl überhaupt eine neue Spaltung unter den Deutschnationalen hervorgerufen. Also blieb nur die zweite Möglichkeit: Hindenburg. Selbst wenn die Nationalsozialisten ihre eigenen Wege gingen, war das immer noch besser als das Verlegenheitsmittel, das nunmehr Hugenberg ergriff. Er stellte mit dem Stahlhelm den 2. Stahlhelmführer Duesterberg als Zählkandidat | für den ersten Wahlgang auf. Das 101 hieß meiner Empfindung nach freiwillig Harakiri machen und das Kräftebild zu eigenen Ungunsten umfälschen. Da natürlich ein großer Teil der deutschnatio-
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nalen Wähler Hindenburg wählen würde, mußte die deutschnationale Volkspartei noch viel kümmerlicher erscheinen als sie wirklich war. Oder hat Hugenberg wirklich geglaubt, eine imposante Stimmenzahl auf Duesterberg vereinigen zu können? Etwa im Sinne seiner Parole 1 zu 2 gegenüber den Nationalsozialisten? Es scheint beinahe so, denn nur so ist diese Maßnahme überhaupt zu erklären. Stegemann¹²⁴ bezeichnete dieses völlige Fehlen des Augenmaßes für die Volksstimmung als den „tragischen Irrtum dieses charaktervollen Mannes“. Mir persönlich war diese Tollheit zu viel. Ich trat dem vom Fürsten Hatzfeldt¹²⁵ ins Leben gerufenen Hindenburgausschuß zur Propagierung von dessen Wahl bei, was meinen nunmehrigen Austritt aus der Deutschnationalen Partei zwangsläufig zur Folge hatte. Ich hatte das bisher immer wieder verschoben, um nicht den völlig mißverständlichen Eindruck eines Abmarsches nach links zu machen. Der Ausfall der Reichspräsidentenwahl hat unserer aller Befürchtungen nur allzu recht gegeben. Es ergab sich folgendes Bild:
Hindenburg Hitler Thälmann Duesterberg
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Der deutschnationale Kandidat hatte also die Hälfte so viel Stimmen bekommen wie der kommunistische, während bei der ersten Hindenburgwahl umgekehrt Jarres über 10 Mill. hatte, Thälmann keine zwei. Beim 2. Wahlgang wurde die Kandidatur Duesterbergs zurückgezogen und die Hugenberg-Leute wählten Hindenburg oder Hitler, wenn sie nicht resigniert zuhause blieben. Das nationale Bürgertum war durch diesen Wahlgang mit verkehrten Fronten völlig verwirrt und hatte jeden Kristallisationspunkt verloren.Vorgreifend möchte ich erwähnen, daß man bei der letzten Reichstagswahl immer wieder die ratlose Frage hörte: wie kann man Papen wählen? Tief bedauerlich war vor allem, daß der Stahlhelm und die Deutschnationalen in scharfen Gegensatz zum Nationalsozialismus getreten 102 waren und sich im | Wahlkampf zunehmend mit Dreck beschmissen hatten. Rückschauend kann man sagen: durch die Reichspräsidentenwahl hat sich die N.e. Hermann Fürst von Hatzfeldt (1848 – 1933), Herzog zu Trachenberg, General, Oberpräsident, war u. a. zwischen 1894– 1903 Oberpräsident von Schlesien, zwischen 1919 – 1921 Bevollmächtigter der Reichsregierung für die Abstimmung in Oberschlesien sowie bis 1930 Mitarbeiter der Provinzialverwaltung.
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bürgerliche Rechte von der politischen Neugestaltung der deutschen Zukunft endgültig ausgeschlossen. Wie hatten sich nun die Verhältnisse inzwischen im Inneren und außenpolitisch gestaltet? Alle Notverordnungen hatten den wirtschaftlichen Verfall nicht aufhalten können. Sie hatten wohl zum Ausschwitzen von Krankheitsstoffen geführt, konnten aber den Aufstieg nur vorbereiten, nicht ihn einleiten. Im Sommer 1931 hatte der Skandal der Nordwolle bedenkliches Aufsehen erregt. Am 13.7. brach die Darmstädter Bank mit Jakob Goldschmidt¹²⁶, der „Primadonna der Bankenwelt“ zusammen. Diese schwere und unstreitig echte Kompromittierung des Privatkapitalismus gab den revolutionären Rechten und Linken den allerbesten Propagandastoff. Der rote Terror stieg, je größer der Zulauf zu den Nationalsozialisten wurde. Jeden Tag konnte der Sturm losbrechen. Die Frage war nur von welcher Seite. Außenpolitisch hatte sich die Locarno-Politik völlig festgefahren. Am 3.10. 1929 war Stresemann gestorben, als gerade noch die Räumung der 2. Zone im Gange war. Die Räumung der dritten war dann im Frühjahr 30 durch die Annahme des Young-Planes erkauft worden. Nach den Zugeständnissen des Young-Planes hatte Deutschland nichts mehr zu bieten, nur noch zu fordern. In Frankreich machte sich eine zunehmende, fast hysterische, Angst vor der nationalen Sammlung in Deutschland geltend, wodurch der Einfluß der Generäle wieder stieg. Die deutsche Ohnmacht erwies sich in ihrer ganzen Trostlosigkeit, als Curtius, der Nachfolger Stresemanns als Außenminister, am 21.3.31 die Zollunion mit Österreich verkündete. Eine Rettung Österreichs aus seinen Wirtschaftsnöten rief interessanterweise die Abwehr bei allen Entente-Staaten wach. Nach Austausch der verschiedensten diplomatischen Noten stellte im September 31 das Haager Schiedsgericht mit 8:7 Stimmen die Zollunion als Verstoß gegen den Versailler Vertrag fest und Deutschland war bedenklich blamiert. Interessant war das Nachspiel zwischen Frankreich und England. Als England nämlich Österreich eine Anleihe gegeben hatte, um Frankreich nicht die völlige Hegemonie im Donauraum zu überlassen, rächte sich Frankreich, indem es, gestützt auf seinen Riesengoldschatz, im Spätsommer 31 durch Zurückziehung von 40 Mill. Pfund England in die schwerste Bedrängnis brachte. Die Folge dieser französischen wirtschaftlichen, oder sagen wir besser finanziellen, Kraftentfaltung war die am | 103 20.9.31 erfolgende Abwertung des Pfundes. Das mündelsichere Geldinstitut der Welt die Bank von England hatte seinen Nymbus, dieses Mal wohl auf alle Zeiten, eingebüßt. England ging nun, unter Aufgabe all seiner Tradition, zur Schutzzoll-
Jacob Goldschmidt (1882– 1955), Bankier und u. a. zwischen 1922– 1931 Inhaber der Darmstädter und Nationalbank KG. 1934 erfolgte die Emigration in die USA.
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Politik über und verstärkte damit weiter die Weltwirtschaftskrise. Diese Entwicklung hatte für Deutschland auch eine positive Seite. Die Industrie aller Welt wandte sich immer stärker gegen die Reparationslieferungen aus Deutschland, die offensichtlich ihren ganzen Bestand bedrohten. Das war auch in Frankreich so, welches sowieso seit dem deutsch-französischen Handelsvertrag von 1927 Deutschland gegenüber eine zunehmend passive Handelsbilanz aufwies (bei dieser Gelegenheit muß am Rande nachdrücklich darauf hingewiesen werden, daß Frankreich und nicht etwa Deutschland in Abwehr gegen diesen Einfuhrüberschuß die Einfuhr-Kontingentierung erfunden und damit den Welthandel weiter schwer geschädigt hat). Die ganze Welt, einschließlich der französischen Wirtschaftskreise wurde reparationsmüde, so daß Brüning Anfang 1932 in Lausanne den ersten erfolgversprechenden Vorstoß gegen die Reparationen machen konnte. Hier standen England, Italien und Deutschland in einer Front und Frankreich war isoliert. Da, wie gesagt, andererseits die eigenen Wirtschaftskreise immer mehr gegen die Reparationen waren, konnte sich Frankreich nur mit einer äußerst geschickten Verschleppungstaktik zunächst einmal retten. Andererseits rächte sich Frankreich nunmehr auf dem Abrüstungsgebiet, indem es Deutschland widerrechtliche Aufrüstung vorwarf, obgleich S.A. und Stahlhelm notorisch unbewaffnet waren. So hatte sich, bis auf die Reparationsfrage, deren Fluß nicht mehr abzudämmen war, außenpolitisch alles wieder festgezogen. Die deutsche Ohnmacht lag zu Tage, die hoffnungsvollen Anfänge von Locarno waren versunken. Innenpolitisch verlagerten sich die Wähler nach den extremen Flügeln auf beiden Seiten. Nationalsozialisten und Kommunisten standen sich sprungbereit gegenüber. Es fehlte nur noch der Funke ins Pulverfaß. Die Erwerbslosenzahlen stiegen weiter. Parteipolitisch hatte Brüning nichts mehr hinter sich. Er konnte sich nur noch auf Hindenburg stützen, hinter dem, abgesehen von seiner persönlichen Autorität, nur noch die Reichswehr stand. Die Lage drängte zu irgend einer Lösung. Hindenburg wurde in zunehmendem Ekel vor dem Parteiengezänk langsam dazu gedrängt, dem Parteiengetriebe ganz den Rücken zu wenden und sich auf 104 andere Kräfte zu stützen. Ein Urlaub in Ostpreußen weckte in ihm | die begreifliche Neigung, sich auf die nationalaristokratischen Kreise zu stützen, denen er selber entstammte. Er wurde auf Papen aufmerksam gemacht, der zwar auch der Zentrumsfraktion angehörte, aber mit der Leitung seit langem in offenem Widerspruch stand. Seinem ganzen Wesen nach war er kein Parteipolitiker. Als
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Gröner¹²⁷ in Verbeugung vor der Linken S.A. und SS verbot, wurde es Hindenburg zu dumm und er gab am 1.6. Papen den Auftrag zur Regierungsbildung. Am 4.6. wurde der Reichstag aufgelöst, am 14.6. das Verbot gegen SA und SS aufgehoben. Die Reichstagswahl ergab ein völlig verändertes Bild. Die Mehrheitssozialisten verloren 10 Sitze an die Kommunisten, welche 12 gewannen. Während die Nationalsozialisten von 107 um 123 auf 230 Sitze stiegen, verloren die bürgerlichen Parteien, Deutschnationale, Deutsche Volkspartei, Demokraten, Wirtschaftspartei, Bauernpartei, Landbund und Landvolk, von ihren 156 Sitzen 98, so daß nur 58 übrig blieben. Bemerkenswert ist, daß das Zentrum als ausgesprochene Partei der Mitte trotzdem den Abmarsch nach den Flügeln nicht zu spüren bekam, sondern mit der Bayerischen Volkspartei sogar noch um 10 Sitze stieg. Auch die Preußenwahlen, auf welche die bürgerliche Rechte so große Hoffnungen gesetzt hatte, konnten ihr nach der Verwirrung der Reichspräsidentenwahl den gewünschten Erfolg nicht bringen. Auch hier hatten die Nationalsozialisten erheblichen Zulauf, und es kam im Landtag zu unerfreulichen Auftritten. Aber der Erfolg war nicht durchschlagend genug, um die schwarz-rote Herrschaft zu brechen. So blieb Hindenburg nichts anderes übrig, als auch hier einzugreifen. Gestützt auf einen wohl nicht ganz klaren Paragraphen der Verfassung setzte er in Preußen am 20.7. eine kommissarische Regierung unter Papen ein, die mit der Mißwirtschaft Preußens gründlich aufräumte. Nebenbei bemerkt wurde Landfried¹²⁸ damals Staatssekretär im preußischen Staatsministerium. Der schlesische Oberpräsident Lüdemann¹²⁹, von dem einmal treffend gesagt worden war, er sei eine Kombination von Nebukadnezar und einem Pariser Damenschneider, wurde durch Graf Degenfeld¹³⁰ ersetzt usw. Außenpolitisch hatte Frankreich mit viel Geschick die Abrüstungskonferenz völlig aufs tote Gleis gebracht, so daß sich Papen mit einer eindrucksvollen Geste, nämlich der Abberufung Nadolnis¹³¹, begnügen mußte. In der Reparationskom-
Wilhelm Groener (1867– 1939), General des Ersten Weltkrieges und Reichsverkehrs-, Reichswehr- und Innenminister während der Weimarer Republik. Friedrich Landfried (1884– 1952), Staatssekretär und Finanzfachmann. War u. a. 1933 Staatssekretär im Preußischen Staatsministerium und zwischen 1933 – 1943 im Preußischen Finanzministerium. Zwischen 1939 – 1943 zugleich Staatssekretär im Reichswirtschaftsministerium. Hermann Lüdemann (1880 – 1959), sozialdemokratischer Politiker, war u. a. preußischer Finanzminister, Regierungspräsident von Lüneburg und zwischen 1928 – 1932 Oberpräsident von Niederschlesien in Breslau. Friedrich Graf von Degenfeld-Schonburg (1878 – 1969), Jurist, war u. a. Landrat des Kreises Reichenbach und zwischen 1932– 1933 kommissarischer Verwalter des Oberpräsidiums Niederschlesien und Oberpräsident. Rudolf Nadolny (1873 – 1953), Diplomat und zwischen 1932– 1933 Leiter der deutschen Delegation der Genfer Abrüstungskonferenz.
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mission dahingegen gelang es ihm, das Schiff in den Hafen zu bringen. Auf den Antrag Deutschlands wurde nach wechselvollen und zum Teil recht dramatischen 105 Verhandlungen das Ende der | Reparationen beschlossen. Daß Deutschland noch einmal eine Restzahlung von 3 Milliarden Mark leisten sollte, war eine begreifliche Gebärde bei diesem Begräbnis und konnte im Vergleich mit dem, was erreicht worden war, keinerlei Rolle spielen. Ich erinnere mich noch der stürmischen Begeisterung, mit der wir die Nachricht vom Ende der Reparationen aufgenommen haben, und man hätte meinen sollen, daß dieses Gefühl der Befreiung das ganze Volk hätte mit Jubel erfüllen sollen. Aber die Parteien hatten anderes zu tun. Die revolutionäre Stimmung war wohl schon zu weit fortgeschritten, als das irgend etwas Positives noch hätte Eindruck machen können. Die Parteien und Organisationen waren mit sich selbst beschäftigt. Nicht nur SA und Rotfront standen sich sprungbereit gegenüber, sondern nach dem Hader der Reichspräsidentenwahl schien die Feindschaft zwischen Nationalsozialisten und Stahlhelm bezw. Deutschnationalen fast ebenso groß. Es bemächtigte sich der bürgerlichen Rechten eine tiefe Mutlosigkeit. Aber auch in der nationalsozialistischen Partei bildete sich eine starke Opposition gegen den Führer, als er am 13.8. den ihm von Hindenburg angebotenen Vizekanzlerposten ablehnte, angeblich bestärkt durch Schacht. Es dämmerte eine neue Richtung auf, die man meiner Erinnerung nach als Schwarze Front bezeichnet hat. Sie war getragen von Gregor Strasser¹³² und dem aus unheimlichem Dunkel langsam hervortretenden politischen General Schleicher¹³³ und suchte Fühlung mit den Gewerkschaften. So machte die Partei unmittelbar vor der Machtergreifung nochmals eine schwere Krise durch. Überhaupt schien alles auf des Messers Schneide zu stehen. Am 1.9. trat der Papen’sche Finanzminister Schwerin-Krosigk¹³⁴ mit seinem wirtschaftlichen Aufbauplan hervor, in dessen Mittelpunkt die Steuergutscheine zwecks Arbeitsbeschaffung standen. Wir haben diesen Gedanken sofort aufgenommen und damit begonnen, wieder Handwerker einzustellen, um unser Reorganisationsprogramm verstärkt aufzunehmen.Wie ich schon in einem Artikel in
Gregor Strasser (1892– 1934), Politiker, Freikorpsangehöriger und Reichsorganisationsleiter der NSDAP. In den Jahren 1924– 1932 Mitglied des Reichstages. Im Zuge des sogenannten RöhmPutschs ermordet. Kurt von Schleicher (1882– 1934), Berufsoffizier und u. a. 1926 Leiter der Wehrmachtsabteilung im Reichswehrministerium, 1929 Chef des Ministeramtes, 1932 Reichswehrminister und zwischen 1932– 1933 Reichskanzler der Weimarer Republik. Im Zuge des sogenannten RöhmPutschs ermordet. Johann Ludwig Graf Schwerin von Krosigk (1887– 1977), Finanzpolitiker, Reichsfinanzminister und Publizist. Er wurde u. a. 1932 Reichsfinanzminister im Kabinett Papen und behielt dieses Amt bis 1945. In der Bundesrepublik schriftstellerisch tätig.
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der Textilzeitung mit der Überschrift „Umkehr“ zum Ausdruck gebracht hatte, hielten wir das Krisentief psychologisch für erreicht und gingen, wenn auch mit Vorsicht, an den Aufbau ran. Gedanklich war der Plan der Regierung Papen im Grunde nichts viel anderes als das spätere Aufbauprogramm des Führers, nur mit bürgerlicher Vorsicht und ohne den mitreißenden revolutionären Schwung. Die Reichstagseröffnung brachte die bekannten turbulenten Szenen. Die nationalsozialistische Partei nahm sofort schroff gegen die Regierung Stellung, und ehe letztere Gelegenheit hatte, den Auflösungsbeschluß, | welchen sie bereits 106 in der bekannten roten Mappe hatte, zu verkünden, brachte sie ein Mißtrauensvotum gegen die Regierung zustande mit 513 gegen 42 Stimmen. Was hinter der Regierung stand waren die jämmerlichen Reste der bürgerlichen Rechtsparteien. Selbstverständlich erfolgte nun sofort die Auflösung. Alles was nicht revolutionär war steckte in tiefer Ratlosigkeit. Das Auftreten der Nationalsozialisten gegen die bürgerlichen nationalen Parteien und den Stahlhelm hatte tief verstimmt, so daß sich prominente Leute, wie der bekannte Gouverneur Schnee¹³⁵, ostentativ von der nationalsozialistischen Partei lossagten. Aber zur Deutschnationalen Partei hatte erst recht niemand Vertrauen, und nur weil man, wie gesagt, nicht „Papen wählen“ konnte, stiegen die Mandate der Deutschnationalen noch einmal von 37 auf 54, die der Deutschen Volkspartei von 7 auf 10, des Landvolkes von 1 auf 5. Die Nationalsozialisten gingen von 230 auf 195 zurück. Die Kommunisten stiegen von 89 auf 100. Die Marxisten zusammen hatten wieder mehr Stimmen als die Nationalsozialisten. Alles was nicht unter den Fahnen der extremen Parteien marschierte, war wie von einer Lähmung befallen und wartete täglich auf die Entscheidung, die ja irgendwie kommen mußte. Irgend jemand mußte ja aber Reichskanzler werden. Hindenburgs Wahl fiel schließlich auf Schleicher als den Reichswehrminister. Er füllte jedoch sozusagen nur ein Loch aus. Sehr richtig sagte er sich, ebenso wie Hindenburg, daß die Reichswehr, die letzte und einzige Stütze des Staates, diese Stellung nur solange einnahm, als sie nicht eingesetzt war. Ihr Einsatz mußte unabsehbare Verwirrung im deutschen Volk hervorrufen. Im übrigen war Schleicher ein Mann, der besser hinter als vor den Kulissen arbeitete. Er hatte kein Programm, das er gegen die Nationalsozialisten durchführen konnte, und andererseits standen diese in offener Opposition gegen den Staat. Rußland arbeitete fieberhaft und jeden Tag konnte die rote Flut losbrechen. Es ist fraglos ein bedeutendes Verdienst Papens, daß er die ganze Unhaltbarkeit der Lage klar erkannte und zum Handeln entschlossen war. Im Januar traf Heinrich Schnee (1871– 1949), Kolonialpolitiker, u. a. wurde er 1921 zum Gouverneur von Deutsch-Ostafrika ernannt, Mitglied des Reichstages zunächst als Abgeordneter der Deutschen Volkspartei und später der NSDAP. Zwischen 1930 – 1936 Präsident der Deutschen Kolonialgesellschaft.
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er mit Hitler im Hause des Kölner Bankiers Freiherrn von Schröder¹³⁶ zusammen. Die beiden Männer einigten sich auf eine Regierung Hitlers mit Papen als Vizekanzler und Hugenberg als Wirtschafts- und Ernährungsminister. Papen erbot sich, den Vorschlag bei Hindenburg zu vertreten. Unter diesen Umständen sah der alte, begreiflicherweise in seinem Innersten konservative, Generalfeldmarschall ein, daß mit den alten Mitteln nichts mehr zu retten war. So entschloß er sich 107 denn, der neuen Zeit selbst die Tore zu öffnen durch eine Berufung Adolf | Hitlers als Reichskanzler. Durch diesen Entschluß, der ihm sicher nicht leicht gefallen ist, hat er dem deutschen Volk den Bürgerkrieg und eine unerhörte Verwirrung glücklich erspart. Der Platz für das Dritte Reich war frei. |
Kurt Freiherr von Schröder (1889 – 1966), Bankier und Gutsbesitzer, war u. a. seit 1933 Präsident der IHK zu Köln, seit 1935 Präsident der Wirtschaftskammer Rheinland und seit 1943 Leiter der Wirtschaftsgruppe Private Banken. Anfang 1933 stellte Schröder sein Kölner Privathaus für eine geheime Unterredung zwischen Hitler und von Papen zur Verfügung.
Fortgang und Tiefpunkt der Krise 1930 – 32. Ausblick auf den Aufschwung 1933
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Fortgang und Tiefpunkt der Krise 1930 – 32. Ausblick auf den Aufschwung 1933. In den vorhergehenden Abschnitten waren wir in der Darstellung der allgemeinen wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse bis zum Umbruch vorausgeeilt, während wir bezüglich der Firmenentwicklung im Frühjahr 1930 stehengeblieben waren und zwar bei dem erfolgreichen Abschluß unserer Auseinandersetzungen mit den Gewerkschaften. Nun gilt es, die Bilanz unserer bisherigen Reorganisationsmaßnahmen bis zum Frühjahr 30 zu ziehen. Unsere Gefolgschaft betrug: .. .. ʺ .. ʺ
. . . .
.. ʺ .. ʺ ..
. . .
trotz Vermehrung der Spindeln um %, der Webstühle um % nach Stillegung der Buntweberei und Teilstillegung der Ausrüstung nach beendigter Aussperrung (Einstellung jedes einzelnen Arbeiters nach peinlich genauem Voranschlag) (wöchentliche Einstellung durchschnittlich ) ( ʺ ʺ ʺ ) (nach Friedensschluß mit den Gewerkschaften).
Dieser Stand bleibt nunmehr durch Jahr und Tag ziemlich unverändert. Im Oktober 1929 erreichen wir eine Leistung von 85 % gegenüber dem 1. Vierteljahr 29 mit einer Arbeiterschaft von 63 %, d. h. gut 1/3 Mehrleistung je Arbeiter. Angestellte in den schlesischen Betrieben .. ʺ ʺ ʺ ʺ ʺ
Ein weiterer beträchtlicher Abbau folgt später. Ersparnisvoranschläge der allgemeinen Abteilung (ohne Steuern) .. . darüber hinaus muß eingespart werden die Tariferhöhung von ..
Diese Einsparung wird tatsächlich erreicht. Einige Beispiele für die Ersparnisse (aufs Jahr umgerechnet): Reklame Wohnhäuser-Reparaturen Spenden
. Mark . ʺ . ʺ
108
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Fortgang und Tiefpunkt der Krise 1930 – 32. Ausblick auf den Aufschwung 1933
Kapitalbeschaffung 109 Werkstätten einschl. Spinnerei u. Weberei Kesselhaus Versicherungen Gespanne Lager Reparatur- u. Ersatzmaterial Gehälter Lohnbüro
. ʺ| . Mark . ʺ . ʺ . ʺ . ʺ . ʺ . ʺ . ʺ
Diese Zahlen dürfen natürlich nicht addiert werden, weil beispielsweise die Gehälter-Einsparungen auch in den Ersparnissen des Lohnbüros und der Betriebe enthalten sind, die Werkstätten- und Materialeinsparungen auch in denen der Wohnhausreparaturen usw. Bemerkenswert ist, daß im September 29 bei den Endaufschlagkosten das Soll von 671.000 das Ist von 664.000 erstmalig um eine Kleinigkeit überschreitet. Leider blieb dieses Ergebnis allerdings vorläufig vorübergehend. Ein besonderes Kunststück war die Aufrechterhaltung des Versandes während Streik und Stillegung. Die Aufrechterhaltung des Versandes wiederum war unerläßliche Vorbedingung für die Aufrechterhaltung des Verkaufes. Wir mußten unserer Kundschaft beweisen, daß unsere Lieferfähigkeit durch Stillegung und vorübergehende Aussperrung nicht berührt würde. Es betrug der Versand, einschließlich Kaliko-Abteilung, im Hochkonjunkturjahre
. . .
Umsatz . Mill. ʺ . ʺ ʺ . ʺ
Bw.Stand – cts ʺ ʺ – ʺ ʺ ʺ – ʺ
Am 17.8.29 legte Graf einen genauen Voranschlag über Produktion und planmäßigen Versand vor, demzufolge der Lagerbestand bis Jahresschluß von 349.000 Stück auf 279.000 Stück zurückgehen solle. Das gibt eine Kapitaleinsparung von mindestens 5 Mill. Mark. Tatsächlich war der Lagerbestand am Jahresschluß 282.000 Stück. Diese Aufrechterhaltung des Versandes wäre natürlich niemals möglich gewesen ohne unsere reich sortierten auswärtigen Läger. Wir sind später von der Forcierung der auswärtigen Läger wegen ihrer über Erwarten hohen Unkosten wieder abgekommen. Trotzdem glaube ich, daß sie in diesen Zeiten der aus vitalen Gründen notwendigen Erweitung des Absatzes richtig waren. Jedenfalls können 110 wir die beruhigende Empfindung | haben, daß sie sich allein durch ihr Vorhandensein in dem für die ganze Zukunft entscheidenden Jahr 1929 bezahlt gemacht haben. Die Schulden betrugen Anfang 29 20.7 Mill.
Fortgang und Tiefpunkt der Krise 1930 – 32. Ausblick auf den Aufschwung 1933
gegen Ende 29
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14 ʺ 6.7 Mill. x 7.7 % Zs. = 516.000 Mark Ein interessantes Ergebnis brachte die Bilanz vom 31.12.29. Das Arbeitsergebnis betrug ./. 22.000 Mark. Hierbei war nicht gegengerechnet die ganz beträchtliche Auflösung der stillen Reserven durch den riesigen Lagerabbau von schätzungsweise 1 Mill. RM. Diese wurden kompensiert durch die Stillegungsund Aussperrungskosten, welche nach sehr sorgfältiger Errechnung mindestens 1 Mill. betragen. Wir haben also die außerordentlich hohen Unkosten für Aussperrung und Stillegung aus unseren reichlichen stillen Reserven bezahlt, über deren Hinschwinden noch an anderer Stelle berichtet werden soll. Das laufende Ergebnis von ungefähr + ./. Null bei ca. 2 Mill. Abschreibungen war einigermaßen beruhigend, da die Ersparnisse ja erst sehr zum Teil durchgedrungen waren. Wir konnten uns sagen, daß das Jahr 30 einen Gewinn bringen müßte, wenn die Beschäftigung einigermaßen aufrecht erhalten werden könnte und die Margen nicht weiter sänken. An dieser Stelle möchte ich noch einen besonderen Hinweis machen. Es könnte gesagt werden, daß wir zum mindesten einen beträchtlichen Teil unserer Rationalisierung auf dem Rücken unserer Gefolgschaft ausgetragen hätten, indem wir im Jahre 30 etwa 12.00 [sic] Arbeiter weniger beschäftigten als Anfang 29. Demgegenüber muß betont werden, daß wir an den in der Bezirksgruppe Reichenbach beschäftigten Gefolgschaftsmitgliedern im Jahre 25 einen Anteil von 24 % hatten, der im Herbst 30 auf 30 % gestiegen war, d. h. also, daß wir verhältnismäßig trotz allem ein ganz Teil Arbeiter [sic] weniger entlassen hatten als die übrigen Textilbetriebe, nur mit dem einen Unterschied, daß die anderen im wesentlichen einfach ihre Produktion eingeschränkt hatten, während wir die Gefolgschaftsmitglieder, unter Aufrechterhaltung der Produktion, durch Rationalisierung freigemacht hatten. Als wir dann Ende 32 und 33 in ganz anderem Maße zu Wiedereinstellungen schreiten konnten als die anderen Firmen, zeigte es sich, wie segensreich unsere Maßnahmen letzten Endes auch für die Gefolgschaft gewesen waren. Im übrigen noch eine Bemerkung: Bis Anfang 28 war es der hiesigen Textilindustrie im großen und ganzen gleichmäßig immer noch recht gut | gegangen. Vom Augenblick unserer entscheidenden Rationalisierung im Jahre 111 1929 trennen sich unsere Wege endgültig von denen der „Euleweber“. Die fast 2 Jahre vom Herbst 28 bis zum Sommer 30 waren ungewöhnlich reich an Arbeit und Nervenverbrauch gewesen: Unkostenjagd mit Neuaufbau unseres Gehaltssystems, technische Reorganisation der Betriebe (u. a. Verlegung der Buntweberei Gellenau nach Bielau) mit Stillegung, Kampf mit den Gewerkschaften und dem Arbeitsministerium wegen des Lohntarifes und vor allen Dingen der Reorganisation des Entlohnungssystems. Dabei durfte die aktive Verkaufspolitik keinen Augenblick ruhen. Die Lage der Finanzen mit über 20 Mill.
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Fortgang und Tiefpunkt der Krise 1930 – 32. Ausblick auf den Aufschwung 1933
Mark Bankschulden gegen Ende 28 und die krisenhafte Lage des Baumwollmarktes machte fortgesetzt große Kopfschmerzen. Das allein hätte wohl genügt, um einen Vorstand halbwegs zur Strecke zu bringen. Erfreulicherweise war er damals, bei vorbildlich klappender Zusammenarbeit, sehr stark und gut besetzt, so daß wir neben all diesen Dingen auch noch den Kopf frei genug hatten für den Abschluß des Hammersen-Kampfes, der gerade damals in ein entscheidendes Stadium trat. Die eingehende Schilderung der Entwicklung unserer Gesellschaftsform in Richtung auf den Konzern muß einer besonderen Darstellung vorbehalten bleiben. Immerhin ist dieser Endkampf für die Fortentwicklung unseres laufenden Geschäftsbetriebes so wichtig, daß die Verhältnisse auch hier mit möglichster Kürze berührt werden müssen. Am 17.10.28 hatte, wie gesagt, eine Zusammenkunft zwischen dem Vorstandsmitglied von Hammersen, Dr. Walz, und mir stattgefunden und zwar auf den Antrag von Walz unter einigermaßen romantischen Umständen, nämlich um 7 Uhr vormittags im Wartesaal von Heilbronn. Walz, der jetzige Direktor des Reutlinger Textiltechnikums, war ein anerkannter Textilfachmann und ein im innersten verantwortungsbewußter, schwerfälliger Mensch, das Gegenteil von einem Intriganten. Er hatte mit großen Hoffnungen als alleiniges ordentliches Vorstandsmitglied den Vorstandsposten bezogen und kam bald in die größte innere Bedrängnis. Häcker hatte ihm bald nach seinem Antritt erklärt, daß er sich lediglich um den Betrieb zu kümmern habe und ihm sozusagen das Betreten der kaufmännischen Geschäftsräume verboten. Walz durfte keinen Einblick in die Kalkulation und noch viel weniger in die Inventur und die Gestaltung der Bilanz 112 nehmen. Das hatte er sich eine Weile angesehen, weil | ihn die technischen Aufgaben zunächst einmal außerordentlich reizten. Dann kam der Prozeß mit uns. Sein Verlangen, nunmehr in alle einschlägigen Bücher Einsicht nehmen zu können, um sich als alleiniger Vorstand und erster Verantwortlicher ein Bild über die ganze Prozeßlage machen zu können, wurde abgelehnt und er war in der Verfolgung des Prozesses auf die Zeitungsnotizen angewiesen. Er wurde nun mißtrauisch und setzte sich trotz Verbotes, unter gelegentlich heftigen Auseinandersetzungen mit Häcker, mit den Leuten, die an der Quelle der Verrechnung saßen, wie Roeper¹³⁷, in Verbindung und verlangte als Vorstand kategorisch Aufklärung. Diese hat ihm Roeper hinter dem Rücken von Häcker nicht vorenthalten und Walz bekam den Eindruck: es stinkt! Als ein neuer Vorstoß bei Fritz Häcker und eine Fühlungnahme mit den einzelnen Aufsichtsrat-Mitgliedern (die dem Hammersen-Vorstand streng verboten war) auch erfolglos blieb, wählte er in
N.e.
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seiner Sorge und seiner schweren Verärgerung den recht bedenklichen Weg, sich mit dem Prozeßgegner, von dem er nunmehr die Empfindung hatte, daß er völlig im Recht sei, in Verbindung zu setzen. Er war in sichtlicher Erregung und man merkte ihm an, wie schwer ihn dieser Schritt belastete. Er erklärte mir mit kurzen Worten, daß er sich leider habe überzeugen müssen, daß es bei Hammersen in keiner Weise in Ordnung sei. Da er als einziges Vorstandsmitglied unter den geschilderten Verhältnissen die Verantwortung für einen kommenden Kladderadatsch unter keinen Umständen übernehmen könne, bliebe ihm nur die Wahl, seinen Posten aufzugeben oder bei den ungewöhnlichen Verhältnissen in der Hammersen-Verwaltung ungewöhnliche Schritte zu ergreifen. Er habe schon an seinem Schreibtisch gesessen, um sein Kündigungsschreiben aufzusetzen. Da sei ihm plötzlich der Gedanke gekommen, daß es eine jämmerliche Schwäche sei, einem Kerl wie F.H. [Fritz Häcker] zu weichen, und er habe beschlossen, die Zukunft von Hammersen selber in die Hand zu nehmen. Kurz und gut: Häcker müßte weg. Ich habe Walz vorgeschlagen, daß er zu seiner eigenen Entlastung unbedingt zu Rißmüller¹³⁸, den ich von den AR-Mitgliedern für den Geeignetsten hielt, dem Oberbürgermeister von Osnabrück, gehen müsse, den ich für diesen Schritt am geeignetsten hielte. Sollte dieser Schritt auch keinen Erfolg haben, so wollten wir uns zwecks genauer Besprechung unseres nunmehr gemeinschaftlichen Vorgehens wieder treffen. Die Eröffnungen von Walz machten auf Rißmüller einen tiefen Eindruck (es sei eine der größten seelischen Erschütterungen seines Lebens gewesen). Er beantragte eine Aufsichtsrat-Sitzung und trug dort alles | vor, was ihm Walz über die 113 bedenklichen Machenschaften und demzufolge die Prozeßgefahren berichtet hatte. Die Geschichte endete damit, daß es F.H. wieder gelang, den ganzen Aufsichtsrat völlig einzulullen und W. als einen Mann darzustellen, der sich um seine technischen Angelegenheiten nicht kümmere und dafür in Dingen herumschnüffele, von denen er ein gänzlich falsches Bild habe. Nach diesem erfolglosen Versuch fand eine Zusammenkunft zwischen W. einerseits und Burkhardt und mir andererseits in Stendal statt in einem außerordentlich komischen Hotel, dessen Teller und gesamtes Service mit einem schwarz-weiß-roten Rand geziert waren. Das Material von W., im Zusammenwirken mit dem reichhaltigen Material, welches wir auch schon aus den Prozessen gewonnen hatten, gab uns die nötigen Unterlagen, um, nachdem der erste Prozeß nur der Erzwingung von Aufklärungen gegolten hatte, nunmehr die gesamte Verwaltung von Hammersen unter weitge-
Julius Rißmüller (1863 – 1933), deutscher Jurist und Politiker. Zwischen 1902– 1929 Mitglied des Hannoverschen Provinziallandtages und zwischen 1901– 1927 Oberbürgermeister von Osnabrück.
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hender Substanzierung regreßpflichtig zu machen. Der Entschluß zu diesem Vorgehen, demgegenüber die bisherigen Prozesse und Streitigkeiten in den Generalversammlungen nur Vorpostengeplänkel waren, fiel uns natürlich nicht leicht. Aber wir mußten endlich mal aufs ganze gehen. Die Folge dieser neuen Klage war, daß Häcker Walz fristlos entließ, was nun wieder zu einem Prozeß Walz contra Häcker führte und die Schwierigkeiten von Hammersen wesentlich verschärfte (er hat wohl später nach erfolgter Einigung mit einem Vergleich geendet). Nun hatte Hammersen überhaupt keinen Vorstand. Einen neuen in dieser Situation zu engagieren, erschien bedenklich. So übernahm F.H., soweit ich mich erinnere in Delegation, den Vorstand, so daß er nunmehr auch nach außen hin als Aufsichtsrat-Vorsitzer und Vorstand zugleich erschien, was natürlich seine Stellung in der Öffentlichkeit weiter schwer schädigte. Nun griff eine neue Macht ein. Im Vorstand der Deutschen Bank machte einer der jüngsten Direktoren, Dr. Kehl ¹³⁹, zunehmend von sich reden. Ein Mann von großen Gaben, überschäumendem Temperament, zäher Energie und äußerster Rücksichtslosigkeit, begabt mit einem ausgesprochenen Geltungsbedürfnis. Ein Rennpferd unter den etwas gemütlichen Karossiers des Bankvorstandes! Er war mit Ernst Poensgen¹⁴⁰ verschwägert, trat im Sommer 29 auf der Tagung des Reichsverbandes der Industrie in Düsseldorf auf und wurde dort von Duisberg¹⁴¹ als Benjamin der deutschen Bankenwelt begeistert begrüßt. Nun wurde durch die im Gange befindliche Fusion Deutsche Bank – Osnabrücker Bank die Deutsche Bank Emissionshaus von Hammersen und trug damit zum mindesten eine ge114 wisse moralische | Verantwortung für den Prozeßausgang. Kehl, in dessen De-
Werner Kehl (1887– 1943), Eintritt bei der Deutschen Bank im Jahre 1919, Aufstieg zum Direktor 1922. Bereits 1926 wurde er stellvertretendes, 1928 ordentliches Vorstandsmitglied. Aufgabenbereich war die Pflege von Industriebeziehungen, im Zuge dessen Kehl aufsehenerregende Wirtschaftszusammenschlüsse herbeiführte wie die Fusion Dierig/Hammersen, die er als Verhandlungsführer leitete, aber etwa auch die Schaffung des Westwaggon-Trusts. Bei Dierig wurde er stellvertretender Vorsitzender des Aufsichtsrates. Aufgrund von Veruntreuungen eines Düsseldorfer Filialdirektors, dessen Filiale in Kehls Zuständigkeitsbereich fiel, erfolgte 1932 sein Rückzug aus dem Vorstand der Deutschen Bank. Er führte im Anschluss wirtschaftliche Sonderaufgaben durch und wurde u. a. zum Vorsitzenden des Vereins Deutscher Spiegelglasfabrikanten ernannt. Kehl kam am 4.1.1943 bei einem Eisenbahnunglück ums Leben. Ernst Poensgen (1871– 1949), Unternehmer und Verbandspolitiker. Er war u. a. Mitgründer und späterer Vorstandsvorsitzender der Vereinigte Stahlwerke AG, seit 1929 Vorsitzender des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller und seit 1930 Leiter der deutschen Gruppe der Internationalen Rohstahlexportgemeinschaft. Carl Duisberg (1861– 1935) war ein Chemiker und Industrieller. U. a. zwischen 1925 – 1931 Vorsitz des Reichsverbandes der Deutschen Industrie sowie zwischen 1926 – 1935 Aufsichtsratvorsitzender der IG Farben.
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zernat Nordwestdeutschland fiel, hatte bei diesen Verhandlungen mit Stolcke¹⁴² zu tun. Letzterer lernte ihn außerordentlich schätzen und als die Rede auf Hammersen kam, machte er wohl seinem gequälten Herzen Luft und legte ihm nahe, von der Deutschen Bank aus zur Bereinigung der Verhältnisse und zur Beednigung [sic] der Prozesse beizutragen. Das mag Ende 28, spätestens Anfang 29 gewesen sein. Begreiflicherweise war der Gedanke, als deus ex machina in diesem epochemachenden Streitfall, der alle Zeitungen ungewöhnlich beschäftigte (der Artikel von Wenkel¹⁴³ im Berliner Tageblatt mit der dicken Überschrift „Der Pascha auf Aktien“ hatte ungeheures Aufsehen erregt), aufzutreten für einen Mann wie Kehl außerordentlich reizvoll. Er traf sich mit Häcker in Hannover, fand an ihm großen Gefallen und bot ihm seine Hilfe an. Es gelang ihm, Häcker davon zu überzeugen, daß in der Verwaltung saubere Kompetenzentrennung die allererste Notwendigkeit sei und erreichte mit einer geschickten Kombination von Hilfsbereitschaft und Druck, daß F.H. sich schließlich bereit erklärte, den Vorstandsposten zu übernehmen und aus dem Aufsichtsrat ausschied. AufsichtsratVorsitzer: Kehl ! Im Frühjahr 29 fand dann die erste Aussprache mit Kehl statt, zuerst unter Beteiligung Netters¹⁴⁴. Diese Unterhaltung verlief äußerst kühl und führte nur zu einer gewissen Gegenüberstellung der Waffen. K. erklärte, daß er die Hammersen-Gesellschaft unbedingt stützen würde, andererseits allerdings dafür sorgen würde, daß mehr Ordnung und Klarheit in die Verwaltung und die großen Aktionäre zu ihrem Recht kämen. Wir erklärten ihm, daß wir grundsätzlich genau dasselbe wollten. Wir seien grundsätzlich ungewöhnlich friedfertige Leute und begrüßten seine Einigungsversuche aufs wärmste, notfalls würden wir uns unser Recht aber auch über den Staatsanwalt zu verschaffen wissen. Der Staatsanwalt war begreiflicherweise das schwerste Geschütz, welches wir in Bereitschaft ziehen konnten. Es fanden dann zwei weitere Besprechungen statt, meiner Erinnerung nach eine zwischen Kehl, Burkhardt und mir und eine andere zwischen Kehl und mir allein. Hier kamen wir verhältnismäßig schnell vorwärts. K. erhielt sehr bald den Eindruck, daß wir keineswegs die Finanzschieber seien, als die uns Häcker darzustellen versuchte, daß C.D. ebenso interessant sei wie Hammersen und darüber hinaus als Familiengesellschaft unter zielbewußter Führung eine ungewöhnlich geschlossene Macht darstelle. Wir erklärten ihm, warum wir die I.G.
Carl Stolcke (1875 – 1947), Bankdirektor der Osnabrücker Bank. Er wechselte 1903 in die Osnabrücker Bank, die 1929 mit der Deutschen Bank in Berlin fusionierte. 1930 wurde er als Kammerpräsident in den Hauptausschuss des Deutschen Industrie- und Handelstages berufen. Kurd Wenkel (1896 – n.e.), Wirtschaftsjournalist und Experte für Öffentlichkeitsarbeit. U. a. zwischen 1924– 1928 Handelsredakteur beim Berliner Tageblatt sowie seit 1935 Mitglied der Geschäftsleitung von Reemtsma. N.e.
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gewollt hätten und auch nach wie vor einer Einigung nachstrebten, und in K. 115 dämmerte sofort der in der | damaligen konzernfreudigen Zeit naheliegende Gedanke auf: hier wird der führende Konzern der Baumwollindustrie gegründet, um den sich dann alles andere herumgruppiert, und ich bin dabei der Triumphator. Bei der Unterredung unter vier Augen sagte Kehl ganz offen: „Ich weiß sehr wohl, daß die Verhältnisse bei Hammersen gen Himmel stinken. Der Prozeß muß begraben werden, ich werde meine ganze Autorität einsetzen. Aber auf der anderen Seite müssen Sie meiner schwierigen Situation als ehrlicher Makler Rechnung tragen.“ Ich sagte ihm darauf, er unterschätze noch die Schwierigkeiten, die jede erfolgreiche Verhandlung mit F.H. fast zur Unmöglichkeit mache, er würde noch ungeheure Enttäuschungen erleben und deswegen müßten wir ganz besonders vorsichtig sein. Wir würden unsere Waffen erst niederlegen, wenn alles unterschrieben sei. Im übrigen seien wir zu jeder sachlich vernünftigen Lösung ohne übertriebene Prestige-Rücksichten bereit. Allerdings möge er sich das eine merken: F.H. hätte bis jetzt mit allen Leuten Schindluder getrieben und zum Affen machen ließen wir uns nicht. Darauf streckte mir Kehl seine Hand hin und sagte: „Dann setze ich mich zu Ihnen mit in den Käfig“ und fügte hinzu: „Die Zukunft liegt bei Ihnen als Familiengesellschaft. Ich denke, wir beide werden etwa gleichaltrig sein, und wir können ungeheuer fruchtbar zusammen wirken. Ich werde meinen Willen F.H. gegenüber durchsetzen. Darauf können Sie sich verlassen.“ Ich habe die Empfindung, daß von diesem Augenblick an, Kehl völlig auf das Pferd C.D. setzte, natürlich nicht aus Liebe zu uns, sondern weil er die Empfindung hatte: mit den Leuten kann ich das zustande bringen, was eine Krönung meiner augenblicklichen Stellung werden kann. Es kam nun zu sehr häufigen Auseinandersetzungen in der HammersenVerwaltung, in der K., nachdem er einmal Aufsichtsrat-Vorsitzer war, scheinbar vom ersten Augenblick an sehr kategorisch auftrat. Es wurden Angebote und Gegenangebote gemacht, zunächst über unsere Beteiligung im Hammersen-A.R. Schließlich wurde die Möglichkeit einer gewissen Gegenseitigkeit erwogen usw. Eine große Rolle spielte natürlich die Beseitigung der Vorrechts- bezw. Vorzugsaktien bezw. eine einwandfreie Unterstellung unter das Votum des Aufsichtsrates. Es würde in diesem Zusammenhang zu weit führen, die einzelnen Phasen der Verhandlungen einzeln aufzuführen. Jedenfalls war nach verschiedenen Aufsichtsrat-Sitzungen, teilweise in Osnabrück, teilweise in Berlin, die Sache so weit, daß der Hammersen-Aufsichtsrat beschloß, den nunmehr gegenseitig sorgfältig abgeglichenen Einigungsvorschlag einstimmig anzunehmen. Das war kurz vor 116 Weihnachten 1929. Aber bereits | im Zuge nach Osnabrück gelang es Häcker wieder, seine Aufsichtsrat-Mitglieder völlig umzustimmen und Häcker schrieb an
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Kehl den bekannten Brief, daß Herrn Lütgert¹⁴⁵, Herrn Strick¹⁴⁶ und den anderen Aufsichtsrat-Mitgliedern doch nachträglich die allergrößten Bedenken gekommen seien und er müsse ihm leider mitteilen, daß sich die Osnabrücker AufsichtsratMitglieder einstimmig gegen den Plan entschieden hätten. Nun hatte Kehl seine erste bittere Lehre und sah das durchaus bestätigt, was ich ihm vorausgesagt hatte. Er erklärte nun in brüsker Form, er habe die Sache satt und wenn die Herren nicht hören wollten, so müßten sie eben den nächsten Prozeßtermin, der Ende Januar anstand, abwarten. Die Entscheidung des Landgerichtes in der Regreßfrage fiel zwar materiell nicht so aus, wie wir sie uns gewünscht hatten, aber die Urteilsbegründung enthielt eine vollkommene moralische Verurteilung der Hammersen-Verwaltung, die mit äußerst eindeutigen Worten, die mir im Augenblick nicht vorliegen, der Hammersen-Verwaltung arglistige Täuschung der Generalversammlung bescheinigte und zum mindesten die Möglichkeit offen ließ, daß diese in schwer eigensüchtigem Interesse erfolgt sei. Dieses Urteil schlug wie eine Bombe ein. Bei einem zufälligen, oder nicht zufälligen, Zusammentreffen von F.H. und Roesch mit Graf in den „Drei Mohren“ kam es zu einer langen Aussprache, die bis in die Morgenstunden dauerte, in der F.H. in unerhörter Aufregung das Urteil als ein Faschingsurteil bezeichnete und im übrigen seiner Empörung über uns freien Lauf ließ. Er suchte bei dieser Gelegenheit sichtlich, Graf gegen uns irgendwie mobil zu machen, und als dieser schließlich die Unterhaltung über diese Frage ostentativ abbrach, ging es weiter über Geschäftpreise usw. Die übrigen Aufsichtsrat-Mitglieder, denen dieses bürgerlich vernichtende Urteil begreiflicherweise sehr in die Knochen gefahren war, suchten unter allen Umständen zu vermeiden, daß so etwas in dieser oder der nächsten Instanz rechtskräftig würde, und außerdem bangten sie um ihr gesamtes Vermögen, was unter Umständen beim Durchdringen unseres Regreß-Anspruches in das große Faß fallen konnte. Jetzt stand der ganze Aufsichtsrat geschlossen gegen F.H. und verlangte kategorisch die Beilegung der Streitigkeiten. Ich kann die wechselvollen Verhandlungen, die in den nächsten Wochen erfolgten, hier übergehen. Nachdem F.H. zunächst den verträglichen Mann gespielt hatte, mußte er erkennen, daß Kehl auf derartige Finten nicht mehr hereinfiel und ein neuer Einigungsvorschlag, der auch einen aktienmäßigen Zusammenschluß bringen sollte, zeichnete sich schnell am Horizont ab. | Nun zog sich F.H. wieder in den Schmollwinkel zurück und die gegenseitigen 117 Betriebsbesichtigungen fanden im wesentlichen ohne F.H. statt. Das neu erstan Julius Lütgert (1864 – n.e.), Inhaber der Osnabrücker Großhandelsfirma für Kleiderstoffe „Wehr & Eickmeyer“ sowie u. a. Mitglied in den Aufsichtsräten der F. H. Hammersen AG und der C.D. AG. Heinrich Strick (n.e.), Aufsichtsrat bei der F. H. Hammersen AG.
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dene Einigungswerk gründete sich auf der einen Seite auf der Feststellung, daß der Wert C.D. etwa gleich Hammersen-Debag sei und daß die Textiltreuhand tatsächlich etwa die Hälfte der umlaufenden Hammersen-Aktien besitze. Alle Versuche, dieses klare Bild mit Hilfe der Vorrats-Aktien zu verdunkeln, nützten F.H. nichts. Wir machten demgegenüber eine für das Hammersen-Prestige, welches natürlich durch das letzte Urteil stark angekränkelt war, sehr wesentliche Konzession: die Debag¹⁴⁷ Sitz Osnabrück sollte Holding-Gesellschaft werden, so daß es nach außen hin nicht ein Dierig-Konzern, sondern ein Debag-Konzern wurde. Der Debag-Aufsichtsrat, bestehend aus 10 Personen, sollte genau hälftig von beiden Seiten besetzt werden, ebenso der Debag-Vorstand (Burkhardt, Hegels¹⁴⁸). In den Hammersen- und Dierig-Aufsichtsrat kamen eine entsprechende Anzahl Herren der Gegenseite hinein. Der Vorsitz bei der Debag sollte zwischen Dr. Kehl, F.H. und Dr. Wolfgang wechseln, ebenso meiner Erinnerung nach der Vorsitz bei Hammersen. Im übrigen machten wir F.H. die persönliche Konzession, daß in die süddeutschen Aufsichtsräte per sofort nur je 1 Mann von uns kommen sollte und zwar Dr. Wolfgang zu Prinz und Graf bei den Webereien. Die weitere Durchsetzung sollte schrittweise nachgeholt werden. Sehr wesentlich für die Herren von Hammersen war, daß wir nach langem hin und her für die Debag die paritätische, für Hammersen die Besetzung im vorgeschlagenen Verhältnis für 10 Jahre garantierten, wobei allerdings etwas dunkel blieb, wer eigentlich nach der Vereinigung die „andere Seite“ sei. Während wir das bei Hammersen ohne weiteres zugestehen wollten, haben wir uns erst nach sehr langen Überlegungen bereit finden können, die bei der Debag zunächst auf 5 Jahre vorgesehene Zusicherung auf 10 Jahre zu verlängern. Allmählich waren die Verhandlungen in ein überaus freundschaftliches Fahrwasser gekommen, und ich erinnere mich noch gut eines Frühstücks bei der Deutschen Bank (Kehl, Roesch, Dr. Wolfgang und ich), bei dem Roesch in humorvoller Weise den dringenden Wunsch der Osnabrücker Herren aussprach, daß sie auch nach 10 Jahren nicht sofort an die Luft gesetzt würden. Dr. Wolfgang antwortete darauf: „Eine Grenze muß ja schließlich sein. Sagen wir Sie können im Aufsichtsrat solange bleiben, wie sie Ihre TantiemeQuittung noch persönlich unterschreiben können.“ Damit war auch dieser Fall freundschaftlich geregelt. Bei all diesen Verhandlungen trat F.H. kaum mehr in Erscheinung. | 118 Als F.H. die Besichtigung der Hammersen-Werke sozusagen mit Waffengewalt hintertreiben wollte, stellte ihm Kehl allen Ernstes in Aussicht, daß er dann für die
Abkürzung für „Deutsche Baumwoll Aktiengesellschaft“. Ernst Hegels (1898 – 1985), u. a. seit 1927 im Vorstand der F. H. Hammersen AG und seit 1935 im Vorstand der C. D. AG sowie Vizepräsident der Industrie- und Handelskammer Osnabrück.
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Tage der Besichtigung von seinem Vorstandsposten suspendiert werden würde. Man sieht aus dieser Kleinigkeit, welcher Kraftanstrengung und brutaler Rücksichtslosigkeit es bei Kehl bedurft hatte, um das Schiff überhaupt in den Hafen zu bringen. So fuhren wir am 18. Juni zur letzten Schlacht nach Berlin, wo wir uns nachmittags in der Deutschen Bank trafen. Wie immer bei Hammersen: plötzlich völlig veränderte Situation. F.H. war auf einen neuen Einfall gekommen. Er hatte plötzlich die umfassenden Vermögensaufstellungen, in denen jede einzelne Spindel, jeder einzelne Webstuhl usw. bewertet war (nur am Rande sei bemerkt, daß die ganzen hier nur flüchtig angedeuteten Verhandlungen und die Beibringung der dazu nötigen Unterlagen eine ungeheure Arbeit und zahllose Einzelverhandlungen nötig gemacht hatten) sozusagen als irreführend angefochten und nun seinerseits den harmlosen Hammersen-Aufsichtsräten eine entsetzliche Angst eingejagt, wir hätten sozusagen im Bunde mit Kehl einen großen Betrug eingeleitet, an dem sie sich mitschuldig machten, wenn sie die Einigung unterschrieben. Das war den Leuten wieder in die Knochen gefahren und unter ihrem Beifall ließ F.H. den unglückseligen Hegels eine neue Bewertung vortragen, bei welcher die Anlagen von Hammersen und seinen Tochtergesellschaften turmhoch über denen von C.D. lagen. Nur um eines herauszugreifen: während wir uns mit der Gegenseite (Spinnereidirektor Schweizer¹⁴⁹) darauf geeinigt hatten, daß der Produktionswert des Selfaktors, sagen wir 2/3 so hoch sei wie der einer Ringspindel, stellte F.H. plötzlich sehr richtig fest, daß eine Selfaktorspindel in der Anschaffung wesentlich teurer sei als eine Trosselspindel und hatte die Frechheit zu behaupten, daß Selfaktorspindeln für die Zwecke von Hammersen auch tatsächlich sehr viel wertvoller seien. Die Abendbesprechung, die nur als Vorbesprechung gedacht war, endete also mit einem großen Krach. Der HammersenAufsichtsrat war im letzten Augenblick wieder schwankend geworden, und wir hatten die Sache satt. Mitten auf der Mauerstraße stehend, vor dem Eingang der Deutschen Bank, faßten wir den spontanen Entschluß: mit den Leuten ist doch nicht zusammenzukommen, und wir drehen jetzt den Spieß um. Wir bieten Hammersen bezw. der Deutschen Bank den Kauf unserer Hammersen-Aktien an und zwar zu einem Kurs, der auf der Hammersen-Bewertung basiert. Das entscheidende dabei war, daß wir diese Sache nicht nur als Verhandlungsgegenstand in die Debatte werfen wollten, | sondern ernstlich gewillt waren, notfalls diesen 119 Weg zu beschreiten. Wir sagten uns, daß wir mit dem Erlös von ca. 11 Mill. Mark endlich so weit waren, daß wir unsere Schulden im wesentlichen los seien und dann bei unseren neuen rationalisierten Betrieben ohne Kapitalbeschaffungsspesen den Preiskampf mit Hammersen ohne weiteres aufnehmen könnten. Die
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Fabrikbesichtigungen hatten uns gezeigt, daß Hammersen im wesentlichen auf dem technischen Stand von 25 stehen geblieben war. Diesen Alternativentschluß empfanden wir als eine ungeheure Befreiung, und wir haben zunächst einmal bei Mitscher zwischen den kümmerlichen Efeuwänden unseren Zorn durch eine sonette Erdbeerbowle hinunter gespült. Dann gingen wir zeitig schlafen mit der Empfindung, daß morgen der große Tag anbreche. Die Verhandlung am nächsten Tag war wieder typisch. F.H. hatte ein ungeheures Material aufgefahren, um das ganze Bild zu verwirren. Selbstverständlich mußten wir in langen Einzelgefechten all seine Aufstellungen als unsinnig zurückweisen, um zunächst einmal Kehl und dem Aufsichtsrat von Hammersen klar zu machen, daß wir die Gegenseite in keiner Weise durch falsche oder schiefe Zahlenangaben übervorteilt hätten. Als wir so einigermaßen mit der Sache durch waren, stellten wir die Frage an F.H.: Können Sie uns bestätigen, daß diese Ihre Zahlen nicht nur einen Verhandlungstrick darstellen, sondern leisten Sie ernsthaft dafür Gewähr, daß Ihrer Ansicht nach die Hammersen-Anlagen so viel wert sind? F.H., der natürlich durch diese Frage, die er nicht verstand, sofort schwer beunruhigt war, blieb nichts anderes übrig als zu versichern, daß die Aufstellungen seiner heiligsten Überzeugung entsprächen, an der kein wirklicher Fachmann etwas aussetzen könne. Darauf rechneten wir ihm vor: Sie bewerten also die Hammersen-Anlagen mit X%, ferner bewerten Sie die Debag, welche jetzt 100 %ig im Besitz von Hammersen ist, mit 300 % (3x6 = 18 Mill.). Wir sind natürlich völlig überzeugt davon, daß diese Bewertung, die sie bei dem Aktienverkauf des Herrn Häcker an die Gesellschaft zugrunde gelegt haben, Ihrer vollen Überzeugung entspricht. Dann ist also Ihrer Ansicht nach der Wert von Hammersen so und so hoch, der angemessene Kurs also 300 %. Wir bieten Ihnen hierdurch die reichlich 7 Mill. nom. in unserem Besitz befindlichen Hammersen-Aktien zum Kurse von 150 %, also zu ihrem halben Werte, an. Dieses Angebot ist keinerlei Verhandlungstrick, sondern ist ein festes Angebot, in das Sie nur einzuschlagen 120 brauchen. Lehnen Sie dieses unerhört | vorteilhafte Gebot ab, so behalten wir uns vor, Sie als Großaktionär wegen Schädigung der Gesellschaft regreßpflichtig zu machen. Die Herren verstanden sehr wohl, daß mit dieser Regreßdrohung etwas ganz anderes gemeint war und daß F.H. sich in seiner eigenen Schlinge gefangen hatte. Ich werde nie das schadenfrohe Schmunzeln von Lütgert in diesem Augenblick vergessen. Nach einem Augenblick der Totenruhe erhob sich Kehl und sagte: „Meine Herren, es ist 2 Uhr. Ich habe die Empfindung, daß wir bei dieser gänzlich veränderten Situation gut tun, uns beiderseitig zum Frühstück zurückzuziehen.“ Wir verließen darauf ostentativ schnellstens das Lokal und begaben uns zunächst einmal an den schönen Ort, der bei der Deutschen Bank besonders üppig mit Marmor ausgestattet ist. Sehr schnell kam Kehl „zufällig“ hinterher. Als er sofort mit einlenkenden Worten die Nachmittagsverhandlung vorbereiten
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wollte, wollte Dr. Wolfgang mit einem sehr energischen und kategorischen „Ich denke gar nicht daran, ich habe es satt“ das Lokal verlassen, worauf Kehl ihm nachrief: „So bleiben Sie doch hier. An diesem Ort haben schon die wichtigsten Abschlüsse stattgefunden.“ Wir erklärten Kehl daraufhin: Wir reden über die ganze Sache kein Wort: entweder wird unser Einigungsvorschlag angenommen oder unser Aktienangebot. Unsere tatsächliche Entschlossenheit wirkte überzeugend, denn nachmittags erklärte Kehl nach einem geschickten Rückzugsgefecht, daß unsere Vorschläge angenommen würden. Jetzt wurde der Justitiar Krukenberg¹⁵⁰ hinzugerufen und es wurde an die Konzeption im einzelnen gegangen. Schließlich rief Kehl seine Sekretärin herein und begann das Einigungsprotokoll zu diktieren, wobei wir, in erster Linie Burkhardt, wie die Schießhunde aufpaßten und ihm verschiedentlich ins Wort fielen. Da aber auf beiden Seiten die unbedingte Absicht bestand, nun zum Schluß zu kommen, war auch diese Arbeit bald erledigt. Um ¾ 8 Uhr wurde meiner Erinnerung nach das bedeutungsvolle Vertragswerk unterschrieben. Es war der 19.6.1930. Da F.H., der am Nachmittag kein Wort mehr sprach, genau wußte, daß eine Nichtunterschrift seine sofortige Suspension und die Delegierung eines anderen Aufsichtsrat-Mitgliedes in den Vorstand zur Folge haben würde, unterschrieb er den Vertrag mit dem Zusatz: auf Weisung des Aufsichtsrates. Kehl sagte nachher ehrlich erschüttert: „Hatte dieser bedeutende Mann so eine Blamage nötig!“ Der Vertrag führte uns über 75 % des Debag-Kapitals zu, 50 % als Gegenwert für C.D. und 25 % für unseren Hammersen-Besitz. Wir hatten nunmehr das erreicht, was uns 1924 als allerletztes Fernziel über die Grenze der I.G. hinaus | vorgeschwebt hatte: die unbestreitbare Mehrheit in diesem mächtigen Block. Die 121 Sicherungen für die – bereits durch die Aktientransaktionen vorschwimmende – „andere Seite“ konnten uns Ärger mit Häcker bringen, was ja auch reichlich eingetreten, aber schließlich restlos überwunden worden ist, und verlangten gegebenenfalls gewisse Konzessionen an Kehl, der zwar bereits nicht mehr dieser problematischen anderen Seite angehörte, aber doch eine reale Macht für sich war. In einer Hinsicht hatten wir unser Ziel über alles früher erwartete hinaus erreicht, nämlich eine Mehrheit von über 75 %. Dabei hatten wir für die Hälfte, von Hammersen, einschließlich der Mehrheit von Kottern, Haunstetten, Riedinger, Prinz, Tilburg und leider auch einiger notleidender Beteiligungen, für etwa 7 ½ Mill. erworben und zwar durch einwandfreie saubere Käufe an der Börse. Im Durchschnitt kamen sie uns trotz gelegentlicher Kurssteigungen bis über 190 % hinaus zu 106 % zu stehen, weil die hohen Kurse kompensiert wurden, dadurch
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daß wir in der Verwirrung der Stabilisierungszeit bei 25 % zu kaufen angefangen hatten. Daß die Aktien unterbewertet waren, weil von 24 Mill. etwa nur 14 Mill. umliefen und der Rest Luft- und Schachtelkapital war, konnte die Öffentlichkeit bei der erfolgreichen Verschleierungspolitik von F.H. freilich nicht wissen. Wir wußten es! Inzwischen geht die unablässige Mühe um das laufende Geschäft weiter: Sparmaßnahmen, technische Verbesserungen, Pflege des Verkaufes und der Werbung und vor allem Produktionssteigerung trotz der geringen Nachfrage. In der Weberei überschreiten wir im 1. Halbjahr 30 alle Vorjahre erheblich. Der Verkauf im 1. Halbjahr hält sich mit Mühe auf Vorjahreshöhe. Da der Inletkonsum offensichtlich zurückgeht durch den Übergang vom Federbett zur Schlafdecke und wir genau wissen, was wir am Inlet alles in allem verdienen (ich erinnere mich einmal ausgerechnet zu haben, daß wir in einem besonders guten Jahr an der eigenen Rotfärberei fast ½ Mill. verdient haben), suchen wir nach einem Ersatz an hochwertigen, unkostentragenden Waren. Unser beachtlicher Erfolg in Travisé reizt dazu, einen weiteren Schritt nach dem hochmodischen zu tun durch die Kreppware Fleurette, die wir meiner Erinnerung nach anfangs zu annähernd RM 2,50 verkauften. Für das Herausbringen dieser großen Qualität werden jetzt schon Vorbereitungen von langer Hand getroffen. Auch unsere Erfolge in Paris ermun122 tern uns dazu. Wir machen die Erfahrung, | daß wir dort, sobald wir halbwegs in Weltmarktpreise eintreten, das ganz große Geschäft machen, unter anderem dadurch daß wir den Grossisten durch unsere überaus reizvoll aufgemachten Kollektionen das Weiterverkaufen erheblich erleichtern. Wir scheinen in dieser Kombination von hochmodisch und Werbung auf dem richtigen Wege zu sein. Seit Jahresmitte mehren sich wieder die Krisenzeichen. Anstatt des erhofften Herbstgeschäftes tiefe Flaute. Im Zuge der Weltwirtschaftskrise sinkt die Baumwolle ständig von 17.25 cts am 31.12.29 im 1. Vierteljahr 30 um 100 Punkte, im 2. und 3. um je 300 Punkte auf 10.25 cts. Außenseiter des Buntweberverbandes verkauften mit Baisse-Klausel. Als Abwehr dagegen durchbrechen die Verbandsmitglieder immer mehr die Lieferungs- und Zahlungsbedingungen. Der Leipziger Verband droht wegen Windel¹⁵¹ aufzufliegen. Die Preisbindung wird, mehr oder weniger offiziell, aufgehoben. Preisverfall auf der ganzen Linie! Der Versand sinkt im 2. Semester 25 % unter den Vorjahresversand. Wir wollen Einschränkungen unserer hohen fixen Kosten
Gustav Windel (1873 – 1954), u. a. Fabrikbesitzer und Geschäftsführer der Hermann Windel GmbH in Windelsbleiche bei Bielefeld.
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lange Zeit krampfhaft verhindern, aber die Schulden dürfen in diesem Augenblick nicht wesentlich steigen. Burkhardt warnt vor Kreditrestriktionen, nicht weil die Banken uns nicht borgen wollten sondern vielleicht nicht borgen könnten, da das Ausland in bedenklicher Weise Guthaben abzöge und große Inlandzusammenbrüche bevorstünden (Karstadt). So schränken wir immer da ein, wo die hergestellte Qualität im Augenblick schlecht verkäuflich ist. Im Januar 31 wird unter dem Einfluß der Brüning’schen Deflationsmaßnahmen der erste Schiedsspruch auf Lohnermäßigung gefällt, in irgend einem Bezirk. Unsere Gewerkschaften bleiben stur bis zum letzten. Wenn irgendwo auf Grund nachweislich technischer Verbesserungen auf ein Mehrstuhlsystem übergegangen werden soll, legen sie sich trotz Bereitwilligkeit der Arbeiterschaft quer und verhindern die laut Tarifvertrag notwendige Zustimmung des Betriebsrates. Was bleibt uns anderes übrig, als die unvermeidlichen Einschränkungen wenigstens produktiv auszuwerten. Wenn wir eine längere Reihe von Wochen in einer Abteilung 36 Stunden gearbeitet haben und die Arbeiterschaft mit Petitionen auf Erhöhung der Arbeitszeit kommt, sagen wir ihnen: wenn ihr die auf Grund der technischen Verbesserungen, wie wir euch nachgewiesen haben, durchaus möglichen 8 Stühle anstatt 6 nehmt, dann können wir die Ware verkaufen (was im | übrigen durchaus den Tatsachen entsprach). Die Arbeiter- 123 schaft ging nun ohne weiteres darauf ein und die Gewerkschaft kam, um nicht vollends ihr Prestige einzubüßen, hinterher gelaufen. So haben wir allmählich in Verbindung mit der Bezirksgruppe die Sätze für 8, 10 und 12 Stühle in den Tarif bekommen. Dasselbe Verfahren haben wir in Augsburg angewandt, wo es besonders schwierig war, da die Arbeitgeberschaft, die noch nichts von der neuen Zeit gespürt hatte, uns dauernd in den Rücken fiel. Die Gewerkschaften haben dieses System als eine Bearbeitung der Arbeiterschaft mit der Hungerpeitsche bezeichnet. Leider nicht ganz zu unrecht. Aber wenn die Gewerkschaft aus eigensüchtigen Gewerkschaftsmotiven die von ihr seit Jahren propagierte Leistungssteigerung hintertrieb, so blieb leider nichts übrig, als auf einen Schelmen zwei zu setzen. Wir haben den Klassenkampf nur sehr gezwungen mitgemacht, soweit es aber nötig war, ohne Ängstlichkeit und mit eiserner Folgerichtigkeit. Am 16.12. geben wir eine neue Liste heraus mit der ausdrücklichen Feststellung in der Vorstandssitzung, daß diese Senkung nicht nur dem gesenkten Baumwollpreis entspreche, sondern eine Margenverschlechterung darstelle. In Gellenau wollen wir, um eine weitere Einschränkung zu vermeiden, mit Stühlen, deren Ware wir zufällig gut verkaufen können, in dreifache Schicht gehen. Wieder legt sich die Gewerkschaft quer. Wir machen Stillegungsanzeige mit
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dem Hinweis, daß wir 120 Leute entlassen müßten. Daß diese Maßnahme schließlich voll durchgeführt worden ist, glaube ich allerdings nicht. Die Bilanz vom 31.12.30 bringt einen Vermögensverlust von davon Verlust auf eisernen Bestand: . Ballen x . ctc. (. ./. .) = Arbeitsergebnis (Geschäftserfolg), Verlust Verlust aus Baumwollaufschlägen (ons) Verlust aus Margen Arbeitsergebnis vom Standpunkt der Leistungsfähigkeit
.. Mark ./. .. ʺ ./. .. ʺ ./. . ʺ ./. . ʺ + . Mark
Der Vermögensverlust ist erschreckend. Die stille Reserve in den Vorräten, die 1927 9.2 Mill. betrug ist bis auf 850.000 Mark aufgezehrt (Tagespreis der Vorräte 17.2 124 Mill. gegenüber 29 Mill. | im Jahre 27). Das Rentabilitätsergebnis + ./. Null ist bei 2 Mill. Abschreibungen, 433.000 Debitorenverlust und 350.000 Mark Prozeßkosten gar nicht so schlecht und zeigt halbwegs den Erfolg unserer Maßnahmen. Aber die Margensenkung vom letzten Quartal wird sich erst 31 auswirken. 1930 haben wir im Durchschnitt noch recht voll gearbeitet. Nach einer Senkung des Versandes von 778.000 Stück (1929) auf 675.000 Stück (1930) und nach einer Lagersteigerung von 282.000 Stück auf 407.000 Stück können wir die Beschäftigung nicht mehr forcieren. Wir sehen erstmalig nach langen Unterhaltungen mit Fürstenberg¹⁵² über die Verhältnisse in den Vereinigten Staaten, die er mit Erfolg studiert hatte, Möglichkeiten eines „vorübergehenden“ Baumwollrückganges auf 7 cts. Was wird dann aus dem Geschäft? Also können wir beim besten Willen die Erzeugung nicht mehr forcieren und müssen vorsichtig einschränken. Damit steigen aber unsere fixen Kosten, die wir gründlich und nach allen Richtungen hin mit Hammersen verglichen. Technisch haben wir den Vorsprung, den Hammersen im Jahre 24 vor uns hatte, vielfach überkompensiert. Aber der Vergleich der Nebenkosten fällt erschreckend aus. Unter diesen Umständen werden wir, wenn die Situation nicht noch schlechter wird, 1931 mindestens 1 Mill. verlieren, wenn nichts geschieht. Beschluß: 1 Mill. muß weiter eingespart werden. Ein nun allmählich herausgearbeiteter, in Einzelheiten gehender,Vorschlag ergibt zunächst einmal Möglichkeiten von 730.000 Mark. In der Verkaufsabteilung ist ein neuer Reorganisationsplan von Burkhardt (siehe unten) inzwischen zur Durchführung reif geworden, der die Wirkungsmöglichkeiten der Verkaufsabteilung weitgehend verbessern soll. Die Rayons
Hans Fürstenberg (1890 – 1982), Bankier, Geschäftsinhaber der Berliner Handelsgesellschaft und u. a. im Aufsichtsrat der C. D. AG.
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werden nämlich auf 3 Hauptrayons (mit Unterrayons) zusammengelegt, an deren Spitze Köpfe und Kaufleute stehen sollen (Kroner, Lembke, Döring). Die Kontokorrentbuchhaltung der Kunden wird in die Rayons verlegt (Erhöhung der Schlagkraft und Einsparung des bürokratischen Nebeneinanders und damit Personalersparnis). Der Rayon Süd, der versuchsweise nach Augsburg verlegt war, wird aufgelöst. Die Abteilung Brieger wird zusammengelegt und Seidel¹⁵³ (Grünau) mit der Durchführung nach Grünauer Erfahrungen beauftragt. Die Aschu-Zentrale (Aschu = Arbeitsschau-Uhr) wird abgeschafft, nachdem sie ihre Dienste geleistet hat, auf die Dauer ist sie zu teuer. Die Betriebsbüros werden verkleinert, u. a. durch Abbau parallel und durcheinanderlaufender Statistiken. In Zukunft müssen neue Statistiken in der Vorstandssitzung beschlossen werden. | 125 Zwei Wanderer-Wagen werden stillgelegt. Laass¹⁵⁴ wird mit einer laufenden Kontrolle über Verkehr auf den Höfen beauftragt und hat Leute zu melden, welche die Notwendigkeit ihres Aufenthalts auf dem Hofe nicht nachweisen können. In Wohnhäusern dürfen keinerlei Schönheitsreparaturen mehr gemacht werden (nach Jahr und Tag abgeändert, daß die Wohnungsinhaber grundsätzlich 1/3 der schwer vermeidbaren Schönheitsreparaturen tragen müssen). Dies sind einige Beispiele von Einzelmaßnahmen. Im übrigen werden systematisch alle Nebenabteilungen monatlich scharf kontrolliert durch das Abteilungsbuch alle technischen Ausgaben (sowohl Werkstätten wie Materialverbrauch und fremde Reparaturen) durch die gelben Monatsblätter. Die Spinnerei- und Weberei-Werkstätten werden bis auf einen kleinen Rest abgebaut und Spinnerei und Weberei an die Zentralwerkstätten verwiesen. Der Erfolg ist ruckartig durchschlagend, aber auf die Dauer in dieser Form nicht durchzuhalten. Später sehr vorsichtiger Wiederaufbau der Betriebswerkstätten auf vernünftiger Grundlage, eine Maßnahme, die ohne die vorhergehende Radikalmaßnahme niemals in dem Umfange durchzuführen gewesen wäre. Wir beginnen einen gewissen Geist übermäßiger, gelegentlich sinnloser, Solidität und Großzügigkeit in Kleinigkeiten zu bekämpfen, der bei C.D. aus Großväterzeiten eingerissen ist: es wird grundsätzlich „lieber etwas solider“ gebaut. Ein Provisorium für 6 Wochen wird so ausgeführt, daß die Enkel noch ihre Freude
Fritz Seidel (1900 – 1945), Schwiegersohn von Wolfgang Dierig und seit 1939 Vorstandsmitglied der C. D. AG. Seidel löste Ende 1941 Gottfried Dierig als Betriebsführer ab. N.e., Mitarbeiter der C. D. AG.
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daran haben könnten. Die Solidität ist zur Prestigeangelegenheit geworden. Ein Unternehmen wie „die Firma“ kann sich nichts behelfsmäßiges leisten. Man schlägt lieber 10 Nägel zu viel, als einen zu wenig ein: „es hat er ja genug bei der Firma“. Dieser Kampf gegen die Vornehmheit war besonders schwierig und ist bis heute noch nicht ausgekämpft. Ein weiterer verschärfter Abbau der A-Zulagen und ebenso weitere Kündigungen sind unumgänglich, und zwar soll nichts verwaschen werden, sondern die überzähligen Leute treten sofort aus, obgleich wir ihnen das Gehalt mindestens 6 Monate (in sozial schwierigen Fällen bis 12 Monate) weiter zahlen. Sozusagen zu unserer eigenen seelischen Entlastung begnügen wir uns auch 126 nicht mehr mit unseren eigenen 20 % Verzicht vom Fixum, sondern | alle Vorstandsmitglieder und werktätigen Aufsichtsratmitglieder verzichten für längere oder kürzere Zeit auf mehr oder weniger große Teile ihres Gehaltes. Die an dem Unternehmen am meisten beteiligten dehnen diesen Verzicht auf 40 % ihrer Gesamtbezüge aus. Daraus wird in den Jahren 31 und 32 ein Fond von 230.000 Mark beim Wohlfahrtsverein erreicht. Im ganzen haben die Gehaltsverzichte fast die Summe von 500.000 Mark erreicht. Dieser Fond diente nun dazu, entlassene Angestellte, die keine neue Stellung fanden, auch nach Ablauf der 6 bezw. mehr Monate mit 100,– Mark monatlich zu unterstützen und zwar grundsätzlich auf 6 Monate. Später wurde dann von Fall zu Fall weiter unterstützt.Von dem Bestehen dieses Unterstützungsfonds und der Art seiner Entstehung wurde den Entlassenen Kenntnis gegeben mit dem Hinweis: die Firma kann im Augenblick nicht mehr, daher haben die Vorstandsmitglieder durch Gehaltsverzicht Möglichkeiten geschaffen. Dies war begreiflicherweise von weitgehender psychologischer Wirkung. Ehe wir weiter gehen, sollen einige sehr verschiedene Ereignisse registriert werden, damit sie nicht unter den Tisch fallen. Am 15.4.1930 wird in der Vorstandssitzung beschlossen, daß die Aufrechterhaltung der Handweberei zum großen Unfug geworden ist. Es hat keinen Sinn, daß wir in derartigen Zeiten an der Handware einen Haufen Geld verlieren, um den Handwebern Löhne zu zahlen, von denen sie nicht leben können. Es wird also beschlossen, nunmehr endgültig keine Ketten mehr auszugeben und alten Handwebern lieber 10 Mark monatlich als verlorenen Lebenshaltungszuschuß zu zahlen. Ich habe die Empfindung, daß wir mit dieser Maßnahme genau das richtige getroffen haben. Im Januar 1931 stirbt Major Killmann¹⁵⁵, der Leiter unserer Betriebsrechnung gänzlich unerwartet an einem Schlaganfall. K. war nicht nur ein ebenso tüchtiger
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wie liebenswerter Mensch, sondern stellte in seiner fast mittelalterlichen Mannestreue zum Unternehmen und unserer Familie eine einmalige Erscheinung dar. Am 20. 2.1931 starb Geheimrat Friedrich Dierig¹⁵⁶ kurz vor Beendigung des 87. Lebensjahres. Eine Würdigung seiner Verdienste würde in diesem Zusammenhang zu weit führen und jeder Versuch, die Sache mit einigen Redewendungen abzutun, wäre eine Entwürdigung dessen, was er für uns gewesen ist. | Eine eigentümliche Gedankenverbindung bringt mich von diesem Todesfall 127 auf den Mode-Tee, den Dr. Schleich unter Einführung des Fleurette-Walzers für wenige Tage später angesetzt hatte. Die Gedankenverbindung kommt daher, daß ich im letzten Augenblick die Eröffnung dieses Tees absagen mußte. Den ersten, den Travisé-Tee habe ich aber eröffnet, und ich glaube, trotz leichten Schauers vor den monokeltragenden Mode-Redactricen, mit einem gewissen Erfolge. Ich erwähne diese Sache nur, um plastisch hervortreten zu lassen, was wir damals alles zur Hebung des Verkaufes getan haben und was alles von einem, gegen seine Natur, verlangt wurde. Wenn uns auch die damaligen Methoden Enttäuschungen gebracht haben und sie fraglos in unserem Fall nicht für die Dauer sind, so stehe ich doch auf dem Standpunkt, daß sie damals richtig waren, wovon später noch die Rede sein wird. Inzwischen zog die große Wirtschaftskrise immer weitere Kreise. 1928 und 29 war es im wesentlichen eine Textilkrise gewesen, während die deutsche Wirtschaft in ihrer Gesamtheit noch auf hohen und höchsten Touren lief (Arbeitslose 1928 durchschnittlich 1.4 Mill., 1929 1.9 Mill.). Im Jahre 1930 (3.2 Mill. Arbeitslose) zeigt sich die Krise der deutschen Gesamtwirtschaft bereits in erheblichem Umfang. Im Verlaufe des Jahres 1931 (4.6 Mill. Arbeitslose) zeichnet sich langsam die Weltkrise in ihren internationalen Zusammenhängen deutlich ab. 1932 (Arbeitslose durchschnittlich 5.6 Mill., Höchststand 6.1 Mill.) war das Krisentief in Deutschland erreicht, während es anderswo, z. B. in Amerika, erst später eintrat und sich eigentlich zu einem Dauerzustand entwickelte. In diesem Zusammenhang muß man die Ereignisse des Jahres 1931 sehen, um sie richtig würdigen zu können. Zunächst einmal dehnten sich unsere Sparmaßnahmen auf die verschiedensten Gebiete aus. Wir beschäftigten uns ernsthaft mit den Preisen unserer technischen und chemischen Lieferanten und stellten fest, daß diese der allgemeinen Deflation noch keinerlei Rechnung getragen hatten. Wir stellten nun
Friedrich Dierig (jun.) (1845 – 1931), Textilfabrikant und Vater von Wolfgang und Gottfried Dierig. Er trat 1868 in das Familienunternehmen ein, betrieb u. a. die Umwandlung in eine GmbH und baute es vor dem Ersten Weltkrieg zum größten deutschen Bunt- und Inlettweber auf.
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Material zusammen, in welchem wir von der Senkung unserer Margen ausgingen, auf die Brüning’schen Preissenkungs-Tendenzen hinweisen, und zum Schluß kommen, daß eine Preissenkung bei unseren Lieferanten dringend nötig sei. Mit diesem Rüstzeug statteten wir all die Stellen aus, die irgendwie mit unseren Lieferanten zu verhandeln hatten und gingen dann auf der ganzen Linie zum | 128 großen Angriff vor. Wir kamen damit offensichtlich gerade im richtigen Augenblick, denn überall machte sich die Deflationsstimmung breit. Im April brachten es sogar auch wir in der schlesischen Textilindustrie zu einer Senkung des Lohntarifes um 6 %. Um der Verwilderung der Verkaufssitten zu steuern [sic], hatten wir Ende 30 unsere Mitgliedschaft beim Buntweberverband auf Ende 31 gekündigt. Diese Maßnahme sollte nicht etwa destruktiv, sondern im Gegenteil im höchsten Maße konstruktiv wirken. Wir hatten nämlich die begründete Vermutung, daß Ende 1930 weitere bedeutende Firmen kündigen würden, um sich als Außenseiter einen Vorsprung vor den verbandsgebundenen Firmen zu verschaffen, was natürlich mit Zunahme der Außenseiterzahl ein Einhalten der Verbandsbedingungen immer unmöglicher machen mußte. Dieses Vergnügen wollten wir den Leuten versalzen. Denn daß ein Austritt von C.D. den Buntweberverband sprengen und darüber hinaus ein Konditionen-Chaos innerhalb der ganzen Baumwollwirtschaft bringen mußte, war auch den Außenseitern klar und konnte bestimmt nicht in ihrem Sinne sein. Tatsächlich begann unter unserer Austrittsdrohung eine erfolgreiche Werbung des Verbandes bei den Außenseitern. Wir haben am Jahresschluß 1931 unsere Kündigung zurückgezogen und damit tatsächlich den ersten erfolgreichen Schritt zur Konsolidierung der Verbandsverhältnisse getan. Im übrigen war unser Verkauf immer noch bei weitem der beste im ganzen Konzern. Trotzdem wagten wir nicht, voll zu arbeiten, da unser Gewebelager von Ende 1929 bis 1.11.1930 wieder um 140.000 Stück gestiegen war. Wir befanden uns wieder einmal in dem Dilemma, daß wir einerseits wegen unserer hohen fixen Kosten größtes Interesse an der Vollarbeit hatten, auf der anderen Seite standen unsere Schulden, die zwar gegenüber Herbst 1928 halbiert, aber immer noch hoch genug waren. Nach einem erheblichen Kampf der Meinungen erschienen uns schließlich die Finanzen im Augenblick doch primär, was sich nachher als richtig herausstellte. Unter diesen Umständen war die Beschäftigung im 1. Quartal 1931 fast 20 % niedriger als im 1. Quartal 1930. Im Durchschnitt des Jahres war der Abfall allerdings nicht entfernt so groß. Ein handgreifliches Zeichen der Weltwirtschaftskrise war das Absinken der Baumwollpreise, das im Hochsommer 1931 Formen annahm, die wohl auch Pes129 simisten kaum für möglich gehalten hätten. Ende 1930 war der | Baumwollstand noch 10 cts. und lag damit bereits 1– 2 cts. unter dem Durchschnitt des letzten Friedensjahrzehntes. Bereits im Juni 31 sank er unter 6 cts., was seit 1898 nicht
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mehr da gewesen war. Auch der Tiefstand in den Jahren 1897 und 98 mit 5 3/4 bezw. 5 3/8 cts. war einmalig seit dem Jahre 1848 (5 7/8). Der Tiefstand seit dem Bestehen der New Yorker Notierungen überhaupt (1826) war im Jahre 1841 und 1844 5 cts. Diese 5 cts. wurden übrigens am 9.6.32 nicht nur erreicht, sondern mit dem Julitermin (4.93) sogar noch etwas unterschritten. Wenn man bedenkt, inwieweit seither die Kaufkraft des Geldes gefallen war, so erhält man den richtigen Maßstab für die Beurteilung dieser Baumwollkrise im Rahmen der Gesamt-Weltwirtschaftskrise. Im Juli mehren sich die Sturmzeichen. Am 12. Juli ruft Burkhardt von Berlin an, der Reichsbankpräsident Luther habe bei der Biz nichts erreicht! Deutschland stehe vor einem Moratorium! Um Gottes willen keine Devisenkredite benutzen, um damit Schulden zu bezahlen! Keine Schecks auf die Danatbank annehmen! Am 13.7. stellt die Danatbank ihre Zahlungen ein. Darauf werden Devisenkredite entweder gar nicht mehr prolongiert oder mindestens halbiert. Glücklicherweise tragen unsere finanziellen Maßnahmen nun ihre Früchte. Das Lager ist wieder um 116.000 Stück herunter (31.7.31 304.000 Stück). Die technischen Sparmaßnahmen einschließlich der Senkung der Materiallager, ferner unsere Krisenregel: auch Betriebsverbesserungen nur insoweit, als sie sich in längstens 3 Jahren bezahlt machen, machen sich nun allmählich ernsthaft bemerkbar. Der Status (Herbst 1928 ./. 13.6 Mill.) ist am 31.7. mit ½ Mill. aktiv. Die Bankschulden betragen zwar noch 10.4 Mill., sinken aber bis Jahresschluß auf 6.1 Mill. Davon sind 4 Mill. aus DNF-Krediten konsolidiert. Unsere überschießenden Devisenverpflichtungen können wir notfalls mit Exportkrediten abdecken. So haben wir sozusagen für die Weltwirtschaftskrise mobil gemacht und stehen gefestigt da, als am 20.9. die Abwertung des Pfundes verkündet wird, ein Fanal für das Ausmaß der Weltwirtschaftskrise. Ein bemerkenswertes Licht auf die gesamte Situation wirft die Bilanz von 1931. Bei den alten überhohen Abschreibungen von 2.025.000 Mark | beträgt der 130 Vermögensverlust .. Mark davon eiserner Bestandsverlust . Ballen x . ctc. .. ʺ (. – .) Arbeitsergebnis (Geschäftserfolg) ./. . Mark davon Margenverlust .. ʺ Arbeitsergebnis (rentabilitätsmäßig) + . Mark
Dieses Ergebnis wird erzielt bei den überhohen Abschreibungen von 2.025.000. Nach den neuen Konzernabschreibungen (1.025.000) ergibt sich ein Rentabilitätsergebnis von 1.378.000 Mark, trotz einem leicht eingeschränkten Betrieb und
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575.000 Mark Delkredere-Verlust (natürlich einschließlich scharfer Abstriche für Dubiose, die wir 1932 gut gebrauchen konnten). Interessant ist der überaus hohe Margenverlust von über 1 Mill., der in diesem Jahr wegen seiner besonderen Bedeutung durch 2 Inventurbewertungen genau errechnet worden ist. Er wirft ein sehr bedeutungsvolles Licht auf die immer weiter gehende Senkung der Margen, d. h. des Fabrikationserlöses, eine Erlösschmälerung, die mit unseren Spar- und Reorganisationsmaßnahmen in fortgesetztem Wettrennen liegt. Mit der Bedenklichkeit der ständigen Vermögensverluste befassen wir uns später. Hier sei nur festgestellt, daß wir rentabilitätsmäßig, unter Berücksichtigung der Krisenzeit, nunmehr auf einer beachtlichen Höhe stehen. Als Dr. Wolfgang in einer Vorstandssitzung Anfang 1932 die Frage aufwirft, ob wir bezüglich der Sparmaßnahmen nun den möglichen Tiefpunkt erreicht hätten, wird festgestellt, daß alle, im Rahmen des vernünftigen liegenden, Möglichkeiten nunmehr ausgeschöpft seien. Daß manche Sparmaßnahmen überhaupt nur auf beschränkte Zeit aufrecht zu erhalten seien (ein besonders einleuchtendes Beispiel dafür sind die Einschränkungen in den Wohnhäuser-Reparaturen), darüber waren wir uns keineswegs im unklaren. Um den Eindruck zu vermeiden, daß wir uns etwa im Jahre 1931 lediglich mit Krisenabwehr befaßt hätten, möchte ich ausdrücklich betonen, daß unsere Vorstandssitzungen auch voll sind von aufbauenden Beratungsgegenständen. Ein besonderes Licht wirft hierauf die Tatsache, daß wir mitten im tollsten Krisenabsturz im Sommer 1931 Maria May ¹⁵⁷ einstellten, eine Maßnahme, die voller 131 Bedenken steckte und daher | mehrfach zurückgestellt worden war.Wir waren uns damals klar, daß die Sache vermutlich nicht auf die Dauer gut gehen konnte, daß wir aber etwas ganz besonderes tun müßten, um unsere Stellung als Modedrucker, von der an anderer Stelle bereits die Rede war, auszubauen und zu festigen. Damit die hohen Druckereiefragen [sic], die bei reinen Druckern im Mittelpunkt des Interesses stehen, bei uns nicht in der großen Gesamtheit des Unternehmens untergingen, wurde die Modedruck-Abteilung mit Herrn Kötter¹⁵⁸ (von Pungs & Zahn) geschaffen und ihm die Möglichkeit gegeben, initiativer zu wirken als die übrigen Abteilungen innerhalb unserer Verkaufsabteilung. Dieser Hinweis sollte nur ein Schlaglicht sein. Was uns aber begreiflicherweise ununterbrochen beschäftigte, war der Konzern. In einer Pressezusammenkunft, die den Zedernsaal der Deutschen Bank füllte und bei dem die Pres Maria May (1900 – 1968), deutsche Textil- und Modedesignerin, künstlerische Beraterin der Textil- und Tapetenindustrie und von 1956 bis 1966 Leiterin der Meisterschule für Mode in Hamburg. N.e.
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sereferenten des Berliner Tagesblattes und der Frankfurter Zeitung die erste Rolle spielten, wurde der neugeborene Zusammenschluß sozusagen der Öffentlichkeit übergeben. Im Anschluß an meine Darlegungen über Konstruktion, Zweck und Ziel des Konzerns, war es nicht immer ganz einfach, die gerissenen Fragen von Sonnenschein¹⁵⁹ und Elfenbein¹⁶⁰ (so hießen 2 besonders muntere Knaben tatsächlich) zu beantworten, wobei mich Otto Burkhardt geschickt unterstützte. Da Kehl überraschender Weise an dieser Pressezusammenkunft, welche der Pressereferent der Deutschen Bank, Müller-Jabusch¹⁶¹, inszeniert hatte, nicht teilnehmen wollte und Fritz Häcker im Schmollwinkel saß, stellte sich der Konzern, trotz der Muttergesellschaft Debag, von vornherein als Dierig-Konzern dar. Eine Riesenarbeit war zunächst einmal die formale Durchführung, welche Burkhardt Hand in Hand mit dem Justitiar der Deutschen Bank Krukenberg besorgte. Der Börseneinführungsprospekt der Debag, den in erster Linie Burkhardt ausgearbeitet hatte, war geradezu ein Kunstwerk. Der mir zufällig bekannte Berliner Industrielle, welcher vom Börsenvorstand aus diese Sache bearbeitete, hat mir gesagt, daß er noch nie eine so komplizierte, aber nichts destoweniger äußerst klar dargestellte Sache gesehen habe. Im Grunde war ja der Konzern denkbar einfach aufgebaut. Aber bei der Verschachtelung Hammersen-Debag war der Weg, der zum Ziele führen sollte, doch außerordentlich gewunden. Ehe die praktische Konzernarbeit richtig beginnen konnte, waren allerdings allerhand Personalfragen zu lösen. Da F.H. [Fritz Häcker] ja im Aufsichtsrat-Vorsitz von Hammersen mit Dr.Wolfgang und Kehl wechseln sollte, mußte er aus dem | Vorstand ausscheiden. Das von vornherein gegebene war, daß Dr. Hegels, der als 132 junger Volkswirtschaftler sozusagen die rechte Hand von Häcker in allen Fragen gewesen war, welche nicht Technik und laufendes Geschäft betrafen, in den Vorstand eintrat. Kopf ¹⁶², der das Garngeschäft leitete und allerhand Feldwebelarbeit im Hause besorgte, wurde stellvertretendes Vorstandsmitglied oder war es vielleicht sogar schon. Nun fehlte aber noch der Techniker und der führende Kaufmann. Als Techniker wollte Häcker einen seiner Leute hineinschieben, den Spinnereidirektor Schweizer, einen guten, erfahrenen Spinner, aber im übrigen nur einen großer Schlaumeier [sic] ohne irgendwelches Niveau.Wir sahen schnell,
Hans Sonnenschein (n.e.), Berliner Journalist bzw. Schriftleiter für den Wirtschaftsteil der Kölnische Zeitung. Axel Elfenbein (n.e.), Berliner Journalist bzw. Schriftleiter für den Wirtschaftsteil der Kölnische Zeitung. Maximilian Müller-Jabusch (1889 – 1961), deutscher Schriftsteller und Journalist bei der Berliner Vossischen Zeitung sowie am Berliner Tageblatt. Von 1927 bis 1940 war er Leiter der Presseabteilung der Deutschen Bank. Ferdinand Kopf (1886 – n.e.), Fabrikdirektor und im Vorstand der F. H. Hammersen AG.
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daß der Mann unter keinen Umständen in Frage kam und haben wegen seiner Ablehnung einen langen Kampf mit F.H. führen müssen, der später schließlich in der Einstellung von Bäuerle¹⁶³, ohne irgend eine Beteiligung Häckers, endete. Den führenden Verkaufsprokuristen Aschenbrücker¹⁶⁴, der wohl das Zeug zum Eintritt in den Vorstand gehabt hätte, hatte F.H. seltsamerweise unmittelbar vor Zusammenschluß des Konzerns zum Spinnweberverband abschwimmen lassen, wo er später Hammersen großen Kummer gemacht hat. Völlig überraschender Weise machte Häcker nun den Vorschlag, daß Dr. Bötzelen in den Vorstand eintreten solle. Was ihn dazu bewogen hat, ist wohl nie recht klar geworden, zumal er eigentlich Dr. Bötzelen verhältnismäßig wenig kannte. Vielleicht war in der letzten Zeit schon so viel gegen seinen Willen durchgesetzt worden, daß er fürchtete, durch dieses verblüffende Entgegenkommen einen Eintritt Burkhardts in den Hammersen-Vorstand verhindern zu können. Daß ihm der als Prozeßgegner verhaßt war und seiner ganzen Art nach viel unbequemer erschien, versteht sich von vornherein. Bötzelen, der sich in die Langenbielauer Verhältnisse ganz besonders gut eingelebt hatte, fiel dieser Übertritt, obgleich er fraglos ein Avancement war, außerordentlich schwer. Schließlich hat er aber doch die diplomatische Sendung übernommen und hat es nach langem Kampf gegen das allenthalben vorhandene Misstrauen und gegenüber einer äußerst vorsichtigen Haltung von Hegels, der sich berechtigter Weise als Wahrer der Hammersen-Tradition fühlte, fertig gebracht, sich eine führende Vertrauensstellung bei Hammersen zu schaffen. Der Eintritt in den Hammersen-Vorstand erfolgte per 1. Oktober. Burkhardt, der sich mit Recht sagte, daß sein Hauptverwaltungsdezernat jetzt nach Beendigung des Hammersen-Prozesses ihn nicht mehr ausfüllen könne, übernahm seine Stellung in der Verkaufsabteilung. | 133 Ende Oktober war die erste Aufsichtsrat-Sitzung in Bielau.Wir beschlossen, in dieser ersten Sitzung den neu eintretenden Aufsichtsrat-Mitgliedern F.H., Kehl und Fürstenberg einen vollständigen Überblick über Struktur, Ziele, Stärken und Schwächen unseres Unternehmens zu geben und ihnen auch Klarheit zu verschaffen über unsere ganze eiserne Bestands- und Rohstoffgegenrechnung, eine Sache, auf die sich Kehl sofort mit allergrößtem Interesse stürzte. Ich glaube, daß diese, wenn nicht 100 %ige, doch vielleicht 80 %ige Offenheit in allen grundlegenden Fragen ein ausgesprochener psychologischer Erfolg gewesen ist. Außerdem fand die erste Gemeinschaftsrat(GR)-Sitzung statt. Der Gemeinschaftsrat stellte sozusagen die Konzernleitung dar und war im Einigungsvertrag
Rudolf Bäuerle (n.e.), u. a. im Vorstand der F. H. Hammersen AG. Carl Aschenbrücker (1894 – n.e.), u. a.Vorsitzender des Verbandes Deutscher Weberausrüster in Berlin sowie Generaldirektor des Süddeutschen Spinnweber-Verbandes in Stuttgart.
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vereinanhmt [sic]. Bei ihm liefen alle Fäden der praktischen Konzernpolitik zusammen, allerdings war er ja den Vorständen und Aufsichtsräten der einzelnen Gesellschaften gegenüber in keiner Weise aktienrechtlich fundiert. Die Durchführungen seiner Beschlüsse in den Aufsichtsräten konnten aber nur dann zu Schwierigkeiten führen, wenn deren eigene Mitglieder quer trieben. Das hat allerdings Häcker sehr erheblich getan. Zu dieser Sitzung hatte er im letzten Augenblick wegen Unpäßlichkeit abgesagt, was für diese erste Sitzung bestimmt eine große Erleichterung war, weil es dadurch sehr viel einfacher war, von vornherein eine Atmosphäre des Vertrauens zu schaffen. Zunächst einmal wurde als Grundlage für die ganze Konzernarbeit ein umfassendes Meldewesen grundsätzlich beschlossen und zwar sollten es monatliche Übersichtsmeldungen, in erster Linie über technische und finanzielle Fragen, sein (GR-Bogen). Diese Bogen wurden mit großer Sorgfalt von Graf und mir ausgearbeitet und wurden wohl im Frühjahr 31 endgültig eingeführt. Die täglichen Meldungen über den Verkauf, die sofort einen umfassenden Überblick über das laufende Geschäft geben sollten, wurden wohl gleich eingeführt. Die nächste GR-Sitzung wurde in Osnabrück, die übernächste in Augsburg abgehalten, beide noch im selben Jahr. Noch im Oktober fuhr dann Lipp wegen Vorarbeiten zum Ausgleich der Bilanz und der Buchführung nach Osnabrück. Ich war wohl schon vorher dort gewesen, und zwar um als Grundlage für alles weitere mir Klarheit über die Rentabilitätslage von Hammersen zu verschaffen. F.H. hatte die Einigungsverhandlungen außerordentlich dadurch erschwert, daß er im Jahre 29 einen Gewinn von meiner Erinnerung nach 2 Mill. Mark auswies und eine entsprechende Dividende zahlte, während wir einen Verlust auswiesen und dividendenlos blieben. (Unsere Arbeitsergebnis-Rechnung klar zu machen, war ja in diesem Stadium eine völlig aussichtslose Unmöglichkeit). | Bereits aus dem Treuhandbericht von Hammersen konnten wir feststellen, 134 daß zunächst einmal ½ Mill. von den Töchter-Dividenden der Debag aus dem Vorjahre stammten, ferner daß eine Auflösung von stillen Reserven in Höhe von 600.000 Mark stattgefunden hatte. Immerhin blieb noch ein Gewinn von fast 1 Mill. Mark. In einer langen Besprechung mit Hegels und Roeper über den Aufbau der Bilanz, insonderheit der Inventur, merkte ich sehr schnell, daß Roeper der einzige war, der die Machenschaften, mit denen F.H. seinen Aufsichtsrat irre führte, durchschaute. So kam ich schnell dahinter, daß F.H. für die Inventur 1929 völlig neue Richtlinien erlassen hatte, ohne das irgend jemand etwas ahnte, und zwar dergestalt, daß u. a. die Vorräte nicht mehr von unten herauf, d. h. im wesentlichen Rohstoffe + aufgewandte Löhne ohne Regiekosten, sondern von oben herunter, d. h. Verkaufspreis mit Abschlag, gerechnet wurden. Ich erinnere mich
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noch, daß damit für schmalen Nessel ein Unterschied von 4 Pfg. per Meter herauskam, und es gelang mir sehr schnell überschläglich festzustellen, daß durch diese neuen Inventur-Grundsätze eine weitere Million stiller Reserven aufgelöst worden war, so daß tatsächlich im Jahre 29 das Arbeitsergebnis leicht passiv war. Noch im Herbst 30 stürmten allerhand brennend heiße Fragen auf uns ein. Vorher möchte ich aber ein Ereignis erwähnen, welches zu einer recht wesentlichen Erweiterung unseres Konzerns führte. Die Baumwollspinnerei am Stadtbach in Augsburg, Deutschlands größte und besonders vornehmste Baumwollspinnerei, war uns schon im Frühjahr 1930 angeboten worden. Bei den Preisgedanken, welche der Majoritätsbesitzer, ein potenter Schweizer Großindustrieller¹⁶⁵ (Spinner) damals hatte, kam es jedoch nur zu einer flüchtigen Fühlungnahme, zumal wir begreiflicherweise damals zunächst einmal die Hammersen-Einigung fertig machen wollten. Jetzt war er offenbar sehr viel geneigter, nachdem er festgestellt hatte, daß er, ein ausgesprochener Spinnereifachmann, mit seinen Reorganisations- und Einsparungsplänen dem autoritären Direktor Moser der Stadtbachspinnerei gegenüber einfach nicht weiter kam, weil er, wie er meinte, als Schweizer nicht genügend robust auftreten könne. Er spielte, wie es trotz aller Verschlagenheit seine Eigenart war, uns gegenüber mit verhältnismäßig offenen Karten und gewährte uns vor allem völligen Einblick in die Verhältnisse des Unternehmens. Daß Stadtbach mit seinen Garnqualitäten führend war, wußten wir. Wir stellten jetzt, nach eingehenden Unter135 suchungen von Graf, fest, | daß das Werk gut eingerichtet war, daß allerdings die letzten Errungenschaften, wie der richtige Hochverzug, fehlten, weil Moser als Kaufmann davon zu wenig verstand und, wie viele Spinner, glaubte, daß man Verdienen nur durch Baumwollspekulationen könne. Doch diese technische Rationalisierung ließ sich nachholen, wenn man die Spinnerei so billig bekäme, daß man für die Investierungen finanziell Raum behielte. Böse sah es aus mit den Zahlen Arbeiter je 1.000 Spindeln usw. Graf, dem es gelungen war, alle Unterlagen zu bekommen, stellte auf den ersten Blick fest, daß mit Verlust gearbeitet wurde, ebenso aber, daß dieser Verlust in erster Linie an einer gewissen üppig vornehmen Wirtschaft lag, die von den Werkstätten über die Hofkolonne bis zur Gärtnerei ging. Die Finanzen waren allerdings trostlos und der Status zeigte einen Einbruch in Stein und Eisen. Die Grundfrage für uns war: trauen wir uns zu, die nötige Reorganisation an Haupt und Gliedern gegenüber dem Bullenbeißer Moser durchzusetzen? Wenn ja, dann war das übrige eine Frage des Preises.
Die Schweizer Unternehmerfamilie Wirth stammte aus dem Zürcher Oberland und war im 19. und 20. Jahrhundert in der Baumwollspinnerei und -weberei aktiv.
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Schließlich erwarben wir 2.15 Mill. von einem Stammkapital von 4.2 Mill., dazu 1 Mill. Forderungen, welche Wirth, der bisherige Besitzer, gegen Stadtbach hatte für 2.5 Mill. Debag-Aktien, die die Debag zu Tauschzwecken noch im Portefeuille hatte.Wenn wir den Debag-Kurs zu 100 % rechnen (Anfang 1932 war er bis auf 43 % gefallen), so hatte uns bei Annahme eines Umlaufvermögens von + ./. Null die Spindel 10,– Mark gekostet, bei dem vorhandenen Einbruch in Stein und Eisen vielleicht 15,– Mark. Da eine gute neue Kämmerei vorhanden war, konnte man den Neuwert auf über 60,– Mark rechnen. Nicht gerechnet hierbei war die an Stadtbach dranhängende Weberei am Fichtelbach mit 1.000 Stühlen, die, obgleich sie teilweise maschinell gar nicht schlecht eingerichtet war, doch immer ein Augsburger Sorgenkind war, da bei Fichtelbach einfach vieles schlecht zusammen paßte. Ein großes Baumwoll-Spekulationsgeschäft (Wirth und Moser, die sich bei allen Gegensätzen in diesem einen Punkt fanden, hatten es einmal bis zu 30.000 Ballen Termingeschäften gebracht) hatte Wirth in seiner eigentümlichen Spekulantengroßzügigkeit, die in der Mitte zwischen Vornehmheit und Zigeunertum lag, auf seine Kappe genommen. Nun zur Frage: warum erwarben wir in dieser schweren Zeit ein so bedeutendes Unternehmen, das uns sicherlich zunächst einmal große Sorgen bringen mußte? Denn der billige Preis allein, ist nie eine Entschuldigung für einen Erwerb, der nicht paßt. | Nun konnte in diesem Fall von nicht Passen keine Rede sein. Andererseits lag 136 ein zwingender Grund für den Erwerb auch nicht vor, weil wir schließlich mit Hammersen bereits einen erheblichen Garnüberschuß hatten und die Tatsache, daß dieser Überschuß im Westen lag, während wir in Augsburg Bedarf hatten, war allein keine ausreichende Begründung.Wenn ich die Gründe, die zum Erwerb von Stadtbach führten als machtpolitisch bezeichne, so trifft dieser Ausdruck nur halb zu. Tatsächlich lag die Sache so, daß wir weder mit Mühlbach, noch Häcker mit Kottern, Haunstetten, Riedinger und Prinz in Augsburg so richtig Fuß fassen konnten. Wir wurden immer als lästige Ausländer betrachtet und hatten dadurch erhebliche Nachteile. Nun lag es durchaus in unserem Sinne, daß unsere Konzernunternehmen ausgesprochen bodenständig blieben und als solche angesehen wurden. Wir glaubten nun, daß, wenn wir Stadtbach, nicht nur die größte, sondern auch nach Augsburger Anschauungen die vornehmste Spinnerei – sie galt in der eigentümlichen Augsburger Atmosphäre als fast ebenso vornehm wie die „große Mechanische“ – erwürben, man nicht mehr um uns herumkäme, sondern wohl oder übel mit uns rechnen müsse. Nach dem Erwerb von Stadtbach hatten wir in Augsburg 47 % der Spindeln und 28 % der Webstühle, in der ganzen Bezirksgruppe Bayern (einschließlich Kottern!) 41 % und 27 %. Nachträglich müssen wir allerdings feststellen, daß diese dominierende Stellung es trotz allem
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nicht fertig gebracht hat, das Vorurteil gegen uns zu beseitigen. Allerdings bleibt dahingestellt, wie schwierig unsere Stellung wäre, wenn wir Stadtbach nicht hätten. Bei dieser Gelegenheit soll ein kurzer Überblick über den gesamten Konzern, wie er sich nunmehr darstellte, gegeben werden: C.D., Hammersen, Stadtbach, Kottern, Haunstetten, Riedinger und Fichtelbach hatten zusammen 812.000 Spindeln, wozu noch ca. 40.000 Spindeln der holländischen Spinnerei Tilburg kamen, dazu 13.300 Webstühle. Damit hatten wir in Deutschland etwa 8 % der reichlich 10 Mill. Dreizylinderspindeln und 6 % der ca. 220.000 Baumwollwebstühle. Nach laufenden Spindeln und Stühlen gerechnet, wird der Anteil in beiden Fällen nicht weit unter 10 % gelegen haben (während ein sehr erheblicher Teil der deutschen Webstühle, vor allem Buntwebstühle, stand, lief beispielsweise Kottern in voller Doppelschicht). C.D., Prinz, Suckert und Elbers hatten zusammen 6 Ausrüstungsanstalten, davon 4 mit Druckereien. In diesem Gebiet gibt es eine Messung nach Produktionseinheiten wie Spindeln und Stühle nicht. Selbstverständlich aber kamen wir in der Ausrüstung auch auf 10 % der deutschen Baumwollausrüstung. Die Gefolgschaft lag etwa bei 15.000. | 137 Es ist weiter zu sagen, daß von den Spinnereien Stadtbach und Haunstetten beträchtlichen Garnüberschuß hatten, C.D., Fichtelbach in erheblichem, Riedinger in geringerem Umfange Garn benötigten. Von den Webereien sind Kottern, Haunstetten, Fichtelbach und Rheine Rohwebereien, also Lieferanten für die Ausrüstungsanstalten; Hammersen hatte Rohgewebeüberschuß in Nessel. Dagegen haben die Ausrüstungsanstalten von C.D., Prinz, Suckert und Elbers Rohgewebebedarf in großem Umfange, ebenso Hammersen für seine Ausrüstung in Kattun und sonstigen süddeutschen Qualitäten. Des weiteren war Hammersen Lohnauftragsgeber für die Ausrüstungsanstalten von Prinz und C.D. Aus diesen Verhältnissen heraus und unserem Bestreben, nicht in die Fußstapfen der völlig zentralisierten Nordwolle – unseligen Angedenkens – zu treten, sondern den einzelnen Konzerngesellschaften zur schöpferischen selbständigen Betätigung Raum zu lassen, ergeben sich die Grundgedanken des Konzerns fast von selbst: alle Konzerngesellschaften beziehen möglichst nur innerhalb des Konzerns. Es wird aber keiner Gesellschaft von den anderen Konzerngesellschaften mehr abgenommen als höchstens die Hälfte ihrer Erzeugung, mit dem Rest tummeln sie sich im Markt. Alles in allem müssen sie so, gestützt auf die großen, einheitlichen, langfristigen Konzernaufträge, vor allen anderen Unternehmen einen Beschäftigungsvorsprung haben. Jetzt, im Augenblick der Krise, sollen die Konzernaufträge von vornherein als zusätzlich, und nicht etwa als Ersatz anderer Aufträge, angesehen werden. Die abnehmenden Konzerngesellschaften, die im Augenblick der Krise in erster Linie die Gebenden sind, suchen die Gegengabe darin, daß die Lieferfirmen bei diesen zusätzlichen Konzernauf-
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trägen nur einen bescheidenen Teil der fixen Kosten rechnen und so den Abnehmerfirmen den Weiterverkauf erleichtern. Natürlich ist so etwas leichter auf dem Papier skizziert, als im einzelnen gegen alle tatsächlichen Hemmnisse und psychologischen Schwierigkeiten durchgeführt. Immerhin ist es bald ersichtlich, wie sich die Beschäftigung der Spinnereien und Webereien innerhalb des Konzerns hebt, was ja im Augenblick der Krise die entscheidende Frage ist. Das weitere, was wir als ausgesprochene Fabrikanten vom Konzern erwarten, ist ein technischer Erfahrungsaustausch, der bei den vielen, im wesentlichen gut eingerichteten, Betrieben in den verschiedensten Teilen Deutschlands ein ungeheures Vergleichsmaterial bieten muß, | wenn das Meldewesen richtig organisiert 138 und die Vorstände für eine derartige Zusammen- und Ergänzungsarbeit wirklich gewonnen werden. Tatsächlich haben sich aus diesen Vergleichen, die in ihren Methoden immer mehr verfeinert wurden, geradezu erstaunliche Erkenntnisse ergeben. Die eigentlichen Verkaufsmeldungen dienten als Unterlage für eine allmähliche vorsichtige Abstimmung der Fabrikationsprogramme, ferner dazu, unnötige Konkurrenz zwischen den einzelnen Konzerngesellschaften abzuschleifen. Schließlich bot der Einblick in die täglichen Geschäfte so vieler verschiedenartiger Unternehmen eine Vertiefung der Marktkenntnisse, deren Bedeutung nicht zu unterschätzen war. Das war die Organisation des Konzerns. Sie wurde in zahllosen Vorstandsitzungen, GR-Sitzungen, Einzelbesprechungen mit Hammersen, mit den übrigen Konzernvorständen, mit Kehl und in diplomatischer Vorsicht auch mit F.H. geboren. Daneben wurden wir aber sehr bald von siedend heißen Fragen bei den einzelnen Konzerngesellschaften in Anspruch genommen. Schon im Herbst 1930 wurde es schlagartig klar: Elbers die große Modestoffdruckerei in Hagen war sichtlich notleidend. Hierzu sind einige Erklärungen über die Entwicklung des Hammersen-Konzerns nachzuholen. Häckers großes Verdienst war es gewesen, daß er einige Jahre vor dem ersten Weltkrieg die etwas schwach gewordene Firma F.H. Hammersen konsolidiert und dann im Krieg mit großem Geschick die Betriebe vergrößert und billig neue hinzu erworben hatte. Die Betriebe hatte er, unterstützt durch seinen technisch hervorragenden Bruder Ernst, mit denkbar geringen Mitteln rationalisiert und, klug mit den gegebenen Möglichkeiten rechnend, bis zum letzten Winkel ausgenützt und überall die letzten Möglichkeiten herausgeholt. Geld gab er grundsätzlich nur für unmittelbar produktive Zwecke aus. Vor „unnützem“ Aufwand, Repräsentation, Verwaltung, sozialen Aufgaben und unproduktiven Arbeitern hatte er einen, bis ins groteske gehenden, Abscheu. Der vielbesprochene Haupteingang des Verwaltungsgebäudes in Osnabrück (mit dem „Elefan-
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tenzwinger“) und der Lokus in Bocholt (warum sollte man für die Wasserspülung eine Kette mit dem üblichen Holzgriff anschaffen, wenn man sie ebenso gut mit einem auf der Spindelschnurmaschine aus Abfallgarnen gedrehtem Strick betätigen konnte) waren für mich immer das non plus ultra dieser zur Schau gestellten Sparsamkeit. Damit soll aber keineswegs sein System herabgesetzt werden.Was er an Rationalisierungen mit sparsamsten Investitionen und an Erzeugung mit 139 denkbar | geringen Kosten geschaffen hatte, war schlechthin einmalig. In der Inflation hatte er dann, in klarer Erkenntnis der Unterbewertung aller Aktien trotz ihrer vierstelligen Kurse, mit größtem Geschick Aktienmehrheiten gehamstert und zwar zunächst nur gute Aktienmehrheiten. So stand es zurzeit der IG-Verhandlungen im Jahre 1924. Es ist hier nicht der Ort, die Frage zu erörtern, warum F.H. die IG. wollte, noch kann hier dieser schwierige, geniale, aber mit krankhaften Hemmungen durchsetzte Charakter gewürdigt werden. Dieser Charaktereigentümlichkeit entsprang es, daß er seit dem Platzen der IG. völlig neue Wege ging. Für die technische Weiterentwicklung hatte er kein Organ mehr, weil er nur noch andere Dinge im Kopf hatte. Von seinem Bruder und den sonstigen, über dem Durchschnitt stehenden, Mitarbeitern trennte er sich mit größtem Krach. Er sah nur noch ein Ziel: zu beweisen, daß er die Zusammenschweißung seiner bisher unverbundenen, nebeneinander herlaufenden Gesellschaften auch ohne die Hilfe von C.D. zu einem Konzern fertig bringen würde, nunmehr unter selbständiger Angliederung der Fertigwaren-Betriebe, die er bei C.D. gesucht hatte. Der Erwerb von Prinz, den er hinter unserem Rücken bereits im zweiten Stadium der IG-Verhandlungen betrieb (1925), blieb noch im Rahmen des zweckmäßigen, da es sich dort um die Veredlung zu Stapelartikeln handelte. Das Ärmelfuttergeschäft und das Ausrüstungsgeschäft mit süddeutschen Weisswaren, welches er nun aufbaute, verdient noch allerhand Anerkennung. Wenn er sich dann aber während der Kampfzeit auch auf das Modedruckgeschäft warf, welches den bewährten Hammersen’schen Geschäftsgrundsätzen diametral zuwider lief – und zwar nur, weil unser Modedruckgeschäft viel von sich reden machte – so war die ganze Unternehmung fraglos nur ein Ausfluß eines nunmehrigen blinden Hasses gegen C.D. Um einen „Dierig des Westens“ aufzumachen, erwarb er in diesem Zusammenhang – selbst nicht sachverständig und denkbar schlecht beraten – die Mehrheit der Druckerei Elbers in Hagen. Schon im November 30 zeigte es sich, daß Elbers, im Rahmen einer allgemeinen Druckerei-Krise, schwer notleidend war. Da die große Druckerei Ribbert an der gleichen Krankheit litt wie Elbers und auch die aufstrebende Firma Habig im Augenblick anlehnungsbedürftig war, regte Kehl auf Grund seiner Beziehungen zu Habig eine Kombination dieser drei Firmen an, ganz in der Richtung seiner Konzernerweiterungspläne. Längere Verhandlungen, aus denen wir zum mindesten allerhand gelernt haben, zer140 schlugen sich dann wieder, weil die tüchtige Leitung von Habig | sich doch schwer
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zur Aufgabe ihrer Selbständigkeit entschließen konnte. Bis in den Herbst 31 kommt nun Elbers kaum mehr von den Tagesordnungen unserer Vorstandssitzungen herunter. Reisen von Dr. Wolfgang nach Hagen, Untersuchung der Kraftzentrale durch Neumann¹⁶⁶, umfassende Unkostenuntersuchungen bei fortlaufend beträchtlichen Verlusten zeigen uns immer mehr die Hoffnungslosigkeit des Falles. Elbers ist, wie viele Modedruck-Druckereien, viel zu weitläufig angelegt, ein ausgesprochener Unkostenbetrieb. Wir wollen Elbers nun fallen lassen und weigern uns, irgendwelche Konzernmittel in das Faß ohne Boden zu werfen. Kehl betrachtet dieses Fallen lassen als unmöglich für das Prestige des Konzerns. Andererseits weigert sich begreiflicherweise auch die Deutsche Bank, Kredite zu geben. Leider war dies nicht das einzige Sorgenkind im Konzern. Prinz hatte zwar in guten Zeiten nicht schlecht gearbeitet. Es war aber bei der Ausgabenwirtschaft seines üppigen Direktors Labhardt¹⁶⁷ den Krisenzeiten auch nicht gewachsen. Da die ganze deutsche Druckerei offensichtlich übersetzt war, wurde der Plan erwogen, die Druckerei stillzulegen und insonderheit das Ärmelfuttergeschäft ganz auf C.D. zu konzentrieren. Voraussetzung für die Beschränkung von Prinz auf Färberei und Weisswaren war aber eine radikale Vereinfachung des ganzen Apparates. Und das war mit Labhardt nicht zu machen. Ein weiteres krankes Kind war Suckert. Der Direktor Seelhorst¹⁶⁸ war zwar ein ungewöhnlich geschickter und betriebsamer Verkäufer, der auch den richtigen Sinn für Musterung hatte. In der Krise verfiel er aber in den bekannten Fehler des Geschäfte machens unter allen Umständen, ohne Rücksicht auf die Verzettelung der Erzeugung.Vor allem fehlte ihm die klare Übersicht über die Unkosten und der Blick für den letzten Pfennig, der nötig ist, um aus den Verlusten in den Gewinn zu kommen. Bei Fichtelbach zeigte es sich allmählich, wie schwer es war, mit diesem alten Sorgenkind Augsburgs fertig zu werden. Nach der Einstellung des äußerst betriebsamen Direktors Gruber¹⁶⁹ und Versetzung unseres Verkaufsprokuristen Rumler zu Fichtelbach war es durch forcierten Verkauf und Konzernaufträge, trotz der schwierigen Marktlage, gelungen, Fichtelbach mit 640 Baumwollstühlen in Doppelschicht zu bringen, während die Kunstseidenstühle stillgelegt wurden. Trotzdem erkannten wir langsam die verborgenen Mängel Fichtelbachs: es hat
N.e., Mitarbeiter der C. D. AG. Labhardt (n.e.), Direktor der Actien-Gesellschaft für Bleicherei, Färberei, Appretur und Druckerei Augsburg. Erwin Seelhorst (n.e.), Direktor der Kattundruckerei F. Suckert. Gruber (n.e.), Direktor der Mechanische Weberei am Fichtelbach in Augsburg.
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eine viel zu große Kraftanlage, es war auf sozialem Gebiete nie etwas geschehen, Direktor Bergholt¹⁷⁰ war mit einer gewissen persönlichen Lodderwirtschaft vor141 angegangen, Arbeiter- und Angestelltenschaft taugte nichts. Mit nur | 1.000 Rohstühlen ohne Spinnerei war keine gute ausgebaute und richtig besetzte Leitung zu tragen. Auf anderem Gebiet machte uns Haunstetten Sorgen. Haunstetten stand finanziell glänzend da, weil seit langem nichts mehr in den Betrieb gesteckt worden war. Der bequeme Vorstand merkte, voller Stolz auf sein Geld, nicht, daß er die Betriebsverluste nur durch seine Habenzinsen ausgeglichen hatte, und jetzt reichten auch die nicht mehr. Ein richtiger Techniker war überhaupt nicht da. Es entstand nun der nicht ganz fern liegende Plan, Haunstetten und Fichtelbach zusammenzuschließen. Das so erweiterte Unternehmen mit seinen 2.000 Stühlen und Spinnerei hätte eine vollwertige kaufmännische und technische Leitung vertragen und eine großzügige Belegung in der Weberei möglich gemacht. Die Spinnerei, die dann nur noch den halben Bedarf gedeckt hätte, konnte sich auf weniger Nummern beschränken. Das übrige wäre von Stadtbach zu kaufen gewesen. Das Geld zur technischen Reorganisation hatte Haunstetten. Es zeigte sich aber bald, daß dieser Zusammenschlußplan nur gegen den schärfsten Widerstand von Vorstand und Aufsichtsrat-Vorsitzer hätte durchgeführt werden können. Der Vorstand sah seine Haunstetter Behaglichkeit schwinden und Justizrat Reinhold¹⁷¹ sah einen Zusammenbruch der Tradition, zudem erschien ihm die Fusion mit dem in Augsburg viel besprochenen Fichtelbach sozusagen als eine Schande. Da zudem noch F.H. als Aufsichtsratmitglied eine etwas undurchsichtige Haltung einnahm, mußte dieser wohldurchdachte Plan aufgegeben werden. Als neues Auskunftsmittel erfanden wir nun die Pachtung des Betriebes durch C.D. Nun konnte für eine großzügige Belegung gesorgt und der Apparat auf ein Minimum zusammengestrichen werden. Alfred Graf ¹⁷², der meiner Erinnerung nach schon als Obermeister unter Gruber dort gearbeitet hatte, wurde technischer Leiter und warf sich mit aller Macht auf die Reorganisation, führte unter schwierigsten Umständen, ohne jede Unterstützung durch den Arbeitgeberverband, das 8 Stuhlsystem durch und es gelang ihm sichtlich, die verkleinerte Gefolgschaft zu einer Betriebsgemeinschaft zusammenzuschließen. Daß wir später die Fichtelbachgesellschaft liquidierten und den Betrieb ganz auf C.D. übernah-
Ludwig Bergold (n.e.), Fabrikdirektor und Vorstand der Mechanische Weberei am Fichtelbach in Augsburg. Franz Reinhold (n.e. – 1944), Justizrat und u. a. Vorsitzender des Aufsichtsrates der Haunstetter Spinnerei und Weberei in Augsburg. Alfred Graf (n.e.), Mitarbeiter der C. D. AG u. a. im niederschlesischen Weberei-Zweigbetrieb Gellenau.
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men, um ihn mit Mühlbach unter einer Leitung zu vereinigen, sei hier vorweg genommen. | Auch bei Stadtbach entwickeln sich die Verhältnisse recht brenzlich. Daß 142 Stadtbach bei seinen großen Unkosten mit Verlust arbeitete, hatten wir beim Erwerb durchaus nicht übersehen, nicht dagegen hatten wir mit einem weiteren Margenverfall in derartigem Umfang gerechnet. Meiner Erinnerung nach kamen wir schließlich auf einen Margenverlust von 13 Pfg. je kg, was bei der damaligen Produktion einen monatlichen Verlust von 60 – 70.000 Mark bedeutete. Der Verfall mußte also bedenklich schnell gehen. Mit Moser war nichts zu machen. Wir stellten für die technische und kaufmännische Leitung nun nach sehr sorgfältigen Erwägungen die Herren Nestel¹⁷³ und Dr. von Pigenot¹⁷⁴ ein. Unter teilweisem Protest von Moser führte Graf mit den beiden Herren die Reorganisation, zunächst einmal im gröbsten, durch. Die Belegschaft wurde meiner Erinnerung nach von 2.400 Leuten auf 1.600 abgebaut und die vielen Nebenarbeitergrüppchen gestrichen. Stadtbach erhielt beträchtliche Konzernaufträge und Pigenot begab sich auf die Reise und zwar unter wildem Protest Mosers, der es als eine Schande ansah, daß eine renommierte Firma wie Stadtbach der Kundschaft nachläuft. Pigenot zeigte sich als ein vorzüglicher Anreißer, so daß mit Hilfe seiner Verkaufs- und der Konzern-Aufträge die Ringspindeln bald in kompletter Doppelschicht sind, während die Selfaktorspindeln nur noch für gekämmte Maco-Garne und Strumpfgarne in Betrieb gehalten werden. Nun können auch langsam wieder Leute eingestellt werden. Am Jahresende hat Stadtbach keine laufenden Betriebsverluste mehr und die Schlacht schien bezüglich der Rentabilität gewonnen, während natürlich die Finanzen weiter schlecht waren. Es sei aber schon hier vorweg genommen, daß uns Stadtbach wegen des weiteren Preisverfalls 1932 wieder erhebliche Sorgen machte. Nachzuholen bleibt noch eine kleine notleidende Gesellschaft: Pongs, ich glaube in Korschenbroich bei Gladbach. Aus welchen Gründen F.H. die gekauft hatte, ist uns nie klar geworden. Jedenfalls war auch sie nunmehr notleidend und mußte liquidiert werden, was bei der Kleinheit des Objektes kein allzu großes Kopfzerbrechen machte. Eine gewisse Enttäuschung bereitete uns das Paradepferd Riedinger. Am 30.6.1931 schloß das erste Semester mit einem Verlust von etwa 70.000 Mark ab,
Walter Nestel (1896 – n.e.), Fabrikdirektor, im Vorstand der Mechanischen BaumwollSpinnerei und -Weberei Kaufbeuren sowie im Vorstand der Baumwollspinnerei am Stadtbach in Augsburg. Friedrich von Pigenot (n.e.), u. a. Vorstand der Baumwollspinnerei am Stadtbach in Augsburg.
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was allerdings nicht so schlecht war, wie es zunächst schien, da im 2. Halbjahr an den Flanellen im allgemeinen mehr verdient wurde. Immerhin hatten wir ja Riedinger für vorzüglich gehalten, so daß dieser Verlust für uns etwas alarmie143 rendes war. Es war nun außerordentlich | schwer, genauen Einblick in die Verhältnisse zu bekommen, weil es auch F.H. bisher nicht gelungen war, dem eigenwilligen Kommerzienrat Wrede¹⁷⁵ seine Unterlagen aus der Nase zu ziehen, und der Konzernrevisor Tschörner¹⁷⁶ war entsetzlich bemogelt worden. Immerhin kriegten wir soviel heraus, daß uns ernste Bedenken kamen, ob nicht der Betrieb schon seit längerer Zeit sich von seinen stillen Reserven nährt. Wrede ist 65 Jahre alt geworden, hat seit geraumer Zeit technisch nichts mehr gemacht, so daß wir rechte Bedenken bekommen.Wredes Plan, seinen Schwiegersohn Dr. Faulstroh¹⁷⁷, der keinerlei technische Kenntnisse hat, stillschweigend zu seinem Nachfolger zu machen, wurde zunächst einmal ein vorbeugendes Veto entgegengesetzt. Alles in allem ergibt sich bei den notleidenden Konzerngesellschaften folgendes Bild: Stadtbach, Fichtelbach, Haunstetten, Prinz und Suckert sind akut kranke Kinder. Wir trauen uns zu, sie durch rücksichtslose Operationen wieder zu gesunden, wertvollen Konzerngliedern zu machen. Elbers aber ist einfach nicht mehr lebensfähig. Nachdem 3 Druckereien Ribbert, Hilgen und Kassel ihre Tore geschlossen haben, ist auch Elbers reif zur Liquidation. Da die Deutsche Bank es, wie gesagt, ablehnt, noch irgendwelches Geld hineinzustecken, gibt Kehl seinen Widerstand auf. Es kommt im Herbst zu einem Vergleich mit den Gläubigern. Meiner Erinnerung nach hat die Debag auf ihre Forderungen ganz verzichtet, aber den anderen Gläubigern noch etwas nachzuwerfen, das konnten wir uns nicht leisten. Bei der allgemeinen wirtschaftlichen Götterdämmerung mußten falsche Prestigerücksichten zurücktreten. Die Debag kam ohnedies durch diese Pleite in eine sehr böse Lage. Meiner Erinnerung nach war der gesamte Verlust bei Elbers 2.4 Mill., davon 1.5 Mill. durch das Wertloswerden der Aktien. Aber auch Stadtbach und Prinz, die sanierungsreif waren, mußten im Beteiligungskonto herunter geschrieben werden, ebenso die N.A.K., und selbst Hammersen konnte nicht mehr mit 106 % weitergeführt werden (Kurs im Frühjahr 32 vor der Zusammenlegung 47 %). Äußerst mißlich für die weitere Entwicklung war die Tatsache, daß auf der einen Seite die einzigen Erträge in Gestalt der Beteiligungsdividenden immer mehr zusammen schrumpften, während die Schuldenzinsen unverändert blieben und bei dem unvermeidlichen Heinrich Wrede (1867 – n.e.), Fabrikdirektor, Vorstand der Augsburger Buntweberei vorm. L. A. Riedinger und Vorstandsmitglied des Industrievereins Augsburg. N.e. Albert Faulstroh (n.e.), Prokurist der C. D. AG bei der Zweigniederlassung Augsburger Buntweberei vorm. L. A. Riedinger.
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Weitersteigen der Schulden mit stiegen. Die Debag hatte nämlich bei C.D. und Hammersen 6.6 Mill. Schulden und man konnte sich ausrechnen, daß diese Schulden bis Ende 1932 auf 8.7 Mill. Mark steigen würden. | Zunächst einmal schloß die Debag per 30.9. (Schluß des Geschäftsjahres) mit 144 einem Verlust von 4.5 Mill. ab, davon 4.1 Mill. Beteiligungsverluste. Jede reine Holdinggesellschaft mit Schulden ist eine faule Sache, weil festen Zinsenausgaben schwankende Dividendeneinnahmen gegenüberstehen. Hier war also ein Kapitalschnitt unvermeidlich, ebenso, wie gesagt, bei Hammersen, Prinz und Suckert. Das Kapital der Debag war damals 39 Mill., wovon rund 32.8 Mill. umliefen, während 6 Mill. im Besitz von Hammersen waren (altes Debag-Kapital!) und 167.000 Mark im Besitz von C.D. Da es sich bei der Debag um die Konzernmutter handelte, war bei der Zusammenlegung eine große Geste unvermeidlich. Die T.T. stellt daher 3.231.000, Hammersen 602.000 und C.D. die vollen 167.000 Mark = zusammen 4 Mill. Mark vorab gratis zur Verfügung. Das verbleibende Kapital von 35 Mill. wurde dann 4:5 auf 28 Mill. zusammengelegt. Das war zwar für die T.T., die ohnehin in keiner schönen Situation war, sehr schmerzlich, aber da 80 % des Kapitals direkt oder indirekt in ihrem Besitz waren, handelte es sich ja größtenteils nur um die buchmäßige Herabsetzung des Kapitals und die Vorabhergabe bedeutete lediglich eine kleine Verschiebung des Anteils im Verhältnis zu den freien Aktionären. Die Gebärde wirkte also großartiger, als sie in Wirklichkeit war. Es stand nunmehr ein Buchgewinn von 11 Mill. zur Bereinigung der Buchwerte zur Verfügung. Außerdem war aber eine durchgreifende Statusverbesserung unerläßlich. Sie wurde erreicht durch den Verkauf von C.D.-Aktien an Hammersen und Hammersen-Aktien an C.D. im Gesamtwerte von 8 Mill. Mark, so daß die Debag nunmehr mit einem aktiven Finanzstatus dastand. Es konnte ihr nunmehr auch bei Dividendenlosigkeit der Töchter nichts mehr passieren. Diese Übernahme von Hammersen-Aktien durch C.D. und vor allen Dingen C.D.-Aktien durch Hammersen war eine äußerst unbequeme Verschachtelung, die aber im Augenblick nicht zu vermeiden war. Es wurde uns aber immer mehr klar, daß die bisherige Konzerngestaltung bezüglich der aktienrechtlichen Seite noch nicht die endgültige war. Das Aktienkapital von Prinz von 4.200.000 Mark wurde im Verhältnis 3:5 auf 2.520.000 Mark zusammengelegt. In diesen Fällen handelte es sich, wie gesagt, nach außen hin lediglich um eine Zusammenlegung des Kapitals, aber nicht um eine wirkliche Sanierung, d. h. die Zufuhr neuen Kapitals (die Zufuhr neuer | Barmittel für die Debag geschah ja 145 innerhalb des Konzerns). Unvermeidlich war jedoch eine wirkliche Sanierung bei Stadtbach. Hier wurden vom Aktienkapital von 4.2 Mill. Mark (das ohnehin schon
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sehr niedrig war) 160.000 Mark eigene Aktien eingezogen, der Rest auf 4/10, d. h. 1.616.000 Mark äußerst scharf zusammengelegt und dieses minimale Kapital um 2.184.000 auf 3.8 Mill. Mark wieder erhöht. Da bei der damaligen Situation viele Aktionäre keine Neigung zeigten, ihr Bezugsrecht auszuüben, verstärkte die Debag durch Übernahme des Restes ihre Beteiligung an Stadtbach sehr erheblich. Außerdem gab die Debag (oder war es C.D.?) eine Obligationsanleihe an Stadtbach, wie C.D. das auch bei Fichtelbach schon getan hatte. Später, als die Verhältnisse sich einigermaßen konsolidiert hatten, wurde dafür eine Aktienkapitalerhöhung um 1.6 Mill. auf 5.4 Mill. Mark vorgenommen in Gestalt echter Vorzugsaktien mit Vorzugsdividende. Inwieweit wirkten sich nun diese Zusammenlegungen auf C.D. und Hammersen aus? Auf C.D. nur durch die Gratisabgabe von 167.000 Mark Debag-Aktien, auf Hammersen, als der Besitzerin von 6 Mill. Mark Debag-Aktien, als Buchverlust von fast 1.7 Mill. Außerdem erschien der jetzige Augenblick der Deflationsstimmung geeignet, die Luftaktien einzuziehen, und schließlich durfte nach der Zusammenlegung der Debag-Aktien der kleine Teil von Hammersen-Aktionären, die nicht in Debag-Aktien umgetauscht hatten, nicht prämiert werden. Das Hammersen-Kapital bestand damals aus .. Mark voll eingezahlten Stamm-Aktien .. ʺ zu % eingezahlter Vorratsaktien . ʺ Vorzugsaktien .. Mark
Die Vorrats- und Vorzugsaktien wurden nun eingezogen, die Stammaktien im gleichen Verhältnis wie die umlaufenden Debag-Aktien d. h. 4:5 zusammengelegt. Durch diese Zusammenlegung war nun auch C.D. als Besitzerin von 6 ¼ Mill. Hammersen-Aktien betroffen. Außerdem fühlten wir uns äußerst unbehaglich nach dem Verlust unserer stillen Vorratsreserven, einem Verlust, der mit der Art unserer Bilanzierung zusammen hing. Wer genau über unsere Baumwollfixierungsmethode unterrichtet sein will, der möge die Denkschrift vom 25.11.1933 über „Gegendeckung der Rohstoffe beim 146 Ein- und Verkauf. Bewertung der Vorräte in der Bilanz“ | lesen. Hier sei nur das notwendigste erklärt: eine Fabrik ohne Maschinenbelag ist eine Maschinenausstellung ohne Möglichkeit des Betriebes. Ehe ein Betrieb das erste Stück Ware in die Welt schicken kann, muß er sich zunächst einmal mit Rohstoffen vollgesogen haben und zwar nicht nur mit den Rohstoffen und Halbfabrikaten, welche – unter fortgesetzter Regeneration – die Maschinen belegen, sondern auch damit, was zum Betrieb an Zwischenlägern und in gewissen Umfange auch Fertiglägern nötig
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ist. Diese Materialien, die, solange der Betrieb läuft, unveräußerlich sind, gehören vom Standpunkt der Fortführung des Betriebes, der für den Fabrikanten allein maßgebend sein sollte, zu den Anlagen (natürlich sind die Grenzen, welche Materialien zum Betrieb unbedingt nötig sind, durchaus flüssig). Wenn sie aber unveräußerlich zu den Anlagen gehören, ist es für den Fabrikanten gänzlich gleichgültig, in welchen Schwankungen sich die Marktpreise bewegen. Dieser Teil unserer Vorräte ist unser eiserner Bestand. Man kann nun auf zweierlei Weise rechnen. Entweder verkauft man bei beispielsweise 5-monatiger Umlaufdauer die im Juni lieferbaren Waren auf Basis der im Januar hereinkommenden, also in der Ware tatsächlich drinsteckenden Baumwolle (diese Rechnung ist nur von einem kleineren Teil von Baumwollindustriellen voll und bewußt durchgeführt worden). Die andere Rechnung ist die Eiserne Bestandsrechnung. Hier kalkuliert man die im Juni herausgehende (oder richtiger gesagt versandbereite) Fertigware auf Basis der im Juni hereinkommenden Baumwolle. (Diese Methode war in der Baumwollindustrie die normale, nur wurde sie im allgemeinen nicht bewußt und infolgedessen nicht sauber durchgeführt. Man deckte gegen jeden Verkauf irgend eine noch offene Baumwollpartie ein, ohne sich klar zu werden, ob man zurzeit ein großes oder ein kleines Lager hatte usw. Wer nicht Baumwolle, sondern Garn kaufte, verlor vielfach bald ganz den Boden unter den Füßen). Die Rechnung mit eisernem Bestand hat den großen Vorteil, daß sie das Unternehmen unabhängig von den Banken macht. Wenn ich die im Juni hereinkommende Baumwolle mit dem auf gleicher Rohstoffbasis berechneten Erlös der im Juni herausgehenden Ware bezahlen kann, so reicht der Erlös in jedem Fall. Die Baumwolle kann noch so hoch steigen, ohne daß ich zusätzlich Kapitalbedarf habe. Umgekehrt wird natürlich beim Fallen auch kein Kapital frei. Diese Art des Rechnens war für uns zunächst einmal in der Inflation von entscheidender Bedeutung. Selbstverständlich waren wir uns klar darüber (durchaus im Gegensatz zu anderen), daß wir nicht nur die Baumwolle, sondern auch den Dollar sofort mit kaufen mußten, d. h. wenn wir zur Juni-Lieferung verkauften, suchten wir, wenn irgend technisch durchführbar, gleich die für Juni benötigten Dollars einzudecken, sei es im Wege von Termin-Dollars, Markkrediten oder über unsere Lieferanten, denen wir Markakzepte gaben. Aber nicht nur bezüglich des Valutarisikos | war diese Art der Rechnung ungeheuer wichtig, son- 147 dern auch in Bezug auf die Baumwollpreise, die damals in einer unvorstellbaren Art schwankten. So stieg 1919 die Baumwolle im Laufe einer Reihe von Monaten von 27 auf 41 cts., um im Januar 20 wieder auf 13 cts. zu fallen und dann langsam wieder auf 38 cts. hochzuklettern. Wenn wir mit unseren, von Natur besonders großen, Beständen und unserer, auf Grund der bekannten Notwendigkeiten vielfach äußerst angespannten, Finanzlage anders gerechnet hätten, hätte uns
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eine beträchtliche Baumwollsteigerung im falschen Augenblick einfach allen Boden unter den Füßen wegziehen können. Nun war, wie erörtert, die Baumwolle seit 1924, wenn auch mit fortgesetzten Schwankungen, dauernd gefallen und zwar, wie gesagt, bis auf 5 cts. Das konnte uns grundsätzlich gleichgültig sein, da ja der eiserne Bestand ständig im Hause blieb, so daß unsere Arbeitsergebnisse ebenso unberührt blieben wie unsere Finanzen. Wenn wir berücksichtigen, daß so und so viel kg Baumwolle nun einmal zu den unveräußerlichen Anlagen gehören, wären wir durch die Marktschwankungen vom Standpunkt der Fortführung des Betriebes weder reicher noch ärmer geworden. Buchmäßig bezw. in der Handelsbilanz, wo wir diese Sachen nicht mitmachen konnten, sah die Geschichte natürlich anders aus. Hier hätte das Fallen der Baumwolle in einem Riesenverlust sichtbar werden müssen, wenn wir nicht entsprechende stille Reserven gehabt hätten. Wenn man bedenkt, daß die Baumwolle im Durchschnitt der Jahre 1919 – 25 etwa 26 cts. gestanden hatte und dann bis auf 6 cts. (vorübergehend sogar 5 cts.) zurückging, so wäre das ein Verlust von 20 cts. je Pfund engl. oder bei einem eisernen Bestand von 20.000 Ballen (Mittel zwischen kleinem und großen eisernen Bestand) ein Verlust von 2 Mill. Dollar oder 8.4 Mill. Mark.Wenn man die Margenverluste nur von den beiden Jahren 1930 und 31, in denen sie ausgerechnet worden sind, in der Höhe von 2.2 Mill. dazu zählt, ergibt sich ein handelsbilanzmäßiger Verlust von 10.6 Mill. Mark. Glücklicherweise hatten wir Ende 1927 eine stille Reserve von 9.194.000 Mark in den Vorräten. Diese war aber nun Ende 31 bis auf den letzten Pfennig aufgebraucht und man wußte ja nicht, ob die Baumwolle noch weiter heruntergehen würde. Aus diesen beiden Gründen (Buchverlust auf die Hammersen- und DebagAktien und Aufzehrung der stillen Reserven in den Vorräten) erschien eine Herabsetzung der Buchwerte durch Kapitalschnitt doch äußerst wünschenswert. Aber da wir uns nun einmal in diesen Gedankengängen bewegten, überlegten wir uns darüber hinaus reiflich, ob es bei der recht grau in grau erscheinenden Zu148 kunft | nicht zweckmäßiger wäre, unsere gesamten Buchwerte den durch die Deflation geschaffenen Verhältnisse anzupassen. An unseren Maschinenwerten war freilich nichts auszusetzen, denn wir hatten Ende 1931 bereits alle vor 1925 angeschafften Maschinen voll abgeschrieben. Etwas anders sah es mit den Gebäuden aus. Auch hier hatten wir die Abschreibungen im großen und ganzen reichlich gemacht, aber wir waren uns ja bewußt, daß zunächst einmal unsere Fabrikgebäude recht weitläufig angelegt waren und daß wir auf Grund unserer besonderen Verhältnisse außerordentlich viele, nicht der eigenen Produktion dienende, Nebenabteilungen mit den entsprechenden Baulichkeiten hatten. Überbewertet erschien u. a. unser durch Umbauten und baupolizeiliche Auflagen so teuer gewordenes Berliner Haus. Schließlich kamen unsere Wohlfahrtsein-
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richtungen und Wohnhäuser noch dazu. Wir beschlossen also, die psychologisch günstige Gelegenheit zu einer recht radikalen Zusammenlegung, und zwar von 30 auf 20 Mill., zu benützen und zwar dadurch, daß unsere Aktionäre (Debag und Familie) 1/3 ihrer Aktien gratis zurück gaben. Die auf diese Weise freiwerdenden 10 Mill. verwandten wir, natürlich nur in der Handelsbilanz, wie folgt: zunächst einmal setzten wir, damit uns bezüglich der eisernen Bestandsbewertung gar nichts passieren konnte, diesen rohstoffmäßig mit Null cts. ein, die überplanmäßigen Vorräte mit 4 cts. Ferner legten wir in die Margen eine Reserve von etwa 1.3 Mill., so daß die Vorräte beim Baumwollstand von 6.5 und den Margen von Ende 1931 nunmehr eine stille Reserve von 3.6 Mill. enthielten. Die Abschreibungen auf die Beteiligungen (in erster Linie wegen der zusammengelegten Hammersen-Aktien) betrugen 2.9 Mill. Daneben setzten wir nicht nur sämtliche schlecht ausgenützten Gebäude wie alte Bleiche, Walkgasse usw. zu einer Mark ein, sondern auch die der Nebenabteilungen wie Feuerwache, Kesselhaus, Werkstätten usw. Die auswärtigen Geschäftshäuser wurden durch 2 dividiert und die Wohnhäuser, gänzlich unabhängig von ihrem Neuwert, im Wege der Mietenkapitalisierung neu festgesetzt und zwar die damals eben verbilligten Mieten ./. 25 % x 8. Außerdem schufen wir noch eine neue Delkredere-Reserve von rund 600.000 Mark und brachten die noch übrigen rund 300.000 Mark unter Diverse Schuldner, aktive Hypotheken und Wertpapiere unter. Wir konnten nun die Empfindung haben, daß uns in der Handelsbilanz nicht mehr viel passieren könne. | Zum Schluß bleibt noch die Rückwirkung auf die Textil-Treuhand zu be- 149 sprechen. Zur Aufklärung über deren Gesamtlage muß ich etwas weiter ausholen: Schon die Zustimmung zur Umwandlung von CD in eine Aktiengesellschaft, was ja eingestandenermaßen die Vorstufe für die Aufgabe der 100 %igen Familiengesellschaft war, hatte den Gesellschaftern viel Überwindung gekostet. Der Preis für diese Zustimmung war die Sicherung einer recht anständigen Existenzgrundlage durch die festen Obligationenzinsen und die Aussichten auf die spätere allmähliche Tilgung der Obligationen, welche die Gesellschafter in ihren gesamten Finanzverhältnissen etwas freier und unabhängiger machen sollte. Die Zustimmung zur endgültigen Aufgabe der reinen Familiengesellschaft durch den Zusammenschluß mit Hammersen im Sommer 30 konnte versüßt werden dadurch, daß wir der Textil-Treuhand einen Sonderverdienst von 6 Millionen zur Erleichterung ihres durch die Hammersen-Käufe recht misslichen Finanzstatus ausbedungen hatten. Im übrigen wurde damals von Gesellschafterseite ausdrücklich gefragt, ob der Zinsendienst der Obligationen durch den Zusammenschluß irgendwie gefährdet würde, was wir natürlich mit gutem Gewissen verneinen konnten. Nun hatte sich aber die gesamte Wirtschaftslage sehr erheblich weiter verschlechtert und Aussichten auf CD-, Hammersen- und Debag-Dividende
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gab es zunächst nicht. Es wäre nun fraglos leichtsinnig gewesen, die Obligationenzinsen in vollem Umfange weiter durch Kreditaufnahme zu finanzieren. Ende Oktober mußten wir uns entschließen, den Obligationären die Konversion von 5 auf 3 ¼% vorzuschlagen, wodurch die jährliche Zinszahlung von 650.000 Mark auf 422.500 Mark gesenkt wurde. Die Gesellschafter beugten sich dieser Notwendigkeit, und es mußte einem wirtschaftlich einigermaßen klardenkenden Menschen einleuchten, daß diese Zinssenkung mit dem Zusammenschluß nichts zu tun hatte; trotzdem blieb diese Konversion sozusagen als erste Heldentat des Konzerns, für uns eine recht unangenehme Sache. Verstärkt wurde unsere missliche Situation durch ein Unglück auf anderem Gebiete, nämlich durch die Pleite des Bankhauses Clemens & Rautenstrauch, hervorgerufen durch die Insolvenz des Kompagnons Clemens. Da Ernst Rautenstrauch¹⁷⁸ wohl keinen völligen Überblick über alle Geschäftsvorfälle gehabt hatte, waren, wie so häufig bei Bankzusammenbrüchen, Dinge passiert, die nicht in Ordnung waren, und die Textil-Treuhand stand vor der Notwendigkeit, einzuspringen, wenn sie das Prestige der Familie nicht stark gefährden wollte. Wir 150 waren also | gezwungen, unsere Gesellschafter zu fragen, ob sie, unmittelbar nach dem Verzicht auf die 5 % Zinsen, mit etwa 350.000 Mark einspringen oder einen Knacks des Familienansehens in Kauf nehmen sollten. Es ist äußerst anerkennenswert, daß sie unter Führung von Radike sich ohne weiteres für das Zahlen entschieden. Natürlich geschah das nicht auf Kosten der Textil-Treuhand, sondern gegen Verpfändung von Käte Rautenstrauchs¹⁷⁹ Anteilen und Obligationen, aber immerhin waren Barzahlungen zu leisten, denen im Augenblick nichts Realisierbares, sondern nur sozusagen ein Zukunftsverzicht von Käte Rautenstrauch gegenüberstand. Die Vergleichsverhandlungen, vor allem mit der Dresdner Bank, waren für uns sehr wenig angenehm, obgleich sich die Dresdner Bank ja sagen mußte, daß sie ohne unsere Hilfe sehr viel weniger bekommen würde, aber die Textil-Treuhand, die in ihrer beengten Finanzlage zum Teil anstatt Bargeld TTObligationen gegen ein Rückkaufsrecht hergeben mußte, machte dabei einen etwas armseligen Eindruck. Nun kam sozusagen als weitere sichtbare Auswirkung des Konzernzusammenschlusses anstelle von Dividenden die Debag-Zusammenlegung mit einer Extra-Gratis-Abgabe von über drei Millionen Mark Aktien, was unsere ganze Stellung zu den Gesellschaftern, die uns ja ein ungeheures Vertrauen geschenkt hatten, weiter erschwerte. Diese Einbuße traf die Textil-Treuhand wegen des außerordentlich niedrigen Buchwertes der Aktien nicht so unmittelbar. Es kam aber
C. Ernst Rautenstrauch (n.e.), Bankier aus Trier und Mitglied im Aufsichtsrat der C. D. AG. Käte Rautenstrauch geb. Dierig (n.e.–1961).
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hinzu, daß die dauernde Dividendenlosigkeit aller Erwerbsgesellschaften die Schulden der Textil-Treuhand bei CD, welche nach der Abbürdung durch den Zusammenschluß nur noch 1,7 Millionen betragen hatten, wieder auf 3 Millionen gestiegen waren, ohne daß in absehbarer Zeit irgend eine Aussicht bestand, diese Schuld abzudecken. So etwas hatte früher, als CD noch reine Familiengesellschaft war, nichts ausgemacht, jetzt wurde die Sache aber peinlich. In dieser Hinsicht war der Zwang zu einer Sanierung zweifellos eine Frucht des Zusammenschlusses. Die Gesellschafter zeigten sich nach genauer Darlegung der Verhältnisse vernünftig. Sie sahen ja auch nur zu handgreiflich, was anderwärts in der Wirtschaft los war. Es wurde nun nach einem Plan von Herrn Burkhardt folgende Sanierung durchgeführt, die ich in großen Zügen und etwas vereinfacht darstellen will: Von den 13 Millionen 3 ¼%igen Obligationen verkaufen die Gesell|schafter 151 die Hälfte, also rd. 6.5 Millionen zu 35 % an die Textil-Treuhand zurück. Diese verkaufte davon 5 Millionen nach Rückkonvertierung auf 5 % zu 75 % an den Wohlfahrtsverein, wobei sie sich ein Rückkaufsrecht vorbehält und zwar zu einem jährlich um 1 % steigenden Kurse (von diesem Rückkaufsrecht konnte die TextilTreuhand später, als es ihr wieder gut ging, in vollem Umfange Gebrauch machen). Den Erlös von 3.750.000 Mark benutzte die Textil-Treuhand, um ihren Schuldsaldo bei CD in vollem Umfange abzudecken und behielt davon noch rd. 750.000 Mark übrig. Diese Transaktion brachte der Textil-Treuhand eine Ersparnis von fast ½ Million Zinsen jährlich und brachte ihr durch den Differenzverdienst bei der Weitergabe von 5 Millionen Obligationen zu einem 40 % höheren Kurse einen Buchgewinn von 2 Millionen. Ein weiterer Buchgewinn von 500.000 Mark brachte ihr eine Herabsetzung des Stammkapitals von 1 Million auf ½ Million. Die Gesellschafter konnten nun aus dem Erlös aus dem Verkaufe der Obligationen-Anleihe in Höhe von rd. 2,3 Millionen und aus einem weiteren Verkaufe ihrer restlichen CD-Aktien von rd. 800.000 Mark an die T.T. eine buchmäßige Kapitalzuführung, an die TextilTreuhand finanzieren. Deren Kapital wurde nunmehr um 2.5 Millionen auf 3 Millionen erhöht, wobei sie die Aktien mit einem 12 %igen Agio ausgab. Außerdem machten die Gesellschafter eine verlorene Zuzahlung von 250.000 Mark, sodaß sie die 3.050.000 Mark Erlös aus dem Verkauf von Obligationen und CD-Aktien der Textil-Treuhand vollkommen wieder zuführten. Worin bestand nun bei dieser sehr eleganten Sanierung der Textil-Treuhand das Opfer der Gesellschafter? Einen Substanzverlust hatten sie natürlich durchaus nicht, da die Substanz der Textil-Treuhand unverändert geblieben war und die Gesellschafter ja in vollem Besitz der Textil-Treuhand blieben. Worauf sie aber verzichteten, war ein Teil der aus den Obligationen ihnen gegenüber der Textil-
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Treuhand erwachsenden Rechte. Sie hatten zunächst einmal in die Herabsetzung des Zinsfußes gewilligt und dann hatten sie die Hälfte ihrer Obligationen sozusagen in Stammkapital umgewandelt. Sie hatten also den Anspruch, der den unveränderlichen Grund zu ihrer Lebenshaltung geben sollte, zu etwa 2/3 preisgegeben und ebenso die Hälfte ihrer Tilgungsansprüche. Natürlich war die ganze Transaktion und damit der Verzicht in Wirklichkeit nichts weiter als die 152 schmerzliche Anerkenntnis, daß unter den verschlechterten wirtschaft|lichen Verhältnissen eine Weiterzahlung der Zinsen wirtschaftlich nicht möglich war. Wenn man sich die Zahlen ansieht, so muß man leider feststellen, daß die Gesellschafter nun nicht mehr 650.000 Mark Zinsen erhielten, sondern nur noch etwa 210.000 Mark. Sie mußten also zur notdürftigen Aufrechterhaltung ihres Lebensstandard die Tilgungsraten mit heranziehen, die ursprünglich einen ganz anderen Zweck erfüllen sollten. Ich brauche nicht noch einmal zu betonen, daß die ganze Situation für die verantwortlichen Leiter unseres Familienunternehmens nicht eben angenehm war. Sie wurde erst wieder angenehm, als wir später mit 25 % Div. = 750.000 Mk. neben Obligationenzinsen und Tilgung antreten konnten. Ganz zum Schluß möchte ich bei dieser ganzen sogenannten Konzernsanierung darauf hinweisen, daß eine eigentliche Sanierung, d. h. die Zuführung neuen Kapitals durch außenstehende Aktionäre, ausschließlich bei Stadtbach notwendig geworden war, bei allen anderen Konzernfirmen handelt es sich lediglich um einen Kapitalschnitt, d. h. also um eine Anpassung des Nominal-Wertes an die Deflation. Eine Schädigung des Aktionärs durch die Transaktion tritt ja erst dann ein, wenn er zur Aufrechterhaltung seines Anteiles Geld zuzahlen muß oder aber, wenn er nicht zahlt, sein Anteil an der Gesellschaft verringert wird. Aber auch diese Verringerung des Nominalwertes traf lediglich die außenstehenden Debag-Aktionäre bezw. den Rest der Hammersen-Aktionäre, die Zusammenlegung von CD war eine rein interne Konzernangelegenheit. Ich lege doch Wert darauf, das festzustellen. Inzwischen ging die praktische Arbeit am Konzern rege weiter. Im April 31 waren, wie gesagt, die monatlichen Konzernmeldebogen eingeführt worden. Die daraufhin sofort intensiv einsetzenden Betriebsvergleiche führten auf dem technischen Gebiete vom ersten Augenblick ab zu hochinteressanten Erkenntnissen, die unverzüglich ausgewertet wurden. Auf dem Kostengebiete zeigte es sich aber sehr schnell, daß die Unkosten gleichen Namens bei den verschiedenen Gesellschaften einen unterschiedlichen Inhalt hatten, und daß eine richtige Vergleichbarkeit einheitliche Buchführungsgrundsätze zur Voraussetzung hatte. Es kam daher der Gedanke an einen Konzernrevisor auf, eine Einrichtung, die in gewissem Umfange schon vorhanden war. F.H. hatte nämlich, 153 einmal um Kosten zu sparen, zum anderen | um einen tieferen Einblick in die
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Verhältnisse der Tochtergesellschaften zu gewinnen, von Revisionen durch Treuhandgesellschaften im allgemeinen Abstand genommen und einen Beamten von Hammersen namens Tschörner mit den Bilanzrevisionen beauftragt. Wir sahen uns den Mann an und stellten sehr schnell seine völlige Ungeeignetheit fest. Er gehörte eben zu der Klasse der typischen Buchhalter, die wohl Zahlen gewissenhaft auf ihre Richtigkeit prüfen, aber niemals hinter den wirtschaftlichen Sinn der Zahlen blicken können. Der beste Beweis für die Richtigkeit unserer Annahme war die Tatsache, daß all seine Revisionen bei Riedinger F.H. niemals darüber aufgeklärt hatten, daß Riedinger, ganz im Gegensatz zu früher, in den letzten Jahren von den Reserven lebte und seine Kosten mit dem Erlös nicht mehr in Einklang standen. Von dem Riesenschwindel von Wrede, den wir später aufdeckten, hatte er überhaupt nichts gemerkt. Mit dem Mann war also nichts anzufangen, und wir beauftragten zunächst einmal Lipp, die Buchhaltung bei den Konzerngesellschaften, vor allem den süddeutschen, eingehend zu prüfen, zugleich auch mit dem Ziele der Personaleinsparung. Lipp entledigte sich dieser Aufgabe ausgezeichnet und es stellte sich bald heraus, daß ein neues Leben in dieser Hinsicht bei verschiedenen Gesellschaften nur über die Pensionierung des Chefbuchhalters möglich war. Lipp entwarf zunächst auf Grund seiner Erfahrungen bei den verschiedenen Gesellschaften ein einheitliches Bilanzschema, welches eng an das unsere angelehnt war. Ich versuchte in meinem Sommerurlaub die innersten Grundsätze, welche sich in den langen Jahren der Umstellung unseres Buchwerkes ergeben hatten, in klarer gemeinverständlicher Weise zu Papier zu bringen, die dann als Einleitung dem von Lipp bis in die kleinsten Einzelheiten ausgearbeiteten Blaubuche (Konzernbibel) vorangestellt wurden. Wohlgemerkt dachten wir gar nicht daran, den Gesellschaften unsere auf die Verhältnisse eines verzweigten Großbetriebes angelegte Buchhaltungstechnik im einzelnen aufzuoktroyieren. Das Wesentliche war der gemeinsame – gegenüber dem unseren natürlich etwas vereinfachte – Kontenrahmen und ganz besonders auch die Vorsorge, daß auf gleichnamigen Konten nunmehr bei den einzelnen Gesellschaften auch die gleichen Unkosten gesammelt wurden. Ab 1.1.33 wurde die Buchführung und Finanzierung nach dem Blaubuch bei allen dem Konzern bereits voll eingegliederten Gesellschaften durchgeführt, noch nicht beispielsweise bei Suckert. | Wir stellten weiter fest (das kann auch etwas später gewesen sein), daß die 154 Vergleichbarkeit in den Unkosten pro Spindel und Webstuhlstunde nur gegeben war, wenn man sie auf eine 100 %ige Beschäftigung umrechnete. Hierbei ergab sich aber die Frage, was 100 %ige Beschäftigung ist. Wenn man beispielsweise bei Tannenberg, das mit doppeltem Meister- und teilweise Hilfsarbeiter-Personal voll auf Doppelschicht eingerichtet war, die einschichtige Beschäftigung als 100 % angesehen hätte, wäre bezüglich dieses Personals eine Doppelbelastung einge-
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treten, die das ganze Bild gestört hätte. Ohne an dieser Stelle zu sehr in Einzelheiten gehen zu können, möchte ich nur darauf hinweisen, daß unsere im ersten Augenblick verblüffende Unterscheidung von normalen Zeitkosten und veränderlichen Zeitkosten auf diese, aus der reinen Praxis hervorgegangenen Überlegungen gegründet ist. Grundsätzlich sagt ja der Begriff der Zeitkosten, daß sie von der Beschäftigung unabhängig sein sollen. Es gibt aber Zeitkosten, die sich bei normalen Beschäftigungsschwankungen tatsächlich nicht verändern, die aber bei der Einrichtung eines Betriebes auf halbe oder doppelte Beschäftigung sich tatsächlich ändern. Ich glaube, daß überall da, wo derartige große Umorganisationen in Frage kommen, eine Trennung von VZ- und NZ-Kosten unerlässlich ist, sowohl für die Kalkulation als insbesondere für die Betriebsvergleiche. Wir führten also diese Unterscheidung im ganzen Konzern durch. Erst nach diesem Schritt ergaben die Konzernbogen eine wirklich einwandfreie Vergleichsmöglichkeit, wobei natürlich die Einwandfreiheit ihre Grenzen in der Unvollkommenheit aller zahlenmäßigen Erfassungen von wirtschaftlichen Vorgängen hat. Große Schwierigkeiten hatten wir bei Stadtbach, da Moser als Vorstand den Herren Nestel und Pigenot das Leben ungeheuer schwer machte. Daher nahmen wir Nestel und Pigenot, wohl nach der Hauptversammlung 1932, in den Vorstand. Aber Moser, der gar nicht in der Lage war, den Sinn des neuen Konzerns zu erfassen und an seinen alten Gewohnheiten klebte, trieb geradezu Sabotage, worauf wir beschlossen, ihn ganz auszuschiffen. Das geschah anläßlich der Hauptversammlung im Frühjahr 33, in welcher Moser nach Pensionierung ehrenhalber in den Aufsichtsrat gewählt wurde. Zu diesem Zeitpunkt konnten wir uns noch nicht entschließen, Kais¹⁸⁰ in den Vorstand zu berufen, da seine Persönlichkeit uns noch etwas undurchsichtig erschien. Er hatte nämlich offensichtlich den Kurs | 155 Moser gegen unsere Intentionen mitgesteuert. Nach der Ausschiffung von Moser zeigte es sich aber, daß Kais geradezu aufatmete, weil er aus einem Konflikt der Pflichten befreit war. Er hatte sich offensichtlich als anständiger Mensch verpflichtet gefühlt, seinem alten Chef, der ja noch sein Vorgesetzter war, die Treue zu halten. Nachdem Moser aus dem Vorstand ausgeschieden war, zeigte es sich sehr schnell, daß er mit Aufgeschlossenheit mitmachte, so daß wir ihn – ich glaube, schon im Herbst 33 – auch in den Vorstand berufen konnten. Bei Prinz wurde im Oktober 31 festgestellt, daß Labhardt, der, wie allgemein bekannt war, einen unerhörten persönlichen Aufwand trieb, trotz der starken Zügel, die wir ihm natürlich vom ersten Augenblick ab angelegt hatten, Dinge gemacht hatte, die nicht korrekt waren, so daß die Frage der fristlosen Entlassung
Josef Kais (1888 – n.e.), Fabrikdirektor, im Vorstand der Baumwollspinnerei am Stadtbach sowie im Vorstand der Mechanische Weberei am Fichtelbach in Augsburg.
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akut wurde. Es wurde aber schließlich festgestellt, daß seine Verfehlungen wohl doch dazu nicht recht langten und wir beschlossen, uns gütlich auf Aufhebung seines Vertrages mit ihm zu einigen. Meiner Erinnerung trat er im Sommer 32 aus und wurde durch Seidel ersetzt, der sich in Grünau außerordentlich bewährt hatte und zu der Aufgabe der Reorganisation von Prinz in jeder Beziehung geeignet erschien. Gegen Jahresende 32 legte er nach eingehenden Rücksprachen mit Dr. Wolfgang einen Reorganisationsplan vor, welcher Investitionen von einer halben Million vorsah. Schließlich ist noch Suckert zu erwähnen, wobei ich verschiedenes nachholen muß. Die Firma Suckert, die ursprünglich als bedeutende Garnfärberei vorzügliche Geschäfte gemacht hatte, war in den 90er Jahren zur Druckerei übergegangen und mit dieser Druckerei, von deren Errichtung dem alten Suckert unser Vater dringend abgeraten hatte, allmählich in die schlechte Druckereikonjunktur hineingekommen, so daß Suckert im Jahre 1910 umschüttete. Bei dem Vergleich, an dem die Gebrüder Simon¹⁸¹ in erster Linie beteiligt waren, wurde die Garnfärberei verkauft (Pohl & Schneider) und aus der Druckerei eine Aktiengesellschaft gemacht, an der u. a. Bienert – wohl zu 50 % – beteiligt war. Suckert war nun ewig notleidend geblieben, so daß gegen Ende der 20er Jahre eine Sanierung nötig wurde, von der ich im Augenblick nur sagen kann, daß sich der Leipziger Verband mit seiner Druckabteilung beteiligte. Wir übernahmen wohl das Paket von Bienert und arbeiteten einige Jahre mit dem Verbande zusammen, wobei wir allerdings hinter den Kulissen | blieben und den Schwiegersohn von Theodor 156 Bienert¹⁸², Herrschel¹⁸³, baten, uns zunächst im Aufsichtsrat zu vertreten. Die ganze Situation war so misslich, daß uns im März 32 ein Aktienpaket zu 20 % angeboten wurde. Nach langem Schwanken entschlossen wir uns, nicht ganz leichten Herzens, unsere Position bei Suckert zu verstärken, und damit die Verantwortung für die Weiterentwicklung zu übernehmen. Da wir nach außen nicht allzu offensichtlich in Erscheinung treten wollten, übernahm nicht Dr. Wolfgang, sondern Burkhardt den Aufsichtsratsvorsitz. Es wurde (der genaue Zeitpunkt ist mir im Augenblick nicht erinnerlich) eine ganz mächtige Kapitalzusammenlegung beschlossen, und da bei der Erhöhung kaum jemand mitmachte, bekamen wir Suckert ziemlich vollständig in die Hand. Es war für uns nicht ganz leicht, den Debag-Aufsichtsrat, insonderheit Kehl, davon zu überzeugen, daß die Aufnahme
Gebrüder Simon Vereinigte Textilwerke AG Berlin, gegründet 1920. Theodor Bienert (1857– 1935), Dresdner Großindustrieller, Fabrikbesitzer der Bienert- und Hafenmühle und Ehrensenator der Technischen Hochschule Dresden. Bienert heiratete 1887 die im schlesischen Langenbielau geborene Bertha Suckert. Franz Herrschel (1875/80 – 1945), Chemiker und späterer Geschäftsführer der Dresdner Bienertmühle.
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eines weiteren kranken Kindes in den Konzern unbedingt nötig sei. Immerhin hatten wir gegenüber Kehl und F.H. im Augenblick eine recht starke Position, so daß auch diese Sache im Aufsichtsrat der Debag ohne peinliche Diskussion durchging. Wenn ich von einer Verstärkung unserer Position Kehl gegenüber sprach, so hing das folgendermaßen zusammen. Die ungeheure Pleite der Darmstädter Bank hatte die Situation der deutschen Großbanken, die an sich durch die Wirtschaftskrise schon recht notleidend geworden waren, weiter verschlechtert und es kam schon damals, d. h. vor dem Umbruch, der Gedanke auf, daß der Staat sich bei den Großbanken erheblich mehr einmischen müsse, nachdem sie offensichtlich nicht fähig gewesen seien, eine wirklich verantwortliche Politik zu treiben. Es ist bekannt, daß die Dresdner Bank damals ganz außerordentlich stark unter staatlichen Einfluß geriet. Die inzwischen zusammengeschlossene Deutsche Bank und Disconto-Gesellschaft war also die letzte Großbank, die sich dem staatlichen Einfluß vorläufig noch entzogen hat. Nun hatte aber auch sie eine Sanierung dringend nötig und wandte sich an ihre guten Freunde aus der Industrie mit der Frage: Wollt Ihr, daß auch wir verstaatlicht werden oder seid Ihr zu einem Opfer im Sinne der Privatwirtschaft bereit? Kehl richtete, wie ich mich noch deutlich erinnere, in diesem Zusammenhang an uns die Frage: Wollen Sie, daß ich Regierungsrat werde? Es wurde also wohl nach Zusammenlegung eine beträchtliche Kapitalerhöhung aufgelegt und die Aktien zu 115 % den Industrie-Freunden angeboten. Wir hatten die Empfindung, daß wir, trotzdem wir ja auch nicht im 157 Gelde schwammen, uns dieser Ehrenpflicht nicht entziehen | könnten und daß wir dadurch unsere Position Kehl und der Deutschen Bank gegenüber sehr erheblich stärken würden. Wir haben also trotz sehr energischer Gegenarbeit von F.H. beschlossen, uns vom Konzern aus an dieser Aktien [sic] zu beteiligen, wobei CD 166.000 Mark dieser Aktien übernahm mit dem Erfolg, daß sie im Kurse sehr schnell sanken und gegen Ende des Jahres mit 75 % bilanziert werden mußten, was einen Verlust von 66.000 Mark ergab. Es ist begreiflich, daß wir nun Kehl gegenüber sehr vornehm dastanden. Eine ganz neue Frage trat im Herbst des Jahres 32 an uns heran, entspringend aus der Pleite von Wagner & Moras. Die Brüder Moras¹⁸⁴ waren ursprünglich in erster Linie Futterstoffgroßisten gewesen. Sie kauften damals Zanellas und andere
Alfred Moras (1867– 1943), Fabrikdirektor,Vorstandsmitglied der Wagner & Moras AG, später im Aufsichtsrat der umfirmierten Gebrüder Moras AG in Zittau. Otto Moras (1871– 1945), Fabrikdirektor und Vorstandsmitglied der Vereinigten Deutschen Textilwerke AG, der Muttergesellschaft der 1899 gegründeten Firma Wagner & Moras. Zwischen 1918 – 1928 Vorsitzender des Vereins sächsischer Industrieller, Präsidialmitglied des Reichsverbands der Deutschen Industrie sowie im Vorstand der Gebrüder Moras AG.
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Rohgewebe, um sie, in erster Linie bei Römer in Zittau, zu Futterstoffen ausrüsten zu lassen. Mit größtem Geschick und offensichtlicher Findigkeit, was für Qualitäten jeweils gefragt wurden und an welcher Stelle sie zu den höchsten Preisen angebracht werden konnten, hatten sie sich einen bedeutenden Namen geschaffen und viel Geld verdient. Sie bauten also ihre Weberei (ob sie die von Anfang an besessen hatten, weiß ich nicht) mit großem Geschick aus und stellten dort in erster Linie breite hochwertige Futterstoffe, baumwollene und halbkunstseidene, her. Sie verdienten dabei so gut, daß sie in der Inflation den Konzernfimmel kriegten und sich die große Buntweberei und Spinnerei von Wünsches Erben anbändigten, ohne sich darüber klar zu sein, daß eine derartige Weberei von Flanellen und Phantasie-Artikeln, wie sie für die Oberlausitz typisch waren, keine Zukunft hatte. In den guten Jahren ging diese Sache noch gut. Sie reorganisierten die etwas verluderte Fabrik offensichtlich mit großem Geschick, und standen Mitte der 20er Jahre sozusagen als großer und vornehmer Konzern da. Als aber dann die Krise eintrat, ging es rasend bergab, da ihre Flanelle beim besten Willen nicht mehr zu vernünftigen Preisen anzubringen waren, denn auf der technischen Höhe, wie Hammersen und Riedinger damals waren, waren sie nicht. Außerdem war es eine sehr große Menge, die untergebracht werden mußte. Sie ließen sich schließlich mit Frankfurter Juden ein, mit deren Hilfe sie einen ganz großen Schlag machen wollten. Sie beschlossen, die Wünsches’schen Waren selbst an die Konsumenten zu vertreiben und gründeten eine große Menge von Detailgeschäften, vielleicht angeregt durch die Erfolge der Versandgeschäfte. Der Unterschied gegen Witt war aber der, daß die Ladengeschäfte enorme Unkosten mach|ten und daß im Laden nun einmal große Sortimente verlangt werden, wo- 158 durch sie ihre Fabrikation völlig verzettelten und verteuerten, ohne in der Lage zu sein, die große Produktion von Wünsche an den Mann zu bringen. Bei dem großen Ruf, den Wagner & Moras in der ganzen Textilwelt genoß, waren ihnen die Banken, u. a. die Deutsche Bank, zunächst mit großen Krediten beigesprungen und es wurde eine Pleite von ganz großen Ausmaßen. Alle Versuche, das Geschäft irgendwie weiterzuführen, die Gründung von Konsortien usw. blieben ohne jeden Erfolg, denn durch den unglückseligen Übergang auf den Ladenverkauf war natürlich der Kundenabsatz für die Wünsches’schen Waren einfach tot. Schließlich kam es so weit, daß die Spinnerei ausgeschlachtet werden mußte und die Spinnmaschinen allenthalben ausgeboten wurden. Anfang September 32 wurde uns durch Adolf Waibel¹⁸⁵, der früher einmal Betriebsleiter von Wünsche gewesen war – es handelte sich um den bekannten
Adolf Waibel (1868 – n.e.), ehemals Generaldirektor und u. a. zeitweiliger Leiter der Her-
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Hansdampf in allen Gassen, der im Gegensatz zu seinem sehr viel zurückhaltenderen Bruder Emil¹⁸⁶ allgemein der Gosche-Waibel hieß – die Futterstoffweberei angeboten. Wir lehnten begreiflicherweise zunächst einmal das Angebot unbesehen ab. Als Graf aber zur Besichtigung des Spinnmaschinenparks nach Zittau fuhr, wo er übrigens einen Posten alter Spinnmaschinen zu einem lächerlichen Preise kaufte, weil nämlich das vorzügliche neu eingebaute Streckwerk genau zu unseren Maschinen paßte, kam er in lange Gespräche mit Otto Moras. Er merkte dabei sehr schnell, daß der Ruf des Futterstoffgeschäftes durch dieses ganze Schlamassel verhältnismäßig unberührt geblieben war, er wußte, wie erfolgreich Moras gearbeitet hatte, stellte an den Preisen, die sie bis zuletzt bekommen hatten, fest, daß sie ausgezeichnet gewesen waren. Da unser Absatz in Futterstoffen immer noch zu wünschen übrig ließ, dämmerte der Gedanke auf, ob wir dieses Großistengeschäft nicht sehr gut brauchen könnten. Eine Besichtigung der Weberei zeigte, daß sie vorzüglich eingerichtet war (700 meist breite Stühle, zum großen Teil mit Schaftmaschinen, teilweise Jacquard-Einrichtung) und daß dieser Weberei eine gutgehende Verkaufsschlichterei, wie sie für die Oberlausitz und Gladbach typisch waren, angegliedert war. Wenn es gelang, dieses Futterstoffgeschäft wieder auf den Schwung zu bringen, so mußte Moras ein großer Abnehmer für Kottern’sche Zanellas und andere Konzernrohwaren werden und mußte Frankenberg mit hochwertigen und preislich gut liegenden Lohnaufträgen 159 in | noch größerem Umfange versorgen. Schließlich brauchte die Verkaufsschlichterei eine erstaunlich hohe Menge Garne, was im übrigen eigentlich nicht erstaunlich ist, denn wenn man überlegt, daß man mit wenigen Schlichtmaschinen eine Weberei von mehreren tausend Stühlen versorgen kann, ist es eigentlich klar, daß ein halbwegs großes Schlichtereigeschäft bei geringer Fabrikationsspanne sehr stark rohstoff-intensiv sein muß. Wir traten nun der ganzen Frage näher, und Otto Moras kam mit Waibel nach Langenbielau.Wir mußten ihm zunächst klar machen, daß er nach dieser Riesenpleite ganz von vorne anfangen müsse, daß er mit seinem Bruder Alfred, welcher in erster Linie das Schlichtereigeschäft besorgte, und seinen beiden recht tüchtigen Söhnen die ganze Geschichte selber in die Hand nehmen müßte unter äußerster Einsparung an Personal. Wir würden überdies dem Gedanken nur nähertreten, wenn wir die Weberei, d. h. die nackten Gebäude und Maschinen, in eine neu zu gründende Gesellschaft übernähmen und von dem vorhandenen Personal nur das einstellten, was wir unbedingt brauchten. Wir sagten ihm weiter, daß wir in erster Linie mann Wünsches Erben AG sowie stellvertretender Vorsitzender im Aufsichtsrat in der Gebrüder Moras Aktiengesellschaft. Emil Waibel (n.e.), Fabrikdirektor und u. a. im Aufsichtsrat der Bleicherei, Färberei u. Appretur-Anstalt Stuttgart und der Süddeutsche Baumwolle-Industrie AG in Kuchen.
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Interesse am Grossistengeschäft hätten, um unsere Konzernwaren abzusetzen, und daß wir die Weberei zunächst gar nicht in den Betrieb nehmen wollten. Erst wenn er gezeigt habe, daß die Sache funktioniere und wir einen großen Konzernabsatz durch ihn hätten, würden wir langsam die Weberei in Schwung bringen. Es zeigte sich, daß der nicht mehr ganz junge Otto Moras, wenn man richtig mit ihm sprach, das allergrößte Verstündnis [sic] für diese Situation hatte, und wir faßten Vertrauen zu dem Geschäft, natürlich nur, wenn wir die Weberei zu einem ausgesprochenen Krisenpreise bekommen könnten, denn wir hatten natürlich keinerlei Lust, die Gläubiger von Wagner & Moras zu alimentieren. So boten wir denn Anfang Oktober für die Weberei 200.000 Mark, was kein besonders stattlicher Preis war, wenn man überlegt, daß die mit 700 breiten Stühlen, Schaftmaschinen und Jacquardmaschinen eingerichtete Weberei und die große Schlichterei einen Neuwert von mindestens 1 ½ Millionen hatten und sich in bestem Zustande befand. Tatsächlich haben wir sie dann zu 300.000 Mark erworben. Nicht ganz leicht war es, diese Geschichte Kehl beizubringen. Ich weiß noch, wie ich an einem Sonnabend Morgen bei ihm war und er auf den Namen Moras hin merklich zusammenzuckte: „Sie werden verstehen, daß dieser Name in unserem Hause keinen guten Klang hat und ich ihn meinen Kollegen gegenüber nur ungern ausspreche“. Ich | erklärte Kehl, der ja großes wirtschaftliches Verständnis 160 hatte, unsere Gedanken, daß wir schon seit langem die Empfindung hätten, uns weitere Verkaufsstellen angliedern zu müssen, daß wir schon den Plan gehabt hätten, anonyme Grossistengeschäfte zu gründen, da unsere Absatznotwendigkeiten riesenhaft seien und die Detaillisten nicht alles an einer Stelle kaufen wollten, daß sich uns hier eine Gelegenheit böte, ein bestehendes glänzend eingeführtes Geschäft äußerst billig in die Hand zu bekommen. Natürlich war es nicht ganz einfach, Kehl zu erklären, daß die, nach der Pleite in größter Öffentlichkeit besprochene, Unfähigkeit der Herren Wagner¹⁸⁷ und Moras sich lediglich auf gewisse Konzerndummheiten beschränkte und daß sie im Futterstoffgeschäft nach wie vor einen beachtlichen Namen hätten. Ich weiß nicht, ob wir in dieser Sache Kehl gegenüber durchgekommen wären, wenn wir nicht, wie gesagt, durch unser Einspringen für die Deutsche Bank unsere Position bei ihm und seinen Kollegen sehr erheblich gestärkt hätten. F.H., der aus nachher zu erörternden Gründen augenblicklich auch äußerst entgegenkommend war, sprach sich für die Sache fast positiv aus, und die Gesellschaft wurde Ende November oder Anfang Dezember mit einem Kapital von 500.000 Mark gegründet, wozu natürlich bei
Vermutlich Friedrich Wagner (1857 – n.e.), Fabrikbesitzer. Wagner gründete u. a. 1892 zusammen mit Otto Moras die seit 1911 als AG firmierende Firma Wagner & Moras.
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dem derzeitigen Höhepunkt der Krisenstimmung (Kabinett Schleicher!) allerhand Mut gehörte. Sehr wesentlich war natürlich die Tarnung der Gesellschaft. Da es auf der andern Seite unbedingt nötig war, daß wir von vornherein den Aufsichtsrat voll in der Hand hatten, traten Dr. Wolfgang und Graf in den Aufsichtsrat, überließen aber den Vorsitz Waibel. Da sich auch Kottern (Zanellas-Absatz) und Hammersen (Garn-Absatz) an der Gründung beteiligten, konnten wir im Prospekt wahrheitsgemäß sagen, daß die neue Firma Gebrüder Moras eine Gründung verschiedener früherer Lieferanten darstelle, und die Beteiligung von Waibel, der ja ein abgestempelter Vertreter der süddeutschen Spinnwebereien war, deutete sehr nachdrücklich darauf hin, daß neben uns allerhand andere Leute beteiligt seien. Inzwischen ist natürlich nach Übernahme des Vorsitzes durch Graf und dem Tode von Waibel der Gedanke naheliegend, daß wir die ganze Sache in der Hand haben, aber bekanntermaßen kümmert sich ja die Kundschaft um aktienrechtliche Verhältnisse sehr wenig. Nur wenn Gebrüder Moras von vornherein als Gründung von CD und nicht als Fortsetzung des alten Geschäftes erschienen wäre, hätte man 161 ungünstige Einwirkungen | befürchten müssen. Unter diesen Verhältnissen war es natürlich für uns eine außerordentliche Genugtuung, daß die Firma Gebrüder Moras mit unwahrscheinlich hohen Verdiensten eines der besten Pferde im Konzernstalle wurde. Außerdem war es uns eine sichtliche Freude, daß wir der tüchtigen Familie Moras eine neue Existenz unter ihrem alten Namen bieten konnten. Wir hatten den Herren von vornherein eine Option auf 10 oder 20 % des Aktienkapitals angeboten, von der sie später teilweise Gebrauch machen konnten, als sie wieder etwas Geld verdient hatten. Damit ist die Entwicklung des Konzerns bis zum Umbruch so einigermaßen abgeschlossen und es bleibt nur übrig ein kurzer Hinweis auf unsere Zusammenarbeit mit Fritz Häcker. Bei den Einigungsverhandlungen hatte es sich herausgestellt, daß für F.H. der Gedanke am unerträglichsten gewesen war, daß er bei den Gesellschaften in seiner süddeutschen Heimat, wo er bisher ganz besonders aufgetrumpft hatte, nunmehr als abgesägter Konzernleiter erscheinen sollte. Wir hatten uns daher, da wir ja keinerlei Prestige-Rücksichten kannten, bereitgefunden, daß zunächst wir in den Debag-Tochtergesellschaften nur je einen Aufsichtsratssitz beanspruchen und F.H. zunächst Vorsitzer bleiben sollte, natürlich mit dem ausdrücklichen Hinweis, daß das nur ein Übergangszustand sein könne. Dieses Entgegenkommen nützte er nun in einer für ihn typischen Weise aus, indem er in den Aufsichtsräten gegen unsere Pläne hintenherum Stimmung machte und er die Vorstände davon zu überzeugen suchte, daß er nach wie vor der maßgebende Mann sei. Bereits im März 31 waren wir uns mit Kehl darüber einig, daß es so nicht weiterginge. Die Verhältnisse spitzten sich immer mehr zu. Da er begreiflicherweise für die Pleite bei Elbers nicht verantwortlich zeichnen wollte
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und auch Prinz damals als sehr krankes Kind erschien, bot er meinem Bruder den Aufsichtsratsvorsitz in den beiden Ausrüstungsanstalten Prinz und Elbers an, was dieser bezüglich Prinz selbstverständlich annahm, bezüglich Elbers aber kategorisch ablehnte mit dem offenen Hinweis, daß F.H. die Suppe, die er hier unsinnigerweise eingebrockt habe, auch auslöffeln müsse. Als im Herbst 31 bei der Elbers-Hauptversammlung zufällig das Mandat von F.H. ablief, lehnte er die Wiederannahme der Wahl einfach ab und glaubte sich auf diese Weise der Verantwortung voll entziehen oder gar den Eindruck erwecken zu können, daß das Fallenlassen von El|bers sozusagen unter seinem Protest erfolgt sei. In diesem 162 Falle schrieben wir, im Einverständnis mit Kehl, einen sehr energischen Brief an Häcker, der ihn meiner Erinnerung doch zur Wiederannahme der Wahl bestimmte. Kehl hatte aber gegen das Verbleiben von F.H. in unseren Aufsichtsräten ein weiteres ernstliches Bedenken. Es stellte sich nämlich heraus, daß F.H., der gerade noch rechtzeitig vor den Kapitalfluchtbestimmungen seinen Wohnsitz nach Zürich verlegt hatte, deswegen in der öffentlichen Meinung sehr stark angegriffen wurde. Kehl erklärte in seiner spontanen Art uns gegenüber rund heraus, daß dieser Zustand unhaltbar sei und als Anlaß genommen werden sollte, F.H. überhaupt auszuschiffen. Uns schien diese Form des Vorgehens doch unmöglich zu sein, so daß der Gedanke zunächst zurücktrat, um allerdings im Frühjahr 32 in abgeänderter Form wieder aufzutauchen. Es war uns nämlich bekannt geworden, daß F.H. sich von den süddeutschen Konzerngesellschaften Spezialberichte hinter unserem Rücken geben ließ mit dem Winke, daß sie nur für den AR-Vorsitzer bestimmt seien. Kremser glaubte das nicht verantworten zu können und schickte Graf einen Durchschlag, worauf die ganze Sache rauskam. Bei den darauf erfolgenden Auseinandersetzungen erklärte F.H. Anfang 32 bei einer Unterredung mit Dr. Wolfgang und Graf plötzlich, er würde im Konzern schlecht behandelt und würde sich infolgedessen bei anderen Unternehmen beteiligen, wozu er bereits Angebote habe. Er hatte nun geglaubt, daß die Möglichkeit seines Übergangs zur Konkurrenz uns einen ungeheuren Schrecken einjagen würde und war sehr erstaunt, als Dr. Wolfgang und Graf sofort den Spieß umdrehten. Sie erklärten dies für einen groben Vertrauensbruch, nachdem er nicht nur von Hammersen 40.000 Mark Pension bekäme, sondern auch durch die GR-Meldungen mit Material in einer Weise gefüttert würde wie kaum irgend ein anderer Mensch in der Textilindustrie. Sie erklärten ihm rundweg, daß sie sofort die Übersendung aller Konzernmeldungen an ihn einstellen würden und das weitere würde sich finden. So hatte sich F.H. die Wirkung seiner Drohung nun ganz und gar nicht vorgestellt. Er versuchte nunmehr aufs entschiedenste abzustreiten, daß er das so gemeint habe, er habe nur davon gesprochen, daß er sich bei anderen Werken
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„interessieren“ wolle, was aber keineswegs gleichbedeutend damit sei, daß er aktiv an diesen Unternehmen mitwirken wolle. | 163 In einer Unterredung, die darauf in der Deutschen Bank stattfand und an der sich meiner Erinnerung nach Kehl, Dr. Wolfgang, Graf und ich beteiligten, wurde ihm energisch gesagt, daß wir uns auf derart törichte Ausreden nicht einließen. Wenn er irgendwo beteiligt sei, so wäre es selbstverständlich, daß er als Textilfachmann sich für diese Unternehmen interessieren und Einfluß auf ihre Geschäftsgebarung nehmen würde. Es kam hinzu, daß er von Kremser dessen Schlichtrezept angefordert hatte.Was wollte er mit diesem Schlichtrezept, wenn er es nicht anderswo anbringen wollte? Es wurde ihm in aller Deutlichkeit gesagt: Wenn er es mit seinem Anstandsempfinden vereinen könnte, zur Konkurrenz zu gehen, solle er das ruhig tun, natürlich mit der Maßnahme, daß wir ihn sofort aus allen unseren Aufsichtsräten ausschiffen würden. Die Art und Weise, wie nun Häcker pater peccavi machte und unter Erhebung von seinem Stuhl und Handausstrecken gelobte, nie zur Konkurrenz gehen zu wollen, war mir so peinlich, daß ich am liebsten herausgelaufen wäre, und auch an dieser Stelle muß man wieder sagen: Hatte dieser bedeutende Mann es nötig, sich derartige Blößen zu geben.Wir erklärten ihm nun, daß diese Geschichte vergessen sein solle, aber u. a. mache es sein Sitz im Auslande unmöglich, daß er noch Vorsitzer bei Kottern bliebe (bei Riedinger war Diesel¹⁸⁸ Vorsitzer und bei Haunstetten Reinhold). Wir seien bereit, ihm den Stellvertreter-Posten einzuräumen, aber Vorsitzer würde jetzt Maser¹⁸⁹. Außerdem gebe sein Verhalten in den süddeutschen Aufsichtsräten Anlaß, daß wir nunmehr schleunigst zunächst einmal einen zweiten Sitz verlangten. Er war unter dem Eindruck der ganzen Sachlage zu allem bereit, bedang sich lediglich aus, daß er bei Kottern nach wie vor die Bezüge des Aufsichtsratsvorsitzenden erhielte, auch wenn er es nicht mehr sei, womit er sich natürlich auch Maser gegenüber eine unverständliche Blöße gab. Das wurde ihm zugestanden, und ich trat bei den Hauptversammlungen im Frühjahr 32 in den Aufsichtsrat von Kottern, Haunstetten und Riedinger ein. Bei Stadtbach war ich übrigens gleich nach der Übernahme des Aktienpaketes mit Graf zusammen in den
Christian Diesel (n.e.), Aufsichtsratvorsitzender der Augsburger Buntweberei vorm. L. A. Riedinger und Mitglied im Aufsichtsrat der Mech. Baumwoll-Spinnerei und Weberei Augsburg. Arnold Maser (1876 – 1951), Direktor der Deutsche Bank-Filialen in München und Augsburg sowie Mitglied im Aufsichtsrat zahlreicher Unternehmen. In der C. D. AG hatte er Vorsitz oder Mitgliedschaft im Aufsichtsrat nahezu aller süddeutschen Tochtergesellschaften inne, so etwa in der Augsburger Buntweberei Riedinger, der Baumwollspinnerei am Stadtbach, der Spinnerei und Weberei Kottern, der Haunstetter Spinnerei und Weberei oder der Mechanische Weberei am Fichtelbach.
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Aufsichtsrat eingetreten, ohne daß wir Fritz Häcker einen Platz angeboten hätten, weil er damals gegen die Eingliederung von Stadtbach arbeitete. Diese Erfahrung, daß wir uns vor seiner Drohung, zur Konkurrenz zu gehen, in keiner Weise fürchteten und den Spieß sofort umgekehrt | hatten, indem wir ihn 164 ausschiffen wollten, hatte Häcker offenbar einen Schock gegeben, der viele Jahre vorhielt. Er war von da ab sichtlich bemüht, keinen Anstoß zu erregen und stimmte vielfach Dingen zu, die ihm bestimmt nicht lagen. Besonders erstaunlich war es, daß er sich der, allerdings auf der Hand liegenden, Notwendigkeit der Fusion Dierig/Debag/Hammersen im Jahre 34 nicht widersetzte. Unter diesen Umständen waren wir trotz aller diplomatischen Schwierigkeiten, die manchmal recht hinderlich waren, bereit, F.H. in aeternum in unseren Aufsichtsräten zu behalten, bis später, meiner Erinnerung im Jahre 36, er sich unter Bruch seiner Versprechungen plötzlich bei Ettlingen beteiligte, was zum endgültigen Krach führte. Hatten wir uns in diesen Hauptfragen F.H. gegenüber endlich durchgesetzt, so haben wir in einer Nebenfrage schließlich klein beigegeben und zwar betreffend Tilburg. Hier verstand es Häcker, gestützt auf irgendwelche Bestimmungen oder angeblichen Bestimmungen des holländischen Rechtes sich allen Verpflichtungen zu entziehen. Er wies nach, daß nach holländischem Rechte die Zuwahl Grafs in den Aufsichtsrat gegen den Willen des Aufsichtsrats durch den Majoritätsinhaber nicht erzwungen werden könne, ebenso fand er Gründe, aus denen heraus er die Zahlen, die wir zu einem Überblick brauchten, nicht herausrücken dürfe und so fort. Schließlich hatten wir bei aller anderen Arbeit keine Lust, uns einen holländischen Rechtsanwalt zu nehmen und schließlich einen Prozeß gegen Häcker anzufangen. Andererseits war Tilburg kein Glied des Konzerns, sondern nur eine ausländische Kapitalanlage, und als wir merkten, daß Häcker allergrößten Wert darauf legte, sich in den Besitz dieser ausländischen Kapitalanlage zu versetzen, haben wir ihm schließlich die Mehrheit von Tilburg verkauft, meiner Erinnerung nach zum Preise von etwa 500.000 Mark. Wir waren uns natürlich klar, daß dies ein schlechter Preis war und daß F.H. dank seiner Unterrichtetheit über die Tilburger Verhältnisse, die uns fehlten, am längeren Hebelarm saß, aber wir wollten einen Strich unter die Sache machen. Daß dabei F.H., der ja schließlich seine großen Verdienste um Hammersen hatte, wieder einmal äußerst anständig behandelt worden war, war für uns ein ganz angenehmes Gefühl. Alles in allem hatte er hier mit seinen in echt Häcker’scher Beharrlichkeit betriebenen Hinterhältigkeiten und Vorspiegelungen schließlich gesiegt, weil uns die Sache in dieser Nebenfrage zu dumm wurde. | Ich möchte dieses Konzernthema nicht verlassen ohne einen Hinweis auf die 165 Stellung von Kommerzienrat Maser, den Leiter der Filiale der Deutschen Bank in Augsburg, bei unseren süddeutschen Konzerngesellschaften. Maser war von
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früher her in einer Reihe der süddeutschen Aufsichtsräte, bei Kottern meiner Erinnerung nach als stellvertretender Vorsitzer. Wir erkannten sehr schnell, daß wir ausgezeichnet zueinander paßten. M. hatte eine, im allgemeinen den Bankleuten fremde, handfeste praktische Auffassung über wirtschaftliche Dinge und einen vorzüglichen Blick für die Tatsachen, ohne sich durch Zahlenschleier beirren zu lassen. Außerdem teilte er ganz besonders unsere Auffassung, daß die Ausgaben sich nach den Einnahmen richten müßten und nicht umgekehrt, d. h. daß man für Unkosten im laufenden Geschäft nur Geld ausgeben könne, was man eingenommen habe. M. war ein äußerst sozial denkender Mensch, der gelegentlich sogar auf Teile seiner Aufsichtsratsbezüge verzichten konnte, um in den Zeiten beengter Verhältnisse bei der betreffenden Gesellschaft persönlich für notleidende Gefolgschaftsmitglieder einzuspringen. Im übrigen war er der soliden Ansicht, daß man auch für Wohlfahrtszwecke nur Geld ausgeben könne, was man verdient habe. Ferner konnte man sich auf sein Wort in jeder Beziehung verlassen und sich mit rückhaltloser Offenheit über alle Dinge aussprechen, einer Offenheit, die wir eigentlich sonst nur in unserem eigenen Vorstande gewöhnt waren. Andererseits war Maser, wenn auch nicht gebürtiger, so doch völlig eingelebter Augsburger, der die dortigen Verhältnisse aufs beste kannte. Aus der Erkenntnis heraus, daß eine Gesellschaft in unserem Sinne nur bodenständig bleiben könne, wenn der Aufsichtsrat über eine Persönlichkeit verfüge, die mit den lokalen Verhältnissen völlig vertraut sei, kamen wir sehr bald zu der Erkenntnis, daß wir Maser bei unseren süddeutschen Gesellschaften einen weitgehenden Einfluß einräumen müssen. So hielten wir es für zweckmäßig, daß er, und zwar nicht nur um des äußeren Schein willens, in verschiedenen Gesellschaften Vorsitzer des Aufsichtsrats würde, so zunächst bei Stadtbach nach Niederlegung des Vorsitzes durch den Vorbesitzer Wirth, zweitens bei Kottern wie eben besprochen und schließlich nach dem Wrede’schen Schwindel, durch den der Aufsichtsratsvorsitzer Diesel auch in Mitleidenschaft gezogen war, bei Riedinger. Ferner wählten wir ihn noch in den Aufsichtsrat von Haunstetten. Damit wenden wir uns wieder CD zu. | 166 Ehe wir zum Schlußkapitel dieser Darstellung kommen, soll noch eine Reihe Einzelheiten rein chronikmäßig registriert werden. Im Frühjahr 1929 – es könnte auch 30 gewesen sein – jedenfalls auf einer Reise nach Zürs, verhandelten Graf und ich im Parkhotel zu München mit Jordan¹⁹⁰ und Dillmann über ein Zusammengehen mit Kolbermoor und zwar auf Anregung der Gegenseite. Es war immerhin interessant, daß Häckers Freund Dillmann Neigung zeigte, mit dessen Feinden ein Bündnis zu schließen. Der
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psychologische Grund dafür war wohl, daß der solide Dillmann sich irgend wie Unterstützung holen wollte gegen die gewisse Luderwirtschaft, die im Kolbermoor-Konzern bezw. seinen Aufsichtsräten herrschte. Für Aufsichtsrat-Sitzungen, die in dem Faschingsball im Deutschen Theater, unter sehr beträchtlichem Aufwand, ausmündeten, war Dillmann nicht. Auch Jordan war entschieden anlehnungsbedürftig, und es wurden gewisse Pläne skizziert, die Graf und ich hinterher in einem Zimmer des Deutschen Kaisers auch zu Papier gebracht haben. Schließlich endete die Sache damit, daß Jordan sich ehrlich für den Konzerngedanken begeisterte, aber: ma‘ möcht‘ dabei halt auch sei‘ Selbständigkeit net verlieren! In einer Vorstandssitzung vom Januar 1931 wird festgestellt, daß Martini¹⁹¹ den Leipziger Verband wieder „zusammenbringen“ will. Er ist also offenbar sehr aus dem Leim gegangen. Wir wollen ihn dabei nach Kräften unterstützen, obgleich Grünau während der „Preisfreiheit“ 1 Mill. Lohnaufträge dazu bekommen hat. Das schwarze Schaf ist immer Windel, der dann auch im Juli 1932 wieder einmal kündigt. Es ist bemerkenswert, daß jetzt im Sommer 32 der Verband den Kampf gegen Windel aufnehmen will. Der Treurabatt sollte auf 10 % erhöht werden als Drohung gegen die Außenseiter. Wie die Sache im einzelnen weiter gelaufen ist, weiß ich nicht. Sie endete wohl Ende 1933 damit, daß wir Windel zur Vernunft brachten. Bei der Verlegung der Grünauer Bleiche – die nach dem Bedeutungsloswerden der Berliner Grossisten im Berliner Raum nichts mehr zu suchen hatte – nach Rheine kriegte Windel geradezu einen Tobsuchtsanfall. Er war plötzlich der arme Mann, dem von so einem üblen Konzern die sauer verdienten Groschen wieder abgejagt werden sollten. Er hatte eine furchtbare Angst davor, daß wir in Rheine eine groß angelegte Lohnausrüstung aufziehen könnten, was, unter uns gesagt, ja gar nicht unsere Absicht war. Wir kehrten nun den Spieß um und erklärten in einer recht dramatischen Sitzung am Schöneberger Ufer, daß wir grundsätzlich | natürlich Lohnausrüstung in Rheine betreiben wollten, aber 167 wenn Windel seine Kündigung beim Verband zurückzöge, würden wir uns verpflichten a) nicht im Lohn auszurüsten b) nur Weißwaren zu machen c) die Farbenwaren von Hammersen bei Windel ausrüsten zu lassen. Dieser Vertrag läuft mit jährlicher Kündigungsfrist und erlischt im übrigen in dem Augenblick, in welchem Windel wieder einmal seine Verbandsmitgliedschaft Clemens Martini (1892– 1953), Augsburger Textilindustrieller und u. a. im Aufsichtsrat der Baumwollspinnerei am Stadtbach in Augsburg, Vorsitzender des Verbandes der Deutschen Veredlungsanstalten für bauwollne Gewebe e.V. in Leipzig, stellvertretender Leiter der Fachgruppe Textil-Veredlungs-Industrie sowie im Beirat der Wirtschaftsgruppe Textilindustrie in Berlin.
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kündigt. Auf diesen Vertrag ging Windel ein, und so können wir mit gutem Gewissen sagen, daß wir den Verband gerettet haben. Im Oktober 1931 machen wir in Tannenberg Versuche mit dem 12-Stuhlsystem (ausgesuchtes Kettmaterial und 42er Schußcops von 20 Minuten Laufdauer). 1931 beteiligen wir uns mit Zuschüssen am Bau reichseigener Wohnhäuser, da uns dies bei unserer Finanzbeengung als einziger Weg erscheint, unsere Politik der Wohnungsbeschaffung fortzusetzen. Im Winter 1931/32 setzen wir uns besonders für die Winterhilfe ein und organisieren, unter persönlichem Einsatz der weiblichen Familienmitglieder, Küche und Essenausgabe in der Walkgasse und in der Liehr-Fabrik (Meyer Kauffmann Oberstadt). Als dann unter dem Ehrenpräsidium von Frau Lüdemann (Frau des jüdisch-sozialdemokratischen Oberpräsidenten) ein rotes Winterhilfswerk ausgeschrieben wird, lehnen wir unsere Beteiligung ab und machen uns mit dem Roten Kreuz und der evangelischen Volkswohlfahrt selbständig. Per 1.1.1932 werden durch Notverordnung von Brüning alle Löhne und Gehälter um 15 % gesenkt. Damit sinken die Löhne auf das Niveau zurück, welches sie von März 27 bis Mai 28 gehabt haben. Gleichzeitig verfügt der Preiskommissar Gördeler¹⁹² irgend eine Preisermäßigung. Wir geben Ende 31 eine stark gesenkte „Gördeler-Liste“ heraus. Anfang 1932 Steuerstreit wegen Wohlfahrtsverein beim Finanzgericht Breslau. Das Finanzamt will die Zuweisungen an den Wohlfahrtsverein aus den Jahren 1925 – 27 zum großen Teil (etwa 3 Mill. Mark) nicht als abzugsfähig anerkennen. Streitobjekt 600.000 Mark. Das Urteil des Breslauer Finanzgerichtes war derartig haarsträubend, daß ein Referendar, der so ein Urteil gemacht hätte, jämmerlich durchgefallen wäre. Die Sache ging nun an den Reichsfinanzhof und nahm einen recht dramatischen Verlauf. Am 3. 5.1932 heißt es, daß unsere Sache schlecht stünde, allerdings aus ganz anderen Gründen als Breslau vorgebracht hatte. | 168 Am 11.10.32 steht die Sache gut, am 22.12.33 haben wir den Prozeß in der Hauptsache gewonnen. Lediglich in einer Nebenfrage (Aufwertung der in der Inflation untergegangenen ersten Dotationen) wird die Sache zur weiteren Klärung nach Breslau zurück verwiesen. Wir schlossen irgend einen Kompromiß im Zusammenhang mit einer ganz anderen Frage, nämlich der steuerbegünstigten Investitionen.
Carl Goerdeler (1884– 1945), Politiker. Zwischen 1930 – 1937 Oberbürgermeister von Leipzig sowie zwischen 1931– 1935 Reichskommissar für Preisüberwachung. Mitarbeit in der Gruppe des 20. Juli 1944. Goerdeler wurde im Februar 1945 hingerichtet.
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Im April 1932 ist bei C.D. (ohne andere Konzerngesellschaften) der Anteil am Umsatz des Leipziger Verbandes gestiegen von 5.9 % im Jahre 1927 auf 8.4 % im Februar 1932, bei Ärmelfutter sogar von 4.1 % auf 9 %. Die Beschäftigung hat sich im ersten Vierteljahr 32 im Verhältnis zum ersten Vierteljahr 28 (bisher höchste Beschäftigung) wie folgt entwickelt: Spinnerei 110 %, Weberei 103 %, Ausrüstung 65 % (Drucken 100 %), Kaliko-Abteilung 48 %. Die monatlichen Fabrikations- und Verwaltungskosten betragen laut Einnahmen- und Ausgabenbuch im 1. Vierteljahr 32 1.411.000 Mark. Berücksichtigt man die Mengenkosten der Ausrüstungs- und Kaliko-Abteilung von 100 % vom 1. Vierteljahr 28 (= + 144.000 Mark) ergibt sich folgende Rechung: I./ monatlich I./ ʺ
.. Mark .. ʺ . x = .. Mark Kosteneinsparung
bei gleicher Leistung. Der Ecklohn war im I./28 48 Pfg., im I./32 47.9 Pfg. Im Juli erfolgt eine Konzernabmachung mit einer Reihe von Baumwollhändlern. Es wurden, nach Berücksichtigung der berechtigten Wünsche aller Konzerngesellschaften, eine Reihe von Baumwollhändlern als Konzernlieferanten angenommen, so daß den Gesellschaften erheblicher Spielraum in ihrer Baumwoll-Eindeckung blieb. Mit diesen Baumwollfirmen wurde ein Abkommen getroffen mit genauer Festlegung der Lieferbedingungen, Margenkredite und, meiner Erinnerung nach, einem kleinen Konzernrabatt, der dadurch finanziert wurde, daß die Vertreter ausgeschaltet wurden. Das hat allerhand böses Blut gemacht, aber die Baumwollvertreter hatten sich nicht nur als unnütz, sondern als überaus störend bei der Abwicklung der Geschäfte und teilweise böswillig herausgestellt, so daß wir allen Grund hatten, mit ihnen Schluß zu machen. Ich erinnere mich, daß | im Jahre 1933 eine Deputation der Baumwollvertreter im 169 Continental-Hotel erschien, darunter der inzwischen zu Ruhm und Ansehen gelangte Sonder- bezw. Untersee-Bauer¹⁹³, damals allerdings noch nicht mit der Statur eines Kommerzienrates, sondern als hungriger Baumwollvertreter in einem SA-Hemd mit Schulterriemen. Übrigens war das eines der Gebiete, auf dem Moser auch wieder Sabotage trieb. Im Dezember 32 ist die Rede von einer großen Eindeckung in Kongo-Baumwolle. Graf hatte aus der Empfindung heraus, daß die amerikanische Baumwolle qualitativ zurückging (Pflückmaschinen usw.) und noch dazu unnötig teuer sei, allmählich begonnen, Exoten zu kaufen, unter anderem brasilianische Baumwolle. Eine besondere Rolle für hochwertige Garne spielte die Kongo-Baumwolle, N.e.
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die in ihrer Qualität ähnlich wie die oberägyptische, im übrigen gut und verhältnismäßig preiswert war. Das schwierige bei dieser Baumwolle war ihr verhältnismäßig enger Markt. Man mußte sich schon bei der Ernte möglichst für das ganze Jahr eindecken, um sich die richtige Qualität zu sichern, war dann aber aufs beste aufgehoben. Es ist immerhin bemerkenswert, daß wir uns damals schon von der amerikanischen Baumwolle ab und den Exoten zuwandten, eine Entwicklung, die in den späteren Jahren allgemein Fortschritte machen sollte. Im Herbst 32 fassen wir einen weittragenden Entschluß betreffend unsere Wohlfahrtspflege bezw. Sozialarbeit. Seit 1928 oder 29 beschäftigten wir eine Fabrikpflegerin (Fräulein Treuenfels¹⁹⁴), welche in erster Linie die weiblichen Jugendlichen zusammenfassen, betreuen und in Form bringen soll. Diese Arbeit stieß auf heftigen Widerstand der Gewerkschaften, wurde aber trotzdem mit einem gewissen Erfolg durchgeführt. Leider zeigte es sich, daß mit den Kinderheimen, wo man die Jugendlichen schon vor ihrem Eintritt in den Betrieb hätte erfassen sollen, nicht nur keine Zusammenarbeit, sondern zum mindesten eine ausgesprochene Fremdheit bestand. Ganz abgesehen davon hatten uns die Bethanienschwestern, mit denen ja meine Mutter ihr ganzes Leben aufs schönste zusammen gearbeitet hatte, zunehmend enttäuscht, seitdem der alte Pastor Ulbrich¹⁹⁵ mit seinem weißhaarigen Feuerkopf gestorben und in Pastor Hochbaum¹⁹⁶ einen völlig unzulänglichen, dafür aber von sich doppelt überzeugten, Nachfolger gefunden hatte. Einmal wurden uns tüchtige Schwestern, wenn wir mal eine solche ergattert hatten, im allgemeinen nach kurzer Zeit wieder weggenommen, und Pastor Hochbaum lehnte mit überlegener Miene unsere Ein170 sprüche ab. Ferner ging die Qualität der Schwestern erheblich | zurück, vor allem zeigten sie keinerlei Fähigkeiten mehr, mit den von hause her marxistisch beeinflußten Kindern fertig zu werden. Schließlich kam es so weit, daß in der Kinderschule von einer Reihe von Kindern gelegentlich kommunistische Weihnachtslieder als Protest gegen die alten gesungen wurden. Wir sagten uns, daß es so nicht weiter gehen könne und versuchten nun, die gesamte Sozialarbeit in den Heimen und im Betrieb in einer Hand zusammenzufassen und gleichzeitig nach einigen Versuchen mit Kochkursen eine Haushaltungsschule im Kinderheim an der evangelischen Kirche einzuführen, weil wir glaubten, auf diesem neutralen Gebiet etwas ganz Bedeutendes schaffen zu können. Wir wollten unsere Arbeiterfrauen auf diese Weise von Kartoffeln, Kaffee und Wurst auf eine vernünftige Haushaltsführung bringen und damit das ganze Niveau unserer Arbeiterschaft
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heben. (Daß wir schon seit 1928 oder 29 eine Dinta-Lehrwerkstatt für Weberlehrlinge eingerichtet hatten, ist wohl schon an anderer Stelle erwähnt worden.) Zur Leitung dieser ganzen Sozialarbeit wurde im Herbst 32 Borghild Schröder¹⁹⁷ eingestellt, ein nicht ganz einfacher Mensch von hohem Niveau, die in der Zusammenfassung unserer ganzen Sozialarbeit außerordentliches geleistet hat. Daß es uns sehr schwer fiel, uns von unseren guten, alten Bethanienschwestern, mit deren Mutterhaus uns so viel Tradition verband, zu trennen, ist eine Selbstverständlichkeit. Interessant ist zu sehen, daß sich die Beschäftigung 1932 gegenüber 31 merklich hob, trotz rückgehenden Versandes und steigendem Lager. Spinnerei i. kg
. . + %
Weberei Ausrüstung i. Mill. m i. Mill. m . . + %
. . + %
Versand Verkauf i. Stück i. Stück ./. %
+ %
Umsatz i. Mill. Mark . . ./. %
Die Kilogramm-Zahlen in der Spinnerei und Meterzahlen in der Weberei sind einigermaßen repräsentativ, da sich Durchschnitts-Nummer und Schuß pro Meter nicht wesentlich geändert haben und auch sonst keine besonderen Veränderungen eingetreten sind. Alles in allem wachsen wir langsam der Vollbeschäftigung entgegen. Im Umsatz drückt sich die rückläufige Baumwolle und das Absinken der Margen aus. Im 1. Quartal bleiben erstmalig in einem ganzen Quartal die Ist-Endaufschlagskosten unter den Soll-Kosten, trotz mäßigen Versandes. | Die Bilanz ergibt erstmalig einen Vermögensgewinn von . Mark dazu Baumwollausgleich (o. cts. x . Ballen) . ʺ Arbeitsergebnis (Geschäftserfolg) . Mark Margenverlust . ʺ Arbeitsergebnis (rentabilitätsmäßig) .. Mark
Wir sehen also, daß wir trotz schlechtem Versand und mäßiger Beschäftigung ein recht anständiges Ergebnis erzielt haben. Daß auch im Krisenjahr 1932 noch Margenverluste in dieser Höhe entstehen, ist bemerkenswert. Darauf kommen wir später noch zurück. Nun könnte man mir entgegen halten: Du hast da immerfort mit MillionenErsparnissen um Dich geworfen! Wo sind sie denn geblieben? In den Ergebnissen findet man sie nicht! Antwort: sie sind von der Margenverschlechterung aufge N.e.
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fressen worden! Über den Margenrückgang haben wir bis Oktober 1931 Buch geführt, indem wir von 20 repräsentativen Qualitäten (Inlet, Züchen, Damast, Weißwaren aus Kattun, Renforce, Nessel, Couverturen, Chemise Kleiderstoff, Pocketing, Ärmelfutter, kunstseidene Druckwaren usw.) die Margen laufend ausgerechnet und registriert haben. Sie waren im Oktober 31 gegen 1925 im Durchschnitt um 45 % zurückgegangen. Dann kam im Dezember 31 die „GördelerListe“, welche bei der Inventur 31 zu Grunde gelegt wurde, und darauf dann noch die Preissenkungen des Jahres 32, die sich in einem genau errechneten Margenverlust von 800.000 Mark ausdrückten. Trotz allen gegebenen Ungenauigkeiten dieser Rechnung kann man sicher mit einem Margenverlust von 50 % rechnen. Um ganz bestimmt keinen Fehler zu unseren Gunsten zu machen, rechne ich aber nur mit einem Margenverlust von 40 %. Bilanzmäßig drückt sich die Marge im Fabrikationsumsatz aus und zwar in diesem Fall im Fabrikationsumsatz einschließlich Hilfsstoffen. Dieser betrug 1932 17.835.000 Mark. Wenn die Margen 40 im Hundert = 66 2/3 vom Hundert höher gewesen wären (also wie im Jahre 25) hätte sich ein um 11.890.000 Mark höherer Fabrikationsumsatz ergeben. Dazu kommt, daß auch nach der Brüning’schen Senkung die Effektiv-Löhne immer noch 15 % höher als 1925 sind, was eine Erhöhung der Personalkosten um 800.000 Mark gegenüber 1925 ergibt. Margensenkungen und Lohn- und Gehaltserhöhungen ergeben also zusammen eine Verschlechterung von 12.690.000 Mark, d. h. wir hätten 1932 um 12 ½ Mill. schlechter dagestanden (12 ½ Mill. ./. 1 ½ Mill. Arbeitsergebnis hätte einen Verlust 172 von | 11 Mill. ergeben), wenn seit 1925 alles beim alten geblieben wäre. Wir haben uns also um 12 ½ Mill. verbessert. Es ist selbstverständlich, daß diese Rechnung äußerst roh ist, aber bei der großen Vorsicht, mit der sie vorgenommen wurde, scheint sie mir eine Minimalrechnung zu sein. Diese, im ersten Augenblick verblüffende, Ersparniszahl wird ohne weiteres glaubhaft, wenn man folgende Stichzahlen in Betracht zieht, Stichzahlen, die noch dazu meist nur bis 27 zurückreichen, also die Rationalisierungen von 1925 – 27 nicht einschließen. In der Spinnerei wurde in einer Arbeitsstunde erzeugt an 30er Garn: 1927 1.19 kg 1932 3.63 ʺ = 222 % In der Weberei wurde geleistet je Arbeitsstunde: 1927 9.540 Schuß 1932 17.230 ʺ = 180 % In der Weberei ist zu sagen, daß zwar die Schüsse im Durchschnitt geringwertig geworden sind (Rohware anstatt Inlet und Züchen), daß aber die Breite gestiegen ist.
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Für die Ausrüstung fehlen leider die Zahlen vor 1932, weil in der Ausrüstung der einzige Maßstab der Umsatz ist und dieser bei den erheblichen Preisschwankungen zwischen 1925 und 1932 als Vergleichsmaßstab unbrauchbar ist. Nach 1932 blieben die Preise aber halbwegs konstant. Es wurde je Arbeitsstunde ein Umsatz geleistet: 1932 1.97 Mark 1938 3.97 ʺ = 201 % Wir haben keine Veranlassung, die Anstiegskurve bei den Rationalisierungen der Jahre 1925 – 32 (Treffermaschinen) flacher anzunehmen. Es wird ferner am 15.4.1930 festgestellt, daß wir im Jahre 1930 für Züchen bis zu 17 % weniger Stücklohn zahlen als 1928 und zwar trotz zwei Lohnerhöhungen von 20 – 25 %. Majanz zahlte in Tannenberg 1925 2.1 Pfg. je 1.000 Schuß, wir 1930 trotz Lohnsteigerungen um 36 % 1.12 Pfg., obgleich wir noch lange nicht beim 12Stuhlsystem angekommen waren. Nun bedenke man, daß die Einsparungen an Lohnaufwand ja nur einen Teil unserer Rationalisierungsmaßnahmen ausmachen. Im übrigen muß noch auf eins hingewiesen werden. Die oben ausgewiesene Verbesserung der | Gesamtunkosten 173 um 12.5 Mill. Mark ist natürlich nicht nur auf die eigentliche Rationalisierung zurückzuführen, sondern auch auf die Betriebserweiterungen. Letztere halfen vor allem deswegen Generalunkosten tragen, weil sie weniger eine Verbreitung als eine Vertiefung der Produktion darstellten. Die Meterproduktion der Ausrüstung in Eigenware war seit 1925 nicht gestiegen (wenn auch fraglos im Durchschnitt wertvollere Meter waren!).Wesentlich erweitert hatten wir lediglich die Produktion in der Spinnerei und Weberei. Wir waren im Durchschnitt mehrstufiger geworden. Hier reizt es, einen Vergleich mit dem letzten Vorkriegsjahr 1913 zu ziehen: Spinnerei Prod. in . kg
.
Weberei ausgerüstet Prod. in in Mill. m Mill. m . .
. .
Versand in Umsatz in Stück Mill. Mark
. .
Arbeiter Angestellte
. .
Da in der Spinnerei die Durchschnitts-Nummer von ca. 20 auf 24.7 gestiegen war, kann man fast mit einer Verdreifachung der Produktion rechnen. Da in der Weberei die Buntwaren-Produktion von 3.000 Stühlen unter 2.000 gesunken war und in diesem Umfang durch Rohware ersetzt war (auf der anderen Seite kamen allerdings auch die wertvollen Damaste und eine allgemeine Warenverbreiterung
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hinzu), kann man mit einer reichlichen Verdoppelung rechnen. Demgegenüber ist die Produktion der Ausrüstung nur um 11 % gestiegen, wobei allerdings der Meter gegenüber 1913 wesentlich wertvoller geworden ist (Drucks, insbesondere Modedruck und Spritzdruck, Kaliko, allerdings auch billige Weißware in Grünau, das andererseits erst 1914 erworben wurde). Diese Entwicklung entspricht unseren Absichten. Die Ausrüstung sollte ja grundsätzlich gar nicht vergrößert werden, sondern anstelle der Lohnware (1913 noch reine Lohnausrüstung) sollte die eigene Ware treten, wozu, abgesehen von der Schaffung des Konzerns, Spinnerei und Rohweberei ausgebaut wurden. Die Vertiefung der Ausrüstungsmarge durch erhebliche Erweiterung der Druckerei, Spritzdruckerei und Kaliko-Abteilung diente, abgesehen vom Übergang auf lohnendere Artikel, zur Aufnahme der durch die Rationalisierung eingesparten Arbeiter. | Die Angliederung von Grünau und Frankenberg, über deren Gründe an an174 derer Stelle genügend gesprochen worden ist, war vom Standpunkt der Beschäftigung unserer Bielauer Ausrüstungsanstalt eine Unlogik. Die annähernde Verdreifachung des Versandes ist ein Ausdruck des Übergangs von Lohnausrüstung zur Eigenausrüstung. Auch die reichliche Verdoppelung des Umsatzes ist zum Teil darauf zurückzuführen, wobei die Margenerhöhung gegenüber der Vorkriegszeit durch den Baumwollrückgang ausgeglichen sein könnte. Im übrigen ist das Jahr 32 für Versand und Umsatz wenig repräsentativ (Lagersteigerung!). Es war der niedrigste Umsatz seit der Stabilisierung, und er stieg von 26.0 auf 46.6 im Durchschnitt der Jahre 37– 39. Nach diesen Feststellungen und der obigen Registrierung einiger interessanter Einzelheiten aus 1932 soll zum Schluß eine kurze, zusammenhängende Darstellung gegeben werden über den Geschäftsverlauf dieses in höchstem Maße entscheidungsträchtigen Krisenjahres, welches für uns trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – in jeder Hinsicht ein Aufbau-Jahr größten Stiles war. Im Dezember 1931 erließ Brüning besagte Lohnsenkungsverordnung, die meiner Erinnerung eine Senkung der Löhne und Gehälter um 15 %, höchstens aber auf den Stand vom 1.1.27 vorsah. Gleichzeitig gab er zu erkennen, daß nun aber Schluß mit der Deflation sein solle. Zur gleichen Zeit erließ der überaus verständige Preiskommissar Gördeler (Oberbürgermeister von Leipzig) eine Preissenkungsverordnung, in der er wohl die volle Berücksichtigung dieser Lohnsenkung in den Preisen zur Pflicht machte. Wir haben unsere „Gördeler-Liste“ nicht ohne Begeisterung herausgegeben. Wir hatten die Empfindung, daß nunmehr eine gewisse Stabilität eintreten werde, zumal die jetzt noch mögliche Senkung des Baumwollpreises (auch die Aufschläge, die sogenannten ons, waren stark zurückgegangen) sich im Preise nicht
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mehr stark auswirken können. Gleichzeitig meldeten unsere Vertreter übereinstimmend, daß die Kundschaft keinerlei Läger mehr habe. Anfang 1932 bekamen wir Nachrichten über eine beginnende Kreditinflation in den Vereinigten Staaten, die ersten Vorboten der 1933 erfolgten Abwertung des Dollars. Im Augenblick natürlich dachte niemand an diese Abwertung, sondern nur an eine steigende Preistendenz. | Die außenpolitische Sachlage deutete schüchtern auf „das Ende der Repa- 175 rationen“ (Titel einer Broschüre von Schacht) hin. Eine gewisse Vernunft schien auch in der Weltwirtschaft einzutreten. Innenpolitisch schien eine nationale Konsolidierung den Marxismus zurück zu drängen. Daß eine Schrift erschien „Das Ende der Republik“, ohne daß diese das Buch etwa beschlagnahmte, war ein untrügliches Symptom. Die Finanzierung überplanmäßiger Bestände erforderte bei den jetzigen Baumwollpreisen, dem gesenkten Lohnniveau und den scharf gedrosselten Unkosten nur noch mäßige Summen. Unsere Schulden (8 Mill., davon 4 Mill. Mark in DNF-Krediten konsolidiert) schienen auch nicht mehr gefährlich. Die Anfang Februar herauskommende Bilanz zeigte rentabilitätsmäßig ein aktives Arbeitsergebnis von fast 1.4 Mill. Mark bei 1.025.000 Abschreibungen. Und als wir dann im Februar uns durch die scharfe Kapitalzusammenlegung auch in dieser Hinsicht der Deflation angepaßt hatten, fühlten wir allenthalben wieder Grund unter den Füßen. Wir fühlten uns nunmehr stark genug, eine langsame Lagersteigerung in Kauf zu nehmen und keineswegs mehr die Produktion zu drosseln. Freilich stellte der Verlauf des Jahres 32 unsere optimistische Grundstimmung auf eine harte Probe. Zunächst brachte das an anderer Stelle besprochene Chaos der Reichspräsidentenwahl und die Gegensätze im nationalen Lager eine bittere Enttäuschung, doch konnten der Einsatz der Regierung Papen und das wirkliche Ende der Reparationen – es war wohl im Juli – einem zunächst wieder Mut machen. Die Marktlage allerdings verschlechterte sich unterdessen, entgegen unserer Erwartung, fortgesetzt. Im Mai melden die Vertreter Verschlechterung des Geschäftes auf der ganzen Linie, insonderheit verfallen die Druckmargen, vor allem in Modedrucks, weiter. Wir haben 937.000 Meter kunstseidene Gewebe auf Lager, darunter 400.000 Meter Fleurette und 142.000 Meter Marocain. Dies regte uns aber nicht mehr sonderlich auf, da wir unsere Bestände im Zuge der Bilanzbereinigung – blutenden Herzens vor allem bei unserem schönen Fleurette – auf einen Preis herunter geschrieben hatten, bei dem uns nichts mehr passieren konnte. Laut Meldung des Statistischen Reichsamtes ist die Beschäftigung der Industrie seit 1928 um 38 % zurückgegangen. Die Arbeitsstunden-Kapazität wird mit 50 % der Vollbeschäftigung angegeben (allerdings bezogen auf ein offensichtlich
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176 überhöhtes anormales Soll). Tatsächlich mag sie | etwa 60 % einer wirklichen
Vollbeschäftigung betragen haben. Der Arbeitslosenstand geht auch im Sommer nicht unter 5.1 Mill. zurück gegen knapp 4 Mill. im Vorjahr. Die gesamte Industrie arbeitet nur 42.5 Wochenstunden, die Textilindustrie 39 (C.D. 43). Die Sommermonate hindurch wird in der Baumwollweberei eine organisierte Betriebseinschränkung emsig betrieben (meiner Erinnerung nach unter anderem auch propagiert von Häcker). Wir wollten ja eigentlich keineswegs einschränken, können uns aber begreiflicherweise dieser Anregung nicht ganz entziehen; wir sagen daher unsere energische Mitwirkung zu, aber nur bei einer Beteiligung von 95 % aller Baumwollstühle, eine Zahl, die nie erreicht worden ist. Interessant sind die Arbeitsergebnisse im Konzern für das 1. Halbjahr 1932 (bei Prinz und Suckert ist die Buchführung noch nicht so weit, wird aber durch Seidel und Heinrich¹⁹⁸ betrieben). Hammersen Kottern Haunstetten Riedinger Stadtbach Fichtelbach insgesamt C.D.
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Inzwischen hatte die Baumwolle am 9.6.32 ihren Tiefstand mit 5 cts. (Juli-Termin 4.96 cts.) erreicht, um dann aber kräftig anzuziehen und am 29.8. wieder auf 9.20 cts zu stehen. Es ist bezeichnend für die völlige Verstörtheit der öffentlichen Meinung, daß selbst dieser, bei den geräumten Lägern des Handels doch wirklich alarmierende, Aufstieg der Baumwolle um 84 %, und zwar ausgehend von einem seit 1848 nicht mehr erlebten Baumwolltiefstand, fast völlig verpuffte. Es trat weder eine Belebung des Geschäftes noch eine Preissteigerung ein, und wir blieben mit der Ankündigung einer 3 %igen Preissteigerung auf einem Teil unserer Liste fast allein. Allerdings sollte der Pessimismus zunächst einmal recht behalten, da die Baumwolle bereits im September wieder beträchtlich fiel und im Dezember einen neuen Tiefstand von 5.85 cts. erreichte. Um 6 – 8 cts. herum stabilisierte sich dann die Baumwolle für lange Jahre (allerdings im Gold-Dollar gedacht). | 177 Im November, als alles wieder in tiefste Lethargie versunken ist, mache ich in einem Aufsatz in der Textilzeitung (Überschrift: Umkehr?) dem Handel den Vor-
N.e.
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wurf, daß er im August in unglaublicher Kurzsichtigkeit alles getan habe, um ein Steigen der Preise zu verhindern. Nur von einem kleinen, aber merklichen, Preisruck nach oben könne die von allen sehnlichst erwartete Umkehr ausgelöst werden: „Nur die schreckhafte Erkenntnis in Konsumentenkreisen, daß die Preise in den Schaufensterauslagen auch einmal steigen können, wird die vielbesprochene Strumpfmilliarde, die in gewissem Umfang zweifellos vorhanden ist, herauslocken. Eine, wenn auch noch so geringe, sichtbare Belebung des Einzelhandels-Umsatzes muß bei der heutigen knappen Vorratshaltung zu Ersatz- und Vorratseindeckungen führen, diese wieder zu Einstellungen von Arbeitern in der Industrie und so fort.“
Unsere Überzeugung, daß das Krisentief erreicht ist, läßt sich nicht ins Wanken bringen, zumal Kehl und Jeidel¹⁹⁹ unsere Ansicht bestätigen. „Die Vertrauenskrise hat sich über jede sachliche Berechtigung hinaus ausgedehnt.“ Von ähnlichen Erwägungen, daß nämlich nur ein psychologischer Druckpunkt überwunden werden müsse, wozu ein kleiner Anstoß genüge, ging offensichtlich die Regierung Papen bei ihrer Steuergutschein-Verordnung vom September 1932 aus. Eine Einstellung von Arbeitern (evtl. sogar unter vorübergehender Senkung der Arbeitszeit) wird zweifach prämiert: 1.) durch eine Beschenkung mit Steuergutscheinen (die ab 1.10.33 zu Steuerzahlungen benützt werden können) 2.) durch den Anreiz einer kleinen Lohnsenkung bei erheblicheren Arbeitereinstellungen. Schließlich war auch noch irgend ein Anreiz zur Nachholung von Reparaturen in der gewerblichen und Hauswirtschaft gegeben. Wir rechnen uns aus, daß wir bei Einstellung von 485 Leuten in der Ausrüstung, und vor allem den Werkstätten, unter vorübergehendem Rückgang auf 30 Wochenstunden (KurzarbeiterUnterstützung!) 200.000 Mark Steuergutscheine kriegen würden, die wir zur Nachholung von Reparaturen und Fortsetzung der technischen Rationalisierung benützen wollen. Es zeigt sich aber, daß der psychologische Moment – der unberechenbare – noch nicht da ist. An vielen Stellen wird der Versuch gemacht, die Verordnung unter anderem zur Lohnsenkung auszunützen. Allenthalben, bei Huesker, Rosenberger, Hain, Cohn, Weyl & Nassau, Fleischer und Meyer Kauffmann, wird gestreikt. Bezeichnenderweise denkt im Augenblick bei | der pessimistischen 178 Grundstimmung kein Mensch etwa an Aussperrung, sondern die Leute sagen:
Otto Jeidels (1882– 1947), Bankier und bis 1933 Gesellschafter der Berliner Handelsgesellschaft.
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ruhig streiken lassen, wenn wir nicht produzieren ist das kein Fehler. Meyer Kauffmann bedeutet sogar den Leuten, daß sie in Bielau den Betrieb nunmehr überhaupt nicht mehr aufmachen würden, was die Arbeiter recht unsicher macht. Telegramm an den Reichskanzler! Erwägung eines Streikverbotes! Politische Lage sehr undurchsichtig. Den bevorstehenden Wahlen und der Reichstagseröffnung sieht man – wie sich nachher herausstellt mit Recht – mit tiefer Beunruhigung entgegen. Wir stellen unter diesen Umständen große Projekte zurück, verzichten von vornherein auf jede Lohnsenkung und stellen nach einem wohldurchdachten Plan Leute da ein, wo auch jetzt Nachfrage besteht, vor allen Dingen aber auch Handwerker, um, wie gesagt, zurückgestellte Reparaturen und Reorganisationen wieder aufzunehmen. Wir beschließen die Einstellung von 305 Leuten, vorläufig auf ¼ Jahr befristet, die wohl tatsächlich auch hereingenommen worden sind, denn der Arbeiterstand nimmt im 4. Vierteljahr per Saldo um 260 Personen zu. Daß in einzelnen unserer Artikel, trotz dieser allgemeinen Baisse, Nachfrage da ist, geht aus einer Notiz hervor, derzufolge wir in der Rauherei mit 3 Schichten nicht auskommen. Daher pachten wir die stillstehende Rauherei von Julius Neugebauer gegen ein wöchentliches (!) Entgelt und betreiben sie mit 7– 8 Leuten. Da der Betrieb völlig stillgelegt ist und das Ingangbringen oder gar Instandsetzen des Kesselhauses sich bei diesem provisorischen kleinen Betrieb nicht lohnt, wird der benötigte Dampf mit der alten Dampfspritze erzeugt, was immerhin eine köstliche kleine Groteske darstellt. Diese originelle Extravaganz weist auf einen großen Schlag hin, den wir in Flanellen gemacht haben und der mir unsere Verkaufspolitik in dieser denkwürdigen Zeit besonders lebhaft ins Gedächtnis zurück ruft. Es bildete sich gerade damals eine immer klarere Richtung unserer Verkaufspolitik aus. Wie gesagt hatten wir im Oktober 31, d. h. mitten in der schlimmsten Krisenstimmung, trotz aller Bedenken doch Maria May eingestellt, um eine große einheitliche Linie in unsere Musterung zu bringen. Wir glaubten erkannt zu haben, daß es sich bei dieser Frau, trotz aller Extravaganz, nicht um eine der verschrobenen Modekünstlerinnen handelte, sondern daß sie bei hoher künstlerischer Begabung doch mit beiden Füßen im primitiven Alltag stand und für handfeste Erwerbsstreben, 179 für Ausgaben und Einnahmen (letzteres natürlich auch | für sich selbst!) ein gewisses Verständnis mitbrachte. Sie sollte beileibe nicht etwa nur „künstlerische Entwürfe“ machen, sondern ihr Arbeitsgebiet sollte sozusagen vom Rapport an der Druckmaschine bis zur Aufnahme unserer Kollektionen bei der Kundschaft reichen. Bei all ihrer produktiven, aber nichtsdestoweniger nervenbeanspruchenden Ruhelosigkeit, die den Coloristen, Dr. Wolfgang, Graf und Brauer häufig größten Kummer machte, ist sie ihrer Aufgabe trotzdem durch viele Jahre hindurch weitgehend gerecht geworden. Als Dr. Wolfgang ihr einmal beim Abschluß
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einer Kollektions-Besprechung sagte: „Und nun, Frau May, vergessen Sie mir auch die modisch falschen Muster nicht, ich meine die, welche groß gekauft werden“ zeigte sie auch für diese Blasphemie sofort tiefes Verständnis. Auch der, durchaus aus dem Rahmen des üblichen fallende, Gedanke des Maria May-Studios erwies sich durch Jahre hindurch als produktiv. Durch ihre Tätigkeit an der bekannten Reimann-Schule hatte sie sich einen Ruf als kunstgewerbliche Lehrerin geschaffen, durch welchen sie entsprechende Kräfte heranzog und außerdem unserer Musterung einen gewissen Nimbus verschaffte. Am 13.9. wurde in unserem Berliner Haus das Studio, unter großer Beteiligung von Presse und prominenter Kundschaft (unter anderem der alte Grünfeld²⁰⁰) mit Tam-Tam eröffnet. Auf meine Ansprache hin, in der ich bis auf den alten Christian zurück ging, antwortete der Reichskunstwart Redslob²⁰¹, den Maria May auch herbei geschafft hatte, mit einem wild begeisterten Lob der Tradition, das in der Presse gebührend ausgeschlachtet wurde. Nun darf man aber nicht denken, daß wir nunmehr erst recht auf hochmodische Gebiete übergehen wollten. Im Gegenteil: Fleurette, mit dem wir uns erfolgreich auf ureigenste Gebiete der Seidenindustrie und des großen Abendkleides gewagt hatten – und nebenbei bemerkt sehr viel Geld verloren – lag endgültig hinter uns. Fleurette hatte alles aufhorchen lassen und uns einen großen Ruf auf dem Modedruckgebiet verschafft. Nunmehr hatten wir aber eingesehen, daß sich so etwas nicht für unsere Massenproduktion eignete. Wir hatten nun unseren Stil gefunden, nämlich den Sport-, Dirndl- und Wochenendtyp. Bobby (preiswerter Ersatz für die damals epochemachenden Polohemden), Touring-Flanell, TourenKretonne, Cedeline, Deutscher Kretonne wurden unsere großen Schlager. Wenn wir die nicht gehabt hätten, wäre auch unser Verkauf gegen 1931 mindestens 20 % abgesunken (Buntware war um 15 %, Weißware um 19 %, Kunstseide um 39 % zurückgegangen). Gestützt auf | unsere Schlager (wie gesagt drei Schichten in der 180 Rauherei!) brauchen wir uns an der Preisschleuderei nicht unbegrenzt zu beteiligen. Wir konnten im Augenblick auf den Verkauf von MH‘50, den man doch durch keine Preisermäßigung forcieren konnte, verzichten und verkauften trotzdem mehr als andere.
Heinrich Grünfeld (1865 – 1936), Textilkaufmann und Verbandspolitiker, war u. a. zwischen 1920 – 1933 Mitglied des Vorläufigen Reichswirtschaftsrates und bis 1933 Vorsitzender der Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels. Edwin Redslob (1884– 1973), Kunst- und Kulturhistoriker, Schriftsteller, Übersetzer sowie zwischen 1920 – 1933 Reichskunstwart. Ziel dieses 1920 neu geschaffenen Amtes war es, den republikanischen Gedanken in Reichssymbolen auszudrücken und dessen Rückhalt in der Gesellschaft zu stärken.
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Auch unsere Propaganda fand nunmehr ihren endgültigen Stil. Touring, Bobby, Cedeline und Deutscher Kretonne lagen ungefähr in derselben, sagen wir: Mittelstandslinie, wie Hausfrauentuch Treffer und paßten zu unserer Inlet- und Damast-Propaganda. Der überaus werbende Gedanke, daß man das gleiche Kretonne-Muster zum Wochenendkleid wie zu den Vorhängen und Möbelbezügen, zu dem Nähkörbchen und Buchhülle für Wochenendheime benützen konnte, wies in modisch reizender Form doch stark aufs praktische. Kresse’s²⁰² Ausstellung auf der Leipziger Messe „Gemütliches Heim“ oder so ähnlich, mit entsprechend eingerichteten Puppenhäuschen war eine Spitzenleistung auf diesem Gebiet. Außerdem waren wir uns endgültig darüber klar geworden, daß unsere Werbung in der Tagespresse nichts zu suchen hatte, daß sie in der Fachpresse in erster Linie nur zur Erhaltung der Freundschaft diente, und daß unser Gebiet die Hausfrauenzeitungen, die Beierschnitte und – die Unterstützung unserer Kundschaft in deren Propaganda war. Natürlich konnten wir den Großstadt-Geschäften mit ihren eigenen Dekorateuren verhältnismäßig wenig bieten, dafür aber umso mehr den soliden Geschäften in den Klein- und Mittelstädten. Auch der Kalender, mit dem wir schließlich eine Auflage von über 800.000 Stück erreichten, lag genau in derselben Richtung. Diese Propaganda machte uns in Publikumskreisen bekannt, stärkte unsere Beziehungen zu unserer besten Kundschaft und – was nicht unterschätzt werden darf – war verhältnismäßig billig. Ein weiteres Ereignis, aus dem wir schließlich richtunggebende Erkenntnisse geschöpft haben, war unsere Verbindung mit Witt. Wer war Kommerzienrat Witt²⁰³? Ein Zimmermann aus Weiden, der eine ländliche Hausiererin in Textilien und Kurzwaren geheiratet hatte. In der Inflation, oder vielleicht auch schon vorher, hatten sie ein primitives Versandgeschäft begonnen, und zwar offensichtlich mit ungewöhnlicher Sachkenntnis und eben solchem Geschick. Als die 181 großen | Pleiten der Stabilisierungszeit kamen, kaufte er mit seinen inzwischen angesammelten Mitteln aus Konkursen Textilwaren zu lächerlichen Preisen und machte dabei trotz billigster Abgabe an seine Kundschaft einen enormen Verdienst. Durch allerhand Stiftungen sicherte er sich den Beistand der katholischen Kirche mit all ihren Vereinen und machte bald ein Riesengeschäft, so daß man allenthalben schon von -zig-Millionen-Umsätzen munkelte. Es war begreiflich, daß so ein „Ramscher“ zunächst einmal für uns nicht in Betracht kam, auch als Alfred Kresse (n.e.), Handlungsbevollmächtigter der C. D. AG. Josef Witt (1884– 1954), Textilhändler und Gründer eines Versandhandels im Jahre 1907, der 1913 nach Weiden übersiedelte. Seit den 1920er Jahren erfolgten Betriebsvergrößerungen sowie die Eingliederung unterschiedlicher Fabrikationsbetriebe, in dessen Folge sich die Marke Witt Weiden zu einem der bekanntesten Textilversender entwickelte.
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wir hörten, daß unsere Konkurrenz in immer größerem Umfange in Weiden stundenlang antichambrierte, so daß schließlich sogar Nummern für die Besucher ausgegeben werden mußten. Die Witt’schen Preislisten fanden aber allmählich eine immer größere Verbreitung, und wir mußten feststellen, daß sie sich, im Gegensatz zu anderen Versandgeschäften, einer außerordentlichen Einfachheit befleißigten. Wir ließen uns Proben schicken und stellten fest, daß die Ware erstaunlich solide war. Unter diesen Umständen hatten wir die Empfindung, irgendwie beobachtend die Finger in die Sache stecken zu müssen und begannen mit großer Vorsicht gelegentlich mal ein Geschäft mit Witt zu machen. Zu größeren Geschäften scheint es im Jahre 30 gekommen zu sein, und wir merkten bald, daß hier etwas vorging, dem man die allergrößte Beachtung schenken mußte. Was war das Geschäftsgeheimnis von Witt? Wie immer eine äußerst einfache Erkenntnis. Frau Kommerzienrat Witt²⁰⁴ kannte aus ihrer früheren Tätigkeit die Psyche der Käufer ganz vorzüglich, und die Leute hatten etwas gemerkt, was der Einzelhandel noch vollkommen übersah. Dort war man immer noch der Meinung, daß man der Kundschaft eine ungeheure Auswahl bieten und auf alle ihre Geschmacksmarotten eingehen müsse. Diese Ansicht traf zu in all den Dingen, wo es sich um Kleidermoden, Kleidermuster und ähnliches handelte; ganz und gar nicht mehr aber in Bezug auf Stapelartikel, wie Bettzeug, weißes Hemdentuch und ähnliches. Hier hatte sich bei den Hausfrauen längst die Neigung durchgesetzt, billig zu kaufen, irgendwie Geschäfte zu machen. Vor allem in der Stadt war es ein beliebtes Thema bei Hausfrauen-Unterhaltungen, wer am geschicktesten Gelegenheiten wahrnehmen könne. Es ist das Geheimnis des Grünauer Resteverkaufes, der Inventur-Ausverkäufe und der Weißen Wochen, daß die Leute sich sagten: in der Fabrik, im Ausverkauf usw. muß man ja billiger kaufen als im Laden. Dieser Tendenz kam Witt nun weitgehend entgegen. Auch Witt hatte sich in|zwischen Fabriken zugelegt, auch bei Witt kaufte man unter Umgehung 182 des Einzelhandels. Die Tatsache, daß Witt von vornherein, im Gegensatz zu den alten Versandgeschäften, keinerlei Muster versandte, sondern auf Bestellungen nach Liste die Pakete unter Nachnahme kurzerhand zuschickte (nicht gefallende Sendungen nehmen wir unter sofortiger Wiedererstattung des Betrages, natürlich nach Abzug der zweimaligen Portospesen, wieder zurück) verstärkte den Eindruck, daß hier etwas Besonderes los sei und daß man infolgedessen billig kaufen müsse. Tatsächlich waren die Preise erstaunlich billig. Preiswürdigkeit und Güte der Waren sprach sich allgemein herum, vor allem die ländliche Kundschaft war begeistert von den unverwüstlichen Qualitäten (sein Inlet entsprach unserer
Monika Witt (n.e. – 1959), Unternehmerin und Ehefrau von Josef Witt.
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Qualität CDF, aber mit 2 Schuß mehr, eine Qualität, die über den Einzelhandel gar nicht zu vertreiben war). Wie kam Witt nun zu den erstaunlich billigen Preisen? Auch im Verkehr mit seinen Lieferanten unterschied er sich grundsätzlich von aller anderen Kundschaft. Während diese, vor allen Dingen der Großhandel, geradezu ein sadistisches Vergnügen daran hatte, ihre Lieferanten mit Riesensortimenten zu quälen (von Ihnen kann ich nicht kaufen, denn Ihr Konkurrent hat 15 Muster mehr in diesem Artikel!), kam Witt dem Weber und Ausrüster weitgehend entgegen. So kaufte er bei uns Damaste in 4 Mustern: Muster nach Ihrem, d. h. des Webers, Vorschlag. Jeder, der eine Damastweberei kennt, weiß, was es bedeutet, bei solch großen Aufträgen jeweils die Stühle belegen zu können, für die man sonst im Augenblick nichts zu tun hat und die man auf Lager mitlaufen lassen muß. Des weiteren machte er es nicht so wie die Grossisten, daß sie in der Krise nicht kaufen und dann erst anfangen, wenn das Geschäft sich zu regen beginnt, sondern Witt gab in jeder Situation langfristige Aufträge. So konnte Witt schließlich zu Preisen an die Konsumenten liefern, die vielfach unter den Einkaufspreisen der Einzelhandelsgeschäfte lagen. Wir sind jedenfalls bei den billigen Verkäufen an Witt, richtig gerechnet, durchaus auf unsere Kosten gekommen. Nun schien Witt im Jahre 32 das Geschäft genau so anzusehen wie wir. Auch er hatte die Empfindung, daß für eine Preisentwicklung nach unten allmählich kein wesentlicher Raum mehr sei, und daß irgendwie der zurückgestaute Konsumbedarf einmal zum Durchbruch kommen müsse, wobei er allerdings den großen Vorteil in der Tatsache hatte, daß er bei jeder kleinen Belebung auf Grund seiner 183 billigen Preise zualler|erst drankommen müsste. Da umgekehrt Witt allmählich merkte, daß wir ihm mit großen Lieferungen, die er mal plötzlich brauchte, in unvorstellbar kurzer Zeit unter die Arme greifen könnten, entspann sich zwischen dem Ehepaar Witt einerseits und Graf andererseits allmählich ein ausgesprochenes Vertrauensverhältnis. Dieses Vertrauensverhältnis konnte auch nicht nachhaltig gestört werden, als es bei der völligen Stagnation des Geschäftes im Jahre 32 hieß, daß Witt schlecht zahle. Bei einer offenen Aussprache über diesen Punkt stellte sich heraus, daß Witt tatsächlich im Augenblick schlecht bei Kasse sei, daß er aber bei seiner und seiner Frau kleinbürgerlichen Ängstlichkeit im Schuldenmachen kaum Bankschulden, dafür aber ein Riesenlager hatte, welches ein Vielfaches seiner Lieferantenschulden darstellte. Wenn uns auch nicht immer ganz wohl war, so haben wir uns doch von Geschäften mit Witt nicht abhalten lassen. So hatten wir im Herbst 32 340.000 Meter Inlet, 230.000 Meter Streifsatin, 160.000 Meter Damaste und 720.000 Meter Croisé-Finettes zur möglichst sofortigen Lieferung in den Büchern. Im 4. Quartal sahen wir trotz aller Hiobsposten über immer wieder neue Preisunterbietungen doch auch ganz im Hintergrunde positive Zeichen. Am 1.10. lag die Erwerbslosenzahl zwar absolut noch 700.000
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Personen höher als im Vorjahr, aber während die Erwerbslosigkeit im 3.Vierteljahr 31 schon wieder um 460.000 Personen gestiegen war, fiel sie 32 um 360.000. Ich weiß nicht, ob Witt derartige statistische Zeichen auch berücksichtigte. Wir taten es jedenfalls, und als Witt im 4. Quartal ganz stark ans Kaufen ging, haben wir im Vertrauen, daß seine Läger schon wieder mal heruntergehen würden, mit ihm ein Geschäft über 4 Millionen Meter gebleichten Renforcé gemacht. Nunmehr war unsere Beschäftigung insoweit gesichert, daß wir an Einschränkungen im Augenblick nicht zu denken brauchten. Bei dieser Gelegenheit sei noch bemerkt, daß Witt im 4. Quartal 32 19 Millionen Meter Rohware aus dem Markte genommen und dadurch die westfälische Textilindustrie vor hemmungslosen Einschränkungen im letzten Augenblick bewahrt hat. Aus all diesen Erfahrungen und Verhältnissen kristallisierte sich langsam unsere zukünftige Verkaufspolitik heraus. Wir merkten, daß die Aufnahmefähigkeit des Einzelhandels in Zukunft begrenzt sein würde. Zu ihrer Ausschöpfung brauchten wir möglichst viele Konzern- und Verkaufsstellen für Fertigware. Der Erfolg von Gebrüder Moras ließ dieses Beispiel – um hier schon etwas vorwegzunehmen – nach|ahmenswert erscheinen. Wir arbeiteten in der Richtung, den 184 Fertigwaren-Verkauf bei Prinz und Suckert zu verstärken, und waren bei Kriegsausbruch so weit, daß wir in Haunstetten auch einen ganz großen FertigwarenVertrieb einrichten wollten. Ferner wollten wir aus der Verbindung mit Witt eine Dauerverbindung machen, wobei wir aber die Grenzen von vornherein festlegten. Was es heißt, von einem Großabnehmer so abhängig zu werden, daß man ohne ihn nicht mehr weiter kann, hatten wir an dem Verfall anderer Firmen studieren können. Wenn von unserem Verkauf im zweiten Halbjahr 32 wohl 1/4 bis 1/3 an Witt ging, so war das eine Ausnahme und auch im Jahre 32 hat der Versand an Witt nur 10 % des Verkaufsabteilungsumsatzes ausgemacht, in anderen Jahren ist er noch drunter geblieben. Aber wir waren keineswegs gewillt, unseren Einzelhandel zu opfern bezw. tatenlos zuzusehen, wie er von neuen Vertriebsformen aufgefressen würde. Wir stellten uns die Frage: Können wir nicht zu ähnlich billigen Preisen auch an den Einzelhandel liefern, und wie müssen wir das anfangen? Aus diesen Erwägungen wurde im Herbst 33 als erster Versuch das Sortiment 33 geboren mit folgendem Grundgedanken: Wir stellen unsere gangbarsten Qualitäten, zunächst einmal eine Qualität Inlet Türkischrot, eine Qualität Inlet Naphtolrot, zwei Qualitäten Damast und eine Qualität Streifsatin laufend im großen her und führen sie stets auf Lager. Diese Qualitäten bieten wir unserer Kundschaft, auch den kleinsten Kunden, zu einem Witt-ähnlichen Preise an und zwar unter folgenden Bedingungen: Bestellung auf vorgedruckter Postkarte, keinerlei Diskussion über den Preis, Muster nach unserer Wahl, Mindestbestellung 5 Stück.
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Wir versuchen, unserer Kundschaft klarzumachen, daß sie diesen billigen Preis nicht zur Erhöhung der Verdienstspanne benutzen dürfe, sondern auch ihrerseits zum Umsatzmachen durch verblüffend billige Preise und so zur Herabsetzung ihrer Läger-Spesen. Ein Teil der Kundschaft erhebt wütenden Protest, ein Einzelhändler aus Wurzen braucht z. B. 12 Qualitäten und Muster Streifsatin; ein anderer Teil begreift und geht mit. Der Erfolg dieses Sortiment 33 wird so groß, daß wir es in Kürze um mehrere Qualitäten, ich glaube Züchen und Taschentücher, vergrößern können. Unser Gedanke war der: Nachdem wir technisch fraglos an der Spitze marschierten, können wir durch diesen vereinfachten Versand auch unsere Generalunkosten (immer noch unser wundester Punkt) drücken. Wir 185 wollen das Sortiment | nach Möglichkeit auf alle Warengruppen ausdehnen und dann nebenher unser Restsortiment tunlichst verkleinern. Die auswärtigen Läger mit ihren alles Erwartete übersteigenden Kosten sind ein überwundener Standpunkt. Auch das Bielauer Lager mit seinen ewigen linken Stiefeln soll tunlichst eingeschränkt und durch vergrößertes Rohwarenlager ersetzt werden. Unsere Maschinenkombinationen ermöglichen uns eine bisher unvorstellbar kurze Fabrikationsdauer (so liefern wir an Witt bedruckte Couvertüren laufend in 8 Tagen), so daß wir auch Sofortbedarf sozusagen vom Rohlager disponieren können (das alles ist natürlich etwas überspitzt ausgedrückt). Im übrigen wollen wir sehen, möglichst laufend einen oder mehrere Schlager, wie die vorhin bezeichneten, herauszubringen. Daß all diese Dinge in der Entwicklung stecken geblieben sind, liegt an der 1934 einsetzenden Bewirtschaftung, die allmählich das ganze Geschäft in besondere Bahnen leitete. Für die Zukunft bleibt aber der Grundgedanke. Hier sind wir sehr weit vorausgeeilt. Wenden wir uns wieder dem weiteren Verlauf des Jahres 32 zu. Der Herbst bringt weitere Alarmnachrichten über Preisunterbietungen allenthalben. Die politische Lage – neue Reichstagswahlen, Kabinett Schleicher – wird immer dunkler und beansprucht immer mehr alle Gedanken des Volkes. Krisenhafte Finanzverhältnisse sind die Folge, die uns aber, wie gesagt, in unserer jetzigen Lage nicht mehr so überaus schwer beunruhigen können. Andererseits zeigen sich doch allmählich auch einzelne Friedenstauben. Es kommen Preiskonventionen für einzelne Rohwaren heraus, am 18.1.33 erfolgt ein beträchtlicher Zusammenschluß für gewisse Weißwaren. Es werden in weiser Beschränkung zunächst einmal Richtpreise herausgegeben mit der einzigen Verpflichtung, Unterschreitungen zu melden. Wenn bei so ungeordneten Verhältnissen, wie sie unser Baumwollwarenmarkt darstellt, derartige Konventionen wirklich zustandekommen, ist das im allgemeinen ein Zeichen, daß nun die Leute wirklich nicht weiter runter wollen, und darin liegt bei derartig überspitzten Vertrauenskrisen der erste Anstoß zur Besserung. Gewiß haben wir im Januar 33 die Köpfe manchmal recht tief hängen lassen und haben uns gefragt, ob wir mit
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unserer Unbeugsamkeit nicht vielleicht doch falsch handeln. Denn unser Lager hatte sich vom Juli 31 mit 304.000 Stück bereits wieder auf 382.000 Stück im Dezember 32 gehoben. Als dann der Umbruch das lang erwartete | Signal zur 186 Überwindung des Druckpunktes und der Vertrauenskrise gibt, und der Verkauf im Februar auf 92.000 Stück, im März auf 98.000 Stück steigt, beginnen wir wieder mit den Einstellungen. Wir lassen uns auch nicht dadurch stören, daß der AprilVerkauf plötzlich wieder auf 58.000 Stück fällt und das Lager weiter steigt, und zwar um im August 33 einen neuen Höhepunkt von 440.000 Stück zu erreichen. Vom März 33 bis zum April 34 haben wir über 1.000 Leute eingestellt, wobei allerdings der Arbeiterstand per Saldo nur um 838 stieg, weil wir der Anregung der Partei, andererseits Doppelverdiener zu entlassen (wohl als einzige Fabrikanten) mit Begeisterung gefolgt waren. Eine besondere Freude machte uns unser Umschulungserfolg für die im Sommer 33 in Betrieb genommene Nesselweberei. Hier stellten wir rd. 100 arbeitslose Männer zwischen 20 und 30 Jahren ein, Bäcker, Schuster, Schneider usw., aber ausnahmslos keine Textilarbeiter. Wir nahmen nur Leute aus anständigen Familien, trafen eine Auslese durch die psychotechnische Eignungsprüfung und schulten sie von vornherein auf die Bedienung von 8 Stühlen mit 220 Touren. Der Erfolg war erstaunlich und zwar einfach, weil die Leute, belehrt durch die Arbeitslosigkeit, wollten. Sie haben innerhalb eines halben Jahres einen wesentlich höheren Leistungsdurchschnitt erreicht, als unsere sonstigen Weberlehrlinge von 14– 15 Jahren in der Lehrzeit von 2– 3 Jahren. Im Herbst 33 kam dann das große Geschäft, so daß unser Lager sich bis Ende Oktober 34 um 140.000 Stück verminderte. Diese, ich möchte sagen, aktivistische Politik hat unerhörte Früchte getragen. Einmal waren wir durch unser hohes Lager und unsere hohe Produktion beim Beginn des Geschäftes auf Posten wie kaum ein anderer, und dann sind wir mit einer ganz ungewöhnlich hohen Produktion in die Stichzeit für die Bewirtschaftung gegangen, was uns bis zum Kriegseintritt einen nicht zu unterschätzenden Vorsprung gegeben hat. Die Jahre, die jetzt kommen, waren eine Zeit der Reife. Wohl hält das Spinnstoffgesetz die Margen nach nur einer im Winter 33/34 erfolgten Erhöhung an, wohl hinderte die Bewirtschaftung eine noch bessere Betriebsausnützung. Aber bei unserem nunmehr erreichten technischen Hochstand und den abgebauten Unkosten reichte die Beschäftigung (in Spinnerei und Weberei über 100 % der | 187 einschichtigen Kapazität) aus, um steigende Ergebnisse zu erzielen. Auch von den notleidenden Konzerngesellschaften kam eine nach der anderen in Ordnung, die Reibungen innerhalb des Konzerns schliffen sich ab, so daß das Zusammenspiel zunehmend klappte. Nicht nur die ganze Baumwollindustrie, sondern darüber hinaus die gesamte deutsche Textilindustrie blickte auf CD,
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wenn auch durchaus nicht immer mit Wohlwollen, so doch mit Hochachtung. Uns ist manchmal etwas schwül zumute geworden, wenn wir sahen, was die Leute uns alles zutrauten. Ganz besondere Freude machte uns der sichtbare Erfolg unserer Sozialarbeit. Ihre planvolle Zusammenfassung an der Jahreswende 32/33, d. h. die helfende und erziehende Einwirkung „von der Wiege bis zur Bahre“, stellte die bewußte Ausschöpfung dessen dar, was unsere Mutter in den 80er Jahren mit der Kinderschule von Fräulein Zangerl²⁰⁵ begonnen hatte. Daß auch schon die Arbeit der vorigen Generation zur Hebung des Arbeiterniveaus ihre Früchte getragen hat, zeigt die oft gehörte Bemerkung: daß einem im Auto oder im Wagen Steine nachgeschmissen werden, erlebt man nur im Niederdorf! Jetzt benutzten wir aufgeschlossen die Möglichkeiten, die der Nationalsozialismus bot, um wirklich etwas Praktisches und Nachhaltiges zur Überbrückung der Klassengegensätze beizutragen. Unsere Arbeiterschaft hat es uns gedankt! Und als wir dann unsere engeren Mitarbeiter für den Gehaltsabbau durch immer reichlichere Gratifikationen schadlos halten konnten, bis wir schließlich an alle Gefolgschaftsmitglieder „Dividende“, d. h. eine gewisse Gewinnbeteiligung, zahlten, gab es unter den gutwilligen Gefolgschaftsmitgliedern wohl kaum eines, das nicht stolz gewesen wäre, zur „Firma“ zu gehören. Mehr als alle Worte spricht hierfür eine tatsächliche Feststellung. Als im nationalsozialistischen Deutschland der große Wirtschaftsaufschwung kam und Schlesien wieder einmal merklich zurückblieb, erfolgte die große Arbeiterabwanderung nach dem Westen (meiner Erinnerung nach waren es 70.000 Leute). Als nun alles darüber jammerte, daß ihnen ihre besten Leute wegliefen, merkten wir nichts. Es sind wohl keine 10 Leute gewesen, die vor der Zeit der Dienstverpflichtung freiwillig von uns weggezogen sind. So wäre ich am Schluß! Da ich nicht weiß, ob ich jemals dazu kommen werde, 188 diese Firmengeschichte weiterzuführen, seien mir einige Be|merkungen in eigener Sache gestattet. Ich habe mich um eine objektive Schilderung redlich bemüht. Um Gedächtnisfehler zu vermeiden, habe ich immer wieder in den Quellen nach Bestätigung gesucht (Denkschriften, Notizen, VS-Protokolle). Aber Goethe hat wohlbedacht über seine Lebenserinnerungen geschrieben: Dichtung und Wahrheit. Da man ja tausend Einzelheiten unter den Tisch fallen lassen, da man ja, um die Entwicklungslinie aufzuzeigen, manches Verwirrende hin und her zusammenfassend und vereinfacht darstellen muß, wird jede solche Schilderung bis zum gewissen Grade subjektiv. Habe ich pro domo der Geschäftsleitung gesprochen? Man kann mir vielleicht entgegenhalten: Warum sagst Du beispielsweise nicht offen, der gewaltige Ausbau unserer auswärtigen Läger habe sich nachher
N.e.
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als grober Mißgriff herausgestellt! Nun gut! Vielleicht sucht man seine Maßnahmen aus der Idee ihrer Entstehung heraus leicht einmal zu beschönigen. Im übrigen scheint mir die Frage, ob sich unsere auswärtigen Läger in der Zeit des Neuaufbaus unseres Verkaufes nicht doch per saldo bezahlt gemacht haben, schwer zu entscheiden. Wem diese Darstellung zu positiv gehalten erscheint, dem stehen meine Denkschriften zur Verfügung; die sind, wie gesagt, ihrem Zwecke entsprechend rein negativ. „Meine“ Denkschriften! Habe ich in meinen Schilderungen meine Person zu sehr herausgestellt? Wenn ich Diplomat wäre, hätte ich wohl nur von Denkschriften gesprochen und dem verehrten Leser die Frage überlassen, von wem denn diese Denkschriften stammen. Da solche Erinnerungen sich nun mal im Gedächtnis und in der Auffassung des Verfassers spiegeln, wird seine Person immer etwas in den Vordergrund treten, wenn er ehrlich ist. Im übrigen weiß ich sehr wohl, was ich gekonnt und was ich nicht gekonnt habe. Abgesehen vielleicht von einzelnen ureigensten Arbeitsgebieten, wie etwa der Lohn- und Sozialpolitik und dem Verrechnungswesen, ist die einzelne Tat, da wo die Dinge sich hart im Raume stoßen, nie meine Sache gewesen. Auch die schließlich erlösenden guten Gedanken haben meist andere gehabt. Ich habe sie höchstens manchmal angeregt. Da ich etwa seit 1924 mich von der Abwicklung des laufenden Geschäftes immer mehr zurückgezogen habe, weil ich meinen Kopf frei halten wollte, und vielleicht auch, weil ich sah, daß andere das besser konnten als ich, konnte ich mich auf einen Beobachtungsposten zurückziehen, und meine Sache war es, die Gesamtsituation | jeweils zu durchleuchten (nicht 189 etwa nur zahlenmäßig). Wenn dann, nach gehöriger Durcharbeitung im Vorstande, schließlich der Entschluß reifte, habe ich mich allerdings um die Verantwortung nie gedrückt. Alles in allem: Die Leistungen unseres Vorstandes (natürlich einschließlich der werktätigen AR-Mitglieder), jedenfalls die großen, waren korporativ, wodurch bedeutende Sonderleistungen, wie etwa die von Graf, in keiner Weise herabgesetzt werden sollen. Aber unsere Stärke lag im Zusammenwirken grundverschiedener Begabungen, im Zusammenwirken ohne jede Eifersucht. Neidloses wechselseitiges Geltenlassen war die psychologische Voraussetzung für schonungslose wechselseitige Kritik. Wohl ging es in unseren Vorstandssitzungen manchmal heiß her, so daß gelegentlich wegen übermäßigen Stimmaufwandes die Fenster geschlossen werden mußten. Wohl hat sich der eine manchmal weidlich am anderen geärgert. Aber – wie Kehl einmal sehr hübsch sagte – : Nur wo schärfster Druck besteht, wird aus dem Kohlenstoff der Diamant! Zuletzt hat immer die Sache gesiegt, die gemeinsame Freude am Werk. Wo kam der Erfolg, den die Jahre 33 – 41 zeigen, her? Manchmal hätte es fraglos auch schief gehen können, manchmal ist uns etwas unverdient in den
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Schoß gefallen. Was ist Pech? Was ist Glück? Welchen Anteil das Können und welchen das Schicksal am Gelingen hat, wird menschlicher Verstand nie auseinanderrechnen. Nur eines können wir sagen: Gearbeitet haben wir mehr und intensiver als andere. Seien wir dankbar, daß diese Arbeit in der Vergangenheit schließlich gesegnet war, und so wollen wir mit Ruhe und Gelassenheit in die undurchsichtige Zukunft schauen. Sonntag, den 30. Juli 1944.
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Anmerkungen
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Anmerkungen 1– 14 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7)
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9) 10) 11) 12) 13)
14)
ab 1933 Gold-cts. dazu ca. 900.000 m Handware davon 20.2 Lohnware, 16.1 Eigenware mit Grünau und Frankenberg A.G. 60.1 Mill. dazu 800.000 m Handware ab 1934 wirkt die staatliche eingeschleuste Reichsmarkbaumwolle preiserhöhend Vorräte, Status und Schulden sind vielfach nicht per 31.12. angegeben, sondern einem bemerkenswerten Höhe- oder Treffpunkt. Im Jahre 1924 bezieht sich die erste Zahl über der Zeile auf April, die 2. auf Okt. Status bedeutet sämtliche Geldforderungen einschl. Kasse und Wertpapiere abzügl. sämtliche Geldverpflichtungen, bis 1929 einschl. T.T., bis 1927 einschl. Grünau und Frankenberg A.G., bis 29 ist die Schuld an Wohlfahrtsverein nicht passiviert Einschl. Akzepte und mittelfristige Darlehn wie DNF, abzügl. Bankguthaben, Kasse usw. ./. 10.3 bedeutet 10.3 Mill. Schulden ab 1940 Fin.Saldo II, d. h. unter Einbeziehung der Verbindlichkeiten darstellenden Rückstellungen obere Zahl wie bisher, d. h. „Druckstücke zu 30 m. Ab unterer Zahl Druckstücke zu 60 m jährlicher Mindest- und Höchstpreis, im Ø 1905 – 1914 dazu kommen die Heimarbeiter. Angegeben 1885 – 1895 3.000 Weber, 700 Spuler, 1907 1.500 Weber stark abnehmend bis 1914, Inflationszeit 800 Weber, 1925 471 W. 108 Spuler, 5 Näher, 29 Tücherschneider abnehmend bis 1929 82 Weber, 1 Näher, 24 Tücherschneider. 1930 Schluß ab 1938 schlesische Stuhlmeister unter Angestellten (1938 92 Stuhlmeister)
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Personenregister Ahr 117, 125 Aschenbrücker, Carl 166 Bäuerle, Rudolf 166 Baldwin, Stanley 48 Barmat (Brüder) 55 Baruch, Siegfried 75 Bergmann, Adolf 63 Bergold, Ludwig 174 Bienert, Theodor 187 Bloch, Marc 3 Bötzelen, Hermann 75, 105 f., 166 Brauer, Johannes 71, 208 Braun, Otto 52 f. Brauns, Heinrich 83, 85, 89, 91, 111 Briand, Aristide 48, 50 Brieger 63, 121, 159 Brüning, Heinrich 4, 28, 129 – 135, 138, 157, 162, 198, 202, 204 Burkhardt, Otto 66, 93, 147, 149, 152, 155, 157 f., 163, 165 f., 183, 187 Caillaux, Joseph 48 Claußen, Bruno 116 Cuno, Wilhelm 43 f. Curtius, Julius 113, 120, 137 Dawes, Charles Gates 26, 48 – 50, 54, 66, 127 Degenfeld-Schonburg, Friedrich Graf von 139 Dierig, Christian Gottfried 16, 18 Dierig, Friedhelm 24 Dierig, Friedrich 5, 161 Dierig, Gottfried 4 – 20, 21 – 30 Dierig, Wolfgang (Sohn von Gottfried Dierig) 24 Dierig, Wolfgang 5 f., 8, 13, 16 – 18, 24, 71 f., 92, 152, 155, 164 f., 173, 187, 192 – 194, 208 f. Diesel, Christian 194, 196 Dillmann, Eugen 81, 196 f. Doberstein 112, 120 Döring, Herbert 70, 159 Dr. Wolfgang, siehe Dierig, Wolfgang Duesterberg, Theodor 132, 135 f. https://doi.org/10.1515/9783110779707-012
Duisberg, Carl 148 Ebert, Friedrich 26, 52 Elfenbein, Axel 165 Engler, Wilhelm 113 f., 120 Erzberger, Matthias 43 Exner 117, 124 f. Faulstroh, Albert 176 Feder, Gottfried 10 f. Feinhals, Josef 40, 86, 89, 116, 120 – 122 F. H., siehe Häcker, Fritz Fiske, William 66 Fleischer, Willy 88 Flügel 76 Frick, Wilhelm 133 Fritsch, Otto 116 Frowein, Abraham 89, 113 Fürstenberg, Hans 158, 166 Funk, Walther 14 Göring, Hermann 14, 16 Goerdeler, Carl 198, 202, 204 Goethe, Johann Wolfgang von 19, 216 Goldschmidt, Jakob 137 Graf, Alfred 174 Graf, Julius 18, 25, 92, 99, 105, 107 f., 144, 151 f., 167 f., 175, 190, 192 – 197, 199, 208, 212, 217 Groener, Wilhelm 139 Gruber 173 f. Grünfeld, Heinrich 209 Hagemann, Werner 73 Häcker, Ernst 72 f., 171 Häcker, Fritz 26, 81 f., 98, 146 – 156, 165 – 169, 171 f., 174 – 176, 184 f., 188, 191 – 196, 206 Hatzfeldt, Hermann Fürst von 136 Hauptmann, Gerhart 114 Hegels, Ernst 152 f., 165 – 167 Heinrich 206 Held, Heinrich 52 Hellpach, Willy Hugo 52 Herrmann 118 Herrschel, Franz 187 Hildebrand 114
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Personenregister
Hindenburg, Paul von Beneckendorff und von 53, 128 – 130, 132, 134 – 136, 138 – 142 Hitler, Adolf 4, 10, 12, 14 f., 28, 128, 131, 133 – 136, 142 Hochbaum 200 Hugenberg, Alfred 4, 28, 128, 130 – 136, 142 Jarres, Karl 52, 54, 136 Jeidels, Otto 207 Jordan 196 f. Kais, Josef 186 Kastl, Ludwig 127 Kehl, Werner 67, 69, 148 – 155, 165 f., 171 – 173, 176, 187 f., 191 – 194, 207, 217 Killmann 160 Kisker, Georg 87, 113 Klaue, Hermann 86 f., 113, 120 Kötter 164 Kopf, Ferdinand 165 Krätzig, Hermann 120 f. Kremser, Alfred 72, 193 f. Kresse, Alfred 210 Kroner, Hermann 71, 159 Krosigk, Johann Ludwig Graf Schwerin von 140 Krukenberg 155, 165 Kuczynski, Jürgen 17 Laass 159 Labhardt 173, 186 Landfried, Friedrich 139 Lang, Josef 39 – 41, 111 Lembke, Robert 71, 159 Leuchtenberger 118 f., 125 Ley, Robert 13, 16 Lindau, Georg 69 f. Lipp, Carl 63, 108, 167, 185 Löbe, Paul Gustav Emil 42 Ludendorff, Erich 52 Lüdemann, Hermann und Ehefrau 139, 198 Lütgert, Julius 151, 154 Luther, Hans 44, 54 f., 129, 163 Maak 39 MacDonald, James Ramsey 48 Martini, Clemens 197 Marx, Wilhelm 44, 52 – 55 Maser, Arnold 194 – 196
May, Maria 164, 208 f. Meißner, Rudolf 115 f., 120 – 123, 125 f. Melchior, Carl 127 Meves, Richard 112, 120 Möller, Horst 3 Moras, Alfred 188 – 192 Moras, Otto 188 – 192 Moser, Friedrich 68, 168 f., 175, 186, 199 Mühmer 108 Müller (‐Franken), Hermann 56, 83, 127, 129 Müller-Jabusch, Maximilian 165 Müller-Oerlinghausen, Georg 89 Musper 95 Nadolny, Rudolf 139 Nestel, Walter 175, 186 Netter 149 Neumann 173 Otten, Karl-Josef 76 Papen, Franz von 4, 120, 136, 138 – 142, 205, 207 Philipp, Felix 40, 84, 87, 111 – 113 Pigenot, Friedrich von 175, 186 Podewils, Carl 38 Poensgen, Ernst 148 Poincaré, Raymond 48 Presber, Rudolf 74 Pusch 63 Raczkowski, Karl 115 Radike, Richard 96, 182 Rathenau, Walther 43 Rautenstrauch, C. Ernst 182 Rautenstrauch, Käte 182 Redslob, Edwin 209 Reinhold, Franz 174, 194 Rißmüller, Julius 147 Roeper 146, 167 Roesch, Carl 96, 151 f. Rosenberger, Heinz 76, 88 f. Rummler, Georg 71, 173 Schacht, Hjalmar 13 f., 59, 61, 67, 127 – 129, 133, 140, 205 Schäfer, Hans 39, 46, 88 Schiele, Martin 130 Schlange-Schöningen, Hans 130 Schleich, Paul 22, 72 – 74, 76, 161 Schleicher, Kurt von 140 f., 192, 214 Schmitt, Kurt 13
Personenregister
Schnee, Heinrich 141 Schrader, Karl 41 Schröder, Borghild 201 Schröder, Kurt Freiherr von 142 Schweizer 153, 165 Seeckt, Hans von 55 Seelhorst, Erwin 173 Seidlitz-Sandreczki, Ernst Julius Graf von 54 Seidel, Fritz 16, 159, 187, 206 Siemens, Carl Friedrich von 59 f. Sitzler, Friedrich 86 f., 113, 115, 120 – 122 Sonnenschein, Hans 165 Spengler, Oswald 42 Stauffenberg, Claus Schenk Graf von 4 Stegemann 136 Stolcke, Carl 149 Strasser, Gregor 140 Stresemann, Gustav Ernst 44 f., 50 f., 83, 137 Strick, Heinrich 151 Teichgräber, Richard 112, 124 f. Thälmann, Ernst 52 f., 135 f. Treuenfels 200 Treviranus, Gottfried 130, 132 Tschirschky und Bögendorf, Fritz-Günther von 120 Tschörner 176, 185
Ulbrich 200 Vögler, Albert 19, 127 Völckers, Carl 122 – 125 Wachsmann, Alfred 71 Wagener, Otto 11 Wagner, Friedrich 191 Waibel, Adolf 189 f. Waibel, Emil 190, 192 Walz, Fritz 104, 146 – 148 Wenkel, Kurd 149 Werner, Gustav 121, 124 f. Westarp, Kuno Graf von 132 Wicsnewsky 85 f. Wicziewski 118 Wilkens, Hugo 70 Windel, Gustav 156, 197 f. Winnig, August 42 Wirth, Joseph 130 Wirth, Max 68, 169, 196 Wissell, Rudolf 83, 111, 113, 116, 124 Witt, Josef 70, 189, 210 – 214 Witt, Monika 211 f. Wrede, Heinrich 176, 185, 196 Wrensch, Konrad 80 Young, Owen D. 127 – 129, 132, 137 Zangen, Wilhelm 15 f. Zangerl 216
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