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German Pages 313 [316] Year 2015
Moritz Julius Bonn Zur Krise der Demokratie
Schriften zur europäischen Ideengeschichte
Herausgegeben von Harald Bluhm
Band 9
Moritz Julius Bonn
Zur Krise der Demokratie Politische Schriften in der Weimarer Republik 1919-1932 Herausgegeben von Jens Hacke
ISBN 978-3-05-006259-4 e-ISBN (PDF) 978-3-05-009513-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038076-7 ISSN 2191-9801 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen Abbildung S. V: Porträt Moritz Julius Bonn (1927), Bundesarchiv, Bild 183-S35021 ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Einleitung: Moritz Julius Bonn – Liberale Krisendiagnostik in der Weimarer Demokratie | 1 Moritz Julius Bonn: Auswahlbibliographie | 39
I
Weltpolitik und internationale Ordnung
1
Herrschaftspolitik oder Handelspolitik (1919) | 45
2
Gerechtigkeit (1919) | 63
3
Völkerbund und auswärtige Politik (1920) | 87
4
Die Gegenkolonisation (1926) | 101
II
Krise der Demokratie
5
Die Auflösung des modernen Staats (1921) | 111
6
Die Krisis der europäischen Demokratie (1925) | 137
7
Die Zukunft des deutschen Liberalismus (1926) | 201
8
Die Krise des Parlamentarismus (1928) | 209
9
Die Entseelung der Politik (1928) | 219
10
Die Zukunft der Demokratie in Europa. Das Problem des Verhältnisses von Mehrheit und Minderheit (1929) | 222
VIII
III
Inhalt
Faschismus und Nationalsozialismus
11
Schlußwort [zum internationalen Faschismus] (1928) | 227
12
Die Psychologie des Nationalsozialismus. Seine Wurzeln und sein Weg (1931) | 249
13
Die Radikalisierung der deutschen Jugend. Die Politisierung der Intellektuellen (1932) | 259
IV Der Blick nach Amerika 14
Zum 150. Jubiläum der Unabhängigkeitserklärung (1926) | 265
15
Amerikanische Prosperität (1927) | 271
16
Sinn und Bedeutung der amerikanischen Krise (1931) | 291
Quellennachweise | 303 Personenregister | 304
Einleitung: Moritz Julius Bonn – Liberale Krisendiagnostik in der Weimarer Demokratie Wohin soll man blicken, wenn es um die Lage des liberalen Denkens in der Zwischenkriegszeit geht? Das historische Urteil über den Liberalismus in der Weimarer Republik fällt meist vernichtend aus: unfähig zur politischen Verantwortung, in der Welt vor 1914 verwurzelt, ohne Sinn fürs Soziale, bereit für autoritäre Lösungen. Die Rede von der „Selbstpreisgabe einer Demokratie“ bewährte sich vor allem im Hinblick auf die moralische Orientierungslosigkeit der bürgerlichen Schichten, schlimmer: die soziale und politische Verunsicherung führte gar in einen „Extremismus der Mitte“. 1 Es gehört zu den Standardinterpretationen, dass das liberale Bürgertum, welches gemeinhin das Reservoir für eine republikanisch gesinnte Mittelschicht zur Verfügung stellen sollte, gleichsam schwindsüchtig und kampflos das Feld räumte und vor dem politischen Radikalismus kapitulierte, sofern es nicht selbst anfällig für antidemokratisches Ideengut wurde und nach starker Führung rief. Die Belege, die sich für die mangelnde Widerstandskraft des politischen Liberalismus finden lassen, sind so erdrückend wie die Niedergangsgeschichte der liberalen Parteien. Von über 20% der Stimmanteile, die DDP und DVP bei den Wahlen zur Nationalversammlung 1919 auf sich vereinen konnten, sank der parteipolitische Liberalismus Anfang der 1930er Jahre auf das Niveau von Splitterparteien. Es lag und liegt nahe, diese Krisengeschichte mit der Krise der liberalen Ideen insgesamt in Verbindung zu bringen und damit die legitimatorische Basis der parlamentarischen Demokratie gefährdet zu sehen. Die liberale Demokratie galt 1918/19 – repräsentiert durch die alliierten Siegermächte – als eigentliche Kriegsgewinnerin, um innerhalb weniger Jahre selbst zum schwerkranken Patienten des sogenannten Massenzeitalters zu werden. Die Vehemenz dieses Absturzes wurde unter zeitgenössischen Intellektuellen intensiv reflektiert, denn politisch bewegte, revolutionäre Zeiten sind ideengeschichtlich gesehen besonders fruchtbares Terrain. 2 Im Zuge einer Vergegenwärtigung der geistigen Krisenbewältigungsstrategien sind in den || 1 Vgl. Karl Dietrich Erdmann/Hagen Schulze (Hg.), Weimar. Selbstpreisgabe einer Demokratie. Eine Bilanz heute, Düsseldorf 1980. Zum Extremismus der Mitte vgl. den klassischen Aufsatz von Seymour Martin Lipset, Der „Faschismus“, die Linke, die Rechte und die Mitte (1959), in: Ernst Nolte (Hg.), Theorien über den Faschismus, Köln 1972, 3. Aufl., S. 449-491. Zur begrifflichen Kritik an Lipset im Hinblick auf eine Verwischung von Mitte und Mittelstand vgl. Heinrich August Winkler, Extremismus der Mitte? Sozialgeschichtliche Aspekte der nationalsozialistischen Machtergreifung, in: ders., Liberalismus und Antiliberalismus. Studien zur politischen Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 1979, S. 205-217. 2 Siehe dazu Marcus Llanque, Politische Ideengeschichte. Ein Gewebe politischer Diskurse, München 2008, S. 415-424; Karl Dietrich Bracher, Zeit der Ideologien. Eine Geschichte des politischen Denkens im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1982, S. 189-252; Jan-Werner Müller, Contesting Democracy. Political Ideas in Twentieth-Century Europe, New Haven/London 2011, S. 7-48.
2 | Einleitung: Moritz Julius Bonn – Liberale Krisendiagnostik in der Weimarer Demokratie letzten Jahren sukzessive auch die liberal-demokratischen Denker der Weimarer Republik wiederentdeckt worden, ob als „demokratische Staatsrechtslehrer“ oder als mittlerweile zu Recht gewürdigte „Vernunftrepublikaner“. 3 Nachdem das Interesse lange Zeit vor allem den Wegbereitern des NS-Staates und den Republikfeinden gegolten hatte, begann man sich für diejenigen zu interessieren, deren Unterstützung die immerhin 14 Jahre währende Existenz der ersten deutschen Demokratie überhaupt möglich gemacht hatte und die vorübergehend mit guten Gründen an die Überlebensfähigkeit dieses Staates geglaubt hatten. Einer der profiliertesten Liberalen seiner Zeit, der Nationalökonom Moritz Julius Bonn (1873-1965), wird erstaunlicherweise kaum mehr erwähnt, wenn es um das liberal-demokratische Denken in der Weimarer Republik geht, obgleich sich seine Spuren in vielerlei Kontexten finden: Max Weber hielt ihn für den klügsten Ökonomen der Brentano-Schule; Thomas Mann ließ sich von Bonn die deutschen Perspektiven nach dem Friedensvertrag erklären und pflegte den alten Münchener Kontakt über Jahrzehnte 4; David Lloyd George und John Maynard Keynes waren gut mit Bonn bekannt; jüngere Liberale wie Alexander Rüstow und Wilhelm Röpke empfingen wichtige Anregungen von ihm. 5 Im politischen Berlin besaß er ohnehin die allerbesten Verbindungen – er hatte laut eigener Aussage alle Kanzler der Republik (mit Ausnahme Schleichers) persönlich kennengelernt. 6 Seine weitgefächerte Korrespondenz mit Walter Rathenau, Hans Luther, Hjalmar Schacht und vielen anderen Ministern und Staatssekretären belegen den hohen Grad seiner Vernetzungskompetenz. Bonn war Mitbegründer der DDP, fungierte als Berater und Gesandter der Reichsregierung in Reparations-, Wirtschafts- und Finanzfragen, er leitete als Gründungsdirektor seit 1910 die Münchener und später in der Endphase der Weimarer Republik die Berliner Handelshochschule. Er war ein viel gefragter politischer Kopf, der regelmäßig in den großen liberalen Tageszeitungen schrieb und zu den umtriebigsten politischen Intellektuellen seiner Zeit zählte. Zugleich war er einer der raren || 3 Christoph Gusy (Hg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, Baden-Baden 2000; Kathrin Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik. Von der konstitutionellen Staatsrechtslehre zur Theorie des modernen Verfassungsstaats, Tübingen 2010; Andreas Wirsching/Jürgen Eder (Hg.), Vernunftrepublikanismus in der Weimarer Republik. Politik, Literatur, Wissenschaft, Stuttgart 2008. Das Potential demokratischer Erneuerung und sozialliberaler Reforminitiativen betont Tim B. Müller, Nach dem Ersten Weltkrieg. Lebensversuche moderner Demokratien, Hamburg 2014. 4 Max Weber, Briefe 1906–1908, MWG II/5, Tübingen 1990, S. 580; Thomas Mann, Tagebücher 1918–1921, Frankfurt am Main 1979, S. 103. 5 Wilhelm Röpke lobte Bonns Amerikabuch „Geist und Geld“ überschwänglich in der Frankfurter Zeitung (9. Oktober 1927); Alexander Rüstow nahm in einer bemerkenswerten Rede am 5. Juli 1929 in der Hochschule für Politik mehrfach Bezug auf Bonn. Vgl. die Dokumentation „Zur Frage der Staatsführung in der Weimarer Republik“, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 7 (1959), S. 85-111, hier S. 92, 96, 102. 6 Moritz Julius Bonn, So macht man Geschichte? Bilanz eines Lebens, München 1953, S. 339.
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liberalen Kosmopoliten mit internationaler Ausstrahlung, dessen Bücher und Aufsätze auf Englisch, Französisch und Spanisch erschienen. Lange Aufenthalte in Irland und Afrika waren Grundlage seiner Studien zum Kolonialismus; mit seiner englischen Frau Therese Cubitt-Bonn (1875-1959) lebte er jahrelang in Großbritannien und in den Vereinigten Staaten, wo er überall ein enges Netz wissenschaftlicher und politischer Kontakte geknüpft hatte. Bonns wissenschaftliches und publizistisches Wirken umspannte knapp sieben Jahrzehnte, von den 1890er Jahren bis in die 1960er Jahre des Kalten Krieges. Allerdings war die Epoche der Weimarer Republik seine produktivste und wichtigste Phase. Dies spiegelt auch seine immer noch sehr lesenswerte und mit ironischem Understatement gewürzte Autobiographie wider, in der die Jahre 1918-1933 knapp die Hälfte des Raumes einnehmen. 7 Dass Bonn keineswegs nur als Finanz- und Wirtschaftsexperte, sondern auch als politischer Denker wahrgenommen wurde, belegt die intensive zeitgenössische Rezeption seiner Schriften. Carl Schmitt setzte sich mit seinem langjährigen Mentor und Freund ebenso auseinander wie Alfred Weber, Hans Kelsen oder Hermann Heller, die Bonns Schriften zur Krise des Parlamentarismus durchaus zustimmend zur Kenntnis nahmen. 8 Neben seinem bis heute häufig zitierten (aber offenbar wenig gelesenen) Essay zur „Krisis der europäischen Demokratie“ (1925) publizierte er seine außerfachlichen intellektuellen Interventionen hauptsächlich in der „Neuen Rundschau“, in der zeitgemäßen Form der Broschüre 9 und in den Leitartikeln der großen liberalen Tageszeitungen. Dieser Umstand zeigt schon an, dass es nach Abschluss seiner akademischen Qualifikationsarbeiten nicht mehr Bonns Intention entsprach, fußnotenbeladene fachwissenschaftliche Äußerungen vorzulegen, sondern dass er mit Common Sense und guten Argumenten allgemeinverständlich für eine aus seiner Sicht vernünftige Wirtschaftspolitik eintrat und sich allgemein für die parlamentarische Demokratie einsetzte; als engagierter Intellektueller nahm er die Rolle des politischen Mahners, wenn nicht Erziehers an. Moritz Julius Bonn sah sich nicht in erster Linie als Theoretiker. Er verstand sich – wie es für Liberale nicht untypisch ist – als pragmatischer Realist, als Anwalt einer || 7 Moritz Julius Bonn, Wandering Scholar, London 1949. (Die leicht veränderte deutsche Fassung erschien unter dem etwas missglückten Titel „So macht man Geschichte?“) 8 Vgl. Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 8. Aufl., Nachdruck der 1926 erschienenen 2. Aufl., Berlin 1996, S. 9, 16, 21, 29; Alfred Weber, Die Krise des modernen Staatsgedankens in Europa, Stuttgart 1925, S. 130; Hans Kelsen, Das Problem des Parlamentarismus, Wien/Leipzig 1926, S. 21, 24; Hermann Heller, Die politischen Ideenkreise der Gegenwart, Breslau 1926, S. 149. 9 Thomas Mann erwähnt in seinen Tagebüchern einen Universitätsvortrag Hofmannsthals, „der in zeitgemäßer Form als Broschüre erschienen ist“. (Thomas Mann, Tagebücher 1933-1934, herausgegeben von Peter de Mendelssohn, Frankfurt/M. 1977, S. 194.) In der Tat war es in dieser Zeit (vor der Ära des Taschenbuchs) üblich, Vorträge, Essays und Abhandlungen sehr rasch und in nicht geringen Auflagen als Broschüren zu publizieren.
4 | Einleitung: Moritz Julius Bonn – Liberale Krisendiagnostik in der Weimarer Demokratie praktischen Vernunft, der den liberalen Prinzipien konstellationsabhängig Geltung verschaffen wollte. Seine nüchterne Skepsis, sein aufklärerisch-warnender liberaler Impuls setzten sich vom hohen Ton ideologischer Leidenschaftlichkeit ab, der insbesondere die 1920er Jahre dominierte. Seine politischen Analysen und Kommentare waren Gelegenheitsschriften, die den Forderungen des Tages genügen sollten. Doch gerade dieser Aspekt macht sie für den heutigen Leser interessant, denn auch wenn Bonn mit dem Höhenkamm des politischen Geistes vertraut war, ging es ihm darum, seine praktischen Urteile im Modus politischer Klugheit allgemeinverständlich und anschauungsreich zu artikulieren. Nicht unbedingt auf Originalität, sondern auf Vernünftigkeit und Angemessenheit des politischen Arguments zielten Bonns Intentionen. Er sympathisierte in dieser Hinsicht mit dem amerikanischen Founding Father Thomas Jefferson, „der es nicht als Teil seiner Aufgabe betrachtet[e], neue Ideen zu erfinden oder Gefühle auszudrücken, die noch niemand vorher ausgesprochen habe. […] Nicht was ein großer Denker den Menschen als abstraktes Ergebnis seines Sinnens vorträgt, sondern das, was sie lebendig selbst in ihrer Seele fühlen und verstehen, wann es einer der Ihren in Worte kleidet, gibt ihnen die Kraft zum Handeln. Und solche Selbstverständlichkeiten, weil es eben Selbstverständlichkeiten sind, werden in ihnen immer neuen Widerhall finden, wenn das bedroht ist, was den Menschen das Leben schließlich doch lebenswert erscheinen läßt: das Recht auf Leben und Freiheit und das Suchen nach Glück.“ 10 Im Sinne einer Ideengeschichte, die den Schwerpunkt auf Repräsentativität, Breitenwirkung und Milieubindung legt, ist Moritz Julius Bonn eine herausragende, aber zugleich beispielhafte Figur. Er verkörperte eine moderne kosmopolitische Liberalität, wie sie vor allem im assimilierten jüdischen Bürgertum zu finden war. Als Nachkomme einer renommierten Frankfurter Bankiersfamilie bewegte er sich rasch in den Kreisen der liberalen Intelligenz, wurde früh regelmäßiger Beiträger der Frankfurter Zeitung und publizierte einige seiner wichtigsten Schriften im Berliner S. Fischer Verlag – beides waren damals Institutionen mit einer liberalen corporate identity, also keineswegs zufällige Publikationsorte. 11 Der Reiz, sich mit Bonn zu beschäftigen, liegt auch darin, dass er sich leidenschaftlich mit dem liberalen Denken seiner Zeit auseinandersetzte und die politischen Herausforderungen des Liberalismus in der Epoche des Imperialismus immanent reflektierte, d.h. nicht lediglich moralisch urteilend, sondern die Handlungslogiken der Akteure berücksichtigend. Vor allem war ihm die Beschäftigung mit den ideologischen Massenbewegungen seiner Zeit nie Selbstzweck, sondern Anstoß dazu, als Liberaler „Selbstkritik am eigenen Lager“ zu üben. 12 Wie wenige andere dachte er global, analysierte || 10 Moritz Julius Bonn, Zum 150. Jubiläum der Unabhängigkeitserklärung, in diesem Band S. 270. 11 Vgl. etwa Peter de Mendelssohn, S. Fischer und sein Verlag, Frankfurt/M. 1970; Günther Gillessen, Auf verlorenem Posten. Die Frankfurter Zeitung im Dritten Reich, Berlin 1986, S. 11-90. 12 Dies auch die Beobachtung von Immanuel Birnbaum in einer Besprechung von Bonns Autobiographie in „Die Presse“ (Wien), 1953 (undatierter Zeitungsausschnitt in BA Koblenz, NL 1082/19).
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den Wandel der Weltökonomie, sah die Aporien des Kolonialismus, beobachtete den Aufstieg der USA und sorgte sich um die Zukunft der parlamentarischen Demokratie.
„Wandering Scholar“ – biographische Prägungen und Stationen Moritz Julius Bonn, geboren am 28. Juni 1873 in Frankfurt, markierte in seiner Autobiographie die wichtigsten Prägungen seiner Kindheit und Jugend: die liberale Erziehung und der frühe Tod des Vaters, die Einbindung in den weitverzweigten Familienclan, die Zugehörigkeit zum vermögenden Judentum und der damit verbundene gesellschaftliche Status. Für Bonn erklärte seine jüdische Herkunft auch eine Immunisierung gegenüber Nationalismus und Massenideologien: Das Bewusstsein, einer Minderheit anzugehören, zwinge dazu, „Völker und Zeiten aus weiterer Perspektive zu sehen“, und hindere daran, „sich von der Leidenschaft der Menge mit fortreißen zu lassen“. 13 Diese innere Unabhängigkeit blieb kennzeichnend für den Intellektuellen Moritz Julius Bonn, wenn sie ihm auch bisweilen den Vorwurf eines kritischen Skeptizismus eintrug, der zwar Probleme analysiere, aber keine Lösungswege anbiete. Sein Schüler Immanuel Birnbaum charakterisierte diesen Habitus rückblickend: Bonn „hatte schon damals mehr von der Welt gesehen als ein Gelehrter gewöhnlich zu Gesicht bekommt. Das bezahlte er freilich damit, dass er immer und überall ein wenig Außenseiter blieb, auch dort, wo er ausgezeichnet Bescheid wusste. Bonn war im Grunde immer damit zufrieden, wenn er rechtzeitig seine wohlformulierte Meinung gesagt hatte, für deren Durchsetzung zu kämpfen er nicht für seines Amtes hielt.“ 14 Es ist überdies kein Zufall, dass Bonns Erfahrung des Andersseins dafür sorgte, dass er zeitlebens dem Verhältnis von Mehrheit und Minderheit besondere Aufmerksamkeit schenkte und das für ihn zentrale Toleranzgebot auf die Formel eines „sozialen“ bzw. „kulturellen Pluralismus“ brachte. 15 Bonns Herkunft sicherte ihm nicht nur die materielle Basis für sein akademisches Leben, sondern sie war ein gesellschaftlicher Startvorteil für seine intellektuellen Ambitionen. Als frühreifer, vielseitig interessierter Heranwachsender ermöglichten ihm Familienkontakte, drei der liberalen Galionsfiguren seiner Zeit in Berlin persönlich aufzusuchen: Ludwig Bamberger, Gustav Schmoller und Eugen Richter. Die Stadt Berlin ließ den gebürtigen Frankfurter unbeeindruckt, zu Bismarcks preußisch dominiertem Kaiserreich wahrte er geistige Distanz und entschied sich || 13 Bonn, So macht man Geschichte, S. 29. 14 Immanuel Birnbaum, Ein Professor sieht die Welt, in: Süddeutsche Zeitung, 17. September 1950. 15 Siehe Bonn, Die Krisis der europäischen Demokratie, S. 204. Interessanterweise passte Bonn diese Forderung den verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten an. So war in der amerikanischen Ausgabe von „cultural pluralism“ die Rede, während er für die Weimarer Verhältnisse für einen „sozialen Pluralismus“ plädierte.
6 | Einleitung: Moritz Julius Bonn – Liberale Krisendiagnostik in der Weimarer Demokratie schließlich für ein Studium der Nationalökonomie in München, wo Lujo Brentano sein wichtigster Lehrer wurde. Bonn beendete seine wirtschaftshistorische Dissertation über die spanische Währungspolitik im 16. Jahrhundert bereits im Jahr 1895 16, nicht ohne vorher noch ein Semester bei Carl Menger in Wien studiert zu haben. Seinen ursprünglichen Plan, Bankier zu werden, gab er auf, um mit der Unterstützung Brentanos eine wissenschaftliche Karriere weiterzuverfolgen. Finanziell unabhängig verbrachte er die kommenden intellektuellen „Wanderjahre“ zumeist im Ausland. Er studierte an der London School of Economics, bis er sich seinem neuen Forschungsschwerpunkt, der Praxis und Problematik von Kolonialisierungsprozessen, widmete und dafür drei Jahre in Irland lebte, um dort über die englische Kolonisierung und Agrarpolitik zu arbeiten. Bonn nutzte seinen Aufenthalt in England und Irland dazu, seine Habilitation und zahlreiche weitere empirisch gesättigte Studien zu verfassen, die sich mit den ökonomischen und sozialen Krisen sowie der Nationalitäts- und Unabhängigkeitsfrage beschäftigten. 17 Die „Tragödie einer Mischkolonie“, in der die Kolonisten und die indigene Bevölkerung unfähig waren, einen Zustand sozialen Friedens herbeizuführen, sensibilisierte ihn für die Unhintergehbarkeit demokratischer Selbstbestimmung – „eine Erkenntnis, die zum Ausgangspunkt fast aller meiner späteren Studien wurde“. 18 Zugleich hinterließ die Mobilisierungskraft des Ulster-Nationalismus einen starken Eindruck bei Bonn, der auch in seiner Analyse des internationalen Faschismus als Radikalnationalismus immer wieder auf Irland respektive Nordirland zurückkam, um in der „Freiwilligenbewegung Ulsters vom Jahre 1912 das Urbild des Fascismus in ganz Europa“ zu erkennen. 19 Darüber hinaus befasste sich der vielseitig interessierte Ökonom, der sich auch als Sozialwissenschaftler verstand, intensiv mit dem angelsächsischen politischen Denken, von der politischen Ökonomie bis hin zum Sozialismus der Webbs. Bereits als 24jähriger hatte er in der Frankfurter Zeitung eine ausführliche kritische Würdigung von Edmund Burke zu dessen 100. Todestag veröffentlicht. 20 Als Privatdozent in München (seine leider nicht überlieferte Probevorlesung am 10. Dezember 1904 behandelte „Montesquieus Lehren von der Trennung der Gewal-
|| 16 Moritz Julius Bonn, Spaniens Niedergang während der Preisrevolution des 16. Jahrhunderts, Stuttgart 1896. 17 Vgl. Moritz Julius Bonn, Modern Ireland and her Agrarian Problem, Dublin/London 1906; ders., Die englische Kolonisation in Irland, Stuttgart/Berlin 1906. – Zu Bonns Irlandschriften siehe Ute Lotz-Heumann: A ‚Wandering Scholar‘ and His Interpretation of Ireland. Moritz Julius Bonn and „Die englische Kolonisation in Irland“. In: V.P. Carey u. Ute Lotz-Heumann (Hrsg.): 'Taking Sides? Colonial and Confessional Mentalités in Early Modern Ireland. Essays in Honour of Karl S. Bottigheimer, Dublin 2003, S. 291-303. 18 Bonn, So macht man Geschichte, S. 109. 19 Bonn, Die Krisis der europäischen Demokratie, in diesem Band S. 155. 20 Moritz Julius Bonn, Edmund Burke (I und II), in: Frankfurter Zeitung, 10./12. Juli 1897. Bei diesem Artikel könnte es sich um Bonns publizistisches Debüt handeln.
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ten“ 21) suchte sich Bonn bald ein aktuelles und brisantes Forschungsthema: die britische und deutsche Kolonialpolitik in Afrika. Seine Expertise verschaffte sich Bonn auch durch eigene Anschauung. Mit seiner englischen Gattin (die 1905 geschlossene Ehe blieb kinderlos) bereiste er – unter primitivsten Bedingungen – länger als ein Jahr Südafrika und die deutschen Kolonien in Südwestafrika. 22 Er profilierte sich bald als einer der kundigsten Kritiker deutscher Kolonialpolitik und verurteilte General von Trothas brutale Kriegführung gegen die Hereros scharf. 23 Bonns Kolonialismuskritik vermittelt dabei prinzipielle Einsichten. Früh diagnostizierte er den unausweichlichen Untergang der Kolonialimperien, die sich auf Ausbeutung statt auf fairen Handel stützten. 24 Im eklatanten Widerspruch zu den im eigenen Land vertretenen liberalen Selbstbestimmungsprinzipien verletzten die Kolonialmächte überdies die politischen Rechte der indigenen Völker. Bonn kritisierte bereits im Jahr 1910 „eine Auffassung des sozialen Lebens […], die man in Süd-Afrika gelegentlich als ‚parallele‘ bezeichnet, der ein Nebeneinanderleben und -arbeiten zweier Rassen entspricht, bei dem der Weiße eine Oberschicht, der Eingeborene und Farbige eine Unterschicht darstellen, ohne, daß eine der beiden Schichten die andere jemals kreuzt, oder mit ihr in Wettbewerb träte“. 25 Er griff die Verfechter imperialistischer Kolonialpolitik – mit stichhaltigen Argumenten – auf zwei Ebenen an: Zum einen verurteilte er den Umgang mit den beherrschten Volksgruppen, die in Abhängigkeit und Unmündigkeit gehalten würden. Um die praktischen Schwierigkeiten wissend, warb er dafür, den indigenen Völkern schon mittelfristig eine Perspektive für die Selbstregierung zu eröffnen. Zum anderen wies er nach, wie wenig rentabel der Raubbau an den Bodenschätzen und natürlichen Ressourcen war, wenn er sich den Gesetzen des Marktes entzog. Überdies entlarvte er die deutsche Kolonialpropaganda vom Volk ohne Ausdehnungsmöglichkeiten, das den Platz an der Sonne auch durch koloniale Besiedlung einnehmen wollte, als Schimäre – de facto war das Deutsche Reich aufgrund seiner boomenden Wirtschaft schon lange zu einem Einwanderungsland geworden, dem Arbeitskräfte fehlten. 26 || 21 Eine Einladungskarte zu dieser Vorlesung ist im Nachlass erhalten (BA Koblenz, NL 1082/16). 22 Siehe dazu auch die Schilderung seiner Afrikareise in: Bonn, So macht man Geschichte, S. 117141. 23 Die wissenschaftliche Begründung der Trotha’schen Eingeborenenpolitik, in: Frankfurter Zeitung, 14. Februar 1909, Fünftes Morgenblatt, S. 1. 24 Zu Bonns Kritik des Kolonialismus vgl. die instruktive Studie von Rob Gordon, Moritz Bonn, Southern Africa and the Critique of Colonialism, in: African Historical Review 45 (2013), Heft 2, S. 130. 25 Moritz Julius Bonn: Siedlungsfragen und Eingeborenenpolitik. Die Entstehung der Gutsherrschaft in Südafrika (I und II). In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 31 (1910), S. 383420, 810-830, hier S. 830. 26 Siehe vor allem Moritz Julius Bonn, Die Neugestaltung unserer kolonialen Aufgaben. Festrede, gehalten bei der Akademischen Feier der Handelshochschule München anlässlich des 90. Geburtsfestes Seiner Königlichen Hoheit des Prinzregenten Luitpold von Bayern am Dienstag, den 7. März
8 | Einleitung: Moritz Julius Bonn – Liberale Krisendiagnostik in der Weimarer Demokratie Dass Bonn („zu Beginn dieses Jahrhunderts ein Stern besonderer Art am Gelehrtenhimmel’“ 27) trotz seines wissenschaftlichen Renommees und seiner publizistischen Präsenz keine Karriere an einer deutschen Universität machte, lässt sich vor allem mit dem in academia verbreiteten Antisemitismus erklären; nur wenige Juden schafften es im Kaiserreich auf eine Professur. Deutlich wird dies im Engagement Max Webers, der eine hohe Meinung von Bonn hatte und sich verschiedentlich in Berufungsfragen vergeblich für ihn einsetzte, wie er überhaupt regelmäßig jüdische Kollegen gegen antisemitische Vorbehalte zu schützen suchte. Es ist eine ironische Pointe, dass Weber möglicherweise selbst schließlich von einem latenten Antisemitismus profitierte, als er 1919 nach München berufen wurde – denn eigentlich hatte Moritz Julius Bonn auf dem ersten Listenplatz gestanden, der – wie Webers Biograph Joachim Radkau nüchtern bemerkt – „mehr als Weber auf dem neuesten Stand der Ökonomie war“. 28 Wie der ebenfalls jüdische Staatsrechtler Hugo Preuß wich Bonn schließlich auf alternative Karrierepfade aus. Er war 1910 zum Gründungsdirektor der Münchener Handelshochschule berufen worden, an der er allerdings nur vier Jahre ununterbrochen wirkte. Als Bonn im Sommer 1914 in die Vereinigten Staaten reiste, um dort eine Gastprofessur anzutreten, fiel seine Ankunft in New York am 3. August mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs zusammen. Daher blieb ihm eine ungefährdete Rückreise zunächst verwehrt, und er dehnte seinen Amerika-Aufenthalt auf zweieinhalb Jahre aus, bis er wegen des Abbruchs der diplomatischen Beziehungen im Februar 1917 und des absehbaren amerikanischen Kriegseintritts als Deutscher das Land verlassen musste. 29 Bonn hatte die Zeit gut genutzt: Er lehrte in Berkeley, Madison und an der Cornell University in Ithaca, bereiste das Land, baute wichtige Kontakte auf und bemühte sich um politische Verständigung zwischen den USA und dem Deutschen Reich. In Reden und Zeitungsartikeln versuchte er westliche Kriegspropaganda gegen Deutschland zu entkräften, während er in Deutschland für einen Verständigungsfrieden ohne Sieger warb. 30 Aus naheliegenden Gründen war Bonn immun gegen jede Kriegsbegeisterung: Zum einen verliefen bei ihm die || 1911, Tübingen 1911; ders., Der moderne Imperialismus, in: ders. (Hg.), Grundfragen der englischen Volkswirtschaft, München/Leipzig 1913, S. 127-156. – Bonns kritische Haltung zeigt durchaus Parallelen zu den Haupteinwänden der Sozialdemokratie gegen die Kolonialpolitik, die sich ihrerseits wie ein „Katalog der traditionellen freihändlerisch-liberalen Beschwerdepunkte“ lesen. Dies hebt hervor Hans-Christoph Schröder, Sozialismus und Imperialismus. Die Auseinandersetzung der deutschen Sozialdemokratie mit dem Imperialismusproblem und der „Weltpolitik“ vor 1914, Bonn/Bad Godesberg 1975, 2. Aufl., S. 142ff. 27 So die Formulierung von Erik Reger, in: Der Tagesspiegel, 23. Mai 1953 (Rezension von Bonns Memoiren). 28 Joachim Radkau, Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens, München 2013, S. 626. 29 Diese Episode wird anschaulich geschildert in Bonn, So macht man Geschichte, S. 161-177. 30 Vgl. Moritz Julius Bonn, Germany not seeking Conquest, says German, in: New York Times, 6. August 1916.
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Kriegsfronten quer durch die Familie, denn nicht nur war er mit einer Engländerin verheiratet, auch zahlreiche Mitglieder des eigenen Clans lebten in England. Zum anderen hielt die Atmosphäre in den zunächst neutralen Vereinigten Staaten ohnehin nicht dazu an, sich in irgendeiner Form leidenschaftlich zum Krieg zu bekennen. Gleichwohl erachtete es Bonn für seine patriotische Pflicht, als Anwalt seines Landes aufzutreten, und es ist ihm der Versuch anzumerken, die Intentionen deutscher Kriegspolitik mit dem Weichzeichner darzustellen. 31 Bereits in Washington knüpfte Bonn guten Kontakt zum deutschen Botschafter Graf Bernstorff (der später vermutlich für Bonns Ernennung zum Berater in die Kommission zur Vorbereitung des Friedensvertrags sorgte), und nach seiner mit dem amerikanischen Kriegseintritt erzwungenen Ausweisung aus den Vereinigten Staaten wurden seine Dienste vom Auswärtigen Amt eingefordert, wo er in der Propaganda-Abteilung als Amerika-Experte zu arbeiten hatte. Ein Ergebnis dieser Phase war die Broschüre mit dem rein sachlich zu verstehenden Titel „Amerika als Feind“, worin Bonn vor allem gegen die Konstruktion entgegengesetzter politischer Kulturen – Demokratie im Westen, Autokratie bei den Mittelmächten – argumentierte und diesen Gegensatz, wie die heutige Forschung allgemein bestätigt, erst als Ergebnis beidseitiger Kriegspropaganda begreift. 32 Der Essay endet nicht ohne Hintersinn mit dem Appell an die Deutschen, innenpolitische Reformen zur Parlamentarisierung und Demokratisierung vorzunehmen, ohne sich vor dem Beifall der Westmächte zu fürchten. 33 Bonn erlebte die Revolutionsereignisse in München und fungierte im „Rat der geistigen Arbeiter“, um durch das Chaos jener Tage zu navigieren; sein Sekretär war übrigens der junge Helmuth Plessner. 34 Der Beginn der Weimarer Republik bedeutete für Bonn eine Phase äußerster Dynamik: Als Gesandter und Berater der Reichsregierung zählte er zur deutschen Delegation in Versailles und nahm in der Folge an zahlreichen Reparations- und Wirtschaftskonferenzen teil; für die Reichskanzlei sowie das Wirtschafts- und Finanzministerium war er beratend tätig und verfasste zahlreiche Memoranden und Gutachten; er gehörte zu den Mitbegründern der DDP und engagierte sich als öffentlicher Intellektueller in unzähligen publizistischen Beiträgen; nebenher administrierte er als Direktor – zunehmend amtsmüde – die Münchener Handelshochschule, deren Leitung er im Frühjahr 1920 abgab. Bonn verlegte schließlich seinen Lebensmittelpunkt nach Berlin. Sein Ziel, in der Politik direkt etwas zu bewirken, scheiterte, denn er machte die Erfahrung, dass auf Berater || 31 Siehe Moritz Julius Bonn, What would German Victory mean?, in: Current History 5, 1916, October, S. 145-147. – Über seinen Aufenthalt in den USA vgl. Bonn, So macht man Geschichte, S. 161177. 32 Vgl. Marcus Llanque, Demokratisches Denken im Krieg. Die deutsche Debatte im Ersten Weltkrieg, Berlin 2000, S. 104ff. 33 Moritz Julius Bonn, Amerika als Feind, München/Berlin 1917, S. 106f. 34 Carola Dietze, Nachgeholtes Leben. Helmuth Plessner 1892-1985, Göttingen 2006, S. 40, 125.
10 | Einleitung: Moritz Julius Bonn – Liberale Krisendiagnostik in der Weimarer Demokratie nur selten gehört und dass ihm zur Erringung eines politischen Mandats (mindestens eine Reichstagskandidatur für die DDP misslang 35) die Ausdauer in den Mühlen des politischen Tagesgeschäfts fehlte. Seine Ausstrahlung als unabhängiger politischer Intellektueller und Hochschullehrer erreichte allerdings in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre einen Höhepunkt. Er verkehrte in Berlin, in den westeuropäischen Hauptstädten und in den USA mit vielen, die im politischen Leben Rang und Namen hatten. Dass ein Großteil seiner Bücher und Aufsätze mindestens ins Englische übersetzt (wenn nicht von ihm bereits auf Englisch verfasst) worden war, machte ihn als Gegenwartsdiagnostiker international präsent – durchaus untypisch für die damalige Zeit. Einen Eindruck von Bonns intellektuellem Wirkungskreis im Kontext liberaler und sozialliberaler Reformdiskussionen vermittelt die von ihm herausgegebene zweibändige Festschrift zum 80. Geburtstag von Lujo Brentano, welche die Wiener Tageszeitung „Neue Freie Presse“ als „ein wissenschaftliches Manifest des Liberalismus“ begrüßte. 36 Der Beiträgerkreis umfasste die Soziologen Alfred Weber und Leopold von Wiese, die Ökonomen Götz Briefs, Heinrich Herkner, Julius Hirsch oder Karl Landauer, aber auch die weiter links situierten Paul Honigsheim und Franz Oppenheimer. 1931 übernahm er schließlich das renommierte Direktorat der Berliner Handelshochschule, an der er schon seit einem Jahrzehnt als Dozent gelehrt hatte, wie auch an der Hochschule für Politik, die er mit gestaltete. 37 Zu seinen Kollegen an der Handelshochschule zählten Werner Sombart und Carl Schmitt. Bonns wissenschaftspolitisches und publizistisches Wirken erklärt womöglich auch den größer werdenden Abstand zur eigentlichen wissenschaftlichen Arbeit. Weder fand er die Zeit noch anscheinend die Motivation, ein Grundlagenwerk oder eine ausgreifende theoretische Studie zu den nationalökonomischen oder politischen Themen zu verfassen, die ihn umtrieben. Das Erlebnis von Krisenzeiten führte bei ihm zu rastloser Produktivität, stets nach Erklärungen und Problemlösungen für tagesaktuelle Fragen suchend. Die bewegte Gegenwart absorbierte seine ganze denkerische Tätigkeit. Die Überlebenschancen der Weimarer Republik schätzte er zwar zunehmend skeptisch ein, aber die nationalsozialistische Diktatur überraschte ihn mit ihrer gewalttätigen Durchschlagskraft wie viele andere Zeitgenossen. Nach den Stimmeinbußen für die NSDAP in den Novemberwahlen hielt er zur Jahreswende 1932/33
|| 35 Bonn (So macht man Geschichte, S. 291f.) schildert einen Versuch aus dem Jahr 1924 ironischdistanziert – und vermutlich leicht beschönigend, zumal Ernst Feder in seinen Tagebüchern noch von einer weiteren Abstimmungsniederlage Bonns im April 1928 zu berichten weiß. (Ernst Feder, Heute sprach ich mit … Tagebücher eines Berliner Publizisten 1926-1932, Stuttgart 1971, S. 171.) 36 Moritz Julius Bonn/Melchior Palyi (Hg.), Wirtschaftswissenschaft nach dem Kriege. Neunundzwanzig Beiträge über den Stand der deutschen und ausländischen sozialökonomischen Forschung nach dem Kriege. Festgabe für Lujo Brentano zum 80. Geburtstag, 2 Bde., München/Leipzig 1925. 37 Siehe dazu Erich Nickel, Politik und Politikwissenschaft in der Weimarer Republik, Berlin 2004, S. 121-124.
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die Gefahr einer Machtübertragung an Hitler bereits für gebannt. In einem bemerkenswerten Text für das Londoner „Political Quarterly“ rechnete er eher mit Schleicher und weiteren rechtsautoritären Experimenten oder sogar mit einem weiteren Erstarken der Kommunisten als mit einem Erfolg der Nationalsozialisten. Eine Rückkehr zur parlamentarischen Demokratie war für ihn in weite Ferne gerückt, und Bonn sprach markanter Weise von der Weimarer Verfassung als einem Nebenprodukt des Zusammenbruchs: „A Republic without Republicans, and a Democracy without Democrats had to be improvised.“ 38 Mit dieser Wendung bezieht sich Bonn offensichtlich auf den berühmten Ausspruch Ernst Troeltschs, der damit eigentlich gegen die Hypothek des Obrigkeitsstaates und gegen den Vorwurf einer aus dem Kulturkampf des Weltkriegs resultierenden vermeintlichen Demokratiefeindschaft der Deutschen anzugehen versuchte. Stand für Troeltsch im Jahr 1919 fest, „daß ein seit lange[m] sich vorbereitendes Schicksal unabänderlich die Demokratisierung gebracht“ habe 39, konnte Moritz Julius Bonn Ende 1932 nur noch die Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen der demokratischen Verfassung und der tatsächlichen Dominanz antiparlamentarischer und verfassungsfeindlicher Kräfte diagnostizieren. Während klassischerweise die Kämpfe um eine Verfassung vor deren Verabschiedung ausgefochten würden, seien sie in Deutschland erst nach deren Inkrafttreten wirklich entbrannt. Etwas vage prognostizierte Bonn: „Until the elements which would have opposed the German constitution when it was made, if they then had been thoroughly organised, have spent their strength in attacking and reforming it, there will be no lasting constitutional peace.” 40 Ohne sich auf die Debatten um eine Verfassungsreform einzulassen, betrachtete er die politische und die wirtschaftliche Krise parallel und hoffte darauf, dass sich nach einem „Ausbluten“ die allgemeine Lage wieder stabilisieren würde. Diese Resthoffnung des liberalen Skeptikers erfüllte sich bekanntlich nicht, und so kam er im April 1933 mit seinem Rücktritt vom Amt des Direktors der Berliner Handelshochschule einer Entlassung zuvor und reiste im eigenen Auto nach Österreich, wo er in der Nähe von Salzburg seit 1926 ein Sommerhaus besaß.
|| 38 Moritz Julius Bonn, The Political Situation in Germany, in: The Political Quarterly 4 (1933), S. 4457, hier S. 57. 39 Siehe Ernst Troeltsch, Aristokratie, in: Kunstwart und Kulturwart 33 (1919), 2. Oktoberheft, S. 4957, hier S. 50. Troeltschs Einsatz für die Demokratie und seine Abgrenzung von den Demokratiegegnern stellt die Wirkungsgeschichte seiner Wendung gewissermaßen auf den Kopf. Bei ihm heißt es noch: „Auch die Rede kann nichts bedeuten, die man so oft hören kann: wir seien nun einmal ein autoritativ gewöhntes, zur Selbstregierung nicht befähigtes oder nicht gewilltes Volk, eine Demokratie ohne Demokraten, eine Republik ohne Republikaner, und die psychologischen Voraussetzungen wahrer und erfolgreicher Demokratie fehlten uns vollständig.“ (Ebenda, S. 50f.) 40 Bonn, Political Situation, S. 57.
12 | Einleitung: Moritz Julius Bonn – Liberale Krisendiagnostik in der Weimarer Demokratie Die New York Times meldete seine Emigration in einem Atemzuge mit derjenigen Albert Einsteins und Hans Kelsens. 41 Für Bonn war der Gang ins Exil im Gegensatz zu vielen anderen jüdischen Gelehrten und Regimegegnern persönlich kein dramatischer Einschnitt. Er konnte zwischen gut dotierten Angeboten verschiedener Hochschulen in Großbritannien, den Vereinigten Staaten und Kanada auswählen. Seine Wahl fiel auf die London School of Ecomomics, wo er von 1933 bis 1938 lehrte und forschte, unterbrochen von Gastdozenturen in den USA und Kanada. Als Appeasement-Gegner warnte er in England vor der Kriegsgefahr und plädierte für die Wehrhaftigkeit der Demokratie, nach innen und außen 42; im Oktober 1939 ging er dann offiziell als Gastprofessor, inoffiziell als ein verdeckter agent of influence im Auftrag der britischen Regierung in die Vereinigten Staaten, um für amerikanische Kriegsunterstützung zu werben – ein Engagement, das er in seinen Memoiren unerwähnt ließ. 43 Zwar blieb Bonn dank seiner weitreichenden Kontakte ein gefragter Redner und Kommentator, geriet aber als Exilant in die Rolle eines Außenseiters, „an den Rand der Geschichte“, wie er es selbst ausdrückte. 44 In den 1930er Jahren hatte er sein umfangreichstes Buchprojekt in Angriff genommen, „The Crumbling of Empire“, eine Bestandsaufnahme der internationalen Politik, der globalen Ökonomie und des bevorstehenden Zerfalls einer europäisch dominierten imperialen Welt. Darin vertiefte er seine These vom Zeitalter der Gegenkolonisation, die durch den erwachenden Unabhängigkeitsbewegungen im Nahen und Mittleren Osten, in Asien und Afrika unaufhaltsam zur Auflösung der Kolonialimperien führen müsse, und entwickelte seine Gedanken zu einer europäischen Föderation, zur internationalen Kooperation und zu freien Handelsbeziehungen weiter. Das Buch erschien 1938 am Vorabend des Zweiten Weltkrieges zu einem undankbaren Zeitpunkt und war sehr eigenwillig in Form eines überdimensionierten Essays komponiert, belegte allerdings die Kontinuität und die Prinzipienfestigkeit von Bonns Denken im Hinblick auf eine föderale europäische Ordnung, die als Teil einer transatlantischen Wertegemeinschaft mit Nordamerika die zivilisatorischen und politischen Herausforderungen nur im Verbund lösen könne. Dies hieß vor allem, sich gegenüber den neuen totalitären und expansiven Mächten selbstbewusst zu behaupten. Auch wenn Bonn sein Konzept der Gegenkolonisation zu überdehnen schien, sobald er es auf die || 41 New York Times, 16. April 1933. – Ein Kolumnist der Londoner Sunday Times (30. April 1933) würdigte Bonn als “that rare combination, a good internationalist, a good European, and a good German”. 42 Vgl. z.B. Moritz Julius Bonn, Limits and Limitations of Democracy, in: Ernest Simon u.a., Constructive Democracy, London 1938, S. 215-247. 43 Diese verdeckte Tätigkeit für die britische Regierung belegt aus englischen Quellen Patricia Clavin: A ‘Wandering Scholar‘ in Britain and the USA 1933-1945. The Life and Work of Moritz Bonn, in: Anthony Grenville (Hg.): Refugees from the Third Reich in Britain, Amsterdam/New York 2003, S. 27-42, hier S. 34-37. 44 Bonn, So macht man Geschichte, S. 351ff.
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Sowjetunion und die NS-Diktatur anwendete, waren seine Ideen anschlussfähig für die neuen Konstellationen des Kalten Krieges. Rückwirkend erwies sich Bonn als einer der frühen liberalen Totalitarismustheoretiker avant la lettre, denn seit dem Aufkommen des Faschismus hatte er sich mit den neuen totalitären Ideologien, die eine Politik der Gewalt annoncierten, ausgiebig beschäftigt. 45 Bonns letztes Buch „Whither Europe – Union or Partnership?“ (1952) präsentierte ihn noch einmal als Cold War Liberal, der die (west)europäische Einigung nicht nur als Wertegemeinschaft, sondern als alternativloses Bündnis gegen die Sowjetunion ansah, das zum Nutzen aller Beteiligten ausgebaut und gestärkt werden müsse. Bonn kehrte im April 1946 aus den USA nach London zurück und blieb dort bis ins hohe Alter publizistisch aktiv. Auch ins Nachkriegsdeutschland reiste er regelmäßig und erfuhr in der Bundesrepublik noch Anerkennung für sein Lebenswerk. Mit Theodor Heuss, den Bonn seit dessen Studienzeit bei Brentano um die Jahrhundertwende kannte, erneuerte er den Kontakt; Heuss verlieh ihm das Große Bundesverdienstkreuz (1953) und absolvierte gemeinsam mit Bonn eine Feier zum fünfzigsten respektive sechzigsten Doktorjubiläum in München 1955. 46 Die Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Freie Universität Berlin (1956) und die positive Resonanz auf seine Autobiographie geben einen Hinweis auf Bonns Reputation in den 1950er Jahren als einer der Grand Old Men, die für die liberalen und demokratischen Traditionen der Weimarer Republik standen. Bonn konnte sich überdies auf die Unterstützung mittlerweile prominenter früherer Schüler verlassen, die wie Erik Reger als Mitherausgeber des „Tagesspiegel“ und wie Immanuel Birnbaum als leitender Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“ die Erinnerung an den bewunderten liberalen Lehrer wachhielten. 47 Bonn nahm nicht nur regen Anteil an den Entwick-
|| 45 Vgl. Jens Hacke, „Volksgemeinschaft der Gleichgesinnten“. Liberale Faschismusanalysen in den 1920er Jahren und die Wurzeln der Totalitarismustheorie, in: Mittelweg 36, 23. Jg. (2014), Heft 4, S. 53-73. 46 Siehe dazu: Theodor Heuss und Moritz Julius Bonn als Jubilare der Universität München, Berlin 1956. Einen guten Eindruck von den regelmäßigen Treffen und der anhaltenden Korrespondenz zwischen Heuss und Bonn erhält man aus: Theodor Heuss, Tagebuchbriefe 1955/1963. Eine Auswahl aus Briefen an Toni Stolper. Herausgegeben und eingeleitet von Eberhard Pikart, Tübingen/Stuttgart 1970. Heuss‘ freundschaftliche Beziehung zu Bonn unterstreichen Passagen wie diese: „Nachmittags war M.J. Bonn zum Kaffee, ganz milde, obwohl ihn doch der liebe Gott bei der Schaffung der Welt nicht als Sachverständigen hinzugezogen hatte. Er hielt, von mir den Berlinern vorgeschlagen, die Festrede zum 50 Jahr-Jubiläum der Handelshochschule und man hat ihn in Berlin, mit Recht, offenbar sehr freundlich behandelt.“ (Ebenda, S. 207f.) – Siehe auch Bonns Beitrag in der Festschrift zu Heuss‘ 70. Geburtstag in: Hans Bott/Hermann Leins (Hg.), Begegnungen mit Theodor Heuss, Tübingen 1954, S. 25-28. Zum Verhältnis zwischen Heuss und Bonn siehe weiterhin Joachim Radkau, Theodor Heuss, München 2013, S. 393-396. 47 Siehe etwa Immanuel Birnbaum, Ein Professor sieht die Welt, in: Süddeutsche Zeitung, 17. September 1950 (Besprechung der englischen Ausgabe von Bonns Memoiren), sowie Erik Reger, Rezension von „So macht man Geschichte?“, in: Der Tagesspiegel, 23. Mai 1953.
14 | Einleitung: Moritz Julius Bonn – Liberale Krisendiagnostik in der Weimarer Demokratie lungen in der jungen Bundesrepublik, er kam auch häufig zu Besuch und pflegte weitläufige Kontakte zum politischen Establishment. Bonn starb am 25. Januar 1965 in London, seine Urne wurde im Rathaus Kronberg/Taunus, der früheren Villa Bonn, beigesetzt.
Zu diesem Band Die hier vorgelegte Auswahl der Schriften Bonns gibt nur einen kleinen Teil seines Werkes wieder und konzentriert sich auf die Jahre der Weimarer Republik. Aus dieser Schaffensperiode sind wiederum nur jene Arbeiten berücksichtigt worden, die sich in grundsätzlicher Weise mit Politik befassen. Bonn verwendete als Ökonom, Finanzexperte und Sachverständiger in Reparationsfragen weitaus mehr Energie auf Wirtschaftsthemen, die sich allerdings auch auf tagesaktuelle Publizistik zu den jeweiligen Problemkreisen in den großen Zeitungen erstreckten. Die politischen Schriften sind gleichsam Nebenprodukte seiner eigentlichen Arbeit als Ökonom, aber sie sind auch eigenständige Positionsbestimmungen, die gerade deswegen interessant sind, weil in ihnen einige wesentliche Axiome liberalen Denkens für eine breite Leserschaft aufbereitet werden. Im Mittelpunkt seines Interesses stand die Reflexion über die Gefährdung und die Krisenfestigkeit der parlamentarischen Demokratie. In der älteren Tradition einer noch umfassenden Nationalökonomie vor ihren Verwissenschaftlichungsschüben begriff Bonn die Ordnung der Wirtschaft als eine zentrale Aufgabe der Politik, so dass er sich vor allem in der Epoche der ersten deutschen Demokratie zu allgemeinen Fragen äußerte, als die Debatten um Sozialisierungsmaßnahmen, Sozialpolitik und die Krisen des Kapitalismus den Gestaltungsraum der Politik um ungekannte Dimensionen zu vergrößern schienen (und tatsächlich vergrößerten). Es bleibt für Bonn charakteristisch, Politik im Blick auf die Wirtschaftsverhältnisse zu denken; für ihn bestimmte im Wesentlichen das ökonomische Sein das Bewusstsein, und politische Krisen hatten für Bonn stets ökonomische Wurzeln. Bonns Denkstil kommt in den hier ausgewählten Themenfeldern zum Ausdruck: erstens die internationalen Beziehungen nach dem Ersten Weltkrieg und die Perspektiven supranationaler Ordnung; zweitens die Gefährdungen der parlamentarischen Demokratie und damit eng zusammenhängend drittens der aufkommende Radikalnationalismus in Gestalt des Faschismus und des Nationalsozialismus sowie viertens das Beispiel Amerikas für den Erfolg eines demokratischen Kapitalismus. Dass Bonn ein Schnell- und Vielschreiber war, der auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig agierte, muss nicht eigens betont werden. Ganz offensichtlich diktierte er einen nicht unerheblichen Teil der Texte seiner jeweiligen Sekretärin, sah aber davon ab, in seinen Arbeiten Textbausteine zu recyclen. So liegt der Reiz der Lektüre darin, dass wiederkehrende Themen immer wieder anders beleuchtet, mit neuen Beispielen unterlegt und mit unterschiedlichen Argumenten begründet werden.
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Vermutlich hat sich nachteilig auf seine Rezeption ausgewirkt, dass er weder ein schulbildender Ordinarius war, noch sich die Zeit nahm, um ein theoretisch fundiertes Grundlagenwerk oder ein nationalökonomisches Lehrbuch zu verfassen. Andererseits sorgte seine angelsächsische Prägung für einen anschaulichen, nie um Beispiele verlegenen Schreibstil, der mit den Mitteln der Ironie (bisweilen an der Grenze zum Sarkasmus) arbeitete und auf Unterhaltung des Lesers Wert legte. Bonn gelang es allerdings nicht immer, sein assoziatives und schweifendes Denken zu bändigen. Hinter dieser vermeintlichen Leichtigkeit verbarg sich ein weltgewandter und umfassend gebildeter Gelehrter, der sich hütete, mit Bildungswissen zu renommieren. Urbaner Witz, Nonchalance und angenehmes Understatement lassen über manche begriffliche Vagheit bzw. Nachlässigkeit hinwegsehen. Im Zentrum des Bandes steht Bonns Schrift über die „Krisis der europäischen Demokratie“ (1925), die alle wesentlichen Topoi enthält: den moralischen Bankrott des Kaiserreichs, die sozialpsychologischen Folgekosten des Krieges, die Gefahr der „Bolschewisierung“, die Demokratiefeindschaft der politischen und wirtschaftlichen Eliten in Deutschland, die Kritik an ständischen bzw. korporatistischen Staatsvorstellungen, die Auseinandersetzung mit einer Politik ideologisch gerechtfertigter Gewalt und die Verteidigung der repräsentativen parlamentarischen Demokratie. Nicht ohne Grund betrachtete Bonn die Krise der Demokratie als gesamteuropäisches Phänomen und setzte sich damit früh von der Fixierung auf eine „Ideologie des deutschen Weges“ (Bernd Faulenbach) ab. 48 Die vergleichende europäische Perspektive, aber auch das starke Interesse an der ökonomischen Entwicklung und der wachsenden internationalen Machtstellung der USA unterschieden Bonn von vielen Kommentatoren seiner Zeit. Die in dieser Sammlung berücksichtigten Arbeiten lassen erkennen, dass der ironische Skeptiker keineswegs europäischen respektive deutschen Untergangserzählungen das Wort redete, sondern die Chancen einer demokratischen Politik betonte, die sich auf die gemeinsamen liberalen Werte des Westens besann. Die „westliche Demokratie“ bestimmte Bonns kategorialen Rahmen. Die Texte dieses Bandes machen deutlich, dass Bonns Denken eher auf die praktische Bewährung von liberalen Grundprinzipien zielte (Freiheit, Chancengleichheit, Rechtsstaat, Erhaltung des Friedens, Minderheitenschutz) als philosophische Begründungen zu liefern. In diesem Sinne fügt er sich in das von Edmund Fawcett jüngst so überzeugend bekundete Verständnis vom Liberalismus als Praxis ein. 49 Über Bonns Verschwinden aus dem öffentlichen Bewusstsein ist gerade im Zuge seiner vorsichtigen Wiederentdeckung Ratlosigkeit zum Ausdruck gebracht wor-
|| 48 Vgl. Bernd Faulenbach, Ideologie des deutschen Weges. Die deutsche Geschichte in der Historiographie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 1980. 49 Vgl. Edmund Fawcett, Liberalism. The History of an Idea, Princeton 2014.
16 | Einleitung: Moritz Julius Bonn – Liberale Krisendiagnostik in der Weimarer Demokratie den. 50 Warum konnte ein Wissenschaftler von internationaler Geltung, ein kosmopolitischer Liberaler, der auf vielen Feldern Bedeutendes geleistet hatte, in Vergessenheit geraten? Die Gründe dafür sind divers: die bereits angesprochene Vielseitigkeit seiner Interessen, die ausgebliebene Gründung einer akademischen Schule, sein methodischer und theoretischer Eklektizismus, die Unmittelbarkeit der Gegenwartsdiagnostik. Zudem bot sein bewegtes, aber trotz Verfolgung und Emigration vergleichsweise undramatisch verlaufenes Leben wenig Material für eine Opfergeschichte. Bonns Prominenz, seine internationale Reputation, aber auch seine ökonomische Unabhängigkeit und sein Realitätssinn sorgten dafür, dass er Deutschland rechtzeitig verlassen konnte und auch im Exil niemals Not leiden musste. Seine vorderhand unspektakuläre Existenz bot anscheinend keinen Reiz für die Exilforschung, sich ausführlicher mit ihm zu befassen. Überdies gehörte Bonn zu einer älteren Generation, deren Weltbild sich durch die Exilerfahrung nicht entscheidend veränderte; England und die USA waren ihm schon vor 1933 ein zweites Zuhause. 51 Es wäre ein wünschenswerter Effekt dieser Edition, wenn sie zu einer Auseinandersetzung mit Bonns Werk und eben auch den abgebrochenen liberalen Traditionen der Weimarer Republik anregen könnte. Der Reiz liegt nicht zuletzt darin, dass sich in Bonns verschiedenen Tätigkeitsfeldern viele Linien kreuzen. Das lässt sich schon im Hinblick auf seine Stellung in der deutschen Nationalökonomie zeigen 52: Bonn bezeichnete sich zwar gern selbst als „unverbesserlichen alten Liberalen“, der den Kapitalismus und freien Wettbewerb guthieß, aber ihm war durchaus klar, dass die Politik und die Gestaltungsmacht des Staates immer wieder neu für Regelung und Rahmung sorgen müsse – der Sozialliberalismus der Brentano-Schule || 50 Siehe Clavin, Wandering Scholar; Gordon, Moritz Bonn; Hacke, Ein vergessener Verteidiger der Vernunft. 51 Bonn wird in den Arbeiten von Joachim Radkau (Die deutsche Emigration in den USA. Ihr Einfluss auf die amerikanische Europapolitik 1933-1945, Düsseldorf 1971) und Alfons Söllner (Deutsche Politikwissenschaftler in der Emigration: Studien zu ihrer Akkulturation und Wirkungsgeschichte, Opladen 1996) nur am Rande erwähnt. Auch im „Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933-1945“ (hg. von Claus-Dieter Krohn, Darmstadt 1998) sucht man vergeblich nach einer Würdigung Bonns, der im ausführlichen Beitrag über die Wirtschaftswissenschaften (S. 904-922) nicht einmal erwähnt wird, dessen Name sich sonderbarerweise aber im Eintrag zu „Pazifisten“ findet (S. 571). Während die Emigranten aus dem Umkreis des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, aber auch Juristen wie Karl Loewenstein oder Arnold Brecht die verdiente Aufmerksamkeit der Forschung gefunden haben, ist Bonn bislang weitgehend übergangen worden. 52 Vgl. Roman Köster, Die Wissenschaft der Außenseiter. Die Krise der Nationalökonomie in der Weimarer Republik, Göttingen 2011, S. 79, 85f., 162, 223, 266, 298f. – In einer früheren Arbeit zum Thema spielt Bonn erstaunlicherweise gar keine Rolle, obwohl der Autor einige seiner Schriften zumindest in den Anmerkungen erwähnt. Siehe Claus-Dieter Krohn, Wirtschaftstheorien als politische Interessen. Die akademische Nationalökonomie in Deutschland 1918-1933, Frankfurt/M./New York 1981. (Es handelt sich übrigens um denselben Verfasser, der für den oben genannten Handbuchartikel zur Wirtschaftswissenschaft in der Emigration verantwortlich zeichnet. Insofern ist die Nichtberücksichtigung Bonns leichter erklärbar.)
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war ihm vertraut; mit späteren Ordoliberalen wie Wilhelm Röpke oder Alexander Rüstow stand er im Austausch; mit John Maynard Keynes gab es vielfältige Kontakte. Andererseits sparte ihn Ludwig von Mises wohl nicht zufällig aus, als er seine Angriffe gegen den sozialen Liberalismus in den Wirtschaftswissenschaften lancierte, denn er musste wissen, dass Bonn immer noch gewisse Sympathien für den Wirtschaftsliberalismus hegte. 53 Dafür sprachen seine Bewunderung für die Vereinigten Staaten, seine Analyse der Wirtschaftskrise, in der er „keine Krise der freien Kräfte, sondern eine Krise der gebundenen Wirtschaft“ sah, oder sein bisweilen hervortretender Spott: „Wirklich freien Wettbewerb gibt es in Deutschland nur im Sport.“ 54
Weltpolitik und internationale Ordnung Bonns Arbeiten zur internationalen Politik beschäftigen sich zwar mit nationalen Interessen und Machtpolitik, doch analysiert er diese als Faktoren des politischen Handelns, um sie zu rationalisieren und einzuhegen. Seine Analyse der internationalen Politik war von der Einsicht geleitet, dass das Zeitalter des Imperialismus unwiderruflich an ein Ende gelangen würde, nicht nur weil die Räume zur Ausdehnung fehlten, sondern weil die von den Europäern propagierten Werte von nationaler Selbstbestimmung auch den bis dato unterdrückten Völkern früher oder später zugestanden werden müssten. Mitte der 1920er Jahre formulierte Bonn die These von einem Zeitalter der „Gegenkolonisation“, die er auch unter dem Eindruck der expansiven späteren Achsenmächte Italien, Deutschland und Japan einerseits und der Sowjetunion andererseits aufrechterhielt. Die wichtigsten Gründe für eine solche Gegenkolonisation identifizierte Bonn im Verlust der europäischen Vormachtstellung, in einer „Revolution der Schuldnerländer gegen die Gläubigervölker“ sowie im Widerstand gegen den europäischen Kapitalismus, von dessen Dynamik der Bolschewismus profitiere, indem er „sich mit dem Islam [verbrüdert], wenn es ihm zweckmäßig erscheint“, oder sich mit ihm eigentlich wesensfremden nationalen Strömungen verbinde. In den imperialistischen Ambitionen der neuen aggressiven Mächte erkannte Bonn auf Homogenität zielende Ideologien, die ehemals wirksame kapitalistische Kolonialisierungslogiken hinter sich ließen. 55 Bonn präsentierte sich in seinen Stellungnahmen zwar als Kind seiner Zeit, der Epoche des Imperialismus, und ging wie viele andere davon aus, dass die unterdrückten Völker in Afrika und || 53 Ludwig von Mises, Sozialliberalismus, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 81 (1926), S. 242-278. 54 Moritz Julius Bonn, Rede zum 25jährigen Jubiläum der Berliner Handelshochschule, 27. Oktober 1931, Ms., 8 Seiten, BA Koblenz NL 1082/10, S. 4. 55 Siehe Moritz Julius Bonn, Die Gegenkolonisation, in diesem Band S. 103-107, sowie ders., Imperialism, in: Encyclopaedia of the Social Sciences, New York 1932, Vol. 7, S. 605-613.
18 | Einleitung: Moritz Julius Bonn – Liberale Krisendiagnostik in der Weimarer Demokratie Asien erst langsam und mit europäischer Anleitung zur Selbstregierung erzogen werden müssten. Hervorzuheben ist aber, dass Bonn am Ziel der Emanzipation festhielt und dass er das den Kolonialvölkern angetane Unrecht samt den imperialistischen Ausrottungskriegen klar benannte. 56 Den wichtigsten Impuls zu einer grundlegenden Änderung der internationalen Beziehungen sah Bonn von den Vereinigten Staaten von Amerika ausgehen, deren weltpolitisch dominante Rolle als Macht der Zukunft er immer wieder betonte. Zugleich sah er im Aufstieg dieses demokratischen Hegemonen eine große Chance, um vom machtpolitischen Kräftemessen zu einer auf Kooperation basierenden internationalen Ordnung zu gelangen. In seinen während des Ersten Weltkrieges (unter Bedingungen der Zensur) entstandenen Schriften „Amerika als Feind“ (1917) und „Was will Wilson?“ (1918) sowie in zahlreichen noch zur Zeit seines USAAufenthalts verfassten Artikeln wird Bonns Ringen um Verständigung deutlich; sein Ziel war ein Frieden ohne Sieger. 57 In prägnanten Formeln forderte Bonn eine Ablösung gewaltsamer „Herrschaftspolitik“ durch eine interessengeleitete „Handelspolitik“. Damit bewegte er sich in der Tradition eines Liberalismus, der von jeher im Ausbau von „commerce“ und globalen Märkten das beste Mittel internationaler Friedenssicherung sah. 58 „Die Aufgabe der Zukunft ist es, allen europäischen Völkern ein völkerwürdiges, menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen“, formulierte Bonn und stellte die Zielnorm eines „gerechten Friedens“ in den Mittelpunkt seiner Überlegungen zur internationalen Kooperation. Er hielt es für fatal und für eine politische Unklugheit ersten Ranges, die Schuldfrage zum alleinigen Kriterium für die Kriegslastenverteilung zu machen, obwohl er die Verfehlungen deutscher Kriegspolitik klar benannte. Aber Bonn priorisierte die wirtschaftliche Gesundung und die europäische Versöhnung, um künftig den Frieden zu sichern. Sünde und Schuld, Revanche und Ressentiment waren für ihn keine politischen Kategorien. Umso enttäuschter zeigte sich Bonn, dass der „Wilsonian Moment“ vorüberging und die alliierten Sieger die großen Grundsätze „sehr viel schneller vergessen, als wir sie lernen“. 59 Mit Nachdruck forderte Bonn im Jahr 1920, dass die auswärtige Politik „parlamentarisiert“ werden und dass Deutschland nicht nur aus den naheliegenden moralischen Gründen, sondern aus sachlicher Notwendigkeit internationale Zusammenarbeit suchen müsse: „Da das deutsche Volk andere Mittel nicht mehr besitzt, muß es seine und seiner Staatsmänner höchste Aufgabe sein, das Ideal der Gerechtigkeit mit geistigen Waffen zu verwirklichen. Das kann nur der tun, der sich bewußt auf den Standpunkt des Völkerbundes stellt und der der Hoffnung Ausdruck gibt, dass || 56 Moritz Julius Bonn, Herrschaftspolitik oder Handelspolitik, in diesem Band S. 45-62. 57 Siehe Moritz Julius Bonn, Amerika als Feind, München/Berlin 1917; ders., Was will Wilson?, München o.J. [1918]. 58 Vgl. vor allem Bonn, Herrschaftspolitik oder Handelspolitik, S. 45-62 . 59 Moritz Julius Bonn, Gerechtigkeit, in diesem Band, S. 84.
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alles, was in der heutigen Ordnung unerträglich ist, mit Methoden geändert wird, die diesen Änderungen Dauer verleihen. Der Weg der Verhandlung mit einem übelwollenden Gegner ist ein steiler langwieriger Weg. Es ist der einzige, der zum Ziele führen kann. Alle anderen führen zum Selbstbetrug und enden in einem sich selbst zerstörenden Illusionismus.“ 60 Bonn artikulierte seine Kritik an Versailles mit dem Hinweis auf universale Prinzipien und am Maßstab einer vermittelnden Vernunft; ein nicht unbedeutender Schachzug von ihm war auch, die deutsche Übersetzung von John Maynard Keynes’ Generalabrechnung mit dem Versailler Vertrag zu initiieren. 61 Von Beginn an agierte Bonn als unbedingter Unterstützer der Weimarer Republik, trat vorbehaltlos für die Idee des Völkerbundes und die pragmatische, weil unausweichliche Akzeptanz der Friedensbedingungen ein, um deren Milderung man sich mithilfe einer klugen und ausgleichenden piecemeal policy zu bemühen habe. Welche Mühe dies bedeuten würde, hatten ihm seine Erfahrungen als Mitglied der deutschen Delegation in Versailles und als Berater des Reichskanzlers in Reparationsfragen deutlich vor Augen geführt. Eine solche Konzeption verabschiedete den Machtstaatsgedanken des Kaiserreiches und strebte einen Paradigmenwechsel zur internationalen Kooperation an: „Es gibt in Europa keine eigentlich souveränen Staaten mehr, wenn man unter Souveränität nicht nur das Recht versteht, eigenmächtig zu entscheiden, sondern auch die Fähigkeit, die Folgen dieser Entscheidung zu tragen, ganz einerlei nach welcher Seite sie gehen, ohne dabei in seinem Dasein bedroht oder vernichtet zu werden. In der praktischen Politik setzt sich das in der Form der Allianzen, Konferenzen und Organisationen wie dem Völkerbund durch. Die Wissenden sind sich längst darüber klar, dass es eine praktische Souveränität im alten Sinne des Wortes nicht mehr gibt; die Unwissenden aber – und sie sind die Mehrheit der Gegner der parlamentarischen Idee – glauben noch an nationale Allmacht und sehen in einer Regierung, die Kompromisse mit anderen nationalen Mächten schliesst [sic], Verräter am Wesen der Nation und damit des Staates.“ 62 In Bonns Stellungnahmen zur internationalen Politik lassen sich eine Reihe von Beobachtungen und Prognosen finden, die im Blick auf spätere Entwicklungen bemerkenswert geblieben sind. Er erkannte in nationalen Sicherheitsbedürfnissen die Triebfeder internationaler Konflikte und erwartete gleichzeitig ein Erstarken des Nationalismus, nicht nur im Gefolge kolonialer Befreiungskämpfe. Weiterhin mut|| 60 Moritz Julius Bonn, Völkerbund und auswärtige Politik, in diesem Band S. 100. 61 Vgl. Bonn, Gerechtigkeit, sowie John Maynard Keynes, Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages, München 1920. Zu Keynes‘ wesentlichen Argumenten zählte, dass der Vertrag die ökonomische Einheit Europas missachte, dass die Bestimmungen der Alliierten auf Revanchismus beruhten und dass die Forderungen ökonomisch und finanziell unmöglich sei e n . Vgl.dazu auch Charles H. Hession: John Maynard Keynes. Stuttgart 1986, S. 193-243. 62 Moritz Julius Bonn, Die Krise des Parlamentarismus, in diesem Band S. 211.
20 | Einleitung: Moritz Julius Bonn – Liberale Krisendiagnostik in der Weimarer Demokratie maßte er, dass die Außenpolitik immer mehr durch öffentliche Meinung beeinflusst werden würde und dass demokratisch-parlamentarisch regierte Staaten auf ideelle Auseinandersetzungen besser vorbereitet seien als Autokratien. Mit Blick auf die Rolle der Öffentlichkeit und die damit erhoffte Ethisierung internationaler Fragen läge die Chance der Kleinstaaten darin, im Unterschied zur herkömmlichen Machtpolitik „moralische Eroberungen“ zu machen und ihre Interessen im Sinne wertbasierter Ansprüche zu stärken, d.h. dafür innerhalb einer supranational parlamentarisierten Außenpolitik Unterstützung zu finden. 63 Für Bonn stand zudem außer Frage, dass auswärtige Politik immer stärker zu einer international vernetzten Wirtschaftspolitik werden würde. Bekanntheit erlangte Bonns These, dass der Imperialismus seinen Höhepunkt überschritten habe und die Welt nun in ein Zeitalter der „Gegenkolonisation“ eintrete. 64 Diese Denkfigur klang bereits in seinen Vorkriegsschriften zum British Empire an, und er machte neben dem Legitimations- und Machtverfall europäischer Hegemonie vor allem ökonomische Gründe für den erwartbaren Niedergang geltend, nämlich ein Ende der kapitalistischen Expansion Europas, dessen Nationen zu Schuldnerländern geworden waren: „Europa, als Ganzes betrachtet, erzielt keine Überschüsse mehr. […] Die Kapitalströme haben ihren Lauf geändert; sie gehen aus der Neuen Welt zurück in die Alte, wo sie keine neuen Produktionsmöglichkeiten erschließen, sondern nur die Fortführung der alten Unternehmungen erleichtern.“ 65 Insgesamt bewegten sich Bonns Stellungnahmen zur internationalen Politik in einem für den Liberalismus nicht untypischen Spannungsfeld: Zum einen prognostizierte er in fast kantianischer Manier die Unausweichlichkeit friedlicher Kooperation und das Ende nationaler Alleingänge; er setzte auf eine Verrechtlichung im Rahmen des Völkerbunds und supranationaler Zusammenschlüsse sowie auf die pazifizierende Wirkung internationaler Handelspolitik. Zum anderen konnte Bonn nicht umhin, die Persistenz nationaler Interessenpolitik auch in den 1920er Jahren als Störfaktor für internationale Kooperation in Rechnung zu stellen, denn nicht nur die westlichen Demokratien wichen von eigenen Grundsätzen ab, sondern die Rechtsdiktaturen, die Sowjetunion und die nationalistischen Kräfte der Gegenkolonisation erkannten die Modi einer „parlamentarisierten“ Außenpolitik gar nicht erst an. Insofern musste er spätestens Mitte der 1930er Jahre Abschied nehmen von seiner im Ganzen optimistischen Perspektive eines demokratisch-liberalen Paradigmas
|| 63 Bonn, Völkerbund und auswärtige Politik, S. 97f. 64 Siehe zur Rezeption der Bonn-These u.a. Dirk van Laak, Im Tropenfieber. Deutschlands afrikanische Kolonien zwischen kollektivem Verlangen und Vergessen, in: Jörn Leonhard/Rolf G. Renner (Hg.), Koloniale Vergangenheiten – (post-)imperiale Gegenwart, Berlin 2010, S. 87-98, hier S. 95; Heinrich August Winkler, Geschichte des Westens. Bd. 3: Vom Kalten Krieg zum Mauerfall, München 2014, S. 298. 65 Bonn, Gegenkolonisation, S. 103.
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internationaler Beziehungen, um forthin eine kämpferische Selbstbehauptung des Westens auch außenpolitisch einzufordern.
Verteidigung der Demokratie In der zweiten Auflage von Carl Schmitts berühmter Liberalismuskritik Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Liberalismus aus dem Jahr 1926 avancierte Moritz Julius Bonn zum meistzitierten zeitgenössischen Autor. 66 Dieser Umstand erstaunt angesichts des vergleichsweise übersichtlichen Umfangs seiner politiktheoretischen Arbeiten. Es ist kaum davon auszugehen, dass Schmitt hier lediglich taktisch zitierte, um einen wichtigen Mentor gewogen zu stimmen – Bonn hatte ihm zu einer Dozentur an der Münchener Handelshochschule verholfen –, denn zum einen übt er deutliche Kritik an Bonns liberaler Konzeption, zum anderen lässt sich leicht erkennen, dass dessen Schriften für ihn einen Reiz setzten, die eigenen Thesen in der Auseinandersetzung zuzuspitzen. Umgekehrt hatte Bonn den Staatsrechtler in seinen vorher erschienenen Abhandlungen nie erwähnt, denn er hielt seine rasch komponierten Texte von Anmerkungen, Hinweisen auf Forschungskontroversen oder namentlichen Nennungen der Kollegen generell frei. Bonn hatte 1921 eine erste Bestandsaufnahme zur Lage der Weimarer Demokratie in der 44seitigen Broschüre Die Auflösung des modernen Staats vorgelegt. 67 Darin entwickelte er bereits einige der wichtigen Thesen, die später Eingang in seine größere Schrift Die Krisis der europäischen Demokratie finden sollten. Der dramatisierende Titel ließ offen, ob sich eine solche Auflösung schon vollzogen hatte oder ob die Auflösungstendenzen erst der Weimarer Republik drohten. Man findet Anhaltspunkte für beides: Erstens diagnostizierte er das „Ende des Individualismus“, mithin die Krise des liberalen Denkens, und die Verabsolutierung des Staates während der Endphase des Kaiserreichs im Ersten Weltkrieg. „Der Staat ist alles, der Mensch ist nichts. Millionen Tote beweisen die Wirklichkeit, nicht die Richtigkeit dieser Theorie“, schreibt Bonn, der eine gefährliche Überspannung der Staatsmacht diagnostizierte, da „sich der Staat in zwei einander befehdende Systeme“ spalte, „die Zivilverwaltung und die oberste Heeresleitung“. 68 Als sich schließ|| 66 Vgl. Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage, S. 9, 16, 21, 29. 67 Moritz Julius Bonn, Die Auflösung des modernen Staats, in diesem Band S. 111-136. 68 Ebenda, S. 17. Noch klarer formuliert er ein Jahr später: „Während das deutsche Volk wieder und wieder bereit war, der Welt seinen Glauben an die Lehre seiner Führer zu beweisen, und die Einzelnen ihr Leben hingaben, weil das Ganze alles war, war der Staat bereits gespalten.“ Der Kaiser als Staatsspitze „war zu einer Attrappe geworden, der wohl seinen moralischen Einfluß den Männern zur Verfügung stellte, die für ihn die politische Regierung führten, die aber die militärischen Rebellen nicht hindern konnte, im Kampfe gegen diese Regierung die Grundlagen des Staates zu
22 | Einleitung: Moritz Julius Bonn – Liberale Krisendiagnostik in der Weimarer Demokratie lich die protestierende Mehrheit in der Novemberrevolution gegen die zunehmende Machtkonzentration in den Händen der Heeresleitung stellte, sank „die bestehende Staatsgewalt in sich zusammen, nicht aber die Staatsidee“. Die Staatsidee des nunmehr sozialen Staates der Weimarer Republik blieb zweitens einer Reihe von Bedrohungen ausgesetzt. „Die Staatsmaschine geht zwar nicht in Stücke, aber ihre Spitze bricht ab“, denn „zeitweilig fehlt die eigentliche Regierungsgewalt“. Vor dem Hintergrund der Bürgerkriegswirren zwischen Kapp-Putsch und Ruhrkrise war Bonns Sorge um die Herrschaft bewaffneter Banden, denen der Staat „kraftlos“ gegenüberstehe, durchaus begründet. 69 Eine „Auflösung“ des Staates drohte zusätzlich angesichts „neue[r] Ansätze zur Staatsfeindschaft“, die durch den Loyalitätsentzug verschiedener Gruppen dem Staat gegenüber dokumentiert würden. Die verfassungsmäßige Verheißung sozialer Gerechtigkeit trieb die alten Eliten in die Opposition. „Sie wissen, dass sie eine Minderheit sind. Je mehr der Staat Organ der Mehrheit wird, desto weniger können sie auf eine Berücksichtigung ihrer Interessen rechnen, desto wichtiger ist es für sie, dass ein für allemal Grenzen gezogen werden, die die Staatsgewalt nicht überschreiten darf.“ Auf der anderen Seite konnte der Staat die sozialen Hoffnungen kaum erfüllen, die die Parteien im Wettstreit um die Wählergunst weckten. „Die von der Demokratie gewählte und beherrschte Maschine muß jetzt die wirtschaftlichen und sozialen Aufgaben lösen, die diese Demokratie von ihr verlangt.“ Dabei wollte die Demokratie „diesem sozialdemokratischen Staat die Allmacht über das ganze menschliche Leben zusichern“. 70 Dieses Dilemma eines de facto uneinlösbaren sozialen Heilsversprechens zog zwangsläufig eine Desillusionierung von Übererwartungen nach sich und wurde aus Bonns liberaler Perspektive zum Keim für die Unzufriedenheit der breiten Masse mit jeder Wirtschafts- und Sozialpolitik, die im Rahmen des kapitalistischen Systems zu operieren hatte. Der Staat, ganz besonders der leistungsfähige Sozialstaat, blieb somit stetig wachsenden Ansprüchen ausgesetzt. Unmissverständlich machte Bonn klar, dass die politische Macht im demokratischen Staat vom Parlament ausgehen müsse. Im Parlamentarismus sah der anglophile Nationalökonom „in letzter Linie nur eine Methode: die Methode, die Entscheidung in den öffentlichen Dingen durch Aussprache und Verhandlung herbeizuführen“. 71 Bonn trat als Liberaler für genau jene Prinzipien des Parlamentarismus ein, die Schmitt später mit dem Vorwurf der Dysfunktionalität belegte und in Grund und Boden kritisierte, nämlich Diskussion und Öffentlichkeit. Er kritisierte nicht den Parlamentarismus als solchen, vielmehr störte ihn die verbreitete Unfähigkeit zur praktischen Politik bei den deutschen Parlamentariern. Ihnen warf er || unterwühlen.“ Siehe Moritz Julius Bonn, Die Krise des deutschen Staates, in: Die Neue Rundschau 33 (1922), Heft 6, S. 561-572, hier S. 561f. 69 Bonn, Die Auflösung des modernen Staats, S. 121. 70 Ebenda, S. 115. 71 Ebenda, S. 123.
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vor, die Erörterung in der parlamentarischen Debatte nicht als ein Mittel zu handhaben, „um reibungsloses Handeln zu ermöglichen“, sondern die Proklamation der eigenen Meinung stattdessen schon „an und für sich als Tat zu [betrachten]“. Der Regierung wiederum fehlte es zumeist an Entschlossenheit, eigene Ziele couragiert zu verfolgen und diese schließlich im Parlament zu verantworten, stattdessen suchte sie „die Verantwortung durch vorhergehende Beratungen mit dem Parlament zu teilen“. 72 Anders als Schmitt, der als Verfechter eines identitären Demokratiebegriffs die Demokratie gegen den Liberalismus ausspielte, favorisierte Bonn den repräsentativen Gedanken und die Methodik der Mehrheitsregel. Er stellte klar, „daß Demokratie ein Zustand ist, in dem der Willen des Volkes sich auf mittelbare Weise vollzieht, nicht, in dem jeder berät und mittut,– das ist urgemeindlicher Dilettantismus – sondern indem sie die Vollstrecker ihres Willens verantwortlich macht“. Der Staat, so verdeutlichte Bonn, sei „eine Organisation zum Handeln“. Damit pragmatisierte Bonn den Staatsbegriff, verabschiedete mythische Staatsvorstellungen und verpflichtete den Staat darauf, eine Agentur für die Umsetzung des Gemeinwillens zu sein. Politisches Handeln war, so Bonns ungebrochene Auffassung, innerhalb des parlamentarischen Systems immer noch möglich, ja die parlamentarische Demokratie brachte die besten Voraussetzungen dafür mit, zu rationalen und angemessenen politischen Entscheidungen zu gelangen. Ausdrücklich hielt Bonn gegen alle Kritik daran fest, dass der Parlamentarismus auch unter den Bedingungen der modernen „Massendemokratie“ gelingen könne. Die seinerzeit verbreitete „Suche nach dem starken Mann“ über den Parteien oder den Ruf „nach dem Fachmann, der die Zusammenhänge versteht“, wertete er als „eine Verkennung der Probleme der Politik“. 73 Politik, so muss man Bonn verstehen, hatte einen Grad der Komplexität erreicht, der fortwährende Aushandlungsprozesse, Ausgleich und Kompromiss erforderte. Nach der Sicherung von religiösen und politischen Freiheiten schien sich in der Gegenwart „aller Kampf um die Macht auf wirtschaftliche Dinge“ zu konzentrieren. Die Auseinandersetzung um die Wirtschaftsordnung lasse sich allerdings weder im Sinne von Klasseninteressen noch im Rahmen ständestaatlicher Modelle einer Lösung zuführen. Auch wusste Bonn als Liberaler, dass es keinen Weg zurück zur Ideologie eines laisser faire geben konnte: „In einem Zeitalter des Monopols kann das freie Spiel der Kräfte nicht wirken. Die Voraussetzung staatlicher Nichteinmischung besteht also nicht länger.“ 74 Bonn ging es „um das alte Grundproblem der menschlichen Freiheit“, und deshalb stand er „neuen Forderungen der Dezentralisation“ und der „wirtschaftlichen Selbstverwaltung“ offen gegenüber, solange sie
|| 72 Ebenda, S. 122. 73 Ebenda, S. 122. 74 Ebenda, S. 130f.
24 | Einleitung: Moritz Julius Bonn – Liberale Krisendiagnostik in der Weimarer Demokratie einem politisch, d.h. parlamentarisch artikulierten Gemeinschaftswillen entsprachen. 75 Bonn unterstrich in seiner nüchternen Verteidigung des Parlamentarismus, den er – auf den Spuren eines liberal interpretierten Max Weber – als geeigneten Ort der politischen Führerauslese begriff, die unhintergehbare Bedeutung von Verhandlung und Kompromissfindung als Modi rationaler und verantwortlicher Politik. Er sah in der politischen Stärkung des Parlamentarismus die einzige Möglichkeit, einer Herrschaft der bloßen Gewalt, popularisiert von Faschisten und Kommunisten, zu begegnen. Sein angelsächsisch geprägtes Demokratieverständnis ließ keinen Zweifel daran, dass zu den Bedingungen einer freien Gesellschaft Chancengleichheit, Wettbewerb und die Geltung der Menschenrechte ebenso gehörten wie Minderheitenschutz und Rechtsstaatlichkeit: „Gleichwertigkeit ohne Gleichartigkeit“ lautete die Formel, mit der Bonn den neuen Ideologen von Klassen- und Rassenunterschieden entgegentreten wollte. 76 Mit Blick auf die Werthaltigkeit der repräsentativen parlamentarischen Demokratie zeigte sich die Heterogenität nominell liberaler Anschauungen, die die Labilität des politischen Liberalismus in der Weimarer Republik illustrieren. Denn so selbstverständlich Bonns liberales Credo in späteren Zeiten klingt, so wenig war anscheinend vielen seiner politischen Weggefährten bewusst, dass normative Kernfragen im liberalen Selbstverständnis berührt wurden, sobald bürgerliche, soziale und parlamentarische Rechte auch nur im geringsten zur Disposition standen. Folgerichtig beteiligte sich Bonn auch nicht an den Debatten um eine Diktatur oder um eine Transformation in Richtung „moderne Führerdemokratie“ oder „autoritäre Demokratie“, die beispielsweise sein DDP-Parteifreund Alfred Weber als Möglichkeit in Erwägung zog, als er über eine „oligarchische Massenorganisation auf demokratischer Basis“ nachdachte. 77 Wie Hans Kelsen, der die parlamentarische Demokratie ebenfalls als einzige mögliche Form der Demokratie in der Moderne verteidigte und der in vielerlei Hinsicht strukturgleich argumentierte, hielt Bonn am Kernbestand liberaler politischer Ideen fest. 78
Bonns liberale Agenda Versucht man, Bonns Liberalismus im Kontext des zeitgenössischen Denkens zu verorten, so ist sein Verhältnis zu Max Weber aufschlussreich. Bonn, der neun Jahre jünger als Weber war, hatte nach seiner Promotion den frisch berufenen Freiburger || 75 Ebenda, S. 135f. 76 Bonn, Die Krisis der europäischen Demokratie, S. 198. 77 Vgl. Alfred Weber, Die Krise des modernen Staatsgedankens in Europa, Stuttgart 1925, S. 134142, hier S. 139, sowie ders., Das Ende der Demokratie? Ein Vortrag, Berlin 1931, S. 23. 78 Siehe vor allem Hans Kelsen, Das Problem des Parlamentarismus.
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Professor im Wintersemester 1895/96 gehört und war zunächst wenig beeindruckt. Er vermisste die Klarheit und den logischen Aufbau, den er von seinem Lehrer Lujo Brentano gewohnt war. Webers Intellekt empfand Bonn als „hemmungslos und damit formlos“: „Er hatte die Tiefe und Breite, aber auch manchmal die Trübheit germanischen Denkens. In diesem großen Gelehrten, der fast alle Gebiete des Kulturlebens mit feinstem Fingerspitzengefühl abzutasten vermochte, steckte ganz zuinnerst ein großes Stück urgermanischen Barbarentums, das manchmal tobend alle Hüllen sprengte.“ 79 Einig war sich Bonn mit Weber aber in der Auffassung, dass Bismarcks „Charakter das deutsche politische Leben vergiftet hat“, weil er „den Führern der deutschen Parteien jeden Anteil an der politischen Verantwortung verweigert“ habe. 80 Auch liest sich Bonns Beurteilung des deutschen Parlamentarismus und seine Kritik der Bürokratisierungstendenzen im Beamtentum als Analogon zu den Auffassungen Max Webers, freilich in rhetorisch gemäßigter Form. Wo Weber für die Politik gern Metaphern des Kampfes verwendete und bisweilen auch dämonische Kräfte am Werk sah, beharrte Bonn nüchtern darauf, dass Politik „die Kunst“ sei, „den Willen anderer dem eigenen Willen ohne Anwendung physischer Machtmittel gefügig zu machen“: „Die unvollkommene Ausbildung dieser Kunst beeinträchtigt den Glauben an die Staatsmaschine und den Glauben an die Aufgaben des Staates.“ 81 Stärker als Weber betonte Bonn, dass Politik die Sache der Bürger sei, und berührte damit den Aspekt der politischen Kultur und Partizipation. Das Fundament liberaler Politik lag für ihn im Freiheitswillen des Einzelnen. Im Rahmen seiner vehementen Verteidigung der Republik und ihres parlamentarischen Systems lassen sich drei Themenkreise herausarbeiten, denen Bonn ein besonderes Maß an Aufmerksamkeit widmete. 1. Zurückdrängung ständestaatlicher Tendenzen: Charakteristisch für Bonns Analyse der Weimarer Politik ist seine Warnung vor wirtschaftlicher Gruppenbildung oder – wie man heute formulieren würde – korporatistischer Interessenkonzentration. Bonn kritisierte keineswegs die Existenz von Verbänden, sondern ihre der demokratischen Kontrolle weitgehend entzogene Beeinflussung der Politik. 82 Bonn || 79 Bonn, So macht man Geschichte?, S. 61. In einem Brief an Theodor Heuss urteilte Bonn rückwirkend: „Es war ein Glück für ihn, dass er nicht in die tägliche praktische Politik kam; das Getriebe des parlamentarischen Systems hätte sein Temperament nicht ausgehalten. Man kann unendlich viel aus seinen Büchern lernen; sein Einfluss auf die akademische Jugend ist aber nicht in jeder Beziehung günstig gewesen. Ein Genie und eine Arbeitskraft wie er, der in drei Disziplinen, Jurisprudenz, Geschichte und Volkswirtschaft, zu Hause war, konnte Soziologie treiben. Für seine Jünger langte aber das Wissen nicht, um diese Methode anzuwenden.“ (Brief vom 19. April 1958, BA Koblenz, NL 1082/17a.) 80 Bonn, So macht man Geschichte?, S. 41. Vgl. auch schon Bonn, Schlußwort, S. 242, 247f. 81 Bonn, Die Auflösung des Staats, S. 122. 82 Bonn selbst wies rückblickend auf seine Kritik an der berufsständischen Demokratie während der Weimarer Republik hin: „’Die deutsche Demokratie ist eine Demokratie der Verbände, die deut-
26 | Einleitung: Moritz Julius Bonn – Liberale Krisendiagnostik in der Weimarer Demokratie wendet sich gegen eine Entpolitisierung der Wirtschaft, die sich darin zeigt, dass die Industriellen alle wirtschaftlichen als geschäftliche Fragen definieren wollten, für die in der Politik kein Platz sei. Seine Sorge galt dem Gebaren der Wirtschaftsverbände, deren Strategie darin bestehe, fundamentale Fragen der Wirtschaftsordnung einer öffentlichen Diskussion zu entziehen und somit unzulässige Entscheidungsinstanzen neben der Staatsgewalt zu schaffen. Bonn richtete sich in seiner Kritik an ständestaatlichen Tendenzen gegen dreierlei: Erstens kritisierte er die das Gemeinwohl umgehende Interessenpolitik der Wirtschaftsverbände. Zweitens bekämpfte er die zeitgenössischen Theorien eines organischen Staates auf der Grundlage von berufsständischer Vertretung, deren prominenter Exponent Othmar Spann war. Nicht nur konterkarierte die Ideologie eines hierarchisch geordneten Ständestaates den Grundsatz demokratischer Gleichheit. Auch musste jede ständestaatliche Form am Problem der angemessenen Repräsentation verschiedener Berufsgruppen scheitern, da niemand deren gestufte Relevanz objektiv bestimmen könne. 83 Die Verfechter des ständestaatlichen Ordnungsmodells wollten indes lediglich ihre eigenen Interessen zuungunsten breiter Mehrheiten privilegieren. Drittens sah Bonn im Klassenstandpunkt der Arbeiterbewegung ebenfalls eine Ständeorientierung, die sich erst langsam aufzulösen beginne. Die Vorstellung vom Klassenkampf wehrte Bonn aus offensichtlichen Gründen ab: Er sah in der Gegenüberstellung von Bourgeoisie und Proletariat eine grobe Vereinfachung und sprach selbst klassenübergreifend von Bürgern und „Konsumenten“. Dabei setzte er auf die weitere Verbürgerlichung der SPD, in deren Programmatik er das „geistig-politisch kulturelle Erbgut“ des Liberalismus erkannte. Wenn Bonn einen modernen „Gruppenstaat“ thematisierte, in dem der Einzelne sich immer weniger mit einer Interessengruppe, einem Verband oder einer Partei identifizieren könne, sondern in komplexen, verschiedenen Loyalitäten gebunden sei, so ging es ihm darum, die unterschiedlichen Gruppeninteressen wieder in Beziehung zu einem „lebendigen politischen Gemeinwohl“ zu setzen. 84
|| sche Republik ist eine Republik der Syndici’, schrieb ich vor gerade 25 Jahren.“ (Moritz Julius Bonn, Festrede in der Berliner Handelshochschule, 1949, Manuskript, 26 Seiten, BA Koblenz NL 82/11a, hier S. 10.) 83 „Kein Mensch kann“, so Bonn leicht ironisch, „mit sachlicher Genauigkeit bestimmen, welche Bedeutung den Baumwollspinnern und welche Bedeutung den Kesselflickern im wirtschaftlichen Leben der Nation zukommt. Soll die Zahl der Beschäftigten maßgebend sein, oder der Umfang des in der betreffenden Industrie angelegten Kapitals, oder der Wert der Produkte, die zum Absatz gelangen? Soll das heute bestehende Verhältnis dauernd gelten oder soll es mit jeder Veränderung der Konjunktur sich verschieben. Die Verteilung der Vertretung zwischen den verschiedenen Berufsgruppen muß daher immer willkürlich sein.“ (Bonn, Die Krisis der europäischen Demokratie, S. 186) 84 Vgl. Moritz Julius Bonn, Der neue Ständestaat. Gefahr der Durchsetzung der Parlamente durch die Berufsgruppen, in: Neue Freie Presse (Wien), 25. Dezember 1929.
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2. Reform des Kapitalismus: Wie so viele Ökonomen seiner Zeit sah auch Bonn im Aufkommen von Monopolen und Trusts eine wesentliche Gefährdung des Wirtschaftslebens. Begrifflich etwas unscharf erkannte Bonn parallel zu den oben beschriebenen Entpolitisierungstendenzen bei Industriellen die Absicht, „den Staat zu beherrschen und für ihre Zwecke auszunutzen“. 85 Auf der anderen Seite warnte Bonn vor der Gefahr eines schon in Ansätzen erkennbaren Staatssozialismus, der ganze Industriezweige bürokratisiere. Gegen derartige Rationalisierungsversuche des Stillstands stellte Bonn die Dynamik freien Unternehmertums und die Notwendigkeit des Risikos. Bonn hatte aber auch erkannt, dass es kein Zurück zur reinen Lehre des Manchesterkapitalismus geben konnte. „Die Organisation des Wirtschaftslebens als solche ist nur ein Mittel zur Freiheit, nicht Inhalt der Freiheit“, schrieb Bonn, der ökonomischen Doktrinarismus ablehnte. Jede Epoche, jede Stufe der sozioökonomischen Entwicklung stellte seiner Ansicht zufolge eine neue Herausforderung dar, „die Frage des Schutzes der persönlichen Freiheit auf wirtschaftlichem Gebiet mit neuen Methoden“ zu lösen. Bonn vertrat weiterhin den Grundsatz, dass „ohne wirtschaftliche Freiheit […] wirkliche persönliche Freiheit unmöglich“ sei. 86 Der Blick in die Vereinigten Staaten überzeugte ihn davon, dass der „Kapitalismus als soziales System“ allen anderen überlegen bleibt, solange er in der Lage ist, alle sozialen Gruppen dauerhaft am Wohlstand zu beteiligen. 87 Um dies zu gewährleisten, plädierte Bonn für eine faire Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie im Sinne sozialer Reformanstrengungen, um auch die Rechte der Arbeitnehmer zu sichern. 88 3. Aufgaben des Liberalismus: In der modernen Welt war der Liberalismus für Bonn diejenige „Weltanschauung, die sich in der praktischen Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens sieghaft durchgesetzt“ habe und für eine Zeit lang selbstverständlich geworden sei, „dadurch aber noch lange nicht überflüssig“. Liberale Werte – Freiheit des Einzelnen, Schutz vor staatlicher Willkür, Gewissens- und Meinungsfreiheit aller Bürger – sah Bonn aufs Neue gefährdet, insbesondere durch die allgemein beobachtbare Tendenz zur Diktatur. Das Aufkommen antiliberaler Strömungen signalisierte für Bonn allerdings keineswegs den Niedergang des Libe|| 85 „Ein Manchestertum ist aufgeblüht“, schreibt Bonn weiter, „das, nicht wie das alte Manchestertum von Menschheitsidealen erfüllt, sagt: der Staat soll seine groben Finger vom Wirtschaftsleben lassen, damit der Wettbewerb der freien Kräfte die Versorgung aller hebe und mehre. Es wünscht nicht die Freiheit der Freiheit, sondern die Freiheit des schrankenlosen Monopols.“ Siehe Moritz Julius Bonn, Die wahre Weltrevolution, in: Die Neue Rundschau 34 (1923), S. 385-394, hier S. 386. 86 Bonn, Die Zukunft des deutschen Liberalismus, in diesem Band S. 204. 87 Vgl. Bonn, Geld und Geist, S. 94-98. 88 Vgl. dazu auch die Würdigung seines Lehrers Lujo Brentano in Moritz Julius Bonn, Geleitwort: Lujo Brentano als Wirtschaftspolitiker, in: ders./Melchior Palyi (Hg.), Festgabe für Lujo Brentano zum 80. Geburtstag. Die Wirtschaftswissenschaft nach dem Kriege. Neunundzwanzig Beiträge über den Stand der deutschen und ausländischen sozialökonomischen Forschung nach dem Kriege. 2 Bde., Erster Band: Wirtschaftspolitische Ideologien, München/Leipzig 1925, S. 1-10.
28 | Einleitung: Moritz Julius Bonn – Liberale Krisendiagnostik in der Weimarer Demokratie ralismus: „Der Sieg der Diktatur hätte nur die Folge, dass der Liberalismus die Aufgaben, die er schon einmal gelöst hat, noch einmal lösen müsste. Mussolini und Lenin sind daher nicht die Überwinder des parlamentarischen Liberalismus, sie geben ihm im Gegenteil neue Ziele und neues Leben.“ 89 Der Liberale nahm in Kauf, „dass der Parlamentarismus, der auf einem demokratischen Wahlrecht beruht, ein Spiegelbild des Volkes und seiner Kräfte sein muss, das ihn sich geschaffen hat“. Denn es bleibt kein anderer Ausweg, als die sozialen, politischen und ökonomischen Konflikte im Modus der Verhandlung – als „Methode des bürgerlichen Regierens“ – auszutragen. Bonn verteidigte die Nüchternheit des Parlamentarismus gegen den Mythos des Staates und gegen den Wunderglauben an politische Heilslehren. Er verstand eine „Entseelung der Politik“ positiv als neue Wende zu Rationalität und Pragmatismus. Bürger und Parteien müssten nun lernen, „dass die praktischen Möglichkeiten der Politik heute weiter und größer sind, als sie je zuvor waren, und dass die Aufgabe, den eigenen Volksgenossen und den Bürgern dieser Welt ein menschenwürdiges Dasein zu schaffen – nicht durch bloßes Vertrauen auf die Wunderleistung einer Idee, sondern in zäher, praktisch gestaltender Arbeit – eine Aufgabe ist, die die politische Betätigung wohl lohnt. Mit innerer Hingebung ausgeübt, kann sie vollen Ersatz für die Leidenschaftlichkeit bieten, mit der man einmal Politik als Teil des Glaubens betrieb.“ 90 In einer Mischung aus Vertrauen und Hoffnung beschwor Bonn die Fähigkeit der Bürger, sich und ihre Institutionen durch Einsicht und Vernunft selbst zu verbessern. Gleichzeitig wusste er um die Begrenztheit rationaler Argumentation in einer von Ressentiments beherrschten Zeit: „Das Gefährliche solcher Gedankengänge, wie etwa die der deutschen Nationalsozialisten, ist nicht etwa, daß sie unrichtig sind und mit richtigen Argumenten widerlegt werden müssen, sondern daß sie Empfindungen entstammen, die nicht in der Ebene des Denkens, sondern in der des Fühlens gewachsen sind. Die große Gefahr der gegenwärtigen Krise liegt eben darin, daß sie zum guten Teil eine Empfindungskrise und keine Gedankenkrise ist. Denn Gedanken kann man mit Gedanken bekämpfen; Empfindungen aber nur mit veränderten Tatsachen.“ 91 Diese „Empfindungskrise“ verstand Bonn als unmittelbare Auswirkung des Ersten Weltkrieges, der zur beherrschenden Signatur des Zeitalters wurde. Das Kriegserlebnis erschütterte „seiner Natur nach alle Beziehungen der Gesellschaft“: „Das Zeitalter der Vernunft war vorüber. An seine Stelle war vorübergehend ein solches der Leidenschaft und des flammenden Glaubens getreten“, geprägt durch den „Geist der Gewalttätigkeit“ und die „Gewöhnung an die Gesetzlosigkeit“. 92 Zur Auf|| 89 Bonn, Die Zukunft des deutschen Liberalismus, S. 203. 90 Moritz Julius Bonn, Die Entseelung der Politik, in diesem Band S. 221. Vgl. auch den ganz ähnlichen Appell in Bonn, Die Krise des Parlamentarismus, S. 209-218. 91 Bonn, Sinn und Bedeutung der amerikanischen Krise, in diesem Band S. 297. 92 Bonn, Die Krisis der europäischen Demokratie, S. 159, 155, 162.
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gabe des Liberalismus gehörte für Bonn, dagegen die unbedingte Geltung der Rechtsstaatsidee zu vertreten, eine politische Kultur der Verständigung wiederzubeleben und durch umsichtige Wirtschaftspolitik die materielle Not zu lindern. Bonn hoffte wohl bis zum Schluss, dass mit einer Überwindung der Wirtschaftskrise auch die gesellschaftlichen Fliehkräfte gebändigt und eine politische Normalisierung eintreten würden. Er wusste darum, dass die kapitalistische Ordnung auf Sicherheit und Vertrauen beruht, und war der Überzeugung, dass nur die liberale Demokratie den Rahmen dafür bereitstellen konnte. In dieser Hinsicht blieb er dem liberalen Fortschrittsglauben des 19. Jahrhunderts verpflichtet.
Bonns Auseinandersetzung mit Faschismus und Nationalsozialismus Bonn hatte sich bereits in seiner Abhandlung über die „Krisis der europäischen Demokratie“ mit dem Faschismus beschäftigt und es nicht versäumt, auf die gefährliche Konjunktur kruder Rassentheorien hinzuweisen. 93 Sein zusammenfassender Beitrag zum Sammelband „Internationaler Faschismus“ (1928) war wegweisend, auch weil er sich nicht damit begnügte, den Faschismus in seinen Eigenschaften zu erörtern, sondern ihn als eine ernstzunehmende Herausforderung für die parlamentarische Demokratie begriff. Damit stellte sich ihm die Aufgabe, die antiliberalen Sympathisanten des Faschismus in Deutschland auch sachlich zu widerlegen. 94 Bonn konzentrierte sich auf den „gewalttätigen Gemeinschaftsbegriff“, der den Faschismus seinem Urteil zufolge prägte: „Der Faschismus erstrebt bewußt eine Volksgemeinschaft der Gleichgesinnten. Er hat weitgehendes Verständnis für die Tyrannei der primitiven Demokratie gegen stammesfremde Bestandteile, die vertrieben oder wesensgleich gemacht werden müssen.“ 95 Die faschistische Aneignung des Demokratiebegriffs war daher liberalen Werten fundamental entgegengesetzt. Der Faschismus versprach nämlich eine Gleichheit, die auf der Beseitigung des gesellschaftlichen Pluralismus beruhte: „Die Minderheit“, so legte Bonn die faschistische Strategie offen, „wird also ganz organisch zur Mehrheit werden, die störende Elemente unterdrückt oder einschmilzt und eine wahrhaft nationale Demokratie darstellt.“ 96 Notwendigerweise reflektierte Bonns Theorie des Faschismus auch dessen Entstehungsbedingungen. Drei Aspekte begünstigten seiner Auffassung nach den Auf|| 93 Siehe besonders Bonn, Die Krisis der europäischen Demokratie, S. 137-200. 94 Moritz Julius Bonn, Schlusswort, S. 227-248. – Die Bedeutung von Bonns Aufsatz wird auch daraus ersichtlich, dass sein Beitrag unter dem Titel „Das faschistische und das demokratische Prinzip“ als einzige deutsche Stimme des Liberalismus für einen Wiederabdruck aufgenommen worden ist in: Ernst Nolte, Theorien über den Faschismus, Köln 1972, 3. Aufl., S. 235-256. 95 Bonn, Schlusswort, S. 244. 96 Bonn, Schlusswort, S. 244.
30 | Einleitung: Moritz Julius Bonn – Liberale Krisendiagnostik in der Weimarer Demokratie stieg des Faschismus: Erstens könne sich der Faschismus „nur dort entwickeln, wo in den breiten Massen ein Bedürfnis nach Selbstregierung nicht besteht, sondern wo die Unterordnung unter einen fremden Willen historische Gewohnheit ist, dieses Gehorchen dem Einzelnen die Last der Selbstverantwortlichkeit abnimmt und ihm eine Sicherheit vor dem Sich-entschließen-müssen verleiht, die ihm bei einem selbsttätigen Wollen-müssen fehlt“. 97 Folglich leiste ein Defizit an demokratischrepublikanischen und rechtsstaatlichen Traditionen dem Erfolg faschistischer Bewegungen Vorschub. Zweitens erhielt der Faschismus während der Demobilisierungskrise nach dem Ersten Weltkrieg Zulauf aus jenen Gruppen, deren durch die Kriegspropaganda und Massenmobilisierung angeheizte Erwartungshaltungen enttäuscht worden waren. Die Anhänger des Faschismus hingen – paradoxerweise – selbst nach den schlimmsten Erfahrungen in den Schützengräben immer noch Kriegsromantiken an. Sich in den prosaischen Alltag einer notorisch konfliktgeschüttelten Zivilgesellschaft einzugliedern, dazu waren sie weder willens noch fähig. Nach Italien sah Bonn vor allem Deutschland gefährdet. Drittens schließlich machte Bonn die gesteigerten Ansprüche der Bürger an Politik und Staat verantwortlich: „Es würde um die Politik viel besser stehen, wenn man sich zu der bescheidenen Erkenntnis durchgerungen hätte, daß Regierungen durchaus imstande sind, ihre Völker totunglücklich [sic!] zu machen, daß aber, einerlei, welches ihre Zusammensetzung ist, die Beglückungsmöglichkeiten sehr gering sind. Der Glaube an die unbegrenzten Möglichkeiten des Regierens überhaupt ist die tiefste Ursache für die Kritik an den begrenzten Möglichkeiten der bestehenden Regierungen.“ 98 So war es denn für Bonn auch nur konsequent, wenn der italienische Faschismus nach seiner etatistischen Wende zum korporativ durchorganisierten Staat der Bevölkerung in Aussicht stellte, „von der Tätigkeit des Staates absolute wirtschaftliche Sicherheit erwarten zu können“. 99 Bonn erkannte durchaus die Macht der Ideologie und die Empfänglichkeit depravierter Bevölkerungsschichten für Versprechen, die irrationalistischen Heilsglauben und Radikalnationalismus mit antikapitalistischen bzw. antibürgerlichen Ressentiments verbanden. Sicherlich wirkte seine Deutung des Nationalsozialismus „als eine im höchsten Grade konjunkturempfindliche politische Erscheinung“ in mancherlei Hinsicht allzu funktionalistisch. Doch auch Bonn wusste, dass die nationalsozialistische Bewegung nicht „ausschließlich aus der Konjunktur zu begreifen“ ist. 100 Darüber darf man nicht vergessen, dass Bonn den Rassenantisemitismus des Nationalsozialismus ausführlich thematisierte. Er deutete den Nationalsozialismus einerseits als eine Protest- und Jugendbewegung, die vom Furor gegen die || 97 Bonn, Schlusswort, S. 237. 98 Moritz Julius Bonn, Die Krise des Parlamentarismus. Schwierigkeiten der Mehrheitsbildung und das Problem des Minderheitenschutzes, in: Neue Freie Presse, 3.1.1926, S. 2-4, hier S. 2. 99 Moritz Julius Bonn, Die Zukunft der Demokratie in Europa, in diesem Band S. 223. 100 Moritz Julius Bonn, Die Psychologie des Nationalsozialismus, in diesem Band S. 250.
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bestehenden Verhältnisse getrieben wird und deren Ablehnung der bürgerlichkapitalistischen Welt angesichts der Fehlleistungen der Vätergeneration eine gewisse Berechtigung besitze; auch in der für eine nationale Radikalisierung anfälligen, wirtschaftlich perspektivlosen Studentenschaft sieht Bonn nicht zu Unrecht einen wesentlichen Motor der Bewegung. 101 Andererseits ordnet Bonn den Nationalsozialismus durchaus in einen internationalen Zusammenhang ein und sieht in ihm das Phänomen einer tieferen Modernisierungskrise. Seine Seitenblicke auf den Ku-KluxKlan und verwandte rassistische Strömungen dienen ihm dazu, den Nationalsozialismus im Kontext der verschiedenen grassierenden irrationalistischen und biologistischen Ideologeme seiner Zeit einzuordnen. Darüber hinaus hatte sich Bonn mit Hitlers politischem Weltbild auseinandergesetzt und markierte frühzeitig dessen Wiener Herkunftsprägungen, vor allem den populären Antisemitismus, der von Karl Hermann Wolf, Georg von Schönerer und dem Bürgermeister Karl Lueger vertreten worden war. Auch wenn in Rechnung zu stellen ist, dass Bonn den Nationalsozialismus und seinen politischen Erfolg – aus heutiger Sicht – sehr freihändig und eklektizistisch interpretiert, lässt sich dieser zeitgenössischen Deutung noch einiges abgewinnen. In nuce finden wir bei Bonn die Stationen eines deutschen Sonderwegs – der Feudalismus, eine protestantische Staatsvergottung, der Widerstand gegen das römische Recht, aber auch der Nationalismus des deutschen Liberalismus und die „Deutschtümelei“ der Achtundvierziger waren für Bonn Faktoren, die auf das Ideenkonglomerat des Nationalsozialismus wirkten. Mit Hintersinn rekurriert Bonn auf Heinrich Heine und reproduziert nicht zuletzt dessen ironischen Ton, um die Absurdität nationalsozialistischer Ideologeme vorzuführen: „Die Idee des auserwählten Volkes ist, um in der Sprache der Nationalsozialisten zu reden, eigentlich eine jüdische Erfindung, ebenso wie die Führersehnsucht und die Vorstellung eines Stammesgottes. Die Nationalsozialisten haben nur einen altjüdischen Jehova ins Germanische übersetzt und seinen Bart blond gefärbt.“ Bonns mokant vorgetragene These, die „Rassenlehre als Stammbaum der Demokraten“ bzw. als Demokratisierung aristokratischer Arroganz zu verstehen, verrät aber auch das Selbstbewusstsein des liberalen Bürgers, der in der Tradition von Tocqueville und Mill zur Massendemokratie und zum Demokratiebegriff insgesamt ein ambivalentes Verhältnis pflegte: Demokratisierung verstanden als bloßer Ausdruck von Begehrlichkeiten der Masse, ohne institutionelle Vermittlung und Repräsentation, ohne Verbindung zu liberalen Ideen, trug stets die Gefahr des geistlosen Konformismus und einer Tyrannei der Mehrheit in sich.
|| 101 Moritz Julius Bonn, Die Radikalisierung der deutschen Jugend, in diesem Band S. 259-261.
32 | Einleitung: Moritz Julius Bonn – Liberale Krisendiagnostik in der Weimarer Demokratie Der Blick nach Amerika Bonns Sympathie, seine Faszination für die USA ließen die ebenfalls spürbaren alteuropäisch-kulturkritischen Reserven in den Hintergrund treten. Er war ein Bewunderer der amerikanischen Demokratie, und seine Faszination für die „neue Welt“ konnte dem Leser seiner Amerikastudien nicht entgehen. Wenn Bonn einmal sein Hauptanliegen dahingehend beschrieb, „dem deutschen Volke die angelsächsische Welt und den angelsächsischen Völkern Deutschland nahezubringen“ 102, so lag darin die politische Absicht, Deutschland im Westen zu verankern und gleichzeitig in Großbritannien und den USA Vorurteile gegenüber den deutschen obrigkeitsstaatlichen und antidemokratischen Traditionen abzubauen. Es wird aber auch die Asymmetrie seiner Bemühungen deutlich, denn er trieb weitaus mehr Aufwand, gerade in den Weimarer Jahren für die liberale Tradition Amerikas (und übrigens auch Großbritanniens 103) zu werben, während er in den 1930er und 1940er Jahren sich darauf konzentrierte, über Politik und Ökonomie des nationalsozialistischen Deutschlands aufzuklären. Die Auseinandersetzung mit Amerika eröffnete die Perspektive für die zivilisatorischen Möglichkeiten eines demokratischen Kapitalismus, dessen Kraft Bonn rühmte. Amerika war angesichts seiner Größe, seiner Vielgestaltigkeit, seiner kulturellen und ethnischen Vielfalt beispielgebend für die integrative Kraft der liberalen Demokratie, weil die amerikanische Entwicklung zeigte, auf welche Weise Klassen- und Nationalitätenkonflikte durch demokratische Lebensform und individuelles Freiheitsstreben überwunden werden konnten. Auch aufgrund der amerikanischen Erfahrung kam Bonn zu der Überzeugung, dass liberale Demokratie in modernen Massengesellschaften möglich sei. In der amerikanischen Gesellschaft sah Bonn den „Versuch, die Leitgedanken zu verwirklichen, die dem europäischen Liberalismus in seiner großen Zeit vorgeschwebt haben“. 104 Dabei sei man in den Vereinigten Staaten „nicht gewohnt, die Entwicklung der Dinge den immanenten Gesetzen zu überlassen. Was man will, das tut man selber.“ 105 Diese Mentalität hatte für Bonn vorbildlichen Charakter, und er verstand sich vor allem in den Weimarer Jahren als werbender und erklärender Interpret amerikanischer Entwicklungen. Der Rang von Bonns Diagnosen wurde dadurch dokumentiert, dass sich seine Amerikastudien ebenfalls auf dem angloamerikanischen Buchmarkt bewährten. 106 Harold Laski rühmte ihn als den besten Amerika-
|| 102 Bonn, So macht man Geschichte, S. 361. 103 Vgl. etwa Moritz Julius Bonn, Die beiden England, in: Die Neue Rundschau 40 (1929), S. 433443; ders., Die Europäisierung Englands, in: Die Neue Rundschau 40 (1929), S. 721-732. 104 Bonn, Geld und Geist, S. 188f. 105 Moritz Julius Bonn, Sinn und Bedeutung der amerikanischen Krise, S. 293. 106 Übersetzungen erschienen in kurzer Folge: Moritz Julius Bonn, Prosperity. Myth and Reality in American Economic Life, London: Hopkinson, 1931; ders., The Crisis of Capitalism in America, New
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Interpreten seit Tocqueville, und auch Ernst Fraenkel – selbst ein renommierter Amerika-Experte – sah in Bonn rückblickend den „vielleicht beste[n] sozialwissenschaftliche[n] Amerika-Kenner der Weimarer Periode“, der überdies berufen gewesen wäre, „die große deutsche Wilson-Biographie zu schreiben“. 107 „Amerikanismus“, so der Historiker Detlev Peukert, „avancierte in den zwanziger Jahren zur Chiffre für vorbehaltlose und bindungslose Modernität. Die öffentliche Auseinandersetzung über ‚Amerika‘ meinte die eigene Kultur und ihre Herausforderung durch die Moderne.“ 108 Zugleich verhieß nicht nur Ökonomen, sondern auch Sozialwissenschaftlern die Beschäftigung mit Amerika einen Blick in die Zukunft. Bonn war in vielerlei Hinsicht ein Künder dieser Modernität, wenn er auch keineswegs die Schattenseiten amerikanischer Prosperität und die Missstände in der amerikanischen Gesellschaft unterschlug. Amerika konnte aus mehreren Gründen als Lehrbeispiel für die junge deutsche Republik dienen: Erstens strich Bonn den Egalitarismus einer klassenlosen Gesellschaft heraus; die Abwesenheit sozialer Barrieren und die vor allem in der Arbeitswelt zu beobachtenden flachen Hierarchien hoben sich wohltuend vom milieu- und berufsstandgeprägten Klassenbewusstsein in Deutschland ab. Soziale Durchlässigkeit, Aufstiegschancen, die offene Gesellschaft – dies alles fand Bonn nachahmenswert: „Es gibt in Amerika keine Stände, es gibt nur Stufen. Der einzelne steigt, seinen Fähigkeiten und seinem Glück entsprechend, hinauf und hinab. Er hat keine Rechte auf eine einmal erworbene Lebenshaltung.“ 109 Zweitens schätzte Bonn die breite Verankerung des Kapitalismus in einer Gesellschaft der Anteilseigner und kaufkräftigen Konsumenten, da so die Profite und der gesamtgesellschaftliche Wohlstand besser verteilt würden. In Amerika würde sichtbar, so argumentierte Bonn immer wieder, dass die Dynamik des Kapitalismus eben doch eine Hebung des Lebensniveaus aller Bevölkerungsschichten bewerkstelligen könne, auch wenn die ökonomische Entwicklung mit Krisen verbunden bleibe, die nun einmal zum Wesen der freien Marktwirtschaft gehörten. Drittens meinte Bonn in Amerika den wahren „Triumph des Liberalismus“ zu sehen, || York: Day, 1932; ders., The American Experiment. A Study of Bourgeois Civilisation, London: Allen&Unwin, 1933. 107 Harold Laski, America in Perspective, in: The New Statesman and Nation, 26. Dezember 1931, S. 817; Ernst Fraenkel, Das deutsche Wilsonbild (1960), in: ders., Gesammelte Schriften. Bd. 4: Amerikastudien, Baden-Baden 2000, S. 362, 407. – Ein Rezensent der Vossischen Zeitung hielt Bonns Arbeiten für „das Lehrreichste […], was über Amerika von deutscher Seite bisher geschrieben wurde. Wer Bonns Stil kennt, braucht sich an dem Ausdruck ‚lehrreich‘ wahrhaftig nicht zu stoßen. Geistreicher und amüsanter für den Geistreichen schreibt keiner unter den Zünftigen.“ (Vossische Zeitung, 16. Oktober 1927) Auch der Rezensent des Times Litarary Supplement (24. Mai 1928) lobte den Essay „Geld und Geist“: “The book is rich in fascinating details, some of which are new and some original.“ 108 Detlev Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne, Frankfurt/M. 1987, S. 179. 109 Bonn, Amerikanische Prosperität, in diesem Band S. 272.
34 | Einleitung: Moritz Julius Bonn – Liberale Krisendiagnostik in der Weimarer Demokratie denn die amerikanische Zivilisation beginne „sich in eine altruistisch-soziale umzubiegen, ohne die individualistischen Grundlagen zu verlassen. Sie erstrebt eine Gesellschaft, die nicht länger durch Furcht, sondern durch Gemeinschaftsstreben zusammengehalten wird.“ 110 Bonns Hoffnung auf die Lösung der „großen Probleme der materiellen Welt“ gründete sich darauf, „den privaten Kapitalismus als soziales System im Interesse der Volksgemeinschaft zu verwenden“. 111 Diese für Liberale überraschende Gemeinschaftssemantik bietet einen weiteren Beleg dafür, wie vielfältig die Wege waren, um hergebrachte Vorstellungen von Individualismus und Kapitalismus zu überwinden. 112 Vor dieser Kontrastfolie hoben sich die Defizite des deutschen Kapitalismus umso drastischer ab: Aus Bonns Sicht herrschte in Deutschland noch das „Ideal der kundenfreien Wirtschaft“ 113; der deutsche Kapitalismus hatte „die Idee der Zunft und des Ständestaats nie völlig überwunden“ und hielt gleichzeitig an einem Trugbild „risikoloser Wirtschaft“ fest. 114 Bonn machte überall staatssozialistische Tendenzen aus und hielt ihnen mit Blick auf Amerika entgegen: „Ein Kapitalismus, der nicht verlieren kann, ist lebensunfähig, weil überflüssig.“ 115 Es ist bemerkenswert, in welcher Weise die Begeisterung für Amerika Bonn, der in seiner Analyse der deutschen Politik stets als skeptischer Realist auftrat, zu einem Idealisten machte, der an die Macht der politischen Idee glaubte. Auf den Spuren von Tocqueville vermochte er den egalitär-demokratischen Charakter des amerikanischen Lebens seinen Lesern vor Augen zu führen, indem er die von Europa abweichenden Sitten und Gebräuche, die deutlich unterscheidbaren Umgangsformen und Auffassungen in Arbeits- und Alltagswelt in ihren Effekten schilderte. Gerade weil Bonn um die unausweichliche politische Steuerungsfunktion des modernen Staates wusste, war es ihm wichtig, auf die Tradition der amerikanischen Demokratie zu verweisen, die stets die Macht der Regierung in Schranken zu halten suchte. Die in Amerika verbreitete staatsskeptische Befürchtung, „eine mächtige Regierung müsse despotisch sein und unter dem Vorwand, die Menschen zu beglücken, sie zu versklaven suchen“, hielt Bonn zumindest für ein wichtiges Regulativ im Zeitalter eines etatistischen Machbarkeitsdenkens. 116
|| 110 Bonn, Geld und Geist, S. 185f. 111 Ebenda, S. 189. 112 Zur verbreiteten Verwendung des Begriffs „Volksgemeinschaft“ im liberalen und demokratischen Lager der 1920er Jahre vgl. Wolfgang Hardtwig, Volksgemeinschaft im Übergang. Von der Demokratie zum rassistischen Führerstaat, in: Detlef Lehnert (Hg.), Gemeinschaftsdenken in Europa. Das Gesellschaftskonzept „Volksheim“ im Vergleich 1900-1938, Köln 2013, S. 227-253. 113 Moritz Julius Bonn, Das Schicksal des deutschen Kapitalismus. Neue erweiterte Ausgabe, Berlin 1930, S. 55. 114 Bonn, Das Schicksal des deutschen Kapitalismus, S. 73, 95ff. 115 Ebenda, S. 51. 116 Bonn, Zum 150. Jubiläum der Unabhängigkeitserklärung, S. 265.
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Der Blick auf Amerika verdeutlichte Bonn auch, in welcher Weise sich die herkömmliche Arbeitsgesellschaft wandelte und was der demokratische Nutzen, aber auch die gesellschaftlichen Risiken sein würden, wenn wirtschaftliche Prosperität allein zu Ziel und Zweck der Politik avancierten. Zum einen würdigte Bonn die emanzipative Kraft des ökonomischen Fortschritts in den USA, da die Hebung des Lebensstandards samt technischer Innovationen insgesamt für eine Befreiung von harter Arbeit und für eine Befriedigung der alltäglichen Bedürfnisse sorgten. Zum anderen erkannte Bonn, dass mit einer solchen Entlastung, mit Arbeitszeitverkürzung und steigendem Wohlstand sich für eine Gesellschaft die Frage stellte, was denn mit der gewonnenen Muße und der neuen Freiheit anzustellen sei. 117 Im Sinne der klassischen politischen Ökonomie problematisiert Bonn also durchaus die ethischen Legitimationsgründe von Politik. Die Vereinigten Staaten werden für Bonn gewissermaßen zum Laboratorium eines krisenanfälligen demokratischen Kapitalismus, der sich über seine eigenen Bestandsvoraussetzungen aufzuklären hat, insbesondere unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise. Bonn neigte auch hier zur dramatischen Tonlage, und es war nicht immer offensichtlich, inwiefern er eigene wirtschaftsliberale Positionen revidierte oder seine Formulierungen auf rhetorische Effekte anlegte. Zweifelte er wirklich die Überlebensfähigkeit des Kapitalismus an, wenn er den Sinn und die Bedeutung der amerikanischen Krise darin sah, „daß heute nicht etwa nur die gegenwärtige amerikanische Wirtschaftsführung oder die herrschende amerikanische Wirtschaftspolitik, sondern daß das ganze kapitalistische System als solches in Frage gestellt“ würde? 118 Immerhin stellte Bonn gleich im nächsten Absatz klar, dass es sich eben nicht um eine „Gedankenkrise“, sondern um eine „Empfindungskrise“ handle – dies implizierte, dass eigentlich keine grundsätzliche Revision der Prämissen eines demokratischen Kapitalismus nötig war. Gleichwohl hatte die Demokratie im Kapitalismus in mehrerlei Hinsicht ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis zu stellen: Erstens musste sie weiterhin das Versprechen erfüllen, alle Schichten gleichermaßen an Wohlstand und Fortschritt zu beteiligen. Sie musste zweitens die Segregation überwinden und die Rassendiskriminierung beenden, d.h. auch in politischer und kultureller Hinsicht die Aussicht auf Gleichberechtigung lebendig halten. „Amerikanisierung“, das bedeutete für Bonn „das Zusammenleben aller Völker und Völkermischungen unter rechtlich gleichen Bedingungen, das zu einer Angleichung durch gemeinsame Institutionen, gemeinsame Schule und gemeinsames Schicksal mittels der englischen Sprache führt“. 119 Die amerikanische Demokratie musste drittens ihrer gewachsenen internationalen Verantwortung politisch und ökonomisch gerecht werden, um als Weltmacht besonders in Europa für die
|| 117 Siehe dazu vor allem Bonn, Amerikanische Prosperität. 118 Bonn, Sinn und Bedeutung der amerikanischen Krise, S. 297. 119 Bonn, Amerika und sein Problem, S. l64f.
36 | Einleitung: Moritz Julius Bonn – Liberale Krisendiagnostik in der Weimarer Demokratie Stabilisierung der westlichen Demokratie zu wirken, die auch einem wirtschaftlichen Eigeninteresse entsprach; sie konnte sich nach Auffassung Bonns keinen Isolationismus mehr leisten, weil sie zu sehr mit dem internationalen Wirtschaftssystem verflochten und mittlerweile zur größten Gläubigernation geworden war. Daraus leitete Bonn viertens eine konsequente Haltung gegenüber dem kommunistischen Russland ab und kritisierte die Handelsbeziehungen zur Sowjetunion. Der amerikanische Kapitalismus vergesse dabei, „daß man Arbeiter verbürgerlichen kann, deren Ideal der Aufstieg in die bürgerliche Welt ist, daß man aber Fanatiker, die der bürgerlichen Weltauffassung den Krieg angesagt haben, nur die Kriegführung erleichtert, wenn man sie mit den Waffen bürgerlicher Technik ausstattet“. 120 Bonns Haltung zu Amerika war durchaus auch von Enttäuschungen und Zweifeln geprägt. Bereits der linkskatholische Nationalökonom Götz Briefs erkannte in einem Rezensionsaufsatz, dass bei Bonn stets „hohe Erwartungen und Skepsis miteinander“ rangen. Briefs wies auch auf ein Paradoxon von Bonns Analyse des amerikanischen Kapitalismus hin, das die Widersprüchlichkeit der kapitalistischen Ökonomie insgesamt traf: „Wirtschaftliche Prosperität ist die Wurzel der politischen Erstarrung; der amerikanische politische Idealismus ‚zieht sich besorgt auf das eigene Ich zurück‘ – im Augenblick stärkster kapitalistischer (und moralischer) Verflechtung des Landes mit den Geschicken der alten Welt! Dieselbe Prosperität, die politisch erschlaffend wirkt, befriedet die sozialen Verhältnisse; die Demokratisierung der Bedürfnisse hat unerhörte Fortschritte gemacht.“ 121 Der Erfolg eines demokratischen Kapitalismus wirkte ambivalent, indem soziale Pazifizierung und Zivilisierung mit einer gewissen „politischen Erschlaffung“, dem Verlust von Entwicklungsdynamik und dem Rückzug auf eine isolationistische Position einhergehen konnten. 122 Stellt man in Rechnung, dass auch die rasanten Entwicklungen in den USA nach dem Ersten Weltkrieg ungeheuren Schwankungen unterworfen waren, so wird Bonns zwiespältige Position verständlich: Wilsons mangelndes Vermögen, seine hochfliegenden Pläne für die Friedensordnung und den Völkerbund auch nur ansatzweise zu verwirklichen; die kulturelle Dominanz der Temperenzler während der Zeit der Prohibition; der Einfluss des Kreationismus und insgesamt die geistige Macht der protestantischen Sekten; der Rassismus in den Südstaaten und die Ausbreitung des Ku-Klux-Klans in den 1920er Jahren, die Auswirkungen des Börsencrashs 1929 – all diese Faktoren trübten Bonns Amerikabild. Doch waren seine Beschäftigung mit Amerika und sein Werben für den demokratischen Kapitalismus am Ende von der Überzeugung getragen, dass die Vereinigten Staaten nicht nur beispielgebend für die europäischen Demokratien, sondern realpolitisch der Garant für das Überleben der liberalen Demokratie insgesamt waren. Für Bonn || 120 Bonn, Sinn und Bedeutung der amerikanischen Krise, S. 302. 121 Götz Briefs, Amerika und sein Geheimnis. Zu Bonns Buch „Geist und Geld“, in: Berliner Tageblatt, 11. Oktober 1927. 122 Siehe Bonn, Geld und Geist, S. 50ff.
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stand die Unumkehrbarkeit der in den USA beobachtbaren Entwicklungen fest: „Da der Weg der Entrechtung der Masse nicht gangbar ist und da es ein Zurück von der Demokratie nicht gibt, muß der Kapitalismus demokratisch werden.“ 123 Mit den USA verteidigte Bonn auch das Versprechen der Demokratie und der Freiheit. Nichts zeigte Bonns Treue zur demokratischen Verheißung Amerikas deutlicher als seine Erinnerung an die Unabhängigkeitserklärung, als er angesichts neuer Bedrohungen der Freiheit den Geist der Founding Fathers beschwor: „Und wenn neue Mächte heute an der Arbeit sind, neue Ketten zu schmieden, die den menschlichen Willen bändigen und das menschliche Freiheitssehnen töten wollen, so ist der Same, der damals ausgestreut worden ist, in die Herzen aller Völker zu tief eingesunken, als daß er nicht immer wieder von neuem aufgehen werde.“ 124
Editorische Notiz und Dank Für diese Auswahl wurden ausschließlich auf Deutsch verfasste Texte von Moritz Julius Bonn berücksichtigt. Alle Beiträge sind ungekürzt, die Zwischenüberschriften folgen dem Erstabdruck, die Kursivierungen ersetzen den damals üblichen gesperrten Druck. Die alte Rechtschreibung wurde beibehalten, die Orthographie und Zeichensetzung jedoch in einigen Fällen stillschweigend verbessert: offensichtliche Fehler wurden korrigiert, die Umlaute als Großbuchstaben wieder hergestellt und die Interpunktion heutigen Lesegewohnheiten angepasst. Die Anmerkungen sind diejenigen Bonns, die Kommentierungen des Herausgebers – in eckigen Klammern – wurden auf ein Mindestmaß beschränkt. Der erste Dank gebührt Prof. Dr. Harald Bluhm, dem Herausgeber der „Schriften zur europäischen Ideengeschichte“, für sein Interesse an diesem Band und die Bereitschaft, ihn in die Schriftenreihe aufzunehmen, auch wenn es sich im Vergleich mit Tocqueville, Bentham, Mill u.a. bei Moritz Julius Bonn nicht um einen eingeführten Klassiker der politischen Ideengeschichte handelt. Seine Unterstützung meiner Arbeit an diesem Band ist allerdings nur ein Aspekt in einer mittlerweile lang andauernden intellektuellen Förderung, die bis in gemeinsame Zeiten an der Berliner Humboldt Universität zurückreicht. Sein freundschaftlicher Rat, seine Ideen und Anregungen sind für mich stets besonders wertvoll. Ich danke meinem Arbeitgeber, dem Hamburger Institut für Sozialforschung und seinem Vorstand Herrn Prof. Dr. Jan Philipp Reemtsma, für die Förderung dieser Edition und die Nutzung der hier vorhandenen Ressourcen. Dabei gilt ein spezieller Dank meinem Kollegen Christoph Fuchs, dem stellvertretenden Leiter der Institutsbibliothek. Nicht nur hat er über die Jahre alle möglichen Texte Bonns ausfindig || 123 Bonn, Das Schicksal des deutschen Kapitalismus, S. 46. 124 Bonn, Zum 150. Jubiläum der Unabhängigkeitserklärung, S. 270.
38 | Einleitung: Moritz Julius Bonn – Liberale Krisendiagnostik in der Weimarer Demokratie gemacht, er hat auch einen Großteil der Texte digitalisiert, die gesamten Beiträge Korrektur gelesen und kommentiert. Überdies ist er in den vergangenen Jahren immer ein wichtiger Gesprächspartner und Impulsgeber für mich gewesen. Monika Schumacher hat vier längere Texte mit Sorgfalt und Umsicht transkribiert. Myriam Gröpl hat gemeinsam mit Tobias Schottdorf mit Kompetenz und Überblick die Druckvorlage eingerichtet sowie das Personenregister erstellt. Für das Engagement und die große Hilfe bedanke ich mich bei beiden sehr. Meiner Schwester Vera Hacke gebührt ein herzlicher Dank für die Korrektur des gesamten Manuskripts. Weiterhin bedanke ich mich sehr herzlich bei Prof. Dr. Ewald Grothe, Leiter des Archivs des Liberalismus, für die genaue Durchsicht des gesamten Manuskripts sowie für die zahlreichen fruchtbaren Gespräche über Moritz Julius Bonn und die Ideengeschichte des Liberalismus. Last but not least geht ein sehr herzlicher Dank an Prof. Dr. Hans-Christoph Schröder, dessen freundschaftlicher Rat mich seit Ende meines Studiums begleitet und der Einleitung und Texte dieses Bandes Korrektur gelesen hat. Seine Hinweise und Anregungen haben mir in den letzten Jahren geholfen, seine Ermutigung und sein Interesse sind für mich immer eine wichtige Motivationsressource gewesen.
Hamburg im April 2015
Jens Hacke
Moritz Julius Bonn: Auswahlbibliographie Über Moritz Julius Bonn Clavin, Patricia: A ‘Wandering Scholar‘ in Britain and the USA 1933-1945. The Life and Work of Moritz Bonn, in: Anthony Grenville (Hg.): Refugees from the Third Reich in Britain. Amsterdam/New York 2003, S. 27-42. Gordon, Rob: Moritz Bonn, Southern Africa and the Critique of Colonialism, in: African Historical Review 45 (2013), Heft 2, S. 1-30. Hacke, Jens: Moritz Julius Bonn – ein vergessener Verteidiger der Vernunft. Zum Liberalismus in der Krise der Zwischenkriegszeit, in: Mittelweg 36, 17. Jg. (2010), Heft 6, S. 26-59. Hacke, Jens: Ein vergessenes Erbe des deutschen Liberalismus. Über Moritz Julius Bonn, in: Merkur 65 (2011), S. 1077-1082. Hacke, Jens: Liberale Krisendiagnosen in der Zwischenkriegszeit. Moritz Julius Bonn und Alfred Weber, in: Zeithistorische Forschungen 9 (2012), Heft 3, S. 477-483. Hacke, Jens: Liberale Alternativen für die Krise der Demokratie. Der Nationalökonom Moritz Julius Bonn als politischer Denker im Zeitalter der Weltkriege, in: Jahrbuch zur LiberalismusForschung 26 (2014), S. 295-318. Lotz-Heumann, Ute: A ‚Wandering Scholar‘ and his Interpretation of Ireland. Moritz Julius Bonn and Die englische Kolonisation in Irland, in: Vincent P. Carey/Ute Lotz-Heumann (Hg.), 'Taking Sides? Colonial and Confessional Mentalités in Early Modern Ireland. Essays in Honour of Karl S. Bottigheimer, Dublin 2003, S. 291-303. 0DOWHU$OH[DQGHU0RULW]-XOLXV%RQQ–3XEOL]LVWI¾UGHQ/LEHUDOLVPXV LQOLEHUDO +HIW 6
Selbständige Schriften Spaniens Niedergang während der Preisrevolution des 16. Jahrhunderts, Stuttgart: Cotta, 1896, 199 Seiten. Die englische Kolonisation in Irland, Stuttgart/Berlin: Cotta, 1906, 320 Seiten. Die Eingeborenenpolitik im britischen Südafrika (Volkswirtschaftliche Zeitfragen, Heft 236/237), Berlin: Leonhard Simion, 1908, 57 Seiten. Nationale Kolonialpolitik (Schriften des Socialwissenschaftlichen Vereins der Universität München, Heft 5), München: Rieger, 1910, 32 Seiten. Die Neugestaltung unserer kolonialen Aufgaben. Festrede, gehalten bei der Akademischen Feier der Handelshochschule München anläßlich des 90. Geburtsfestes Seiner Königlichen Hoheit des Prinzregenten Luitpold von Bayern am Dienstag den 7. März 1911, Tübingen: Mohr, 1911, 48 Seiten. German War Finance, New York: German University League, 1916, 37 Seiten. Amerika als Feind, München/Berlin: Georg Müller, 1917, 107 Seiten. Was will Wilson?, München: Georg Müller, o.J. [1918], 113 Seiten. Irland und die irische Frage, München: Duncker & Humblot, 1918, 268 Seiten. Der Kaufmann und der Wiederaufbau des Wirtschaftslebens (Vortrag), Schriften des Verbandes der am Übersee- und Großhandel beteiligten Firmen, Wien-Triest, Nr. 2, Wien: Manz, 1918, 23 Seiten. Herrschaftspolitik oder Handelspolitik, München/Leipzig: Duncker & Humblot, 1919, 46 Seiten. Gerechtigkeit, München: Ernst Reinhardt, 1919, 42 Seiten. Mußte es sein? 3. völlig umgearbeitete und stark erweiterte Ausg. von „Amerika als Feind“, München: Georg Müller, 1919, 147 Seiten.
40 | Moritz Julius Bonn: Auswahlbibliographie Völkerbund und auswärtige Politik, Gotha: Perthes, 1920, 26 Seiten. Die Auflösung des modernen Staats, Berlin: Verlag für Wissenschaft und Politik, 1921, 44 Seiten. Die Stabilisierung der Mark. Berlin: Verlag für Wirtschaft und Politik, 1922, 60 Seiten. Die Krisis der europäischen Demokratie, München: Meyer & Jessen, 1925, 155 Seiten. Amerika und sein Problem, München: Meyer & Jessen, 1925, 176 Seiten. Das Schicksal des deutschen Kapitalismus, Berlin: S. Fischer, 1926, 63 Seiten (2. erw. Auflage 1930, 133 Seiten). Geld und Geist. Vom Wesen und Werden der amerikanischen Welt, Berlin: S. Fischer, 1927, 191 Seiten. Befreiungspolitik oder Beleihungspolitik?, Berlin: S. Fischer, 1928, 138 Seiten. Der neue Plan als Grundlage der deutschen Wirtschaftspolitik, München/Leipzig: Duncker & Humblot, 1930, 266 Seiten. Die Kultur der Vereinigten Staaten von Amerika, Berlin: Volksverband der Bücherfreunde, 1930, 304 Seiten. „Prosperity“. Wunderglaube und Wirklichkeit im amerikanischen Wirtschaftsleben, Berlin: S. Fischer, 1931, 177 Seiten. Kapitalismus oder Feudalismus?, Berlin: S. Fischer, 1932, 47 Seiten. Währungsprojekte – und warum?, Berlin: S. Fischer, 1932, 55 Seiten. Economics and Politics (Barbara Weinstock lectures on the morals of trade, University of California), Boston/New York: Houghton Mifflin, 1932, 36 Seiten. The Crumbling of Empire. The Disintegration of World Economy, London: Allen & Unwin, 1938, 432 Seiten. Wealth, Welfare or War. The Changing Role of Economics in National Policy, Paris: International Institute of Intellectual Co-operation, League of Nations, 1939, 50 Seiten. Wandering Scholar, London: Cohen & West, 1949, 403 Seiten. Whither Europe – Union or Partnership?, London: Cohen & West, 1952, 207 Seiten. So macht man Geschichte? Bilanz eines Lebens, München: List, 1953, 410 Seiten.
Aufsätze Die irische Agrarfrage I-III, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 19 (1904), S. 141-172; 20 (1905), S. 554-576; 577-609. Siedlungsfragen und Eingeborenenpolitik (I und II), in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 31 (1910), S. 383-420, 810-830. Eine neue Wissenschaft?, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 33 (1911), S. 842-852. Die Organisation des britischen Weltreichs, in: Grundfragen der englischen Volkswirtschaft (Veröffentlichungen der Handelshochschule München), 1. Heft, München/Leipzig: Duncker & Humblot, 1913, S. 61-125. Der moderne Imperialismus, in: Grundfragen der englischen Volkswirtschaft (Veröffentlichungen der Handelshochschule München), 1. Heft, München/Leipzig: Duncker & Humblot, 1913, S. 127-156. Die Idee der Selbstgenügsamkeit, in: Festschrift für Lujo Brentano zum siebzigsten Geburtstag, München/Leipzig: Duncker & Humblot, 1916, S. 47-72. Die deutsche Politik in Versailles, in: Die Neue Rundschau 30 (1919), S. 1409-1426. Die Krise des deutschen Staates, in: Die Neue Rundschau 33 (1922), S. 561-572. Die wahre Weltrevolution, in: Die Neue Rundschau 34 (1923), S. 385-394. Zur Krise der Demokratie, in: Die Neue Rundschau 36 (1925), S. 337-351.
Moritz Julius Bonn: Auswahlbibliographie | 41 Die Vereinigten Staaten, in: Paul Herre (Hg.), Weltgeschichte. Die Entwicklung der Menschheit in Staat und Gesellschaft, in Kultur und Geistesleben, Bd. 7: Neueste Zeit 1890-1925, Teil 1, Berlin: Ullstein, 1925, S. 357-372. Das internationale Schuldenproblem, in: Industrie- und Handelskammer zu Berlin (Hg.), Das Werden in der Weltwirtschaft, Berlin: G. Stilke, 1926, S. 77-98. Die Zukunft des deutschen Liberalismus, in: Europäische Revue 2 (1926), S. 260-268. Die Gegenkolonisation, in: Die Neue Rundschau 37 (1926), S. 225-232. Rationalisierung als finanzielles Problem, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 56 (1926), S. 289-301. Amerikanische Prosperität, in: Die Neue Rundschau 38 (1927), S. 561-585. Die Krise des Parlamentarismus, in: Interparlamentarische Union (Hg.), Die gegenwärtige Entwicklung des repräsentativen Systems. Fünf Antworten auf eine Rundfrage der Interparlamentarischen Union, Berlin: Carl Heymanns Verlag, 1928, S. 95-106. Schlusswort, in: Carl Landauer/Hans Honegger (Hg.), Internationaler Faschismus. Beiträge über Wesen und Stand der faschistischen Bewegung und über den Ursprung ihrer leitenden Ideen und Triebkräfte, Karlsruhe: Braun, 1928, S. 127-150. Wollen, Sollen, Können, in: Die Neue Rundschau 39 (1928), S. 625-635. Die beiden England, in: Die Neue Rundschau 40 (1929), S. 433-443. Die Europäisierung Englands, in: Die Neue Rundschau 40 (1929), S. 721-732. Die neue Feudalität, in: Die Neue Rundschau 41 (1930), S. 433-445. Sinn und Bedeutung der amerikanischen Krise, in: Die Neue Rundschau 42, 1931, S. 145-159. Der Aufstand der Kapitalisten. Zur englischen Krise, in: Die Neue Rundschau 42, 1931, S. 577-585. The Political Situation in Germany, in: The Political Quarterly 4 (1933), S. 44-57. Limits and Limitations of Democracy, in: Ernest Simon u.a., Constructive Democracy, London: Allen & Unwin, 1938, S. 215-247. The Economics of the Totalitarian States, in: Proceedings of the American Philosophical Society 82 (1940), S. 77-87. The Economic Roots of Totalitarianism, in: Moritz Julius Bonn/Robert M. MacIver/Ralph Barton Perry, The Roots of Totalitarianism (Addresses delivered at a meeting of The American Academy of Political and Social Science, November 18, 1939), James-Patten-Rowe Pamphlet Series No. 9, Philadelphia 1940, S. 9-19. The New World Order, in: Annals of the American Academy of Political and Social Science, Vol. 216, Defending America’s Future (July, 1941), S. 163-177. The Structure of Future Society, in: Chester W. Wright (Hg.), Economic Problems of War and its Aftermath, Chicago: UCP, 1942, S. 166-190. Does Political Economy build Cultural Bridges?, in: Lyman Bryson/Louis Finkelstein/R.M. MacIver (Hg.), Approaches to Group Understanding. Sixth Symposium, New York: Harper & Brothers, 1947, S. 218-236. The Foreign Policy of the United States, in: The Year Book of World Affairs 2 (1948), S. 27-47. John Maynard Keynes (1883-1946), in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft 72 (1952), S. 1-24. Betrachtungen eines Nichtheimgekehrten. Zur äußeren und inneren Lage Deutschlands, in: Merkur 7 (1953), S. 701-720. Der Einfluß ökonomischer Theorien auf die auswärtige Politik, in: Karl Muhs (Hg.), Festgabe für Georg Jahn. Zur Vollendung seines 70. Lebensjahres am 28. Februar 1955, Berlin: Duncker & Humblot, 1955, S. 1-25. The Demise of the Adenauer Era, in: The Year Book of World Affairs 18 (1964), S. 41-55.
42 | Moritz Julius Bonn: Auswahlbibliographie
Zeitungsartikel Edmund Burke (I und II), in: Frankfurter Zeitung, 10./12. Juli 1897. Die wissenschaftliche Begründung der Trotha’schen Eingeborenenpolitik, in: Frankfurter Zeitung, 14. Februar 1909, Fünftes Morgenblatt, S. 1. Die Kolonien als Absatzmärkte, in: Berliner Tageblatt, 20. Juli 1911, 5. Beiblatt. Deutsch-englische Mißverständnisse, in: Frankfurter Zeitung, 26. März 1912, Erstes Morgenblatt, S. 1. Das Hauptproblem unserer Kolonialpolitik, in: Frankfurter Zeitung, 19. April 1914, Erstes Morgenblatt, S. 1-2. Germany not seeking Conquest, says German, in: New York Times, 6. August 1916. Amerika gegen die deutschen Universitäten, in: Frankfurter Zeitung, 17. Juli 1917, Erstes Morgenblatt, S. 1. Was will Wilson?, in: Münchener Neueste Nachrichten, 19. November 1917, Abendausgabe. Peace Terms of a German Professor, in: New York Times, 9. Dezember 1917. Richtige und falsche Demokratisierung, in: Frankfurter Zeitung, 27. September 1918. Flagellantentum, in: Münchener Neueste Nachrichten, 23. Dezember 1918, Abendausgabe, S. 1. Wilsons Kämpfe in Paris, Die Strömungen der Vorfriedenskonferenz, in: Neue Freie Presse (Wien), 26. Januar 1919, Morgenblatt, S. 1-2. Wilson und die Kolonien, in: Frankfurter Zeitung, 23. Februar 1919, Erstes Morgenblatt, S. 1-2. Die Hochschule für Politik, in: Berliner Tageblatt, 20. September 1920, Abend-Ausgabe, S. 1. Der Sinn der amerikanischen Präsidentschaftswahl, in: Neue Freie Presse (Wien), 21. November 1920, Morgenblatt, S. 2-3. Die nationale Aufgabe der Demokratie, in: Berliner Tageblatt, 10. November 1921, Morgenausgabe, S.1. Der europäische Sinn des Anschlusses. Die Mission Österreichs für die Verständigung und die Demokratie, in: Neue Freie Presse (Wien), 31. Mai 1925 (Morgenblatt), S. 1-3. Zum 150. Jubiläum der Unabhängigkeitserklärung, in: Frankfurter Zeitung, 4. Juli 1926, S. 1-3. Die Entseelung der Politik, in: Frankfurter Zeitung, 15. Mai 1928. Die Zukunft der Demokratie in Europa. Das Problem des Verhältnisses von Mehrheit und Minderheit, in: Neue Freie Presse (Wien), 15. Januar 1929, Morgenblatt, S. 2. Der neue Ständestaat. Gefahr der Durchsetzung der Parlamente durch die Berufsgruppen, in: Neue Freie Presse (Wien), 25. 12. 1929 (Morgenblatt), S. 1-2. Der Sozialismus und seine Gönner. Staatspolitik oder Wählerpolitik, in: Neue Freie Presse, 15. Juni 1930, S. 2-3. Die Psychologie des Nationalsozialismus. Seine Wurzeln und sein Weg (I und II), in: Neue Freie Presse (Wien), 5. April 1931, S. 5-6; 12. April 1931, S. 3-4. Kapitalismus oder Kommunismus. Die russische Wirtschaftsgefahr, in: Neue Freie Presse (Wien), 24. Mai 1931, S. 2-3; 4. Juni 1931, S. 2. Die größte Zahlungsmittelkrise der Welt. Wirtschaft und Staat, in: Neue Freie Presse (Wien), 15. August 1931, S. 4-5. Lujo Brentano [Nachruf], in: Berliner Tageblatt, 15. September 1931, S. 1-2. Der Untergang der bürgerlichen Wirtschaftsordnung, in: Vossische Zeitung, 5. Dezember 1931, MA, S. 1-2. Heinrich Herkner [Nachruf], in: Berliner Tageblatt, 29. Mai 1932. Die Radikalisierung der deutschen Jugend. Die Politisierung der Intellektuellen, in: Neue Freie Presse (Wien), 19. Juni 1932, S. 2. Die Weltkrise und die Stabilisierung, in: Neue Freie Presse (Wien), 13. Juni 1935, S. 1-2.
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Weltpolitik und internationale Ordnung
1 Herrschaftspolitik oder Handelspolitik (1919) Politische Gemeinschaften können in zweifacher Weise wachsen und sich entwickeln: Durch Verschiebung ihrer Grenzen mittels Angliederung neuer Gebiete oder auf gleichbleibendem Raume durch Wachstum der Völkerung und durch Mehrung des Reichtums. Das eine, die Ausbreitung, wird durch diejenigen Maßnahmen erzielt, die man am besten als „Herrschaftspolitik“ bezeichnet, das andere durch solche, die man unter „Handelspolitik“ zusammenfassen kann. Die von der Natur und der Geschichte begünstigten Völker der Welt, wie z. B. die Engländer, sind durch eine Mischung beider politischen Systeme groß geworden; doch hat gerade ihnen die mittels Herrschaftspolitik vollzogene Gebietsangliederung die vorteilhaftesten Voraussetzungen der Handelspolitik geliefert. Völker, wie das deutsche, deren Schicksalsweg mit kurzen Unterbrechungen immer über steinige Gefilde geführt hat, verdankten ihren mühsam erarbeiteten Wohlstand im wesentlichen der Handelspolitik. Gebietserweiterungen haben nur eine geringe Rolle in ihrer Vergangenheit gespielt; man wird in der Zukunft für lange Jahre, wenn nicht für immer, auf sie verzichten müssen.
I Die „Ausbreitung“ kann sich in verschiedenen Formen vollziehen. Nur bei wenigen besonders begünstigten Völkern, die ein Neuland bewohnen, kann eine Ausdehnung innerhalb des Staatsverbandes über bisher unbesiedelte Strecken des Gebiets erfolgen. Die Vereinigten Staaten von Amerika, Kanada, Australien haben in dieser Weise ihr Volkstum innerhalb der bestehenden politischen Schranken zur Entwicklung und zur Ausbreitung gebracht. Im großen ganzen aber erfolgt die Ausbreitung aller Völker jenseits der bestehenden Grenzen. Das kann entweder durch Angliederung neuer Gebiete über See oder durch Anschluß neuer kontinentaler Räume geschehen. Diese erfolgt, der geographischen Natur der Aufgabe entsprechend, mehr oder minder in Absätzen und Stößen. Jener kann durch Vormarsch kleiner Gruppen, gewissermaßen tropfenweise (aber ununterbrochen) vor sich gehen. Beispiele für diese liefern die überseeischen Siedlungsversuche aller Kolonien besitzenden Völker, seit Cortez oder Pizarro eine „gran conquista de ultramar“ organisierten; ein Beispiel für jenen die langsame Ausbreitung des Burentums von Kapstadt aus über Südafrika. In weitgehendem Maße, aber doch nicht vollständig, fallen diese beiden Formen der Ausbreitungsbewegung zusammen mit „kolonialer Angliederung“ und mit „lateraler (seitlicher) Ausdehnung“ über den eigenen Erdteil. Man könnte die erste „vertikale Ausbreitung“ nennen, insofern als dienende Gebiete oder rückständige Bevölkerungen, also tiefer stehende Einheiten dem alten Staate angegliedert werden; die zweite wäre dagegen als „horizontale“ Ausbreitung zu bezeichnen, da
46 | Weltpolitik und internationale Ordnung Gebiete gleicher Art oder Völkerschaften von gleicher Kulturhöhe ins Staatsganze aufgenommen werden. Diese Gleichsetzung von überseeischer Angliederung mit kolonialer Eroberung ist indes nicht völlig richtig. Ein Inselgebiet wie England kann überhaupt nur überseeisch angliedern; als es Calais und Aquitanien besetzte, erwarb es nicht etwa Kolonien, wie später durch die Eroberung Indiens. Vor einem Gemeinwesen, das sich neue Gebiete angliedert, können zwei im innersten Wesen verschiedene Aufgaben liegen: Entweder hat es leere Räume zu gewinnen, oder es sind von Bevölkerungen bewohnte Gebiete anzuschließen. Es hat nur wenige glückliche Nationen gegeben, die ihre Ausbreitung durch Angliederung unbewohnter Gebiete ermöglichen konnten, selbst wenn man das Wort „leere Räume“ auch auf Gebiete anwendet, die eine dünne, unstäte eingeborene Bevölkerung aufweisen, die vor der Berührung mit dem Eroberer hinschmilzt wie Schnee in der Märzensonne. Die Besitzergreifung und Kolonisation Australiens durch die Engländer oder das Wachstum der Vereinigten Staaten über ihre westlichen Grenzen hinaus fallen hierunter. Die eingeborene Bevölkerung stirbt bis auf wenige Reste ab. Man hat aus dieser Tatsache ein Naturgesetz ableiten wollen, daß tiefer stehende Bevölkerungen zum Zusammenstoß mit einer höheren Zivilisation zugrunde gehen müßten. Sehr zu unrecht. Beweist sie doch bloß, daß eine einwandernde Bevölkerung eingeborene Rassen, mit denen sie nichts anzufangen weiß, leichten Herzens zugrunde gehen läßt, wenn sie sie nicht gar ausrottet. Solche Vorgänge haben sich nur auf ganz bestimmten Gebieten abgespielt. Meist sind die einwandernden Völker auf mehr oder minder dichte eingeborene Bevölkerungen gestoßen. Dabei hat es immer nur vier Wege gegeben, die den Eindringlingen bei ihrer Auseinandersetzung mit den eingeborenen Bevölkerungen offen standen. Sie konnten sie einmal in ihrer Gesamtheit zu verdrängen suchen, sei es, daß sie sie über die neugesteckten Landesgrenzen jagten, oder sei es, daß sie sie in abgelegenen Gebieten der neuerworbenen Provinzen in Reservaten zusammendrängten. Als Oliver Cromwell Irland endgültig erobert hatte und dort ein gesichertes englisches Gemeinwesen begründen wollte, schob er einen Teil der irischen Rebellen ins Ausland ab. Um Irland vor Aufständen der eingeborenen Bevölkerung zu schützen, sollte dieselbe in ein geschlossenes Reservat nach Connaught, das zwischen dem Atlantischen Ozean und der Seenkette des Shannon wie eine Insel Irland vorgelagert ist, fern von allen englischen Siedlungen eingepfercht werden. Der zweite Weg ist eine Vermischung der Eingeborenen mit den Einwanderern. Er ist eigentlich in jedem kolonialen Gebiet mehr oder minder erfolgreich beschritten worden, die Länder nicht ausgeschlossen, wo man die Legende von einem Herrenvolk der Eroberer pflegt, das sich von jedem geschlechtlichen Verkehr mit den Eingeborenen aus Herrenbewußtsein ferngehalten habe. Wo Frauen der Herrenrassen zahlreich vorhanden sind, und wo das eingewanderte Volk sich bereits eine Herrenstellung gesichert hat, hören eigentliche Mischehen in der Tat auf. Aber selbst in Südafrika mit seinem rassestolzen Burentum zeigen die verschiedenen Bastardvölker deutlich genug, wie weit die Vermischung in der Vergangenheit gegangen ist. Und
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die Zustände unter den „armen Weißen“ in den südafrikanischen Staaten verraten deutlich genug, daß zum mindesten in den Unterschichten dieser Verkehr weiter geht. In der Neuzeit hat dieser Weg nirgends zur völligen Angleichung von Einwanderern und Eingeborenen geführt, aus der ein neues einheitliches Volk entstanden wäre, auch wenn keine rechtlichen oder sozialen Schranken zwischen den Völkern bestehen. In der Vergangenheit ist das anders gewesen. Normannen und Angelsachsen sind zum englischen Volke zusammengewachsen. Wenn aber ein ausgeprägtes Nationalbewußtsein entsteht, pflegt die Verschmelzung über eine schmale Schicht nicht hinauszugehen. Und das gleiche ist dann der Fall, wenn ein großer kultureller Abstand zwischen den beiden Rassen besteht, wie zum Beispiel in Südamerika. Dort ist zwar überall eine einflußreiche Schicht von Mischlingen entstanden; daneben steht aber auf der einen Seite eine „rassenreine“ weiße Aristokratie, auf der anderen Seite das unvermischte Eingeborenentum. Neben der örtlichen Trennung und der Verschmelzung ist aber noch eine dritte Form des Zusammenlebens zweier Völkerschaften denkbar: die soziale Beherrschung der Eingeborenen durch die Kolonisten. So haben die spanischen Conquistadoren in Südamerika die Eingeborenen nach Art europäischer Höriger zur Grundlage einer feudalen Organisation gemacht. Und viel früher hatten die normannischen Ritter, die Irland eroberten, die Eingeborenen als dienende Mitglieder ihren Grundherrschaften eingegliedert. Meist werden die oberen Schichten der Eingeborenen von diesem Erdrückungsprozeß verschont. Sie gelten als ebenbürtig und beginnen sich mit den Eroberern zu verschmelzen – wie die Familien der Inca in Peru mit den Spaniern und die „fünf Geschlechter“ in Irland mit den Normannen. Diese Bildung einer eingewanderten aristokratischen Gesellschaft auf Grundlage der Vergewaltigung der Eingeborenen ist noch im 19. Jahrhundert in Südafrika und im 20. Jahrhundert in Südwestafrika in großem Umfange durchgeführt worden, wo den Weißen das Recht auf den Boden zugesprochen und den Eingeborenen verhüllt oder unverhüllt eine Arbeitspflicht auferlegt worden ist. Wenn soziale oder klimatische Verhältnisse eine Masseneinwanderung nicht gestatten oder wenn man sich einer Gesellschaft mehr oder minder hochstehender Eingeborenen gegenüber befindet, pflegt man einen vierten Weg zu gehen. Man beläßt der eingeborenen Bevölkerung ihre Lebensformen, man unterstellt sie aber einer europäischen Verwaltung. Das haben z. B. die Engländer in Indien getan. Diese Formen der Angliederung sind uns heute aus der Betrachtung der kolonialen Entwicklung sehr geläufig. Sie sind aber auch in europäischen Verhältnissen oft genug angewandt worden. Allein das irische Beispiel zeigt, daß Verdrängung der Eingeborenen, Vermischung von ihnen mit den Einwanderern und soziale Knechtung auch in Europa gang und gäbe gewesen sind. Ein flüchtiger Blick auf Ost- und Südost-Europa belehrt, daß das irische Beispiel in Europa nicht allein steht. Jede Erörterung der Ostfragen, ob es sich nun um Kurland oder um Polen handelte, ging von diesen Fragen und von den Methoden zu ihrer Lösung aus. Die Verwaltung Bosniens durch Österreich-Ungarn bewies hinreichend, daß die Angliederung frem-
48 | Weltpolitik und internationale Ordnung der Staaten und ihre Beherrschung als abhängige Gebiete auch in Europa ohne eigentliche Kolonisation denkbar ist. Die Angliederung neuer Gebiete an ein bestehendes Gemeinwesen erfolgt einmal durch Gewalt. Dann handelt es sich, wenigstens bei Ländern mit entwickelter Bevölkerung, um Annexionen, während man in kolonialen Gebieten unter Nichtachtung eingeborener Bevölkerungen den ersehnten Zweck durch Okkupationen erreichen kann. Solche Annexionen oder Okkupationen müssen nicht immer Staatshandlungen sein. Die normannischen Ritter, die Irland eroberten, und die spanischen Konquistadoren, die für Kastilien und León eine neue Welt fanden, waren Pioniere, denen die Staatsgewalt erst folgte. In modernen Zeiten aber pflegt die Staatsgewalt durch ihre Organe die Angliederung in die Wege zu leiten. Selbst wo private Gesellschaften das Land eroberten und besetzten, wie bei der Teilung Afrikas, hat es sich im wesentlichen um staatliche Handlungen gehandelt, die man nur aus durchsichtigen politischen Gründen von privilegierten Privatpersonen vornehmen ließ. Die Gebietserweiterung kann aber auch durch Föderation zustande kommen. Die in Frage stehenden Staaten fügen sich durch gemeinsamen Entschluß zu einer neuen Einheit zusammen. Zur Wegräumung bestimmter Hindernisse ist dabei Gewalt nicht immer vermeidbar gewesen. Im großen ganzen aber handelt es sich um einen freiwilligen Zusammenschluß, der die Vielheit in eine Einheit verwandelt und kleine Staaten zu mächtigen Reichen umbildet. Die Bildung der Vereinigten Staaten, die Begründung des deutschen Reiches, der Zusammenschluß einzelner englischer Kolonien sind Beispiele hierfür. Dazu kommen, Vorboten einer neuen Zeit, die räumliche Hindernisse, nationale Besonderheiten und verschiedene soziale Entwicklung gering achtet, die Verschmelzungsbestrebungen der englischen Dominions mit ihrem Mutterlande oder der während des Krieges geplante Zusammenschluß Mitteleuropas. Und im fernsten Hintergrunde, den meisten ein Traum, dessen Verwirklichung noch nicht abzusehen ist, ein Völkerbund, der die gesamte Menschheit umfassen soll.
II Die Beweggründe, aus denen eine Angliederung neuer Gebiete vor sich geht, sind mannigfache. In vielen Fällen ist es ein beinahe physisch empfundener wirtschaftlicher Druck auf eine an Zahl wachsende Bevölkerung, die, in den gegebenen sozialen Verhältnissen nicht Raum findend, mit Kind und Kegel aufpackt und über die Landesgrenze zieht, durch ihre Bedürfnisse dem eigenen Gemeinwesen neue Länder anschließend. Das ist leicht möglich, wo es sich um verhältnismäßig unbesiedelte Gebiete handelt, wie es der amerikanische Westen war, oder wo die ausziehende Bevölkerung eine Aristokratie darstellt, die, an ein Leben auf großen Gütern gewohnt, den Nachbarvölkern mit dem Schwert oder mit der Flinte nicht nur neue Siedlungs-
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gebiete abnehmen will, sondern auch die auf ihnen sitzende eingeborene Bevölkerung als Gesinde gerne mit in den Kauf nimmt. So etwa ist die Ausbreitung der Buren über Südafrika vor sich gegangen. Neben diesen primitiv-elementaren Treibkräften sind aber seit alter Zeit andere Motive wirksam gewesen. Kein Land vermag alles zu erzeugen, dessen seine Bevölkerung bedarf. Wie die Barbaren des Nordens die lachenden Gefilde Italiens lockten, so jagten die Indienfahrer, die Südafrika umschifften oder über den fernsten Westen China zu erreichen hofften, Gold und edlen Gewürzen nach, die ihnen der Osten liefern sollte. Sie erstrebten kein Wohnland, auf dem sie eine überschüssige Bevölkerung ansiedeln konnten, sie verlangten Waren, die ihnen zuerst der Handel, später die Herrschaft über die Produktionsstätten sichern sollte. Das Ideal der ausreichenden Versorgung mit Gütern, die die Heimat nicht erzeugt oder nicht reichlich genug zu erzeugen vermag, hat immer wieder die Völker vorwärts getrieben und zur Angliederung neuer Gebiete veranlaßt. Das ist bald über See, bald über Land geschehen; es hat sich bald auf koloniale Gebiete beschränkt, bald auf Räume erstreckt, die dem Mutterlande wesensgleich waren. Wenn die Spanier Amerika eroberten, um Gold zu gewinnen, wenn die Holländer den malayischen Archipel besetzten, um sich das Gewürznelken-Monopol der Welt zu sichern, so folgten sie ähnlichen Beweggründen wie die deutschen Annexionisten im Kriege, die den künftigen Eisenbedarf Deutschlands durch Angliederung westlicher Gruben und den Nahrungsmittelbedarf durch Kontrolle östlicher Randgebiete sicherzustellen suchten, nachdem der große Krieg die Verflechtung mit dem Weltmarkt zerstört hatte. Neben den Gesichtspunkt der Versorgung ist aber schon früh der des Absatzes getreten. Je mehr die Industrien erstarken und je mehr daraus ein internationaler Wettbewerb entsteht, desto größer wird die Gefahr, daß wichtige Märkte durch schutzzöllnerische Abschließung verloren gehen. Länder, die sich industrialisieren und dabei keine dem Wettbewerb gewachsene Industrie besitzen, streben danach sich gesicherte Märkte anzugliedern, – man denke etwa an die industrielle Entwicklung Rußlands; – sie können das nur durch politische Herrschaft erreichen. Während leistungsfähige Industrieländer, wie z. B. Deutschland, trotz fremder Schutzzölle in fremden Gebieten zu konkurrieren vermochten, waren weniger fortgeschrittene Staaten gezwungen, die Entwicklung ihrer Industrie durch Erwerbung geschlossener Märkte zu erleichtern. Neben diese rein wirtschaftlichen Beweggründe aber treten auch politische. Gebiete werden erstrebt und gewonnen, die von stammverwandten Bevölkerungen bewohnt sind, oder auf die eine oft mehr oder minder sentimental geartete geschichtliche Betrachtung historische Ansprüche häufig unter Verkennung der wirklichen Tatsachen erhebt. Die Gründung des deutschen Reichs durch Zusammenschluß der deutschen Einzelstaaten und die Einigung Italiens sind ein Beispiel für den einen Vorgang, die Forderungen der Polen und der italienischen Irredentisten für den anderen. Solche Raumerweiterungen pflegen sich meist in der Form eines Bundes zu vollziehen. In
50 | Weltpolitik und internationale Ordnung vielen Fällen geht dem freiwilligen Zusammenschluß mit einem neuen Gemeinwesen die mehr oder minder gewaltsame Loslösung von einem anderen vorher (ElsaßLothringen). Neben vorwiegend stimmungsmäßige nationale Empfindungen tritt dabei häufig bewußte politische Überlegung. Gebietserweiterung bedeutet Machtverstärkung. Aus schwachen Gliedstaaten wird ein mächtiger Bundesstaat. Aus Zwergstaaten, die nur in ihrer Einbildung in der Welt eine Rolle spielen, ein Reich, dessen Schwert ins Gewicht fallen kann. Das zeigt nicht nur die europäische Entwicklung, für die ein Hinweis auf Preußens Aufstieg genügen mag, es hebt sich besonders scharf in der kolonialen Geschichte ab. Länder mit starker Auswanderung sehen mit Schmerz, wie ihre Volksgenossen nach fremden Gebieten abwandern und dort nach hoffnungslosen Kämpfen um die Erhaltung ihrer Eigenart spurlos in fremdem Volkstum untertauchen. Wenn sie zur Macht gekommen sind, liegt es nahe genug, sich menschenleere Neuländer anzugliedern, in die sie den Strom der Auswanderer zu leiten suchen. Dieser Gedanke hat einst der deutschen Kolonialpolitik ihren volkstümlichen Schwung gegeben. Er hat zu schweren kolonialpolitischen Mißgriffen geführt, da die zur Verfügung stehenden Länder weder menschenleer waren, noch überhaupt sich für europäische Siedlungen eigneten. Ähnliche Vorstellungen beeinflußten auch die europäische Politik im Kriege. Der Gedanke, die deutsche Auswanderung der Zukunft nach Kurland zu leiten, übte auf viele Gemüter eine starke Anziehungskraft aus, die sonst gar nicht annexionslustig waren; die wenigsten bedachten, daß die Auswanderung sich in normalen Zeiten nur dann nach bestimmten Gebieten lenken läßt, wenn ihre politischen, sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen ihnen die nötige Anziehungskraft verleihen. Zu diesen Beweggründen aber tritt vielfach ein anderer: Eroberungslust. Man muß nicht an die nackte Eroberungslust denken, wie sie etwa in den Kriegen eines Ludwig XIV. zutage trat. Gerade in der Neuzeit pflegen Eroberungsbestrebungen mit menschheitsbeglückendem Fanatismus eng verknüpft zu sein. Völker, die auf ihre Einrichtungen stolz sind, wollen dieselben anderen Völkern vermitteln. Sind diese nicht auf friedlichem Wege zur Annahme geneigt, so können sie durch Unterwerfung dazu gezwungen werden. In den Eroberungskriegen des revolutionären Frankreich sind solche Gedanken wirksam gewesen. Sie finden sich in der Ausbreitungsbewegung des modernen Amerika wieder. Man pflegt derartige auf Gebietsangliederungen gerichtete Bestrebungen als „Imperialismus“ zu bezeichnen. Nicht alle tragen indes den Charakter der Machtgier an sich, den man ihnen heute so gerne zuschreibt. Es sind in der Welt mehr Länder aus Furcht vor den Nachbarn annektiert worden als aus Machtgier und Lust an Raub. Solange wir in einer Welt leben, in der der eine Staat den anderen bedroht, wird die Frage der Grenzsicherung stets eine große Rolle spielen. Um eine gute Grenze zu erhalten, die es vor künftigen Angriffen schützen soll, hat sich manches Land unbesonnen in einen Weltkrieg gestürzt. Frankreichs Forderungen nach der Rheingrenze und die italienischen Forderungen der Grenzsicherung gegen Tirol
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mögen als Beispiele dafür dienen, daß auch in der Gegenwart nach einem siegreichen Kriege die Furcht stärker ist als die Einsicht. Aber damit ist die Sache nicht erschöpft. Die englische Ausbreitung in Indien und in Südafrika ist großenteils aus den Motiven des Grenzschutzes zu erklären. Ganz sicher ist man in einer waffenstarrenden Welt nur dann, wenn man keinen Nachbarn hat, der an einen herankommen kann. Wie die eingeborenen Häuptlinge Südafrikas durch künstliche Schaffung eines Wüstengürtels sich vor fremden Einfällen zu sichern suchten, so hat sich England durch Schaffung von Pufferstaaten die fremde Nachbarschaft vom Leibe zu halten gesucht. Es hat diese Politik Europa in Belgien fein angewandt. Im Frieden von Brest-Litowsk ist Deutschland in gewissem Sinne diesem Beispiel gefolgt, als man gegen Rußland „Randstaaten“ einschieben wollte. Die französische Politik erstrebt etwa das gleiche Ziel, wenn sie mit dem Gedanken eines Schutzstaates auf dem linken Rheinufer spielt oder durch Polen und die Tschechoslowakei Deutschland zu flankieren sucht. Solche mehr oder minder künstliche politische Schöpfungen können das Element der Unsicherheit nicht beseitigen. Kein Mensch kann die Strömungen der Zukunft voraussehen und wissen, wie sich im gegebenen Moment solche Pufferstaaten verhalten werden. Aus dem Bestreben, sie als selbständige Vorwerke zwischen mächtige Gruppen einzugliedern, entwickelt sich daher von selbst die Neigung, sie unter die eigene Verwaltung zu nehmen, damit sie allen Verführungskünsten fremder Mächte ein für allemal entzogen seien. So hat sich z. B. die englische Politik in Indien entwickelt, wo das langsame Näherrücken Rußlands zu einer entsprechenden Vorschiebung der politischen Einflußsphäre geführt hat. Und das gleiche gilt für die neue Welt. Ohne Angst vor mächtigen Nachbarn hätten die Vereinigten Staaten sich nie durch eine Reihe von Verträgen die ursprünglich fremden Gebiete des kontinentalen Amerika angegliedert. Sie hätten kaum westindische Inseln besetzt, sie wären sicher nicht in den europäischen Krieg eingetreten. Die Monroe-Doktrin ist nichts anderes als der negative Ausdruck des Strebens nach Grenzschutz. Man will die von der Natur gegebene Sicherheit der Weltmeere sich nicht durch irgendwelche europäische Nachbarschaft rauben lassen. Man verhindert die Niederlassung europäischer Mächte auf dem Kontinent und annektiert insulare Gebiete, eben damit diese Nachbarschaft nicht zustande komme. Und wenn die Australier heute die deutschen Südsee-Kolonien behalten wollen mit der Begründung, eine Monroe-Doktrin sei für Australien nötig, und wenn sich die Regierung Südafrikas Südwestafrika angliedert, so ist das eben nichts anderes als die alte Erscheinung in neuer Form.
III Durch Angliederung neuer Gebiete auf dem Wege der Eroberung oder des Zusammenschlusses haben sich gewaltige Reiche über die Kontinente ausgebreitet; mächtige Kolonialgebiete sind jenseits der Meere aufgebaut worden. Kleine Nationen
52 | Weltpolitik und internationale Ordnung haben den engen Rahmen gesprengt, in den eine karge Natur sie auf heimischer Erde eingespannt hatte, und sind zu Weltvölkern geworden. Reichtum und Macht der in Frage kommenden Länder sind gewachsen. Wo es sich nicht um freiwilligen Zusammenschluß der Staaten handelt, – und ein solcher ist bis heute meist auf Gebiete beschränkt gewesen, deren Bewohner einander stammesverwandt sind, – ist dieses räumliche Wachstum mit gewissen unvermeidbaren Opfern bezahlt worden. Die Angliederung überseeischer Gebiete ist im großen ganzen verhältnismäßig leicht gewesen. Es hat keiner weitgehenden militärischen Kraftanspannung bedurft, um diese Länder zu erobern und zu sichern, soweit es sich nicht um Kämpfe zwischen rivalisierenden Mutterländern handelte. Wohl hat gelegentlich ein großer Kolonialkrieg weitgehende Ansprüche an die Machtmittel des herrschenden Volks gestellt, wohl sind in den Gebieten, in denen eine lebensfähige Eingeborenenbevölkerung vorhanden ist, schwierige Gesellschaftsbildungen entstanden, wie zum Beispiel in Südafrika infolge der Rassenverschiedenheit. Im großen ganzen aber ist es den Völkern, die die Kolonialpolitik verstehen, geglückt, mit einem Minimum von Aufwand an physischen Machtmitteln ein Maximum an Macht und Reichtum zu gewinnen. Sie haben dabei allerdings in der Neuzeit darauf verzichten müssen, ein tributäres Einkommen aus ihren Kolonien zu ziehen. Wenn man von der Ausbeutung des Kongostaates absieht, hat die Beherrschung kolonialer Gebiete überall mit finanziellen Opfern für das Mutterland abgeschlossen. Darüber hinaus haben sie einen hohen Preis für die koloniale Entwicklung zahlen müssen. Eine völlige Sicherung kolonialer Gebiete über See ist überhaupt nur möglich, wenn der Zusammenhang mit dem Mutterland nie unterbunden werden kann. Daraus folgt die Notwendigkeit starker Flottenrüstungen, deren Kosten zu Lasten des Mutterlandes gehen. Nun wird aber stets eine Kombination von Gegnern möglich sein, die unter Benutzung der technischen Erfindungen der Neuzeit auch die größten Machtmittel zu binden vermag. Nur wenn ein Zustand geschaffen würde, der die freie See zu allen Zeiten garantiert, nur dann wäre die koloniale Herrschaft völlig gefahrlos. Je mehr ein Land überseeisch entwickelt ist, je größere Macht- und Reichtumsquellen in seinen überseeischen Besitzungen fließen, desto gefährdeter ist seine Stellung, desto größer sind die Opfer, die es für Beherrschung der See aufbringen muß, wenn der Völkerfriede nicht gesichert ist. Aber das ist nicht alles. Die Aufrichtung eines gewaltigen Kolonialreichs erfordert, soweit es sich um ausschließlich weiße Siedlungsgebiete handelt, ein großes Maß von politischem Takt und von politischem Verständnis. Das Verhältnis Englands zu seinen Dominions hat das klar genug bewiesen. Ihr enges Zusammenhalten mit dem Mutterlande ist sicher das Ergebnis einer klugen Staatskunst gewesen. Sie war vor allem deshalb erfolgreich, weil die Furcht vor deutschen Angriffen die Tochterländer vor die Wahl stellte, in einem Kriege entweder als hilflose Kleinstaaten ihre Unabhängigkeit zu erklären oder als Glieder des britischen Reichs in Sicherheit zu leben.
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Soweit Gebiete mit Eingeborenenbevölkerung in Frage kommen, bringt ein Kolonialreich, wenn es nur weit genug zerstreut und vielgestaltig genug ist, nie endende Belastung und Beschwerung mit politischen Problemen. Es handelt sich dabei nicht nur um die Beherrschung eingeborener Völker oder um den Schutz der Kolonisten, es handelt sich auch um das Verhältnis zu eingeborenen Nachbarreichen und zu fremden Kolonialgebieten. Wenn man zur Vermeidung von Reibereien die Eifersucht fremder Mächte durch liberale Zulassung zu den Märkten des eigenen Kolonialreichs zu entwaffnen sucht, setzt man sich damit leicht den Vorwürfen der eigenen schutzzöllnerischen Industrie aus, für die ein Kolonialreich wertlos scheint, wenn es ihr nicht zur Ausbeutung vorbehalten bleibt. Nirgends belasten wirtschaftliche Fragen politische Probleme in der gleichen Weise wie gerade in der kolonialen Entwicklung. Die englische Weltpolitik, deren Interessen über die ganze Erde zerstreut liegen, hat diesen Druck deutlich genug gespürt. Es war nicht mangelnder Patriotismus und nicht Heuchelei, daß die „Klein-Engländer“ zu Ende des 19. Jahrhunderts jede weitere Ausbreitungspolitik bekämpften. Weit schwieriger liegen die Dinge, wenn es sich um kontinentale Angliederung von Völkern auf gleicher Kulturstufe handelt. In der modernen Zeit ist es kaum einem Volke geglückt, fremde europäische Völkerschaften, die es sich angegliedert hat, völlig zu assimilieren. Durch Gewinnung solcher Nachbarprovinzen hat man sich unter Umständen gute strategische Grenzen gesichert. Man kann den Ernährungsspielraum erweitern (Irland ist heute eine der wichtigsten Ernährungsquellen für England geworden), man gewinnt an Menschen und an Finanzen vielleicht Kraftquellen von ungeahnter Ergiebigkeit. Die Beherrschung fremder Nationalitäten, vor allem fremder Grenzprovinzen ist aber, wenigstens in der modernen Zeit, nirgends eine wirkliche Quelle der Kraft geworden. Während die englische Herrschaftspolitik an allen Orten der Welt ein gewisses Maß von Erfolg aufzuweisen vermag, ist sie in Irland völlig gescheitert. Dieses Inselchen mit vier Millionen Menschen, das Englands Zugang zum atlantischen Ozean sichert, lieferte nur wenig Rekruten; es muß durch eine starke englische Garnison in Ruhe gehalten werden. Es ist der schwache Punkt in Englands Rüstung. Trotz beispielloser Aufwendungen in den letzten dreißig Jahren ist die Ruhe, die man mit einer großen Agrarreform zu erkaufen geglaubt hatte, in dem Augenblick gestört worden, wo Englands Verlegenheit wieder einmal Irlands Gelegenheit geworden war. Das irische Problem stellt eigentlich nur den schärfsten und klassischsten Ausdruck der Schwierigkeiten dar, die ein herrschaftsgewohntes Volk durch Angliederung fremdstämmiger Bevölkerung sich schafft. Selbst wenn das fremde Volk vereinsamt in der Welt dasteht und nicht die Irredenta eines mächtigen Nachbarvolkes bildet, selbst wenn es sich einer liberalen Verfassung erfreut, schwächt es das Herrenland. Australien ist loyal bis auf die Iren, die dort leben. Unter den paarmal hunderttausend Weißen aber, die Südafrika bewohnen, breitete sich trotz der größten Liberalität, die England nach dem Burenkrieg dort hat walten lassen, eine antienglische republikanische Bewegung aus. Und während die englische Bevölkerung Kanadas in dem großen Kriege
54 | Weltpolitik und internationale Ordnung Opfer für ihr Mutterland brachte, die den deutschen Beobachter baß erstaunten, erhob sich in der begünstigten Provinz Quebek unter der französischen Bevölkerung immer wieder die Fahne des Aufruhrs. Es ist bis heute kein Mittel gefunden worden, das fremdstämmige Völker, die großen Gemeinwesen angegliedert sind, mit dem Staate versöhnt, dem sie angehören. Man hat seit alter Zeit immer wieder den Versuch gemacht, durch Ansiedlung staatstreuer Elemente in solchen stammfremden Gebieten eine zuverlässige Garnison zu schaffen. Man hat damit nirgends Erfolg gehabt. Wollte man wirklich Sicherungen schaffen, dann mußte man die gesamte eingeborene Bevölkerung außer Landes treiben. Tut man das nicht, so schafft man nur eine privilegierte Herrenkaste, der man Land und Macht ausliefert, und die vom Mutterland die unbehinderte Ausbeutung der Eingeborenen verlangt. Wenn dann die Eingeborenen revoltieren, so pflegt sie nach den Machtmitteln des Mutterlandes zu rufen, um politische oder soziale Erhebungen niederzuschlagen, die sie selbst hervorgerufen hat. Und wenn das Mutterland die sozialen Bewegungen durch soziale Reformen in geordnete Bahnen zu leiten sucht, dann kündigt sie ihm die Treue und behauptet, man vergelte ihre Loyalität mit Verrat. Dem Versuch, eine wirkliche Sicherung der Kolonie durch Austreibung der Eingeborenen herbeizuführen, hat sie sich immer widersetzt – nicht etwa im Namen der Menschlichkeit, sondern weil sie zur vollen Nutzung der ihnen überantworteten Güter billiger Arbeitskräfte und miteinander um Höfe konkurrierender Pächter bedarf. Die Geschichte der irischen Frage gibt anschauliche Beweise der Entwicklung von dem Tage an, wo die ersten Normannen erkannten, wie gewinnbringend die Verwendung irischer Pächter sei, bis zur Rebellion der Ulster-Kolonisten im Jahre 1914, die mit Aufstand drohten, wenn die Wünsche der Eingeborenen nach Selbstregierung erfüllt würden. Man hat sich in Deutschland trotz großem Interesse an der irischen Frage diese Lehre nicht zu Herzen gehen lassen. Im Osten wie im Westen sind Versuche gemacht worden, mittels Siedelungsunternehmungen der verschiedensten Art eine Garnison zu schaffen. Der Zusammenbruch hat diesem Plan ein Ende gemacht. Ein Verzicht auf den Grundsatz gewaltsamer Nationalisierung ist dadurch nicht herbeigeführt worden. Einstweilen scheint nur eine Vertauschung der Rollen stattgefunden zu haben. Die Herrschaftspolitik ist nicht zu Ende; nur daß Teile des deutschen Volkes, denen man früher eine Herrenrolle zudachte, jetzt zu Knechten gemacht werden sollen. Ein Fortschritt in der Weltgeschichte kann dadurch nicht erreicht werden, wenn an Stelle der Herrschaftspolitik der Deutschen eine solche der Franzosen, der Polen oder der Tschechen tritt.
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IV Neben dem Wachstum politischer Gemeinschaften durch räumliche Ausbreitung steht die Umschichtung auf gleichbleibendem Raum. Sie findet statt, wenn ein Volk innerhalb seiner Landesgrenzen durch sozialwirtschaftliche Entwicklung oder Erwerbung neuer Gebiete an Zahl, an Macht, an Reichtum zunimmt. Sie kann durch den Übergang zu intensiver oder zu industrieller Wirtschaft erfolgen. Wenn an Stelle der extensiven Weidewirtschaft die Ackerwirtschaft tritt, wenn an Stelle des handwerksmäßigen Betriebs der maschinelle Großbetrieb sich ausbreitet, wenn Arbeit und Kapital auf gegebener Fläche durch Fortschritte der modernen Technik oder der sozialen Organisation ergiebiger gestaltet werden, so kann ein Volk auch ohne alle Außenbeziehung innerhalb seiner geschlossenen, gegebenen Grenzen an Zahl und Reichtum zunehmen. Diese theoretische Möglichkeit ist im praktischen Wirtschaftsleben so gut wie nie anzutreffen. Der Anstoß zu wirtschaftlicher Umstellung pflegt ohne Anregung von außen selten vor sich zu gehen; überdies ist eine fortwährende Verbesserung technischer und sozialer Organisationsmethoden ohne Wechselwirkung mit der Außenwelt schwer denkbar. Die soziale Umschichtung der Staaten ist meistens durch den Anreiz erfolgt, den internationale Handelsbeziehungen gegeben haben. Bevölkerungen können nur wachsen, wenn ihre Versorgung sich den steigenden Bedürfnissen entsprechend reichlicher gestaltet. Eine solche Verbesserung in der Versorgung ist in der Regel nur durch Zufuhr von außen in die Wege zu leiten gewesen. Von außen kamen die Edelmetalle und die Luxusgüter, von außen die Rohstoffe, von außen die Nahrungsmittel, die die Umschichtung der europäischen Bevölkerung zu höherer sozialer Entwicklung bedingt haben. Der Einfuhr wegen beginnt die Ausbreitungsbewegung der europäischen Nationen, die auf der einen Seite zur überseeischen Kolonisation führte, auf der anderen Seite im überseeischen Handel ausläuft. Ihre Gewinnung lockte die Abenteurer in die neuen Welten. Die Ausfuhr von Waren ist für sie zunächst nur ein Mittel zur Bezahlung der Einfuhr. Und so wichtig später die Förderung der Ausfuhr als Aufgabe der praktischen Politik geworden ist, so ist sie doch in ihrem innersten Wesen nichts anderes als das Mittel, die Einfuhrgüter zu gewinnen, die zur Verbreiterung der Basis dienen können. Durch diese Entwicklung, d. h. durch die Entwicklung des modernen Ausfuhr- und Einfuhrhandels ist es möglich geworden, auf beschränktem Raum wachsende Bevölkerungen zu erhalten, deren Tätigkeit sich intensiviert, deren sozialer Aufbau sich industrialisiert. Zur vollen Reife dieser Entwicklung sind indes verschiedene Voraussetzungen nötig. Es muß ein mehr oder minder freier Verkehr zwischen allen Ländern bestehen. Das ist nicht gleichbedeutend mit der Forderung nach völligem Freihandel. Es genügt vielmehr, daß Handels- und Verkehrsverbote fallen, daß jedes Land, wenn auch unter bestimmten Bedingungen, Einfuhr und Ausfuhr gestattet, daß freie Schiffahrt, wenn auch unter gewissen Auflagen, möglich ist, daß Ein- und Auswanderung erlaubt sind und Niederlassungen geduldet werden, daß Kapitalanlagen im
56 | Weltpolitik und internationale Ordnung Auslande gestattet sind. Mit anderen Worten, diejenigen Völker, die keine räumlichen Gebietserweiterungen für sich erstreben, müssen das Recht haben, in die Gebiete anderer Staaten einzuwandern und in den von diesen beherrschten Räumen ungehindert unter erträglichen Bedingungen Handel zu treiben. Ist ihnen das gestattet, so können sie auch ohne die Verantwortung, die die Verwaltung dienender Bevölkerungen mit sich bringt, an Reichtum, Zahl und Macht zunehmen. Diese Politik, die man am besten als Handelspolitik der Herrschaftspolitik entgegensetzt, ist naturgemäß die Politik aller Kleinstaaten. Wenn diese nicht ein ererbtes Kolonialreich besitzen, das sie infolge der schweren politischen Belastung schließlich doch abstoßen werden und abstoßen müssen, so können sie auf eine Ergänzung ihres Wirtschaftsgebietes mit Gewaltmitteln nicht rechnen. Sie können sich unter Umständen mit anderen kleinen Nationen auf dem Wege des Bundes zusammenschließen. Das ist die Entwicklung der Schweiz gewesen und wird vielleicht einmal die Entwicklung Skandinaviens sein. Sie können aber nicht daran denken, mit Waffengewalt ihr Gebiet zu erweitern. Daß diese Methode, die für sie die einzig mögliche ist, ihrer nationalen Entwicklung zuträglich ist, beweist das Beispiel der Schweiz. Sie beherbergt in verhältnismäßig unfruchtbarem Lande eine dichte hochstehende Bevölkerung, die mit allen Ländern Handel treibt und in allen Gebieten Interessen hat. Aber nicht nur Kleinstaaten wie die Schweiz, auch europäische Großmächte sind auf einen ähnlichen Weg verwiesen worden. Die deutsche Entwicklung der letzten 30 Jahre ist im wesentlichen durch Handelsbeziehungen, nicht durch Herrschaftserweiterung zustande gekommen. Gewiß hatte sich Deutschland ein vielversprechendes koloniales Reich angegliedert, doch betrug dessen Anteil an der handelspolitischen Entwicklung des Mutterlandes nur 1 bis 2 %. Wenn Deutschland wirtschaftlich groß geworden ist und infolgedessen imstande war, eine stark wachsende Bevölkerung zur Mehrung des Wohlstandes des Reiches und zu seiner Verteidigung in der Stunde der Gefahr im Inland zu erhalten, so hat dafür im wesentlichen die deutsche Erwerbstätigkeit in fremden Ländern den Anstoß geboten, die die soziale Umschichtung der deutschen Bevölkerung und ihre ausreichende Versorgung zu Hause ermöglicht hat.
V Die Angliederung neuer Länderkomplexe gewährt der mutterländischen Bevölkerung neue Chancen durch Auswanderung, wenn die erworbenen Gebiete dünn besiedelt sind. Dagegen trägt die Angliederung dichtbewohnter Länder im wesentlichen nur durch Belebung der Austauschbeziehungen zur Hebung der Bevölkerung der Heimat bei. Für Abwanderung ist wenig Raum in ihnen. Trotz nächster Nachbarschaft und günstigen Verkehrsbedingungen wies z. B. Irland bei der letzten Volkszählung noch nicht 130.000 im britischen Mutterlande gebürtige Einwohner
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auf; ihnen stand eine britische Auswanderung über See von jährlich etwa 400.000 Personen gegenüber. Bereits bevölkerte Annexionsgebiete erweitern eben den Spielraum der mutterländischen Bevölkerung unmittelbar meist nur, soweit die besitzenden Klassen in Frage kommen. Sie nehmen ihre Grundbesitzer auf und geben ihren Kapitalisten neue Möglichkeiten; sie senden dagegen ihre eigene, an niedrige Lebenshaltung gewohnten arbeitenden Klassen ins Mutterland, wo sie, wenn sie die Löhne drücken, nationale Animositäten in soziale umwandeln helfen. Auch dafür ist Irland ein Beispiel. Fast eine halbe Million geborener Iren leben heute in England und Wales. Beide Gruppen von Neuerwerbungen ermöglichen jedoch eine Verdichtung der heimischen Bevölkerung bei gesteigerter Lebenshaltung, wenn sie sich als Lieferanten von Nahrungsmitteln und Rohstoffen und als Märkte für mutterländische Produkte entwickeln. Ein gleiches kann ohne Annexion durch die Anbahnung internationaler Handelsbeziehungen erreicht werden. Dabei ist allerdings zu bedenken, daß die politische Beherrschung eines Landes die Ausbeutung von Märkten und die Ausnutzung von Produktionsmöglichkeiten erleichtert, wenn die in Frage kommenden Gebiete in das mutterländische System der Wirtschaftspolitik einbezogen werden. Eine solche Einbeziehung, wie z. B. die Eingliederung Algeriens ins französische Zollgebiet, ist ohne Vergewaltigung nur bei Ländern möglich, die geographisch aufeinander angewiesen sind. Ist das nicht der Fall, so bedeutet eine gemeinsame Wirtschaftspolitik die Ausbeutung des abhängigen Landes, das sich ohne diese durch den Verkehr mit fremden Ländern besser stellen würde. So ist’s z. B. den westindischen Besitzungen Frankreichs gegangen. Je mehr sich solche Gebiete entwickeln, desto schwieriger wird diese Politik, bis man schließlich gezwungen ist, ihre wirtschaftlichen Interessen zu berücksichtigen und ihnen unter Umständen sogar das Recht der eigenen Wirtschaftspolitik gewähren muß. Sie werden so aus der Stellung dienender Staaten herausgehoben und nähern sich allmählich in ihrer Struktur altentwickelten Annexionsgebieten, wie das in den englischen Dominions der Fall gewesen ist. Setzt man sich über die eigenen Interessen angegliederter Gebiete hinweg, die eine gewisse kulturelle Gleichwertigkeit besitzen – seien es eroberte Nachbarprovinzen oder entwickelte Kolonien –, und treibt man im Interesse des Mutterlandes eine Politik wirtschaftlicher Bevorzugung, so trägt man dadurch ein Moment der Herrschaftspolitik in die Handelspolitik. Man steigert etwa vorhandene nationale Gegensätze ins ungemessene. Der leidenschaftliche Vorwurf, der gegen England in Irland ganz besonders von englandfreundlichen Loyalisten erhoben worden ist, ist der der Ausbeutung Irlands im Dienste der englischen Handelspolitik. Um solche Folgen zu vermeiden, hat man in der Neuzeit oft die wirtschaftlichen Interessen der Nebenländer auf Kosten des Mutterlandes begünstigt und wie Rußland in Polen, nationale Regungen durch wirtschaftliche Begünstigungen zu ersticken gesucht. Völker, die keine Eroberungen machen können oder einen ungenügenden Kolonialbesitz haben, sind ausschließlich auf den Handel mit fremden Ländern ange-
58 | Weltpolitik und internationale Ordnung wiesen. Dadurch entgehen ihnen selbstverständlich gewisse Vorteile. Nur wenn das System der offenen Türe im vollsten Maße durchgeführt ist, können sie annähernd gleiche Handelsvorteile aus fremden Besitzungen ziehen wie deren Besitzer. Die Tatsache, daß sie weder ihre Menschen noch ihre Kapitalien in ein Land senden können, das diesen ohne weiteres zur politischen Heimat wird, hat indes manche nicht zu unterschätzende günstigen Folgen. Ihre Bevölkerung wandert zwar aus, wenn die wirtschaftlichen Erfolgsmöglichkeiten besonders anziehend sind, sie läßt sich aber in dem fremden Lande nur vorübergehend nieder. Sie spart für die Heimkehr, vorausgesetzt, daß die mutterländischen Verhältnisse erträglich sind. Sie erleichtert so die Bevölkerungszunahme in der Heimat. Das gleiche gilt für die Wanderung der Kapitalien, die nicht hinausgehen, um im Auslande verzehrt zu werden, sondern von ihren Besitzern der Fremde geliehen werden. Menschen und Güter ziehen hinaus, die Versorgung der eigenen Volkswirtschaft durch Handelsbeziehungen reichlicher gestaltend. Dazu kommt, daß man den schweren Lasten entgeht, die bei der Beherrschung fremder Völker unvermeidlich sind. Man muß weder zahlreiche Garnisonen in fremden Erdteilen halten, noch das Wohlverhalten eines unerlösten fremden Volkes durch die Macht der Bajonette erzwingen. Man ist in der inneren Politik nicht auf die Stimmen stammfremder Völkerschaften angewiesen, die ihre Mitwirkung an der mutterländischen Gesetzgebung sich durch kostspielige Sonderbegünstigungen bezahlen lassen. Man bedarf nicht der wirtschaftlichen Korruption, um einflußreiche Kreise des fremden Volkes vorübergehend für die eigene Sache zu gewinnen. Man muß nicht zwischen einer Politik wählen, die bald die Kolonisten begünstigt, damit sie die Interessen des Mutterlandes vertreten, bald die Eingeborenen versöhnt, damit sie Frieden halten. Man muß die auswärtige Politik nicht nach den Empfindlichkeiten unterworfener Volkssplitter gestalten. Man hat Grenzfragen von wirklicher Bedeutung nur in der Heimat zu lösen. Koloniale Nachbarschaften mit ihren ewigen Reibungen und der ewigen qualvollen Wahl, ob man Sicherheit durch Vorwärtsbewegung oder durch Verzicht erwerben soll, scheiden aus. Man muß gewiß den Traum aufgeben, die Schätze eines Montezuma für das heimische Schatzamt verwenden zu können, aber da überseeische Besitzungen heute Geld kosten, statt es zu bringen und selbst bei bester Verwaltung kostbare Menschenleben fordern, erspart man auch dieses Opfer. Infolge des Bevölkerungswachstums kann man die militärische Macht in der Stunde der Gefahr in der Heimat verwenden. Man bedarf der Flotte nicht, um den Zusammenhang zwischen Heimat und überseeischen Besitzungen aufrecht zu erhalten, sondern höchstens um die Versorgung der Heimat zu erleichtern.
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VI Diesen Vorteilen stehen aber gewisse Gefahren gegenüber. Man ist nirgends Herr und überall nur Gast. Und solange das internationale wirtschaftliche Gastrecht nicht völlig gesichert scheint, ist die Fortdauer des Wohlstandes, den man erwirbt, immer gefährdet. Die Konkurrenz auf fremden Märkten ist nur für solche Länder möglich, die einen unternehmenden Kaufmannsstand, ausreichendes Kapital und eine Industrie besitzen, die unter Umständen fremde Tarife durchbrechen kann. Auch dann muß man immer mit der Möglichkeit rechnen, daß fremde Märkte durch irgendwelche Zollabmachungen verloren gehen können, auch wenn grundsätzlich völlige Gleichberechtigung gesichert ist. Die marokkanische Angelegenheit und die Entwicklung der mandschurischen Frage mögen als Beispiele dienen. Überdies pflegen Handelsneid und wirtschaftliche Eifersucht häufig ebenso bittere Konflikte auszulösen wie der Wettbewerb um strittige Gebiete. Gerade die Länder, die sich ein mächtiges Kolonialreich geschaffen haben und teilweise freiwillig, teilweise gezwungen, anderen Nationen den Zutritt zu demselben gestatten, betrachten dieses internationale Servitut häufig als eine Ungerechtigkeit. Sie verlangen, daß ihr Gebiet, auch wenn sein Erwerb ausdrücklich an die Gewährung von Berechtigungen für andere geknüpft war, den eigenen Staatsangehörigen vorbehalten werde. Vor allen Dingen droht aber noch eine andere Gefahr. Die auswärtige Handelsentwicklung kann entweder über Land oder über See gehen. Soweit sie sich auf dem Landwege vollzieht, ist sie an den Bezug oder an die Durchfuhr aus Nachbarländern gebunden. Wenn diese Nachbarländer ihre wirtschaftliche Struktur ändern und nicht länger Rohstoffe und Nahrungsmittel liefern wollen, so scheiden sie als Versorgungsquellen aus. Es ist nicht immer möglich, andere Nachbarn an ihre Stelle treten zu lassen. Welches immer die geographische Lage eines Landes sein möge, die Anzahl seiner kontinentalen Nachbarn ist beschränkt. Es ist zweifelhaft, ob fern gelegene Länder ihre Waren als Durchfuhrgut durch Grenzländer senden können, wenn diese Grenzländer sie selbst benötigen oder ihre Durchfuhr erschweren. Anders liegen die Dinge beim überseeischen Handel. Das Meer, das die Länder trennt, vereint sie auch. Es ermöglicht den fernstgelegenen Gebieten, in steter Verbindung mit dem Bedarfslande zu bleiben und gestattet eine Vielgestaltigkeit der internationalen Handelsbeziehungen, die dem Überlandhandel fehlt. Dagegen ist mit dem Überseehandel die Gefahr verbunden, daß in Kriegszeiten die Zufuhr über See durch eine Blockade oder durch eine starke Ausdehnung der Bannwarenliste so gut wie unmöglich gemacht wird. Unter gegebenen geographisch-politischen Umständen ist dabei die nahezu völlige Isolierung eines ganzen Länderkomplexes möglich, wie der große Krieg gezeigt hat. Er hat überdies bewiesen, daß auch eine starke Flotte eine ausreichende Garantie gegen solche einschneidende Maßnahmen nicht zu schaffen vermag. Man kann durch eine Flotte den überseeischen Verkehr des Gegners stören oder vernichten, man kann aber, wie dies Englands Erfahrung zu beweisen scheint, den eigenen, selbst bei gewaltiger Überlegenheit nur unvoll-
60 | Weltpolitik und internationale Ordnung kommen sicher stellen. Das gilt natürlich nicht nur für den Überseeverkehr mit den Neutralen, sondern noch in verstärktem Maße für den mit eigenen Gebieten. Daher ist das Wachstum eines Volkes durch den Handelsverkehr nur unter zwei Voraussetzungen möglich. Es muß einmal die freie Zulassung des Handels im weitesten Sinne des Wortes, der Waren sowohl wie der Menschen wie des Kapitals aller Länder, in allen Ländern verbürgt sein. Es muß das Prinzip zum Siege gelangen, daß die Betätigung des Kaufmanns in fremden Ländern keine Gnade, sondern ein Recht ist. Es muß überdies ein internationales System geschaffen werden, das den überseeischen Handel auch für die Zeiten sicher stellt, zu denen einzelne Völker miteinander im Kriege stehen. Es handelt sich dabei nicht nur um Interessen von Kriegführenden; hat doch der große Krieg gezeigt, daß auch die berechtigte Ausfuhr der Neutralen nach kriegführenden Ländern jederzeit gestört werden kann, indem man ihnen mit dem Abschneiden ihrer Zufuhr droht. Das Wachstum der Völker durch Handelsentwicklung ist in der Vergangenheit nur in einzelnen Ländern in voller Reinheit zum Ausdruck gekommen. Nur ein Land wie die Schweiz, das in neuester Zeit keinerlei Erweiterung durch Angliederung erfahren hat und erfahren konnte, ist in seinem sozialen und industriellen Wachstum wesentlich vom Außenhandel bestimmt worden. Auch bei ihrer Entwicklung haben indes die Angliederung und die Erschließung überseeischer Gebiete mitgespielt. Indem die räumliche Basis vieler Länder erweitert worden ist – man denke nur an die Entwicklung Amerikas oder des britischen Reiches –, sind die Handelsmöglichkeiten aller Länder erweitert worden. Das gilt in einem gewissen Sinne auch für die Entwicklung Deutschlands, die ohne die Erschließung fremder Länder durch fremde Arbeit und fremdes Kapital ihren mächtigen Umfang nicht hätte erreichen können. Bei den meisten Großmächten aber, vor allen Dingen in England und Frankreich, haben sich Gebietserweiterung und soziale Umschichtung durch Handelsbeziehungen mehr oder minder parallel entwickelt. Die britische überseeische Kolonisation und der englische Welthandel haben sich gegenseitig gefördert. Nur bei wenigen Gebieten kann man sagen, daß ihr Wachstum im wesentlichen durch Raumerweiterung bedingt worden sei. Das mag im großen ganzen für das russische Reich gelten, dessen zunehmende Handelsentwicklung ohne seine gewaltige räumliche Erweiterung kaum denkbar gewesen wäre. Es gilt in weit beschränkterem Sinne für die Vereinigten Staaten bis zum großen Kriege. Wenngleich ihre Handelsentwicklung eine beträchtliche gewesen ist, so tritt sie doch in ihrer Wirkung auf die soziale Umschichtung des Landes hinter der räumlichen Ausbreitung über den Kontinent weit zurück. Bis zum Ausbruch des Krieges waren die Vereinigten Staaten weit weniger ein Handelsland als ihre Vorgänger, die ursprünglichen 13 Kolonien, die sich nach der Revolution zum amerikanischen Bundesstaat zusammenschlossen. Mischungen der beiden Systeme finden sich bei den verschiedenen Völkern; sie sind jedoch im innersten Wesen scharf voneinander zu sondern. Das Wachstum durch territoriale Angliederung gründet sich auf Herrschaftspolitik, die soziale Um-
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schichtung beruht auf Handelspolitik, die zum mindesten als ideale Forderung ohne militärische und maritime Zwangsmittel denkbar ist. Je mehr die Zeit fortschreitet, desto mehr wird naturgemäß trotz aller Schwierigkeiten, die zu überwinden sind, das System der Handelspolitik in den Vordergrund treten. Die neuen Gebiete, die noch erschlossen werden können, fallen an Zahl nicht mehr ins Gewicht. Die ganze Erde ist besiedelt, fast nirgends außerhalb von Zentralafrika sind Völkerschaften vorhanden, die ohne weiteres von einer Macht an eine andere abgetreten werden könnten. Gerade der große Krieg hat überall, auch in den kolonialen Gebieten, Nationalitätsgefühl und Selbständigkeitsbestrebungen ausgelöst, die der Friede nicht zum Stillstand bringen wird. Obwohl noch weite Gebiete der Welt lange Jahre die Methode der kapitalistischen Führung durch Europa oder Amerika nicht werden entbehren können, wird der Gedanke der Herrschaft bei ihnen mehr und mehr zurücktreten müssen. Und was für zurückgebliebene Völker gilt, das wird nach dem Kriege in verstärktem Maße für die höherstehenden von Bedeutung sein. Die Beherrschung fremder Völkerschaften wird mehr und mehr mit Opfern und Aufwendungen verbunden sein, mit Anspannung von Macht und Reichtum, die den Wert der Besitzungen, sei er auch noch so groß, zu vermindern drohen und politisch-militärische Gefahren schaffen, wo geographisch-militärische Sicherheiten geplant waren. Diese Erkenntnis wäre dem deutschen Volke auch dann nicht erspart geblieben, wenn die politischen Vorstellungen, denen der Friede von Brest-Litowsk entsprungen ist, zur Verwirklichung gelangt wären. Sie wird jetzt von seinen Gegnern mißachtet, die heute mit den gleichen Mitteln die Vergewaltigung deutscher Volksbestandteile für ähnliche Zwecke erstreben, deren Verwerflichkeit sie nicht laut genug betonen konnten, solange die Deutschen sie verfolgten. Sie werden in der gleichen Weise an den gleichen unlösbaren Aufgaben scheitern wie die deutsche Politik in Polen und die englische Politik in Irland. Es ist das Verdienst des Präsidenten Wilson, daß er das in seinem Friedensprogramm der 14 Punkte deutlich erkannt hat. Er hat in demselben eine klare Bereinigung der europäischen Nationalitätenfragen verlangt, um dadurch das System der Herrschaftspolitik in Europa zu beseitigen. Er hat bestimmt ausgesprochen, daß die kolonialen Besitzverhältnisse der europäischen Mächte kein ausbeutendes Herrschaftsverhältnis sein dürften. Er hat eine gerechte Verteilung der kolonialen Gebiete erstrebt und die Schaffung eines kolonialen Trusts in der Hand weniger Völker zu verhindern gesucht. Er hat vor allem eine Sicherung der internationalen Handelsbeziehungen herbeiführen wollen, die den territorial benachteiligten Völkern die handelspolitische Ausbreitung ermöglichen soll, und die die monopolistische Ausbeutung seitens bevorzugter Mächte, die große Mutterlandsgebiete und großen kolonialen Besitz ihr eigen nennen, verhindert. Er hat damit die Gedanken wieder aufgegriffen, die die Führer der englischen Freihandelsschule zur Grundlage ihrer äußeren Politik gemacht hatten. Er ist nur in sehr beschränktem Sinne erfolgreich geblieben, weil ihm trotz richtiger Erkenntnis die Gabe versagt zu sein scheint, im
62 | Weltpolitik und internationale Ordnung entscheidenden Moment mit seinen Anschauungen zu stehen und zu fallen. Wenn aber die Welt künftige Kriege vermeiden will, dann muß über kurz oder lang doch eine Ordnung herbeigeführt werden, die nicht einzelnen bevorzugten Mächten die Reichtumsquellen der Erde durch Beherrschung ausgewählter Territorien gewährt und die anderen zu kärglichen Nutznießern der Abfälle dieses Reichtums macht. Wenn eine völlig gerechte Regelung aller territorialen Fragen nicht herbeigeführt werden kann – und das scheint nicht eben wahrscheinlich –, dann kann das nur durch eine dauernde Sicherung billiger Handelsbeziehungen geschehen. An die Stelle der Herrschaftspolitik muß die Handelspolitik treten.
2 Gerechtigkeit (1919) In den dunkelsten Stunden des Weltkrieges, wenn nirgends eine Hoffnung auf baldigen Friedensschluß sichtbar war, konnte in allen Lagern nur ein Gedanke die bedrückten Gemüter aufrichten: die Überzeugung, daß dieser Krieg der letzte sein werde. Das Geschlecht, das seine Schrecken mitfühlend oder mitkämpfend miterlebte, durfte den Gedanken haben, daß der einzige Gewinn, den der Krieg bringen könne, in der Herbeiführung eines dauernden Friedens bestehen werde. Ein solcher Friede war nur erreichbar, wenn am Abschluß des Krieges ein Völkerbund stand. Ein Völkerbund konnte aber nur zustande kommen, wenn die kämpfenden Gruppen sich zu einem Frieden vereinten, der jeder von ihnen politisch und wirtschaftlich die gleichen freien Entwicklungsmöglichkeiten sicherte wie ihren Gegnern und Mitbewerbern. „Nur ein Friede zwischen Gleichen kann dauern, – nur ein Friede, dessen Grundsatz Gleichheit und gemeinsame Anteilnahme am gemeinsamen Nutzen ist“, sagte der hauptsächliche Vertreter dieser Gedanken, Präsident Wilson, am 22. Januar 1917. „Gleichheit des Gebiets und Gleichheit der Hilfsquellen“, fuhr er fort, „kann es natürlich nicht geben … Aber niemand verlangt und erwartet mehr als Gleichheit der Rechte“. Ein solcher Friede war nur denkbar als „Friede ohne Sieger“. Eine Reihe unglückseliger Verkettungen, darunter an erster Stelle die Verblendung der deutschen Militärpartei, hat den Abschluß eines solchen Friedens im geeigneten Moment, vor allem im Januar 1917, verhindert. Der kommende Friede ist auf dem Zusammenbruch Deutschlands aufgebaut. Selbst wenn er einen Völkerbund bringen sollte, ist es zweifelhaft, ob dieser Völkerbund auf der Grundlage der Gerechtigkeit stehen wird.
I In einer seiner Wahlreden hat Lloyd George betont, der kommende Friede werde ein „erbarmungslos gerechter Friede“ sein. Deutschland habe die Entscheidung der Waffen angerufen; es sei unterlegen. Wie die Partei, die vor Gericht unterliege, die Kosten des Verfahrens zu tragen habe, so sei es ein Gebot der Gerechtigkeit, daß Deutschland jetzt für alle Schäden aufkommen müsse. Diese Ausführungen beweisen, daß bei den Gegnern Deutschlands heute eine Auffassung der Gerechtigkeit vorherrscht, die von den Völkerbundsidealen weit abweicht. Das Ideal des Völkerbundes ist verwirklicht, wenn ein unparteiischer Gerichtshof alle Konflikte der Völker nach Rechtsregeln ohne Rücksicht auf die Machtverhältnisse der Beteiligten zu entscheiden vermag. Durch die Mitwirkung der Neutralen als Richter wird die formale Gerechtigkeit erreicht, durch die unvoreingenommene Würdigung des Streitfalles die materielle. Ein Friede, der auf einer mili-
64 | Weltpolitik und internationale Ordnung tärischen Entscheidung beruht, muß schon nach der formalen Seite von dem Ideal der Gerechtigkeit abweichen. Materiell ist es dagegen erreichbar, wenn die Bedingungen eines solchen Friedens dem Urteil entsprechen, das ein gerechter, alle Tatsachen kennender Neutraler fällen würde. Wenn aber der Sieger seine Friedensbedingungen verkündet und sie selbst als gerecht bezeichnet, so beansprucht er damit die Stellung des Richters, während ihm nur die Stellung des Klägers gebührt. Und wenn er betont, seine Forderungen seien gerecht, weil er als Sieger das Recht habe, das Maß der Opfer zu entscheiden, die dem Besiegten aufzuerlegen seien, so entfernt er sich von dem Ideal der internationalen Gerechtigkeit, das im Völkerbund verwirklicht werden soll. Er sinkt zurück auf den Standpunkt des mittelalterlichen Gottesgerichtes, bei dem die Niederlage als Zeichen des Unrechts gilt. Das ist zweifelsohne die Auffassung der militaristischen Kreise in Deutschland gewesen, die die Alliierten mit Recht bekämpft haben. Wenn Lloyd George heute die Behauptung aufstellt, Deutschland habe die Entscheidung der Waffen angerufen, es müsse sich jetzt mit ihr zufrieden geben, so wird dadurch die von den Alliierten verworfene Form der Gerechtigkeit zur Anwendung gebracht. So begreiflich das menschlich sein mag, so bedeutet es die Preisgabe des Gerechtigkeitsideals, das der Welt als maßgebend hingestellt wurde. Ein Friede, der auf dieser Grundlage geschlossen ist, wäre in nichts verschieden von dem Gewaltfrieden vergangener Zeiten und gänzlich ungeeignet als Grundlage eines Völkerbundes. Es ist mehr als zwecklos, den törichten Versuch der Reinwaschung wieder aufzunehmen, mit der eine geschickte Organisation der öffentlichen Lüge das Gewissen des deutschen Volkes einzuschläfern im Stande war. Die Verletzung der belgischen Neutralität kann als internationales Unrecht auch dann nicht geleugnet werden, wenn man den Verdacht für begründet ansieht, daß die Alliierten im ähnlichen Falle ebenso gehandelt hätten. Und im Kriege sind zweifelsohne zahlreiche Fälle vorgekommen, die durch die militärische Notwendigkeit – selbst wenn man eine solche anerkennen will – nicht gerechtfertigt waren. Unsere Gegner haben das unbestreitbare Recht, die Sühne dieser Vorkommnisse zu verlangen. Sie haben die Macht, diese Sühne in die eigene Hand zu nehmen. Wenn sie aber einseitig die Bedingungen festlegen, unter denen dieselbe erfolgen soll, so verleihen sie damit dem ganzen Vorgang den Charakter eines einseitigen Gewaltaktes, auch wenn sie im Namen der Gerechtigkeit zu sprechen glauben. Wenn keine der Deutschland aufzuerlegenden Strafen irgend einem alliierten Lande einen besonderen Vorteil gewährte, dann, aber auch nur dann könnte der Eindruck uneigennütziger Gerechtigkeit hervorgerufen werden. In den alliierten Ländern fließen heute die verschiedensten Beweggründe durcheinander, wenn die gerechte Strafe für den Schuldigen verlangt wird. Wie bei allen öffentlichen Dingen drängen sich, dem Einzelnen unbewußt, rein private Vorstellungen in den Vordergrund. Die Gesellschaft bestraft den Verbrecher aus verschiedenen Gründen. Bald schreitet man gegen ihn ein, weil man Wiedervergeltung
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zu üben wünscht, bald verlangt man seine Bestrafung, um andere abzuschrecken; bald wird er unschädlich gemacht, damit er die Interessen der Gesellschaft nicht fernerhin gefährden könne; bald wird er eingekerkert, damit er in sich gehe und sich bessere. Alle diese verschiedenen Auffassungen werden heute Deutschland gegenüber geltend gemacht, um die Gerechtigkeit der Strafe zu erweisen. Ihr Gewicht würde wesentlich größer sein, wenn die Strafe von einem Gerichtshof und nicht von einer Partei verhängt würde; sie wären aber auch dann nur zum Teil begründet. Den einzelnen Verbrecher vermag die Justiz unter Umständen dauernd unschädlich zu machen; wenn man ein Volk nicht durch Pogrome ausrottet – und das ist einem europäischen Volk gegenüber unmöglich –, so lebt dasselbe trotz stärkster Bestrafung fort. Die Strafe trifft dann im Laufe der Zeit nicht diejenigen, die irgendwie verantwortlich gemacht werden können; sie fällt auf die künftige Generation; ja selbst unter den heute lebenden sind diejenigen, die infolge ihrer Jugend keinerlei politischen Einfluß üben konnten, sicher unschuldige Opfer. Sie werden die Strafe nicht als gerechte Wiedervergeltung empfinden und nicht durch Abschreckung von ihrem Streben nach Freiheit abgehalten werden. Im Gegenteil. Im Leben der Völker bilden sich Legenden um einen recht dürftigen Kern von Wirklichkeit. Wie heute die Alliierten die uferlosen Pläne, die die Alldeutschen im Laufe des Krieges entwickelt haben, als Beweis dafür ansehen, daß der Krieg zur Ausführung dieser Pläne begonnen wurde, so wird die Wiedervergeltung der Alliierten der künftigen Generation des deutschen Volkes Beweis dafür sein, daß seine Versklavung Zweck, nicht Folge des Krieges gewesen ist. Und aus dem Gefühl der ungerechtfertigten Vergewaltigung kann leicht eine flammende nationalistische Gesinnung erwachen, die das ungerechte Friedenswerk im gegebenen Augenblick erschüttern wird. Obwohl heute glücklicherweise niemand in verantwortlicher Stellung in Deutschland mit Revanchegedanken spielt, ist die Furcht vor ihnen bei den Alliierten lebendig. Während ihre Staatsmänner auf der einen Seite die Sicherheit der Welt in einem Völkerbund suchen, sind sie auf der andern an der Arbeit, durch einen Gürtel mitteleuropäischer Staaten Deutschland so einzuengen, daß jede Erstarkung ausgeschlossen erscheinen muß. Sie wollen es erdrücken, damit es sich nie wieder erhebe. Während sie im Namen der Gerechtigkeit ein Urteil zu sprechen vorgeben, suchen sie die neue Weltordnung, deren Schaffung sie als oberstes Ziel des Krieges hinstellten, mit den Mitteln der Gewalt zu sichern. 1 Ihr Vorgehen ist durchaus begreiflich, wenn diese Ordnung der Gerechtigkeit nicht entspricht. Selbst wenn ein schlüssiger Beweis dafür geführt werden könnte, daß die Schuld des deutschen Volkes in der Vergangenheit so ungeheuer gewesen ist, daß nur zerschmetternde Bestrafung als Sühne in Betracht kommen könne, ließe sich das deutsche Volk in dieser Weise von seiner Schuld nicht überzeugen. Sittliche || 1 Clemenceaus Rede vom 29. Dezember [1918 vor der Deputiertenkammer].
66 | Weltpolitik und internationale Ordnung Läuterung ist ebensowenig durch nationale Marterung zu erreichen, wie eine gesunde internationale Politik der Zukunft, weit abweichend von Politik der Vergangenheit, durch brutale Abschreckung erzielt werden kann. Die Politik der „Schrecklichkeit im Kriege“, die die Alliierten mit Recht so oft verdammt haben, wird durch eine Politik der „Schrecklichkeit im Frieden“ nicht aus der Welt ausgerottet werden. Der Sieg der Idee des Rechts gegenüber der Gewalt kann im deutschen Volk nur dauernd Fuß fassen, wenn die Alliierten die Gedanken des Rechts, die sie tapfer festgehalten haben, als der Ansturm der „preußischen“ Macht ihre Linien zu brechen suchte, ohne Rücksicht auf die eigenen Vorteile verwirklichen, wenn sie die Macht in den Händen haben. Tun sie das nicht, so wird die einzige Lehre, die das deutsche Volk aus dem Kriege zieht, die sein: Daß heute wie in alter Zeit der Sieger sein Vae Victis! ausruft und seine Ideen von der Gerechtigkeit als überflüssig auf die Seite stellt. Und wenn der Sieger nur durch eine gewaltige Massenanstrengung über einen an Menschen und Material weit unterlegenen Feind sein Ziel erreicht hat, dann wird das Volk sich zwar zeitweilig kasteien und sich fußfällig als Sünder bekennen, solange die Wunden noch frisch sind und schmerzen. Im innersten Herzen aber wird es den Glauben hegen, daß ihm Unrecht geschehen ist. Die Sünden der verantwortlichen Staatsmänner werden im Laufe der Zeit vergessen; im tiefsten Elend wird der Stolz auf die eigene Kraft, die einer Überzahl von Gegnern standgehalten hat, als tröstliche Erinnerung gepflegt werden. Generationen werden aufwachsen, die den Druck des Krieges nicht kannten und nur die Schmach der Versklavung fühlen. Aus Tragen und Dulden wird ein Murren und Grollen werden, bis eines Tages ein Tag der Befreiung kommen wird. Denn ein ungerechter Friede kann nicht dauern, auch wenn ihn ein Völkerbund verewigen sollte. Denn ein Völkerbund kann nur Segen bringen, wenn er ein leichtes elastisches Band ist, das die Völker aneinander knüpft. Es muß ihnen die Möglichkeit schaffen, daß ihr Werden und Wachsen nicht gehemmt wird, und daß die Verschiebungen, die sich aus diesem Wachstum ergeben, durch friedliche Aussprache, nicht durch militärische Gewalt entschieden werden. Wenn er ein eiserner Ring ist, der ins Fleisch der Schwächeren einschneidet, so wird er durch die quellenden Säfte eines Tages gesprengt werden.
II Ob der Friede gerecht ist oder nicht kann nicht durch Feststellung der Schuld am Kriege entschieden werden. Der Krieg selbst hat die Probleme nicht geschaffen, deren Lösung der Menschheit obliegt. Er stellt nur einen Versuch dar, mit der Waffe die Lösung herbeizuführen. Gerade wenn man auf dem Standpunkt steht, daß der Krieg als solcher eine ungeeignete Methode ist, die wirklich großen Probleme der Menschheit zu lösen, kann man sein militärisches Ergebnis nicht schon als Lösung betrachten. Ein deutscher Sieg hätte uns nicht die Gewißheit gegeben, daß eine
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gerechte Lösung dieser Probleme erfolgen werde; im Gegenteil, die besten Männer in Deutschland haben nach Brest-Litowsk gefürchtet, daß ein Sieg infolge militärischer Verblendung eine solche nicht bringen werde. Ein Sieg der Alliierten bedeutet daher nur, daß die Möglichkeit der gerechten Lösung jetzt ihren Händen anvertraut ist, – aber nicht, daß diese Möglichkeit auch Wirklichkeit wird. Die Gerechtigkeit des Friedens hängt von der Lösung der Fragen ab, deren Dasein vor dem Kriege das Leben der Völker vergiftete. Sie waren in der verwickeltsten Weise eine mit der anderen verbunden. Das wesentliche aber war, daß die Welt in gesättigte und in hungrige Nationen zerfiel. Die hungrigen Nationen der Welt verlangten nach politisch-kultureller Freiheit oder nach wirtschaftlichen Ausbreitungsmöglichkeiten. Die gesättigten Nationen suchten ihren Besitz zu sichern, sei es gegenüber unterworfenen „hungrigen Nationen“, sei es gegenüber dem Wettbewerb aufstrebender freier Völker. Nationale Daseinsbedingungen politischer und wirtschaftlicher Natur waren selbst bei den mächtigen Staaten infolge des gegenseitigen Argwohns und der daraus entspringenden gewaltigen Rüstungslasten nirgends völlig gesichert; sie waren bei den hungrigen Nationen teilweise mangelhaft, teilweise überhaupt nicht vorhanden. Die bestehende Ordnung der Welt war durch Gewalt entstanden und durch Gewalt geschützt. Wohl waren seit Jahrzehnten edlere Kräfte an der Arbeit, um das Werk der Gewalt teilweise zu ersetzen. Aber die Grenzlinien der europäischen Staaten und die Umrisse der außereuropäischen Reiche waren fast überall mit dem Schwerte gezogen. Gewalt und List waren trotz aller völkerrechtlichen Fortschritte die anerkannten Methoden der bestehenden Staatskunst, die – ungeachtet des Widerspruchs zahlreicher Idealisten – von allen Staaten überall angewandt wurden. Erst der Große Krieg selbst hat zum mindesten in Europa die Abscheu gegen den Krieg hervorgerufen. Man darf sich daher heute die Zeit vor dem Krieg nicht als idyllisches Völkerparadies vorstellen, das verloren ging, weil die deutsche Schlange die Menschheit beredet habe, vom Baume der Erkenntnis zu essen. Im Gegenteil, der Zustand vor dem Krieg war unbefriedigend, weil zahlreiche Völkerschaften nicht die Grundlagen der nationalen Daseinsentwicklung hatten. An diesem Zustand waren Deutschland und Österreich sicher nicht unschuldig, nicht weil sie, wie man es heute gerne darstellt, mit einer doppelten Portion Erbsünde belastet waren, sondern weil ihre Wohnsitze in den Teilen Europas gelegen sind, wo im Laufe der Geschichte drei große Rassen aufeinander gestoßen sind, und zwar zu einer Zeit, die von einem Selbstbestimmungsrecht der Völker keine Ahnung hatte, und die die kriegerische Ausbreitung nicht nur für erlaubt, sondern sogar für wünschenswert erachtete. Daß sie in der Verwaltung fremder Völker große Fehler gemacht haben, sei unumwunden zugegeben. Wer aber das Fremdvölkerproblem in Europa studiert hat, gewinnt nicht den Eindruck, daß es irgendwo, wo es sich um Völkerschaften handelt, die historisch festgewurzelt sind, besonders glücklich gelöst worden ist. Und Recht und Unrecht sind auch in der Vergangenheit recht gemischt. Wenn die Tschechen dem kaiserlichen Österreich rücksichtslose Unterdrückung vorwerfen, so sollte man nicht vergessen, daß tsche-
68 | Weltpolitik und internationale Ordnung chische und südslavische Bajonette im Jahre 1848 die deutsche Freiheit vernichtet haben. Mit solchen historischen Erörterungen ist indes die Frage nicht zu lösen. Die Aufgabe der Zukunft ist es, allen europäischen Völkern ein völkerwürdiges, menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen. Nur ein Friede, der das herbeiführen kann, ist ein gerechter Friede. Tut er das nicht, so wird er ohne heilende Kraft sein, selbst wenn in seinen Bedingungen der Frage der Schuld am Kriege ausreichend Rechnung getragen würde. Zu den Völkern, denen ein gerechter Friede ein völkerrechtliches Dasein gewähren muß, zählt auch das deutsche Volk. Wie schwer auch seine Schuld sein möge, sein Dasein ist ihm von einer höheren Macht bestimmt worden als von seinen Gegnern; die Bedingungen, unter denen es dasselbe führen soll, dürfen daher dem nicht widersprechen, was die Gerechtigkeit für alle Völker fordert.
III „Kein Friede kann und soll dauern, der nicht den Grundsatz ausbaut und annimmt, daß alle Regierungen ihre rechtmäßige Macht von der Zustimmung der Regierten erhalten, und daß nirgends ein Recht besteht, Völker von einem Herrscher zum anderen zu übertragen, als ob sie Eigentum wären.“ – „Ein Friede, der diesen Grundsatz nicht ausbaut und annimmt, wird zweifelsohne umgestoßen werden.“ – „Die Welt kann nur Frieden haben, wenn ihr Leben auf fester Grundlage ruht; eine solche ist unmöglich, wenn der Wille rebelliert, wenn die Geister nicht zur Ruhe kommen und wenn das Gefühl von Gerechtigkeit, Freiheit und Recht fehlt.“ Diese Worte, die Präsident Wilson am 22. Januar 1917 gesprochen hat, sollten den Weg zur Lösung der europäischen Nationalitätenfrage weisen. Diese Frage sollte nicht auf ethnographischer, geographischer oder historischer Grundlage, sondern auf demokratischer Grundlage gelöst werden. Nicht die Rassenverwandtschaft, nicht historisch-geographische Ansprüche auf bestimmte Gebiete, sondern der Wille der Bevölkerung sollte für die Art ihrer Herrschaft entscheidend sein. Das war eine Ablehnung des deutschen Anspruchs auf Elsaß-Lothringen, der sich auf die beiden Tatsachen stützte, daß Elsaß-Lothringen einst einen Teil des Reiches gebildet hatte, und daß 87% der Bevölkerung deutscher Abstammung waren. Entscheidend sollte allein der Wille der Bevölkerung sein. Wem das Selbstbestimmungsrecht der Völker mehr als eine hohle Phrase ist, der konnte sich ruhig auf diesen Boden stellen. Er konnte zugeben, daß die Annexion Elsaß-Lothringens im Jahre 1871 ohne Befragung der Bevölkerung ein Unrecht gegen Elsaß-Lothringen war, er konnte aber auch verlangen, daß dieses Unrecht nicht durch eine gewaltsame Rückversetzung in den alten Zustand gesühnt werde, sondern durch einen geordneten Akt der Selbstbestimmung. Gerade wenn man auf der alliierten Seite überzeugt ist, daß die elsässisch-lothringische Bevölkerung eine Losreißung von Deutschland und eine Angliederung an Frankreich wünscht, sollte dieser Weg gegangen werden. Es müßte den
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Elsässern die Wahl zwischen der Angliederung und der Bildung eines autonomen Staates ermöglicht werden. Tut man das nicht, so beweist man bloß, daß man sich vor der Gerechtigkeit fürchtet. Und es ist selbstverständlich, daß diejenigen, die bona fide Bürger und Bewohner eines Landes geworden sind, das gleiche Recht der Selbstbestimmung haben wie ihre länger ansässigen Mitbürger. Man trägt aber heute auf alliierter Seite Vorstellungen in das Nationalitätenproblem hinein, die im Zeitalter des kommunistischen Stammeseigentums bedingt richtig waren, aber der modernen Welt- und Wirtschaftsanschauung nicht mehr entsprechen. Der Boden eines modernen Landes ist als solcher nicht länger Eigentum des Staates; die heutige Generation besitzt ihn nicht als Vertreter längst erloschener Geschlechter. Sie besitzt ihn auf Grund ererbter und erworbener Rechte. Das moderne Recht stellt das erworbene Recht dem ererbten völlig gleich: Es kennt nirgends in einem vollentwickelten Staate mit westlicher Kultur ein besseres und ein schlechteres Eigentum – der unglückselige Versuch, ein solches in Posen einzuführen, ist uns mit Recht von allen Seiten verdacht worden. Der moderne Staat kennt auch nirgends zweierlei Bürger: Eingesessene und Eingewanderte. Er macht den letzteren unter Umständen Schwierigkeiten bei der Erwerbung der Staatsbürgerrechte; wenn er sie gewährt hat, muß der Unterschied wegfallen. Um die Gewährung solcher Rechte sind Kriege geführt worden: Der Burenkrieg nahm seinen Ausgang von der Tatsache, daß die alte Transvaalregierung wirtschaftlich und politisch ihr Land als geschlossene Domäne betrachten und die Ausländer von der Gleichberechtigung ausschließen wollte. Diese scheinbar überwundenen Anschauungen treten jetzt bei den von den Alliierten befreiten Völkern in den Vordergrund. Sie betrachten das Staatsgebiet, das sie gemeinsam mit Deutschen bewohnen, als Stammesgebiet, dessen wirtschaftliche Nutzung sie vielleicht mit den Kolonisten teilen wollen, dessen politisch ungeteilte Beherrschung aber ihnen zusteht. Das ist ein Rückfall in die Tage der Clanherrschaft, wo ein Volk das von ihm besetzte Gebiet als Stammeseigentum ansah, auf dem die Fremden weder wirtschaftliche noch politische Rechte hatten. Diese Auffassung ist längst durch die moderne Demokratie überwunden worden, die dem einzelnen politische Rechte gibt und den Gruppen der einzelnen das Recht der Entscheidung. Verwirft man das, fordert man, wie das heute die Tschechen tun, daß die geschlossenen Siedelungen der Deutschen bei Böhmen bleiben müssen, weil sie ein historisch gewordenes Staatsgebiet bedecken, dann beugt man das Selbstbestimmungsrecht nationaler Minderheiten zu Gunsten einer fremden Mehrheit unter das Gesetz des historisch Gewordenen. Dann opfert man den Willen derer, die leben und unter bestimmten Gesichtspunkten leben wollen, dem Willen derjenigen, die in den Grüften modern. Und man opfert das Prinzip der Demokratie seinem schlimmsten Gegner: der Herrschaft des Gewesenen. Und nicht anders liegen die Dinge, wenn man dem Grundsatz des Selbstbestimmungsrechtes der Völker die Forderung des wirtschaftlich geschlossenen Gebiets oder der natürlichen Grenze entgegenhält. Es spricht sehr viel dafür, das Nati-
70 | Weltpolitik und internationale Ordnung onalitätenprinzip nicht auf die Spitze zu treiben. Seit die großen Wanderbewegungen der Völker eingesetzt haben, sind selbst in wirtschaftlich geschlossenen, zusammenhängenden Wirtschaftsgebieten stark gesprenkelte Völkerbilder entstanden. Man kann den Völkersplittern, die so in einheitlichen Gebieten entstehen, das Recht der politischen Nationalität verweigern, wenn man ihnen nur die Wahrung der kulturellen Nationalität sichert, weil sonst eine Zerreißung einheitlicher Wirtschaftsgebiete lebensunfähige Zwergstaaten erfolgen würde. Man kann von diesem Standpunkte aus begreifen, daß die Tschechen die Abtrennung der deutschen Teile Böhmens nicht gewähren wollen. Man muß sich aber in diesem Falle klar darüber sein, daß man dann an Stelle des Prinzips der nationalen Einheit das der wirtschaftlichen Einheit setzen würde. Das Prinzip der nationalen Selbstbestimmung wäre von neuem in Frage gestellt, wenn Minderheiten ihre gefühlsmäßigen Lebensziele den nationalen Interessen der Mehrheiten opfern. Tut man das, dann gebietet die Gerechtigkeit, daß man diesem Prinzip in der Weltordnung überhaupt zum Durchbruch verhelfe. Man kann aber nicht das Gebiet Österreich-Ungarns, das eine lebensfähige wirtschaftliche Einheit dargestellt hat, in einzelne Splitter zerschlagen und dann die geographisch-wirtschaftliche Einheit dieser verstümmelten Bruchstücke mit Gewalt gegen den Willen fortstrebender Minoritäten aufrecht erhalten wollen. Man kann sich vielleicht auf den Standpunkt stellen, daß in einer aus freiem Willen zusammengeschlossenen Nationalen Demokratie, wie es die Vereinigten Staaten sind, einer Minderheit das Recht der Sezession nicht zusteht. In einem national zwiespältigen Staate liegt die Sache anders – wenn man ihn auf das nationale Prinzip aufbauen will. Tut man das nicht, dann schätzt man eben wirtschaftlichgeographische Einheit höher ein, als nationale Willensströmungen. Es wird wahrscheinlich nach dem Ablauf einer Periode überspannter Nationalitätenpolitik eine Zeit kommen, in der die Staaten ihre Einheit auf Grund ihrer wirtschaftlichgeographischen Geschlossenheit erstreben werden. Inzwischen kämpft aber der Grundsatz der natürlichen Landeseinheit noch mit dem der nationalen Staatseinheit. Der kommende Friede besiegelt einstweilen den vorübergehenden Sieg des nationalen Prinzips. Dann darf dasselbe aber auch nicht einseitig zu Gunsten der Alliierten angewandt werden. Wenn Tschechen und Polen das Recht auf ein geschlossenes Wirtschaftsgebiet haben, selbst wenn dadurch zahlreiche Fremdvölker neuen Machthabern gegen ihren Willen unterworfen werden, die den Beruf zum Herrschen erst noch erweisen müssen, dann darf die alte Kulturgemeinschaft des deutschen Volkes nicht zerrissen werden, damit die Polen einen politisch freien Zugang zum Meere haben und die Tschechen die reichen Bodenschätze DeutschBöhmens auszunützen vermögen. Wenn die leidenschaftliche Spannung der großen Nationalitätskämpfe sich ausgelöst haben wird und erst den Völkern die Tatsache klar geworden ist, daß man durch frei gewollte, gemeinsame Ziele die politische Lebensgemeinschaft verschiedener Völkerschaften zu politischer Einheit zusammenfassen kann, dann werden die auseinanderstrebenden Neigungen im Völkerleben aufhören. Nationale Minder-
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heiten werden im Gefühl kultureller Gleichwertigkeit neben nationalen Mehrheiten leben und lieber gemeinsam an Staatszwecken schaffen, als sich in kläglicher Isolierung kulturell verbluten. Dazu gehört aber der freie Wille. Das Ergebnis des Krieges ist die Befreiung des Willens vieler bis jetzt gebundener Völkerschaften in Ostund Südosteuropa. Es würde von neuem die Frage gestellt, wenn an Stelle der alten Bindung von Slaven durch Deutsche die Bindung von Deutschen durch Slaven eintreten würde. Glaubt man wirklich, daß die Entwicklung Europas an innerer Reichhaltigkeit gewinnen wird und daß Recht und Gerechtigkeit in dieser Welt gesichert wird, wenn an Stelle der tschechischen und der polnischen Irredenta in Böhmen und Posen eine deutsche Irredenta gesetzt würde? Ist das Selbstbestimmungsrecht der Völker wirklich dadurch gewahrt, daß man den Deutschen Böhmens den Anschluß an das deutsche Volk mit den gleichen historisch-geographisch-wirtschaftlichen Gründen verwehren will, mit denen man früher die Notwendigkeit einer Fremdherrschaft gegenüber den unterworfenen Völkern zu rechtfertigen pflegte? Gerechtigkeit in nationaler Hinsicht kann nicht verwirklicht werden, wenn man bei den Willensäußerungen des deutschen Volkes Halt macht. Man mag Tschechen und Polen die Ausgestaltung ihrer nationalen Einheit innerhalb eines selbständigen Staates gönnen, – auch wenn man sorgenden Herzens ihnen damit die Herrschaft über eingeschlossene fremde Volkssplitter anvertraut, die schweren Tagen entgegengehen. Dann hat aber auch das deutsche Volk das Recht, seinen alten Traum zu erfüllen und sich zu einer alle seine Glieder umfassenden Einheit zusammenzuschließen. Ein altes 70-Millionenvolk hat, auch wenn es besiegt ist, das gleiche Recht auf innere Einheit, wie die jungen 8–10-Millionenvölker, die sich jetzt an seiner Grenze dehnen und strecken. Wer den Zusammenschluß mit einer Politik des „Teile und Beherrsche“ zu verhindern sucht, der zeigt damit nur, daß er an die Grundsätze der nationalen Gerechtigkeit nicht glaubt, auch wenn er sie immer wieder beteuert.
IV Gerechtigkeit im Leben der Völker wird nicht dadurch allein verwirklicht, daß jeder Nation die Selbstbestimmung ihres politischen Schicksals überlassen wird. Die Völker als Ganzes sind in dem Boden eingewurzelt, der die Grundlage ihres politischen Daseins ist. In der Ausdehnung dieses Bodens, in der Reichhaltigkeit und der Vielgestaltigkeit seiner Hilfskräfte sind gewaltige Unterschiede vorhanden. Deutschland und Italien beherbergten je 120 Einwohner auf den Quadratkilometer; England und Wales 239; Belgien 252; Frankreich dagegen nur 74; das europäische Rußland ohne Polen 19; die Vereinigten Staaten gar nur 12. Da dünne Besiedelung häufig mit großen, noch unerschlossenen Hilfskräften zusammenfällt, so ist in der Tat das Leben der verschiedenen Völker von Anfang an auf eine in jeder Beziehung ungleiche Grundlage gestellt. Diese Tatsache der natürlichen Ungleichheit der heimatli-
72 | Weltpolitik und internationale Ordnung chen Wirtschaftsbedingungen haben die Völker von alters gefühlsmäßig erkannt und ihr durch Wechsel der Wohnsitze oder durch Angliederung neuer, reicher Gebiete abzuhelfen gesucht. So sind die großen Wanderbewegungen entstanden, die durch gewaltsame Aneignung fremder Gebiete und durch Unterwerfung der eingesessenen Bewohner unter einwandernde Herren die moderne „Nationalen Frage“ in Europa geschaffen haben. Und aus den gleichen Beweggründen, dem Wunsche, die reichen Erzeugnisse gesegneter Länder zu genießen oder Raum zu eigener Ausbreitung zu erhalten, ist die moderne Kolonialbewegung hervorgegangen. Ihr Ergebnis hat die Ungleichheit zwischen den einzelnen Völkern nur verstärkt. Auf den Kopf des einzelnen im Mutterlande ansässigen Engländer, Schotten oder Iren entfiel ein Kolonialgebiet von 62,4 ha, auf den des Franzosen ein solches von 29,6 ha, auf den des Deutschen aber nur 8 ha. Hochentwickelte, dichtbevölkerte Länder wie die Schweiz besitzen überhaupt keine kolonialen Unterlagen. Im großen ganzen bestand daher vor dem Kriege ein Zustand, bei dem England, Frankreich, Rußland, Belgien und Portugal einen Kolonialbesitz von 23,8 Mill. englische Quadratmeilen mit einer Bevölkerung von 470 Millionen Menschen besaßen. Demgegenüber eigneten Deutschland und die Vereinigten Staaten nur ein Kolonialreich von wenig über eine Million englischer Quadratmeilen mit 23 Millionen Menschen. Es war gewissermaßen ein kolonialer Welttrust vorhanden, der im wesentlichen von den Alliierten gebildet wurde. Dieser Zustand war für die nicht beteiligten Völker nur dadurch erträglich, daß die aufstrebenden Wirtschaftsgebiete der Welt trotz aller nationaler Entwicklung den vom Überseebesitz ausgeschlossenen Völkern weitgehende Wirtschaftsmöglichkeiten boten. Ungeachtet zahlreicher Schranken herrschte vor dem Kriege internationale Freizügigkeit von Menschen und Unternehmungen neben einem immer größeren Umfang annehmenden internationalen Warenaustausch. Länder mit verhältnismäßig wenig günstigen Wirtschaftsbedingungen wie die Schweiz und Deutschland waren dadurch in den Stand gesetzt, an den Wirtschaftsmöglichkeiten weiter Neuländer Anteil zu nehmen, ohne daß sie ein entsprechendes politisches Anrecht hierauf hatten. Diese internationale Verflechtung zeigte sich zuerst in der Entwicklung der Auswanderung, indem Länder wie Amerika und die britischen Kolonien die deutsche Auswanderung aufnahmen. Sie offenbarte sich daneben in der Begründung internationaler Handelshäuser. Deutsche Kaufleute, denen die schmale Grundlage der alten deutschen Wirtschaft zur Betätigung ihrer Unternehmungslust nicht ausreichte, siedelten sich teils dauernd, teils vorübergehend in fremder Herren Länder an und begründeten überall Unternehmungen, die manchmal den ganzen Weltball umspannten. Es wurden so dem heimischen Volkstum in Landwirtschaft, Industrie und Handel die besten Kräfte entzogen. Es wurde aber auch in vielen Gesellschaftsschichten für Forterhaltung des Bestehenden und für weiteren Aufbau freier Raum geschaffen. Es wurden überdies in fremden Ländern die Grundlagen der Einkaufs-
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und der Absatzmöglichkeiten gelegt, auf denen dann die deutsche Industrie weiterbauen sollte. Die Entwicklung dieser Industrie bewirkte eine Umstellung der deutschen Bevölkerung. Sie führte dazu, daß in verhältnismäßig kurzem Zeitraum der Anteil der Industrie von 35,6% auf 42,8% der Bevölkerung stieg, der der Landwirtschaft dagegen von 41,4% auf 28,6% sank. Gleichzeitig trat ein beinahe völliges Stocken der Auswanderung ein – Deutschland war sogar ein starkes Einwanderungsland geworden. Das hatte dann zur Folge, daß fast 14 Millionen Menschen in Großstädten und fast 18 Millionen Menschen in Klein- und Mittelstädten wohnten. Die Industrialisierung der deutschen Bevölkerung ermöglichte so das Wachstum des deutschen Volkes in der Heimat. Aber dieses Wachstum konnte nicht ausschließlich vom heimischen Boden getragen werden. Denn die Wurzeln dieser Industrien, deren rastloser Gang das Dasein von Millionen bei einer sich allmählich verbessernden Lebenshaltung ermöglichte, ruhten vielfach in einem fremden Erdreich. Rohstoffe, Nahrungsmittel, Genußmittel kamen in wachsender Menge aus fremden Ländern. Nur 15% der 11 Milliarden betragenden Einfuhr waren fertige Waren, dagegen waren etwa 65% der Ausfuhr Fertigfabrikate. Abgesehen von Kohlen, Koks und Kali waren kaum irgendwelche Waren in bedeutenden Mengen vorhanden, die eine gütige Natur dem deutschen Volk geschenkt hatte. Alles andere war das Ergebnis von Fleiß und Organisation, die oft unter ungünstigen Verhältnissen Waren fürs Ausland herstellten, deren Rohstoffe aus der Fremde gekommen waren. In diesem Sinne ist die wirtschaftliche Blüte Deutschlands vor dem Krieg eine künstliche gewesen. Das dumpfe Empfinden, daß das so war, und, wenn man nicht die Auswanderung von neuem beginnen lassen wollte, daß das so bleiben müßte, war der tiefste Grund für die aggressive Außenpolitik eines Teiles der deutschen Industrie. Sie fühlte, daß ihre Grundlagen in gewissem Sinne von der Gnade anderer Völker abhingen. Sie wußte, daß sie auf fremdem Grund und Boden aufgebaut waren. Erfahrungen vor dem Kriege hatten deutlich genug gezeigt, daß jener Teil der Welt, der keiner europäischen Herrschaft unterstand und der als internationale Domäne betrachtet werden konnte, allmählich immer mehr zusammenschrumpfte. Sie hat in der auswärtigen Politik, die sie befürwortete, sicher den staatsmännischen Blick oft genug vermissen lassen und nach außen und nach innen Ideen der Gewaltpolitik vertreten, die schließlich der Entwicklung internationaler Wirtschaftsbeziehungen schädlich waren. Aber die Tatsache bleibt bestehen, daß das deutsche Volk allein unter den großen Völkern ein wirtschaftliches Weltreich aufbauen mußte, dessen Grundlagen fremdem Machtwillen unterworfen waren. Man hat diese Tatsache von seiten der Alliierten häufig zu heftigen Angriffen gegen Deutschland verwendet. Deutschland, das in allen Ländern ein weitgehendes Gastrecht genossen habe, sei im höchsten Grade undankbar gewesen. Eine solche Kritik mag auf einzelne Deutsche zutreffen, die in dem Gewissenskonflikt zwischen der alten und der neuen Heimat dem alten Vaterlande Treue hielten, obwohl sie
74 | Weltpolitik und internationale Ordnung dem Neuen Treue geschworen hatten. Sie haben in dieser Gewissensnot, die nur der gerecht zu beurteilen vermag, der die unhaltbare Lage der Auslandsdeutschen im Kriege gesehen hat, rechtlich gefehlt. Die Mehrzahl der Auslandsdeutschen hat, tiefes Leid im Herzen, die Pflicht getan, die selbstverständlich war. Man hat es so hinstellen wollen, als ob das Einnisten deutscher Unternehmungen in fremden Ländern zu dem Zweck geschehen sei, das gastliche Land, wenn nicht zu berauben, so doch in seiner Entwicklung zu lähmen und von Deutschland abhängig zu machen. Manches törichte Gerede in der Heimat, manches Pochen auf wirtschaftliche Machtmittel konnte diesen Vorstellungen Nahrung geben. Es ist aber doch ohne weiteres klar, daß die Beteiligung Deutschlands am Bau der großen Kontinentalbahnen des amerikanischen Nordwestens eine Bereicherung, keine Beraubung der amerikanischen Wirtschaft bedeutete. Und das Zusammenarbeiten der deutschen Farbstoff-Industrie mit der englischen Textilindustrie ist sicher eines der Momente gewesen, die die Weltstellung der letzteren gesichert haben. Es ist begreiflich, daß deutsche Anteilseigner, die am Londoner Goldgrubenmarkt oder am Kautschukmarkt schwere Verluste gehabt haben, ihren ehemaligen deutschen Landsleuten fluchten, die Mitglieder der Londoner Börse geworden waren. Es liegt aber wirklich vom englischen Standpunkt kein Grund zur Beschwerde vor, weil deutscher Fleiß und deutsche Intelligenz in der Londoner City große Unternehmungen aufbauten, denen Gelder aus Deutschland zuflossen und die im Laufe der Zeit englische Unternehmungen wurden. Vor allem aber war das Gastrecht, das die großen wirtschaftlichen Weltreiche den Deutschen und überhaupt den Ausländern erwiesen, nicht eine Gnade. Es war der Preis der Anerkennung für die politische Vorherrschaft und die aus derselben entspringenden Vorteile, die der Begünstigte den Benachteiligten zahlte. Der Versuch, bestimmten bevorzugten Völkergruppen die politische Herrschaft über die reichen dienenden Gebiete der Welt vorzubehalten und ihnen auf denselben eine Art wirtschaftliches Monopol zu sichern, ist daher ein Verstoß gegen die wirtschaftliche Gerechtigkeit. „Der Friede muß auf den Rechten der Völker, nicht den Rechten der Regierungen beruhen, den Rechten der Völker, der großen wie der kleinen, der Schwachen wie der Starken – auf ihrem gleichen Recht auf Freiheit, Sicherheit und Selbstregierung, und auf ihrer Teilnahme zu billigen Bedingungen an den wirtschaftlichen Erschließungsmöglichkeiten der Welt; – selbstverständlich mit Einschluß des deutschen Volkes, wenn es Gleichberechtigung annehmen will und nicht Vorherrschaft sucht.“ 2
|| 2 Wilsons Antwort auf die Note des Papstes vom 28. August 1917.
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V Es besteht scheinbar zur Zeit wenig Neigung, das deutsche Volk nach diesen Grundsätzen zu behandeln. Auf der einen Seite sind Bestrebungen im Gange, wirtschaftlich wichtige Provinzen vom Reiche abzutrennen, auch wo die nationale Frage keinerlei Vorwand gibt. Während Polen und Tschechen stammesfremde Gebiete annektieren wollen, um für einen politisch und wirtschaftlich völlig unerprobten Nationalstaat eine ihnen günstig genug erscheinende Grundlage zu erhalten, sucht man rücksichtslos den kunstvollen Bau der deutschen Volkswirtschaft zu zerstören, den emsiger Fleiß trotz ungünstiger natürlicher Bedingungen aufgebaut hat. Man kann sich keine schlimmere Verhöhnung der Wilsonschen Forderung denken, die Lösung aller Fragen, der wirtschaftlichen wie der politischen müsse durch freie Annahme der Bedingungen seitens des nächst betroffenen Volkes erfolgen und nicht auf Grundlage des materiellen Interesses oder des Vorteils irgendeines anderen Staates oder Volkes, das „wegen seines eigenen auswärtigen Einflusses oder seiner Macht eine andere Lösung wünschen mag“ 3. Auf der anderen Seite wird die Forderung laut, Deutschland seinen Kolonialbesitz nicht wiederzugeben. Die brutale Eingeborenenpolitik der deutschen Regierung habe deutlich genug gezeigt, daß Deutschland nicht würdig sei, fürderhin an der Verwaltung kolonialer Gebiete teilzunehmen. Es ist ohne weiteres zugegeben, daß in der Eingeborenenpolitik der deutschen Kolonien schwere Fehler gemacht worden sind, besonders in Deutsch-SüdwestAfrika. Die Ausschreitungen des Militarismus im Hererokrieg – von solchen kann man hier in der Tat sprechen – sind in der deutschen Öffentlichkeit in rücksichtsloser Weise angegriffen worden. Sie haben überall Mißbilligung gefunden und zu einer grundlegenden Neuordnung der deutschen Kolonialpolitik geführt. Es wäre begreiflich gewesen, wenn man diese Vorgänge nach ihrer Bekanntwerdung 1906 oder 1907 in England angegriffen hätte, – etwa wie man damals mit vollem Recht die von den Belgiern verübten Kongogreuel verdammte. Man hat das nur im engen Kreise getan, weil man überzeugt war, daß Deutschland nach den bitteren Erfahrungen seines ersten großen Kolonialkrieges den richtigen Weg der Eingeborenenpolitik finden werde. Man hat sich in dieser Hinsicht nicht getäuscht und in späteren Jahren der deutschen Kolonialpolitik ein begeistertes Lob gesungen 4. Man war vollkommen bereit, neue Eingeborenen-Völker der deutschen Herrschaft zu unterstellen – das geschah nach Beilegung der Marokkokrise im Jahre 1911 und war gelegentlich des Abkommens vom Sommer 1914 betreffend die künftige Regelung des portugiesischen Kolonialbesitzes ins Auge gefaßt. Wenn man jetzt die || 3 Rede vom 4. Juli 1918. 4 Am 13. Januar 1914 sprach ich auf Einladung des Royal Colonial Institutes in London über „German Colonial Policy“. An der Diskussion nahmen hervorragende englische Kolonialpolitiker u. a. Lord Milner teil. Man war voll des Lobes über die Leistungen der deutschen Kolonialpolitik.
76 | Weltpolitik und internationale Ordnung koloniale Minderwertigkeit der Deutschen betont, so geschieht das einmal in dem Bestreben das deutsche Volk zu einer Art moralischem Pariah in der Welt zu machen. Man will zum andern den eigenen Kolonialbesitz ausdehnen und vor allem Sicherheit dafür haben, daß nicht etwa koloniale Gebiete zu Stationen für Unterseeboote gemacht werden können. Wer das Interesse der Eingeborenen in den Vordergrund stellt, darf jedoch seine Angriffe nicht gegen ein einzelnes Kolonialvolk richten. Selbst wenn man zugibt, daß die moderne englische Eingeborenenpolitik in Afrika im großen ganzen mustergültig war, so ist auch sie, obwohl man infolge längerer Erfahrung unter soviel günstigeren Verhältnissen arbeitete, von Flecken nicht rein – man denke nur an den Aufstand in Natal. Und wenn man nur weit genug zurückgeht, so wird man schwere Verschuldungen aller kolonienbesitzenden Völker ohne besondere Mühe feststellen können. Das Wort Kongogreuel sollte genügen. Überdies hat gerade England in diesem Kriege den Eingeborenen gegenüber eine Schuld auf sich geladen, die einmal schwerer wiegen wird als alle Ausschreitungen: das Hineintragen des Krieges in das afrikanische Tropengebiet, obwohl dasselbe durch internationale Abmachungen neutralisiert war. Kein Mensch kann heute übersehen, welche unübersehbaren Folgen dieser Schritt auf das Zusammenleben von Weißen und Eingeborenen haben wird. Man darf wohl als sicher annehmen, daß die leichte Unterordnung, die früher möglich war, die es z. B. dem Deutschen Reiche gestattete, ein Kolonialreich von über einer Million qkm und etwa 13 Millionen Eingeborenen mit 2500 weißen Soldaten und 700 weißen Polizisten friedlich zu beherrschen – in ihren Grundlagen erschüttert sein wird. Die deutschen Kolonien haben vor dem Kriege zum wirtschaftlichen Aufschwung des Reiches wenig beigetragen. Sie befanden sich gerade im Anfangsstadium einer großen Entwicklung. Sie stellten aber große Zukunftsmöglichkeiten dar. Sie kamen zwar für die Auswanderung nur in beschränktem Maße in Frage. Sie gaben aber die Hoffnung, daß sie im Laufe der Zeit, mit der Zunahme der eingeborenen Bevölkerung, einen Teil des überseeischen Rohstoffbedarfs des Reiches decken würden, das auf verhältnismäßig enger heimischer Grundlage nur durch Überhängen nach fremden Gebieten länger Raum für die dichte Bevölkerung bot. Infolge des Krieges in Afrika wird die Eingeborenenpolitik in allen Teilen des Landes schwieriger und kostspieliger werden. Sie wird in Zukunft in ganz anderer Weise auf die Interessen der Eingeborenen Rücksicht nehmen müssen, als das bisher der Fall war. Mit vollem Recht hat Präsident Wilson betont, daß bei der unparteiischen Entscheidung kolonialer Ansprüche „die Interessen der Bevölkerung mit den billigen Ansprüchen der Regierungen, deren Rechtstitel entschieden werden soll, gleich schwer in die Wage fallen müssen 5.“
|| 5 Rede vom 8. Januar 1917, Punkt V.
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Das kann nicht dadurch erreicht werden, daß man der Eingeborenenbevölkerung eine Art Wahlrecht gibt. Wenn man ihnen das Recht zugesteht zu wählen, welchem Volke sie untertan sein wollen, und ihnen die Ausübung dieses Wahlrechts wirklich ermöglicht, dann muß man ihnen auch das Recht gewähren, die Loslösung von jeder weißen Herrschaft zu fordern. Die Gewährung dieses Rechts ist heute unmöglich und unberechtigt. Die Europäer haben die eingeborenen Lebensformen überall zerstört und überall die Umwandlung einheimischer Lebensbedingungen nach europäischen Grundsätzen in die Wege geleitet. Man kann nicht auf halbem Wege halt machen. Es ist unmöglich die europäischen Siedelungen aus Afrika zurückzuziehen, da in den Hochländern, besonders in Südafrika, eine europäische Oberschicht inmitten der eingeborenen Bevölkerung festgewurzelt ist. Gerade dort ist der Eingeborene sozial aufgestiegen und kulturell europäisiert, gerade dort wird der Eingeborene mit wenig Ausnahmen von der herrschenden weißen Klasse als Unmündiger behandelt 6. Wenn es undenkbar ist, diesen Eingeborenen politische Selbstbestimmung zu geben, – das würde zur Beherrschung der Weißen durch die Eingeborenen führen, einerlei ob es Buren, Deutsche oder Engländer sind, – dann ist es gewiß unmöglich, den benachbarten unentwickelten Eingeborenen Rechte zu geben, die eine wirkliche Selbstbestimmung bedeuten. Es ist auch kaum angängig, die gesamte Eingeborenenbevölkerung des tropischen Afrika etwa einer internationalen Verwaltung zu unterstellen, die sich aus Vertretern aller Nationen zusammensetzt. Gerade wenn man auf ein Zusammenarbeiten der Nationen hofft, muß man die gemeinsame Tätigkeit nicht mit Aufgaben beginnen, bei denen allzuviel Raum für internationale Reibungen ist. Dagegen wird es nötig sein, eben mit Rücksicht auf die durch den Krieg geschaffene Unruhe, eine einheitliche Eingeborenenpolitik zu treiben. Es wird unvermeidbar sein, durch internationale Abmachungen dafür zu sorgen, daß jede Macht in ihrem Verwaltungsbereich die gleichen Grundsätze annimmt, und daß eine internationale Kommission über der Durchführung dieser Politik wacht. Die Alliierten haben die Macht, Deutschland von den gemeinsamen Kulturaufgaben einer nach humanen Gesichtspunkten geplanten Kolonialpolitik auszuschließen. Das Recht hierzu gibt ihnen die eigene Kolonialpolitik nicht.
VI Solange es nicht ausgeschlossen war, daß die Mittelmächte als Sieger auf den Schlachtfeldern hervorgehen würden, war es begreiflich, daß man ihnen von Seite der Alliierten mit „dem Krieg nach dem Kriege“ drohte. Eben weil ihr Wirtschaftsle|| 6 Die Bevölkerung von Basutoland hat bereits gegen eine Eingliederung in die Südafrikanische Union protestiert.
78 | Weltpolitik und internationale Ordnung ben, insbesondere das des deutschen Volkes, seine Wurzeln zum Teil in fremdem Erdreich hatte, konnte man es mit einer Rohstoff- und Absatzsperre im Frieden zum Verdorren bringen, wie man es im Krieg durch die Blockade geschädigt hatte. Daraus sind dann auf deutscher Seite die wirtschaftlichen Annexionsbestrebungen entstanden, die zu „Mitteleuropa“ und zu den Sicherungen des Brest-Litowsker Friedens führten. Wenn ein dicht bevölkertes Kontinentalreich, das auf fremde Zufuhren angewiesen war, im Krieg mit der Blockade und im Frieden mit der Rohstoffsperre rechnen mußte, dann lag der Gedanke nahe, es durch ein Wirtschaftsbündnis mit benachbarten Staaten und, wenn nötig, durch gewaltsame Annexion anliegender Grenzländer, die Erze und Siedlungsgebiet enthielten, von der Außenwelt unabhängig zu machen. Wenn man sich den freien Zugang zur weiten Welt nicht durch Handelspolitik sichern konnte, wollte man sich durch Herrschaftspolitik in einer engeren Welt einzurichten suchen. Diese kontinental-europäischen Pläne waren ihrem ganzen Wesen nach ein kümmerlicher Ersatz, den wirtschaftliche Not dem deutschen Volke aufgedrängt hatte. Man hätte sie nie als Selbstzweck betrachten dürfen, sondern immer nur als Ersatzmöglichkeiten behandeln müssen, durch deren Preisgabe man sich den Zutritt zur Weltwirtschaft erkaufen konnte. Man hat sie statt dessen zu Grundlagen phantastischer, die Welt erschreckender militärischer Kombinationen gemacht, und damit, wie auf manchem anderen Gebiete, eine ursprünglich als Verteidigungsmittel gedachte Maßnahme als Angriffsziel erscheinen lassen. Durch den politisch-militärischen Zusammenbruch ist die Schaffung eines „Mitteleuropas“ längst aus dem Bereich des Möglichen ausgeschieden. Die wirtschaftlichen Gegenmaßregeln der Alliierten sind damit nicht verschwunden. Während man dem deutschen Volke den Zusammenschluß zu einem Wirtschaftsbund mit Österreich-Ungarn als Gefährdung der wirtschaftlichen Weltordnung versagen wollte, werden Sonderbünde zwischen einzelnen Gruppen der Alliierten eifrig erörtert. Wohl hat Präsident Wilson noch am 27. September des vorigen Jahres erklärt, daß „innerhalb des Völkerbundes kein Raum für eigensüchtige wirtschaftliche Sonderabkommen sei“, aber der Gedanke der wirtschaftlichen Gerechtigkeit „die Beseitigung, so weit als möglich aller wirtschaftlichen Schranken und die Herstellung der Gleichheit der Handelsbedingungen für alle Völker“ 7 ringt eben schwer um seine Anerkennung. Die Alliierten sind im Besitz der wichtigsten Rohstoffquellen der Welt. Sie haben ihre Verteilung für sich und die Neutralen zum mindesten während der Übergangszeit organisiert. Sie haben die Kontrolle über die überhaupt zur Verteilung verfügbaren Nahrungsmittel. Sie stehen einem Volke gegenüber, das seine greifbaren Hilfskräfte infolge einer viereinhalbjährigen Blockade verzehrt hat, – dessen Wirtschaftsleben heute ein leeres Gehäuse ist. Durch die militärische Okkupation, aus der zum mindesten für Elsaß-Lothringen eine dauernde Abtretung werden wird, || 7 Punkt 4.
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und die Auslieferung der Transportmittel haben sie die noch bestehenden Pfeiler des Wirtschaftslebens von Grund auf erschüttert. Millionen demobilisierte Arbeitskräfte sollen in die Werkstatt zurückkehren; es fehlen die Stoffe, an denen sich ihre Tätigkeit vollziehen kann. Die Zufuhr des Notwendigen soll erst erfolgen, wenn Ordnung und Sicherheit Bürgschaft für ihre Verteilung verleihen, während Ordnung und Sicherheit nur bestehen können, wenn Arbeit und Nahrung vorhanden ist. Die Sperre, die im Krieg nicht vollständig war, vollzieht sich jetzt in nie geahnter Schärfe auf dem Wege zum Frieden. Und wenn nach langen, das Gefüge des ganzen Lebens erschütternden Zwischenpausen die Zuteilung des Notwendigen beginnt, so werden sich die Mengen auf den deutschen Mindestkonsum beschränken. Die deutsche Industrie, die ihre Rohstoffe aus der ganzen Welt bezog, um mit ihren Produkten nicht nur den deutschen Markt, sondern den Weltmarkt zu versorgen, wird so auf den deutschen Markt beschränkt werden. Ihre Wettbewerber werden sich die Anteile sichern, die zur Befriedigung der fremden Märkte nötig sein werden. Die deutsche Volkswirtschaft kann daher ihre Bezüge nicht bezahlen. Wenn sie die veredelten Rohstoffe nicht ausführen kann, wird sie auf die verhältnismäßig geringe Ausfuhr von Naturprodukte angewiesen sein, die Deutschland erzeugt. Die Einfuhr muß bei der schlechten Währung durch Anleihen bezahlt werden, deren Preis ein hoher sein wird und deren Abzahlung erst möglich werden wird, wenn die Ausfuhr in Gang kommt. Das wird erst nach einer mehr oder minder langen Übergangszeit möglich sein, wenn die Rohstoffproduktion der Welt wieder so reichlich fließt, daß die Rationierung aufgehoben werden wird. Zahlreiche Märkte der Welt werden dann verloren gegangen sein, auch wenn der deutschen Volkswirtschaft rechtlich völlige Gleichberechtigung zugestanden würde. Man stellt es vielfach so dar, als ob das deutsche Volk den Anspruch auf Gleichberechtigung mit anderen Völkern zum mindesten in den Gebieten der Alliierten verwirkt habe. Die deutsche Schleuder-Konkurrenz, die Durchdringung fremder Volkswirtschaft mit deutschen Unternehmungen und die Schaffung bestimmter Monopole in deutschen Händen habe deutlich genug gezeigt, daß Deutschland die Interessen fremder Volkswirtschaften bewußt geschädigt habe. Deutschland habe das Gastrecht das man ihm erwiesen habe, schmählich verletzt. Es ist natürlich, daß die Industrien, die im feindlichen Ausland den Platz der deutschen Industrien eingenommen haben, so reden, um sich gegen den erneuten deutschen Wettbewerb zu schützen. Solange in der Welt nationale Wirtschaftspolitik getrieben wird, und jeder Staat die Bedingungen selbständig festsetzt, unter denen seine Bewohner auf seinem Staatsgebiet mit Fremden konkurrieren, wird eine völlige wirtschaftliche Gleichstellung Fremder mit Einheimischen nicht erreicht werden. Das wäre nur bei völligem Freihandel möglich. Es kann aber verlangt werden, daß innerhalb eines selbständigen Wirtschaftsgebietes alle Ausländer gleich behandelt werden. Der gegenseitige Austauschverkehr unter den Völkern ist nicht auf den Grundsätzen der Belohnung
80 | Weltpolitik und internationale Ordnung für moralisches Verhalten aufgebaut worden, sondern auf dem Grundsatz von Leistung und Gegenleistung. Man wird daher zweifelsohne in den künftigen Wirtschaftsverträgen gewisse Sicherungen gegen unlauteren Wettbewerb – besonders im sozialen Sinne des Wortes – festlegen; diese Bedingungen werden an die äußeren Merkmale der sachlichen Produktion, nicht an die Nationalität des Produzenten anknüpfen müssen, wenn man wirtschaftliche Gerechtigkeit erstrebt. Tut man das nicht, so wird die Unterscheidung zwischen den Angehörigen der verschiedenen Völker nur eine aus wirtschaftlichen Gründen nicht zu rechtfertigende Begünstigung gewisser Produzentengruppen zur Folge haben. Es wird sich vielleicht nicht vermeiden lassen, daß zwischen bestimmten politisch verwandten Gruppen eine Vorzugsbehandlung eintritt, – wie zwischen den englischen Kolonien mit Selbstregierung und dem Mutterlande. Dann muß aber auch die Benachteiligung des Ausländers sich gleichmäßig auf alle Ausländer erstrecken. Es muß überdies auch anderen Gemeinschaften, die durch geographische Lage, nationalen Zusammenhang oder historische Bindung besonders nahe aufeinander angewiesen sind, das gleiche Recht der Begünstigung zustehen. Kanada und England bilden wirtschaftlich sicher weit weniger ein zusammengehöriges Ganzes, als Deutschland und Deutsch-Österreich. Derartige Vorzugsbehandlung sollte sich indes auf die Kolonien ohne Selbstregierung nicht erstrecken dürfen. Diese Gebiete stellen die „dienenden“ Gebiete der Welt dar. Sie sind durch eine Reihe historischer Zufälle, nicht durch moralisches Verdienst in den Besitz ihrer heutigen Eigentümer gekommen, – es sei denn, daß man erfolgreiche koloniale Eroberungskriege als moralisches Verdienst betrachtet. Man kann diesen Eigentümern – unter gewissen Kontrollen – die Verwaltung dieser Gebiete überlassen. Ihre wirtschaftliche Nutzung sollte aber allen Völkern, großen und kleinen, offen stehen. In ihrem Bereich sollte die Freiheit der wirtschaftlichen Unternehmung im weitesten Sinne des Wortes allen Fremden ohne Unterschied ebenso verbürgt sein, wie den Bürgern. In den „Ländern mit Selbstregierung“ sollte also das System der Meistbegünstigung die Grundlage der wirtschaftlichen Gerechtigkeit bilden, in den „dienenden Ländern“ das System der offenen Tür. Das deutsche Volk ist gleich zahlreichen anderen Völkern, die keinen ausgedehnten Landbesitz in der Heimat oder über See ihr eigen nennen, auf das Gastrecht in fremden Ländern angewiesen gewesen. Wenn man es ihm jetzt zu verkürzen sucht und auf seine moralischen Verfehlungen hinweist, so bezweckt man damit nur die kostenlose Ablösung eines Servituts, das die Besitzer der Reichtumsquellen der Welt bis heute den weniger begünstigten Mitvölkern zugestanden hatten. Die Aufhebung dieses Servituts würde bedeuten, daß die reichen und mächtigen Nationen der Welt, die sich durch Gewalt bevorzugte Herrschaftsstellungen gesichert haben, diejenigen, die sie politisch zurückgedrängt haben, auch wirtschaftlich von dem Mitgenuß an den Schätzen der Welt ausschließen wollen. Die Angehörigen der kleineren und machtloseren Völker wären dann dazu verdammt, innerhalb ihrer
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Landesgrenzen auf die Dauer eine kümmerliche Existenz zu fristen, – außer wenn ihnen die stärkeren Nationen die teilweise Einwanderung in ihre Gebiete gestatten.
VII Es sieht in der Tat so aus, als ob die Ententevölker dem deutschen Volk derartige Existenzbedingungen aufzwingen wollten. Selbst wenn Deutschland ohne jede absichtliche Benachteiligung wieder zum Wirtschaftsverkehr mit den Völkern zugelassen werden sollte, muß der verlorene Krieg den Unterbau seiner kunstvollen Wirtschaft erschüttern. Der deutsche Wettbewerb in der Welt beruhte nicht auf natürlichen Vorteilen, sondern auf einem künstlichen Umschlagsverfahren: Die Rohstoffund Nahrungslieferungen der Welt waren zur Teilnahme am Weltabsatz unentbehrlich. Der Abbruch der überseeischen Beziehungen während des Krieges hat Deutschland aus seiner mit großem Geschick aufgebauten Stellung verdrängt. Der Verlust an Menschen und die schwere Belastung mit Kriegssteuern muß die Wiederaufnahme der alten Beziehungen erschweren. Mit diesem Ergebnis ist man auf seiten der Gegner nicht zufrieden gewesen. In den Waffenstillstandbedingungen ist vorgesehen, „daß für alle Schäden, die Deutschland der bürgerlichen Bevölkerung der Alliierten und ihrem Eigentum durch Angriffe zu Land, zur See und aus der Luft zugefügt hat, Ersatz zu leisten ist“. Darüber hinaus werden täglich neue Forderungen erhoben. In England und Frankreich sind Kommissionen eingesetzt worden, die die Tragfähigkeit Deutschlands zur Wiedergutmachung feststellen sollen. Zwischen der Wiederherstellung von geschädigtem Privateigentum und eigentlichen Kriegskosten sei kein Unterschied, da auch die letzteren schließlich von den Privaten, den Steuerzahlern, getragen werden müssen. Deutschland habe den Krieg verschuldet, die Gerechtigkeit verlange daher, daß alle von ihm verursachten Kosten ersetzt werden. 8 Dadurch ist die Frage nach der Schuld am Kriege und der Schuld im Kriege aus einer moralisch-rechtlichhistorischen Untersuchung zu einer Frage der Finanz geworden und bei der Größe der in Frage stehenden Summen zu einer Frage des Daseins des deutschen Volkes. Man kann auf dem Standpunkt stehen, daß die Stellung der Schuldfrage bei der engen Verflechtung der europäischen Verwicklungen vor dem Kriege kein praktisches Ergebnis zeitigen könne, da nicht alle Archive geöffnet sind, und daß man daher das eigentliche Urteil der Geschichte überlassen solle. In dem Augenblick, wo die Frage der politischen Schuld zu einer finanziellen Forderung wird, liegt die Sache anders. Da darf man nicht zulassen, daß im Namen der Gerechtigkeit die eine Partei sich die Befugnisse des Richters anmaßt und einseitig festsetzt, wer der Schuldige sei, und welche Entschädigung er zu leisten habe. Dann muß die Forde|| 8 Harald Cox in [einer Artikelserie] der Morning Post [im Februar 1919].
82 | Weltpolitik und internationale Ordnung rung erhoben werden, daß eine neutrale Kommission nicht nur durch Prüfung aller Akten, sondern durch Einvernehmung aller Beteiligten die Schuldfrage kläre. Die Weltgeschichte steht nicht vollkommen in den Akten; zur vollen Wahrheit gehört das persönliche Zeugnis. Wenn das geschehen ist, kann die Schuld im Kriege festgestellt werden, die Verfehlungen gegen anerkannte Rechtsregeln und die daraus folgenden Schäden. Erst dann wird es möglich sein, das richtige Verhältnis von Schuld und Sühne zu bestimmen. Das allein würde nicht genügen. Man muß sich klar darüber sein, daß bei der Frage der Verschuldung in allen Fällen das gleiche Recht angewendet werde, und zwar das Recht, das bei Kriegsausbruch gültiges Recht war. Es war geltendes Weltrecht, politische Ziele durch Waffengewalt zu erstreben. Es hat an Versuchen, ein besseres Weltrecht herbeizuführen, nicht gemangelt. Wenn es ein Fehler der deutschen Regierung gewesen ist, daß sie diesen Versuchen mit zu wenig Verständnis entgegengekommen ist, so darf man nicht vergessen, daß Deutschlands heutige Gegner das Recht der bewaffneten Selbsthilfe immer wieder angewandt haben, in der Mandschurei wie im Burenkrieg, in Tripolis wie auf dem Balkan. Die Zurückweisung des Imperialismus, die Verneinung des Rechts der bewaffneten Annexion sind erst ein Ergebnis des Weltkrieges. Frankreich z. B. ist nicht etwa als unbeteiligter, neutraler Zuschauer durch eine Rechtsverletzung in den Krieg hineingezogen worden. In den Worten des Präsident Wilson hat das Unrecht, das Frankreich durch Preußen im Jahr 1871 hinsichtlich Elsaß-Lothringens zugefügt wurde, „den Weltfrieden während nahezu fünfzig Jahren in Frage gestellt“. Man kann Frankreich keinen Vorwurf daraus machen, daß es in einer Welt, in der das Recht der Waffen das geltende Recht war, die Rückgabe Elsaß-Lothringens mit Waffengewalt erstrebte. Man muß dann aber auch zugeben, daß ein Krieg von seiten der Zentralmächte nach dem alten Rechte keine Sünde war. Man kann der deutschen Staatskunst über ihre Haltung im Sommer 1914 die bittersten Vorwürfe machen; das haben die Enthüllungen auch denen bewiesen, die früher nicht sehen wollten. Aber sie haben nicht bewiesen, daß der Krieg zum Zwecke der Eroberung begonnen worden ist. Wenn im Laufe der Zeit törichte Annexionsforderungen erhoben worden sind, so zeigt das ebensowenig, daß Annexion der eigentliche Kriegsgrund war, wie die heute geplanten Raubzüge der Alliierten gegen das deutsche Volk die ursprünglichen Kriegsziele der Alliierten verraten. Der Krieg war für das deutsche Volk ein Verteidigungskrieg, für die deutsche Regierung allenfalls ein ungeschickt angelegter Präventivkrieg. Präventivkriege galten nicht als unmoralisch; als Präventivkrieg ist der Krieg auch von England und von Amerika geführt worden. Einen solchen Krieg von solchem Umfang infolge politischer Fehler zu verlieren, ist eine furchtbare Strafe für ein Volk. Durch die Niederlage wird aber seine moralische Schuld nicht erwiesen. Das kann nur durch eine unparteiische Untersuchung geschehen, die nach dem Rechte, das 1914 galt, nicht nach dem Rechte, das 1919 verwirklicht werden soll, urteilt.
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Man kann ruhig zugeben, daß in diesem Kriege vieles geschehen ist, das heute, wo es dem deutschen Volk bekannt geworden ist, berechtigte Abscheu erregt. Man kann den Grundsatz anerkennen, daß für Zerstörung von privatem Eigentum der Täter haftbar sein soll. Aber auch hier besteht die Gerechtigkeit nicht in der einseitigen Feststellung von Schadenersatzansprüchen. Die Zerstörung eines Farmhauses in Nordfrankreich, die vielleicht durch militärische Notwendigkeit gerechtfertigt wird, ist als Vermögensschädigung von der Vernichtung eines deutschen Geschäftsunternehmens in England durch Zwangsliquidation oder von der Ausschaltung einer deutschen Firma in Südamerika durch schwarze Listen nicht verschieden. Nur daß es sich im ersten Fall um eine Zerstörung handelt, die des Täters Besitz nicht vermehrt, im letzten Fall aber um eine Übertragung, die den Täter bereichert. Die Versenkung alliierter Schiffe durch Unterseeboote bedeutet sicher eine Vermögensschädigung der feindlichen Nation, – die Besitzer waren meist versichert. Der Verlust an Menschenleben, die dabei vernichtet wurden, muß schwer in die Wagschale fallen. Wenn einmal ein gerechter Richter den Umfang der Verwüstung kennen wird, den die Blockade der physischen und moralischen Gesundheit des deutschen Volkes zugefügt hat, so wird er vielleicht den Unterseebootkrieg als rechtswidrig bezeichnen und als grausam verdammen. Sein Mitgefühl wird sich nicht auf die dramatischen Schreckensszenen des stürmischen Meeres beschränken; er wird an die Millionen und Abermillionen denken, die durchrechtswidrige Maßnahmen an Körper und Gesundheit geschwächt, stumm litten und duldeten. Die deutsche Geburtenziffer und die deutsche Sterblichkeitsziffer, die Statistik der Krankheiten und Entartungen, reden eine deutliche Sprache. 9 Die Neutralen sind zweifelsohne durch den Unterseebootskrieg in ihren Rechten schwer gekränkt worden; die Kriegführenden haben einen dürftigen formalen und keinen moralischen Anspruch auf Entschädigung, weil die rechtswidrige Blockade durch den rechtswidrigen Unterseebootskrieg beantwortet worden ist. Wenn England für die widerrechtlich versenkten Schiffe die Rechnung präsentiert, so kann man ihm mit gutem Gewissen die Zusammenstellung entgegenhalten, die den Wert der durch widerrechtliche Blockade verursachten Schäden enthält. Es entspricht überdies nicht den Grundsätzen der Gerechtigkeit, daß das deutsche Volk – und nur das deutsche Volk – die Kosten für die unsinnige Verlängerung des Krieges tragen soll. Es hat oft genug Augenblicke gegeben, man denke nur an das Friedensangebot 1916 und die Reichstagsresolution 1917, wo die Friedensstimmung in Deutschland so stark war, daß ein gerechter Friede möglich gewesen wäre. Die Gegner haben damals nicht gewollt, weil sie mehr zu erreichen hofften. Ihre Hoffnungen haben sich erfüllt, – um den Preis einer furchtbaren Kriegsverlängerung. Sie konnten dem deutschen Volke und seinen Bundesgenossen die ersehnten || 9 Die Sterbefälle der Zivilbevölkerung sollen 1917 um 32%, 1918 um 37% über die normalen Sterbefälle gestiegen sein. Die Zahl der Todesopfer der Blockade ist mit 763.000 berechnet worden.
84 | Weltpolitik und internationale Ordnung Siegespreise entreißen; sie suchen ihm überdies die Kosten der Kriegsverlängerung aufzubürden, die sie selbst bewußt verursacht haben. Trotz aller Triumphe müssen sie heute erkennen, daß auch sie den Krieg zu lange geführt haben. Der Besitz aller Siegespreise kann sie für die furchtbaren Opfer nur entschädigen, wenn sie alle Lasten dem deutschen Volke aufbürden. Sie werden dabei von einem Häuflein fanatischer Bußprediger unterstützt, die das deutsche Volk zu reuiger Selbstanklage drängen. Diese meinen, wenn das deutsche Volk sich sittlich läutere und durch Beichte und Buße Besserung zu erkennen gäbe, so werde ihm die Verzeihung seiner irdischen Richter zuteil werden. Sie verkennen vollkommen, daß das deutsche Volk nicht vor einem Richter steht, der von Sünde und Schuld befreien kann, sondern vor einem Gegner, der sich zu bereichern sucht und das Schuldbekenntnis des Unterlegenen zur Beschwichtigung des eigenen Gewissens benötigt. Die Gegner haben in der gleichen Welt gelebt, wie es selbst und in ihrer Gesamtheit nach den gleichen Grundsätzen gehandelt. Und sie zeigen als Sieger, daß sie die großen Grundsätze, an die die führenden Kreise Deutschlands nicht glauben wollten, sehr viel schneller vergessen, als wir sie lernen. Die Gerechtigkeit besteht nicht darin, die materiellen Folgen für das ganze Weltgeschehen der letzten Jahrzehnte dem deutschen Volke aufzuerlegen. Sie kann nur darin bestehen, daß die Welt als Ganzes die Folgen der Weltkatastrophe trägt, und dadurch jedem einzelnen Volke, darunter auch dem deutschen, den Wiederaufbau seiner Existenz ermöglicht. Das deutsche Volk, das die Kosten seiner Kriegsschulden zu tragen hat, dessen Wirtschaftsgebiet zerstückelt wird, das auf beschränkte Zufuhren aus der Fremde angewiesen ist, dem ein Teil der fremden Länder verschlossen sein wird und das obendrein einen großen Teil der fremden Kriegskosten übernehmen soll, wird diese Gerechtigkeit nicht finden, denn die Grundlagen seiner wirtschaftlichen Existenz werden getroffen sein. Es wird vor allem nicht mehr imstande sein, unter den veränderten Umständen auf die Dauer Arbeit für alle seiner Glieder zu liefern. Selbst wenn man in der inneren Kolonisation neue Möglichkeiten zur Unterbringung von Menschen finden wird, so gehören doch dazu Zeit und vor allem Kapitalien. Wer dem deutschen Volke die wirtschaftliche Betätigung verweigert, zwingt seine Söhne und Töchter zur Auswanderung. Je härter die Friedensbedingungen sein werden, desto größer wird auf allen Seiten der Drang sein, die alte, unerträglich gewordene Heimat zu verlassen. Man wird die Auswanderer nicht überall mit offenen Armen aufnehmen. Eine Zeitlang werden noch Versuche, die Angehörigen des deutschen Volkes wie Aussätzige zu behandeln, einen gewissen Erfolg haben. Sie werden die Einwanderung des deutschen Kaufmanns und des deutschen Unternehmers in manchen Ländern erschweren. Deren Tüchtigkeit wird schließlich triumphieren, wie sie in der Vergangenheit triumphiert hat, wo der deutsche Kaufmann ohne Rückhalt an der Heimat die Weltmärkte erobern half. Und der deutsche Arbeiter und der deutsche Bauer werden in den Neuländern der Erde trotz aller nationalen Vorurteile gesucht werden. Zum Aufbau der zerstörten Wirtschaft braucht man Hände in
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der ganzen Welt. Die Forderung der Gerechtigkeit ist aber damit nicht erfüllt, wenn eines der großen Kulturvölker der Welt von seinen Gegnern auf beschränktem Raum so eingepfercht wird, daß seine Kinder um Aufnahme in fremde Länder betteln müssen, wo sie ihre Eigenart aufgeben müssen, damit sie ihr tägliches Brot finden. Die deutsche Heimat wird ihren Verlust spüren; sie wird vielleicht an Volkszahl zurückgehen, so daß besorgte Nachbarn sich vor dem allzustarken Wachstum des deutschen Volkes nicht länger fürchten werden. Mit der Abnahme der Bevölkerung wird die Kraft zur Tragung der Lasten sinken. Aber alles das wird langsam vor sich gehen. Bis sich die Anpassung an die gewaltsam verschlechterten Wirtschaftsbedingungen vollzogen haben wird, muß Deutschland zu einem Herde von sozialen Unruhen werden. Wenn man Deutschland den Zutritt zum Weltmarkt versagt und gleichzeitig die Abwanderung verhindern will, muß eine furchtbare Krise Platz greifen. Druck und Not sind allezeit die Vorbedingungen leidenschaftlichen Umsturzes gewesen. Wenn sie in Deutschland einziehen sollten, wird ihnen schließlich auch der alte Ordnung liebende deutsche Geist zum Opfer fallen. Es hat keine Arbeiterbewegung gegeben, die in ihrem inneren Wesen so konservativ gewesen ist, wie die deutsche. Sie unterschied sich darin von der französischen und auch in den letzten Jahren von der englischen, in denen syndikalistische Unterströmungen vor dem Kriege eine gewisse Vorbereitung für den Bolschewismus bildeten. Das wird anders werden, wenn man die Schaffenskraft des deutschen Volkes durch erdrückende Belastung erstickt. Und wenn der Bolschewismus erst einmal mit der deutschen Ordnung fertig geworden ist, wird keine Macht der Welt ihn bändigen können. Er ist nicht dadurch zu bezähmen, daß man durch Ausbeutung und wirtschaftliche Versklavung Deutschlands den Wiederaufbau Frankreichs beschleunigt und die englischen Kriegslasten vermindert. Wenn die Alliierten ihre eigenen Länder vor sozialem und wirtschaftlichem Zusammenbruch bewahren wollen, so müssen sie Gerechtigkeit üben und dem deutschen Volke den Wiederaufbau seiner Wirtschaft ermöglichen. Sie müssen ihm helfen, statt es zu lähmen. Wenn das deutsche Wirtschaftsleben wieder in Gang kommt, dann werden Ordnung und Sicherheit gewahrt werden. Dann ist die Abtragung bescheidener Ersatzverpflichtungen möglich. Wenn die deutsche Wirtschaftskraft gefesselt wird und das deutsche Schaffen kurzsichtig fremden Interessen dienstbar gemacht wird, muß der Zusammenbruch moralisch, geistig und wirtschaftlich erfolgen. Und aus der Anarchie, die dann entstehen wird, kann man nur bolschewistische Ansteckung, nicht aber wirtschaftliche Entschädigungen herausholen. Das Schicksal des deutschen Volkes liegt heute in der Hand der Alliierten; wie es auch ausfällt, wird es das Schicksal Europas sein. Die Gerechtigkeit wird siegen. Wenn dem deutschen Volke die Möglichkeit zu menschenwürdigem, völkerwürdigem Dasein gegeben wird, wird sie in einem Völkerbund Verwirklichung finden. Wird ihm das versagt, weil die Gegner in kurzsichtigem Egoismus Auge um Auge und Zahn um Zahn fordern, dann wird sie sich in anderen Formen vollziehen. Über
86 | Weltpolitik und internationale Ordnung Sieger und Besiegte wird ein Sturm hinbrausen, der den inneren Weltbrand entfacht: Das Reich der Gerechtigkeit wird kommen, auch wenn Europa zugrunde geht.
3 Völkerbund und auswärtige Politik (1920) I Es ist nicht ganz einfach, das Wesen der auswärtigen Politik auf wenige, allgemein gültige Formeln zu bringen, denn es gibt in ihr, die nichts anderes ist als das sich ewig ändernde Verhältnis der Staaten zueinander, unendlich verschiedene Möglichkeiten im einzelnen. Will man allgemeine Gesichtspunkte hervorheben, so wird man sich darauf beschränken müssen, die auswärtige Politik in zwei scharf getrennte Typen zu zerlegen, die Politik der gesättigten und diejenige der hungrigen Staaten. Die hungrigen Staaten streben nach Gebietserweiterung und Volksangliederung. Die gesättigten Staaten wollen zwar auch nicht stille stehen; sie versuchen aber nicht, sich mit Mitteln militärischer Gewalt auszubreiten, sondern suchen ihr Ziel vorwiegend mit wirtschaftlichen Maßnahmen zu erreichen. Man kann im großen und ganzen sagen, daß die hungrigen Staaten Herrschaftspolitik betreiben, die gesättigten Staaten dagegen Handelspolitik, Wirtschaftspolitik im engeren Sinne des Wortes. So einfach, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mag, ist indessen diese Gegenüberstellung nicht. Es ist gewiß nicht schwer, festzustellen, daß es bestimmte politische Gemeinschaften gibt, die mit dem, was sie besitzen, nicht zufrieden sind und über die ihnen gezogenen Grenzen hinausstreben. Bald sind Völker unzufrieden, weil ihnen nicht genügend Gebiet zur Verfügung steht, auf dem die sichere Entfaltung ihres Volkstums möglich wäre; bald gärt es in einer Nation, weil die stammverwandte Bevölkerung jenseits ihrer Grenzen unter fremder Herrschaft seufzt. Daneben sind wirtschaftliche Sorgen Quellen der Unruhe, sei es, daß Gemeinschaften auf die Einfuhr bestimmter Güter angewiesen sind, deren gesicherter Bezug vom Willen fremder Staaten abhängt, sei es, daß ihre Ausfuhr, ohne die die Bevölkerung nicht zu leben vermag, durch fremde Zollschranken gefährdet ist. Mit der Betrachtung dieser drei Gruppen von Erscheinungen hat man einen Teil der Gründe gestreift, aus denen internationale Unruhen hervorzugehen pflegen: Gebietserweiterung, Bevölkerungseingliederung aus nationalen Gründen, wirtschaftliche Reibung. Von nackter Eroberungssucht sei hier ganz abgesehen. Dabei muß man aber klar darüber sein, daß auch saturierte Staaten nur relativ saturiert sind. Sie können mit dem, was sie an Gebiet, an Volk, an Macht und Reichtum besitzen, solange zufrieden sein, als die eigene Größe durch die Entwicklung anderer Staaten nicht in ein ungünstiges Verhältnis gebracht wird. Wenn andere Staaten sich wesentlich schneller entwickeln, so wird auch in die saturierten Staaten ein Moment der Unruhe hineingetragen. Das internationale Gleichgewicht wird gestört. Daß heißt nicht etwa, daß alle Länder und Staaten einander gleichgewichtig gegenüberstehen, sondern nur, daß eine bestimmte Ordnung der wechselseitigen
88 | Weltpolitik und internationale Ordnung Machtverteilung nicht gestört werden soll; in dem Augenblick, wo ein Staat eine Vergrößerung erstrebt und erreicht, pflegen andere Staaten, die bisher mit der Sachlage zufrieden waren, eine Verschiebung des Gebietsumfanges, der Macht und des Reichtums zu fordern. Wenn man überdies die Geschichte der internationalen Verwicklungen ganz kühl betrachtet, wird man finden, daß im Leben der Völker mehr Krisen, Reibungen und Kriege durch Angst entstanden sind als durch Eroberungsdrang. Die Ausbreitungsbewegung der Staaten ist in der Regel nicht aus einem wilden Annexionsbedürfnis hervorgegangen, sondern aus der Furcht, andere Länder möchten schneller wachsen, oder bestimmte Gebiete möchten in feindliche Hände fallen. Die Sicherheit des nationalen Daseins spielt in der auswärtigen Politik die entscheidende Rolle. Die Furcht um sie nimmt manchmal so großen Umfang an, daß die vernünftigsten, nächstliegendsten Interessen der Gegenwart den Befürchtungen einer weit entlegenen Zukunft geopfert werden. Die französische Politik in Versailles ist wohl das beste Beispiel hierfür. Hat man sich ein klares Bild von den Aufgaben der Außenpolitik gemacht, so muß man die Mittel betrachten, die zur Verfügung stehen. Auch hier gibt es eine unendliche Mannigfaltigkeit der Erscheinungen. Aber wenn man die vielgestaltigen Möglichkeiten genauer untersucht, so sieht man, daß auch hier nur wenige bestimmte Wege offen stehen, die man beschreiten kann: (1.) Physischer Zwang, d. h. militärische Gewalt zu Wasser und zu Lande, (2.) wirtschaftlicher Druck, der im Kriegsfall oft neben militärischer Machtentfaltung einhergeht. Er ist aber sehr wohl als selbständiges Mittel der auswärtigen Politik zu betrachten, dessen Verwendung auch im Frieden in der mannigfachsten Weise möglich ist. Man kann z. B. durch Leitung der Auswanderung nach einem bestimmten Gebiet und durch Förderung der Ansiedlung daselbst die Politik eines Landes umgestalten. Man kann ohne Übertreibung sagen, daß die ehemalige südafrikanische Republik (Transvaal) durch die den Goldentdeckungen folgende englische Einwanderung zu einer britischen Kolonie geworden ist. Man kann die Politik eines Landes durch Finanzmaßregeln beeinflussen. Das geschieht manchmal durch das primitive System des Trinkgeldes, das in der orientalischen oder der halborientalischen Politik schon vor dem Kriege üblich gewesen ist, während des Krieges aber an Ausbreitung gewonnen hat, – im großen ganzen nicht mit weittragendem Erfolg, weil die Personen, die solcher Aufmunterung zugänglich sind, mit weitgehender Unparteilichkeit von beiden Seiten zu nehmen pflegen. Eine weit größere Rolle haben bei politischen Entscheidungen Hilfsgelder gespielt. Darüber hinaus hat man die auswärtige Politik durch rein geschäftliche finanzielle Maßnahmen beeinflußt. Als Japan vor etwa 15 Jahren eine schutzzöllnerische Handelspolitik treiben wollte, die der englischen Wirtschaftsentwicklung nicht dienlich schien, und England infolge seines Freihandelssystems keinen zollpolitischen Gegendruck ausüben konnte, hat man Japan dadurch zum Einlenken bewegt, daß man es auf die Gefahr hinwies, die die Sperre des Londoner Geldmarktes für die japanischen Finanzen zur Folge haben würde. Und als zur Zeit
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des englisch-amerikanischen Venezuela-Konflikts sehr starkes Kriegsfieber in den Vereinigten Staaten herrschte, hat der durch Londoner Verkäufe herbeigeführte Sturz im Kurs amerikanischer Wertpapiere sehr ernüchternd gewirkt. Das weithin sichtbarste Beispiel von der Bedeutung finanzieller Mittel ist die Unterstützung, die Amerika als neutraler Staat durch Gewährung von Darlehen der Politik der Alliierten hat angedeihen lassen. Neben die finanziellen Maßnahmen treten die handelspolitischen. Handelspolitik ist bei richtiger Handhabung ein Teil der großen Politik. Der englische Freihandel ist nicht nur zeitweilig mit der liberal-pazifistischen Politik des Cobdenismus parallel gelaufen. Er hat es möglich gemacht, daß England weite Teile der Welt an sich riß, ohne eine Weltkoalition gegen sich heraufzubeschwören. Denn wenn es auch politisch immer neue Länder der eigenen Herrschaft unterwarf, so gewährte es doch dank dieses Freihandels fremden Nationen ein weitgehendes wirtschaftliches Gastrecht in der Heimat sowohl als auch in den abhängigen Kolonien. Es ist ein Unglück Deutschlands gewesen, daß die neueste deutsche Handelspolitik meist nur von „Sachverständigen“ und „tarifpolitischen Technikern“ gemacht worden ist, die die großen weltpolitischen Zusammenhänge selten sahen. Wirtschaftspolitik als Mittel der Außenpolitik ist etwas anderes als der Schutz bestimmter nationaler Interessen durch einen möglichst hohen Tarif. Wer ein Beispiel dafür haben will, mag daran denken, daß die Fernhaltung der serbischen Schweine von den Märkten Zentraleuropas zwar die Interessen der ungarischen Agrarier sehr gefördert hat, aber wesentlich mit dazu beitrug, Serbien von Mitteleuropa abzudrängen. Man muß dabei nicht einmal an die letzten Möglichkeiten der Handelspolitik denken, deren Bedeutung sehr hoch einzuschätzen ist. Nicht nur in vergangenen Jahrhunderten, wie bei den Boykottversuchen der amerikanischen Kolonien gegen englische Kolonialprodukte, auch in der Gegenwart sind handelspolitische Boykottbestrebungen in der Türkei, in Irland, in Indien und in China von großem Einfluß gewesen. Und die Warensperre, mit der die Alliierten im Kriege die Neutralen bedrohten, falls sie nicht den Verkehr mit Deutschland stark einschränkten, hat auf den Gang der Dinge entscheidend eingewirkt. Das dritte Mittel der auswärtigen Politik ist die Beeinflussung der Geister. Es handelt sich hierbei nicht sowohl um Propaganda, obwohl auch sie in Betracht kommt, sondern vor allem darum, Konflikte und Reibungen, die zwischen zwei Ländern entstanden sind, nicht mit den Waffen und nicht mit wirtschaftlichem Druck, sondern durch Aussprache der Beteiligten zur Lösung zu bringen. Das geschieht von Fall zu Fall durch die regelmäßige Tätigkeit der Diplomaten. Daneben hat man bei verwickelteren Tatbeständen die einschlägigen Fragen in Konferenzen und Kongressen zu regeln versucht. Naturgemäß übt die Furcht vor der Anwendung militärischer oder wirtschaftlicher Maßnahmen, falls die Verhandlung scheitert, einen gewissen Einfluß auf ihren Fortgang aus; das entscheidende aber ist, daß man die Politik von Anfang an darauf einstellt, durch Überredung etwas zu erreichen.
90 | Weltpolitik und internationale Ordnung Der Kampf der Geister wird nicht nur am Verhandlungstisch entschieden, er wird von Volk zu Volk geführt. Je geschickter ein Volk und seine Vertreter in der Behandlung der öffentlichen Meinung seiner Gegner verfahren, desto größer ist die Möglichkeit eines Erfolges in diesem Geistesringen. Ein Volk, das imstande ist, einen Gedanken in den Meinungsstreit der Welt zu werfen, der als sein Lebensziel erscheint, und andere von dem Wert dieses Lebenszieles zu überzeugen vermag, schafft sich im fremden Lager eine Partei. Je schwieriger die Lage ist, in der man sich befindet, desto notwendiger ist es, in diesem Kampf der Geister nicht nur auf Vorurteile, sondern auf Gedanken zu bauen. Und je geneigter man ist, in alter Gewohnheit sich lediglich auf Machtmittel zu verlassen, desto ungenügender pflegt man für den Kampf der Geister vorbereitet zu sein. In dieser Hinsicht sind Länder mit stark entwickeltem parlamentarischem Leben bürokratischen Staaten in der Außenpolitik überlegen. Das Wesen des Parlamentarismus besteht ja nicht nur darin, daß der Wille der Mehrheit entscheidet. Es muß vielmehr erst eine Mehrheit gebildet werden, der diese Aufgabe zufällt; dazu muß man sich im Wahlkampf durch Zureden eine Mehrheit schaffen und in den Parlamenten durch Verhandlungen die Mehrheit zu den entscheidenden Schritten bringen. Regierungen, die gewohnt sind, auf Grund von Autorität zu handeln, haben von Anfang an einen schweren Stand, wenn sie dazu übergehen, die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Wer im eigenen Land die öffentliche Meinung nur durch Anweisung zu bearbeiten und zu leiten versteht, wird im Ausland Schiffbruch leiden. Der Krieg hat diese Schwäche der deutschen Politik klar genug erwiesen. Diese und eigentlich nur diese drei Mittel gibt es zur Durchführung der Außenpolitik. Erfolgreiche Außenpolitik ist dabei nur möglich, wenn die leitenden Männer im gegebenen Falle alle drei Mittel gemeinsam anzuwenden verstehen. Je weniger militärische Gewalt zur Lösung einer bestimmten Aufgabe nötig ist, desto erfolgreicher ist die Politik gewesen, denn jede Anwendung von Gewaltmitteln bedeutet eine Anspannung, die nur berechtigt ist, wenn das mögliche Ergebnis eine Lebensnotwendigkeit darstellt. Seit Jahrhunderten hat sich gezeigt, daß die einzelnen Staaten in diesem Kampf – die auswärtige Politik ist immer ein Kampf – nur in den seltensten Fällen stark genug sind, um ihre Ziele restlos zu verwirklichen. Sie haben daher immer wieder versucht, ihre Macht zu steigern und dann ihre Ziele zu erreichen, so daß Mittel und Zweck häufig ineinander zu fließen scheinen. Die Staaten treiben Eroberungspolitik, um stark zu werden. Sie müssen umgekehrt stark sein, um Eroberungspolitik treiben zu können. Die Geschichte des preußischen Staates mag als Beispiel für diese Behauptung dienen. Die Möglichkeit, durch Anziehung neuer Kräfte stark zu werden, hat jedoch ihre bestimmten Grenzen. Alle wünschenswerten Ziele könnte ein Gemeinwesen nur erreichen, wenn seine Kräfte unter allen Umständen zu jeder Zeit jeder Kombination aller möglichen Feinde gewachsen wären. Wer das erreichen will, muß die Weltherrschaft erstreben. Und wenn auch nur der Verdacht eines Strebens nach Welt-
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herrschaft gegenüber einem Staate entsteht, so genügt das zur Bildung einer Weltkoalition. Daraus ergibt sich von selbst, daß eine Stärkung der eigenen Machtmittel auf diesem Weg nur in beschränktem Maß möglich ist. Die Völker werden daher zum Zusammenschluß mit anderen Völkern veranlaßt. Dieser Zusammenschluß kann in zweifacher Weise vor sich gehen: Einmal können Staaten mit stammverwandter Bevölkerung sich zu einem Bundesstaat zusammenschließen; oder Staaten mit gemeinsamen Interessen positiver oder negativer Art tun sich zu Allianzen zusammen. So entstehen Bündnissysteme, denen selbstverständlich Gegenbünde anderer Länder entgegengestellt werden. Das Weltbild vor dem Kriege zeigte ein System von zwei großen Bünden, um die eine Anzahl Neutraler oszillierte.
II Wird die Schaffung eines wirklichen Völkerbundes die Aufgaben der auswärtigen Politik wesentlich beeinflussen? Zur Beantwortung dieser Frage muß man sich vor allen Dingen klar darüber sein, daß der Völkerbund, den der Friede von Versailles gebracht hat, nur in sehr beschränktem Maße als wirklicher Völkerbund betrachtet werden kann, selbst wenn er im Laufe der Zeit entsprechend ausgebaut werden sollte. Man muß sich ferner im klaren darüber sein, daß die Aufgabe der deutschen Außenpolitik diesem Völkerbund gegenüber eine viel beschränktere ist, als die Aufgaben der Außenpolitik eines Landes, das vollberechtigtes Mitglied eines echten Völkerbundes ist. Der Völkerbund hat vor allem eine große Aufgabe zu lösen: Er will einen Mechanismus schaffen, der zwar die Entstehung von Konflikten nicht verhindern kann, durch den aber deren Austragung mit bewaffneter Hand erschwert werden soll. Diese Aufgabe ist dem Völkerbund bereits im Frieden von Versailles vorgezeichnet worden. Es ist nicht nötig, dieses Bruchstück eines Völkerbundes kritisch zu betrachten. Wenn der Völkerbund selbst in dem beschränkten Sinn, in dem er heute gedacht ist, zustande kommt, wird er jedenfalls die Sicherheit der Völker wesentlich vermehren. Der Angriff und der Überfall eines Landes auf ein anderes werden zweifelsohne sehr erschwert werden, insbesondere wenn die Abrüstung, die Deutschland auferlegt worden ist, von anderen Ländern nachgeahmt werden wird. Die Staaten, die Mitglieder des Bundes sind, können einander nicht angreifen, ehe eine entsprechende Frist verstrichen ist, innerhalb deren ein Ausgleich der Interessen versucht worden ist (Art. 12). 10 Dementsprechend ist der Staat, der Mitglied des Bundes ist, durch die gleichen Sicherungen – Eintritt des Bundes – auch gegen den Angriff eines dem Bunde nicht || 10 [Bonn bezieht sich hier auf die Satzung des Völkerbundes, die Bestandteil der Pariser Vorortverträge war.]
92 | Weltpolitik und internationale Ordnung angehörigen Staates ohne die entsprechende Frist geschützt. Der gleiche Schutz wird aber auch den ausgeschlossenen Staaten gegen einen Angriff eines Mitgliedstaates zuteil. Und selbst in den Fällen, wo es sich um zwei dem Bund nicht zugehörige Staaten handelt, sollen die Sicherungen des Bundes zur Anwendung kommen (Art. 17). Überdies wird allen Mitgliedern des Bundes die Unverletzlichkeit ihres Gebietes und die politische Unabhängigkeit verbürgt. Der Angriff oder die Bedrohung eines Mitgliedes ist eine Bedrohung aller. Die Ordnung des Völkerbundes weist bestimmte Wege, auf denen Konflikte durch Verhandlungen ausgetragen werden sollen. Das soll nicht nur in der Weise geschehen, die die alte Diplomatie in großem Umfange anwandte, durch Besprechungen der beteiligten Staaten, sondern unter Mitwirkung des Völkerbundes durch Anrufung der Schiedsgerichtsbarkeit oder durch eine Prüfung der Streitfragen seitens des Rats, beziehentlich seitens der Versammlung der Mitglieder des Völkerbundes. Die auswärtige Politik wird so bewußt auf das letzte der drei möglichen Mittel verwiesen. Militärische Gewaltanwendung ist nicht völlig ausgeschlossen. Auch wirtschaftlicher Druck kann angewandt werden. Beide Mittel sollen aber im wesentlichen von dem Völkerbund gegen Staaten zur Anwendung kommen, die sich den Verhandlungen entziehen und selbst Machtmittel zur Wirkung bringen wollen. Da die militärische und die wirtschaftliche Macht des Völkerbundes derjenigen jedes einzelnen Staates oder jeder Gruppe von Einzelstaaten unendlich überlegen sein wird, so will der Völkerbund den Verzicht auf einzelstaatliche Gewaltpolitik militärischer oder wirtschaftlicher Art herbeiführen. Ehe ein Schiedsspruch oder ein Urteil ergangen ist – in keinem Fall vor Ablauf von drei Monaten nach Abgabe eines solchen –, darf die bewaffnete Selbsthilfe nicht erfolgen. Konflikte sollen ausschließlich durch Verhandlungen, wenn nötig unter Mitwirkung von Nichtbeteiligten, zum Austrag kommen. Die Bereitstellung völkerbundlicher Machtmittel soll die Sanktion zur Durchführung des Spruchs der Nichtbeteiligten schaffen, insofern derjenige, der sich dem Spruche fügt, gewaltsame Maßregeln des Bundes nicht zu fürchten hat. Es wird so in gewissem Sinn eine Art Parlament der Nationen gebildet, das über ihre strittigen Angelegenheiten verhandelt. Hier liegen natürlich sehr große Schwierigkeiten vor – selbst wenn dieser Völkerbund anders geartet sein wird, als er heute aussieht, und wenn alle Staaten der Welt in ihm vertreten sein werden. Hierzu gehören u.a. die überstarke Vertretung des Britischen Reiches, das nicht nur für sich selbst und für jede seiner fast selbständigen Dominien, sondern auch für das abhängige Indien eine Stimme hat. Überdies sind zahlreiche Staaten selbständige Mitglieder, die zwar politisch unabhängig, wirtschaftlich aber abhängig sind. Nicht nur der Freistaat Liberien und der Freistaat Haiti sind ursprüngliche Mitbegründer des Völkerbundes, sondern auch Se. Majestät der König von Hedschas ist Mitglied dieser Organisation, die die Welt für die Demokratie sichern soll. Die Zusammenfassung qualitativ recht ungleicher Staatengebilde zu einer Einheit wird die Verhandlungen besonders dadurch erschweren, daß bei allen ent-
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scheidenden Abstimmungen Einstimmigkeit notwendig ist. Jede Verschiebung bestehender Verhältnisse ist daher nur möglich, wenn alle Beteiligten und alle Nichtbeteiligten mit ihr einverstanden sind. Und dadurch wird die bestehende Ordnung, auf der der Völkerbund heute beruht, zu einer dauernden gemacht, da diejenigen, die den Nutzen von dieser Ordnung haben, ihrer Abänderung kaum zustimmen dürften. Der Völkerbund garantiert also den Fortbestand von Verhältnissen, die ungerecht sind oder durch Verschiebungen ungerecht werden. Eine selbsttätige, reibungslose Abänderung ist zwar in der Theorie vorgesehen, in der Praxis aber kaum möglich. Es erscheint daher nicht ausgeschlossen, daß die Verhandlungen im Völkerbund denen des ehemaligen polnischen Reichstags ähneln werden.
III Dadurch, daß der Völkerbund die Staaten auf Verhandlungen verweist und Druck nur zulassen will, wenn bestimmte Parteien sich gegen den Verhandlungsgedanken ablehnend verhalten, werden aber der auswärtigen Politik in der Tat neue Wege gewiesen. Der Einzelstaat kann in dem Völkerbundsrat und in der Völkerbundversammlung seine Zwecke nur erreichen, wenn er alle anderen Mitglieder von der Güte seiner Sache zu überzeugen vermag. Er muß die Politik der parlamentarischen Überredung anwenden, wie sie in den besten Zeiten des Parlamentarismus nötig war. Die auswärtige Politik wird nach Zweck und Mitteln der inneren Politik ähnlich werden. Man hat das Mehrheitsprinzip der modernen Demokratie in der Verfassung des Völkerbundes grundsätzlich aufgegeben und so die Minderheit vor jeder möglichen Vergewaltigung beschützt. Man hat dadurch aber auch eine Minderheit verurteilt, dauernd Unrecht zu erdulden, wenn die Stimme des Gewissens und der Vernunft nicht jedes einzelne Mehrheitsmitglied zu überzeugen vermag. Man muß sich aber darüber im klaren sein, daß jeder Völkerbund die Idee der Gerechtigkeit immer nur unvollkommen verwirklichen kann. Die großen Reibungsflächen des Völkerlebens können durch seine bloße Gründung nicht beseitigt werden. Im wesentlichen handelt es sich hier um drei große Gebiete: Nationalitätenfragen, Fragen der dienenden Gebiete (Kolonien), wirtschaftliche Fragen. Selbst wenn die bestehenden Nationalitätenfragen restlos gelöst werden könnten, müßten doch im Laufe der Zeit immer wieder neue Nationalitätenfragen entstehen, es sei denn, daß das Prinzip der internationalen Freizügigkeit vollkommen geopfert werden würde. Solange es besteht, und trotz aller Hindernisse wird es sich in ein paar Jahren oder Jahrzehnten von neuem entwickeln, müssen immer wieder neue Völkerverschiebungen eintreten. In bisher leere oder dünn besiedelte Gebiete wandern Völker ein; sie stoßen auf andere Rassen als Bewohner oder als Beherrscher dieser Länder. Sie werden zu unterdrückten oder zu unterdrückenden Natio-
94 | Weltpolitik und internationale Ordnung nalitäten. Ein Beispiel für diese Vorgänge bilden zur Zeit die Vereinigten Staaten, aus denen überall heftige Reibungen zwischen Weißen und Schwarzen gemeldet werden. Früher gab es nur im Süden gelegentliche Reibungen, wo die Schwarzen seit Jahrhunderten angesessen waren. Infolge des Krieges hat aber die europäische Einwanderung fast ganz aufgehört. Es herrscht überall Arbeitermangel; die Löhne sind gestiegen. Infolgedessen drängen die Neger aus den Südstaaten nach Norden vor. Sie bilden geschlossene Niederlassungen in Städten, wo bis dahin immer nur einige Individuen ansässig waren. Sie strömen in Berufe ein, in denen sie mit den Weißen konkurrieren, während sie bis dahin nur bestimmte „Negerberufe“ ausgeübt hatten. Es geschieht dann, was bei Rassenfragen immer geschieht: Wenn wenig Fremde da sind, die einen nicht stören, pflegt man tolerant zu sein. Diese Toleranz besteht aber nur in Gleichgültigkeit. Sie pflegt zu verschwinden, sowie es sich um große Massen handelt. Dann wird aus privaten Antipathien eine Nationalitätenfrage, zu deren Lösung bis jetzt kein Volk den richtigen Weg gefunden hat. Was heute im Innern der Vereinigten Staaten vor sich geht, wird mit jeder Wanderwelle in der Welt, in alten wie in neuen Ländern, sich immer wieder neu herausbilden. Nationalitätenfragen entstehen aber nicht nur dadurch, daß Bevölkerungsgruppen einwandern. Sie entwickeln sich auch, wenn bestimmte Volksgemeinschaften sich ihrer Eigenart bewußt werden. Die verschiedenen Loslösungsbestrebungen Irlands als bewußte nationale Bewegung sind erst Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden. Die Nachkommen der ehemals keltischen Eingeborenenbevölkerung haben nationales Selbstbewußtsein erst zu einer Zeit erlangt, als ihre Eigenart in Sprache und Lebensweise durch äußere Anglisierung bereits stark geschwunden war. In der Gegenwart hat sich Ähnliches in der Ukraine abgespielt. In Zukunft werden solche Entwicklungen vor allem in Kolonialgebieten bedeutsam werden, wo zweifelsohne Loslösungsbestrebungen, wie sie gelegentlich schon aufgeflammt sind, in verstärktem Maß ausbrechen werden. Ob diese Befreiungsbestrebungen eine innerpolitische Angelegenheit des betreffenden Mutterlandes oder eine außerpolitische des Völkerbundes bleiben werden, kann heute kein Mensch voraussagen, wenngleich der Völkerbund des Friedensvertrags sie als innerpolitische Fragen behandeln will. Vor allem aber hat dieser Frieden, der den Völkerbund garantieren soll, eine sachliche Bereinigung der Nationalitätenfrage gar nicht gebracht. Die Vergewaltigungen haben nicht aufgehört. Sie sind nur von der einen nach der anderen Seite verschoben worden. Die Aufgabe der auswärtigen Politik innerhalb eines Völkerbundes wird also sein, dafür zu sorgen, daß diese Konflikte nicht durch bewaffnete Aufstände, nicht durch Befreiungskriege, sondern auf dem Weg der Verhandlungen endgültig gelöst werden. Ob das in einem Völkerbund möglich ist, dessen Beschlüsse auf Einstimmigkeit beruhen, ist eine andere Frage. Im großen und ganzen kann mit ziemlicher Bestimmtheit angenommen werden, daß das Zeitalter der Bildung neuer Kolonien abgeschlossen ist, da es nicht wahrscheinlich ist, daß sich neue zur Erschließung und zur Besiedelung geeignete Gebie-
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te finden werden. Das ist nicht etwa das Ergebnis der völkerrechtlichen Neuordnung, die der Friede von Versailles bringen soll, sondern eine geographische Tatsache. Schon vor dem Kriege hatten die Völker die „letzte Schwelle“, die ins Neuland führt, überschritten. Es waren nur noch wenige Räume vorhanden, die eines Aufbaus durch ein herrschendes Volk harrten. Es ist daher wenig wahrscheinlich, daß neue dienende Gebiete entstehen werden. Es ist aber wahrscheinlich, daß sich Befreiungsbestrebungen in alten Kolonien entwickeln werden, deren Bedeutung noch niemand zu übersehen vermag. Haiti und Liberien sind Mitglieder des Völkerbundes. Sie haben, obwohl sie ausschließlich von Negern bewohnt sind, eine eigene staatliche Existenz. Es ist nicht anzunehmen, daß diese Tatsache ohne Wirkung auf die Eingeborenenbevölkerungen der Welt bleiben wird, die sich in politischer Abhängigkeit von weißen Herren befinden. Hunderttausende von Farbigen haben auf den europäischen Schlachtfeldern gestritten und den weißen Mann und seine Kulturmethoden dort kennen gelernt. Viele andere haben für ihre Herren in Afrika gekämpft. Sie haben die Solidarität der herrschenden Rassen dort zusammenbrechen sehen. Kann man glauben, daß das ohne Wirkung auf die koloniale Entwicklung sein wird? Man wird dem Basuto in Südafrika nicht klarmachen können, daß er für den Burenstaat fronen müsse und zur selbständigen politischen Existenz nicht reif sei – er hat eine solche ja lange besessen –, wenn er in den Hilfskorps gewesen ist, die die deutschen „Barbaren“ niederwerfen sollten, und wenn er weiß, daß die Schwarzen in Liberien, die ehemalige Sklaven sind, ein staatlich freies Dasein führen und sogar Mitglieder des Völkerbundes sind. Es wird in den Kolonien viel gären und brodeln, ehe die Bestrebungen zur Ruhe kommen und die kolonialen Rassenfragen wenigstens vorübergehend gelöst sein werden. Der Friedensvertrag hat eine Verteilung des Kolonialbesitzes zur Folge gehabt, die eine Art Kolonialtrust in die Hand von zwei oder drei Großmächten gelegt hat. Die übrige Welt, abgesehen von einigen schwachen Kleinstaaten, ist von der Beteiligung an diesem Trust ausgeschlossen. Der Völkerbund versucht die neue Ungleichheit dadurch abzuschwächen, daß er den ehemaligen deutschen Besitz und Teile der Türkei nicht einfach unter die Alliierten verteilt, sondern ihn einzelnen Mandataren im Auftrag des Völkerbundes zur Verwaltung überträgt. Der Mandatar soll die politische Verwaltung übernehmen und sie im Interesse der Eingeborenen ausüben, dabei aber alle Bundesmitglieder zu den gleichen wirtschaftlichen Bedingungen zulassen. Die Verwaltung soll national sein, die Nutznießung international. Es wird sich zeigen müssen, ob ein derartiges System, das die Verwaltung mit allen ihren infolge des Krieges gewachsenen Schwierigkeiten bestimmten Ländern überträgt, andern aber eine gerechte Nutznießung gewähren will, sich in der Praxis aufrecht erhalten wird, oder ob nicht wirtschaftliche Abschließungsbestrebungen sich durchsetzen werden, denen in den Kolonien, die Japan, Australien oder Südafrika angegliedert werden, überhaupt kein Hindernis im Wege steht.
96 | Weltpolitik und internationale Ordnung Auch auf wirtschaftlichem Gebiet hat der Friedensvertrag eine wirkliche Lösung der Probleme nicht gebracht. Es ist nicht gelungen, den wirtschaftlich weniger günstig gestellten Ländern ein weitgehendes Gastrecht in der Reihe der glücklicheren Bundesmitglieder klar und deutlich zu verbriefen. Nur Ansätze hierzu sind vorhanden. Wirtschaftliche Gleichheit ist selbstverständlich unmöglich, aber wirtschaftliche Gleichberechtigung müßte geschaffen werden, die über ein bloß formales Recht hinausgeht. Den Zentralmächten gegenüber hat der Völkerbund in der einseitigen Verpflichtung zur Meistbegünstigung gegenüber den Alliierten bei Einfuhr und Ausfuhr und in der Gleichstellung alliierter Unternehmer mit den eigenen Unternehmern die Grundlagen einer Gleichberechtigung in wirtschaftlicher Hinsicht geschaffen. Abgesehen von diesen einseitigen Ansätzen sind die wirtschaftlichen Fragen recht kümmerlich behandelt worden. Der Grundriß eines internationalen Arbeiterrechts ist ziemlich eingehend gezeichnet worden; der Entwurf eines internationalen Wirtschaftsrechtes fehlt. Die auswärtige Politik wird in Zukunft noch in stärkerem Maße Wirtschaftspolitik sein, als sie es in der Vergangenheit war. Da sie sich innerhalb eines Bundes, der allen Teilnehmern formale Gleichberechtigung sichert, abspielen wird, wird die Bewegungsfreiheit der einzelnen Mitglieder erschwert werden. Formale Gleichberechtigung aller Beteiligten kann aber über materielle Verschiedenheit nicht hinweghelfen. Wenn z. B. ein Land wie die Vereinigten Staaten ein Einwanderungsverbot erläßt, das allen Bundesgenosssen gegenüber in gleicher Weise zur Anwendung kommt, so wird von dieser Maßnahme ein Einwanderungsland wie Argentinien ganz anders betroffen werden als Italien, das auf Auswanderung angewiesen ist. Wenn Schweden sich entschließt, ein Ausfuhrverbot für Erze zu erlassen oder hohe Zölle zu erheben, so werden Länder mit verhältnismäßig wenig eigenen Erzen bei formaler Gleichbehandlung ganz anders darunter leiden, als etwa Frankreich, das Erze exportieren muß. Es besteht eben die Tatsache, daß der wirtschaftliche Reichtum und damit die wirtschaftliche Macht unter den einzelnen Mitgliedern eines Völkerbundes verschieden verteilt ist. Diese Ungleichheit ist durch den Friedensvertrag noch verschärft worden, zum Teil infolge der verschiedenen starken Steuerbelastung, die aus Entschädigungen hervorgeht, zum Teil, weil gerade diejenigen Länder, die die reichsten mutterländischen Gebiete besitzen, das fast ausschließliche Verfügungsrecht über Kolonialgebiete erhalten haben, zum Teil durch die verschiedene Stärke der internationalen Verschuldung. Diese Ungleichheiten hat der Völkerbund des Friedens von Versailles nicht beseitigt. Es kann sie überhaupt kein Völkerbund völlig beseitigen, außer wenn eine weitgehende Neuverteilung der Welt stattfinden würde. Eine solche kann aber mit friedlichen Mitteln nicht herbeigeführt werden. Es ist nicht nur aussichtslos, sondern auch zweckwidrig, sie mit Gewalt zu versuchen, zu einer Zeit, wo die Welt als Folge früherer Gewaltpolitik an wirtschaftlicher Erschöpfung dahinsiecht. Wenn aber ein dauerndes Zusammenarbeiten der Nationen erzielt werden soll, muß dafür gesorgt werden, daß die ungehinderte Bewegung von
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Menschen, Waren, Kapital und Unternehmungen, die vor dem Kriege in der Welt bestand, rechtlich gesichert wird. Was die Alliierten heute Deutschland und Deutsch-Österreich als einseitiges Servitut auferlegt haben, muß allseitig gültiges Weltrecht werden. Ein Völkerbund hat keinen Sinn, wenn er auf der einen Seite aus gesättigten Nationen besteht, die bei formaler Gleichberechtigung den anderen Teil, die hungrigen Nationen, von jeder Bereicherungsmöglichkeit ausschließen. Das ist kein Völkerbund, sondern höchstens ein Garantiesyndikat. Die Erfüllung der formalistischen Gleichberechtigung mit materiellem Inhalt ist eine der Aufgaben, die die auswärtige Politik im Völkerbund durchsetzen muß. Sie kann das nur durch Verhandlungen tun. Die Völker, die in erster Linie für sie eintreten müssen, haben weder die militärische Macht, noch die wirtschaftlichen Druckmittel zur Erzwingung ihrer Ziele. Sie können nicht überwältigen, sie können nur überreden. Der Völkerbund schafft nur den Mechanismus zur Schlichtung von Konflikten; er kann aber nicht erreichen, daß es keine Konfliktstoffe mehr in der Welt gibt. In seinem Innern bleiben für die auswärtige Politik immer noch Aufgaben, die den Aufgaben der Vergangenheit sehr ähneln. Allerdings müssen die Ziele der eigentlichen Herrschaftspolitik wegfallen. Wenn der Völkerbund lebendige Kraft hat, wird es nicht mehr möglich sein, Gebietsverschiebungen und -veränderungen mit gepanzerter Faust durchzusetzen. Solange sich aber innere Verschiebungen im Leben der Völker nicht verhindern lassen, muß es möglich sein, deren Auswirkung auf der Landkarte einzutragen. Nicht auf dem Wege des Kampfes, sondern durch Verständigung. Die Anwendung von Gewaltmitteln wird zwar nicht völlig verschwinden. Wenn aber der Völkerbund vollen Erfolg haben wird, werden die einzelnen Staaten sie kaum mehr anwenden können, da sie sich immer einer Weltallianz gegenüber befinden. Etwas anders liegt die Sache allerdings bei rein wirtschaftlichen Druckmitteln, wenn ein Staat oder ein Reich infolge seiner Ausdehnung und seiner Reichtumsentwicklung ohne fremde Hilfe imstande ist, durch Versagen und Gewähren wirtschaftlicher Wünsche die Politik seiner Mitstaaten wesentlich zu beeinflussen. Solange ein internationales Wirtschaftsrecht noch nicht ausgebildet ist, und Weltreiche wie die Vereinigten Staaten oder das Britische Reich den Ausschluß von Fremden aus ihren Wirtschaftsgebieten ohne weiteres verfügen können, wird ihnen gegenüber auch der Wirtschaftsdruck des Völkerbundes verhältnismäßig unwirksam sein. Die meisten Staaten werden ihre politischen Aufgaben überhaupt weder mit militärischem noch mit wirtschaftlichem Druck lösen können. Sie werden beinahe ausschließlich die eigentliche politische Methode gebrauchen müssen. Die kleinen und mittleren Staaten haben dies immer tun müssen, da sie, wenn sie allein standen, nie das Schwert in die Wagschale werfen konnten. Sie konnten in den seltensten Fällen etwas mit wirtschaftlichem Druck erreichen; sie mußten immer versuchen, zu verhandeln, durch geistige Einflüsse zu wirken, moralische Erobe-
98 | Weltpolitik und internationale Ordnung rungen zu machen. Das wird in Zukunft die Aufgabe der auswärtigen Politik der meisten Länder sein, vor allem auch die des Deutschen Reiches. Seine Leiter haben heute nicht die Wahl, ob sie Gewalt anwenden wollen oder nicht. Sie haben sie nicht, also können sie sie auch nicht gebrauchen. Der Versuch, sie durch offene oder geheime Methoden sich neu zu schaffen, würde zu einer noch weitgehenderen Entwaffnung führen. Es gibt also nur die eine Möglichkeit, sich bewußt auf den Boden des Völkerbundes zu stellen. Deutschland ist durch den Frieden von Versailles in eine Lage gekommen, in der sich früher nur kleine Mächte befanden. Der Internationalismus ist stets die Waffe der Kleinen gegen die Großen gewesen. Man kann natürlich einwenden, daß man durch den Völkerbund die eigene Souveränität und den eigenen Willen aufgebe und sich dem Willen anderer Mächte unterordne. Das ist richtig. Aber wo in der Welt hat es denn selbst bei den großen Mächten einen eigenen Willen gegeben? Wer den Ursprung des Krieges kritisch betrachtet, muß zu dem Schluß kommen, daß die äußeren Verhältnisse die Bewegungsfreiheit einer jeden Großmacht so eingeengt hatten, daß jede der Sklave eines leichtsinnigen Alliierten war. Das ist kein Zufall, sondern liegt in der Natur der Dinge. Wer zwischen bestimmten Mächtegruppen eingekeilt ist, wird durch jede Bewegung zu einer Gegenbewegung gezwungen. Weder die Entscheidung über die Bewegung, noch die Richtung, nach der sie gehen soll, unterliegt seiner eigenen Wahl. Das ist heute nicht anders geworden. Solange Deutschland außerhalb des Völkerbundes steht, wird es immer ein Staatswesen sein, dessen Politik ihm durch den Willen einer übermächtigen Koalition vorgeschrieben ist, einer Koalition, die durch die Wiedergutmachungskommission selbst den Gang seines Wirtschaftslebens regeln kann. Es wird weder imstande sein, diese Koalition zu sprengen, noch eine Gegenkoalition herbeizuführen. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als den Eintritt zu erstreben und durch seine Beteiligung aus der Koalition einen Bund zu machen. In diesem Bund muß es mit geistigen Mitteln die Ziele durchsetzen, die ihm Lebensziele sind. Diese geistige Beeinflussung kann nicht etwa durch einen großen Propagandaapparat herbeigeführt werden. Das ist nicht Kampf der Geister, sondern Fabrikation geistloser Schablonen. Es handelt sich vielmehr darum, zu erkennen, was möglich ist und was notwendig ist, und die anderen davon zu überzeugen. Dabei muß man sich ganz bewußt von der Politik eines öden Revanchegedankens fernhalten. Gerade wenn man die Forderung vertritt, daß die Ordnung, die der Friede von Versailles geschaffen hat, nicht bleiben darf, weil es eine Ordnung ist, die Europa lebensunfähig macht, muß man auf den Gedanken verzichten, sie durch die gleichen Mittel umzustoßen, die sie herbeigeführt haben. Das Unglück Europas, das diese Weltzerstörung verursacht hat, kann nicht dadurch ungeschehen gemacht werden, daß eine neue Weltzerstörung auf Kosten einer oder der anderen der heutigen Westmächte neben die Verödung Zentraleuropas tritt. Die auswärtige Politik muß parlamentarisiert werden. Wie in der modernen Welt die größten innerpolitischen Verschiebungen nicht, wie früher, durch physi-
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sche Gewalt herbeigeführt werden, sondern bei aller Leidenschaft und aller parlamentarischen Korruption durch Verständigung unter den Beteiligten, so müssen auch die Verschiebungen zwischen den Staaten in Zukunft durch Verhandlung und nicht durch Vergewaltigung erreicht werden. Das Wesen des Parlamentarismus ist gewiß ein rein formales. Es geschehen durch Mehrheiten und durch Abstimmung Unrecht und Vergewaltigung, wie früher durch Gewalt. Was aber in unblutiger Weise entstanden ist, kann in unblutiger Weise wieder gutgemacht werden. Das Wesen des Parlamentarismus besteht darin, daß eine Mehrheit entscheidet; diese Mehrheit ist bei ungerechtem Wahlrecht in der Vergangenheit oft Vertreterin einer Minderheit gewesen. Sie hat sich dann auf die Dauer nie halten können. Wo ein ungerechtes Wahlrecht entstand, ist es beseitigt worden, und wo ein gleiches, aber ungerechtes Wahlrecht formale Gleichberechtigung sichert, da entstehen gewiß Mehrheiten, die nicht verdienen, Mehrheiten zu sein. Sie können aber keine dauernde Macht behalten. Sie müssen immer mit der Möglichkeit rechnen, daß die öffentliche Meinung umschlägt, und daß derjenige, der heute eine Minderheit vergewaltigt, morgen ihr schutzlos ausgeliefert sein wird, wenn sie zur Mehrheit geworden ist. Es ist dieser Gedanke und diese Erfahrung, die dem politischen Leben entwickelter Länder eine gewisse Mäßigkeit aufzwingt und dadurch allzuheftige Pendelbewegungen verhindert. Wo das nicht der Fall ist, wo Minderheiten sich als Mehrheiten aufgespielt und ihre Macht rücksichtslos ausgeübt haben, da reift von selbst der Gedanke der Räterepublik, der Herrschaft einer kleinen, gewalttätigen Minderheit. Es tritt dann in der inneren Politik die Methode der Gewalttätigkeit von neuem hervor, die die parlamentarische Entwicklung längst beseitigt hatte und die nur in der auswärtigen Politik noch zugelassen war. Die Mitglieder des Völkerbundes müssen danach trachten, alle Konflikte zwischen den Teilnehmern nicht mit blutiger Hand auszutragen und nicht durch Austrittserklärungen zu erledigen, sondern durch Einräumen von Zugeständnissen und durch Verständigung. Dabei entsteht für die deutsche Politik eine ganz besondere Schwierigkeit. Sie muß sich klar darüber sein, daß Deutschland, selbst wenn es vollberechtigtes Mitglied des Völkerbundes ist, selbst wenn die Verfassung des Völkerbundes wesentlich geändert wird, England und Amerika gegenüber stets in der Minderheit sein wird. Dazu kommt, daß viele Kleinstaaten wirtschaftlich abhängig sind, und zwar von diesen Ländern und nicht von Deutschland. Das ist nicht die Folge eines Völkerbundes, sondern die Folge historisch gewordener Tatsachen, die der Weltkrieg deutlich genug erwiesen hat, und die auch der beste Völkerbund nicht ungeschehen machen kann. Aber eine intelligente Minderheit hat in der Welt sich immer durchgesetzt, wenn sie klar und deutlich die Grundgedanken der Zukunft entwickelte, der Zukunft vorgearbeitet hat und dann durch geschickte Gruppierung Majoritäten bilden konnte. Diese Aufgabe der deutschen Politik kann ohne eine Neuorganisation des Auswärtigen Amtes und des Auswärtigen Dienstes nicht gelöst werden. Aber sie kann auch nicht ausschließlich durch eine Reform dieser Stellen zustande kommen. Die
100 | Weltpolitik und internationale Ordnung Katastrophe der deutschen Politik ist nicht sowohl auf das Versagen der Diplomatie zurückzuführen; die Diplomaten sind nur die Hände der auswärtigen Politik, deren Erfolge von dem Geiste und dem Willen abhängen, der diese Hände leitet. Man hat mit Recht geklagt, daß an manchen Stellen ein zu weitgehender weltmännischer Dilettantismus geherrscht habe. Aber im großen und ganzen hat die deutsche Politik weniger unter den Dilettanten als unter den Spezialisten gelitten. Staatsmännische Erkenntnis und staatsmännischer Wille haben weit mehr gefehlt als Spartenkenntnis und Fleiß. Man darf nicht, wie das im Augenblick geschieht, politische Fachmänner durch politische Dilettanten ersetzen wollen; man soll aber auch nicht glauben, daß die große Politik auch nur einen Schritt weiter kommt, wenn man liebenswürdige, wirtschaftlich nicht voll durchgebildete, aber mit politischem Instinkt begabte Aristokraten durch betriebsame Kaufleute und Handelssachverständige bürgerlicher Herkunft ersetzt. Zur großen Politik braucht man Leute, die den inneren Zusammenhang der Dinge zu erfassen verstehen, die Phantasie besitzen und die den Mut haben, zu handeln. Das kann man nicht lehren, das muß einem angeboren sein; aber diejenigen, die solche Gaben besitzen, müssen sehr viel lernen; sie müssen die nötigen Mitarbeiter haben, auf die sie sich verlassen können. Die wichtigsten Mitarbeiter der auswärtigen Politik sind aber nicht die Referenten im Ministerium und die Diplomaten auf den Außenposten, der einflußreichste Mitarbeiter ist das eigene Volk. Wenn das Volk keine politische Sachlichkeit besitzt und zwischen politischer Phantasie und Phantasterei nicht zu unterscheiden vermag, wenn es selbst kein Verantwortlichkeitsgefühl hat und kein solches von seinen Vertretern verlangt, wenn es heute alldeutsche und morgen bolschewistische Romantik betreibt, dann kann kein Staatsmann seine auswärtige Politik leiten. Nur wenn das Volk selbst von politischen Gedanken erfüllt ist und als Ganzes in der auswärtigen Politik durchsetzen will, was ihm als Höchstes erscheinen muß, ein System politischer Gerechtigkeit, nur dann ist es möglich, auswärtige Politik mit geistigen Kräften zu treiben. Da das deutsche Volk andere Mittel nicht mehr besitzt, muß es seine und seiner Staatsmänner höchste Aufgabe sein, das Ideal der Gerechtigkeit mit geistigen Waffen zu verwirklichen. Das kann nur der tun, der sich bewußt auf den Standpunkt des Völkerbundes stellt und der der Hoffnung Ausdruck gibt, daß alles, was in der heutigen Ordnung unerträglich ist, mit Methoden geändert werden wird, die diesen Änderungen Dauer und Anerkennung verleihen. Der Weg der Verhandlung mit einem übelwollenden Gegner ist ein steiler, langwieriger Weg. Es ist der einzige, der zum Ziele führen kann. Alle anderen führen zum Selbstbetrug und enden in einem sich selbst zerstörenden Illusionismus.
4 Die Gegenkolonisation (1926) I Wenn nicht alles trügt, steht die Welt vor dem Abschluß eines in seiner Art einzigartigen kolonialen Zeitalters. Das besagt nicht bloß, daß die letzte „Grenze“ überschritten und das letzte Neuansiedlungen zugängliche Gebiet verteilt worden ist, so daß in Zukunft kein Neuland mehr vorhanden sein wird. Es bedeutet vielmehr, daß die Strömungen, die wir in ihrer Gesamtheit als Kolonisation bezeichnen, zum Stillstand gekommen sind, ja vielfach sich in entgegengesetzte Richtung gewendet haben. Kolonisation im weitesten Sinne des Wortes ist die Übermittlung der Lebensformen eines gesellschaftlich organisierten Volkes an andere Völker und deren Übertragung nach anderen Gebieten. Sie vollzieht sich in einfachster Form, wenn ein Volk menschenleere Gebiete gewonnen hat, sie mit seinen eigenen Angehörigen auffüllt und dort, beinahe unbewußt, nach dem Vorbild der heimatlichen Gesellschaft eine neue Gemeinschaft aufbaut. Nur wenigen Völkern ist eine derartige Kolonisation vergönnt gewesen: den Engländern in Nordamerika und in Australien, Neuseeland inbegriffen, den Franzosen in Kanada, in bedingtem Maße den Spaniern und den Portugiesen in Südamerika und den Russen in Sibirien. Die Übermittlung der Lebensformen hat dann meist einen doppelten Ausdruck gehabt: Auf der einen Seite ist das Wirtschaftsleben in den Formen, die damals in der Heimat bestanden, übertragen worden. Auf der andern Seite sind in dem neuen Lande die politischen Einrichtungen des Mutterlandes von neuem entstanden. Wo das der Fall war, blieb die Kolonie nur zeitweise vom Mutterland abhängig; sie hat sich dann mit beginnender Reife entweder von ihm losgelöst oder sich zur Teilhaberin seiner Herrschaft entwickelt. Die Begründung dieser Art von Kolonien, der Siedlungskolonien, stellt nur einen Teil der Kolonisation überhaupt dar. Vielfach waren die neugewonnenen Gebiete von Eingeborenenbevölkerungen bewohnt, die beim Zusammenstoß mit den Einwanderern ihre Lebensfähigkeit erwiesen. Wo sie nicht abstarben oder zurückwichen, wie die Indianer oder die Australneger, entstanden Mischkolonien, in denen Eingeborene und Kolonisten miteinander lebten. Die einwandernden Kolonisten nahmen den Eingeborenen meist das fruchtbarste Land ab; sie ließen sie als Arbeiter und Pächter an seiner Bestellung teilnehmen. Sie pflegten sie in der Vergangenheit als rechtlich Unfreie zu behandeln, während sie sie in der Gegenwart trotz der heute viel tiefergehenden Rassenunterschiede als Freie, wenn auch nicht politisch gleichberechtigte Individuen betrachten. So hat sich die Geschichte von Südamerika abgespielt, soweit es von Indianern bewohnt war, und nicht anders diejenige von Nord- und von Südafrika, von Irland und von weiten Teilen Ost- und Südeuropas. Die herrschende Einwandererschicht beließ ursprünglich den Eingeborenen die diesen vertrauten Lebensformen und dachte nicht daran, ihnen die eigenen aufzu-
102 | Weltpolitik und internationale Ordnung drängen. Wo das Gefälle zwischen dem Stande der beiderseitigen Zivilisation ein hohes war, hat sie sogar vielfach das eigene Kulturleben mit seinen geistig-technischen Errungenschaften eifersüchtig für ihre Angehörigen bewahrt und den Eingeborenen, um gegen Aufstände gesichert zu sein, keinen Anteil an ihm zugestanden. Wo dagegen die kulturellen Unterschiede zwischen Einwanderern und Eingeborenen verhältnismäßig gering waren, wie etwa in Ost- und Südeuropa oder auch zeitweilig in Irland, haben sie die Eingeborenen erst unbewußt, dann bewußt entnationalisiert und ihnen die eigene Sprache und das eigene Weltbild aufzudrängen versucht. Bei diesem Bestreben sind sie oft erfolgreich gewesen. Dieser Vorgang war zu Beginn der modernen Nationalitätenbewegung noch nicht zum Abschluß gekommen. Wo es sich um verhältnismäßig hochstehende staatlich konsolidierte Eingeborenenreiche handelte, wie etwa in Indien, haben sich die Eroberer damit begnügt, an Stelle der Eingeborenenregierung eine europäische Regierung zu setzen; sie sind dabei oft auf sehr verschlungenen Wegen gewandelt. Diese europäische Regierung betrachtete sich grundsätzlich als Nachfolgerin der einheimischen Vorgänger und regierte ganz bewußt mit einheimischen Regierungsmethoden. Der kulturelle Hochmut der Europäer und die wirtschaftliche Gewinnsucht haben aber allmählich zur Einführung der Formen des europäischen Kapitalismus in die Eingeborenenländer geführt. Da dieser Kapitalismus mit seinen empfindlichen Anlagen und Werkzeugen einer in europäischem Geiste hantierenden technischen Arbeiterschaft bedarf und von kapitalistisch denkenden Personen geleitet werden muß, so hat er das geschlossene Gefüge der Eingeborenenweltanschauung erschüttert und dadurch Forderungen nach politischer Umstellung auf staatlichem Gebiet ausgelöst. Er hat die Eingeborenen nicht zu entnationalisieren versucht, weil ihm ihre Nationalität mißfiel, er hat sie nur der kapitalistischen Wirtschaft eingepaßt und damit die seelischen Kräfte ihrer Eigenart entwurzelt. In rein kapitalistischer Form ist die Kolonisation in den Gebieten aufgetreten, wo Eingeborenenreiche ihre Selbständigkeit zu behaupten vermochten, zum Zweck der Beibehaltung dieser Selbständigkeit aber einer finanziellen Umgestaltung des Staates und des Verwaltungslebens bedurften. Sie mußten Anleihen auf den europäischen Märkten aufnehmen und wurden dadurch zu Schuldnern der europäischen Kapitalisten. Da sie, wenn man von Japan absieht, ihre Finanzen nicht selbständig so ordnen konnten, wie es der europäische Gläubiger vom Standpunkt der Sicherheit aus verlangte, wurden sie unter Finanzkontrolle gestellt, die sich bald auf die Erträge bestimmter Einkünfte, bald darüber hinausgehend auf Kontrolle der allgemeinen Finanzverwaltung erstreckte. Nur wenige Länder, wie insbesondere die südamerikanischen Republiken iberischen Ursprungs, konnten ihre politische Unabhängigkeit ohne finanzielle Kontrolle behaupten. In diesen vier Formen etwa hat sich die Kolonisation im 19. und noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts abgespielt. Man kann heute deutlich erkennen, daß der Weiterwirkung dieser Kräfte enge Gren-
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zen gesetzt sind. Auf fast allen Gebieten hat eine Bewegung begonnen, die man als Gegenkolonisation bezeichnen darf.
II Der Kapitalismus vor dem Kriege war auf einer sich selbsttätig verbreiternden Grundlage aufgebaut worden. Aus den alten Ländern ergoß sich ein Strom von Kapitalien in die neuen Welten, in denen reiche, noch unausgenutzte Produktionsmöglichkeiten den Kapitalien höhere Erträge versprachen. Neben den Kapitalien floß ein Menschenstrom den neuen Produktionsgebieten zu. 1913 sind allein nach Nordamerika über 1½ Millionen Menschen eingewandert. Neben die europäische Auswanderung traten asiatische und afrikanische Völkerbewegungen im Dienste der kapitalistischen Erschließung von Neuland. In jenen Tagen der Verbreiterung des Kapitalismus über die ganze Erde waren alljährlich wohl größere Menschenmassen im Flusse als zu den Zeiten, die wir die Völkerwanderung nennen. Durch den Bau von Eisenbahnen wurde neues Agrarland gewonnen, durch die Erschließung von Gruben Gold und Rohstoffe gefördert. Mit den Ersparnissen der Heimat schuf der europäische Kapitalismus Nahrungsmittel und Rohstoff erzeugende Produktionsanlagen auf der ganzen Erde. Durch Aussendung seiner Söhne und Töchter und durch Umgestaltung des Lebens eingeborener Bevölkerungen, die er in sein System hineinpreßte, zog er neue Kunden groß, die mit ihren Produkten den Produktionsüberschuß bezahlten, dessen seine wachsenden Industrieanlagen zur Rentabilität bedurften. Diese Bewegung ist zum Stillstand gekommen. Europa, als Ganzes betrachtet, erzielt keine Überschüsse mehr. Beträgt doch allein die Gesamtverschuldung der europäischen Regierungen an die Regierung der Vereinigten Staaten beinahe 50 Milliarden Mark = 11.984 Milliarden Dollar; die Zinszahlungen, die im vergangenen Jahre fällig waren, haben mehr als 4 Milliarden Mark ausgemacht. Die Kapitalströme haben ihren Lauf geändert; sie gehen aus der Neuen Welt zurück in die Alte, wo sie keine neuen Produktionsmöglichkeiten erschließen, sondern nur die Fortführung der alten Unternehmungen erleichtern. Auch die Wanderbewegung großen Umfangs ist zum Stillstand gekommen. Vom 1. Juli 1927 an wird die europäische Einwanderung in den Vereinigten Staaten auf 150.000 Personen beschränkt sein. Der internationale Erschließungs-Eisenbahnbau hat aufgehört. Statt daß Europa seine Menschen und mit ihnen seine Produktionsmethoden in Kapitalform einer neuen Welt entsendet, ist die kapitalistische Führung auf Amerika übergegangen. Die ehemalige Kolonie entwickelt das Mutterland, technisch mit vollkommenen, jugendfrischen Methoden, während sie geistig das Wesen kolonialer Unfertigkeit noch nicht völlig abgestreift hat. Die Gegenkolonisation hat begonnen. In gewissem Sinne handelt es sich bei dieser Bewegung um eine bloße Richtungsänderung, nicht um grundsätzlichen Stillstand. Wenn die Vereinigten Staaten
104 | Weltpolitik und internationale Ordnung die Finanzkontrolle in Mittelamerika ausüben, oder wenn Österreich und Ungarn unter die Finanzkontrolle des Völkerbundes, Deutschland unter die Kontrolle eines Gläubigerausschusses gestellt werden, so ist das nur eine Vertauschung der Objekte, keine Umstellung des grundsätzlichen Verhältnisses zwischen Subjekt und Objekt. Hinter diesen Verschiebungen aber ist eine Revolution der Schuldnerländer gegen die Gläubigervölker deutlich erkennbar. Sie bildet auf der einen Seite einen Teil des allgemeinen Schuldneraufstandes, den wir Inflation nennen. Sie trägt aber, wenn sie sich gegen Auslandsgläubiger wendet, ein ganz anderes Gesicht. Sie ist dann, soweit sie nicht künftige Kredite verteuert, profitabel, weil sie, auf Kosten der Ausländer gehend, nicht wie die Binneninflation eine bloße Verschiebung und damit Vernichtung des inneren Reichtums bedeutet. Das Verhältnis der Türkei zu ihren Gläubigern mag als Beispiel hierfür dienen; auch in China sind ähnliche Bestrebungen im Gange. Und in dem Kampf um die Anerkennung Rußlands seitens der Westmächte und die wirtschaftliche Einbeziehung Rußlands in die Weltwirtschaft hat die Frage der Anerkennung der Vorkriegsschulden oder, wenn man es vom Standpunkt des westlichen Kapitalismus aus formulieren soll, der moralischen Unzulässigkeit der finanziellen bolschewistischen Gegenkolonisation eine entscheidende Rolle gespielt. Selbst in dem Verhältnis Frankreichs zu den Vereinigten Staaten klingen übrigens ähnliche Motive durch. Aber das ist noch nicht das Entscheidende. Auch in den Gebieten der Erde, wo der europäische Kapitalismus alte Eingeborenenzivilisationen mit wachsendem Erfolg in seine Formen zu pressen vermocht hat, hat die Gegenkolonisation eingesetzt. Der entscheidende Erfolg des Bolschewismus in Rußland ist nicht als Triumph der industriellen Arbeiterklasse über den voll ausgewachsenen westlichen Kapitalismus, er ist weit mehr als Sieg eines eurasischen Nationalismus über den europäischen in bureaukratisch-kapitalistischer Vermummung auftretenden Imperialismus zu betrachten. Daher ist es kein Zufall, daß in Westeuropa der Bolschewismus gescheitert ist. In den kulturell hochstehenden eingeborenen Kolonialgebieten der Erde, in China und Indien, in Syrien und Marokko, gibt er den nationalistischen Strömungen, die sich gegen den europäischen Kapitalismus aufbäumen, weil er Imperialismus ist, nicht weil er Kapitalismus ist, die entkapitalistische Note. Er verbrüdert sich mit dem Islam, wenn es ihm zweckmäßig erscheint, er vertieft sich in ihm wesensfremden chinesischen Geistesströmungen; er sucht Neger und Mongolen für sich zu gewinnen. An und für sich sind in den nationalistischen Bewegungen Indiens und des fernen Ostens die industriellen Bestrebungen einer aufsteigenden, schutzzollüsternen eingeborenen Bourgeoisie geradeso vorhanden wie in den europäischen Kämpfen, in denen wirtschaftlicher Nationalismus mit Idealismus eng verknüpft war. Die großen Massen der Eingeborenenbevölkerungen aber kann ein rein schutzzöllnerischer ideenarmer Nationalismus nicht begeistern. Der bolschewistische Appell an die Bedrückten und Getretenen, der sie aufruft gegen ihre Herren, die fremden Kapitalisten, die im Schutz von fremdem Militär und fremder Bureaukratie ihr Land ausplündern, findet einen Widerhall in ihren Herzen. Im Zen-
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trum der kapitalistischen Wirtschaft ist der Bolschewismus erfolglos; an der Peripherie, in den kolonialen Gebieten, hat er sie zu erschüttern vermocht. Die kapitalistische Expansion kann dort nicht länger billig und gefahrlos neue Absatz- und Betätigungsmöglichkeiten für die immer noch anwachsenden Bevölkerungen der europäischen Heimat schaffen. In den rein tropischen Gebieten mit verhältnismäßig rückständigen Eingeborenenbevölkerungen ist die europäische Kolonialherrschaft einstweilen noch nicht gefährdet. Der Kampf der Europäer gegeneinander, den die Eingeborenen im Kriege kennengelernt haben, und die Strömungen, die aus der äthiopischen Bewegung heraus sich zu entwickeln beginnen, haben aber, wenn man so will, auch dort die Rentabilität der Kolonisationsmethoden vermindert. Der Kapitalismus weitet sich nicht mehr automatisch aus. Das Zeitalter der mühelosen kolonialen Erschließung ist zu Ende. Menschen und Anlagen wachsen in unheimlichem Tempo in den Heimatländern des Kapitalismus an. Die erweiterte Grundlage, die er vor dem Kriege Jahr für Jahr neu zu gewinnen vermochte, kann er sich nicht mehr angliedern. Zeitweilig scheint sein Bau als Ganzes vollendet. Es kann nicht mehr angebaut, nur noch aufgestockt werden. Der Stein, der ins Wasser fiel und durch seinen Anstoß immer neue Ringe zog, hat den Grund berührt. An den Ufern schlagen die Ringe an und wellen nach dem Zentrum zurück. Und während die Gewinnung neuer Konsumenten industrieller Produkte in der Heimat und in Übersee sich verlangsamt hat, ist die Industrialisierung in der ganzen Welt fortgeschritten. An die Stelle der großen Reiche, die, sich über weite Räume verbreitend, Völkerschaften der verschiedensten Art ohne Rücksicht auf nationale Eigenart zusammenschweißten, ist die Gegenbewegung getreten. Außerhalb Europas stehen noch die beiden angelsächsischen Wirtschaftsreiche. Das britische ist in doppelter Weise gefährdet. Die einzelnen Teile mit Selbstregierung, die Dominien, haben eine weitgehende Souveränität auch in der Außenpolitik erreicht. Sie sind als selbständige Staaten im Völkerbund vertreten. Sie müssen den internationalen Abmachungen des Mutterlandes ausdrücklich beitreten, falls diese sie binden sollen. Sie treiben eine Wirtschaftspolitik, die völlig autonom gehalten ist. Sie lösen sich aus dem Gefüge des Reichs und suchen als Teilhaber eine neue Einheit, die, wenn sie gelingt, dauernder sein mag als die gewesene, die auf breiterer Grundlage ruht, aber loser sein muß, die die Einheit nur in der Vielheit erreicht. Auf der andern Seite ist das britische Reich zur Zeit stärker als andere Mächte den Angriffen der Gegenkolonisation ausgesetzt. Es hat Irland und Ägypten als Herrschaftskolonien aufgegeben; es ist in Indien in die Verteidigung gedrängt worden. Die anderen europäischen Reiche sind bereits geborsten. Deutschland ist völlig auf Europa beschränkt; Frankreich ist seinem ganzen Bau nach kein Weltreich; Österreich ist zertrümmert; Italien hat vom Römerreiche vielleicht den Willen, nicht den Raum geerbt. Das türkische Reich vermag wohl die kapitalistische Bevormundung seiner Gläubiger abzustreifen; es hat dafür aber die Herrschaft über die Ungläubigen verloren. Es hat allerdings nicht nur aus beherrschten kolonialen Gebie-
106 | Weltpolitik und internationale Ordnung ten zurückweichen müssen, es ist auf der andern Seite auch imstande gewesen, die Kolonisten, die innerhalb der ihm verbliebenen Landesgrenzen ansässig waren, auszutreiben. Seit der Verjagung der Mauren aus Spanien und Portugal hat es keinen Vorgang gegeben, der so sehr als Gegenkolonisation erscheint, wie die Umsiedlung der griechischen Kolonisten aus Kleinasien nach Europa. Von der Türkei und von Rußland ist eigentlich nur der asiatische Keim geblieben. Im Gegensatz zur Türkei sind dem russischen Reich nicht nur Gebiete verloren gegangen, die es, wie etwa Polen und Finnland, als Kolonien zu beherrschen suchte, sondern Gemeinschaften auch, wie die Randstaaten, in denen eine Kolonistenklasse dominierte, die in Rußland selbst lange Zeit an der Herrschaft teilhatte. Ehe der Kolonisationsprozeß Rußlands gegen die Balten in den Randstaaten zu Ende war, ist ihre Loslösung erfolgt. Dabei richtete sich aber die Gegenkolonisation gegen Rußland und gegen die Kolonisten, die ihrerseits Rußland gegenüber als Träger einer antirussischen Gegenkolonisation in Betracht gekommen wären. Die Enteignung des baltischen Grundbesitzes in den Randstaaten ist nichts anderes als ein Stück „Gegenkolonisation“, wie sie heute in ganz Ost- und Südeuropa in vollem Gange ist. Ob dabei die Kolonisten enteignet und vertrieben werden, etwa wie die deutschen Optanten in Polen, oder ob sie als Staatsbürger des Landes anerkannt, aber trotzdem enteignet werden, wie die deutschen Großgrundbesitzer in der Tschechoslowakei, ändert an der sozialen Eigenart dieser Art der Gegenkolonisation nichts. Der soziale Gedanke, der ihr zugrunde liegt, ist vielfach so mächtig, daß er sich gegen die eigenen grundbesitzenden Volksgenossen richtet. Er ist daher nicht ausschließlich eine Erscheinung des europäischen Ostens; er ist, schon vor dem Kriege, am leidenschaftlichsten in Irland zum Ausdruck gekommen und wirkt heute in den mexikanischen Unruhen stark mit. In Europa selbst hat die Idee des national-einheitlichen Kleinstaates über den wirtschaftlich geschlossenen Großstaat zeitweilig gesiegt. Das kunstvolle Mosaik, das europäische Staatskunst mit brutalem Herrschaftswillen im Osten und Südosten Europas in jahrhundertelanger Arbeit gefügt hat, ist durch ungebärdige, wirtschaftlich dem kolonialen Zeitalter kaum entstiegene Völker zerschlagen worden. Auch hier hat die Gegenkolonisation gesiegt. Entkolonisierung bedeutet aber hier nicht die Rückkehr zu den primitiven agrarischen Zuständen der Vorzeit. Sie geht, wie fast immer der Nationalismus, Hand in Hand mit schutzzöllnerischer Treibhauskultur. Je größer die wirtschaftliche Unfertigkeit der betreffenden Völker ist, desto höher müssen die Zollschranken sein, die ihnen die Hochzucht einer Industrie ermöglichen, von der, wenn nicht die nationale Sicherheit, so doch wenigstens die Höhe der Beteiligung abhängt, die den Einzelstaaten bei einem wirtschaftlichen Wiederzusammenschluß Europas zugebilligt werden kann. Überall herrscht Hochzucht der Produktion, begleitet von Konsumentenschwund. Die schärfste geistige Zusammenfassung dieser ganzen Strömung kommt aber vielleicht in der neuen amerikanischen Einwanderungsgesetzgebung zum Aus-
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druck. Amerika will, was die Zusammensetzung seiner Bevölkerung betrifft, nicht länger Kolonialland sein. Es hat einen eigenen nationalen Typus entwickelt und sich ein eigenes nationales Ideal gesteckt. Es will sich bei dessen Herausbildung durch minderwertige europäische Beimischung nicht behindern lassen. Es fühlt sich sozial „fertig“. Es will nicht länger Menschen, Mittel und Ideen von alten Zivilisationen entleihen. Es will seine eigenen sozialen Vorstellungen vom „richtigen Leben“ nicht nur durch Beispiel, sondern auch durch Missionare und Kapital anderen Völkern übermitteln. Die größte Kolonie, die die Erde gesehen hat, entkolonisiert sich vollständig. Sie hat die Gegenkolonisation in sich vollendet; nun sucht sie in anderen Erdteilen deren Bestrebungen durch eigene Kolonisation zu überwinden.
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Krise der Demokratie
5 Die Auflösung des modernen Staats (1921) Der alte Staat und der Individualismus Der moderne Staat, im engeren Sinne des Wortes die moderne Staatsgewalt, ist in zweifacher Weise gewachsen: Es hat sich einmal eine Zentralregierung gebildet, die den lokalen Herrschaften allmählich ihren Willen aufdrängt, feudalen Grundherrschaften sowohl als auch freien Stadtwirtschaften, und die im Laufe der Zeit so die alte Selbstverwaltung mindert oder gar beseitigt. Zum anderen aber begnügt sich dieser zentralisierte Staatswillen nicht damit, sich die gleichen Aufgaben und Zwecke zu setzen, die die einzelnen Lokalwillen erstrebten, sie bloß äußerlich angleichend und vereinheitlichend. Vielmehr setzt er sich entsprechend seinem vermehrten Machtbedürfnis und seinen gesteigerten Machtquellen neue Ziele und verwendet neue Mittel. Er greift vielfach in das Leben der einzelnen mit den gleichen Methoden ein, die die mittelalterlichen Stadtherrschaften entwickelt hatten. Er will sich aber damit nicht begnügen: Schon weil er seine Herrschaft über verhältnismäßig weite Räume erstreckt und geographisch verschiedenartige Interessen zu berücksichtigen hat, entstehen ihm neue Aufgaben. Es tritt nicht einfach an Stelle eines kleinen mehr oder minder geschlossenen Kreises ein großer aus der Auflösung der kleinen gebildeter Kreis, es entstehen vielmehr durch die Zusammenschweißung neue Probleme. Vor allem entwickelt sich an Stelle der auf dem Herkommen beruhenden Politik eine zielstrebige Staatskunst, die sich bewußt Zwecke setzt und Mittel schafft. Zu diesen Mitteln gehören das moderne Heer, das Beamtentum und die moderne Finanz. Die Politik der sich auf allen Gebieten Ziele setzenden Staatsgewalt geht gewissermaßen von der Voraussetzung aus, daß der Staat eine Alles wissende, Alles wollende und Alles vermögende Persönlichkeit darstelle. Sie ist nach der wirtschaftlichen Seite die Politik des Merkantilismus. Rein politisch erhält sie durch das Wort des Sonnenkönigs: „Der Staat bin ich“ den schärfsten Ausdruck. Dieser moderne Staat, der am kühnsten in Frankreich aufgebaut ist, setzt sich in der Tat die Aufgabe, das ganze gesellschaftliche Leben nach seinen Plänen zu gestalten. Er bricht die Selbstverwaltung der kleinen Wirtschaftskreise, denn in dem Augenblick, wo er sie miteinander verschmilzt und wo sie miteinander in Verkehr treten, hört die Selbstverwaltung auf, nur Selbstverwaltung zu sein. Die Landschaft, die Getreide erzeugt und es nicht ausführen läßt, beeinflußt nicht länger nur das Schicksal ihrer eignen Bewohner, sie übt vielmehr durch diese selbständige Regelung des Getreidebaus weitgehenden Einfluß auf die Versorgung anderer Landesteile aus, von deren Arbeitsleistung die Konkurrenzfähigkeit des ganzen Staates abhängt. Und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des ganzen Landes bedingt schließlich das finanzielle Erträgnis, das die Grundlage jeder Politik bildet. Rationa-
112 | Krise der Demokratie lisierung und Zentralisierung arbeiten Hand in Hand. Dieser moderne Staat scheint sich in Frankreich im 18. Jahrhundert zeitweilig aufzulösen. Die äußere Politik überspannt ihre Anforderungen an die finanzielle Kraft. Von Ende des 17. Jahrhunderts an bis in die Tage des ersten Kaiserreichs befindet sich Frankreich eigentlich dauernd in einer finanziellen Krise. Der finanzielle Druck erschüttert das ganze soziale Leben. Dabei zeigt sich bald, daß das Beamtentum den an es gestellten Anforderungen technisch, moralisch und politisch nicht gewachsen ist. Die eigentliche Finanzverwaltung hat es nicht dauernd zu übernehmen vermocht. Sie geriet immer wieder in die Hände der Generalpächter. Aber auch auf anderen Gebieten erkannten gerade die besten Beamten ihre eigene Unzulänglichkeit „Pour gouverner mieux, il faudrait gouverner moins“. Ganz einerlei, wer der Urheber der Formel „Laissez aller, laissez passer, le monde va de lui meme“ ist – die ersten Ansätze zu ihr finden sich schon in den Tagen Colberts –, sie ist das Eingeständnis des Versagens der Regierungsgewalt. Die Opposition gegen die Allmacht des Staates, die sich wohl am stärksten in Frankreich herausbildete, ging einmal aus dem Kreise der Feudalen hervor. Die Landwirtschaft bezahlte im großen ganzen die Kosten der Umschichtung der Gesellschaft, die der Merkantilismus erstrebte. Die Großgrundbesitzer, in deren Rechte die Zentralgewalt in den verschiedensten Formen eingriff, setzten sich gegen die Minderung ihrer politischen und sozialen Macht zur Wehr. In Frankreich wurden diese Gedanken in den ersten Schriften des älteren Marquis de Mirabeau, des „Menschenfreundes“, zum Ausdruck gebracht. In England stimmten sie mit den Neigungen der zur Regierung gelangten Whigaristokratie überein, die im großen ganzen, obwohl sie das Ruder des Staatsschiffs in der Hand hatte, vor Eingriffen zurückscheute. In Preußen brachen sie gegenüber den Stein-Hardenbergschen Reformen durch, als es sich darum handelte, zu verhindern, daß der Staat sich in die herkömmlichen Beziehungen zwischen Herr und Knecht einmische. Diese Feudalen waren nicht an und für sich gegen den Staat. Wenn sie regierten, wie z. B. in England, waren sie unter Umständen gern bereit, die Staatsgewalt anzuspannen. Aber sie kehrten sich gegen einen von ihnen unabhängigen Staat, der mit einem berufsmäßigen Beamtentum in ihre Angelegenheiten eingriff. Zu den wirtschaftlich-sozialen Strömungen gesellten sich die religiösen. Insbesondere die Puritaner wendeten sich gegen die Staatsgewalt, die ihnen Vorschriften über das ewige Heil machen wollte. Wo sie sich, wie in England, im großen ganzen behaupten konnten, richteten sie sich mit aller Wucht gegen den Staat überhaupt: Wer die Verantwortung für die eigene Seele ohne staatliche Vermittlung zu tragen vermag, der bedarf keiner obrigkeitlichen Fürsorge, wo es sich um minder wichtige, irdische Dinge handelt. Solange die Staatsgewalt nicht in den Händen dieser puritanischen Minorität lag, solange betrachtete sie den Staat und die, die ihn vertreten, eingedenk der erlittenen Verfolgungen als den bösen Feind, von dem man nur eins verlangen müsse: Nichtstun. Diese Kreise bildeten das Rückgrat der modernen industriellen Mittelklasse in den meisten Ländern. Solange sie die politische Macht
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nicht erobert hatten, solange die Staatsziele von ihren Gegnern und nicht von ihnen selbst gesteckt wurden, und solange die Beamtenstellen Sinekuren des regierenden Grundadels waren, übertrugen sie den altgewohnten religiösen Haß auf das wirtschaftliche Gebiet. Dazu trat Verachtung. Denn die Leute, die das Wirtschaftsleben regeln wollten, waren aristokratische Dilettanten, die hierzu weder Fähigkeiten noch Kenntnisse besaßen. Feudalismus, Puritanismus und Industrialismus bemächtigten sich der von François Quesnay und seiner Schule geschaffenen wirtschaftlichen Naturphilosophie in der Weiterbildung von Smith und Ricardo: Die soziale Ordnung kann nicht willkürlich geschaffen werden, sie ist von Gott oder der Natur gefügt. Die einzige Aufgabe, die der Mensch hat, ist, sie zu erkennen und dafür Sorge zu tragen, daß die künstlichen Hindernisse, die dem ungestörten Ablauf der Naturgesetze im Wege stehen, beseitigt werden, daß die schlechte Gesetzgebung aufhört und daß das natürliche Spiel der Kräfte beginnt. Wenn der Staat die plumpe Hand von allen wirtschaftlichen Dingen fernhält, und wenn die einzelnen ihrem natürlichen wirtschaftlichen Egoismus folgen dürfen, wenn laissez aller, laissez faire herrscht, wird die Wirtschaft gesunden. Die Staatsgewalt hat sich nur auf Sicherung der Ordnung und Schutz vor Gewalt zu beschränken.
Der Weg zum Staatssozialismus Diese Politik staatlicher Nichteinmischung ins Wirtschaftsleben hat, abgesehen von der Handelspolitik, auf deren Gestaltung freihändlerische, von dem natürlichen Spiel der Kräfte ausgehende Vorstellungen in vielen Ländern mitwirkten, eigentlich nur in England dauernden Erfolg gehabt. Dort hat die Manchesterschule das ganze politisch-soziale Leben zeitweilig mit ihrer Auffassung erfüllt. Sie hat im Kampf gegen den alten Klassenstaat der Grundbesitzer durch eine langdauernde Vereinigung von Bürgertum und Arbeiterklasse eine politische Lage geschaffen, bei der auf der einen Seite das alte Machtmonopol der grundbesitzenden Klasse zerbrach, während auf der anderen Seite das staatliche Element aus dem Wirtschaftsleben möglichst ausgeschaltet wurde. Ihren Höhepunkt erreichte diese Auffassung des individualistischen Liberalismus – der sich hier beinah mit anarchistischen Vorstellungen berührt – wohl in der Forderung Herbert Spencers: Der Staat solle auf seine Münzhoheit verzichten und die Herstellung des Geldes dem Wettbewerb der Privaten überlassen. In anderen Ländern, z. B. in Deutschland, erkannte das wirtschaftlich aufstrebende Bürgertum bald, daß die Auswirkungen einer zielbewußten Wirtschaftspolitik, insbesondere beim Zollwesen, für seine Wohlstandsentwicklung von größter Bedeutung waren. Es bekämpfte immer noch die Einmischung des Obrigkeitsstaates in religiöse und politische Angelegenheiten. Es suchte dagegen seine Einwirkung auf wirtschaftliche Dinge überall dort durchzusetzen, wo ihm private Vorteile wink-
114 | Krise der Demokratie ten und daher seiner Ansicht nach nationale Interessen auf dem Spiel standen. Die Inhaber der Gewalt im Obrigkeitsstaat erkannten ihrerseits mit Wohlgefallen, daß sie dem Angriff auf ihre Monopolstellung als Inhaber der politischen Macht am besten dadurch ausweichen konnten, daß sie die Staatsgewalt in den Dienst der wirtschaftlichen Interessen der sozial aufsteigenden Klassen stellten, um diese gewissermaßen am Ertrage, aber nicht an der Ausübung und der Kontrolle der Staatstätigkeit zu beteiligen. Die Entwicklung der modernen Industrie verschärfte die alten Unterschiede zwischen Besitzenden und Besitzlosen. Ein kapitalistisches Unternehmertum trat einer proletarischen Arbeitermasse gegenüber. Deutlich zeigte sich, daß Krisen sich nicht abwenden ließen und daß soziale Spannungen nicht überbrückt werden konnten, wenn man den Ausgleich dem natürlichen Spiel der Kräfte überließ. Private Interessen und Gemeinschaftsinteressen stehen sich trotz aller Auffassung einer vorherbestimmten Harmonie gegensätzlich gegenüber. Daher ergab sich der Ruf nach Eingriffen der Staatsgewalt ins Wirtschaftsleben nicht nur aus dem Wunsch, die bestehenden Ungerechtigkeiten der Gesellschaft zu beseitigen, sondern auch aus der Absicht, bewußt eine zweckmäßige, gerechte soziale Ordnung zu schaffen. Es entstand die Vorstellung des Kollektivismus, d. h. einer Gesellschaft, deren Produktionsprozeß von der Staatsgewalt im Interesse der Allgemeinheit angeordnet wird. An Stelle der Vorstellung eines unfähigen Staates tritt wieder seit St. Simon der Glaube an einen Alles wissenden, Alles wollenden, Alles könnenden Staat. Für einen solchen waren in der Tat neue Vorbedingungen entstanden. Die alte Patronagewirtschaft, die Sinekuren an unfähige Günstlinge verteilte, war vielfach durch ein Beamtentum ersetzt worden, das in der Kunst der Verwaltung geübt war und vorher eine theoretische Ausbildung erhalten hatte. Die Statistik, staatliche wie private, schaffte eine verhältnismäßig zuverlässige Grundlage zur Erkenntnis wirtschaftlicher Zustände und damit die Möglichkeit zu ihrer bewußten Umgestaltung. Die Entwicklung des modernen Nachrichtenwesens und des modernen Verkehrs setzten die Staatsbehörden in den Stand, Entscheidungen nach Kenntnis der Tatsachen sofort zu treffen und Entschließungen sofort zur Ausführung zu bringen. Eisenbahnwesen, Telegraph und Telephon geben heute einem entschlußfähigen Referenten in einer Zentralbehörde, der das Ohr seines Ministers besitzt, unmittelbar eine sehr viel größere Macht, als sie Friedrich der Große oder Napoleon hatte, geschweige denn die römischen Imperatoren oder Alexander. Naturgemäß begriffen die tatkräftigen Männer der Bureaukratie diesen Umschwung, der es ihnen ermöglichte, sich dem staatsfeindlichen Liberalismus gegenüber zur Wehr zu setzen und nicht nur ihre alten Stellungen zu behaupten, sondern durch Übernahme wirtschaftlicher Aufgaben auf den Staat, wie Eisenbahn und Telegraph auch die wirtschaftliche Stellung derjenigen Klassen zu beeinflussen, die politisch ihre Gegner waren. Der Staat, der in den Besitz der wichtigsten Produktionsmittel gekommen ist, trat dem wirtschaftlichen Individualismus nicht mehr mit dem lässigen Dilettantismus des alten Staats gegenüber. Er war Träger wirtschaftli-
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cher Macht geworden. Es ist kein Zufall, daß die neue Auffassung vom Staat im deutschen Obrigkeitsstaat besonderen Anklang gefunden hat und diesem Obrigkeitsstaat dann auch eine neue, haltbare Untermaurung gegeben hat. In dem Bestreben nach Ausdehnung der Staatsgewalt trafen sich konservative Anhänger des Obrigkeitsstaats mit demokratisch-sozialistischen Arbeitern zusammen. Der alte Staat war ein Minoritätsstaat. Wenn die Massen das Wahlrecht erringen konnten und wenn die Souveränität des Volksganzen, d. h. also der Wille der Mehrheit zur Geltung kam, dann änderte sich naturgemäß ihre Stellung zum Staat und zu den Aufgaben des Staates. Es ist ihr Staat geworden, der nicht länger ein Feind ist, sondern ein Instrument, durch dessen Handhabung die neue Gesellschaft herbeigeführt werden kann. Wo die sozialistischen Massen theoretisch reine Marxisten sind, denen die Entwicklung der Gesellschaft naturgesetzlich bedingt erscheint und nicht durch parlamentarische Gemeinschaftsbeschlüsse bewußt umgestaltet werden kann, bedeutet das nicht viel. Sie schalten die Macht, die sie besitzen könnten, aus, sie kommen in den Parlamenten – wenn sie sie beschicken – vielleicht überhaupt nicht zur Geltung, da man nicht Politik für die Gegenwart, sondern nur auf längste Zukunftssicht treibt. Sowie aber diese organisierten Massen, oft unter Verleugnung ihres theoretischen Glaubens, die parlamentarische Macht zu erobern trachten und ihren Willen in der Gesetzgebung durchzusetzen suchen, entsteht auch auf demokratisch-sozialistischer Seite der Ruf nach Ausdehnung und Anspannung der Staatsgewalt. Die von der Demokratie gewählte und beherrschte Maschine muß jetzt die wirtschaftlichen und sozialen Aufgaben lösen, die diese Demokratie von ihr verlangt. Sie greift allen Protesten zum Trotz, die sich auf das natürliche Spiel der Kräfte berufen, tief ins Leben des einzelnen ein. Sie verlangt planmäßige Umgestaltung des Wirtschaftslebens und sucht sie durchzuführen. Und sie betrachtet den Staat als das gegebene Werkzeug. Sie will diesem sozialdemokratischen Staat die Allmacht über das ganze menschliche Leben zusichern. So setzt sie sich z. B. in der australischen Demokratie über scheinbar unerschütterliche, wirtschaftliche Naturgesetze mit rücksichtslosem Wollen hinweg. Die Demokratie nimmt den Platz des Sonnenkönigs ein; sie ist der Staat. Gleichzeitig sucht ein beträchtlicher Teil der Theoretiker den Nachweis zu führen, daß es wirtschaftliche Naturgesetze überhaupt nicht gebe und nicht geben könne, daß also der organisierte Gemeinschaftswillen im Setzen der Ziele und in der Wahl der Mittel nicht durch übermenschliche Regeln gebunden sei. Die staatliche Theorie des Geldes, d.h. die Auffassung, daß das Geld im wesentlichen ein Geschöpf der Rechts- und Staatsordnung ist, gibt vielleicht diese Auffassung am schärfsten wieder.
Neue Ansätze zur Staatsfeindschaft Hinter dieser Vorstellung des alles vermögenden Staats entwickeln sich aber bereits Elemente, die seine Auflösung erstreben. Auf religiösem Gebiet ist die Staatsfeind-
116 | Krise der Demokratie schaft breiter Schichten nicht erstorben. Wenn auf der einen Seite der religiöse Fanatismus im Dissidententum durch zunehmende Gleichgültigkeit an Kraft verliert, so wird auf der anderen Seite die Staatskirche durch die gleiche Entwicklung mindestens ebenso geschwächt. Sie ringt sich vielfach zu einer Toleranz durch, die starke Elemente der Lässigkeit enthält. Sie kann daher den Gedanken der spirituellen Einheit eines Volkes nicht mehr mit dem Schwung altgläubiger Überzeugung vertreten. Mehr und mehr erstrebt sie nur noch die äußere Observanz ihrer Regeln. Gleichzeitig wächst aus den geistig führenden Schichten der Gesellschaft eine gewisse Opposition gegen den Staat heraus. Sie sind ihrer ganzen Einstellung nach Individualisten und Aristokraten. Je mehr der Staat in sozialer Hinsicht bürokratisch und demokratisch wird, desto weniger ist in der Praxis von dem zu finden, was in der Theorie den „Staat als Kunstwerk“ besonders anziehend machte. Sie finden sich nach der materiellen Seite zwar mit der Verbeamtung des geistigen Lebens ganz gern ab, mit ihrer insbesondere die Mittelmäßigen begünstigenden Nivellierung, sie werden aber doch immer wieder gegen die ihnen abträglichen Gleichheitsbestrebungen aufgereizt. Sie wissen, daß sie eine Minderheit sind. Je mehr der Staat Organ der Mehrheit wird, desto weniger können sie auf eine Berücksichtigung ihrer Interessen rechnen, desto wichtiger ist es für sie, daß ein für allemal Grenzen gezogen werden, die die Staatsgewalt nicht überschreiten darf. Die moderne Demokratie hat überdies das Problem des Schutzes der Minderheiten nirgends gelöst. Sie eröffnet ihnen nur die Möglichkeit, durch freie politische Betätigung sich in Mehrheiten zu verwandeln. Es gibt aber auf religiösem, geistigem, wirtschaftlichem und insbesondere auf nationalem Gebiet dauernde Minderheiten, die sich nie in Mehrheiten verwandeln können. Sie werden Mehrheitsbeschlüssen geopfert, wenn der durch Mehrheiten gelenkten Staatsgewalt nicht unüberschreitbare Schranken gesetzt werden, wenn ihr also nicht an bestimmten Punkten ein „Halt“ zugerufen wird. Das zeigt sich am deutlichsten überall dort, wo es Nationalitätenfragen gibt. Die Mehrheit überstimmt die Minderheit, aber diese will sich nicht fügen. So wenig der Dissident unter Berufung auf sein Gewissen das Recht des absoluten Staates zur Vorschrift von Glaubenssätzen anerkannt hat, die ihm die Befolgung kirchlicher Regeln zur Wahrung der staatlichen Einheit aufzwingen, ebensowenig sind die Minderheitsnationalitäten, die sich ihrer Eigenart bewußt geworden sind, bereit, ihr Wesen dem Wesen der Mehrheit anzugleichen und ihre partikularistisch gefärbten Minderheitswünsche dem Mehrheitswillen unterzuordnen. Sie weisen den Mehrheitsstaat in seine Schranken zurück und gehen gelegentlich so weit – man denke nur an die Ulster Rebellion 1912 bis 1914 – den Mehrheitswillen mit Waffengewalt zu bedrohen. Der Ursprung der bewaffneten Selbsthilfe mit ihrer Verneinung der Staatsgewalt ist in Irland bereits in den Jahren vor dem Krieg sichtbar. Die moderne Industrie ist in fast allen Ländern unter der Fürsorge der Staatsgewalt entstanden. Auch wenn sie längst den Kinderschuhen entwachsen ist, läßt sie sich bei Zollpolitik und Frachttarifen die schützende Hand des Staates gefallen. Sie
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lernt allmählich durch Bildung von Kartellen und Trusts den Wettbewerb zu beseitigen und durch Schaffung eines künstlichen Monopols die Preise zu erhöhen und die Rentabilität zu steigern. Die klassischen Länder dieser Entwicklung sind die Vereinigten Staaten und Deutschland. Diese monopolistischen Bildungen führen zu immer größer werdender Kapitalkonzentration und Hand in Hand damit zu der Verstärkung der wirtschaftlichen Macht verhältnismäßig weniger wirtschaftlich führenden Persönlichkeiten. Es entsteht neben der Staatsgewalt eine konzentrierte Wirtschaftsmacht. Soweit diese Vereinigungen die Preise von Rohstoffen und Halbfabrikaten regeln, hängt der ganze industrielle Überbau eines Landes von ihnen ab. Vielfach sind sie durch die Staatsgewalt gefördert; ihre Entwicklung ist durch Schutzzölle und Frachttarife begünstigt worden. Sie bedürfen aber allmählich dieser Hilfe immer weniger. Sie können durch Steigerung ihrer Leistungsfähigkeit den inneren Markt beherrschen. Durch internationale Abmachungen teilen sie sich die Märkte der Welt und einigen sich über die gewünschten Preise, wenn nötig gegen den Willen der Staatsgewalt. Sie üben dabei einen immer größer werdenden Einfluß auf die Staatsmaschine aus; sei es, daß sich das wie in den Vereinigten Staaten mehr oder minder offen zeigt, sei es, daß, wie in Deutschland, interessierte Sachverständige das Beamtentum beraten, wenn sie sich nicht durch nackte Interessenvertretung in den Parlamenten durchzusetzen vermögen. In den Vereinigten Staaten sind die Trusts in den letzten dreißig Jahren eigentlich immer in einem Kampf mit der Staatsgewalt begriffen gewesen. Die öffentliche Meinung bäumt sich gegen sie auf und sucht immer wieder vergebens, den freien Wettbewerb herzustellen und das Abhängigkeitsverhältnis der Konsumenten zu beseitigen. In Deutschland ist der alte Obrigkeitsstaat zwar gelegentlich mit ihnen in Konflikte geraten – man denke nur an den Kampf um die Hibernia – es ist aber immer wieder ein Ausgleich gefunden worden. Man ließ die Kartelle und Syndikate ihre wirtschaftliche Macht innerhalb gewisser Grenzen ausüben und förderte sogar ihre Entwicklung. Denn dem Beamtentum eines Obrigkeitsstaats ist eine geschlossene Industrie, die beruflich in Verbände gegliedert ist und als Gruppe handelt, weit angenehmer als der bunte Wirrwarr des freien Wettbewerbs, wo einer gegen den anderen arbeitet und wo eine einheitliche Willensmeinung der Beteiligten für die Regierung nur schwer festzustellen ist. Die moderne Kapitalbildung und Kapitalassoziation ermöglicht so das Entstehen von Wirtschaftskörpern, die als Mächte neben dem Staat ins Gewicht fallen. In kolonialen und quasi-kolonialen Ländern treten sie sogar über den Staat; in vielen zurückgebliebenen Ländern überwacht ein Gläubigerausschuß durch die Finanzkontrolle nicht nur einzelne Verwaltungszweige; er bestimmte z. B. in Ägypten und teilweise in der Türkei das ganze Staatsleben. In der modernen afrikanischen Kolonialpolitik trat seit 1891 wieder die privilegierte Aktien-Gesellschaft mit staatlichen Hoheitsrechten auf. Auf der anderen Seite steckt allein schon im proletarischen Begriff des Klassenkampfes die Vorstellung einer Sondergruppe, die sich zwar schließlich der Staatsgewalt bemächtigen will, aber einstweilen neben ihr und über ihr ein Sonderdasein
118 | Krise der Demokratie führt. In dem frühen genossenschaftlichen Sozialismus sucht sich die Arbeiterschaft in Sondergruppen zu organisieren. Sie erstrebt dieses Ziel durch Anwendung des Genossenschaftswesens. Später entsteht unter den Produzenten durch Zusammenschluß in der Tat ein Staat im Staat, doch handelt es sich hier nicht um produzierende Arbeiter, sondern um Landwirte. Die Loslösung der Arbeiter von der Staatsidee vollzieht sich im Syndikalismus. Es ist ein System von Gewerkschaften entstanden, in dem nicht nur die arbeitenden Mitglieder der einzelnen Berufe für ein ganzes Land zusammengeschlossen werden, sondern das schließlich in einer Zentralorganisation die Gewerkschaften überhaupt zusammenzufassen sucht. Es entwickelt sich also innerhalb des Staates eine Republik der Arbeit, die sich stark genug dünkt, durch gewaltsame wirtschaftliche Selbsthilfe, insbesondere den Generalstreik, ihre Zwecke durchzusetzen, ohne daß sie sich erst der Staatsgewalt zu bemächtigen braucht. Sie verlacht den Mehrheitsstaat mit seinen demokratischen Bourgeoisformen. Sie zerbröckelt und zertrümmert ihn, wenn er sich gegen sie stellt.
Die Krise des Staats im Weltkrieg Der Große Krieg bringt die denkbar gewaltigste Anspannung des Staatsgedankens. Die organisierten Völker der Erde haben in diesem Kriege nur ein Ziel: Niederwerfung des Feindes. Ein gemeinsamer Wille durchströmt sie, unter Ausschaltung aller Widerstände. Abgesehen von einigen Fanatikern, die sich auf ihr Gewissen berufend, den ungleichen Kampf kämpfen und in den Formen der Gesetzlichkeit vergewaltigt werden, ist jeder einzelne Wille im Gemeinschaftswillen aufgelöst. Der Staat ist Gott geworden, ein Gott der Rache und der Vernichtung. Das Volk ist nicht länger eine notdürftig gegliederte, oft zusammenhanglose Masse, es ist ein Heer von Männern, Frauen und Kindern, das auf einen einheitlichen Befehl hin seine Pflicht tut. Das Ideal der Staatsallmacht ist erfüllt: Der Staat ist alles, der Mensch ist nichts. Millionen Tote beweisen die Wirklichkeit, nicht die Richtigkeit dieser Theorie. Am allerstärksten erweisen sich diese Gedankengänge in den demokratischen Gemeinwesen. Hier fällt den Führern unter bewußter Aufgabe des Willens der einzelnen eine Macht zu, wie sie Menschen nie besessen haben. Lloyd George und Wilson üben über ihrer Völker eine Gewalt aus, der gegenüber die Machtansprüche des Sonnenkönigs wie die Anmaßungen eines Kindes erscheinen. Im Lande der Überspannung der Staatsmacht, also in Deutschland, ist dieser Prozeß in gewissem Sinne viel weniger weit gegangen. Der Monarch, in dessen Händen die höchste Macht lag, war willenlos. So klüftete sich der Staat in zwei einander befehdende Systeme, die Zivilverwaltung und die oberste Heeresleitung. Mehr und mehr glitt im Laufe der Zeit die Staatsgewalt in die Hände der letzteren, bis am Ende des Krieges eine einheitliche Staatsgewalt mit Einheitswillen vorhanden war, zu einer Zeit aber, als sich der Willen der Massen bereits gegen den Staat zu kehren begann.
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Die Staatsgewalt begnügt sich im Kriege nicht damit, dem Einzelwillen gegenüber militärisch Zwang anzuwenden. Sie hat konstruktive Aufgaben vor sich. Die Kriegswirtschaft aller Länder gibt Gelegenheit zu staatssozialistischen Experimenten, wie sie der kühnste Reformer nicht zu träumen gewagt hätte. Auch hier sind die individualistischen angelsächsischen Länder die radikalsten. Sie verstaatlichen während der Kriegszeit nicht nur die Eisenbahnen und die Schifffahrt, sie regeln die Kohlenwirtschaft und den Aufkauf der Rohstoffe. Sie setzen der Landwirtschaft Preise, die eine Steigerung der Produktion ermöglichen, sie gehen schließlich von der Produktion zur Verteilung über. Sie überlassen die wirtschaftlichen Aufgaben, nicht wie in Deutschland, Kriegsgesellschaften, in denen der Staat seine Funktionen mit Privaten teilt, sie berufen die Führer des Wirtschaftslebens in die Ministerien und regulieren es von Staats wegen. Die Not der Zeit zwingt in Deutschland zu viel weitergehenden Eingriffen. Es wird nicht nur die Produktion geregelt – das ist, da die Grundlagen der Produktion in einem blockierten Lande nicht elastisch sind, nur zum Teil möglich –, es wird auch der Verteilungsprozeß geordnet und das ganze Volk auf Rationen gesetzt. Es herrscht eine Planwirtschaft, vor allem auf dem Gebiet der Konsumtion, die – zum mindesten auf dem Papier – das Herz eines Kommunisten höher schlagen lassen müßte. Die Ausgleichung aller sozialen Gegensätze, das Problem, das so lange die Aufmerksamkeit der Denker beschäftigt hat, wird dadurch zu lösen versucht, daß man Kauf und Verkauf nach mittelalterlichen Vorbildern auf dem gerechten Preise aufbaut, um damit, wie im Mittelalter, Schiffbruch zu erleiden. Aus den tosenden Strudeln des Weltkriegs taucht der Leviathan auf, der Menschen verschlingende Staat, gewaltiger und scheußlicher, als ihn je eine Feder gezeichnet hat. In der deutschen Revolution sinkt die bestehende Staatsgewalt in sich zusammen, aber nicht die Staatsidee. Im Gegenteil. Trotz aller Anarchie tritt jetzt der Gedanke des vollsozialistischen Staats in den Vordergrund. Die Sozialdemokratie hat zwar die Revolution nicht gemacht – die Revolution war ein Aufbäumen kriegsmüder Soldaten gegen die in der Befehlsgewalt verkörperte Autorität. Aber durch die Revolution ist die Sozialdemokratie Führer des deutschen Volks geworden. Sie beruft sich mit Recht auf die Volkssouveränität, denn hinter ihr und hinter denen, die ihr nahe stehen, steht im Herbste 1918 die Mehrheit des deutschen Volkes. Jetzt wird und kann sie die Idee des sozialen Staates verwirklichen und sozialisieren, jetzt können die Produktionsmittel in die Hand des Staates übergeführt werden. Eine Zeitlang hallt Deutschland wider von dem Streit der Meinungen, wie sozialisiert werden soll, – daß sozialisiert werden müsse, ist nicht länger die Frage. Aber als die ersten greifbaren Pläne zur Sozialisierung ausgearbeitet werden, ist der Glaube an die Allmacht des Staates bereits gebrochen. Man will nicht länger verstaatlichen, man will neue, gemeinwirtschaftliche Gebilde neben dem Staat schaffen. Gerade im Lande der folgerichtigsten Staatsidee, in Deutschland, waren die Aufgaben, die die Staatsgewalt während des Krieges lösen sollte, vielfach unlösbar. Der höchste Wille scheiterte an der Beschränkung der technischen Mittel – man denke
120 | Krise der Demokratie nur an den Zusammenbruch der Eisenbahnen, der sich in den letzten Monaten des Krieges allmählich vorbereitete. Eine erfolgreiche Planwirtschaft war unmöglich: Die Preise sollten niedrig gehalten werden, damit die städtischen Massen die ihnen zustehenden Rationen beziehen konnten. Es fehlte so der Ansporn für die Produktion, wodurch der bestehende Mangel vergrößert wurde. Während man durch Wuchergesetze die Preise der Gegenstände des täglichen Bedarfs niedrig zu halten suchte, blühten der Schleichhandel und der Wucher dem Staat als Käufer gegenüber. Mehr und mehr suchte der einzelne sich dem Druck des Staatswillens zu entziehen. Deserteure und Schleichhandel sind das äußere Zeichen dieser Entwicklung. Hand in Hand geht damit die beginnende Auflösung der territorialen Einheit. Die Überschußgebiete schließen sich ab, so daß die Mangelgebiete noch mehr leiden. 85 Jahre nach der Begründung des Zollvereins leben die deutschen Binnengrenzen wieder auf, verfassungswidrig, aber trotz alledem wirksam. Der durch die Staatsgewalt in Deutschland nur mühsam vollzogene Zusammenschluß der Stände lockert sich. Schroffer denn je stehen Stadt und Land einander gegenüber. Es ist nicht länger der Gegensatz zwischen verschiedenen Berufen, es ist der Gegensatz zwischen Hungrigen und Satten. Auch rein technisch beginnt der staatliche Organismus zu versagen. Dem deutschen Verwaltungsbeamten ist die Aufgabe gesetzt, für beinahe 60 Millionen Menschen, abgesehen vom Heer, wirtschaftliche Vorsehung zu spielen. Das vermag er naturgemäß nicht zu leisten. Die Ausbildung des Beamtentums ist im wesentlichen juristisch formal. Soweit es wirtschaftlich vorgebildet ist, war es historischempiristisch gerichtet. Es ist durch die historische Nationalökonomie angelernt worden, die Lösung der Gegenwartsfragen durch relativistische Betrachtungen der Vergangenheit zu vollziehen, es kann mit wenig Ausnahmen nicht konstruieren, es sieht nur zeitliche, keine ursächlichen Zusammenhänge. Es ist außerdem infolge der sorgfältig durchgeführten Spezialisierung nicht gewohnt, Probleme als Ganzes zu betrachten. Es gibt nur Spezialisten, während doch der wirtschaftliche Zusammenhang Universalität verlangt. Diese weitgehende Spezialisierung hat überdies vor dem Kriege schon eine doppelte Folge gehabt: Sie hat einmal dazu geführt, daß die Beamten zu allen Fragen die Sachverständigen, d. h. die Interessenten heranziehen, deren Detailkenntnisse natürlich der Detailkenntnis auch des tüchtigsten Beamten überlegen ist. Sie nutzen aber, und das ist die zweite Folge, nicht nur die Kenntnisse der Beteiligten aus – was recht und billig ist –, sie räumen ihnen auf Grund ihres Fachwissens ganz naturgemäß einen Einfluß ein, der nur berechtigt ist, wenn es sich um Nichtinteressenten handelt. Diese geistige Abhängigkeit des Beamtentums, das vor dem Kriege moralisch in keiner Weise korrumpiert war, im Zusammenhang mit seiner Spezialisierung führen dazu, daß die Neigung zur Übernahme von Verantwortung gering ist. Das Ergebnis ist dann die Kriegsgesellschaft. Während in den angelsächsischen Ländern die Zentralregierung alle wichtigen wirtschaftlichen Funktionen übernimmt, werden sie in
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Deutschland besonderen Gesellschaften übergeben, an denen wohl der Staat beteiligt war, deren entscheidende Verwaltung aber vielfach in den Händen von Leuten lag, die sich nicht als Staatsbeamte fühlen, sondern die die Gelegenheit erfassen, die privilegierte Stellung, die sie ihren Konkurrenten gegenüber einnehmen, auszunutzen. So greift ins öffentliche Leben die Korruption ein; die Korruption, die zuerst nur Kreise ergreift, die nicht Beamtencharakter haben und nur als Privatwirtschaftler staatliche Funktionen erfüllen. Sie macht aber auch schließlich in der Not der Zeit in einzelnen Fällen vor dem Beamtentum nicht halt. Sie konzentriert sich in dem großen „Wasserkopf“ Berlin und leitet dadurch den zentrifugalen Loslösungsbestrebungen moralischen, wirtschaftlichen und landschaftlichen Charakters neue Kraft zu. Vor allem aber führt sie dazu, daß in breiten Schichten des Volkes der Glaube an die Integrität derjenigen, die den Staat lenken, schwindet, und damit natürlich auch der Glaube an die gerechte Wirksamkeit der Staatsgewalt. Alle diese Dinge steigern sich in der Revolution. Die Staatsmaschine geht zwar nicht in Stücke, aber ihre Spitze bricht ab. Zeitweilig fehlt die eigentliche Regierungsgewalt: militärische Macht. Der einzelne empört sich gegen Gewalt und Zwang, indem er sie für sich selbst in Anspruch nimmt. Aufgelöste bewaffnete Banden suchen zu räubern. Organisierte bewaffnete Banden werfen sie nieder und schaffen allmählich eine Regierung. Der Staat ist kraftlos geworden. Er kann die bewaffnete Selbsthilfe der einen nur durch die Selbsthilfe anderer niederringen. Zeitweilig ist Deutschland, soweit die Regierungsmaschine in Frage kommt, ein Land der bewaffneten Banden. Durch Fähnlein von Landsknechten, durch eine Art neumodisches Kondottieretum befestigt sich allmählich der Staat wieder, Sicherheit und Stetigkeit erhält er aber erst dadurch, daß die Verbände der organisierten Arbeit für den Staat und die Staatsautorität eintreten und ihn so erhalten. Dadurch werden diese Verbände zeitweilig neben dem Staat die Träger der Staatsgewalt. In den Tagen des Kapp-Putsches haben die Gewerkschaften durch den Generalstreik dem Abenteuer ein unrühmliches Ende bereitet und so als nebenstaatliche Organisation den Staat gerettet. Sie suchten dann bei den Verhandlungen über die Neubildung der Regierung diesen nebenstaatlichen Einfluß dem Parlament gegenüber durchzusetzen, aber vergeblich. Dadurch aber, daß sich diese mehr oder minder sozialdemokratischen Verbände hinter den Staat stellen, nimmt der Staat zeitweilig den Charakter eines Klassenstaates der Arbeiter an. Durch Schaffung der Reichsverfassung unter Ablehnung des Rätegedankens wird er schließlich in einen demokratischen Einheitsstaat verwandelt, der den Gedanken der Einheit weit überspannt. Dagegen richten sich sehr bald die neuerwachten partikularistischen Neigungen, die in dem Erstarken des Einheitsstaats, vor allem in seiner Finanzhoheit, eine Gefährdung ihres Daseins sehen. Mit ihnen fließen vielfach ständische Interessen zusammen, denn da der Einheitsstaat in den Händen der Arbeiterschaft zu sein scheint, streben andere Schichten, vor allen Dingen in Gebieten wie Bayern, wo das platte Land vorwiegt, von diesem Staat fort. Es richten sich aber auch gegen diesen
122 | Krise der Demokratie neuen Staat die Klassen, die den alten Staat beherrscht haben. So lange sie die staatliche Macht ausübten, war ihnen eine Steigerung der staatlichen Machtvollkommenheit willkommen. Was ihnen als idealer Staat erschien, so lange er in ihren Händen war, erscheint ihnen heute, wo die Masse den Staat beherrscht, als Unstaat. Macht, von ihnen ausgeübt, ist Ordnung, Macht, von der Masse ausgeübt, ist Anarchie und Vergewaltigung. Sie sind Staatsfeinde in der Praxis, und wo sie von der Überzeugung erfüllt sind, daß sie den Staat auch in Zukunft nicht mehr beherrschen werden, auch in der Theorie. Diese Bestrebungen werden durch die Abneigung gegen den Parlamentarismus unterstützt. Das Parlament übt heute die eigentliche Staatsgewalt aus. Also sind die Minoritäten, die es nicht beherrschen können, gegen diese Methode, den Staat zu regieren, gegen den Parlamentarismus und gegen die Tätigkeit des so regierten Staats. Das deutsche Parlament hat in den Jahren vor dem Krieg eine Art Schattendasein geführt. Die Machtlosigkeit, an der es früher gelitten hat, wirkt heute noch nach. Die Männer, die in ihm sitzen, sind in den wenigsten Fällen von dem Machthunger des tatenlustigen Politikers erfüllt. Sie treiben noch heute wie in der Vergangenheit vielfach Bekenntnispolitik. Sie halten die Erörterung nicht für ein Mittel, um reibungsloses Handeln zu ermöglichen, sondern betrachten sie an und für sich als Tat. Sie kontrollieren die aus ihrer Mitte genommene Regierung immer noch, als ob sie über ihnen stünde, sie betrachten sie vielfach als Obrigkeit und nicht als das Geschöpf ihres Vertrauens. Die Regierung ihrerseits, die unter den heutigen Verhältnissen eine Koalitionsregierung sein muß, hat ebensowenig den unstillbaren Drang zur Tat. Sie sieht vielfach ihre Verantwortung nicht darin, daß sie handelt und dann zur Verantwortung bereit ist, sie sucht die Verantwortung durch vorhergehende Beratungen mit dem Parlament zu teilen. Man erkennt nicht, daß Demokratie ein Zustand ist, in dem der Willen des Volkes sich auf mittelbare Weise vollzieht, nicht, in dem jeder berät und mittut – das ist urgemeindlicher Dilettantismus –, sondern indem sie die Vollstrecker ihres Willens wählt und sie dann für die sachgemäße Ausführung ihres Willens verantwortlich macht. Der Staat ist eine Organisation zum Handeln. Erfüllt er diese Funktion nicht, oder nur mangelhaft, so tritt Mißtrauen, Ablehnung, Feindschaft gegen den Staat ein. Dieser Zustand besteht teilweise heute in Deutschland. Er spricht sich darin aus, daß man nach dem starken Mann sucht, der wollen kann, oder nach dem Fachmann, der die Zusammenhänge versteht. Das ist eine Verkennung der Probleme der Politik. Zur Politik braucht man allerdings Fachmänner; aber ein politischer Fachmann ist nicht derjenige, der die Arbeit seiner kenntnisreichen Spezialreferenten zu leisten vermag, sondern derjenige, der den Willen der Volksgesamtheit erkennt, versteht und zu leiten vermag. Politik ist die Kunst, den Willen anderer dem eigenen Willen ohne Anwendung physischer Machtmittel gefügig zu machen. Die unvollkommene Ausbildung dieser Kunst beeinträchtigt den Glauben an die Staatsmaschine und den Glauben an die Aufgaben des Staates.
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Parlamentarismus und Staatsgewalt Es entwickeln sich einmal neue Vorstellungen über die Bildung des Gemeinschaftswillens, also über die Organisation der Staatsgewalt. Der moderne Staat ist auf dem Mehrheitswillen aufgebaut. Der Mehrheitswillen kommt durch Abstimmung zustande, die auf dem gleichen, allgemeinen Wahlrecht beruht. Durch Einführung der Verhältniswahl wird die Bildung eines reinen Mehrheitswillens theoretisch erleichtert, insofern alle Zufälligkeiten ausgeschlossen werden. Seine Durchführung wird dagegen erschwert, weil sie die Minderheiten viel mehr zu ihrem Rechte kommen läßt. Durch Schaffung des Volksbegehrens und des Volksentscheids werden in der gleichen Weise der Willensäußerung der Mehrheit neue Möglichkeiten gegeben, während in der Praxis durch das Ineinanderspielen des im Parlament mittelbar zum Ausdruck gelangenden Volkswillens und des in Referendum und Initiative direkt zu Worte kommenden Volksbegehrens Hemmungen der Willensdurchführung geschaffen werden. Es treten aber allmählich neue Gedanken über die Art und Weise, wie der Gesamtwillen organisiert werden solle, auf. Ist der Mehrheitswillen denn überhaupt der Gesamtwillen? Der Gesamtwillen ist oft garnicht vorhanden, seine Äußerungen sind vielfach erschlichen, seine Durchführung oft verhängnisvoll: „Verstand ist stets bei wenigen nur gewesen.“ Das etwa sind die Argumente, die den demokratischen Grundsätzen der Mehrheitssouveränität entgegengehalten werden. Soweit es sich um ehrliche Argumente handelt, gehen sie von der Vorstellung aus, daß eine gute Regierung wichtiger sei als eine freie Regierung. Sie stützen sich einmal auf die Forderung, daß den Minderheiten Gerechtigkeit zuteil werden müsse, dann aber vor allem auf den Gedanken, daß die Minderheit der Mehrheit qualitativ überlegen sei und daß sie daher in keiner Weise verpflichtet sei, durch Agitation mit den Künsten der Überredung ihren Anhängern die Mehrheit zu verschaffen. Man weist darauf hin, daß die Mehrheiten in blöder Weise ihre Vertreter wählen, daß diese gewählten Vertreter in den Parlamenten klägliche Erscheinungen seien, daß parlamentarische Regierungen geschwätzig und unfähig seien. Man verwechselt dabei Parlamentarismus und Demokratie. Die glänzendsten Tage des Parlamentarismus waren wohl die Zeit des sehr beschränkten Wahlrechts, als in den Parlamenten nur eine Minderheit vertreten war und ein Mehrheitswillen des Volkes in ihnen gar nicht zum Ausdruck kommen konnte. Der Parlamentarismus ist in letzter Linie nur eine Methode: die Methode, die Entscheidung in den öffentlichen Dingen durch Aussprache und Verhandlung herbeizuführen. Das kann natürlich nur durch Abstimmung geschehen, und soweit es sich um die im Parlament vertretenen Abgeordneten handelt, setzt der Parlamentarismus den Mehrheitswillen voraus, den der Volksvertreter, nicht den der Volksgemeinschaft. Sein Gegensatz ist aber nicht Demokratie. Es gibt Parlamentarismus mit und ohne Demokratie. Demokratie ohne Parlamentarismus ist durchaus denkbar. Der Gegensatz ist Diktatur: die Methode, Entscheidungen nicht durch Befragung und Aussprache, sondern durch Befehl herbeizuführen. Ein
124 | Krise der Demokratie auf dem Dreiklassenwahlrecht aufgebautes Parlament hört nicht auf Parlament zu sein, weil es wenig Wähler hat. Wenn die Regierung aus seiner Mitte genommen wird, und ihm verantwortlich ist, herrscht Parlamentarismus. Ein durch Volksabstimmung auf Lebenszeit gewählter Diktator bleibt Diktator, wenn er seinen Wählern, beziehentlich ihren Vertretern, nicht verantwortlich ist, auch wenn er mit überwältigender Mehrheit mit der Stimme des jüngsten lallenden Säuglings und der ältesten zahnlosen Frau gewählt worden ist. Die Versuche, den Staatswillen nicht auf dem Mehrheitswillen, sondern auf dem Minderheitswillen zu begründen und den Volkswillen in eine Anzahl Teil- oder Gruppenwillen zu zerlegen, kommen immer wieder in den Bestrebungen zum Ausdruck, den modernen Staat ständisch zu organisieren. Immer wieder taucht der Gedanke auf, die menschliche Gesellschaft zerfalle in Berufe. Die Gesamtheit aller Berufe ist die Gesamtheit aller wertvollen Kräfte der Volksgemeinschaft, denn die Berufslosen sind den Berufstätigen entweder angegliedert oder sie sind nutzlose Kostgänger der Gesamtheit. In den Berufen ist die Tüchtigkeit der Nationen enthalten, in ihnen setzt sich der einzelne durch. Die Berufsmitglieder können die Tüchtigkeit und die Nützlichkeit ihrer Genossen am besten beurteilen. Käme die Regierungsbildung auf berufsständischer Grundlage zur Durchführung, so würden Fachmänner die für die Erfüllung öffentlicher Aufgaben geeigneten Fachmänner wählen. Das kann aber bei einem demokratischen Wahlrecht nicht geschehen. Denn der tüchtige Fachmann ist nicht bereit, sich der Wahl durch eine breite kritiklose Masse zu unterziehen. So geht sein Können und Wollen dem Ganzen verloren. Der einzelne Beruf umfaßt stets nur eine Minderheit. Seine Interessen sind daher nur die Interessen einer Minderheit, auch wenn sie vielleicht das Gesamtwohl entscheidend beeinflussen. Sie können nicht durchgesetzt werden, da ihre Vertreter nicht über die nötige Stimmenzahl verfügen, um gewählt werden zu können. Daher erscheint es diesen Kreisen zweckmäßig, die Volksvertretung nicht auf geographischen Wahlbezirken aufzubauen, in der eine Mehrheit sich nur für politische Parteien findet, sondern eine Volksvertretung zu schaffen, deren Wahlkreise Berufskreise sind, wo die einzelnen Vertretungen nach Umfang und Wichtigkeit des Berufs abgestuft sind. Die erste Einteilung ist eine zahlenmäßige. Sie entspricht dem Mehrheitsbegriff. Die zweite ist eine willkürlich subjektive. Die Frage nach der Wichtigkeit eines Berufs und seiner entsprechenden Vertretung ist überhaupt nur zu beantworten, wenn irgend eine Macht außerhalb der Berufe steht, die die richtige Bewertung vornimmt. In der Gegenwart, wo Arbeiterschaft und Unternehmertum vollständig materialistisch durchseucht sind und der organisierten Volksgemeinschaft vornehmlich wirtschaftliche Ziele zugebilligt werden, ist der Gedanke sehr naheliegend, die Parlamente nicht nur durch berufsständische Organisationen zu ergänzen, sondern sie berufsständisch zu organisieren. Eine Beseitigung des Parlaments wäre damit nicht erreicht, wenn die neuen Vertretungskörper die letzten politischen Entscheidungen zu fällen haben. Ob die Volksvertretung nach dem gleichen Wahlrecht oder nach berufsständischen Gruppen zusammengesetzt wird, ist einerlei, so lange sie die
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höchste Macht ausübt. Wer das bezweifelt, der betrachte die Entwicklung des provisorischen Reichswirtschaftsrats, der bis ins kleinste bestrebt ist, sich Form und Recht des Reichstags anzueignen. Dieser Berufsgedanke erhält durch die moderne Klassenbildung eine neue Wendung. Die Berufe scheiden die Gesellschaft vertikal. Sie selbst sind aber ihrerseits wieder horizontal in Selbständige und Angestellte gespalten. Die Selbständigen, die Unternehmer, und die Angestellten, die Arbeitnehmer, haben in der modernen Welt gemeinsame Interessen, auch wenn sie den verschiedensten Berufen angehören, während in den einzelnen Berufen oft unüberbrückbare Gegensätze vorzuliegen scheinen. Klasseninteressen kreuzen sich so mit Berufsinteressen. Und wenn man an Berufsvertretungen als höchste politische Vertretungen denkt, so vermischt sich der Berufsgedanken häufig mit dem Klassengedanken. Das tritt in den Bestrebungen zu Tage, Körperschaften zu bilden, denen die letzten politischen Entscheidungen zustehen sollen und die paritätisch in Unternehmer- und Arbeitervertretungen zerfallen. Sie beschränken sich nicht auf einzelne Berufe, sondern erstrecken sich über das ganze Land. Nur insoweit Gruppen der Landwirtschaft, des Handels, der Industrie gebildet werden, treten die vertikalen Spaltungen der Berufe neben die horizontalen Schichtungen der Klassen. Der Gedanke, daß der Besitz der Staatsgewalt nicht ein Recht der Mehrheit oder ein Recht der Berufsgruppen sei, sondern ein solches der Klassen, ist ganz scharf im russischen Rätesystem durchgeführt. Nur die Arbeiterklasse, beziehentlich die kleinen Bauern, haben das Wahlrecht. Nur die Besitzlosigkeit garantiert das Recht auf die Staatsgewalt. An und für sich ist damit kein neuer Gedanke ausgesprochen: Die Vorstellung, daß die besitzenden Minderheiten allein politische Rechte in Anspruch nehmen dürften und sich als Vertretung der Gesamtheit zu fühlen berechtigt seien, ist alt. Sie wird jetzt einfach dahin umgekehrt, daß nur die besitzlose Minderheit zum Träger der Staatsgewalt geeignet sei. Aber in dem Rätesystem steckt mehr als der bloße Gedanke der Minderheitssouveränität. Es ist in ihm einmal der Berufsgedanken enthalten. Der Wahlkreis ist kein geographisch abgegrenzter Bezirk, sondern der Wirtschaftsbetrieb, insbesondere die Fabrik. Es entscheidet also nicht der Wohnort, sondern der Beruf, aber der Beruf auf lokalisierter Grundlage. Aus dem Fabrikbetrieb und dem Farmbetrieb der ärmsten Bauern werden Gemeinderäte gewählt. Die Gemeinderäte entsenden Vertreter in die Kreisräte, diese in die Bezirksräte, und diese selbst ordnen schließlich wieder ihre Vertreter in den allrussischen Kongreß der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte ab. Die höchste Regierungsgewalt ist also durch indirekte Wahl betrieblich organisierter Berufsgruppen zustande gekommen. Sie ist aber in der Theorie als höchste Gewalt sehr beschränkt. Alle Vertreter sind nicht auf bestimmte Wahlzeiten, sondern auf Abruf gewählt. Überdies haben die Räte der verschiedenen Ordnungen nicht bloß gesetzgeberische Funktionen auszuüben, sie haben auch zu verwalten. Und zwar in der Weise, daß sie die Aufgaben übernehmen, die bis dahin die Bureaukratie erfüllt hat. Es handelt sich hier nicht darum, daß die Beamten, wie das in manchen Demokratien üblich ist, unmit-
126 | Krise der Demokratie telbar vom Volke gewählt werden, sondern die gewählten Volksvertreter fungieren gleichzeitig als Beamte. Das wichtigste Mittel, mit dem die moderne Staatsgewalt arbeitet, das Beamtentum, soll also als selbständige Erscheinung abgeschafft werden. Man kehrt wieder zu primitivster Selbstverwaltung und damit natürlich zu einer Verminderung der Staatsgewalt zurück. Ein Ergebnis, das sich aus den anarchistischen Grundgedanken, die im Bolschewismus stecken, leicht ableiten läßt.
Staatloser Sozialismus Die Auflösung der Staatsgewalt durch Zerteilung des Staatsgebiets in kleine Einheiten mit Selbstverwaltung ist kein neuer Gedanke, soweit diese Einheiten im wesentlichen auf territorialer Grundlage beruhen. Er wird indes dadurch umgebildet, daß das berufliche Moment zum räumlichen hinzutritt und der Betrieb zum Selbstverwaltungskörper wird. Ein derartiger Wunsch nach Auflösung der Staatsgemeinschaft in betriebliche Einheiten ist bei manchen Syndikalisten vorhanden. In den einzelnen Bezirken sollen die Arbeiter der einzelnen Betriebe die Produktion übernehmen. Sie sind als Arbeiter die wirklichen Produzenten, und den Produzenten gehört alle Macht. Die Vereinigung aller Produzenten in einer gegebenen Örtlichkeit bildet die lokale Verwaltung. Die verschiedenen Lokalverwaltungen können sich zu einem losen, nationalen Bunde zusammenschließen. Produzieren heißt regieren. Diese Ansätze führen zu einer neuen Theorie des Staates, durch die der Umfang der heute bestehenden Staatsgewalt beschnitten wird und durch die Organisationen, die heute unter dem Staate stehen, in Zukunft aber neben oder gar in und über ihm stehen werden, staatliche Aufgaben übertragen werden. Sie ist von den Vertretern der „nationalen Gilden“ entwickelt worden. 11 Der Staat ist eine Maschine; die eigentliche Regierungsgewalt ist nur für die Ausführung der, allerdings wichtigen, gemeinsamen Handlungen zuständig, die alle Mitglieder der Gemeinschaft angehen, in der die einzelnen „gleichberechtigt und unter gleichen Bedingungen leben“. Der Staat ist eine Organisation von Menschen auf räumlicher Basis. So wie in den kleinen politischen Selbstverwaltungskörpern, z. B. den Gemeinden, das Zusammenwohnen das einigende Band ist, so ist das in erweitertem Sinne auch in den großen Nachbarschaftsverbänden der Fall, die wir Vaterland nennen. Die innerhalb dieser geographischen Grenzen ansässigen Einwohner haben in ihrer Eigenschaft als Mitbürger gemeinsame Interessen. Diese Interessen sind Interessen von Nachbarn und Konsumenten. Das nationale, demokratische Parlament ist der rechtmäßige Vertreter dieser Konsumenten. Die Regierung, die sich aus ihm bildet, vertritt die Bevölkerung in ihrer Eigenschaft als Konsumenten. Diese Konsumenten haben bis heute für ihre Regierung die höchste politische Gewalt beansprucht und behauptet, || 11 Z.B. G. D. H. Cole, Self-Government in Industry, London 1917, S. 73 ff.
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daß die Entscheidung dieser durch allgemeine Wahl zustande gekommenen Regierung für alle Einwohner, Einrichtungen und Vorgänge des Staatsgebiets bindend seien. Dieser Machtanspruch ist durchaus unberechtigt. Die Grundlage des modernen Gemeinschaftslebens ist nicht die Konsumtion, sondern die wirtschaftliche Produktion. Diese Produktion kann in menschenwürdiger Weise nur vor sich gehen, wenn sie in den Händen der eigentlichen Produzenten liegt, das sind die Arbeiter, mit Einschluß der geistigen Arbeiter. Die Arbeiter jeden Berufszweiges müssen als Gilde für den ganzen Staat organisiert werden. Sie sind die Träger der Produktion. Eine jede Industrie bildet also eine Art nationaler Produktionsgenossenschaften, die nicht nur die Arbeitsbedingungen, sondern auch Menge und Preise der Produkte regelt, unter Abschaffung von Löhnen und von Unternehmergewinn. Die Gesamtheit der nationalen Gilden vertritt das werktätige Volk und damit die eigentliche Nation. Sie sind zum zentralen Gildenkongreß zusammengeschlossen. Der zentrale Gildenkongreß vertritt die Volksgemeinschaft in ihrer Eigenschaft als Produzenten, wie das nationale Parlament die Konsumenten vertritt. Neben das Parlament der politischen Demokratie tritt der zentrale Gildenkongreß als wirtschaftlicher Souverän. Der einzelnen Gilde gegenüber ist das Parlament souverän. In allen wirtschaftlichen Fragen aber, die die Gesamtheit der Produktion betreffen, muß eine bestimmte Instanz vorhanden sein, in der Parlament und Gildenkongreß in gleicher Weise vertreten sind. Es würde daher eine Art Überparlament gebildet werden, in dem politisches Parlament und Zentralkongreß paritätisch vertreten sind, ein Bundesparlament also mit zwei Kurien, deren eine demokratisch, deren andere berufsständisch gewählt ist. Aber die eigentliche Frage ist damit nicht gelöst, solange nicht feststeht, nach welchen Grundsätzen sich in diesem Bundesparlament schließlich ein Mehrheitswille bildet. In letzter Linie wird es darauf ankommen, ob die Regierung, die dem politischen Parlament verantwortlich ist, die Macht hat, in die Preisfestsetzung einzugreifen, die die Gilden als Träger monopolistischer Produktion beanspruchen müssen, und ob sie das Recht hat, Steuern zu erheben und zu verwenden und hierdurch tief einschneidende Maßnahmen an dem Produktionsprozeß vorzunehmen. Hat sie dieses Recht, dann ist der Staat als Vertreter der Mehrheit souverän. Hat sie es nicht, ist sie gezwungen, die Preisbildung der Gilden anzuerkennen und die Steuerveranlagung und Steuererhebung ihnen zu übertragen, muß sie ihnen den Erlaß von Gesetzen überlassen, die die wirtschaftliche Produktion regeln, dann ist der Staat aufgelöst und seine Macht gebrochen. Der Gildentheoretiker besteht darauf; „für die Gilde nicht nur Verwaltungsaufgaben, sondern auch Gesetzgebungsaufgaben zu fordern“. Da diese Gesetzgebung nicht nur die Mitglieder der Gilden, sondern das Leben der ganzen Nation beeinflussen muß, so ist sie nicht länger eine Frage der Selbstverwaltung. Das eigentliche Ziel der Gildenpolitiker ist denn auch, daraufhin zu arbeiten, daß Parlament und Kongreß sich gegenseitig die Wage halten. Der Kongreß hat die wirtschaftlichen Monopole, das Parlament die politischen Zwangsmittel. Nur durch diese Trennung der Gewalten könne das Individuum frei bleiben. Es handelt sich für
128 | Krise der Demokratie sie nicht darum, die große Macht, die heute eine Regierung als wirtschaftliche und politische Macht in einer Hand vereinen kann, den gegenwärtigen Machthabern wegzunehmen, sondern: „die Konzentration an irgend einer Stelle soll verhindert werden.“ Das Individuum soll gegen politische und wirtschaftliche Macht möglichst geschützt werden. Wenn der Staat das Monopol, und das Monopol den Staat bedroht, ist die Freiheit gesichert. Politischer Individualismus und wirtschaftlicher Rationalismus wollen so die Auflösung der modernen Staatsgewalt.
Die Entstaatlichung der Wirtschaft Der deutsche Zusammenbruch hat den Aufbau einer neuen Staatsordnung nötig gemacht. Dabei tauchen im ersten Jahr der Revolution als Gegensatz zur formalen Demokratie immer wieder Gedanken des Rätesystems auf. Soweit es sich hier nicht um mehr oder minder wilde Arbeiter- und Soldatenausschüsse handelt, die unter allen Umständen die Macht behalten wollen, die ihnen der Zufall in die Hand gespielt hat, sind es einmal Nachbildungen russischer Versuche. Sie beruhen dann im wesentlichen auf der Vorstellung, daß die Arbeiterklasse als Klasse allein wahl- und machtberechtigt ist. Sie wollen die formale Demokratie durch Beschränkung des Wahlrechtes auf eine Klasse überwinden. Da ihrer Ansicht nach der Staat, und mit ihm das Parlament, im Kriege versagt hat, so bedarf es neuer politisch-sozialer Lebensformen, in denen freie Gruppen den toten, harten und dabei erfolglosen Zwang überflüssig machen. Aus diesen Empfindungen heraus entwickeln sich gewisse eigenartige neue Gedanken. Das deutsche Volk, Arbeiter und Unternehmer, ist im großen ganzen immer gewohnt gewesen, ausschließlich wirtschaftlich zu denken. Wirtschaft und Ordnung, nicht Gleichheit und Freiheit, sind seine Ideale gewesen. Naturgemäß muß in einem Zeitalter des wirtschaftlichen Zusammenbruchs die wirtschaftliche Auffassung in den Vordergrund treten. Sie verschmilzt nun mit einer Reihe anderer Vorstellungen. Die Revolution bringt die Forderung nach Demokratisierung der Betriebe. In der alten Ordnung ist der Produktionsprozeß autoritär geleitet worden; jetzt verlangen die Arbeiter und Angestellten Teilnahme an der Leitung desselben. Aus der konstitutionellen Fabrik wird die parlamentarische Fabrik – eine Entwicklung, die im Betriebsrätegesetz großen Teils verwirklicht wird. Es handelt sich hier um rein wirtschaftlich-soziale Forderungen, denen nichts Revolutionäres anhaftet. Sie sind in England schon während des Krieges in den sogenannten Whiteley Councils teilweise verwirklicht worden. Wenn man aber Wirtschaft und Politik im großen ganzen als gleichbedeutend betrachtet, wenn die Wirtschaft in Verbänden organisiert ist, in denen Arbeiter und Unternehmer paritätisch vertreten sind, dann entsteht, von Betrieben zu Gewerben aufsteigend, ein Wirtschaftsstaat, dem die Regelung aller wirtschaftlichen Dinge obliegt, und der zum mindesten neben, wenn nicht über dem Parlament ste-
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hen kann. Diesen Gedanken sind von seiten der Unternehmer viele Sympathien entgegengebracht worden. Das Parlament ist demokratisch geworden. Das bedeutet unter modernen, deutschen Verhältnissen, daß die Unternehmer voraussichtlich nicht die Mehrheit gewinnen können. Solange das Parlament aus Vertretern politischer Parteien besteht und die Partei, in der die Masse der Nichtselbständigen vertreten ist, der Vorstellung des Klassenkampfes huldigt, muß die Unternehmerklasse immer majorisiert werden, wenn die höchste Macht beim Parlament liegt. Man muß also zum mindesten in wirtschaftlichen Dingen – und den Unternehmern als Unternehmern kann es nur auf wirtschaftliche Dinge ankommen – dem Parlament die höchste Macht wegnehmen, entweder indem man sie einer Körperschaft überträgt, die eine andere Wählerschaft hat und dabei selbständig ist, oder indem man die Staatsgewalt von der Regelung des Wirtschaftslebens ausschließt. Das erstere geschieht durch den Versuch, ein Reichswirtschaftsparlament zu schaffen, das nicht bloß begutachtende Stimme hat, sondern gleichberechtigt beschließt, das letztere sucht man durch die Forderung nach Entpolitisierung der Wirtschaft zu erreichen, durch die Schaffung von Wirtschaftsprovinzen und von Selbstverwaltung der Industrie. Der Plan eines souveränen Wirtschaftsparlamentes ist schon von St. Simon ersonnen worden. Er wollte an Stelle des politischen Parlamentes, dessen Aufgaben mit der Sicherung der modernen Freiheit gelöst seien, ein industrielles Parlament setzen. In veränderter Form sind dann solche Gedanken immer wieder von Männern aufgenommen worden, denen es vor allem darauf ankam, das bestehende Parlament an der restlosen Lösung seiner politischen Aufgaben zu hindern, wie z. B. Fürst Bismarck. Der Reichswirtschaftsrat, den die Reichsverfassung vorgesehen hat, ist im wesentlichen ein beratendes Organ, dem allerdings eine gewisse Gesetzgebungsinitiative zusteht. Schon die Erfahrungen, die man mit dem provisorischen Reichswirtschaftsrat gemacht hat, zeigen aber deutlich, daß die Beteiligten nicht gesonnen sind, sich mit einer verhältnismäßig bescheidenen Rolle zu begnügen. Sie ahmen die Formen des Parlaments wenn irgend möglich nach und streben eifrig nach seinen Machtmitteln. Sie begnügen sich nicht damit, der Regierung gefragt oder ungefragt ihren Rat zu erteilen, sie suchen sie in politischen Fragen, insbesondere in Fragen der auswärtigen Politik, zur Verantwortung zu ziehen. Während sie die Aufgabe des gründlichen Studiums einzelner Fragen sicher nicht besser erfüllt haben, als die parlamentarischen Untersuchungs- und Beratungskommissionen in den Ländern der formalen Demokratie, erstreben sie die Rechte einer zweiten Kammer, die, ausschließlich aus Interessenten gebildet, sich als berufsständisch bezeichnen möchte. Wenn diese Bestrebungen Erfolg haben, so wird ein gutes Teil der staatlichen Macht auf ein Organ übergehen, das im wesentlichen aus Produzenten gebildet ist. Denn selbst bei paritätischer Vertretung der Konsumenten ist das Interesse der Produzenten das stärkere, da sie sich mit ihrer ganzen Kraft an einem Punkt einzusetzen vermögen, während der Widerstand der Konsumenten zwischen den verschiedenen Produzentengruppen zerflattern muß.
130 | Krise der Demokratie Der andere Weg zielt nicht auf Teilung der Staatsgewalt in zwei Parlamente mit verschiedner Wählerschaft ab, sondern auf Ausschaltung des Staats aus dem Wirtschaftsleben. Das Wirtschaftsleben, so heißt es, soll entpolitisiert werden. Die Entscheidung über Wohl und Wehe des werktätigen Volks soll dem öden Parteigezänk entzogen werden. Man braucht für den Parteibetrieb, wie er in Deutschland herrscht, nicht gerade zu schwärmen, um die Unmöglichkeit dieser Forderung einzusehen. Gewiß sind einzelne unserer Parteien, insbesondere die Zentrumspartei, die demokratische Partei und in gewissem Sinne die deutsch-nationale Partei in ihren grundlegenden Gedankengängen nicht von wirtschaftlichen, sondern von geistig politischen Strömungen bedingt. In anderen, z. B. einem großen Teil der deutschen Volkspartei und insbesondere in der Sozialdemokratie, sind die wirtschaftlichen Auffassungen die maßgebenden. Wer den Klassenkampf als naturnotwendige Vorbedingung der modernen Gesellschaft ansieht, sei es in den Formen eines Bürgerblocks oder einer selbstbewußten Arbeiterklasse, macht wirtschaftliche Auffassungen zur Grundlage seiner politischen Handlungen. Es sind heute in der Tat die großen wirtschaftlichen Gegensätze, die das Parteileben auf der einen Seite befruchten und auf der anderen vergiften. Je gesicherter die politische und die religiöse Freiheit ist, desto mehr richtet sich aller Kampf um die Macht auf wirtschaftliche Dinge. Die Gegensätze zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Konsumenten und Produzenten, zwischen Land und Stadt, zwischen Großbetrieb und Handwerk bilden heute den eigentlichen Inhalt der Machtkämpfe aller Länder. Bei denjenigen Völkern, wo religiöse und politische Freiheit als gesicherter Besitz für alle Zeiten gelten, bei denen eine glückliche geographische Lage eine eigentliche Außenpolitik überflüssig macht und wo verhältnismäßig geringe Nationalitätenreibungen vorhanden sind, wie z. B. in den Vereinigten Staaten und in Australien, sind die Gegensätze der Parteien heute eigentlich bloß wirtschaftlicher Natur. Die Politik ist Wirtschaftspolitik geworden. Man könnte daher in Deutschland vielleicht den Versuch machen, die alten Parteien, die im Kampf um Weltanschauungsfragen groß geworden sind, aufzulösen und an ihre Stelle Wirtschaftsparteien zu setzen. Entpolitisieren würde man die Wirtschaft damit nicht – man würde nur den Kampf der Parteien entgeistigen, und auch das nicht vollständig. Denn auch die Wirtschaftsfragen sind schließlich Weltanschauungsfragen, nicht bloße Zweckmäßigkeitsfragen. Die Frage: Sozialismus oder Kapitalismus ist nicht einfach dadurch zu entscheiden, daß je nach der Richtung der Beweis geliefert wird, eine sozialistische, beziehentlich individualistische Gesellschaftsordnung erhöhe das Nationaleinkommen und verbessere seine Verteilung. Das Entscheidende ist schließlich auch hier die Vorstellung von den letzten Zielen und Zwecken der Menschheit. Keine technisch-sachliche Betrachtung, wie nüchtern sie auch angelegt sei, wird imstande sein, sich über die lebendigen Kräfte hinwegzusetzen, die als Sehnsucht – vielleicht als unerfüllbare Sehnsucht – nach einer besseren Welt im Herzen der Menschen wirken und ohne die man weder große Politik noch großzügige Wirtschaft machen kann.
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Der Versuch, das Wirtschaftsleben zu entpolitisieren, ist unmöglich. Wohl aber kann man entstaatlichen. Das wäre eine Rückkehr zu der Lehre des Freihandels und zu der Gesellschaftsphilosophie, die seit den Physiokraten das wirtschaftliche Denken des ökonomischen Individualismus beherrscht hat: Ablehnung aller staatlichen Eingriffe in das Wirtschaftsleben. Aber diese Weltauffassung des ökonomischen Individualismus ging von bestimmten Voraussetzungen aus, die damals im Wirtschaftsleben vorhanden waren, die aber heute fehlen: dem freien Wettbewerb. Sie erwartete, daß durch den Wettbewerb aller Produzenten im freien Spiel der Kräfte die Interessen des Konsumenten gewahr werden würden und daß das Überbieten der Konsumenten den Produzenten ausreichende Produktionskosten sichern werde. Die alten Manchesterleute bekämpften jedes Monopol, einerlei ob es durch Getreidezölle die heimische Landwirtschaft zu begünstigen trachtete oder ob es sich in der Form des Zusammenschlusses von Unternehmern zu Kartellen und von Arbeitern zu Gewerkvereinen äußerte. Ihre Spuren sind heute noch in der englischen Handelspolitik und in der amerikanischen Antitrust-Gesetzgebung sichtbar. Aber diese Wirklichkeit ist nicht länger vorhanden. Wir leben heute, zum mindesten in Deutschland, im Zeitalter der Monopole. Die organisierte Arbeit beherrscht in gewissem Sinne den Arbeitsmarkt. Kartelle und Syndikate, die mit und ohne staatliche Unterstützung groß geworden sind, regeln die Produktion. Landwirtschaftliche Verbände versuchen Produktion und Preise der Agrarprodukte zu kontrollieren. Dabei ist die internationale Konkurrenz ausgeschaltet. Auch wenn keine internationalen Abmachungen zwischen Verbänden bestehen, hindert schon die schlechte Valuta den freien Zustrom fremder Konkurrenzprodukte. Soweit eine Handelspolitik überhaupt noch gemacht wird, wird sie mit Ein- und Ausfuhrverboten bewerkstelligt, die man durch Festsetzung von Kontingenten durchführt, bei deren Bemessung, was Mengen und Preise anbetrifft, Interessenten das entscheidende Wort sprechen. In einem Zeitalter des Monopols kann das freie Spiel der Kräfte nicht wirken. Die Voraussetzung staatlicher Nichteinmischung besteht also nicht länger. Nichteinmischen heißt nicht wie früher Abgrenzen der Bahn und Überwachung des Rennens, damit dasselbe nach den anerkannten Regeln des Wettkampfes vor sich gehe. Es bedeutet heute Auslieferung des Siegespreises an die Stärksten, ohne daß überhaupt ein Wettkampf stattgefunden hat. Die Forderung nach dem Ausscheiden des Staates aus dem Wirtschaftsleben findet sich in verschiedenen Formen. Man läuft mit Recht Sturm gegen eine bürokratische Behandlung der Industrie, die sich nicht bewährt hat. Man greift mit gutem Grunde den Zentralismus an, der die Macht dieser Bureaukratie erhöht, die Größe der von ihr zu übernehmenden Aufgaben bis zur Unlösbarkeit steigert und dabei die Möglichkeit von allerlei Schiebungen vermehrt. Man erhebt den Ruf „Los von Berlin“ und verlangt die Schaffung von Wirtschaftsprovinzen. Soweit es sich nur darum handelt, Aufgaben, die die Zentralgewalt an sich gerissen hat und bis jetzt schlecht erfüllt hat, provinzialen Organen zu übertragen, liegt keine Auflösung der Staatsgewalt vor – im Gegenteil, wenn in der Provinz Aufgaben gelöst werden,
132 | Krise der Demokratie die die Zentralgewalt nicht zu bewältigen vermag, so wird der Staat als solcher gestärkt. Wenn aber die provinziale Verwaltung dahin strebt, die wirtschaftliche Anarchie der Kriegszeit zu legalisieren und sich das Recht nimmt, innere Wirtschaftsgrenzen zu ziehen, auch wenn es nicht Zollgrenzen sind, so zerreißt sie die Wirtschaftseinheit des Staatsgebiets. Sie raubt der Zentralverwaltung die Möglichkeit einer einheitlichen Wirtschaftspolitik. Sie selbst ist zu einer solchen gar nicht imstande. Denn einer provinzialen Handelspolitik fehlt der große Raum, der die Vielgestaltigkeit von Produktion und Konsum bedingt, ohne die eine kräftige Handelspolitik nicht möglich ist. Eine Rückbildung in die vormerkantilistische Zeit findet statt, ehe der moderne Staat die wirtschaftliche Autonomie der Provinzen gebrochen hatte, um die Grundlagen zu schaffen, auf denen er heute steht. Diese Bestrebungen werden vielfach dadurch unterstützt, daß bestimmte Wirtschaftsprovinzen sich bei entscheidenden Produkten als Überschußgebiete fühlen und bei Autonomie andere zu dominieren hoffen. Dazu kommt, daß die politischsoziale Schichtung der Provinzen verschieden ist, daß die Wählerschaft einer Provinz anders stimmt als die Wählerschaft des ganzen Reichs und daß maßgebende Kreise erhoffen, ein von dieser Wählerschaft gewähltes Provinzialparlament werde andere Wirtschaftspolitik machen als das Zentralparlament. Man denkt, wohl unbewußt, an Zustände, die den amerikanischen ähneln, wo der Kampf gegen die Trusts immer wieder dadurch illusorisch gemacht wird, daß die Gesetzgebung bestimmter Einzelstaaten, von mächtigen Interessenten beeinflußt, allerlei Handhaben geboten hat, um die Bundesgesetzgebung lahm zu legen. Und schließlich spielt bei dem Gedanken dieser Wirtschaftsprovinzen die Möglichkeit mit, daß die höchste Vertretung der Provinzen, das Provinzialparlament, kein politisches Parlament sein wird, in dem die Interessenten majorisiert werden, sondern daß man im wesentlichen eine Interessenvertretung schaffen kann, die in der Provinz die wirtschaftliche Gesetzgebung in der Hand hat und die äußeren Bedingungen und Formen der Produktion regelt. Man erreicht dadurch nicht nur provinziale wirtschaftliche Selbstverwaltung, sondern entscheidenden Einfluß außerhalb der Provinz. Denn wenn die Wirtschaftsvertreter einer Kohlenprovinz die Kohlenpreise regeln können, ohne Eingriffe der Zentralregierung befürchten zu müssen, dann beherrschen sie nicht nur das Wirtschaftsleben der eignen Provinz, sondern das aller anderen Landesteile, die ihre Kohlen konsumieren müssen. Und wenn die Provinz zum Träger der Besteuerung wird und die Zentralregierung zu ihrem Kostgänger machen kann, dann heißt das, daß die reichen Provinzen kraft ihres Steuerbewilligungsrechts den gesamten Staat hörig machen. 12 Die Übertragung staatlicher Macht an unterstaatliche Organe bedeutet an und für sich noch keine Auflösung des Staats als solchen, selbst wenn die unterstaatli|| 12 Vergl. die Sondernummer der „Wirtschaftlichen Nachrichten aus dem Ruhrbezirk“ vom 16. Oktober 1920 mit Beiträgen von Stinnes, Wiedfeldt, Cuno, Quaatz u.a.
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chen Organe politische Herrschaftsrechte erhalten. Ein Fluß, der sich in Arme teilt, hört nicht auf Fluß zu sein, auch wenn die Arme nicht mehr schiffbar sind; etwas anderes ist es, wenn er im Sande versickert. Eine Auflösung des Staates tritt aber dann ein, wenn die politischen Verwaltungsfunktionen des Gesamtwillens privaten Körperschaften übertragen werden und wenn diesen Körperschaften nicht Selbstverwaltung im übertragnen Wirkungskreise, sondern darüber hinaus Selbstregierung gewährt wird. Die moderne Industrie ist einmal auf horizontaler Grundlage in Kartellen, Syndikaten und Trusts monopolistisch organisiert, indem möglichst viele Produzenten der gleichen Waren zu mehr oder minder geschlossenen Körperschaften zusammengefaßt werden. Dieser Zusammenschluß erstreckt sich formal nur auf ein einzelnes Land. Die Abmachungen und freien Bindungen aber gehen über die Staatsgrenzen hinaus und ermöglichen es, daß eine internationale Preisbildung vor sich geht, die die verschiedenen Staaten mit Mitteln der Handelspolitik zwar gelegentlich unterstützen oder erschweren können, die aber im Prinzip von der staatlichen Handelspolitik unabhängig ist. In den Syndikaten herrschen heute die Unternehmer. Bildet man sie zu Körperschaften um, in denen die Arbeitnehmer paritätisch vertreten sind, und dehnt man sie auf alle Industriezweige und auf die Landwirtschaft aus, so erhält man eine das ganze Land umfassende Organisation der Produzenten. Diese Produzentenverbände verkörpern die wirtschaftliche Macht des ganzen Volkes. Vom Standpunkt der Erzeugung aus gesehen kann man sie als Träger der ganzen Volkswirtschaft betrachten; überläßt man ihnen die gesamte Regelung des volkswirtschaftlichen Prozesses, die Feststellung der Bedingungen, unter denen Güter erzeugt und verkauft werden, also die Regelung der Arbeitsverhältnisse, der Absatzverhältnisse und der Preise, so gibt man der Wirtschaft „Selbstverwaltung“. Die Angelegenheiten eines jeden Wirtschaftskörpers werden dann von denen geordnet, die als Arbeiter und Unternehmer seine Träger sind, die an ihm interessiert sind und die Gesichtspunkte des Sachverständigen (d. h. des interessierten Fachmanns) zur Geltung bringen. Die Produktion wird aufs höchste gesteigert werden. Und wenn man diese Körperschaften für Staatszwecke ausnutzt, indem man sie zu Steuersyndikaten formiert und sich von ihnen die ihrer Steuerkraft entsprechenden Beträge geben läßt, während man ihnen gestattet, ihre Auslagen durch Preiserhöhung auch bei den direkten Steuern wieder hereinzuholen, so verschafft man dem Staat die zu seiner Existenz nötigen Mittel, ohne daß die Wirtschaft es spürt. Will man den zusammengefaßten Verbänden gar noch ein wirtschaftliches Gesetzgebungsrecht verleihen, geht man von der Voraussetzung aus, daß die Nächstbeteiligten das Recht zur selbständigen Ordnung ihrer Lebensbedingungen haben müssen, so steigert man die Selbstverwaltung zur Selbstregierung. Da diese Form der Selbstverwaltung auf Kosten der Konsumenten vor sich gehen muß, schlägt man deren Eintritt vor. Die Syndikate werden aber nicht bloß horizontal unter Einschluß der Arbeitnehmer organisiert, sie werden zu einer horizontalen Riesenkombination umge-
134 | Krise der Demokratie wandelt, in der zum Beispiel den Erzeugern von Kohle und Kraft die Gruppe der Verbraucher angeschlossen wäre. An Stelle der geographischen Aufteilung des Wirtschaftsgebiets in mehr oder minder „wasserdicht abgeschlossene Provinzen“ tritt also eine Gliederung nach wirtschaftlichen Stoffkreisen. Wo diese Stoffkreise mit Raumkreisen zusammenfallen – man denke an das westfälische Kohlenrevier – ist ein Ineinanderarbeiten beider Gesichtspunkte möglich. Es handelt sich also um den Versuch, ein quasi genossenschaftliches Gemeinwesen zu bilden, dessen Mitglieder durch Beruf und Berufsausstrahlungen zu einem Selbstverwaltungskörper zusammengeschlossen sind, nur daß diese Genossenschaft nicht etwa die Beseitigung des Gewinns erstrebt, sondern seine Erhöhung und Steigerung. Die bloße Tatsache, daß diese Gedankengänge als Gegenvorschläge zur Sozialisierung gemacht worden sind, beweist deutlich, daß es sich um den Versuch handelt, den privaten Kapitalismus auf monopolistischer Grundlage mit genossenschaftlichen Hilfskonstruktionen zu verankern. 13 Diese ganzen aus Unternehmerkreisen stammenden Gedankengänge stimmen in ihrem politischen Kern mit den Anschauungen der Gildentheoretiker überein. In beiden Fällen handelt es sich darum, daß der Produktionsprozeß und damit die wirtschaftliche Macht den Produzenten überlassen werden soll. Nur die Auffassung über den Begriff „Produzenten“ ist verschieden. In beiden Fällen wird die Aushändigung der wirtschaftlichen Macht an die Nächstbeteiligten als eine Selbstverständlichkeit betrachtet und als Selbstverwaltung bezeichnet. In beiden Gedankengängen kommt nicht klar zum Ausdruck, ob die Produzenten selbstverwaltende Wirtschaftsverbände bilden dürfen, die das Gemeinwesen gewähren lassen muß, oder ob die höchste Macht dem Parlament als Vertreter der Gesamtheit bleiben soll. In einer auf wirtschaftlichem Tauschverkehr beruhenden Gesellschaft mit monopolistischen Tendenzen bedeutet selbstherrliche Preisbildung nicht Selbstverwaltung, sondern Tributverpflichtung anderer Kreise, ganz einerlei ob Arbeiter oder Unternehmer oder ein paritätischer Verband die Preisherrschaft ausüben. Wenn die politische Gewalt der Volksgemeinschaft auf diese Kontrolle der Preisherrschaft verzichtet, so verzichtet sie damit auf die Ausübung der Staatsgewalt als Vertretung aller. Die einzelnen Produktionsgruppen sind nicht gleich stark und vom Standpunkt des Konsums aus gesehen nicht gleich wichtig. Das Ergebnis des Ringens um die Preisherrschaft ohne Eingriffe des Staates würde eine Allianz der wichtigsten Produktionsgruppen zur Ausbeutung anderer zur Folge haben. Vorbilder hierzu liefern die Kämpfe um Zolltarife. Und nicht nur im Innern, auch nach außen wird das so sein. Eine Gruppe, die den heimischen Markt ohne Rücksichtnahme auf die Regierung beherrscht, treibt nach außen eine auswärtige Wirtschaftspolitik für Privatinteressen, nicht als Vertreter der Gesamtheit. Das Verhalten der amerikanischen Ölinteressenten macht hier weitere Entwicklungen wahrscheinlich. || 13 Vgl. z. B. die Vorschläge von Stinnes im Sozialisierungs-Ausschuß des Reichswirtschaftsrats.
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Wenn die Selbstverwaltung der Gruppen nur bedeutet, daß ihnen seitens des Staates Aufgaben zur Erledigung übertragen werden, wobei sich die Gesamtheit ein weitgehendes Aufsichtsrecht vorbehält, dann handelt es sich in der Tat um Fragen zweckmäßiger Organisation. Die Selbstverwaltung der Industrie entspricht dann der Selbstverwaltung von Zünften, die einem Stadtregime unterstanden. Dann kann man auch an Steuersyndikate und ähnliche Bildungen denken, um kostspielige Monopolverbände zu ersetzen. Wenn man aber hierbei Selbstverwaltung verlangt, weil die Staatswirtschaft bankrott ist, die Wirtschaft der einzelnen aber nicht, dann ist das die Loslösung der Privatwirtschaft vom Staate. Das Einkommen des Staates stammt in letzter Linie immer nur aus den Einkünften der Privatwirtschaft. Wenn das Einkommen der Privaten steigt, das des Staates aber vernichtet ist, dann beweist das nur die völlige Ohnmacht des Staates, der nicht mehr die Macht hat, die Hand auf die Quellen zu legen, die die Gesamtheit speisen sollten. Er muß dann entweder eine Anzahl Aufgaben abstoßen, die er bis jetzt erfüllt hat und sie den Privaten übertragen, oder er muß in seinen Finanzen von den Privaten ausgehalten werden. In beiden Fällen ist die beginnende Auflösung des Staates ersichtlich. Es liegt dann eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Verfall der Macht der Städte vor, der der Eroberung der politischen Gewalt durch die Zünfte vielfach gefolgt ist. Bei dem gewaltigen Wachsen der wirtschaftlichen Aufgaben sieht sich natürlich die moderne Staatsgewalt vor Probleme gestellt, deren Lösung sie nicht gewachsen ist. Auf der anderen Seite schafft die Organisation der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer Körperschaften der Privatwirtschaft, die neue Verwaltungsaufgaben lösen können. Es ist klar, daß eine Neueinteilung der Aufgabenkreise erfolgen muß, die die Völker zu lösen haben. Es ist denn auch kein Zufall, daß Lösungsversuche aller Art in den verschiedensten Ländern und den verschiedensten Gruppen erörtert werden. 14 Bei allen handelt es sich darum, neue Forderungen der Dezentralisation zu finden. Es ist ein Vorgang, vergleichbar mit der Entwicklung, die den zentralistischen Einheitsstaat in den föderalistischen Bundesstaat auflöst. Wo das geschehen ist, hat der zentrale Staat den Gliedstaaten Teile seiner Aufgaben übertragen, ohne aber auf seinen höchsten Willen bei der Gestaltung der Gesamtpolitik zu verzichten. Solange ein solcher Gemeinschaftswillen vorhanden ist, enthalten daher alle Bestrebungen nach wirtschaftlicher Selbstverwaltung Momente des Fortschritts. Die Ausschaltung des Gemeinschaftswillens von den Gebieten der höchsten, entscheidenden Lebensäußerungen der Völker, und dazu gehört heute die Wirtschaft, müßte aber zur Auf-
|| 14 Man ist geneigt, die Anläufe zur Lösung dieser Fragen als besondere Leistung des deutschen Geistes hinzustellen, der damit die Demokratie der Westmächte überwinde. – Ähnliche Gedankengänge finden sich auch in Frankreich und Belgien. Die weitaus bedeutendste Erörterung dieser ganzen Frage ist enthalten in Sidney & Beatrice Webb, A Constitution for the Socialistic Commonwealth of Great Britain, London 1920.
136 | Krise der Demokratie teilung des Staatsgebiets und darüber hinaus zur Auflösung des modernen Staates führen. In allerletzter Linie handelt es sich dabei nicht um eine rein wirtschaftliche Frage, sondern um das alte Grundproblem der menschlichen Freiheit. Das Wachstum des modernen Staates und das Eingreifen der modernen Staatsgewalt auf dem Gebiete der Religion, der politischen Betätigung und der Wirtschaft haben im Interesse der Freiheit den Widerstand gegen diese Staatsgewalt hervorgerufen. Als Verfechter der wirtschaftlichen Freiheit verlangen heute einflußreiche Kreise das Ausschalten der Staatsgewalt aus dem Wirtschaftsleben. Diese Auflösung der Staatsgewalt ist nur erträglich, wenn die wirtschaftliche Freiheit tüchtiger Produzenten nicht die gesellschaftliche Freiheit der Volksgenossen bedroht.
6 Die Krisis der europäischen Demokratie (1925) Vorwort Die folgenden Ausführungen sind die deutsche Wiedergabe von Gedankengängen, die ich im Sommer 1924 unter dem Titel „The Crisis of European Democracy“ bei der Tagung des Institute of Politics in Williamstown, Massachusetts, vorgetragen habe. Sie erscheinen in der ursprünglichen Form in den Veröffentlichungen des Instituts im Verlage der Yale Press. Wenn ich eine deutsche Ausgabe veranstalte, so geschieht es nicht, weil ich fertige Rezepte zur Lösung der Krise an den Mann bringen möchte, sondern weil es mir nützlich erscheint, den Wirrwarr geistiger, wirtschaftlicher und physischer Kräfte zu skizzieren, aus dem die Krise entspringt. Philosophisch gestimmte Gemüter, die in weitgehender Unkenntnis der wirklichen Vorgänge es nicht lassen können, ihren geistigen Spieltrieb in leichtfertigen Konstruktionen zu betätigen, mögen diese rein betrachtende Stellungnahme als ohnmächtigen Skeptizismus bezeichnen. Mir scheint, daß diejenigen, die sich nicht zu gut dünken, um an der Werktagsarbeit des politischen Lebens teilzunehmen, Nützliches leisten, wenn sie ihre Beobachtungen allgemeinverständlich aufzeichnen, ohne zu gestalten, aber auch ohne den eigenen Standpunkt zu verleugnen. Ich halte es in diesem Sinne mit einem der großen Ahnen der modernen Demokratie, John Milton: „They also serve who only stand and wait.“ Mai 1925 M. J. Bonn
[Einleitung] In den politischen Erörterungen der Vorkriegszeit ist von den Verteidigern des damals in Mitteleuropa herrschenden Regierungssystems immer wieder betont worden, die Demokratie habe als politische Lebensform zwar mancherlei Vorzüge, sie müsse aber, insbesondere als parlamentarische Demokratie, im Kriege versagen. Die praktische Erfahrung hat das Gegenteil erwiesen. An politischer Geschlossenheit und einheitlicher Zielsetzung waren die Demokratien des Westens dem bürokratischen System Ost- und Mitteleuropas bei weitem überlegen. Die innere Spaltung zwischen Kriegführung und Politik, die die Mittelmächte fast während der ganzen Kriegszeit lähmte, ist bei den Westmächten durch zielbewußte Politiker überwunden worden. Der Aufstieg starker, eigenwilliger Persönlichkeiten, den nach kontinentaler Auffassung gerade die Demokratie unmöglich machen soll, ist bei den Westmächten ungehemmt vor sich gegangen, nicht aber in Rußland, Deutschland oder Österreich, wo die wenigen kraftvollen Individualitäten, die sich überhaupt durchzusetzen vermochten, im endlosen Kampfe bürokratisch-militärischer Intrigen
138 | Krise der Demokratie aufgerieben wurden. Als dann die gewaltige numerische Überlegenheit des Westens, die die militärisch-bürokratische Leitung der Mittelmächte weder rechtzeitig erkannt noch richtig eingeschätzt hatte, den Alliierten trotz aller Fehler den Sieg geschenkt hatte, schien die Überlegenheit des demokratischen Systems der ganzen Welt erwiesen. Die alte Ordnung stürzte zusammen, erst in Rußland, dann in Mitteleuropa. Keine Hand rührte sich zu ihrer Verteidigung. Mitteleuropa bekannte sich zur Demokratie und lehnte das russische Beispiel, von der Demokratie zum Sowjetsystem fortzuschreiten, ab. Außerhalb der von Rußland beeinflußten Staaten ist das politische System der Demokratie in der ganzen Welt zum Durchbruch gelangt. Seine Formen umschließen heute wechselnden Geist. Die türkische Demokratie ähnelt nur äußerlich ihren europäischen Vorbildern, und der indische Parlamentarismus hat in seinem Streben nach völliger Selbstregierung wohl die Schlagworte, nicht aber den Sinn der westlichen Zivilisation erfaßt. Rein äußerlich gesehen ist indes das Ziel der westlichen Ideologen, um das sie den Krieg zu führen meinten, erreicht worden. Die Demokratie hat gesiegt. Der Kreuzzug, den die Westmächte zur Sicherung der Demokratie unternommen hatten, hat in mancher Beziehung das Schicksal vergangener Kreuzzüge geteilt: Begeisterte Propheten traten auf, die die Befreiung des Heiligen Grabes verkündeten. Aber als der Schlachtenlärm verklungen war, befand sich Jerusalem wieder in den Händen der Ungläubigen. Die Kreuzfahrer hatten sich damit begnügt, Landund Machtgewinn einzustecken. So hat auch dieser letzte Kreuzzug nicht das tausendjährige Reich gebracht, an das seine ehrlichen Verkünder geglaubt hatten. Er hat nicht einmal das bescheidene Maß innerer Befriedung herbeigeführt, auf das man als nüchternes Ergebnis der Kriegserfahrungen hätte rechnen können. Überall in der Welt herrscht politische Unzufriedenheit. Überall in Europa werden die politischen Einrichtungen, die sich die Völker gegeben haben, von den Beteiligten mit Geringschätzung, ja manchmal mit haßerfüllter Verachtung betrachtet. Das gilt nicht nur für die neuen Demokratien, die im Herzen Europas entstanden sind und bei denen die Unzufriedenheit dem Fehlen einer demokratischen Tradition zugeschrieben werden könnte, das gilt, vielleicht mit alleiniger Ausnahme von England, für alle Länder, die am Kriege beteiligt gewesen sind. Die Tatsache dieser Beteiligung ist die beste Erklärung der bestehenden Unzufriedenheit. Der Krieg hat auch die Sieger nicht reicher und nicht glücklicher gemacht. Als die große nationale Leidenschaft erloschen war, mit der die Völker sich in den Krieg gestürzt hatten und die noch nach dem Waffenstillstand und dem Friedensschluß nachzitterte, begann man überall, erst halb unbewußt, das Ergebnis zu prüfen. Man sah, daß die Welt sich grundlegend verändert hatte. Man sah es insbesondere in Ländern wie Deutschland und Österreich. Man dachte mit Wehmut an die vergangenen Tage, wo das Leben verhältnismäßig reichlich und billig gewesen war. Damals waren die Löhne auskömmlich gewesen, Arbeitsgelegenheit war vorhanden, die Steuern drückten wenig. Man spürte überall einen starken sozialen Auftrieb. Ordnung und Sicherheit herrschten im Innern; man war im Ausland ge-
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achtet, wenn nicht geliebt. Das alles hatte man unter der Herrschaft der Monarchie genossen. Und wenn sich auch die Denkenden klar darüber waren, daß für diese, wie ein goldenes Zeitalter anmutende Blütezeit Wilhelm II. höchstens insoweit verantwortlich war, als es sich um die äußere Aufmachung gehandelt hatte, so wirkte doch in der Vorstellung weiter Kreise die Erinnerung, daß es ihnen unter der Monarchie gut gegangen war. Man braucht dabei gar nicht an diejenigen Schichten zu denken, die durch Titel oder Orden und wirkliche oder eingebildete soziale Bevorzugung den Glanz der Sonne kaiserlicher Huld unmittelbar verspürt hatten. Die Massen sahen zwar deutlich, daß sie unter der Republik Anteil an der Regierung hatten und den früher bevorzugten Schichten gleichberechtigt gegenüberstanden. Sie empfanden aber noch deutlicher, daß diese politischen Rechte ihre wirtschaftliche Lage nicht gebessert hatten. Die demokratische Republik hatte ihnen nicht nur soziale und politische Gleichberechtigung, sondern auch Vermögenszerstörung durch Inflation, hohe Preise, niedrige Löhne, Steuern in einem Ausmaß, das man früher nicht gekannt hatte, gebracht. In allen Ländern beurteilen die breiten Massen den Wert einer Regierungsform nach dem praktischen Nutzen, den sie von ihr haben. Sie haben in Deutschland nicht vergessen, daß sie unter der Monarchie zufrieden waren. Sie wissen genau, daß sie es in der Republik noch nicht wieder sind. Es bedarf eines weitgehenden Maßes politischer Erziehungsarbeit, um ihnen immer wieder in die Erinnerung zurückzurufen, daß die demokratische Republik das Erbe der Monarchie zu einer Zeit angetreten hat, als diese Monarchie bereits Bankerott gemacht hatte. Wenn die alliierten Regierungen wirklich den ehrlichen Wunsch gehabt haben, der deutschen demokratischen Republik den Daseinskampf zu erleichtern, so hätten sie im Vertrag von Versailles nicht auf der Auslieferung der „Kriegsverbrecher“ bestehen dürfen, sondern verlangen müssen, daß Wilhelm II. als Kaiser nach Deutschland zurückkehre und bis zur Abtragung sämtlicher Reparationsverpflichtungen an der Regierung bleibe. In andern Ländern liegen diese Dinge etwas weniger ungünstig. Aber die allgemeine Unzufriedenheit, die ein verlorener Krieg zur Folge hat – und ganz Europa, mit Einschluß Englands, hat den Krieg verloren –, schafft überall eine kritische Stimmung, aus der heraus man die bestehende Regierungsform bezweifelt und verneint. Die Krise der europäischen Demokratie besteht zum Teil darin, daß die Lasten des europäischen Zusammenbruchs und die Kosten des europäischen Wiederaufbaus von demokratischen Regierungen bestritten werden müssen.
I Das Wesen des Parlamentarismus Demokratie ist „diejenige Regierungsform, in der die Herrschaftsmacht des Staates verfassungsmäßig nicht einer besonderen Klasse, beziehentlich Klassen, zusteht, sondern den Mitgliedern der Gesellschaft als einem Ganzen; d. h. also in Gesellschaften, deren Willensbildung durch Abstimmung vor sich geht, gehört diese Herr-
140 | Krise der Demokratie schaft der Mehrheit, da keine andere Methode gefunden worden ist, die auf friedlichem und gesetzlichem Wege feststellt, was als Wille einer Gemeinschaft, bei der Einstimmigkeit nicht vorliegt, gelten soll.“ 15 Die Demokratie hat im Flusse der Entwicklung verschiedene Formen durchlaufen. Die demokratische Regierungsform, die heute so leidenschaftlich bekämpft wird, ist die „parlamentarische Demokratie“. Daneben gibt es andere Formen der Demokratie, insbesondere die unmittelbare Demokratie. Auch für große Reiche ist ein Regierungssystem denkbar, das auf dem Grundsatz der unmittelbaren Demokratie beruht. Bei diesem System erwählt das Volk seine führenden Beauftragten durch direkte Abstimmung und überträgt ihnen während einer zeitlich befristeten Amtsdauer die Erledigung der Staatsgeschäfte ohne weitgehende Bindungen, aber unter persönlicher Verantwortlichkeit. Kontinentale Schriftsteller haben gelegentlich die amerikanische Verfassung in dieser Weise geschildert und in ihr eine Art unmittelbarer Demokratie gesehen, bei der der führende Staatsmann fast unabhängig vom Parlament den in seiner Person verkörperten Willen der Nation zur Ausführung bringt. Zu ihnen hat z. B. Lothar Bucher gehört, der grimmigste Feind des modernen Parlamentarismus, der im Gegensatz zu seinen Nachfolgern zwei wichtige Eigenschaften zur Kritik mitbrachte: Kenntnisse und Geist. Und amerikanische Präsidenten, wie Roosevelt und noch in stärkerem Maße Wilson, haben zeitweilig den Versuch gemacht, diese Theorie zur Anwendung zu bringen. Sie haben schließlich Schiffbruch gelitten. Trotzdem ist ein derartiges System durchaus denkbar. Es wird vielleicht in der Geschichte der Zukunft eine Rolle spielen. Die europäische Demokratie der Gegenwart ist vorwiegend eine parlamentarische Demokratie.
1 Parlamentarismus und Demokratie sind nicht dasselbe. Der Parlamentarismus ist ursprünglich als Vertretung der Nation oder einflußreicher Gruppen der Nation der Krone gegenüber entstanden. Die ersten Parlamente haben das Volk gegen die Übergriffe autokratischer Monarchen zu sichern gesucht. Im Laufe der Zeit ist daraus ein politischer „Dualismus“ entstanden, ein System, bei dem die höchste Gewalt zwischen Krone und Volksvertretung geteilt wurde. Die Geschichte des Parlamentarismus ist die Geschichte der Bestrebungen, den ursprünglich größeren Anteil der Krone auf wenig bedeutungsvolle Reste herabzumindern. Das Parlament als Vertretung des Volkes und der Monarch, der von Gottes Gnaden regiert, standen einander gegenüber. Sie tragen ihre Konflikte nicht länger mit Waffengewalt aus; sie legen sie durch Verhandlungen bei. Das parlamentarische System bedeutet ursprünglich ein Regierungssystem durch Verhandeln, im Gegensatz zu einem Regierungssystem durch || 15 Lord Bryce, Modern Democracies, New York 1921, Bd. I, S. 20.
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Befehlen. In diesem Sinne hat das parlamentarische System als solches mit Demokratie wenig zu tun. Das britische Parlament, das den modernen. Parlamentarismus ausgebildet hat, hat vielleicht seine größte Zeit vor der Reformbill (1832) gehabt, als die Masse der Bevölkerung überhaupt kein Wahlrecht besaß. Und das englische Parlament, das den Anspruch erhob, den amerikanischen Kolonien gegen ihren Willen Gesetze aufzuerlegen, war sicher ein ordnungsmäßig gewähltes Parlament, obwohl weder die Bewohner der Kolonien, noch die Masse des britischen Volkes in ihm vertreten waren. Es hat viele Parlamente gegeben, die der Krone als gleichberechtigte Macht gegenüberstanden, und doch nur Vertreter einer kleinen Minderheit waren – häufig einer nationalen Minderheit, wie z. B. das alte ungarische Parlament –, und mit aller Macht gegen die Demokratie ankämpften. Mit dem Sieg, den das englische Parlament nach der „glorreichen“ Revolution über die Krone davon getragen hatte, war das System des politischen „Dualismus“ beseitigt. Von da ab lag die eigentliche politische Souveränität in England beim Parlament. Der Parlamentarismus war ausgereift. In den Ländern, die dem englischen Beispiel folgend, das parlamentarische System annahmen, war die politische Macht fürderhin nicht mehr geteilt. Das Volk wählte seine Vertreter meist in direkter Wahl. Diese Vertreter bildeten das Parlament. Aus seiner Mitte wurde eine Art Ausschuß gebildet, das Kabinett, das die Regierungsgeschäfte zu besorgen hatte. Es war dem Parlament verantwortlich. Es konnte nur im Amte bleiben, solange es eine Mehrheit zur Verfügung hatte. Die Mehrheit regierte, die Minderheit war einflußlos. Der politische „Dualismus“ war praktisch überwunden. Seine Reste erhielten sich in bestimmten Kronrechten und in der Mitwirkung eines erblichen oder ernannten Oberhauses. Eine „monistische“ Auffassung vom Wesen der politischen Macht machte sich von neuem breit. Das gewählte Parlament war allmächtig. So lange die Regierung eine Mehrheit hatte, konnte sie, wie ehemals der Fürst, „nicht Unrecht tun“, vorausgesetzt, daß sie sich nicht über die Bestimmungen einer geschriebenen Verfassung hinwegsetzte oder irgendwelche ungeschriebene, nicht verbriefte Tradition verletzte. Dieser neue „politische Monismus“ stand aber auf schwachen Füßen. Die Einführung des allgemeinen Wahlrechts hatte die Wählerschaft, die im Kampfe gegen die Krone in den entscheidenden Momenten einheitlich zusammengestanden hatte, in viele Gruppen zersplittert. Meinungen und Interessen gingen auseinander. Jede Gruppe, insbesondere jede wirtschaftliche Gruppe, war geneigt, sich für die eigenen Sonderinteressen einzusetzen. Kein Sonderinteresse war stark genug, um der Nation seinen Willen aufzwingen zu können. Mehrheiten mußten also durch die Zusammenfassung verschiedener, oft einander widerstreitender Gruppen gebildet werden. Ähnliche Schwierigkeiten waren wohl auch in der vordemokratischen Zeit aufgetreten. Damals waren indes die Scheidungslinien, die die verschiedenen Gruppen getrennt hatten, meist persönlicher Art gewesen. Jeder große parlamentarische Kämpe hatte seine besondere Gefolgschaft besessen, die die Wettbewerber und ihre Anhänger womöglich mit noch größerer Gehässigkeit bekämpfte als der Führer selbst.
142 | Krise der Demokratie Das gemeinsame Interesse, der Wunsch an die Macht zu kommen, führten indes immer wieder zu Koalitionen, die die persönlichen Abneigungen erfolgreich überwanden, wenn man sich erst über den Schlüssel bei der Ämterverteilung geeinigt hatte. Im demokratischen Zeitalter ist die Mehrheitsbildung sehr viel schwieriger geworden, da die Politik ein Hin- und Hergezerre beteiligter Interessen geworden ist. Das Parlament ist nicht länger die geschlossene, einheitlich gesinnte Vertretung des Volkes gegenüber der Krone. Es ist die Vertretung aller der verschiedenen Interessen geworden, die sich in seinem Schoß bekämpfen. Es ist aber eine Körperschaft geblieben, die verhandelt, auch wenn die Sitzungen, bei denen verhandelt wird, manchmal, z. B. bei Zolltarifen, einer Börse ähneln. Denn das Wesen des parlamentarischen Regierungssystems ist Regieren durch Diskussion, das Austragen von Meinungsverschiedenheiten und Interessengegensätzen durch Argumente in öffentlicher Verhandlung, nicht ihre Erledigung durch geheime Verfügung oder durch physische Gewalt. Überredung der Gegner, nicht Einschüchterung durch Drohung mit Gewalttaten ist das Ziel. In diesem Sinne ist das Parlament in der Tat eine „Schwatzbude“. Das besagt aber nur, daß der Parlamentarismus ein System darstellt, um Konflikte mit Argumenten, nicht mit Befehlen und Waffengewalt zur Lösung zu bringen. Die stillschweigende Voraussetzung dieser Theorie des Parlamentarismus ist der Glaube an die Harmonie der Interessen. Wenn nur die Stimme der Vernunft in glockenheller Reinheit aller Welt vernehmbar in öffentlicher Beratung ertönt, lösen sich die Dissonanzen verwirrter Meinungen und verstockter Interessen im Vielklang eines Gemeinschaftsstrebens auf. Die Entstehung einer Auffassung von der Unversöhnlichkeit gegensätzlicher wirtschaftlicher, sozialer und nationaler Interessen zerstört nicht nur die Hoffnung auf einen derartigen friedlichen Ausgleich; sie entwertet auch das Instrument, das ihm dienen soll, den Parlamentarismus, als politisches System. Das Silber der öffentlichen Rede, das die Vernunft auf die Wage legt, wiegt federleicht gegenüber dem Bleigewicht, mit dem unverrückbare materielle Interessen im Geheimen die Schale beschweren. Der Glaube an die reinigende Kraft der Öffentlichkeit erlischt. Der Schacher zwischen großen Wirtschaftsgruppen geht viel reibungsloser vor sich, wenn das Licht des Tages die Beratungen nicht erhellt und die blinden Opfer ihrer Abmachungen nicht sehend macht. Daher empfinden die modernen monopolisierten Wirtschaftsgruppen den gleichen Abscheu vor dem Parlamentarismus als System der Öffentlichkeit wie die Bürokratie des Absolutismus. Daß die politischen und wirtschaftlichen Gegensätze innerhalb eines Volkes durch Verhandlungen und nicht durch Waffengewalt ausgetragen werden müssen, galt vor dem Kriege als selbstverständlich. Es war damals das höchste Ziel einer fortschrittlichen Außenpolitik, diese Methode der Verhandlung auch bei auswärtigen Konflikten anzuwenden. Die internationalen Konferenzen, die Schiedsgerichtsverträge, die vor 1914 abgeschlossen wurden, wiesen in dieser Richtung. Der Krieg
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hat auch hierin Wandel geschaffen. Während früher die Anhänger des parlamentarischen Systems die begründete Hoffnung haben durften, die Methode der Verhandlung werde schließlich auch bei der Erledigung internationaler Konflikte die einzig zulässige Methode werden, ist heute das Gegenteil eingetreten. In einem großen Teil Europas sind die Völker bereit, ihre inneren Gegensätze mit Gewalt auszutragen. Der Parlamentarismus als Verhandlungsweise befindet sich in der Verteidigung.
2 Der Parlamentarismus ist aber nicht nur eine Methode zur Erledigung politischer Konflikte im Wege der Verhandlung. Er hat noch eine andere wichtige Aufgabe zu erfüllen. Er ist eine Methode zur Auslese politischer Führer. Diese Auslese erfolgt durch Wahl. Bei den Systemen der unmittelbaren Demokratie werden die Führer vom Volke selbst durch eine (ihrem inneren Wesen nach, nicht der Form nach unmittelbare) Abstimmung gewählt. Die amerikanische Demokratie wählt den Präsidenten und die Gouverneure, in den meisten Einzelstaaten auch die Richter und Verwaltungsbeamten unmittelbar. Sie wählt allerdings daneben die beiden Parlamentshäuser, deren mächtigstes, der Senat, die vom Präsidenten ernannten wichtigsten Bundesbeamten bestätigen muß. In den meisten europäischen Staaten hat das amerikanische System keine Nachahmung gefunden. Wo der Parlamentarismus voll ausgereift ist, werden die Führer durch mittelbare Wahl gewählt. Der Wahlkreis wählt seine Abgeordneten. Die Abgeordneten bilden das Parlament und wählen, sei es offen oder verhüllt, aus ihrer Mitte die Regierung, der die verantwortliche, zielsetzende Führung der Staatsgeschäfte obliegt. Der Parlamentarismus ist also ein eigenartiges System der politischen Auslese, das sich von dem System, das in vorparlamentarischen Tagen üblich war, stark unterscheidet. Damals standen an der Spitze der Völker Monarchen von Gottes Gnaden, die aus ihrem Gottesgnadentum heraus ihre Gehilfen ernannten. Sobald die absolute Monarchie den Sieg über den mittelalterlichen Ständestaat davongetragen hatte, hat sie die Macht in ihren Händen zu zentralisieren gesucht. Sie faßte sie am Sitze der Regierung zentral zusammen, um sie dann mit Hilfe einer Verwaltungshierarchie über das ganze Land auswirken zu lassen. Der Einfluß der Zentralregierung machte sich in den Gemeinden und in den Kreisen, in den Provinzen und in den wirtschaftlichen Körperschaften fühlbar. Die örtliche Selbstregierung, die sich in den angelsächsischen Ländern durch den Wandel der Zeiten hindurch erhalten hatte, war auf dem Kontinent zeitweilig fast völlig abgestorben. Sie ist erst allmählich wieder durch gesetzliche Maßnahmen ins Leben zurückgerufen worden. Während die Beteiligung am örtlichen Gemeinschaftsleben in England und insbesondere in Amerika, in den Neuenglandstaaten, die eigentliche Grundlage des staatlichen demokratisch-politischen Systems gebildet hat, ist sie auf dem europäischen Konti-
144 | Krise der Demokratie nent vielfach erst eine Folge der Übertragung eines bestimmten Wirkungskreises seitens der Zentralmachthaber gewesen. Man spricht auf dem Kontinent von Selbstverwaltung, wo die angelsächsischen Völker an Selbstregierung denken. Regieren heißt sich selbst Ziele setzen, während Verwaltung nur die Anwendung (selbstgewählter) Mittel zur Erreichung vorgeschriebener oder gestatteter Ziele bedeutet. Das klassische Land für die Ausbildung des modernen Verwaltungssystems ist ursprünglich Frankreich gewesen. Die Organe des königlichen Willens waren dort schon früh technisch vorgebildete Beamte, Leute, die für die besonderen, ihnen zugeteilten Verwaltungsaufgaben eine eigene, systematische Ausbildung erfahren hatten. Der absolute König war zwar in der Auswahl seiner Gehilfen völlig frei, er setzte aber seiner Willkür Schranken der Zweckmäßigkeit, indem er ihnen Qualifikationen vorschrieb. In der gleichen Weise hat später der Parlamentarismus in England und in Amerika das System der Patronage und der Günstlingswirtschaft beseitigt und ein vorgebildetes, nicht absetzbares Beamtentum geschaffen. Die Beamten waren nicht von ihren Mitbürgern gewählt, sie wurden von ihren Herren ernannt. Die Grundlage ihrer Tätigkeit war das Vertrauen des Herrschers, nicht das der Beherrschten. Die Entwicklung des modernen Wirtschaftslebens und die Ausbildung einer neuen öffentlichen Meinung hat die Stellung dieser Beamtenschaft sehr verschoben. Vor dem Druck der politischen Volksbewegung wich die königliche Macht zurück. Moderne Parlamente entstanden, die mit der Krone um die politische Macht rangen. Die Parlamente konnten zwar der Krone ihren Willen nicht aufdrängen, sie konnten aber die Tätigkeit der Regierung lähmen, die die Staatsgeschäfte längere Zeit nicht ohne Geldbewilligung fortzuführen vermochte. Der Kampf zwischen beiden spielte sich meist als Kampf zwischen Bürokratie und Parlament ab. Man kann ihn am deutlichsten in den englischen Dominien verfolgen, die seit Anfang des vorigen Jahrhunderts der Bürokratie des Londoner Kolonialamtes gegenüber den vollen Parlamentarismus verlangten. Er wird heute, durch den Gegensatz von Okzident und Orient maßlos verschärft, in Britisch-Indien ausgekämpft. Während Krone und Bürokratie so auf der einen Seite langsam geschwächt wurden, warf ihnen die mächtig aufstrebende wirtschaftliche Entwicklung mit ihren tausend Problemen gleichzeitig neue Aufgaben und damit neue Machtmittel in den Schoß. Bedeutung und Einfluß der Bürokratie als Ganzes nahmen zu, während die Macht der einzelnen Bürokraten abzunehmen schien. Die Bürokratie als solche bildete einen Personenkreis, der durch gemeinsame Vorbildung und gemeinsame Aufgaben zu einer Art Stand wurde. Seinen Mitgliedern war ein bestimmter Bildungsgang vorgeschrieben. Sie hatten durch Ablegung von Prüfungen den Besitz von Kenntnissen zu erweisen. Sie waren in der Theorie nicht exklusiv, da in den meisten Ländern verfassungsmäßig jedem der Eintritt freistand, der die vorgeschriebenen Bedingungen erfüllte. Sie lehnten sich aber naturgemäß an die jeweils machthabenden Schichten an und gewährten als geschlossene Körperschaft den Angehörigen an derer Schichten nur widerwillig Zu-
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tritt, und auch dann nur, wenn diese sich restlos den gesellschaftlichen Lebensformen zu unterwerfen gewillt waren, die eine Kaste zu entwickeln pflegt. Sie bildeten naturgemäß einen eigenen Kastengeist aus, der nicht immer mit den Anschauungen übereinstimmte, die der Einzelne aus seinen Kreisen mitgebracht hatte. In dieser Beziehung mag die jetzt im Aussterben begriffene alte anglo-indische Bürokratie als ausgereifteste Frucht eines bestimmten Systems der Führerauslese gelten. Diese Bürokratie, die einen Staat im Staate bildete, bestand vielfach aus Männern, die, zur Ausübung der Herrschaft geschult, es als ihr Recht betrachteten, die leitenden Stellen des Staates aus ihrem Kreise zu besetzen. Sie zerfielen oft untereinander in Parteien, die zwischen den verschiedenen Ministerien, ja vielfach auch innerhalb eines Ministeriums zwischen den einzelnen Referaten sich mit der größten Leidenschaft bekämpften. Sie pflegten in diesem Ressortfanatismus eine Bitterkeit zu entwickeln, der gegenüber parlamentarische Parteileidenschaft manchmal milde erscheint. Nach außen hin aber bildeten sie eine geschlossene Front. Die Bürokraten waren natürlich die leidenschaftlichsten Vorkämpfer der Krone im Kampf gegen den Parlamentarismus. Die Besten von ihnen sahen im Volke Unmündige, deren Interessen sie als Vormünder zu wahren hatten. Sie betrachteten es halb als Wahnsinn, halb als Eingriff in geheiligte Rechte, wenn die Völker nach parlamentarischer Vertretung verlangten, und wenn ihre gewählten Vertreter sich die Führung der öffentlichen Angelegenheiten anmaßten. Der Kampf um die Einführung des ausgereiften parlamentarischen Systems im kontinentalen Europa wie in den Kolonien ist weit mehr ein Ringen zwischen der Bürokratie und den Volksvertretern als ein Kampf zwischen der Krone und dem Volke. Natürlich benutzte die Bürokratie die Lehre vom Gottesgnadentum als Hauptbeweismittel, um sich vor dem Vordringen der parlamentarischen Kontrolle zu schützen. Sie kämpften wie die Löwen für die Rechte der Krone, die im wesentlichen ihre eigenen Rechte waren. Wenn in jeder Handlung des Monarchen Gottes Wille sichtbar war, dann stellte jede Ernennung einen mittelbaren Akt der Vorsehung dar. Dann durfte man mit vollem Rechte erwarten, daß Gott jeden ordnungsgemäß bestallten Beamten mit dem Verstande begnaden werde, dessen das Amt bedurfte. Lange vor dem Ausbruch der großen europäischen Krise war indes die Stellung der Bürokratie schon stark erschüttert. Selbst in Ländern wie Deutschland war die Macht der Parlamente trotz des zähen Widerstandes der Bürokratie ständig im Wachsen begriffen. So sehr sie sich auch bemühte, die parlamentarischen Kämpfe von allem Weltanschauungsmäßigen zu reinigen, das ihr nicht liegt, und auf den Boden spezialistischer Einzelbehandlung herabzudrücken, in der der erprobte Referent Meister ist, so sehr die Entwicklung eines starken wirtschaftlichen Interessententums diesen Bestrebungen entgegenkam, so wenig erfolgreich war doch die Abweisung des parlamentarischen Angriffes. Im Bunde mit wirtschaftlichen Gruppen konnte man wohl das Tribunentum zurückdrängen und an seine Stelle den kenntnisreichen Spezialisten setzen. Man vermochte mit Unterstützung der gleichen Mächte das Gewicht der Verhandlungen aus den öffentlichen Vollsitzungen in verschwiegene Kommissionsberatun-
146 | Krise der Demokratie gen zu verschieben. Man schwächte dadurch die werbende Kraft des Parlamentarismus bei den Massen, auf denen seine Kraft ursprünglich beruht hatte; man stärkte ihn aber, soweit er der Exponent materieller Interessengruppen war, die am liebsten im Dunkel arbeiteten. Man zog den „Kuhhandel“ mit diesen Gruppen dem Aufeinanderprallen der Weltanschauungen in offener Redeschlacht vor. Es ist der deutschen Bürokratie in der Tat geglückt, die politischen Auseinandersetzungen im Reichstag, die noch in den 70er und Anfang der 80er Jahre eine weltanschauungsmäßige Höhe gehabt hatten, auf das Niveau von Kommissionserörterungen herabzudrücken. Sie mag es sich als Erfolg buchen, daß ihre Tätigkeit mit dazu beigetragen hat, die Anforderungen an einen Abgeordneten, und damit das Niveau der Abgeordneten überhaupt herabzusenken. Den Anmarsch des Parlamentarismus hat sie nicht verhindern können. Wer das bürokratische System vor dem Kriege in voller Blüte sehen wollte, der mußte nach Rußland oder besser noch nach Britisch-Indien gehen, wo die anglo-indische Bürokratie vor den Morley-Mintoschen Reformen ungehemmt von indisch-parlamentarischen Einflüssen sich als Treuhänder von 300 Millionen Menschen erfolgreich betätigen konnte. Solange die Theorie des politischen Dualismus noch in irgendeiner Form fortdauerte, war die Bürokratie dem Parlament nicht wirklich verantwortlich; auch durften die parlamentarischen Führer nicht erwarten, daß ihnen die höchsten Staatsstellen übertragen werden würden. Mit der Einführung des parlamentarischen Systems ändert sich das vollkommen. Die Bürokratie wird nicht beseitigt; im Gegenteil, ihre Mitarbeit ist nötiger denn je. Während des Krieges und in der Nachkriegszeit hat sich der Bereich der Staatstätigkeit in der ganzen Welt gewaltig ausgedehnt. Damit sind Zahl und Einfluß des bürokratischen Elements gewachsen. Es hat aber in den neuentstandenen Demokratien das ausschließliche Recht auf die ersten Stellen des Staates verloren. Parlamentarier, die das Volk gewählt hatte, wurden Ministerpräsidenten. Sie bildeten ihre Kabinette aus den politischen Mitarbeitern, mit denen sie in dem politischen Kampf der Vergangenheit Bande des Vertrauens verbunden hatten. Manche von ihnen besaßen die technischen Voraussetzungen, die man vom Beamten verlangte, andere besaßen sie nicht. Die einen wie die andern wurden auf ihren Platz gestellt, weil ihre Wähler ihnen vertrauten, nicht weil sie sich im technischen Sinne als zuständig erwiesen hatten. Die Bürokratie war gewohnt, sich selbst als zuständig zu betrachten, und nur sich selbst. Hatte sie doch durch Examina und durch sorgfältige Auswahl nach Ablegen der Examina den Nachweis geführt, daß sie dazu bestimmt war, die Geschicke der Menschen zu lenken. Sie war darüber empört, daß ungeeichte, unerprobte Eindringlinge ihr in erfolgreichem Wettbewerb die höchsten Posten wegnahmen. Die Bürokraten waren sich darüber klar, daß die Regierungsaufgaben der Gegenwart weit größer waren als die der Vergangenheit. Sie zweifelten, und sie zweifelten vielfach mit Recht, ob es zweckmäßig sei, unerprobten Parlamentariern eine so große Verantwortung aufzubürden. Je besser die Ausbildung der Bürokratie gewesen war, je höher ihre Anforderungen an fachmännische Tüchtigkeit und berufli-
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chen Anstand, desto mehr entsetzten sie sich über die politisch-parlamentarische Korruption, die sie auf allen Seiten zu erblicken glaubten. Sie hatten im Kampfe der Wirtschaftsgruppen längst jedes Gefühl gegenüber der unpersönlichen Korruption verloren, durch die eine einflußreiche Partei oder eine mächtige Gruppe ihren Anhängern geldwerte, wirtschaftliche Vorteile auf dem Wege der Gesetzgebung oder der Verwaltung zuzuschieben suchte. Der Handel bei Steuern und der Schacher bei Zolltarifen war ihnen zu einer Selbstverständlichkeit geworden, über die man sich nicht mehr erregte. Ein System, das frei werdende Plätze mit Parteiangehörigen besetzte und vielleicht gar noch Plätze für sie frei macht, erschien ihnen als politisches Beutesystem; sie haßten es mit ehrlichem Haß. Sie verstanden nicht die sachliche Bedeutung, die darin liegt, daß eine Regierung wichtige Stellen mit ihren Parteiangehörigen als Männer ihres Vertrauens besetzen muß. Sie hatten im Kriege die Erfolge der westlichen Propaganda bestaunt. Sie hatten in ihr nichts weiter gesehen als großzügige, mit Geldmitteln reich ausgestattete Organisation. Sie hatten nicht erkannt, daß ein Regierungssystem, das in der Heimat auf den Künsten der Überredung aufgebaut ist, im Ausland einem System überlegen sein muß, das Meinungen zu befehlen gewohnt ist. Sie begriffen nicht immer, daß die Kunst, dem Volke Vertrauen einzuflößen, und die Fähigkeit, die Wähler durch Überredung zur Unterstützung einer unpopulären Politik zu gewinnen, für den richtigen Führer ebenso wichtig sind wie die formaljuristische Beherrschung eines verwickelten sachlichen Problems. Sie wußten überdies nicht, daß Regieren und Verwalten zwei ganz verschiedene Dinge sind, daß die Kunst, gegebene Ziele durch Anordnungen und Unterordnung zu verwirklichen, etwas anderes ist als die Fähigkeit, Ziele zu setzen und den Gemeinschaftswillen zu ihrer Erreichung umzubiegen. Sie vergaßen allzu oft, daß Willenskraft und gesunder Menschenverstand Eigenschaften sind, die keine technische Ausbildung und kein Examen sichert und die auch die sorgfältigste Auswahl bei Ernennungen nicht gewährleistet. Sie überschätzten das technische Element in der Politik und unterschätzten das Menschliche. Sie waren sich nicht klar darüber, daß ein Volk mit guter Schulbildung verhältnismäßig leicht zuverlässige Sachverständige zu gewinnen vermag, daß aber Männer, die einen Entschluß fassen und die einmal getroffene Entscheidung in zähem Festhalten durchsetzen können, zu allen Zeiten selten gewesen sind. Ein fähiger, gut durchgebildeter Beamter ist in der Regel in technischer Beziehung dem durchschnittlichen Abgeordneten überlegen. Daraus ergibt sich von selbst, daß der Parlamentarier, der den Beamtenapparat nicht gut zu handhaben weiß, seine Bedeutung falsch einschätzt. In Ländern, wo die Bürokratie keine Sonderstellung eingenommen hat und keine übertriebene Meinung von ihrer Bedeutung besitzt, ist das nicht von Belang. Die Beamten, die dort einen neuen parlamentarischen Chef anzulernen haben, der, frisch von einem Siege an der Wahlurne, mit wilden Plänen in das Ministerium einzieht, werden ihm die Arbeit erleichtern, auch wenn sie über ihn lächeln. Denn sie sind sich darüber im klaren, daß sie dienende, nicht herrschende Glieder des Staates sind. Sie haben in England und Amerika nie
148 | Krise der Demokratie ein Anrecht auf die höchsten Stellen im Staate besessen. Auch sie müssen Examina ablegen wie die Beamten des Kontinents, obwohl diese Examina insofern demokratischer gehalten sind, als es meist Eintritts-, nicht Abgangsexamina sind und jeder, der den Besitz der erforderlichen Kenntnisse nachweisen kann, zugelassen ist, ohne Rücksicht darauf, wo er sie erworben hat. Dieses Examen berechtigt aber nur zum Eintritt in den Staatsdienst. Es gibt den Eintretenden keine moralische Anwartschaft auf einen Ministerposten. Im Gegenteil. Es gilt als Regel, daß die Laufbahn des begabtesten englischen Beamten mit dem Unterstaatssekretär endet. Der Beamte genießt heute völlige Sicherheit bei einem Wechsel der Regierung. Um diesen Preis muß er auf Teilnahme am politischen Leben und damit an der Regierung verzichten. Die Stellung des Beamten ist in England und in Amerika eine Schöpfung der parlamentarischen Gesetzgebung. Der Beamte betrachtet sich daher als Gehilfe, nicht als benachteiligter Wettbewerber des Parlamentariers. Das Parlament hat ihm Sicherheit gegeben, nicht, wie der deutsche Beamte annehmen muß, ihm die Karriere verdorben. In Ländern mit einer herrschenden Bürokratie bedeutet der Übergang zum parlamentarischen System in der Tat eine Beeinträchtigung des Beamtentums. Der Einzelne verliert die Möglichkeit, Minister zu werden. Und wenn er sich auch sagen muß, daß er, wie die meisten seiner Kollegen dieses Ziel nicht erreichen wird, so ist es doch etwas anderes, ob die Enttäuschung sich gegen Vorgesetzte, Vordermänner und erfolgreich Mitstrebende wendet oder ob sie sich gegen das System des Parlamentarismus kehrt. Und obwohl der deutsche demokratische Parlamentarismus in der Heranziehung der Bürokratie zu den höchsten Staatsgeschäften sehr weit geht, so hat er doch die gewaltige grundsätzliche Verschiebung dadurch nicht beseitigt. Früher glaubte die Bürokratie die Ziele der Politik zu bestimmen; sie wählte die Maßnahmen, die zur Anwendung kamen. Zwar war sie formal nicht unabhängig und handelte immer im Namen des Souveräns, den sie zu ihrem Standpunkt bekehren mußte, wenn er sich für die einschlägigen Fragen interessierte. Aber da sie aus hartarbeitenden, kenntnisreichen und detailsicheren Spezialisten bestand, so war es nicht schwer, den Monarchen für ihre Anschauung zu gewinnen. Heute sind die Bürokraten Diener eines gewählten Kabinetts, dessen Mitglieder vielen als Usurpatoren erscheinen. Sie gedenken der Tage, wo sie selbst den Staat regierten: Sie vergleichen ihre damaligen Leistungen mit denjenigen ihrer parlamentarischen Nachfolger, deren immer wiederkehrende politische Fehlschläge offen zutage liegen. Zeigt das nicht deutlich, daß die Parlamentarier nichts taugen, daß man den bürokratischen Fachmann braucht? Man vergißt vollkommen, daß die Riesen vergangener Tage recht klein erscheinen würden, wenn man sie vor die gigantischen Aufgaben der Gegenwart stellen könnte. In vielen Fällen teilt die öffentliche Meinung die Auffassung der Bürokratie: Ein Regierungssystem, das die Probleme nicht löst, die ihm gestellt werden, beweist ihr ohne weiteres, daß das System der Auslese nichts taugt.
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Auf dem europäischen Kontinent ist der brave Bürger immer bereit gewesen, die Regierungsgeschäfte von Fachmännern besorgen zu lassen, die er bezahlte und kritisierte. Er konnte dann seinen eigenen Geschäften besser nachgehen. Als Fachmann galt ihm derjenige, der die vorgeschriebenen juristischen Examina abgelegt hatte und der sich den Regierungsgeschäften berufsmäßig zuwandte. Da er selbst vom Staate eine fortgesetzte Verwaltungstätigkeit verlangte, so brauchte er den Berufsbeamten, auch wenn er auf ihn schimpfte. Und da er die Grenze zwischen Verwaltung und Regierung selten sah und den Unterschied zwischen dem Setzen von Zielen und der sachgemäßen Anwendung befohlener Mittel fortwährend verwischte, so wollte er keine Berufsparlamentarier. Sein Abgeordneter sollte vor allem seine privaten Sonderinteressen vertreten. Er sollte, wenn möglich, Berufskollege sein und dadurch dem Beamten auf engem Gebiet überlegen sein. Weil der Abgeordnete also schon auf Grund eines bürgerlichen Berufs gewählt ist, kann der parlamentarische Beruf als solcher nur eine Art Nebenberuf sein. Der Abgeordnete, der verwalten will, in dem Sinne, in dem der Beamte verwaltet, erscheint daher mit vollem Recht als Dilettant, da er einen Beruf ausübt, den er nicht gelernt hat. Der Wähler ist aber geneigt, den Abgeordneten auch dann als Dilettanten zu betrachten, wenn er sich dem eigentlichen Geschäft des Berufspolitikers, dem Regieren, zuwendet, da er nur zu sehr wünscht, in ihm einen bloßen Mitinteressenten zu sehen. Er selbst ist vielfach so sehr in rein beruflichen Gedankengängen befangen, daß er für die Politik als Beruf keinen Sinn hat. Der Beamte, der auf Grund seiner Berufswahl, nach Ablegung der Examina, einen Posten erhält, besitzt seiner Meinung nach das Recht, andere höhere Posten zu erstreben. Der Abgeordnete, der nicht damit zufrieden ist, Sprachrohr seiner Wähler zu sein, wird als ehrgeiziger Streber verdächtig. Und wenn er gar ein einflußreiches Amt erhält, ohne etwa im Besitz einer akademischen Vorbildung zu sein, so riecht seine Ernennung an und für sich schon nach Korruption. Das Parlament braucht an und für sich ebensowenig der Korruption zugänglich zu sein wie die Bürokratie. Die Abgeordneten des englischen Parlaments um die Mitte des vorigen Jahrhunderts waren ebensowenig bestechlich wie die alten preußischen Beamten. Andere Bürokratien und andere Parlamente mögen in dieser Beziehung weniger einwandfrei gewesen sein. Alle Träger politischer Macht, seien es Beamte oder Abgeordnete, haben aber natürlich Gelegenheit, Privatinteressenten mehr oder minder erhebliche Gefälligkeiten zu erweisen, entgeltlich oder unentgeltlich. 16 Je größer die Bedeutung der „Gefälligkeiten“ für die Interessentenkreise ist, desto höher der Preis, den sie zahlen werden, desto größer die Gefahr der Korruption. Und je mehr das staatliche Leben nach dem Gesichtspunkt der Begünstigung und der Bevorzugung organisiert ist, desto größer ist die Versuchung, da es dann || 16 Der Begriff der Korruption wird in der Regel nur auf entgeltliche Begünstigung seitens politischer Machtorgane angewendet.
150 | Krise der Demokratie von der Entscheidung der zuständigen Stellen abhängt, ob die Vergünstigung gewährt wird oder nicht. Bei einem Zolltarif, der jedem Importeur gegenüber zur Anwendung gelangt, mag manchmal eine Steuerhinterziehung eintreten, aber nicht mehr. Wo die Einfuhr nach dem Prinzip der Lizenzen organisiert ist, wird die Macht zur Begünstigung in die Hände einzelner Stellen gelegt. Wenn jedermann zu einem bestimmten Satze zu allgemein gültigen, der Öffentlichkeit bekannten Bedingungen Kredit von den Zentralbanken bekommt, besteht kein Anlaß zur Kreditbevorzugung. Wo aber Kreditrestriktion geübt wird, da entsteht die Möglichkeit der Begünstigung. Will man das Übel der Korruption wirklich bekämpfen, so muß man seinen möglichen Bereich verengern, indem man den staatlichen Organen die Gelegenheit nimmt, Einzelbegünstigung oder Massenbegünstigung vorzunehmen. Das Problem der Korruption ist nicht der Sumpf, aus dem die Giftblasen aufsteigen, sondern das Problem der Versumpfung. Seinem inneren Wesen nach ist das Berufsbeamtentum ein Organ zum Vollzug eines bereits gebildeten Gemeinschaftswillens, nicht zu dessen Bildung, noch zum Ersatz eines solchen. In absoluten Monarchien entsteht dieser Wille im Monarchen. In Demokratien, die nicht unmittelbare Demokratien sind, nimmt er seine Gestaltung in der Volksvertretung oder vielmehr in der ihr entstammenden Regierung. Politisches Wollen, das heißt Ziele setzen, ist daher die Aufgabe der Parlamentarier, eine Aufgabe, die von der technischen Ausführung des Gewollten verschieden ist. Sie bedingt aber gleich ihr eine fachliche Ausbildung durch praktische Betätigung in der Politik. Der Berufspolitiker, der Mann, der für die Politik lebt, nicht von der Politik, kann diese Ausbildung nur durch Übung erwerben, als Abgeordneter, indem er das Organ des Willens, die Regierung, schaffen und stützen hilft, in der Regierung, indem er sich an der Willensbildung beteiligt. Es muß das Ziel seines Strebens sein, in die Regierung zu gelangen, wie es das Ziel des Beamten sein muß, in der Verwaltung zu führen. Berufsbeamtentum und Berufspolitik gehören daher zusammen. Und wie in der Vergangenheit die Zielsetzung bei der Krone gelegen hat, muß sie heute bei der parlamentarischen Regierung liegen, denn ein Beamtentum, das sich selbst ernennt und sich selbst die Ziele weist, ist nicht denkbar. Wo aber ein zuverlässiges Beamtentum lange geherrscht hat und der Begriff der fachlichen Eignung eine sorgsam gepflegte Mythe ist, vollzieht sich die Unterordnung der Bürokratie unter das Parlament nur unter großen Widerständen. Sie werden schließlich überwunden werden. An die Stelle der Lehre vom Gottesgnadentum der Krone mag allenfalls ein nicht minder mystischer Glaube an die Unfehlbarkeit des souveränen Volkes treten, aber nicht der Glaube an die göttliche Erleuchtung der Bürokratie.
II Die Theorie der Gewalt Das Wesen des parlamentarischen Systems ist der Grundsatz: Regieren heißt verhandeln, nicht befehlen. Es geht von der Vorstellung aus, daß die Menschen ver-
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nunftbegabte Wesen sind, deren Handlungen durch Argumente beeinflußt werden können, und daß sie von Natur gutartig sind, so daß ihre Leidenschaften besänftigt und ihre widerstreitenden Interessen in Einklang gebracht werden können. Man muß nur den ehrlichen Versuch machen, durch überzeugende Beweisführung ihre Vernunft als Bundesgenossen gegen ihre Leidenschaft zu gewinnen. Dahinter steht der Glaube, daß die Welt von der Vorsehung oder der Natur nach Regeln der Vernunft geleitet werde, daß Gesetz, nicht Willkür sie regiert. Daneben läuft eine andere Vorstellung vom Wesen der Regierung, die von der entgegengesetzten Auffassung der menschlichen Natur ausgeht. Sie setzt die ursprüngliche Verderbtheit der menschlichen Natur voraus. Sie nimmt an, daß der Mensch, mit dem man im wirklichen Leben zu tun hat, unter der Herrschaft heftiger Leidenschaften steht, die schwer zu bändigen sind, daß seine schmutzigen Begierden und schlechten Instinkte den Grund seines Wesens darstellen. Man kann die Menschen nur regieren, wenn man sie zwingt, sich der Autorität zu beugen. Regieren heißt also gehorchen machen, Regieren ist gewaltsames Befehlen. Man kann die Menschen nicht durch kluge Erörterungen zur Vernunft bereden; man kann sie nicht durch gute Zusprache zu anständiger Gesinnung veranlassen. Man kann sie aber durch Gewalt zu anständigem Handeln zwingen. Man kann sich mit ihnen nur dann erfolgreich auseinandersetzen, wenn man sie grundsätzlich wie bösartige Tiere behandelt. Der Wille des Starken, nicht das Gesetz der Natur beherrscht die Welt. Machiavelli war wohl der glänzendste literarische Verfechter dieser Theorie des Regierens; und in der Gegenwart ist ihr hervorragendster praktischer Vertreter Mussolini, der nie müde wird, sich auf seinen großen Landsmann zu berufen. Dieser zweiten Theorie entsprach im großen und ganzen die Praxis der Regierungen in den auswärtigen Angelegenheiten, während die erste vor dem Kriege das innere politische Leben zu beherrschen schien. Aber schon damals gab es eine Bewegung, die man als politischen oder sozialen Militarismus bezeichnen kann, insofern sie den Grundsatz des blinden Gehorsams, auf dem die militärische Organisation beruht und beruhen muß, ins bürgerlichpolitische Leben zu übertragen suchte.
1 Die große koloniale Ausbreitungsbewegung, die in den achtziger Jahren von neuem begann, war nach der politischen Seite eigentlich eine glatte Verneinung des Grundsatzes: Regieren heißt verhandeln. Ihr Ziel war die Angliederung neuer Gebiete. Die in Frage kommenden Länder waren von Bevölkerungen bewohnt, die man als sozial zurückgeblieben bezeichnen kann. Da sie nicht imstande waren, sich der Angriffe einer technisch überlegenen Zivilisation zu erwehren, so fiel es nicht schwer, sie der europäischen oder amerikanischen Herrschaft zu unterwerfen. Die neuen Herren haben in den annektierten Gebieten ein gutes Stück gesunder wirtschaftlicher Auf-
152 | Krise der Demokratie bauarbeit geleistet. Rein wirtschaftlich betrachtet ist die neuzeitliche Erschließung der Tropen eine Leistung ersten Ranges. Die blutigen Kämpfe der Eingeborenenstämme wurden unterdrückt, unzweckmäßige Sitten und Gewohnheiten verschwanden, Epidemien wurden ausgerottet. Die eingeborenen Bevölkerungen vermehrten sich, ihre Lebenshaltung verbesserte sich, Ordnung, Recht und tüchtige Verwaltung traten an die Stelle von Bestechung und Willkür. Und diese ganze Entwicklung war mit einem verhältnismäßig geringen Aufwand physischer Machtentfaltung herbeigeführt worden. Ganz anders war das Bild vom politischen Standpunkt aus gesehen. Die farbigen Bevölkerungen der neuen kolonialen Gebiete waren unterworfene Rassen, deren Zustimmung zur Herrschaft ihrer weißen Gebieter nie verlangt und nie erteilt worden war. Sie nahmen keinen Anteil an der Gestaltung der Politik, die ihr eigenes Leben bestimmte. Sie waren die Mündel einer Regierung, nicht ihre Teilhaber. Sie wurden überall von einer Bürokratie regiert, die weit mächtiger und in ihrer Art weit einflußreicher war, als die europäischen Bürokratien, die den aussichtslosen Kampf gegen das Vordringen des Parlamentarismus zu führen hatten. So entstand ein eigenartiger innerer Zwiespalt. Während parlamentarische Einrichtungen, die auf dem Grundsatz: Regieren heißt verhandeln, beruhten, sich langsam über ganz Europa verbreiteten, gewann das gegenteilige Prinzip: Regieren heißt Befehlen, in den eben erworbenen kolonialen Gebieten neues Leben; es wurde gleichzeitig in alten Kolonien, wie Britisch-Indien, durch die Ausbildung der modernen Organisation und des modernen Verkehrswesens nach der technischen Seite in glänzender Weise vervollkommnet. Die Autoritäten, von denen die neue Gewaltherrschaft ausging, waren dabei vielfach die gleichen Körperschaften, die Parlamente der alten Welt, deren eigenes Dasein eine Verneinung des Grundsatzes war, daß Regieren befehlen heißt. Wann immer politische Theorien mit den Tatsachen des politischen Lebens in Widerspruch geraten, ergibt sich die Notwendigkeit, sie abzuändern. Man bestritt nicht, daß der Grundsatz des Parlamentarismus, des Regierens durch Verhandeln, in der ganzen Welt angewendet werden könne; man betonte aber, daß seine Entwicklung in Europa Jahrhunderte in Anspruch genommen habe. Es sei daher ausgeschlossen, dies System bei der Regierung zurückgebliebener Bevölkerungen sofort anzuwenden. Ehe sie zur Ausübung voller politischer Freiheit reif waren, die das Ideal der Befürworter des demokratischen Parlamentarismus war und blieb, mußten sie erzogen werden. Die nächstliegende Aufgabe ihrer weißen Herren war die Erziehung zur Selbstregierung. Man kann ohne weiteres annehmen, daß die besten kolonialen Verwalter ehrlich glaubten, es werde möglich sein, die unterworfenen Bevölkerungen auf das soziale Niveau zu heben, das die europäischen Nationen erreicht hatten. Man darf aber nicht außer acht lassen, daß für viele von ihnen der Prozeß dieser sozialen Hebung nicht übermäßig eilig war. Man ließ sich gern etwas Zeit, ehe man die selbstübernommene Aufgabe niederlegen konnte und ein zurückgebliebenes Volk aus der Tiefe schwärzester Finsternis zur Höhe des strahlenden Lich-
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tes emporgeführt hatte. Man hielt nicht nur den Rücken hin, um die Bürde des weißen Mannes zu schultern, sondern man war auch von dieser Tätigkeit begeistert und zeigte das offensichtlich, trotz der beweglichen Klagen über die Schwere der Last, die man zuweilen gern zum besten gab. Die Anwendung eines Systems der Gewaltherrschaft in auswärtigen Besitzungen – das ist der eigentliche Sinn des Imperialismus – mußte natürlich die Regierungsprobleme in der Heimat beeinflussen. Wenn man zugab, daß farbige Bevölkerungen geeignete Objekte für eine autokratische, wenn auch wohlwollende Form der Regierung waren, da sie die Fähigkeit zur Selbstregierung noch nicht erworben hatten, so konnte man auch in der Heimat auf breite Massen hinweisen, deren wirtschaftliche Entwicklung und deren geistige Verfassung sie sicher nicht ohne weiteres zur Selbstregierung bestimmten. Waren die ländlichen Bevölkerungen eines Landes, die bis vor kurzem Leibeigene gewesen waren und sich als solche dem Willen ihrer Herren gefügt hatten, wirklich nach Charakter und Verstand geeigneter, als Teilhaber in eine Regierung einzutreten, die auf dem Grundsatz des Verhandelns beruhte, als die Mitglieder einer fortgeschrittenen, eingeborenen Herrscherrasse, die ihre Selbstregierung erst vor kurzem infolge der Überlegenheit der europäischen Kriegstechnik verloren hatten? Der koloniale Imperialismus gab daher den längst bestehenden Theorien eines Regierungssystems, das auf Gewalt und Befehl beruht, neues Leben. Er verlieh ihnen ein ethisches Gesicht. Die gerechte Regierung und die geordnete Ausbeutung der zurückgebliebenen Bevölkerungen wurden nicht länger als ein Privileg betrachtet, das weiße Eroberer mißbrauchen durften. Sie wurden zur Bürde des weißen Mannes, eine Last, deren Übernahme mit Verantwortung, aber auch mit Nutzen verbunden war. Die weißen Herrschervölker hätten sie, wie sie sich einredeten, nie auf sich genommen, wenn sie nur ihre eigenen egoistischen Interessen verfolgt hätten. Einzig und allein das sie erfüllende altruistische Verantwortungsgefühl hatte sie veranlaßt, im Interesse der Menschheit eine Pflicht zu übernehmen, die nebenbei Gewinn abwarf. Bald traten auch in Ländern, wo der Parlamentarismus seit langem heimisch war, Persönlichkeiten auf, die das System als solches verwarfen. In Staaten, wo der politische Dualismus zwischen Krone und Bürokratie auf der einen Seite und dem Parlament auf der anderen Seite noch nicht völlig überwunden war, wurden ihre Gedankengänge mit Begeisterung aufgegriffen. Die Stellung der Reaktionäre in Mitteleuropa und in Rußland wurde dadurch sehr gestärkt. Dem Lobredner, der auf die glänzenden Ergebnisse hinwies, die der Parlamentarismus in England und den britischen Dominien erzielt hatte, konnte leicht entgegnet werden, daß innerhalb des britischen Reichs nur 50–60 Millionen Menschen die Segnungen dieses Systems genossen, während 300–400 Millionen unter der Herrschaft einer unverantwortlichen, wenn auch tüchtigen Bürokratie standen.
154 | Krise der Demokratie Der Angriff gegen den Parlamentarismus wurde wohl am leidenschaftlichsten in Frankreich geführt. 17 Die Gruppen, die um die „Action Française“ geschlossen waren, hatten einen rücksichtslosen und glänzenden Vertreter der antiparlamentarischen Theorie in Charles Maurras gefunden. Das Wesen des Parlaments war das Wort; der Sinn des Lebens war die Tat. Nur diejenigen Völker blühten, die tatkräftiges Handeln gewohnt waren; diejenigen verwelkten, die ihr Schicksal Phrasenmachern, Pläneschmieden und Schwätzern anvertrauten. Ein Regierungssystem, das auf Verhandlungen beruhte, war schon dadurch verurteilt, daß es ein Regierungssystem war, das mit Reden arbeitete. Die Berufung auf die Vernunft ist nichts anderes als das Abschreiben überholter Argumente aus veralteten Büchern. Regieren heißt handeln, nicht verhandeln, weil man zum Verhandeln der Worte bedarf, zum Handeln aber nicht. Der Krieg, das Symbol der Tat, wird als Selbstzweck gefeiert: „In meinem Vaterlande liebt man den Krieg, und heimlich wünscht man ihn sich. Wir haben immer Krieg geführt. Nicht um eine Provinz zu erobern, nicht um eine Nation zu vernichten, nicht um Interessenkonflikte beizulegen ... In Wirklichkeit führen wir Krieg, um Krieg zu führen, ohne irgendeinen anderen Gedanken.“ 18 In ihren tiefsten Herzen waren die Vertreter dieser Gedanken von der Vorstellung, oder besser gesagt von der Empfindung erfüllt, daß die Fähigkeit zum Regieren einzelnen Personen von Gottes Gnaden gegeben ist und daß diese Personen nur ihren Instinkten zu folgen brauchen, um den Interessen der Nation gerecht zu werden. Sie dürfen nicht Zeit noch Kraft vergeuden, um Leute, die sich auf die Vernunft berufen, mit Argumenten zu überzeugen. Denn sie dürfen nicht von der Voraussetzung ausgehen, daß die Menschheit vernünftigen Argumenten zugänglich ist, und daß Regieren argumentieren, nicht aber herrschen heiße. Die Aufzeichnungen politischer Dilettanten des alten Europa, wie etwa diejenigen des Grafen Waldersee, zeigen deutlich, daß solche Gedankengänge nicht auf Frankreich beschränkt waren.
2 Jedem Regierungssystem, das seine Grundlage in Zwang und Willkür sieht, tritt eine Opposition entgegen, die ihrerseits die Anwendung von Gewalt proklamiert. Regieren durch Verhandeln ist nur möglich, wenn alle Klassen und Gruppen, deren Interessen auf dem Spiel stehen, zu den Verhandlungen zugelassen werden. Eine Regierung, die diese Zulassung verweigert, wie z. B. die Regierung des zaristischen Rußlands, und ein Volk oder große Teile eines Volkes, das politisches Selbstbewußtsein
|| 17 Über den Einfluß der kolonialen Romantik in Frankreich siehe Ernest Psichari, Terres de Soleil et de Sommeil, Paris 1908. 18 Ernest Psichari, Terres de Soleil et de Sommeil, S. 233.
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besitzt, von der parlamentarischen Anteilnahme ausschließt, hat noch immer eine Bewegung ausgelöst, die das Recht auf Gewalt in Anspruch nimmt und vor Mord nicht zurückscheut. Oft ist diese Berufung auf das Recht der Gewalt seitens ausgeschlossener Klassen oder Bevölkerungen ein bloßes Agitationsmittel, das nach Erreichung der ersehnten Vertretung aufgegeben wird, obwohl die Führer oft genug Schwierigkeiten gehabt haben, die Leidenschaften zu beruhigen, die sie selbst erweckt hatten. Wenn aber der Geist der Gewalttätigkeit nur tief genug in das Herz eines Volkes eingedrungen ist, dann wird es auch die weitgehendsten Zugeständnisse in der Richtung einer Beteiligung an der Regierung nicht als wesentlich betrachten. Und eine Opposition, die an Dynamit glaubt, kämpft nicht um Rede- und Verhandlungsfreiheit, sondern um das Recht auf Gewalt. Der Geist der Gewalt mag dann vorübergehend einzuschlummern scheinen; er wird von Zeit zu Zeit bei den geringfügigsten Anlässen wieder erwachen. Die Gefahr eines gewaltsamen Ausbruchs liegt auch dann vor, wenn der Umfang einer Vertretung nicht vergrößert werden kann und wenn es ihr unmöglich ist, den Willen der Mehrheit durch Argumente zu beeinflussen, weil Minderheit und Mehrheit einander dauernd als geschlossene feindliche Gruppen gegenüberstehen, deren Lebensinteressen einander widerstreiten. Solange die irische Vertretung im britischen Parlament außerstande war, die Wünsche des irischen Volkes durchzusetzen, hat die Politik der „physischen Gewalt“ eine große Rolle in Irland gespielt. Und als die irische Frage gerade vor Ausbruch des Krieges der endgültigen Lösung zustrebte, ist eine militärische Selbstschutzbewegung in Ulster entstanden. Die protestantische Minderheit in Ulster (Nordost-Irland) wollte sich der Mehrheit des katholischen Irland nicht fügen. Sie war im britischen Parlament vertreten, vermochte aber dessen Beschluß, Irland Selbstregierung zu gewähren und sie damit seiner Herrschaft zu unterstellen, nicht zu verhindern. Sie rüstete sich und bereitete sich auf den Abfall mit bewaffneter Macht vor. Sie zeigte der Welt, daß Gewaltpolitik auch in inneren Angelegenheiten möglich ist, solange es Minderheiten gibt, die Minderheiten bleiben müssen und sich dem Willen der Mehrheit nicht unterwerfen wollen. Die sogenannte Freiwilligenbewegung Ulsters vom Jahre 1912 ist das Urbild des Fascismus in ganz Europa gewesen. Sie hat ihren Rückhalt in den bürgerlichen Kreisen des Landes gehabt und sich insbesondere der Unterstützung der englischen Konservativen erfreut. Es war die bewußte Revolution einer Minderheit gegen die parlamentarische Demokratie, die in dem Augenblick erfolgte, als diese Demokratie nicht länger gewillt war, die Interessen zu vertreten, die die Minderheit für lebenswichtig hielt.
156 | Krise der Demokratie 3 Schon vor dem Kriege waren also Kräfte an der Arbeit, die das System einer Regierung durch Verhandeln durch ein solches der Gewalt zu ersetzen suchten. 19 Man kann es auch anders ausdrücken: Es waren Kräfte an der Arbeit, die die Methoden der auswärtigen Politik in der inneren Politik anwenden wollten. Die Gefahr, daß dauernde, natürliche Minderheiten Gewaltmethoden anwenden, hat immer bestanden. Solche Minderheiten sind ihrem Wesen nach anmaßend. Mehrheiten sind sicher nicht immer bescheiden. Aber Minderheiten sind geneigt, sich deshalb überlegen zu dünken, weil sie von der Mehrheit verschieden sind. Und weil sie verschieden sind, glauben sie das Recht in Anspruch nehmen zu dürfen, so zu bleiben, wie sie sind. Sie sind geneigt, die Mehrheit als Mob zu betrachten. Kein Mensch kann von ihnen verlangen, daß sie über ihr Erstgeburtsrecht mit einem Mob, den sie verachten, verhandeln. Da sie meist bereit sind; sich für ihre Interessen einzusetzen, so denken sie nicht daran, sie von einer Mehrheit, die sie verabscheuen, verletzen zu lassen. Die aristokratischen Schichten Europas haben gewohnheitsmäßig diese Haltung eingenommen. Sie wünschen nicht, daß Unterschiede, die ihnen als Zeichen der Überlegenheit gelten, beseitigt werden. Sie wollen sich nicht dem Willen der Mehrheit beugen. Wo eine solche Minderheit geschlossen genug ist, wird sie sich mit dem bloßen inneren Gefühl ihrer Überlegenheit nicht begnügen. Sie betrachtet es als ihr Recht, der Mehrheit ihre Anschauungen aufzuzwingen. Der Geist, der die Pflanzeraristokratie des amerikanischen Südens in den Jahren vor dem Bürgerkrieg beherrschte, ist in allen Minderheiten, die sich ihres Wertes bewußt sind, lebendig. Und wo das der Fall ist, haben die Minderheiten, die sich der Mehrheit überlegen fühlen, kein großes Interesse an einem Regierungssystem durch Verhandlungen, bei denen sie vielleicht die Berechtigung ihrer Ansprüche und die Trefflichkeit ihrer Argumente erweisen können, aber schließlich bei der Abstimmung doch hoffnungslos überstimmt werden. Sie sind nach ihrer eigenen Auffassung eine Minderheit, die die Vorsehung auserwählt hat und die nicht verpflichtet werden kann, der niedrig geborenen Menge zu gehorchen, die sich Mehrheit nennt. Ob eine solche Schicht aus sklavenhaltenden amerikanischen Pflanzern oder regierungsgewohnten preußischen Junkern, aus geschäftstüchtigen protestantischen Ulster-Leuten oder fanatisierten französischen Syndikalisten besteht, ist für die eigene Einschätzung ohne praktische Bedeutung. Ihre behauptete soziale Überlegenheit läßt sich fast immer durch mehr oder minder wissenschaftliche Ausführungen über rassenmäßige Charaktereigenschaften begründen. Jede Schicht, die eine soziale Vorherrschaft beansprucht, wird einen Theoretiker finden können, der den Beweis führt, daß ihre Mitglieder die ausschließlichen Besitzer bestimmter wunderbarer physisch-psychischer || 19 Hierher gehört auch die Bewegung der englischen Suffragetten.
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Eigenschaften seien – Eigenschaften, die sie im Wege der Vererbung von ihren Ahnen erworben haben. Die weniger begünstigten Rassen müssen daher, auch wenn sie die Mehrheit bilden, sich der Herrenrasse unterordnen. Während früher die Erbsünde denjenigen, die nicht zur Gnade auserwählt waren, den Weg in die Seligkeit des ewigen Lebens versperrte, ist heute an ihre Stelle das Wunder der Erbmasse getreten, die den Platz der Erwählten im irdischen Leben bestimmt. 20 Diese Gedankengänge sind zuerst im kolonialen Leben praktisch geworden, als die weißen Herrenrassen sich gegen die Aufhebung der Sklaverei oder gar gegen die Gleichberechtigung der Eingeborenen zur Wehr setzen mußten. Sie bauten sich leicht auf die gesellschaftliche Tradition auf, die der europäische Feudalstaat entwickelt hatte. Es war nur ein Schritt nötig, um dies historisch gewordene System der Über- und Unterordnung mit biologisch-philosophischen Argumenten gegen den Ansturm der Demokratie zu verteidigen. Es war eine Kleinigkeit, die biologische Erkenntnis von der Minderwertigkeit unterworfener eingeborener Rassen in die Vorstellung der rassenmäßigen Minderwertigkeit der unterdrückten europäischen Massen umzusetzen. Die Theoretiker der unterdrückten revolutionären Massen wie Sorel haben sie dann für ihre Zwecke ins Gegenteil umgebogen. Die organisierte Arbeiterschaft stellt vielfach eine Minderheit dar. Muß sie als solche mit der Verwirklichung ihrer Forderungen warten, bis sie zur Mehrheit geworden ist? Parlamentarismus bedeutet Regierung durch Schwätzer. Die arbeitende Klasse hat daher gar kein Interesse daran, Vertreter ins Parlament zu senden. Die Atmosphäre der parlamentarischen Versammlungen ist so giftgeschwängert, daß selbst die energischsten Vertreter der Arbeiterklasse ihr bald erliegen. Es entspricht natürlich dem Wunsche ihrer Herren aus der Bourgeoisie, mit ihnen über den Anteil am nationalen Einkommen zu reden, den sie auf Grund irgendeines anerkannten Handbuchs der Nationalökonomie beanspruchen dürfen. Für die Bourgeoisie ist dieser Auszug der bestehenden Welt, in die Form eines Handbuchs gegossen, eine ernste Wissenschaft. Sie wird natürlich die bestehende Wirtschaftsordnung so lange als möglich aufrecht erhalten. Sie wird die Arbeiterabgeordneten im Parlament als gute Kerle behandeln. Sie wird ihnen schmeicheln, daß sie zu den Auserwählten gehören, und an ihre Vernunft appellieren. Und die Arbeitervertreter im Parlament sind von den Ämtchen, die sie ergattert haben und den Ämtchen, die ihnen für die Zukunft winken, meist so begeistert, daß sie die Interessen ihrer Wähler vergessen und ihrer Klasse untreu werden. Man hat gar nicht nötig, die plumpe Methode persönlicher Bestechung anzuwenden. Warum
|| 20 Die Diskussion über den nordischen Edelmenschen wird heute besonders lebhaft in Amerika geführt. Da die meisten amerikanischen Anhänger des nordischen Menschen leidenschaftliche Deutschenfresser sind, sind sie zu dem betrüblichen Ergebnis gekommen, daß auf Grund einwandfreier wissenschaftlicher Feststellungen die Deutschen, insbesondere die Preußen, nicht zur nordischen Rasse gehören.
158 | Krise der Demokratie soll man Geld ausgeben, wenn man das Ziel billiger durch gute Behandlung erreichen kann? 21 Glücklicherweise gibt es andere, sehr viel wirksamere Möglichkeiten des Handelns als die Verteilung von Stimmzetteln. In einer modernen Gesellschaft ist physische Gewalt im Sinne militärischer oder polizeilicher Zwangsmittel nicht das einzige zur Verfügung stehende Gewaltmittel. Moderne Regierungen können nicht ohne ein regelmäßiges Einkommen leben, das der Steuerzahler liefert. Das parlamentarische System verdankt seine Sicherheit, wenn nicht seinen Ursprung, dem Rechte, das heißt der Macht der Volksvertretung, Steuern zu bewilligen oder zu verweigern. Die Anwendung wirtschaftlicher Machtmittel ist heute indes nicht länger auf den Kampf zwischen Regierung und Regierten beschränkt. Die moderne Gesellschaft ist auf dem Grundsatz der Arbeitsteilung aufgebaut. Wenn eine Klasse die Dienste versagt, die zur Befriedigung der gesellschaftlichen Bedürfnisse nötig sind, ist die Gesellschaft gelähmt. Wenn die organisierte Arbeiterschaft die Arbeit verweigert, bringt sie den Mechanismus der modernen Gesellschaft sofort zum Stillstand. Es genügt also die Einstellung der Dienste, der Generalstreik, die bloße Anwendung sozialer Verneinung, um die Minderheit zum Herrn des Staates zu machen. Der Generalstreik zur Erreichung politischer Ziele, nicht als Mittel zur Erhöhung der Löhne oder zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen wird so zur furchtbaren Waffe in der Hand einer selbstbewußten organisierten Minderheit der Arbeiterklasse. Diese Minderheit hat nicht nur das Recht, dieses Machtmittel anzuwenden. Sie ist hierzu verpflichtet, wenn ihre Interessen auf dem Spiele stehen. Sie braucht Gewalt. Gewalt als solche ist nicht verwerflich, im Gegenteil, Gewalt ist natürlich. Sie ist die Waffe der Starken, Zukunftsfreudigen. Sie ist unentbehrlich für den künftigen Fortschritt, den die Aristokratie der bis dahin Enterbten der Welt aufzwingt. Der soziale Friede ist ein Ideal, mit dem der feiste Bourgeois diejenigen Schichten der Gesellschaft einzuschläfern sucht, die bis heute die Segnungen der modernen Zivilisation nicht genossen haben. Diese Schichten verlangen einen Anteil in dem Augenblick, wo sie fühlen, daß sie fähig sind zu genießen. Sie parlamentieren nicht, sie führen Krieg, und im Kriege hat immer das Recht des Stärkeren gegolten. Stark sein, heißt wollen, leidenschaftlich wollen, den Blick der unbekannten Zukunft zugewendet, deren Gestaltung nicht vom Gegebenen, sondern vom Gewollten bedingt ist. Die sozialen Theorien der Vergangenheit sind von der Vorstellung nicht losgekommen, daß ein gütiger Gott oder eine weise Natur die Menschheit nach Regeln regiert, deren dauernde Übertretung ihr unmöglich ist. Denn die Entwicklung der Gesellschaft vollzieht sich durch die Wirkung immanenter Gesetze. Der handelnde || 21 Es entbehrt sicher nicht eines gewissen komischen Reizes, daß die ganze Gedankenwelt der völkischen Bewegung und der ihr nahestehenden Philosophen bereits von den Franzosen der Vorkriegszeit in unübertrefflicher Schärfe zur Darstellung gekommen ist. Eine Beschuldigung des Plagiats liegt selbstverständlich nicht vor. Abschreiben kann man nur das, was man gelesen hat.
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Mensch kann diese immanenten Gesetze erkennen. Er kann ihrem Wirken Hindernisse in den Weg legen oder ihre Auslösung dadurch beschleunigen, daß er den Widerstand gegen sie aufgibt. Er kann sie nicht verändern. So wenig er imstande ist, den Kreislauf der Gestirne abzubiegen, auch wenn er ihn genau zu berechnen vermag, so wenig vermag er die Entwicklung der Gesellschaft von den Grundlinien abzudrängen, auf denen sie sich nach ihrem inneren Wesen bewegen muß. Die Gestaltung der Gesellschaft kann nicht nach den willkürlichen Launen der Menschen vor sich gehen. Die Kräfte, aus denen sie besteht, bestimmen sie. Die neue Lehre glaubt nicht an eine vorbestimmte Gesellschaft. Sie verlacht die Vernunft, die die Gesellschaft analysiert, in Teile zerlegt und sie wieder zusammensetzen will wie ein Kind, das mit einer Uhr spielt. Die Menschen haben Willens- und Handlungsfreiheit. Der Weg zur Tat steht ihnen offen. Sie sind stark genug, eine Gesellschaft zu bauen, wenn sie nur den Willen dazu haben und sich über die törichten Regeln hinwegsetzen, die wir Vernunft nennen. Das Leben ist die Tat. Kein starres Gesetz der Mechanik hat der Menschheitsentwicklung die Bahn vorgeschrieben, in der sie abrollen muß. Kein Gott, dessen Handeln der brünstig Gläubige im Gebete zu ahnen versucht, keine bestimmende Natur, deren Willen Vernunft und Wissenschaft erlisten, beherrscht die Welt mit Regeln, die den Menschen zwingen. In freier Gestaltung des Willens kann er sich selbst sein Schicksal schmieden, nicht nach den vorbedachten Formeln klügelnder Vernunft, sondern nach dem jagenden Rhythmus triebhaften Wollens. Freiheit und Willkür, nicht Zwang und Gesetz schaffen die gesellschaftliche Welt. Das ist der Glaube des echten sozialen Revolutionärs. Es ist der Glaube der Soldaten im Großen Krieg. Es wird später der Glaube von Mussolini.
III Die Herrschaft der Gewalt Der Große Krieg hat der Theorie der Gewalt zu einem überwältigenden Triumphe verholfen. Die Kriege der vergangenen Zeiten sind größtenteils von Berufssoldaten ausgefochten worden. Der Große Krieg war ein Krieg der Völker. Jeder einzelne fühlte seine Wirkung täglich am eigenen Leibe, auch wenn er nur im Hinterlande beruflich tätig war. In dieser Beziehung ähnelte der Weltkrieg weit mehr einem gut organisierten Bürgerkrieg, der seiner Natur nach alle Beziehungen der Gesellschaft, die er heimsucht, erschüttert.
1 Der Große Krieg hat die herrschenden Vorstellungen vom Wesen der Regierung nach drei Richtungen beeinflußt: Eine Kriegführung von so gigantischem Ausmaß erforderte die tätige Mitarbeit aller Männer und Frauen. Ein jeder mußte ein Teil in
160 | Krise der Demokratie der gewaltigen Maschine werden, die zur Vernichtung des Feindes geschaffen worden war. Sie mußten nicht nur Leib und Leben, sie mußten auch ihren lebendigen Willen dem Staate opfern, da ihr ganzes Wollen und Streben in eine einzige Richtung umgebogen werden sollte. Kein großes Volk kann eine solche Aufgabe mit kühler Vernunft vollbringen. Die Phantasie muß geweckt, die Leidenschaft zu lodernder Hitze angefacht werden. In jedem Lande ist es Aufgabe der Propaganda gewesen, diese Fieberglut dauernd zu erhalten. In der grauen Dämmerstimmung der Nachkriegszeit, in der die Strahlen der Vernunft die verdunkelte Welt wieder zu erleuchten beginnen, erscheint diese Propaganda seltsam verzerrt. Sie stand vor der Notwendigkeit, die Angehörigen der einzelnen Völker zu leidenschaftlicher Willenseinheit zusammenzuschließen, einem Einheitswillen, der auf dem Glauben an die moralische Überlegenheit der eigenen Nation und die moralische Verworfenheit der Gegner aufgebaut werden mußte. Es ist ihr in allen Ländern gelungen. Die Angehörigen aller Völker sind in den Wirbelsturm blinden Hasses hineingezogen worden. Sie lernten bald den feurigen Glauben an die höhere Kultur des eigenen Volkes mit der ebenso leidenschaftlichen Überzeugung verbinden, daß das soziale und politische System, unter dem es lebte, das System war, das die Vorsehung für die Rettung des Menschengeschlechtes ersonnen hatte. Abgesehen von den paar Leuten, die den Gestellungsbefehlen den Gehorsam verweigerten und so das Recht der Gewissensfreiheit verkündeten, ein Recht, für das die Menschheit seit den Tagen der Reformation so große Opfer gebracht hat, war jedermann bereit, die eigene Vernunft und das eigene Gewissen in die Massenstimmung zu versenken, die im Siege nicht nur den Triumph der eigenen Volkssache, sondern der Bestimmung des Menschengeschlechts sah. Das Zeitalter der Vernunft war in der Tat vorüber. An seine Stelle war vorübergehend ein solches der Leidenschaft und des flammenden Glaubens getreten. Es hat das System des Regierens durch Verhandeln in seinen Untergang mit hineingezogen. In den meisten Ländern wurde zwar der Bestand parlamentarischer Einrichtungen nicht angetastet. Man kann sogar sagen, daß ihr möglicher Einfluß überall gewachsen war. Da sie die Gewalt über die Finanzen besaßen, so hätten sie überall die Regierung in völliger Abhängigkeit halten können. Sie haben es nirgends getan. Sie haben aber allmählich ihre Arbeitsmethoden geändert. Kriegführen heißt handeln, nicht reden. Daher mußte in allen Ländern wenigen Männern das Recht zum Handeln übertragen werden. Diese Männer waren, wo ein ausgereiftes parlamentarisches System bestand, in der Theorie dem Parlament politisch verantwortlich. In Wirklichkeit hatten sie freie Hand. Während der kritischen Perioden des Krieges haben die Ministerpräsidenten von England, Frankreich oder Italien und der Präsident der Vereinigten Staaten eine Machtfülle besessen, neben der die Macht eines Alexander oder eines Cäsar beschränkt war. Wenn die moderne Technik, die die Räume spielend überwindet, im Frieden die Möglichkeiten der parlamentarischdemokratischen Beratung erweitert, so steigert sie im Kriege die Macht eines Diktators ins Ungemessene. Diese übertragenen diktatorischen Vollmachten sind in den
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westlichen Ländern praktisch sehr viel weitergehend gewesen, als diejenigen, die in Rußland und Deutschland von den Monarchen ausgeübt werden konnten. Denn hier waren die beiden zentralistisch organisierten Bürokratien, die militärische Bürokratie, die in der obersten Heeresleitung gipfelte, und die Verwaltungsbürokratie, deren Spitze der führende Minister war, oft in tödlichem Ringen miteinander begriffen. Keiner von beiden konnte die Hegemonie beanspruchen. Der Monarch war selten stark genug, die richtige Unterordnung herbeizuführen. Diese vorübergehende Befreiung der Staatsmänner von der Aufsicht des Parlaments war aber nicht das entscheidende Charakteristikum des Großen Krieges. Der Krieg brauchte nicht nur Menschen, sondern auch Material und Maschinen. Das Wirtschaftsleben der Völker, das sie liefern mußte, wurde auf eine zentralistische Grundlage gestellt und dem freien Wettbewerb entzogen. Kommissare zur Kontrolle der Nahrungsmittel und des Kriegsmaterials sprossen überall auf wie Pilze im Waldesschatten nach einer Regennacht. Bei den Alliierten, wo das Angebot verhältnismäßig elastisch war, beschränkte sich die Kontrolle auf mittelbare Beeinflussung; sie konnte auf den unverhüllten Zwang verzichten. Bei den Mittelmächten, die Mangel an Lebensmitteln und Kriegsmaterial hatten, entwickelte sich eine Art wirtschaftlicher Diktatur. Es war keine einheitlich geschlossene Diktatur, sondern, hydragleich, eine Diktatur mit vielen Köpfen. Das wirtschaftliche Leben der Nation wurde in eine Anzahl Sondergebiete auseinandergerissen, die manchmal beinahe wasserdicht voneinander abgeschlossen schienen. Über jedem Gebiet thronte ein Beauftragter oder ein Ausschuß, die nur ihrem Gewissen, nicht aber den Gesetzen der Volkswirtschaftslehre verantwortlich waren. Das Ideal des kollektivistischen Sozialismus, der die zentrale Leitung von Produktion und Verteilung wünscht, war mit dem Sehnen einer Bürokratie zusammengeschmolzen, die nach Ausdehnung ihres Machtbereichs gierte. Mit den Bürokraten, die die Macht reizte und die vielfach von wirtschaftlichen Kenntnissen nicht beschwert waren, teilten sich geschmeidige Wirtschaftler die Herrschaft, die dadurch den Einblick in die Geschäfte ihrer Wettbewerber erhielten. Blinder Gehorsam gegenüber den Befehlen der Vorgesetzten wurde nicht nur vom Heere gefordert; das Ideal einer despotischen Regierung, die die widerspruchslose Erfüllung ihrer Befehle verlangt, schien auch im bürgerlich-wirtschaftlichen Leben verwirklicht. In irgendeinem Amte drückte ein Beamter auf einen Knopf. Auf seinen Befehl mußten der Direktor einer Fabrik, die Bergarbeiter unter Tag, die Bauern auf dem Lande, die Konsumenten, die vor den Läden anstanden, in Reih und Glied treten. Ehe die Produktion in Schwung kam, ehe die Verteilung beginnen konnte, mußten sie auf das Wunder wirkende Wort warten, mit dem der Treuhänder für Hobelspäne oder der Beherrscher der Kohlköpfe die Maschine in Gang zu setzen für gut befand. Das Ergebnis war mäßig; die Bevölkerung war nicht gut versorgt. Das Angebot stockte; die Mengen reichten nicht aus. Man muß aber zugeben, daß das weit mehr eine Folge der allgemeinen Knappheit war, als der Art der Verteilung. Trotzdem breitete sich das System wirtschaftlicher Unterordnung und der zwangs-
162 | Krise der Demokratie weisen Regelung von Produktion und Verteilung überall aus. Aus dem schäumenden Meer von Blut und Tränen, das über die Grundlagen der Zivilisation hinbrandete, erhob sich Thomas Hobbes’ allmächtiger Staat, „Leviathan“, in triefender, dräuender Scheußlichkeit. Die zahlreichen Gruppen in Mitteleuropa, die immer an einen kollektivistischen Sozialismus geglaubt hatten, sahen in der Wirtschaftsdiktatur die Grundlage für die Verwirklichung ihrer Träume. Sie erkannten natürlich die Mißerfolge. Sie zweifelten an den Methoden, mit denen man ihre Grundsätze zu verwirklichen trachtete; den Glauben an ihre Grundsätze verloren sie nicht. Sie hofften auf eine Zeit, wo wieder Friede sein werde und wo die Erfahrungen, die man im Kriege mit einem System der wirtschaftlichen Diktatur gemacht hatte, Früchte tragen würden. Alsdann werde es möglich sein, durch eine zentralisierte Diktatur Produktion und Verteilung zu kontrollieren und das tausendjährige Reich herbeizuführen. Die Planwirtschaft ist die letzte Blüte gewesen, die am Baume der Kriegswirtschaft sproßte, und die einzige Frucht, die beinah ausgereift, aber längst wurmstichig geworden, an seinen kahlen Ästen hängt, ist die manipulierte Währung. Dafür sind in seinem schützenden Schatten die Blümlein der Korruption in buntem Teppich erblüht. Jeder Krieg ist organisierte Gewalttätigkeit, ist Willkür und Gewalttätigkeit, die auf Befehl von oben ausgeübt werden. Den Autoritäten gegenüber wird strengster Gehorsam verlangt; dem Feinde gegenüber sind der Willkür wenig Schranken gesetzt. Während des Krieges sind die Regeln, die das gesellschaftliche Verhalten der Menschen untereinander im Frieden bedingen, außer Kraft gesetzt. Denn der Krieg sucht die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft zu zerstören. Millionen werden abgerichtet, sich über die Regeln des bürgerlichen Lebens hinwegzusetzen. Der Krieg ist die Verneinung der Grundsätze, auf denen die moderne Zivilisation aufgebaut ist. Er verneint die Unverletzlichkeit des Privateigentums; er verleugnet die Heiligkeit des menschlichen Lebens; er zerreißt die Verträge. Da sein Ziel Zerstörung ist, muß er das tun. Auch wenn die Verletzung der Gesetze, deren Innehaltung die Zivilisation gebietet, auf Befehl der verfassungsmäßig bestellten vorgesetzten Behörden geschieht, so werden doch Millionen an Gesetzlosigkeit gewöhnt. Der Geist der Gewalttätigkeit, der vier Jahre lang ununterbrochen getobt hat, kann sich nicht plötzlich in ein Gefühl der fügsamen Einordnung verwandeln, wenn der Befehl zur Demobilisierung erteilt worden ist. Im Gegenteil, der „Ausbruch des Friedens“ wird zuerst die Neigung vermindern, dem Befehl der bestehenden Autorität zu gehorchen. Er wird die Gemüter nicht sofort beruhigen. Es besteht sogar die Gefahr, daß sie in leidenschaftliche Aufwallung geraten, sobald der Druck der Zentralstellen nachläßt. Die russische Revolution, und in viel kleinerem Umfang die deutsche Revolution, haben die Wahrheit dieser Behauptung bewiesen.
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2 Da der Große Krieg nicht nur ein Krieg der Menschen, sondern auch ein Krieg des Materials und der Maschinen war, lag das Schicksal der Völker in der Hand der Leute, die die Maschinen bedienten. Die Arbeiterklasse wurde das Zentrum des nationalen Widerstandes. Ein großer Streik bedeutete nicht länger die Wahrscheinlichkeit einer größeren oder geringeren Unbequemlichkeit für den ungehinderten Fortgang des gesellschaftlichen Lebens; er hätte den Zusammenbruch der militärischen Maschine, von deren Arbeit das Schicksal des Landes abhing, zur Folge gehabt. In keiner Epoche der Weltgeschichte hat die Arbeiterklasse eine solche Rolle im staatlichen Leben gespielt. Niemals ist sie sich ihrer Bedeutung für die Gesellschaft so sehr bewußt gewesen. In ihrer eigenen Einschätzung war sie weit wichtiger als das Parlament, das das ganze Volk vertrat. Ein Parlament konnte die Gelder bewilligen, die zum Kriegführen notwendig waren. Ob diese Gelder sich aber in Sachgüter verwandelten, deren die Fronten bedurften, das hing von der Mitarbeit der Arbeiter ab, und von ihr allein. So kam es, daß die Arbeiterschaft zur Erringung des Sieges ebenso wichtig wurde, wie das Heer, das dem Feind gegenüberstand. Und die Arbeiterschaft war sich dessen voll bewußt. Solange die Arbeiterschaft in den Krieg führenden Ländern an den Sieg glaubte und die Überzeugung hatte, der Sieg der eigenen Sache werde die Verwirklichung ihrer sozialen, politischen und nationalen Ideale bringen, ging der Krieg weiter. Der Zusammenbruch war aber unausbleiblich, sobald sie diesen Glauben verloren hatte. Das geschah zuerst in Rußland, als das Ausbleiben entscheidender Siege, die furchtbare Verschwendung von Menschenleben, die Unfähigkeit der Verwaltung im Innern, dem russischen Volk den Glauben an seine Regierung genommen hatten. Sie stürzten sie in der Februarrevolution. Die neue Regierung setzte den Krieg fort; die gewaltigen Menschenopfer hörten nicht auf, aber der Sieg blieb aus. Sie stützte sich auf die Intelligenz und die verhältnismäßig schmalen bürgerlichen Schichten Rußlands. Die Massen standen nicht hinter ihr, weder die Bauern, die auf den Schlachtfeldern bluteten, noch die Arbeiter, die in den Städten hungerten. Enttäuscht durch die Unfähigkeit der Regierung, sie zum Siege zu führen, und erbittert über die Hartnäckigkeit bei der Fortsetzung des Krieges, wandten sich die Massen den Kommunisten zu und ließen sich von der organisierten Kommunistischen Partei Rußlands führen. Die Bolschewisten, die mit rücksichtsloser Energie die Macht an sich rissen, glaubten an das Recht der Gewalt. Sie hatten immer die Meinung vertreten, eine kleine zielbewußte Minderheit habe das Recht, mit Waffengewalt die Macht an sich zu reißen, den Staat zu regieren und ihren Willen der Mehrheit durch Einschüchterung und Waffengewalt aufzuzwingen. Nach außen wollten sie Frieden zwischen den Völkern, im Innern den Krieg zwischen den Klassen. Sie waren eine selbstbewußte Minderheit und nicht an das demokratische Prinzip gebunden, das sie verpflichtet hätte, zu warten, bis sie, eine Mehrheit geworden, ihre Reformen friedlich
164 | Krise der Demokratie durch den Stimmzettel durchführen konnten. Sie glaubten weder an Demokratie noch an Parlamente. Parlamente waren für Lenin „Schwatzbuden“, und Volksvertretungen ein Betrug an der Bevölkerung, die nur an einem einzigen Tage, an dem Tag, da sie ihre verräterischen Vertreter wählte, einen Schatten der Macht hatte. Und Demokratie war für ihn nur eine andere Form der Herrschaft des Staates. Der Staat ist die Regierung. Jede Regierung beruht auf der Armee und der Bürokratie. Im Interesse der Gemeinschaft sind beiden bestimmte Funktionen übertragen worden; sie haben diese für ihre eigenen, privaten Zwecke ausgebeutet. Sie müssen daher ausgerottet werden, und das Volk muß lernen, nicht nur sein eigener Gesetzgeber, sondern auch sein eigener Verwaltungsbeamter zu sein. Der Besitz gleicher politischer Rechte, der jedermann den gleichen Einfluß auf die Regierung gewährt, dieser hauptsächlichste Wesenszug der Demokratie, hat rein formale Bedeutung. Denn solange der Reichtum in der Hand einer wenig zahlreichen Klasse von Kapitalisten liegt, wird die wirtschaftliche Macht dieser Klasse die politische Macht stets untergraben, die infolge der formalen Gleichberechtigung den übrigen Teilen der Bevölkerung zusteht. Die Arbeiterklasse kann diese Herrschaft nur mit Gewalt brechen. Sie muß sich der militärischen Machtmittel bemächtigen und die Bürokratie beseitigen. Wenn sie dem Gegner die Kanonen wegnehmen kann und sie selbst zu bedienen weiß, dann hat sie die physische Macht, die zur Umwandlung der Gesellschaft notwendig ist. Sie braucht nicht zu warten, bis sie es zu einer Mehrheit gebracht hat. Und da sie gleichzeitig die organisierten Produzenten darstellt, so besitzt sie auch die wirtschaftliche Macht. Abgesehen von einem Streik der Bauern hat sie nichts zu fürchten. Den Willen der Kapitalisten kann man brechen. Sie können sich nicht einmal mit einem Streik zur Wehr setzen; die Sabotage der paar Kapitalisten, deren Mitarbeit für das Wohl der Gesellschaft wirklich nötig ist, kann man durch Erschießen und Einschüchterung leicht bezwingen. Der Krieg hat dem russischen Proletariat die Waffen gegeben, die es der Minderheit ermöglichten, eine Gewaltherrschaft aufzurichten. Er hat ihm überdies Führer gegeben, die aus der mit Blut erkämpften Herrschaft ein System der Heilslehre zu schaffen verstanden, das allen Unterdrückten Erlösung verhieß. Die Bolschewisten, die keine Aussicht hatten, so bald zu einer Mehrheit zu werden, organisierten ihre Herrschaft als bewußte Minderheitsherrschaft im Rätesystem. Die in einem Betriebe beschäftigten Arbeiter oder die an einem Ort befindlichen Soldaten bildeten einen Wahlkörper und wählten einen Rat aus ihrer Mitte. Dieser Rat regierte den Betrieb oder die Gemeinde. Auf dieser losen Organisation, die im Jahre 1905 bei der ersten Revolution aus der Not des Augenblicks geboren war, erhob sich der Aufbau eines allgemeinen Rätesystems. Die örtlichen Räte sandten aus ihrer Mitte Vertreter in einen Provinzialrat. Die Provinzialräte ihrerseits schickten Abgeordnete in den Zentralrat für ganz Rußland, in dessen Händen die politische Macht lag. Die Befürworter dieses „Sowjetsystems“ erhoben den Anspruch, ein ganz neuartiges Regierungssystem geschaffen zu haben, das die Masse sowohl vom Drucke des despotischen Absolutismus, als auch von der Korruption
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des bürgerlich-demokratischen Parlamentarismus befreie. Es galt als vollkommener theoretischer Gegensatz des parlamentarischen Systems. Das Sowjetsystem war ein Bund von Gemeinden und Betrieben, den losen Bünden der Vergangenheit durchaus ähnelnd, bei denen die Gemeinden, wie z. B. die neuenglischen Stadtgemeinden, aus ihren örtlichen Vertretungen eine Zentralkörperschaft bildeten. Von demokratischen Volksvertretungen unterschied es sich grundsätzlich nur in einer Hinsicht: Das Wahlrecht stand ausschließlich einer Minderheit, den Arbeitern und ärmeren Bauern, zu. Die Intellektuellen, die Beamten, die größeren Bauern, die aristokratischen Grundbesitzer und die eigentliche Bourgeoisie waren politisch entrechtet. Dieses Wahlrecht verkündete der ganzen Welt den Herrschaftsbeginn der Aristokratie des Proletariats, und damit die geistige Überlegenheit und die überragende gesellschaftliche Bedeutung der Klassen, die bis dahin als Unterschicht der Gesellschaft gegolten hatten. Dank ihrer sozialen Tüchtigkeit hatten sie die Herrschaft mit Gewalt gewonnen. Damit die Welt nicht um die Früchte ihrer Tüchtigkeit betrogen werde, mußten sie diese Vorherrschaft mit militärischer Gewalt und politischer Entrechtung der Mehrheit forterhalten. Diese neue gesellschaftliche Ordnung stellte nur eine Umkehrung des feudalen Prinzips dar. Der ehemalige Leibeigene nahm die Privilegien seiner früheren Herren für sich in Anspruch. Als Verfassungssystem war das Sowjetsystem von anderen Systemen der Volksvertretung nur in Nebenpunkten verschieden. Die Mandatsdauer war auf drei Monate beschränkt. Das Mandat war imperativ. Das Recht der Abberufung war ausdrücklich festgelegt. Die Exekutive war, wie in den primitiven Demokratien des Westens, von der Legislative nicht geschieden. Man erwartete von den Abgeordneten, daß sie die verschiedenen Exekutivbefugnisse, die unter einem anderen Regierungssystem der Bürokratie vorbehalten sind, der Reihe nach ausüben würden. Der Haß des russischen Volkes gegen die Bürokratie, die es lange Jahre hindurch niedergetreten hatte, war so groß, daß es ihre Fortdauer auch dann nicht dulden wollte, als es ihr Herr geworden war. Das Sowjetsystem stellte eine losgefügte Rätehierarchie dar, deren Unterstufe Gemeinden und Betriebe bildeten, deren Wahlrecht das Vorrecht einer bestimmt umschriebenen Minderheit war. Dieses Wahlrecht des Sowjetsystems war eine Verneinung der Demokratie, nicht des Parlamentarismus, denn der Parlamentarismus hat jahrzehntelang auf dem Klassenwahlrecht beruht. Die Verneinung des Parlamentarismus lag nicht in der Theorie des Rätesystems begründet, sondern in der Berufung auf Gewalt, als Naturrecht der Minderheiten; in der tatsächlichen Diktatur des Proletariats, nicht in ihrer formalen Verfassung. In einem Lande der weiten Räume, wie Rußland, in dem sich die Macht einer Zentralstelle nur dann auswirken kann, wenn sie in den Händen von Männern mit rücksichtsloser Energie liegt, und wo es überall nur eine kleine Minderheit klassen- und zielbewußter Arbeiter gab, die für die Rechte ihrer Klasse einzutreten bereit waren, war seine Anwendung natürlich. Seine Theorie entsprach der Neigung zur Auflösung in örtliche Bestandteile,
166 | Krise der Demokratie die beim Absterben eines starken Zentralismus immer an den Tag zu treten pflegt; sein praktisches Ergebnis war die rücksichtslose Brutalität, mit der Männer wie Lenin und Trotzky dieser Tendenzen Herr wurden und ihre sozialen Gedanken in die Tat umsetzten. Ihr Erfolg beruhte einmal auf dieser gewaltigen Kraftentfaltung. Er beruhte zum anderen darauf, daß es ihnen geglückt war, um dieses Rätesystem einen Zauberschleier zu weben, der es den Mühseligen und Beladenen, den Völkern, die unter den Tritten ihrer Eroberer stöhnten, als Symbol der kommenden Freiheit erscheinen ließ.
3 Als im November 1918 die Monarchie in Deutschland und Österreich erlosch, wie das Öllämpchen am Bette eines Sterbenden erlischt, weil das Öl verbraucht ist, ohne das es eines Atemzugs bedurft hätte, befeuerte das Beispiel Rußlands die Phantasie der Massen. Die wirkliche Macht lag in den Händen der Soldaten, die sich zu Soldatenräten zusammentaten, und der Arbeiter, die Arbeiterräte bildeten. Eine leidenschaftliche Agitation raste durch Deutschland, um diesen Zustand zu verewigen und eine neue Gesellschaft auf der Grundlage der russischen Grundsätze aufzubauen. Die deutsche Arbeiterschaft, vertreten durch die Mehrheit der Volksbeauftragten, bekannte sich zu den Grundsätzen der Demokratie. Sie war in jahrzehntelanger Agitationsarbeit in dem Glauben geschult worden, daß die Entwicklung der Gesellschaft sich nach immanenten Naturgesetzen vollziehe; sie hatte als Erbe des politischen Idealismus der Liberalen Volksmehrheitsrechte gegen Klassenminderheitsrechte verteidigt. Sie glaubte an Gesetz und Ordnung und haßte die Gewalt. Sie erstrebte eine demokratische Verfassung. Die Sowjetpartei dagegen, die kleine Gruppe, die sich um Liebknecht und Rosa Luxemburg scharte, bekämpfte das parlamentarische System. Sie wollten keine Demokratie. Sie befürworteten die Einführung des russischen Systems in Deutschland und forderten alle Macht für die Arbeiter- und Soldatenräte. Sie waren eine sehr kleine Minderheit. Aber sie glaubten an das Recht der Minderheit, der Mehrheit ihren Willen aufzuzwingen, wenn sie nur stark genug dazu war. Sie beriefen sich auf das Recht der Gewalt und forderten die Massen zur Gewalttätigkeit auf. Sie waren, wie die Russen, Pazifisten nach außen und Terroristen nach innen. Sie glaubten gleich ihnen an Frieden unter den Völkern und Krieg unter den Klassen. Dank dieser friedfertigen Haltung nach außen sind sie von ihren westlichen Bewunderern über alles Maß gepriesen worden. Und diese Belobung hat auch dann nicht aufgehört, als sie im eigenen Volk den Klassenkampf entfachten. Die gleichen Leute in den westlichen Demokratien, die den Kreuzzug gegen den russischen Bolschewismus predigten, haben oft genug ihr ganzes moralisches Gewicht zugunsten des deutschen Bolschewismus, der das Aufkommen einer deutschen Demokratie zu
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verhindern suchte, in die Wagschale geworfen. Noch heute gibt es in den westlichen Ländern manche Liberale, insbesondere in Amerika, für die schon das Wort „Sozialismus“ ein Kinderschreck ist und die doch mit gebrochener Stimme den großen Verlust beklagen, den die Sache der Menschheit durch die Niederlage der deutschen Bolschewisten erlitten habe. Nach der Niederlage der deutschen Bolschewisten war das demokratische System, zum mindesten vorübergehend, in Westeuropa gesichert. Die Mehrheit hatte über die Minderheit, Gesetz hatte über Gewalt gesiegt. Das Verdienst hieran gebührt ausschließlich der deutschen Arbeiterklasse. Hätten die organisierten Sozialdemokraten und die deutschen Gewerkschaftler nicht ihre ganze Macht aufgeboten, so hätte der Bolschewismus gesiegt. Die deutsche Arbeiterschaft, und sie allein, hat Europa vor dem Bolschewismus gerettet. Sie hat wenig Unterstützung bei den damals völlig machtlosen bürgerlichen Schichten gefunden. Und die einzige Hilfe, die ihr vom Ausland zuteil wurde, war die Fortdauer der Blockade. In dem furchtbaren Winter 1918/19 ist der Bolschewismus und mit ihm das Rätesystem in Deutschland erledigt worden. Die Bolschewisten hatten vorübergehende Erfolge in Südbayern und in Ungarn, beides Länder mit einer vorwiegend ländlichen Bevölkerung und einer verhältnismäßig schwach organisierten industriellen Arbeiterklasse. Im Frühjahr 1919 war die Niederlage des Rätesystems in Deutschland besiegelt, auf dem deutschen Boden, wo so oft die großen europäischen Entscheidungen gefallen sind. Aber diese Niederlage war nicht vollständig. Drei Dinge blieben übrig, die für die Zukunft von größter Bedeutung werden sollten. Die eben erst geschaffene deutsche Demokratie hatte ein neues Heer bilden müssen, um den gewalttätigen Bolschewismus mit physischer Gewalt niederzuwerfen. Sie mußten sich dabei der Dienste der Offiziere des alten Heeres bedienen, von denen viele innerlich an die alte Ordnung gebunden waren. Die Lehre von dem Recht der Gewalt war in das innere Leben der Völker eingeführt worden. Sie verschwand nicht mit der Niederlage derjenigen, die sie zuerst angewandt hatten. Die Bolschewisten hatten sich auf das Recht der Gewalt berufen; sie hatten die Probe aufs Exempel gemacht. Sie waren mit dem Rechte der Gewalt niedergeschlagen worden. Die Anwendung militärischer Gewalt war so zu einer anerkannten Methode geworden, mit der man Meinungsverschiedenheiten und Interessengegensätze innerhalb des eigenen Volkes zum Austrag bringen konnte. Ganz Europa hat sich an diese Lehre gewöhnt. Ob es sich um bayerische Einwohnerwehren handelte oder um Fascisten, die auf Rom marschierten, um Rote Armeen, die in Thüringen aufstanden, oder um erwachende Magyaren, die Legitimität des Bürgerkrieges ist beinahe ein anerkannter Grundsatz geworden. Und schließlich ist die Gloriole des Rätesystems als eines Systems politischer Einrichtungen, das von den üblichen parlamentarischen Systemen grundsätzlich verschieden ist, mit der Niederlage des russischen Systems in Deutschland nicht völlig verblaßt. Der Erlösungsglaube an die Heilkraft der Räte hat noch lange fortgelebt.
168 | Krise der Demokratie IV Die Auflösung des Staates 22 Die Novemberrevolution hatte den Sozialismus in Mitteleuropa zum Siege geführt. Er hatte stets kollektivistische Ideale verfolgt; er hatte jetzt, so schien es, die politische Macht, sie zu verwirklichen. Zu seiner Verfügung stand ein Regierungsapparat, der in der Kriegszeit seinen Wirkungsbereich auf das ganze Wirtschaftsleben ausgedehnt hatte. In diesem Augenblick, als die ganze Welt den Beginn einer Ära des Staatssozialismus erwartete, ging die Maschine, die das alte Regime für seine Zwecke geschaffen hatte, vollständig in Stücke. Sie war dem Druck, der auf ihr gelastet hatte, nicht gewachsen. Regierung und Regierte hatten geglaubt, mit ihrer Hilfe Probleme der Produktion und der Verteilung lösen zu können, die ihrem inneren Wesen nach überhaupt unlösbar waren. Die Verwaltungsmaschine lief weiter. Aber jedermann wußte, daß sie leer lief.
1 Der Glaube an den Überstaat, den Bürokratie und Sozialisten geteilt hatten, verflüchtigte sich in dem Augenblick, in dem die Kollektivisten die Herrschaft im Staate übernahmen. Die Produktion war auf einem Tiefpunkt angelangt. Wenn die Nation leben wollte, so mußte sie gesteigert werden. Man konnte sie nur steigern, wenn man den individualistischen Kräften, die im privaten Unternehmertum steckten, freie Bahn gewährte. Wenn Staat und Gesellschaft die Krisis überhaupt überdauern wollten, mußten die neuen Herren zum mindesten zeitweilig darauf verzichten, die Macht auszuüben, die sie soeben erworben hatten. Sie brauchten die Hilfe der privatkapitalistischen Unternehmer, deren politische Stellung in der gerade vollendeten Revolution scheinbar für immer vernichtet worden war. Denn diese Unterneh|| 22 In einer kleinen, „Die Auflösung des modernen Staates“ betitelten Schrift (Verlag für Politik und Wirtschaft) habe ich schon im Jahre 1921 auf diese Gefahr aufmerksam gemacht. Diese Schrift war der Niederschlag der Erfahrungen, die ich in den Jahren 1920/21 als Berater der Reichsregierung für die Reparationsfrage gemacht hatte, insbesondere bei den Verhandlungen in Spa. Damals hatte ein Teil der Kohleninteressenten unter Führung von Hugo Stinnes den Versuch gemacht, die Regierung zur Ablehnung des Kohlenultimatums zu veranlassen, obwohl sie wußten, daß das zu einer Besetzung des Ruhrgebiets führen müsse. Sie bildeten sich ein, man werde in ein paar Wochen mit den Franzosen fertig werden, obwohl es sich damals nicht um einen gesonderten Akt der Franzosen und Belgier handelte, da auch die Engländer und Italiener zur Teilnahme an der Besetzung bereit waren. Die Regierung kam ihren Forderungen nicht nach; sie nahm das Ultimatum an, konnte aber dabei einer Anzahl sehr wichtiger Vergünstigungen durchsetzen. Unter anderem erlangte sie eine große Anleihe von den Alliierten – ohne Pfänder –, die einzige Anleihe, die vor der Dawes-Anleihe gewährt wurde. Trotzdem wurde ein gewaltiges Kesseltreiben seitens der Interessenten gegen die Regierung und diejenigen Sachverständigen eröffnet, die sich ihre Meinung nicht nach den Wünschen der Interessenten gebildet hatten.
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mer waren die Hauptnutznießer des privatkapitalistischen Systems gewesen, das bis dahin geherrscht hatte. Die Kreise, deren Dasein die Revolution, zum mindesten in der Zukunft, beenden wollte, wurden auf einmal die wichtigsten Träger des ganzen Gesellschaftslebens. Denn ohne ihre Initiative war ein geordnetes Wirtschaftsleben nicht möglich. Sie waren durchaus bereit, ihre Geschäfte weiterzuführen, soweit ihr Privatinteresse mit den Bedürfnissen der Allgemeinheit übereinstimmte. Sie benutzten aber natürlich die Gelegenheit, um von ihrem Standpunkt aus die neue politische Ordnung möglichst unschädlich zu machen. Die Mehrzahl der deutschen Sozialdemokratie waren gemäßigte Leute. Sie hatten den Bolschewismus erfolgreich bekämpft; sie dachten nicht im entferntesten daran, Privateigentum ohne Entschädigung zu enteignen. Sie erkannten die Notwendigkeit der privaten Initiative. Sie mußten aber auf die Erregung Rücksicht nehmen, die einen großen Teil der Arbeiterschaft erfaßt hatte und die die Fortdauer der großen privaten Monopole, insbesondere bei Kohle, unmöglich machte. Nicht nur im Staate, auch in der Unternehmung war das Zeitalter blinder Unterordnung vorüber. Die Arbeiter wollten eine Kontrolle der Unternehmungen ausüben und erstrebten eine Art Teilhaberschaft. Wenn die Werke, wie früher, autoritär verwaltet wurden, war eine Steigerung der Produktion ausgeschlossen. Die Unternehmer wollten Freiheit vom Staat, weil die Arbeiter ihn beherrschten; die Arbeiter wollten Freiheit vom Unternehmer. Die italienische Arbeiterschaft stürmte 1920 die Betriebe, die deutsche begnügte sich mit Betriebsräten, verlangte aber die Sozialisierung der monopolistischen Industrien. Die Sozialisten hatten aber bei den Wahlen zur Nationalversammlung keine Mehrheit erlangt. Die Bildung einer ersten Koalitionsregierung war notwendig geworden. Der Sozialismus mußte in Deutschland mit einer, starken individualistischen Opposition, wie sie sich in jedem Bauernlande vorfindet, rechnen, die allen weitgehenden Sozialisierungsversuchen schon aus Furcht vor der Nationalisierung des Bodens Widerstand entgegengesetzt hätte. Die besitzenden Klassen erkannten bald, daß für den Augenblick die Gefahr vorbei war. Im Laufe der Zeit mußte aber die Arbeiterklasse an Zahl zunehmen; sie würde wahrscheinlich ihre inneren Zwistigkeiten überwinden. Dann mußten die besitzenden Klassen, auch wenn sie sich auf die Bauern stützen konnten, schließlich einmal zu einer Minderheit werden. Sie hatten keine Aussicht, ihre wirtschaftlich privilegierte Stellung etwa durch ein Klassenwahlrecht zu sichern, wie es vor der Kriegszeit bestanden hatte. Die bolschewistische Gefahr war nur durch die Aufbietung der Demokratie beseitigt worden. Es war ausgeschlossen, von dieser Demokratie die Aufgabe der eigenen Grundsätze zu verlangen, für die die Arbeiter das Blut ihrer Brüder vergossen hatten. Der Weg, den die ungarische Oligarchie nach dem Siege der Rumänen über die Bolschewisten beschritten hatte, war in Deutschland ungangbar. Bei dem bestehenden Wahlrecht in Deutschland und Österreich waren die Großstädte und die Industriebezirke die sichere Domäne der Arbeiterklasse. Man mußte annehmen, daß sie im Laufe der Zeit stark genug werden würden, um ihre sozialistischen Ziele zu verwirklichen. Es gab
170 | Krise der Demokratie scheinbar keine Möglichkeit, diese Gefahr zu bannen, solange man in einem zentralisierten einheitlich organisierten Staate lebte, den die Sozialisten beherrschten.
2 Während der letzten fünfzig Jahre und insbesondere während des Krieges hatte die Zentralisation in Deutschland große Fortschritte gemacht. Die Schaffung der Finanzhoheit des Reichs und die Übernahme der Staatsbahnen waren der letzte Schritt in dieser Richtung gewesen. Diese Zentralisation war im Lande nicht populär, da der deutsche Partikularismus immer sehr stark gewesen war. Es schien indes, als ob die Notwendigkeit des wirtschaftlichen Wiederaufbaus alle Hindernisse, die eine völlige Unifizierung hemmten, aus dem Wege räumen würde. Die entschiedensten Anhänger dieser Bewegung waren natürlich die Sozialisten. Sie verfügten in den industriellen Teilen der deutschen Republik über geschlossene Massen, deren Stärke ihnen schließlich den beherrschenden Einfluß in einem zentralisierten Reich geben mußte. Zerlegte man aber die Republik, wie vor dem Kriege, wieder in einzelne Staaten, so ergaben sich weite Gebiete, in denen eine sozialistische Herrschaft ausgeschlossen war. Das galt insbesondere für Bayern, aber auch für eine ganze Anzahl anderer vorwiegend landwirtschaftlicher Landesteile. Daher war es ganz natürlich, daß bald nach der Revolution die Gegner des Sozialismus sich mit den Fragen des Bundesstaates und der Provinzialautonomie eifrigst beschäftigten. In der alten Zeit waren es gerade die Fabrikanten gewesen, die das Rückgrat der unitarischen Bewegung gebildet hatten, denn sie wollten einen möglichst großen, durch Zollschranken nicht zerrissenen Markt. Sie fürchteten überdies die Launen der einzelstaatlichen Parlamente, in denen landwirtschaftliche Interessen dominierten. Sie hatten das größte Interesse an einer einheitlichen sozialen Gesetzgebung und an Bürgschaften gegen die unterschiedliche Besteuerung der Industrie. Eine einzelstaatliche, agrarisch gesinnte Majorität war nur allzu leicht geneigt, ungerechte Steuern einzuführen, mit Zolltarifen zu spielen und unzweckmäßige Eisenbahntarife festzusetzen. So groß aber diese Gefahr war, so konnte man sich bei ihr doch auf eines verlassen: Sie würde unter allen Umständen die Rechte des Privateigentums respektieren. Da die autoritäre Zentralregierung der Vergangenheit verschwunden war und da ihre Macht für die Zukunft in die Hände der Arbeiterklasse gelangt zu sein schien, so wechselten die Unternehmer ihren Standpunkt. Sie wurden zeitweilig Partikularisten. Alle möglichen Pläne über die Schaffung von Einzelstaaten wurden geschmiedet, die zwar innerhalb der Grenzen des Deutschen Reichs bleiben, aber in allen Fragen des Eigentums und der Wirtschaft dem Eingriff der Zentralregierung nicht unterstehen sollten. Die Führer der Wirtschaft hofften, in den Einzelstaaten durch ein Bündnis mit den Großgrundbesitzern und den Bauern die politische Kontrolle in die Hand zu bekommen. In der ersten Zeit der Revolution, als der Bolschewismus eine wirkliche Gefahr war, hatte sich
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sogar in den besetzten Gebieten eine Bewegung entwickelt, die die Loslösung von der Republik erstrebte. Hinter dem Rücken des Besatzungsheeres hoffte man sich des Bolschewismus zu erwehren und das bestehende System des Privatkapitalismus vor dem Untergang retten zu können. Der Zusammenbruch des Bolschewismus machte diesen Spielereien ein Ende. Alle Versuche der französischen Generäle, eine separatistische Bewegung ins Leben zu rufen, scheiterten. Obwohl der Partikularismus in vielen Teilen Deutschlands sehr stark war, sahen auch die Bevölkerungsschichten, die in heftigster Opposition zur Zentralisation standen, sehr schnell ein, daß die lokale Autonomie, die man einem feindlichen Besatzungsheer verdankt, weit schlimmer ist als die weitgehendste nationale Unifizierung. Die französischen Generäle haben sich durch ihre politische Betätigung am Rhein um die Verbreitung dieser Erkenntnis und damit um die Einheit des deutschen Volkes und die Stärkung des deutschen Zusammengehörigkeitsgefühls äußerst verdient gemacht. Die Politik der Auflösung des Reichs in politisch ganz oder halb souveräne Staaten ist in Deutschland aussichtslos gewesen, während sie in Österreich, wo die gleichen Kräfte an der Arbeit waren, zu einer Lähmung des Bundes geführt hat. Dagegen haben Bestrebungen, das Reich in Wirtschaftsprovinzen oder Wirtschaftsbezirke zu zerlegen, denen Selbstregierung in allen wirtschaftlichen Fragen zustehen sollte, noch lange angehalten. Es bestand der Plan, der Zentralregierung, die unter dem Einfluß der Sozialisten stand, die wirtschaftliche Verwaltung wegzunehmen und sie in die Hände provinzieller Autoritäten zu legen, auf die die besitzenden Klassen Einfluß ausüben konnten. Diese ganzen Bestrebungen waren an und für sich nicht neuartig. Selbst ein so stark zentralisiertes Land wie Frankreich hat eine regionalistische Bewegung, in der wirtschaftliche Beweggründe stark anklingen. Jede Gesellschaft, innerhalb derer sich gegensätzliche, unversöhnliche soziale Systeme befinden, wird immer wieder von politischen Loslösungsbestrebungen erschüttert werden. Sie wird daher versuchen, diese Spannung durch Gewährung wirtschaftlicher Autonomie zu überwinden. Als in den Vereinigten Staaten der Gegensatz zwischen dem sklavenhaltenden Süden und dem auf freier weißer Arbeit beruhenden Norden fühlbar geworden war, hat man die nationale Einheit durch Zerlegung in zwei geographisch getrennte, gleichberechtigte soziale Systeme zu retten gesucht. Eine Linie, die Mason- und Dixon-Linie, wurde gezogen. Nördlich derselben war die Sklaverei unmöglich. In den Staaten, die sich südlich von ihr erstreckten, war sie das anerkannte, herrschende soziale System. Dieser Kompromiß hat den Fortbestand der Union über vierzig Jahre lang ermöglicht und den Bürgerkrieg aufgeschoben, dessen letztes Ergebnis die Beseitigung der Sklaverei als soziales System gewesen ist. Die Bestrebungen, das Deutsche Reich als Wirtschaftseinheit in eine Anzahl wirtschaftlich autonomer Gebiete aufzulösen, durften mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit des Erfolges rechnen. Die politische Macht war allerdings zeitweilig auf die arbeitende Klasse übergegangen. Dagegen war die wirtschaftliche Macht in den Händen der Grundbesitzer und der Unternehmer schon während des Krieges
172 | Krise der Demokratie gewaltig gewachsen. Die kleinen Kapitalisten und die Rentner, sowie die Intellektuellen, die ihrer ganzen Gesinnung nach immer Unitarier gewesen waren, hatten an Bedeutung verloren. Die soziale Revolution im Gefolge der Inflation hat diese Schichten, wenn nicht völlig beseitigt, so doch zu völliger Einflußlosigkeit verdammt. Der nicht auf Machtausübung bedachte und daher politisch harmlose Kapitalismus der Rentner ging zugrunde; der machtgierige, reichtumraffende Privatkapitalismus des Großgrundbesitzes und der Industriellen schoß üppig in die Halme empor. Während die Sozialisten versicherten, das Totenglöcklein des Kapitalismus habe über ganz Europa geläutet, wurden die „aktiven“ Kapitalisten reicher und mächtiger, als sie je gewesen waren. Da ihre Mitarbeit unentbehrlich war, betrachteten sie sich als das Rückgrat der Völker. Sie waren durchaus bereit, die Verantwortung für den wirtschaftlichen Wiederaufbau Europas zu übernehmen. Sie hatten aber ihre Bedenken, ob das Geschäftsleben in einem sozialistischen Staate, in dem sie nur die Minderheit darstellten, den nötigen Schutz genießen werde. Sie konnten weder die Wiedereinführung des Klassenwahlrechts erstreben, noch hatten sie die mindeste Lust, sich ernsthaft einer der unter französischem Einfluß stehenden separatistischen Bewegungen anzuschließen, obwohl sie manchmal mit solchen Gedanken zu spielen schienen. So blieb nur die Schaffung selbständiger Wirtschaftsprovinzen. Sie hatten aber ihre Macht überschätzt. Die öffentliche Meinung erkannte bald, daß die reichen Provinzen dadurch zur Domäne bestimmter Wirtschaftskreise werden würden, von denen nicht nur die breiten Massen der Provinzbewohner, sondern auch die anderen, ärmeren Provinzen, wirtschaftlich und damit politisch abhängig sein würden. Da keine Möglichkeiten gegeben schienen, um diesen Kreisen des Unternehmertums dem bestehenden Staat gegenüber Macht und Sicherheit zu gewährleisten, mußten sie ihre Stellung zum Staate ändern.
3 In der Vergangenheit waren die besitzenden Klassen die Fürsprecher einer starken Staatsgewalt gewesen, denn die Regierung schützte ihre Interessen. Der alte Staat war ihr Staat gewesen. Wohl hatten sie sich gelegentlich zur Wehr gesetzt, wenn er auf dem flachen Lande ihre Vorherrschaft zu brechen oder im industriellen Leben in die Sphäre der privaten Geschäfte einzugreifen suchte. Sie hatten aber seine Autorität schließlich immer wieder gestützt. Der neue Staat war in den Händen der Arbeiterklasse, die in der Vergangenheit nicht als gleichberechtigt gegolten hatte. Die Revolution hatte die Dinge auf den Kopf gestellt: Sie schien jetzt übergeordnet zu sein. Der Staat war nicht länger die verbündete Macht, deren Autorität man stärken mußte, wenn man auf ihre Unterstützung rechnen wollte. Er war zum Feind geworden. Man mußte also versuchen, den Wirkungsbereich des Staates zu verengern, sei es durch die Schaffung autonomer Wirtschaftskörper oder noch besser durch völlige Beseitigung der wirtschaftlichen Funktionen des Staates. Die Regierungsmaschine
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war im Kriege technisch heruntergekommen. Da die Finanzen sich in einem kläglichen Zustand befanden, war die Möglichkeit einer wirksamen Regierungstätigkeit sehr eingeschränkt. Der Vertrag von Versailles hatte die Souveränität Deutschlands zwischen der Rheinlandkommission, der Reparationskommission, der Botschafterkonferenz in Paris und dem Völkerbund gesplittert, ganz abgesehen von den verschiedenen Überwachungskommissionen und den Übergriffen der Besatzungsarmee. Man hatte der deutschen Regierung den Schein der Unabhängigkeit nach außen gelassen. Man gab ihr aber nicht die Möglichkeit, eigene Politik zu treiben. Sie war in den entscheidenden Fragen ein bloßes ausführendes Organ, das die Vorschriften anderer Mächte durchführen mußte, das aber die Verantwortung für diese Durchführung zu tragen hatte. Nach außen hatte der Staat keine Macht, nach innen kein Geld. Die großen Unternehmer betonten immer wieder den finanziellen Zusammenbruch des Staates, dem sie die Blüte der Wirtschaft entgegenhielten. Die Riesenunternehmungen, die sich in Deutschland entwickelt hatten, konnten daher, so schien es, auf die Dienste einer solchen Regierung leicht verzichten. Da Krieg und Revolution die Bedeutung der Arbeiterklasse gehoben hatten, konnte man die Funktionen der Regierung auf das Äußerste beschneiden, wenn man eine regelmäßige Zusammenarbeit zwischen der organisierten Arbeiterschaft und dem organisierten Unternehmertum zustande brachte. In den Tagen des Zusammenbruches ist das in Deutschland in der Tat in der Zentralarbeitsgemeinschaft versucht worden. Es entstand eine neue Manchesterlehre, die die Staatstätigkeit aus weiten Gebieten des Lebens verdrängen wollte. Der Staat, so argumentierte man, ist bestenfalls ein kostspieliger Luxus, den sich ein armes Land kaum leisten kann; er ist schlimmstenfalls eine Zwangsanstalt, die von den Gegnern des legitimen Geschäftslebens, den sozialistischen Massen, beherrscht wird. Die Wirtschaft kann sehr gut ohne eine Regierung leben, da diese die Geschäftsleute viel nötiger braucht, als jene die Regierung. Zeitweilig wurde eine Lehre von der Nichteinmischung der Regierung in das Wirtschaftsleben verkündet, die mit den Tatsachen in eigenartigem Widerspruch stand. Während man ein neues Manchestertum proklamierte, saßen große und kleine Beamte in vertrauter Zusammenarbeit mit Gewerkschaftssekretären und Unternehmersyndizis in Außenhandelsstellen und regulierten unter völligem Ausschluß der Öffentlichkeit die Preisgestaltung in den ihnen überlassenen Wirtschaftszweigen. Man nannte das die „Selbstverwaltung der Wirtschaft“. Die neue Manchesterschule hätte am liebsten alle wirtschaftlichen Streitfragen durch Vereinbarung der beteiligten Arbeitnehmer und Arbeitgeber gelöst. Die Regierung sollte sich nicht einmischen. Denn die Gefahr lag nahe, daß der Einfluß der nicht unmittelbar beteiligten öffentlichen Meinung bei der Regierung in irgendeiner Weise zur Geltung kommen und damit die herzerfreuende Harmonie stören könne, mit der Arbeitgeber und Arbeitnehmer aus dem Leder anderer Leute ihre Riemen schnitten. Denn diese wirtschaftliche Selbstverwaltung sollte sich nicht auf die Gestaltung des bloßen Arbeits- und Angestelltenverhältnisses beschränken. Die Vertreter dieser
174 | Krise der Demokratie Form der „Selbstregierung“ wollten alle wirtschaftlichen Fragen in diese Gremien hineintragen, einschließlich der großen nationalen Fragen, wie die Fragen, der Besteuerung und die Reparationsfrage. Sie übersahen vollkommen, daß ein System der Selbstregierung nur dann Segen bringen kann, wenn, die Tätigkeit der mit Selbstregierung betrauten Körper die Interessen der nicht vertretenen oder nicht genügend vertretenen Außenseiter nicht verletzt. Der Abschluß von Lohntarifen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ist aber kein einfacher Akt der Selbstverwaltung. Er muß natürlich schließlich die Preisgestaltung beeinflussen. Die Preise werden aus der Tasche der Konsumenten gezahlt, die in diesem Selbstverwaltungskörper nicht, oder zum mindesten nicht ausreichend, vertreten sind. Das neue Manchestertum kümmerte sich nicht um den Konsumenten; es sah in der Produktion einen rein technischen Vorgang. Es begriff nur unvollkommen, daß der Konsument nicht nur Zweck, sondern in gewissem Sinne auch Leiter der Produktion ist, da von seinen Bedürfnissen und von seiner Kaufkraft der Absatz, und damit die Rentabilität der gesamten Kapitalanlagen, abhängt. Es berücksichtigte nur die Produzenten. Es ging von der Annahme aus, daß die Arbeiter in ihrer Eigenschaft als Produzenten ausschließlich durch ihr Interesse an hohen Löhnen beeinflußt würden, wie die Unternehmer nur an hohe Preise dachten. War das der Fall, dann konnte man sie ruhig sozialistische Träume träumen lassen. Sie mußten sich dann bei allen praktischen Verhandlungen auf die Seite ihrer Unternehmer stellen, mit denen sie als Lohnempfänger das „Brancheninteresse“ teilten. Eine Neigung dazu war zweifelsohne vorhanden. Sie wurde von den Unternehmern weidlich ausgenutzt. Als die westfälischen Bergarbeiter eine mäßige Lohnerhöhung verlangten, hat man sie von Unternehmerseite zur Erhöhung ihrer Forderungen zu veranlassen gesucht. Bedeutete doch die Erhöhung dieser Löhne für den Unternehmer nur eine stärkere Erhöhung der Preise, die das Publikum, nicht der Unternehmer zu zahlen hatte. Dieses neue Manchestertum hatte als wirtschaftliches Ideal die ungehemmte Ausnutzung des Monopols auf seine Fahne geschrieben; es fühlte eine tiefgehende Abscheu gegen die freie Konkurrenz. Es arbeitete bewußt an dem Aufbau der vertikalen industriellen Kombination, bei der alle Stufen der Produktion vom Rohstoff bis zum Fertigfabrikat in den Händen der einzelnen Unternehmungen liegen sollten. Hatte man die letzte wirtschaftliche Stufe erreicht und sich in den Besitz der Reichseisenbahnen gesetzt, die auf der einen Seite die größten Konsumenten von Kohle und Stahl waren und auf der andern Seite mittels der Tarifhoheit die Möglichkeit zur richtigen Ausnützung der Monopole gaben, dann blieb nur noch eine einzige Angliederungsfrage zu lösen: Man mußte den Staat als „Nebenbetrieb“ mit übernehmen und ihn, der, wirtschaftlich betrachtet, ein reiner Verlustbetrieb war, durch rücksichtslose Ausnutzung der Macht als Glied des ganzen Unternehmens rentabel gestalten. Ansätze zu dieser letzten Entwicklung zeigten sich in vieler Richtung. Der Friedensvertrag hatte Deutschland u. a. die Lieferung von Kohle und Koks auferlegt. Die Regierung, die den Frieden gezeichnet hatte, verfügte nicht über diese Produkte. Sie
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mußte sie von den Grubenbesitzern beziehen, deren Mitarbeit dadurch von ausschlaggebender Bedeutung für die Erfüllung des Friedensvertrages wurde. Die Unternehmer mußten zu den internationalen Verhandlungen herangezogen werden. Sie beschränkten sich naturgemäß nicht darauf, bloße Ratgeber zu sein. Sie betrachteten sich als die Hauptakteure auf der Bühne der Weltgeschichte. Denn von ihnen, und nicht von der Regierung, hing es ab, ob erfüllt werden würde oder nicht. Die Wirtschaft war in der Tat zeitweilig das Schicksal; es fehlte nicht viel, so wäre sie die Katastrophe geworden. Ihre Vertreter waren durchaus nicht immer bereit, die Verpflichtungen zu übernehmen, die die Regierungen eingegangen waren. Sie haben oft genug den Versuch gemacht, unabhängig von ihnen zu handeln und gelegentlich sogar versucht ihre Absichten zu durchkreuzen. Man denke nur an die Bestrebungen, die Reichsbahnen dem Ausland zu veräußern. Die auswärtige Politik, die bis dahin als die ureigenste Domäne des Staates gegolten hatte, wurde den Übergriffen einflußreicher Unternehmer ausgesetzt, und gelegentlich auch den ebenso bedenklichen, wenn auch nicht gleich wirksamen Eingriffen von Arbeiterverbänden. Zeitweilig hat die organisierte Arbeiterschaft, die enge Beziehungen zu den Organisationen anderer Länder unterhielt, dem Glauben gehuldigt, daß man auswärtige Politik besser durch internationale Berufsverbände als durch auswärtige Ämter machen könne. Die geringe Neigung, weithin sichtbare Verantwortung zu übernehmen, die zum Wesen der Bürokratie gehört und die insbesondere in den auswärtigen Ämtern zu Hause ist, hat diese Entwicklung sehr gefördert.
4 Die Entstaatlichung des Staates hat aber nicht einmal bei der auswärtigen Politik Halt gemacht. Private Gruppen haben die Militärhoheit in Anspruch genommen. In den Tagen nach der Revolution ist die Anarchie in Österreich durch Bataillone unterdrückt worden, die ausschließlich aus Arbeitern bestanden. Als der bolschewistische Schrecken Deutschland bedrohte, sind von unternehmenden Offizieren Freikorps angeworben worden, die ihr Schwert, wenn auch nicht ihr Herz, zur Verfügung der bedrohten Republik stellten. Die nötigen Gelder kamen zum Teil von Kapitalisten. In einem Falle ist sogar in Deutschland – wie in den kolonialen Kriegen der Vergangenheit – eine auswärtige militärische Expedition von privater Seite finanziert worden, die Expedition ins Baltikum, bei der deutsche Industrielle Gelder für die Verteidigung der baltischen Provinzen zur Verfügung gestellt hatten, um Westeuropa gegen den Bolschewismus zu schützen. Ein neues Kondottieretum entstand. In den Tagen der völligen Auflösung des Staates gehorchten die Bedrohten nur einem Gebote der Selbsterhaltung, wenn sie zu retten suchten, was zu retten war, und dafür finanzielle Opfer brachten.
176 | Krise der Demokratie Die Bestrebungen der Selbsthilfe auf dem Gebiete der Militärhoheit sind aber auch dann nicht zu Ende gewesen, als die deutsche Republik sich in der Verfassung vom Weimar eine neue Ordnung gegeben und in der Reichswehr die nötigen Machtmittel geschaffen hatte. Das Mißtrauen, mit dem ein großer Teil der besitzenden Klassen der neuen Ordnung gegenüberstand, hat immer wieder Versuche gezeitigt, neben den staatlichen Schutz private Schutztruppen zu setzen, Versuche, wie sie in den Jahren 1912-14 in der privaten Freiwilligenbewegung von Ulster zum ersten Male in modernen Staaten ans Tageslicht getreten waren. Der Friedensvertrag hatte in Deutschland die alte militärische Organisation zerbrochen. Zahlreiche Offiziere und Soldaten, die nur den militärischen Beruf gelernt hatten, waren beschäftigungslos geworden. Sie gehörten meist Schichten an, die den alten Staat beherrscht hatten. Die Macht war ihren Händen entglitten. Sie wußten, daß die Regierung in der Hand von Leuten lag, die sie verachtet hatten und nur als Untergebene zu betrachten gewohnt gewesen waren. Sie selbst mußten tatenlos abseits stehen und zusehen, wie die alte Ordnung in Brüche ging. An und für sich hatten sie kein großes Interesse an sozialen oder wirtschaftlichen Theorien; im großen und ganzen gehörten aber ihre Sympathien den besitzenden Klassen, mit denen sie verwandt waren und deren Befürchtungen über eine kommende Enteignung sie teilten. Die demokratischen Mächte des Westens hatten mit der Spitze des Bajonetts einen demütigenden Frieden diktiert. Bewies das nicht, daß die Lehre: „Recht ist Macht“ nur ein Propagandamittel gewesen war, um den nationalen Widerstand zum Erliegen zu bringen, aber kein politisches System, das ein vernünftiger Mensch anwandte? Rechtfertigte das nicht den alten Glauben: Macht ist Recht, dem sie immer angehangen hatten? Sie hatten sich nur insofern getäuscht, als sie nicht genug Macht besessen hatten, um ihn ihren Gegnern aufzuzwingen. Die Revolution hatte ihrer Meinung nach das Land verraten. Sie hatte sie überdies aus den Stellen geworfen, auf die sie ein Recht hatten. An eine Erneuerung des Vaterlandes war nicht zu denken, wenn man nicht dieser Regierung der Internationalisten ein Ende machte, durch die es zum Sklaven anderer Länder geworden war. Es war kein Wunder, daß sich solche Auffassungen in Deutschland verbreiteten, seit der Friede von Versailles die Hoffnungen der Demokratie enttäuscht hatte. Die Stimmung dieser Gruppen griff leicht auf Rentner und Intellektuelle über, die die Inflation ruiniert hatte, nachdem die Revolution sie, insbesondere die Akademiker, aus ihrer privilegierten sozialen Stellung geworfen hatte. Unter diesen Umständen war es leicht, Freiwillige zu gewinnen, wenn man nur die Gefahr einer roten Rebellion an die Wand malte. Und es war selbstverständlich, daß in einem Lande ohne ausreichendes Heer, das seine Kolonien verloren hatte, dem die militärische Ausbildung seiner Jugend verboten war und das daher für die Betätigung der natürlichsten Instinkte lebensmutiger junger Männer kein Ventil besaß, die Freiwilligenbewegung auch dann fortdauerte, als die rote Gefahr längst vorüber war. Sie war nach dem Frieden von Versailles verboten. Die alliierten Regie-
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rungen zwangen die deutsche Regierung zu ihrer Unterdrückung. Nach großen Schwierigkeiten ist diese Unterdrückung formal geglückt. Es war gewiß nicht verwunderlich, daß diese Organisationen sich in Geheimgesellschaften umwandelten. Da sie geheim waren, oder zum mindesten beinahe geheim, so gewannen sie ein ganz neues Gesicht. Sie entwickelten den ganzen Zauber, mit dem Geheimorganisationen die Herzen der Jugend zu betören pflegen. Sie unterstanden nicht länger dem Zugriff der Regierung. Manche von ihnen blieben reine Nothilfsorganisationen, geschaffen zum Schutz gegen eine rote Erhebung. Andere arbeiteten auf den Sturz der Zentralregierung hin, die sie für das soziale Elend ihrer Mitglieder und für die unwürdige auswärtige Lage Deutschlands verantwortlich machten. Manche wollten die Hüter bürgerlicher Ordnung sein; sie betrachteten sich als Schutztruppe der bürgerlichen Interessen gegen die Angriffe habgieriger Sozialisten. Andere wollten der Vortrupp des kommenden Freiheitskrieges und die Vorkämpfer eines neuen sozialen Systems sein, in dem die scheußlichen Züge des Kapitalismus verwandelt sein würden, während der Kapitalismus selbst blühte. Alle waren zu Gewalttätigkeit bereit und sahen in der Gewalt das beste Hilfsmittel der Völker. Sie wurden stark genug, um eine schwache Regierung zu Hause in Schrecken zu versetzen; sie wären nie in der Lage gewesen, gegen einen äußeren Feind vorzurücken. Privatkapitalistische Kalkulation, die sich gegen den bestehenden Staat zu sichern suchte, und jugendlich-romantischer Tatendrang, der das Vaterland befreien wollte, flossen in einer Bewegung zusammen. An die Stelle der alten poetischen Beziehung „Mars und Venus“ trat die neue, allerdings schon im Kriege bewährte Firma „Merkur und Mars“. Diese ganze Entwicklung ist in Deutschland vielleicht etwas schärfer zum Ausdruck gekommen als in anderen Ländern. Sie enthält keinerlei schwer erklärliche Momente. Nach dem amerikanischen Bürgerkrieg hat sich die gestürzte Pflanzeraristokratie des Südens in dem Ku-Klux-Klan das Mittel der bewaffneten Selbsthilfe geschaffen, um auf gesetzwidrigem Wege der Gleichberechtigung der Neger und der Herrschaft des Nordens ein Ende zu machen. Der große Krieg hat fast im ganzen Lande ein Wiederaufleben dieser alten Geheimorganisation zur Folge gehabt, das mit Mummenschanz und Gewalt die nationale Einheitlichkeit Amerikas und die bestehende bürgerliche Ordnung gegen Andersseiende, Andersdenkende, Anderswollende zu verteidigen sucht. Und in Italien ist der Ursprung des Fascismus in der Verletzung des Nationalgefühls zu suchen, das die Syndikalisten beleidigt hatten, in der Verachtung der auswärtigen Politik der Regierung, die Fiume preisgegeben hatte, und in der Angst der besitzenden Klassen, der Kapitalisten wie der Landbesitzer, daß die Masse ihr Eigentum konfiszieren würde. In Mitteleuropa waren die Klassen, die den Staat verleugneten, diejenigen, die ihn früher regiert hatten. In anderen Ländern war es ursprünglich die Arbeiterklasse. In Italien war es nach dem Friedensschluß die Arbeiterklasse gewesen. Ihr radikaler Flügel, auf den das russische Vorbild einen tiefen Eindruck gemacht hatte, schmähte das Parlament und verachtete den Staat. Der bestehende Staat war nicht
178 | Krise der Demokratie sein Staat. Er war nicht verpflichtet, ihm Treue zu halten. Er hielt sich für stark genug, um abseits zu stehen, den Staat zu ignorieren und als selbstbewußte Minderheit durch wirtschaftliche Gewalttätigkeit die Gesellschaft regieren zu können. Die Arbeiter ergriffen mit Gewalt Besitz von den großen Gütern. Sie eroberten die Herrschaft der Munizipien und Provinzen. Sie lösten Italien in seine regionalen Bestandteile auf und versuchten überall eine Art Sowjetherrschaft einzuführen. Im August und September 1920 bemächtigten sie sich mit Gewalt der Betriebe der Metallindustrie und hielten sie sechzig Tage lang besetzt. Sie verleugneten aber nicht nur den Staat, sie verleugneten auch die Nation. Sie waren erfüllt von Klassenbewußtsein, und nur von Klassenbewußtsein. Ihre Brüder waren nicht das italienische Volk, soweit es anderen Lebensschichten angehörte, ihre Nation war das internationale Proletariat, die Arbeiterklasse der gesamten Welt, oder zum mindesten der Teil der Arbeiterklasse der gesamten Welt, der ihre Theorien teilte. In dieser ganzen Zeit blieb die verfassungsmäßige parlamentarisch-demokratische Regierung bestehen. Sie begnügte sich aber mit dem Zusehen. Der Staat war gelähmt. Da die Syndikalisten ihn nicht zu brauchen verstanden, vergewaltigten ihn die Fascisten.
V Der neue Ständestaat Das schwierigste Problem, dessen Lösung den Anhängern eines demokratischen Regierungssystems obliegt, ist die Sicherstellung der Rechte der dauernden Minderheiten. Rücksichtslose Minderheiten, wie die Bolschewisten, haben es leicht, sich mit diesem Problem auseinanderzusetzen. Nach ihnen braucht die Minderheit, wenn es nur die richtige Minderheit ist, sich um das, was die Mehrheit tut, oder zu tun unterläßt, nicht weiter zu kümmern. Sie zwingt ihr einfach ihren Willen auf. Derartige anmaßende Ansprüche einer Minderheit sind leicht zurückzuweisen. Die eigentliche Frage der richtigen Behandlung der Minderheit bleibt.
1 Minderheitsfragen sind nur eine vorübergehende Phase, wenn die Minderheit sich zu einer Mehrheit auswachsen kann. In vielen Fällen wird die tätige Aufklärungsarbeit einer kleinen Minderheit ihr eine zunehmende Zahl von Anhängern gewinnen, bis schließlich die Anhänger des früheren Mehrheitsglaubens, durch die Argumente der Minderheit geschwächt, zur Minderheit werden. In anderen Fällen geschieht das durch das automatische Wachstum einer Bevölkerung als Ergebnis der Einwanderung oder eines höheren Geburtenüberschusses oder einer bloßen Verschiebung in der industriellen Struktur der Gesellschaft. In diesen Fällen ist das Problem, soweit es sich um die Behandlung der ursprünglichen Gruppen handelt, ein vorübergehendes, das Problem als solches bleibt. Es ist nur von einer Gruppe auf die andere
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überwälzt worden. Unglücklicherweise pflegt die neue Mehrheit die Verpflichtung zu Gerechtigkeit in Erinnerung an die Zeit, wo sie selbst Minderheit gewesen ist, nur selten anzuerkennen. Die nationalen Minderheiten in Mitteleuropa, die früher der Herrschaft der Deutschen, Österreicher und Magyaren unterworfen waren, haben in der Vergangenheit berechtigten Grund zu Klagen gegen ihre Herren gehabt. Sie haben aber in den Tagen ihrer babylonischen Gefangenschaft nicht gelernt, gerecht und klug zu sein. Die Welt als Ganzes ist sicher dadurch nicht vollkommener geworden, daß eine industriell rückständige nationale Minderheit, die früher dem Druck einer sozial fortgeschrittenen Mehrheit unterworfen war, durch territoriale Schiebungen zu einer Mehrheit gemacht worden ist. Sie bleibt, wie sie war. Sie hat aber jetzt die politische Macht, der fortgeschrittenen Minderheit ihr Kulturideal aufzuzwingen. Die Deutschen, die vor dem Kriege die Polen zur Erlernung der deutschen Sprache zwangen, waren unduldsam; die Polen, die heute den Deutschen ihre Sprache aufdrängen, sind es nicht minder. Die Deutschen zwangen die Polen, wenn auch gegen ihren Willen, Teilhaber an einer Kultur zu werden, die in der ganzen Welt als Kultur einer Großmacht anerkannt war. Die Polen schneiden den unterworfenen Deutschen die Verbindung mit einer Weltkultur ab und zwingen sie zur Anteilnahme an einem Geistesleben, das wenig Aussicht hat, über seine engen örtlichen Grenzen hinauszuwirken. Dauernde Minderheiten, deren Interessen gewahrt werden müssen, sind entweder religiöse, territoriale, nationale oder soziale Minderheiten gewesen. Sie haben ihre Interessen auf eine der folgenden Weisen zu schützen gesucht, wenn sie keine Aussicht hatten, sich in eine Mehrheit zu verwandeln. Die beteiligten Parteien, Mehrheit und Minderheit haben durch Vereinbarung einen fest umschriebenen Kreis von Fragen aus der Sphäre der Regierung herausgenommen. Auf diese Weise ist in vielen modernen Staaten der konfessionelle Streit geschlichtet worden, indem der Staat aus Kirchen- und Schulangelegenheiten ausgeschaltet worden ist: So sind z. B. in den Vereinigten Staaten die kirchlichen Angelegenheiten seit langem staatlichen Einwirkungen entzogen worden und zur ausschließlichen Angelegenheit der beteiligten Religionsgemeinschaften gemacht worden. Die Befreiung der Kirche von der staatlichen Kontrolle hat in den meisten Fällen zum Aufblühen des religiösen Lebens sehr stark beigetragen. Auch auf dem Gebiete des Schulwesens sind, z. B. in Kanada, ähnliche Dinge versucht worden. In anderen Fällen hat die Mehrheit auf ihr zustehende Rechte zugunsten der Minderheit dadurch verzichtet, daß sie ihr lokale Autonomie, Selbstregierung, gegeben hat. Eine derartige örtliche Teilung der Souveränität ist natürlich nur dort möglich, wo zwischen Mehrheit und Minderheit eine Art geographischer Abgrenzung durchgeführt werden kann. Unglücklicherweise gibt es immer wieder Mehrheiten, die zu anmaßend, zu unwissend und zu hartnäckig sind, um ihre Macht freiwillig einzuschränken. Die versuchten Lösungen sind immer nur Teillösungen gewesen. Man kann in einem aufgeklärten Lande den Kampf der religiösen Körperschaften durch Annah-
180 | Krise der Demokratie me des Grundsatzes: „Freie Kirche im freien Staat“ beenden. Man kann aber den Streit zwischen Anhängern und Gegnern des Privateigentums nicht dadurch schlichten, daß man den Erlaß der einschlägigen Gesetzgebung den Gegnern und den Anhängern dieser Einrichtung überträgt. Es ist nicht übermäßig schwierig, einer bestimmten Nationalität lokale Autonomie zu gewähren, wenn ihre Mitglieder in einem leicht abzugrenzenden Gebiete wohnen. Dieser Ausweg ist verschlossen, wenn Individuen oder Gruppen von Personen fremder Abkunft über ein ganzes Land verstreut leben, und wenn weder der Wunsch noch die Möglichkeit einer örtlichen Absonderung gegeben sind. Und es ist selbstverständlich ganz ausgeschlossen, eine einheitliche nationale Handelspolitik zu verfolgen und dabei gleichzeitig jedem wichtigen Gebiet oder jedem größeren Einzelstaat, aus denen der Gesamtstaat besteht, das Recht zum Abschluß von Handelsverträgen einzuräumen. Der Rest eines Problems bleibt bei allen Lösungsversuchen immer übrig. Das Problem der Minderheiten ist indes kein Problem, das die Demokratie geschaffen hat. Es entsteht unter allen Regierungssystemen, es ist nur nach den Grundsätzen der Demokratie besonders schwer zu lösen. Denn die Demokratie darf nicht einfach annehmen, daß die Minderheit sich der Mehrheit auch dann fügen müsse, wenn die Mehrheit ihr eigenstes Leben zerstören will. Diese rein mechanische Auffassung der Mehrheitsherrschaft ist nur dort reibungslos durchzusetzen, wo es sich um eine verhältnismäßig gleichartige Gesamtheit handelt. In der Demokratie muß die Mehrheit sich vor Tyrannei hüten. Absolutistische Regierungen haben es in dieser Beziehung leicht gehabt. Wenn man das Recht in Anspruch nimmt, eine Mehrheit zu vergewaltigen, wäre es ungerechte Bevorzugung, wollte man die Minderheit weniger schlecht behandeln. Daher hat die Minderheitsfrage unter einem demokratischen Regime oft zu sehr großen Konflikten geführt, wenn die Minderheit sich als geschlossene, selbstbewußte Einheit betrachtet und nicht daran denkt, sich dem Willen der Mehrheit zu beugen. In solchen Fällen ist die staatliche Einheit, der die Minderheit angehört, oft genug dem Zerreißen nahe, wenn diese Minderheit vor Waffengewalt nicht zurückschreckt. Die Sklaven besitzende Aristokratie des amerikanischen Südens hat in den Jahren, die dem Bürgerkrieg vorausgingen, grundsätzlich diese Haltung eingenommen. Die protestantische Bevölkerung von Ulster war, sich auf das Recht der Minderheit berufend, bereit, der britischen Demokratie trotz aller Loyalitätsbezeugungen mit Waffengewalt entgegenzutreten. Zur Vermeidung solcher Gefahren, hat man in vielen Verfassungen die Minderheit durch künstliche Verstärkung ihrer parlamentarischen Vertretung geschützt. In vielen Verfassungen hat man den Bezirk und nicht die Bevölkerungszahl zur Grundlage der Wahlkreise gemacht. Auf dieser territorialen Basis ist das alte englische Unterhaus gewählt worden. Der Senat der Vereinigten Staaten ist nach dem gleichen Grundsatz zusammengesetzt. Jeder Staat wählt zwei Senatoren, New York mit zehn Millionen Einwohnern ebenso wie Nevada mit 77.000 Einwohnern. In manchen Einzelstaaten der Union steht nach der geltenden Wahlkreiseinteilung Millio-
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nen städtischer Wähler eine geringere Zahl von Vertretern zu, als einigen tausend oder hunderttausend Bewohnern des flachen Landes. In dieser Beziehung hat die neue Welt der alten wenig vorzuwerfen. Das gleiche Ziel kann durch ein Zweikammersystem erreicht werden. Die politische Macht wird zwischen zwei Häuser verteilt: das eine Haus ist nach den Gesichtspunkten des Minoritätenschutzes zusammengesetzt. Diese zweite Kammer ist erblich, wie das englische Oberhaus; seine Mitglieder sind auf Lebenszeit ernannt, wie im kanadischen Senat, oder auf bestimmte Fristen, wie in dem gesetzgebenden Rat von Neuseeland, oder gewählt wie die Senatoren des amerikanischen Bundessenats. Anderswo sind den Minderheiten in der Verfassung gewisse Grundrechte gesichert, die entweder nur mit qualifizierter Mehrheit oder überhaupt nicht abgeändert werden können. So garantiert z. B. die kanadische Verfassung der französischen Minderheit den Gebrauch ihrer Sprache. In den Vereinigten Staaten beansprucht das oberste Bundesgericht das Recht, Gesetze daraufhin zu prüfen, ob sie etwa den in der Verfassung enthaltenen Grundsätzen entsprechen. Widersprechen sie ihnen, so sind sie als verfassungswidrig nicht anwendbar. Es bedarf dann eines Amendements zur Verfassung. Die Tatsache, daß bis heute nur neunzehn Amendements erlassen worden sind, beweist die Ungangbarkeit dieses Weges für die meisten Aufgaben der praktischen Gesetzgebung. Der Gipfel des gesetzmäßigen Minderheitsschutzes ist in der Verfassung des Völkerbundes erreicht. Alle entscheidenden Beschlüsse des Rates müssen mit Stimmeneinheit zustande kommen. Die Minderheit hat es daher in der Hand, jede Änderung zu verhindern. Minderheitsschutz und Mehrheitsherrschaft sind also keine verfassungsmäßigen Gegensätze. Je höher entwickelt der verfassungsmäßige Minderheitsschutz ist, desto größer ist die Gefahr, daß er zu einer vollständigen Lähmung des Gemeinschaftswillens führt. Die Friedensschlüsse nach dem Großen Krieg haben sich die Aufgabe gesetzt, das nationale Minderheitsproblem zu lösen. Sie sind dabei nicht übermäßig erfolgreich gewesen. Sie haben in dieser Beziehung meist nicht viel mehr erreicht als eine Veränderung in der nationalen Färbung des Minderheitsproblems durch ein „Wechselt die Plätze“-Spiel. Die soziale Umwälzung in Mittel- und Osteuropa hat dann das Problem der sozialen Minderheiten durch Aufsteigen der Arbeiterklasse in den Vordergrund geschoben.
2 Die Völker des kontinentalen Europas haben in ihrem innersten Herzen stets eine tiefgehende Abneigung gegen die Theorie der Gleichheit aller Menschen empfunden. Sie ist in Edmund Burkes Reden über die Französische Revolution in Worte gefaßt worden. Sie hat dann vor allem in den Schriften von De Maistre und Bonald
182 | Krise der Demokratie Ausdruck gefunden. Sie war der lebendige Glaube im Kampf der deutschen Romantik gegen den angriffslustigen französischen Nationalstaat, den im Innern rationalistische Jakobiner geschaffen hatten und den nach außen Bonaparte zum Siege trug. Adam Müller, vielleicht der blendendste politische Schriftsteller Deutschlands, von dessen charakterlosem Geiste epigonenhafte Kümmerlinge heute in geistloser Charakterfestigkeit zehren, hat seine ganzen Gesellschaftsanschauungen in blühender Bildhaftigkeit auf ihr aufgebaut. Er hat mit ihr nicht nur die Weltordnung bekämpft, die Napoleon Europa aufzwingen wollte, er hat sich auch mit ihr den Stein-Hardenbergschen Reformen in den Weg gestellt. Für das Wohlergehen der Gesellschaft ist nach dieser Auffassung die Mitarbeit aller Bürger unentbehrlich. Die Aufgaben, die erfüllt werden müßten, sind aber für die verschiedenen Personen und Schichten verschieden. Es ist daher berechtigt, wenn alle Menschen und alle Schichten im obersten Rate des Volkes vertreten sind. Sie müssen aber in einem Ausmaß vertreten sein, das der Wichtigkeit der Funktionen entspricht, die sie im Staate zu erfüllen haben. Es ist unklug, unbillig, ungerecht, gleiche Rechte für ungleiche Dienste zu gewähren. Die Zeit der rein politischen Revolutionen ist heute vorüber. Alle Menschen sind politisch frei geworden. Die Aufgabe des modernen Menschen in der modernen Gesellschaft ist vorwiegend eine wirtschaftliche. Er hat für die Gemeinschaft im Interesse seiner Mitmenschen Güter zu produzieren und Dienste zu leisten. Produzent sein, ist die wichtigste Funktion, die Männer und Frauen heute auszuüben haben. In der Vergangenheit haben die verschiedenen Klassen von Produzenten geschlossene Gruppen gebildet – Gilden und Brüderschaften. Diese Gilden waren nicht nur die Vertreter von Berufsinteressen, sie haben vielfach den Staat regiert. Warum sollte es heute unmöglich sein, zu dem Berufsideal des Mittelalters zurückzukehren und ein neues Vertretungssystem auf Grund der echten, eigenen, ererbten nationalen gesellschaftlichen Vorstellungen auszubilden, auf denen weder der Schatten der französischen Jakobinerherrschaft noch der Dunst der puritanischen angloamerikanischen Demokratie liegt? Die Erfahrung hat gezeigt, daß Parlamente, die auf Grund eines demokratischen Wahlrechts gewählt sind, zum Tummelplatz der Anwälte und Schwätzer werden, die die Kunst der Beredsamkeit pflegen, aber nicht die wahren Vertreter der produktiven Berufsinteressen waren; man konnte sie höchstens als Vertreter der Nur-Konsumenten betrachten, dieser „niedrigsten“ Sorte von Menschen. Die Herstellung von Gütern ist für das Gemeinwohl sehr viel wichtiger als die Lieferung von Argumenten und allgemeinen Ideen. Die Interessen des Großgrundbesitzes, der industriellen Unternehmer und der organisierten klassenbewußten Arbeiter gingen in diesem groben Materialismus ineinander über. Sie wurden von einer neuen Romantik vergeistigt und verklärt, wenn man geistig das nennen kann, was von den Tatsachen zwar völlig losgelöst ist, aber nur Gefühl bleibt und nie Gedanke wird. Diese sentimentale Abneigung gegen den westlichen Parlamentarismus klingt durch den russischen Panslavismus vor dem Kriege durch, der die Vermorschung
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des Westlertums verkündet. Und der Gedanke des parlamentarischen Ständestaates ist mit besonderer Schärfe in Frankreich zum Ausdruck gekommen. „Ein Teil Frankreichs ist im Versinken begriffen, das ist die Schicht, die aus Politikern und Parasiten besteht. Aber das wahre, ewige Frankreich taucht wieder empor. Das ist das Frankreich der Soldaten und Produzenten.“ 23 Selbst das Heimatland der Parlamente, England, ist von diesen Ideen nicht unberührt geblieben. 24 Soweit der Fascismus sich nicht damit begnügt, nationalistischen Gefühlen Ausdruck zu geben und die Anwendung von Gewalt als alleinseligmachende politische Methode zu verkünden, ist auch er bewußt von ständischen Idealen erfüllt. Er setzt der auf dem Grundsatz demokratischer Gleichberechtigung stehenden liberalen Welt einen hierarchisch geordneten Ständestaat entgegen. Da die wirtschaftliche Gesetzgebung die entscheidende Gesetzgebung der Gegenwart ist, so ist es nach dieser Auffassung viel zweckmäßiger, sie den direkt beteiligten Gruppen, also den Arbeitgebern und den Angestellten, den Organisationen der Produzenten (und der Konsumenten?) zu übertragen, statt sie einem Parlament zu überlassen, das nach rein politischen Gesichtspunkten gewählt ist und dessen Mitglieder naturgemäß Dilettanten sind.
3 Wie viele andere Strömungen der Nachkriegszeit ist auch diese Strömung in Deutschland besonders klar zum Ausdruck gekommen. Die Führer des deutschen Wirtschaftslebens hatten nach der Revolution erkannt, daß sie bei direkten Verhandlungen mit ihren Angestellten gar nicht schlecht fuhren. Vor dem Krieg hatten sie in den Betrieben die autoritäre Methode jeder Form der industriellen Selbstverwaltung vorgezogen. Nach der Revolution haben sie ihr Verfahren der wechselnden Lage sehr schnell angepasst. Sie übernahmen ohne weiteres das System der Tarifverträge. Denn sie erkannten, daß sie durch Verhandlungen mit den organisierten Arbeitern auf paritätischer Grundlage sehr komplizierte Fragen ohne große Reibungen lösen konnten. Sie sahen deutlich genug, daß die Arbeiter als Mitglieder der Gewerkschaften im wesentlichen an Arbeitsbedingungen und Löhnen interessiert waren. Solange sie diese Haltung einnahmen, konnte man sich leicht mit ihnen einigen. Dieselben Personen waren dagegen als Mitglieder der Sozialistischen Partei höchst gefährliche Theoretiker. Verhandlungen auf rein geschäftlicher Basis waren || 23 Georges Valois, Le Retour aux Etats Généraux, S. 315. [Diese Angabe war nicht zu ermitteln. Das offenbar von Bonn übersetzte Zitat findet sich allerdings in: Georges Valois, Oeuvre économique. Bd. 3: L' état syndical et la représentation corporative, Paris 1927, S. 95: “Une partie de la France se délite : c’est la couche formée par les politiciens et les parasites. Et la vraie France éternelle reparaît: c’est la France des soldats et des producteurs.”] 24 Harold Laski, The Foundation of Sovereignty [and other Essays, New York 1921].
184 | Krise der Demokratie daher sehr viel angenehmer als die Auseinandersetzungen mit den gleichen Leuten im Parlament, wo sie als Befürworter sozialistischer Lehren auftraten. Man versuchte dieser Schwierigkeit dadurch Herr zu werden, daß man laut erklärte, alle Wirtschaftsfragen seien geschäftliche Fragen, und in geschäftlichen Fragen sei kein Raum für Politik. Eine derartige Theorie der Entpolitisierung der Wirtschaft hätte überzeugend wirken können, wenn Regierungen keine Zolltarife vorzulegen und keine Steuern auszuschreiben hätten, wenn nirgendwo politische Kräfte an der Arbeit wären, um eine oder die andere wirtschaftliche Gruppe vor Steuern zu schützen, und wenn keine Versuche zur Steuerabwälzung vorlägen. Man konnte mit solchen Ausführungen vielleicht bürgerliche Romantiker vorübergehend auf den Leim locken. Eine Arbeiterklasse, die seit Generationen gewohnt war, sich mit sozialistischen ökonomischen Theorien zu beschäftigen, war ihnen gegenüber unzugänglich. Ging doch der politische Kampf nicht von vorübergehenden geschäftlichen Bedürfnissen des Augenblicks aus, sondern von ganz bestimmten gegensätzlichen Vorstellungen von der richtigen gesellschaftlichen Organisation des Staates. Wirtschaftliche Fragen waren daher in Wirklichkeit politische Fragen. Die Arbeiterklasse wollte die politische Macht, um die Wirtschaft nach sozialistischen Grundsätzen zu organisieren. Die Unternehmer wollten ihr diese politische Macht nehmen, um die Sozialisierung zu verhindern. Daß zwischen politischer Macht, politischen Parteien und dem bloßen Geschäft kein Zusammenhang bestehe, ließ sich nicht nachweisen. Wenn man aber die politische Macht in einem Parlament konzentrierte, das nicht nach dem allgemeinen Wahlrecht, sondern nach berufsständischen Gesichtspunkten gewählt war, dann konnte man vielleicht die kapitalistischen Interessen sichern. In einem Parlament, das aus Vertretern der wirtschaftlichen Berufsgruppen zusammengesetzt war, ließ sich, wenn nicht ein Überwiegen der besitzenden Klasse, so doch ein weitgehendes Maß von Sicherheit für sie erreichen, wenn das Wahlrecht einer jeden Berufsgruppe nicht nach der Kopfzahl ihrer Mitglieder, sondern nach ihrer Bedeutung im nationalen System der Produktion gegliedert war. Wenn ein Arbeitgeber, der 50.000 Arbeiter beschäftigte, dank seiner Bedeutung als Arbeitgeber das gleiche Wahlrecht besaß, wie seine 50.000 Angestellten, dann war natürlich sein politischer Einfluß sehr viel größer, als wenn man ihm nur die Stimme eines gewöhnlichen Bürgers gab oder die Stimme, die jedem der 50.000 Angestellten zustand. Man konnte natürlich diese Pläne nicht so offen darlegen. Der demokratische Geist hatte im deutschen Volke, insbesondere unter der Arbeiterklasse, zu viel Anhänger, als daß eine solche einseitige Lösung möglich gewesen wäre. Es war ganz ausgeschlossen, daß man den Reichstag, der auf breiter, demokratischer Basis gewählt war und in dem sich schließlich die Souveränität der Massen verkörperte, einfach beseitigte. Es war aus politischen Gründen unmöglich, ein Oberhaus zu schaffen. Aber es war denkbar, daß man ein berufsständisches Parlament auf Umwegen als zweite Kammer einführte, der die gesamte wirtschaftliche Gesetzgebung
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und die wirtschaftliche Verwaltung übertragen wurde und deren Zusammensetzung die Sicherheit der verschiedenen Klassen und der verschiedenen Berufe verbürgte. Saint Simon hatte mit solchen Ideen gespielt, Fürst Bismarck hatte ihn später aus anderen Gründen nachgeahmt. Er wollte die parlamentarischen Mehrheiten, mit denen er hart zu kämpfen hatte, dadurch zersetzen, daß er den Erisapfel wirtschaftlicher Gegensätze unter sie warf. Er ist in diesem Bestreben nur allzu erfolgreich gewesen. Der größte Meister der deutschen Politik war der erste, der die deutsche Politik entpolitisiert hat. Er hat sie verwirtschaftlicht, soweit das Parlament in Frage kam, weil er die große Politik ohne Eingriffe des Parlaments führen wollte. Seine Nachfolger in der Vorkriegszeit haben überhaupt nur selten große Politik machen können. Sie sind immer nur für kurze Frist imstande gewesen, die Vorherrschaft der Politik gegenüber der Wirtschaft zu behaupten. Organisierte man ein Wirtschaftsparlament in der Weise, daß alle Berufe ausreichend zur Geltung kamen und sorgte man dafür, daß innerhalb eines jeden Berufs Arbeitgeber und Arbeitnehmer gebührend vertreten waren, so konnte man ein Organ schaffen, in dem die Majorisierung irgendeiner Minderheit ausgeschlossen war. Stellte man sich dann auf den Standpunkt, daß die Vertreter eines bestimmten Interesses die eigentlichen Sachverständigen sind, ein Glaube, der zwar nicht richtig, aber dank seiner unübertrefflichen Bequemlichkeit dem Herzen der deutschen Bürokratie sehr teuer ist, dann war überhaupt keine Abstimmung ohne die Zustimmung der betreffenden Interessenten zu erreichen. Jede Gruppe war dann vor dem Zugriff jeder anderen Gruppe gesichert. Eben diese Tatsache hat natürlich die Durchführung eines Systems unmöglich gemacht, dessen Hauptreiz der des berühmten polnischen Reichstags gewesen wäre. Seine Tätigkeit wäre über die Abfassung von Berichten und die Fassung von Resolutionen nicht hinausgegangen. Er wäre ein vorzügliches Instrument zur Verhinderung jeder Wirtschaftspolitik geworden, aber für die Zwecke der Gesetzgebung völlig unbrauchbar gewesen. Derartige Pläne waren zeitweilig nicht nur bei den Unternehmern und bei den Romantikern sehr populär, sondern auch bei einem Teil der Arbeiterschaft, die das russische Rätesystem noch blendete. Denn ein Vertretungssystem auf beruflicher Basis hatte manches mit einem Sowjetsystem gemein, bei dem Arbeiter und Betriebe vertreten waren. Unter dem Drucke dieser Einflüsse wurde eine Bestimmung in die Reichsverfassung aufgenommen, die die Errichtung eines Rätesystems sicherstellte. Als Teil desselben ist der vorläufige Reichswirtschaftsrat geschaffen worden, nicht, wie seine Befürworter ursprünglich gehofft hatten, als zweite Kammer, deren Zustimmung bei aller wirtschaftlichen und finanziellen Gesetzgebung unentbehrlich ist, sondern als bloß beratende Körperschaft, deren Gutachten vor Erlaß wirtschaftlicher Gesetze eingeholt werden müssen, ohne daß sie bindende Kraft besäßen.
186 | Krise der Demokratie 4 Der Vorläufige Reichswirtschaftsrat hat in seiner Eigenschaft als gutachtliches Gremium manche nützliche Arbeit getan. Seine Leistungen –soweit sie an die Öffentlichkeit gelangt sind – erreichen aber an Gründlichkeit der Untersuchung und Schärfe der Formulierung der Vorschläge nur selten das Niveau der besten englischen und amerikanischen parlamentarischen Enqueten. Er ist mit hochgespannten Erwartungen begrüßt worden. Gegenüber dem Dilettantismus des Reichstags sollte die sachliche Arbeit ernsthafter Männer neue Erkenntnis fördern und neue Wege weisen. Er hat in Wirklichkeit weder neue Methoden für die Erforschung sozialer und wirtschaftlicher Probleme geschaffen, noch das parlamentarische Verhandlungssystem durch neue Formen bereichert. Auch die Verlegung des Kampfes der wirtschaftlichen Interessen aus dem eigentlichen Parlament in ein Forum der Sachverständigen, auf die manche Reformer gerechnet hatten, ist nicht zustande gekommen. Abgesehen von der kleinen Gruppe neutraler Sachverständiger, die die Regierung ernennt, muß der Reichswirtschaftsrat seinem inneren Wesen nach eine Vertretung der Interessenten sein. Da aber die entscheidende politische Macht beim Reichstag liegt, können die Interessentengruppen nicht darauf verzichten, ihren Einfluß auf die politischen Parteien auszuüben. Sie betrachten den Reichswirtschaftsrat vielmehr als zweite Plattform, auf der sie mit sachlichen Argumenten streiten, während die wirtschaftlichen Machtkämpfe im Reichstag geführt werden. Diese Fortdauer der Vorherrschaft des Parlaments ist kein bloßer Zufall. Das eine große Problem der berufsständischen Vertretung ist die Frage der richtigen Stärke einer jeden Berufsgruppe. Kein Mensch kann mit sachlicher Genauigkeit bestimmen, welche Bedeutung den Baumwollspinnern und welche Bedeutung den Kesselflickern im wirtschaftlichen Leben der Nation zukommt. Soll die Zahl der Beschäftigten maßgebend sein, oder der Umfang des in der betreffenden Industrie angelegten Kapitals, oder der Wert der Produkte, die zum Absatz gelangen? Soll das heute bestehende Verhältnis dauernd gelten oder soll es mit jeder Veränderung der Konjunktur sich verschieben? Die Verteilung der Vertretung zwischen den verschiedenen Berufsgruppen muß daher immer willkürlich sein. Und ebenso willkürlich wird die Gliederung zwischen Angestellten und Unternehmern in jeder einzelnen Gruppe sein. Da sich überdies der Einfluß von Persönlichkeiten durch zahlenmäßige Bindungen nicht ausschalten läßt, so kann es sich leicht ergeben, daß paritätische Einteilungen nicht paritätisch wirken. Die Gruppen und Schichten, die in einem gegebenen Augenblick die Macht haben, werden dafür sorgen, daß ihnen diese Macht verbleibt, auch wenn die Grundlage, auf der sie beruht, sich verschiebt. Daher kann weder die Gerechtigkeit verbürgt, noch der Fortschritt gesichert werden. Die Verteilung der Vertretung und damit der Macht kann nur nach mehr oder minder äußerlichen Gesichtspunkten vollzogen werden.
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Sie kann überdies nicht von den beteiligten Berufsgruppen angeordnet werden, sondern immer nur durch ein souveränes Parlament, in dem diejenigen wirtschaftlichen Gruppen die Entscheidung haben, die die parlamentarische Mehrheit besitzen, was mit der beruflichen Bedeutung nicht zusammenzufallen braucht. Ein berufliches Ständeparlament kann daher nicht aus dem Willen der Stände, sondern nur aus dem Willen der Demokratie geboren werden. Dazu kommt ein weiteres. Kein Parlament, das auf demokratischer Basis gewählt ist, wird das oberste Machtmittel parlamentarischer Souveränität einem Ständeparlament übertragen: das Recht der Steuerbewilligung. Und solange dieses Recht in den Händen des politischen Parlaments liegt, solange wird die Wirtschaft der Politik dienstbar sein. Das Recht der Besteuerung hat selbst in der Vergangenheit, wo die Steuersätze verhältnismäßig unbedeutend waren, das Schicksal der Völker bestimmt. In der Gegenwart, wo der Staat ein Fünftel bis ein Drittel der Einkünfte seiner Bürger für sich in Anspruch nimmt, ist der Einfluß der Besteuerung auf das Wirtschaftsleben gewaltig gesteigert worden. Das Ausmaß der Steuern, die der Staat von seinen Bürgern verlangen kann, wird in letzter Linie von seiner auswärtigen Politik bedingt, denn die aus der Vergangenheit stammenden Kriegsschulden und die Rüstungskosten der Gegenwart sind schließlich nichts anderes als die passive Seite der auswärtigen Politik. Der stark berufsständische Charakter, der trotz des allgemeinen Wahlrechts in den demokratischen Parlamenten der Gegenwart zum Ausdruck kommt, hat das Verständnis für großzügige auswärtige Politik bereits geschwächt. Es wäre undenkbar, ungeachtet dieser Erfahrungen, die auswärtige Politik der Gesamtheit der wirtschaftlichen Fachverbände, die ein Wirtschaftsparlament bilden, zu übertragen. Die auswärtige Politik, die das Schicksal der Völker bestimmt, kann nicht nach Berufsgesichtspunkten geführt werden. Man kann sie dem beruflichen Organisationsgedanken nicht unterordnen. Denn das Gemeinschaftsinteresse, dem sie dienen muß, ist weder als Diagonale, noch als arithmetisches, noch als geometrisches Mittel der sämtlichen Wirtschaftsinteressen anzusehen. Im Gegenteil, man kann ruhig sagen, die auswärtige Politik eines Landes ist dann am besten, wenn die Schichten, die sie zu führen haben, bei ihren Entscheidungen weder auf ihr persönliches Einkommen, noch auf die Dividende ihrer Berufsgenossen Rücksicht zu nehmen haben. Zeitweilig hat sich die neue Romantik des an und für sich so nüchternen Problems der parlamentarisch organisierten Wirtschaftsinteressen bemächtigt. Alle Romantik flüchtet vor der Wirklichkeit, um sich frei und ungehemmt im Reiche der Träume ergehen zu können. Da ihre Träger aber auf der Erde leben und menschliches Schicksal gestalten wollen, so pflegen sie sich gegen den vorbestimmten Zwangsverlauf der Dinge zu empören. Meist fehlt ihnen die harte Kraft, die Wirklichkeit zu formen – sonst wären sie nicht Romantiker –, sie brauchen daher die Anlehnung an die Macht. Versagt sich ihnen der Staat, weil er erschöpft ist, so lehnen sie sich an die Wirtschaft an. Sie bedürfen einer Stelle, die ihnen die Macht verleiht, des äußeren Zwanges, mit dem sie den Willen derjenigen bekämpfen können, die an
188 | Krise der Demokratie Vernunft und Gesetz glauben. Und so reichen sie für ein kurzfristiges Darlehen von Macht dem mechanisierten Kapitalismus der Gegenwart als Gegengabe die blaue Blume.
VI Der Sinn der Krise Die Krise, die die europäische Demokratie heute durchmacht, wird von zwei ganz verschiedenen Reihen von Ursachen bedingt. Auf der einen Seite sind es die besonderen Schwierigkeiten, die aus dem Wesen der Demokratie hervorgehen und die der Demokratie als solcher innewohnen, auf der andern Seite handelt es sich um sehr viel allgemeinere Schwierigkeiten, die Schwierigkeiten, die das Erbe unseres Zeitalters sind, insbesondere des Großen Krieges, und die nicht innerlich mit der Demokratie zusammenhängen.
1 Das hauptsächlichste innere Problem der parlamentarischen Demokratie – der Form der Demokratie, gegen die sich fast alle Angriffe richten – ist das Problem des Schutzes der Minderheit. Es ist noch keine Lösung gefunden worden, die die Lebensinteressen einer dauernden Minderheit vor den Übergriffen einer anmaßenden Mehrheit schützt. Diese Gefahr erscheint daher außerordentlich groß. Dabei ziehen aber manche der Methoden, mittels deren man den Minderheitsschutz bewerkstelligt hat, sehr viel größere Gefahren für den erfolgreichen Vollzug demokratischparlamentarischer Einrichtungen nach sich. Selbst wo die Macht der Mehrheit nicht durch gesetzliche Beschränkungen eingedämmt ist, haben die Minderheiten Mittel und Wege gefunden, sich zu sichern. Seit Erfindung der Obstruktion und der Dauerreden – „filibustering“ nennt man es im amerikanischen Senat – haben langmütige parlamentarische Mehrheiten immer wieder Übergriffe kampflustiger Minderheiten erdulden müssen. Denn die Mehrheit muß auf Rechtmäßigkeit halten, wenn sie bei den Grundsätzen ihres Daseins beharren will. Wenn die Minderheit das Zustandekommen gesetzlicher Maßnahmen auf gesetzmäßigem Wege durch Obstruktion verhindert, so treibt sie die Mehrheit entweder auf die Bahn der Gesetzlosigkeit oder sie beraubt sie der Macht. In fast allen parlamentarischen Körperschaften drehen sich überdies die politischen Kämpfe nicht um wenige eindeutige Ziele. Parteien und Gruppen sind voneinander nicht durch eine einzige klare Trennungslinie geschieden. Der Zusammenhalt der Parteien wird sowohl durch Traditionen als auch durch wirtschaftliche, politische, kulturelle und religiöse Einflüsse bedingt, von persönlicher Anhängerschaft und korrupter Zusammenarbeit ganz zu schweigen. Daher sind völlig isolierte Minderheiten ebenso selten gewesen wie einheitlich geschlossene Mehrheiten. Es ist
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den Minderheiten fast immer geglückt, irgendwo eine „Seelenverwandtschaft“ zu finden. Die parlamentarischen Allianzen, die auf diese Weise zustandekommen, sind häufig recht bunt und selten logisch; sie haben trotzdem ihre Zwecke erfüllt. Das Bündnis, das die irisch-katholischen Nationalisten mit den dissentierenden englischen Liberalen in den 80er Jahren abschlossen, war sicher in vieler Beziehung widersinnig; es war aber immer noch viel „natürlicher“, als etwa das außenpolitische Bündnis des republikanischen Frankreich und des despotischen Rußland, das trotz der inneren Natur die Grundlage der europäischen Politik vor dem Kriege bildete. Der Charakter der parlamentarischen Allianzen hat sich in den letzten Jahrzehnten nicht unbeträchtlich verändert. Verfassungsfragen und religiöse Fragen sind zeitweilig zurückgedrängt worden, wirtschaftliche Fragen sind dagegen in den Vordergrund getreten. Das Ergebnis ist eine wechselnde Reihe wirtschaftlicher Kombinationen zur Herbeiführung eines wirtschaftlichen Blocks. Viele dieser vorwiegend wirtschaftlichen Allianzen, die zur Herbeiführung einer arbeitsfähigen parlamentarischen Mehrheit abgeschlossen wurden, sind mindestens so unnatürlich gewesen, wie ihre Vorbilder in der auswärtigen Politik. Ein Bündnis gegen das kapitalistische Unternehmertum zwischen Farmern, die auf dem Boden des Privateigentums stehen, und Arbeitern, die dasselbe verneinen, ist sicher nicht logisch. Es ist in Amerika, in den Vereinigten Staaten sowohl als in Kanada, abgeschlossen worden. Und man kann sich kaum etwas Widersinnigeres vorstellen als das Dauerbündnis, dem die Demokratische Partei der Vereinigten Staaten ihr Leben verdankt. Sie umfaßt auf der einen Seite die eingeborene angloamerikanische Pflanzeraristokratie der Südstaaten, auf der andern Seite die eingewanderten allen europäischen Nationen entstammenden Massen der großen Städte. Das Vordringen wirtschaftlicher Fragen hat vielerorts eine Zersplitterung der politischen Parteien in ökonomische Gruppen zur Folge gehabt. Dabei ist die vertikale „Klassentrennungslinie“ durchaus nicht immer am deutlichsten sichtbar. Die Reibung der Interessen zwischen benachbarten Berufsgruppen, die auf dem Boden der privatkapitalistischen Ordnung stehen, ist oft sehr viel stärker, als der Gegensatz zwischen „Klassen“. Bei den Kämpfen um einen Zolltarif ringen Baumwollspinner und Baumwollweber mindestens so heftig miteinander wie Unternehmer und Arbeiter in der Baumwollindustrie bei den Verhandlungen um Lohnsätze. Die Linien, die Klassen, Berufszweige und Berufsgruppen scheiden, überschneiden einander fortwährend. Es besteht die Gefahr, daß die Parlamente sich in wirtschaftliche Gruppen auflösen, von denen keine stark genug ist, die Herrschaft auszuüben, die alle einander befehden und sich daher trotz vieler gemeinsamer Interessen nicht einigen können. Die Tage der einfachen parlamentarischen Mehrheit sind überall vorüber. Das Zweiparteiensystem ist vielleicht noch nicht tot. Es arbeitet aber nicht länger in der Gegenüberstellung zweier geschlossener Gruppen, die sich längs einer einzigen klar ersichtlichen Trennungslinie anordnen. Wo es noch besteht, ist es eine Zusammenfassung vieler verschiedener Gruppen, die nur vor übergehend durch ein
190 | Krise der Demokratie gemeinsames Band zusammengehalten werden: Bald durch Loyalität gegenüber einer Partei, bald durch Anhänglichkeit an die Person eines hervorragenden Führers, bald zur Durchführung eines bestimmten, genau umschriebenen Stückes wirtschaftlicher, sozialer oder politischer Gesetzgebung. Die Parteien sind zu einer Art Zweckverband geworden, dessen Aufgaben sehr schnell wechseln. Und da das der Fall ist, haben die einzelnen Gruppen einer Partei häufig viel mehr stimmungsmäßiges Verständnis für bestimmte Gruppen, die im Augenblick der anderen Partei angehören als für die eigenen Bundesgenossen. Man muß nur an die wechselnden Strömungen in der bestgefügten deutschen Partei im politischen Sinne des Wortes, der Zentrumspartei, denken.
2 Die parlamentarische Regierung kann daher heute entweder durch eine Minderheit geführt werden, die sich der zielbewußten Duldung einer oder mehrerer anderer gegnerischen Parteien erfreut, oder durch eine Koalition, in der verschiedene Gruppen zusammengefaßt werden. Im ersten Falle muß die Regierung schwach sein, denn sie hängt von der Unterstützung eines außenstehenden Gegners ab. Im zweiten Falle kann sie nicht stark sein, wenn die Gruppen, die die Koalition bilden, in grundsätzlichen Fragen entgegengesetzten Anschauungen huldigen. Eine Koalitionsregierung aus gemäßigten und fortgeschrittenen Liberalen ist eine verhältnismäßig starke Kombination. Dagegen kann eine Koalitionsregierung aus Sozialisten und Antisozialisten keine besonders gute Mischung sein, solange beide Gruppen an ihrer Weltanschauung festhalten. Die Kompromisse, die sie schließen müssen, um überhaupt eine aktionsfähige Regierung zustande zu bringen, werden sie bei ihren Wählern in Mißkredit bringen. Jede der beiden Parteien ist infolge der Koalition außerstande, die Maßnahmen durchzuführen, die ihr grundsätzlich die wichtigsten scheinen, jede ist genötigt, mindestens einige Maßregeln zu vertreten, die sie verabscheut. Aber die Interessen von Minderheiten sind gesichert, da immer neue Kombinationen denkbar sind. Die Einführung des proportionalen Wahlrechts hat diesen Zustand verewigt. Die Verhältniswahl ist ein glänzendes Wahlsystem für ein Parlament, das jede einigermaßen erhebliche Schattierung des politischen Glaubensbekenntnisses der Nation und jedes einigermaßen wichtige Interesse widerspiegeln soll. In den Tagen des politischen Dualismus, wo das Parlament als Vertretung der gesamten örtlichen und beruflichen Interessen des Volkes der Krone gegenüberstand, wäre es vielleicht am Platze gewesen. In der monistischen Gegenwart, in der das Parlament die volle Souveränität besitzt, schwächt das Verhältniswahlsystem die Aktionsfähigkeit der Regierung, weil es die Opposition stärkt. Es schmälert in der Regel selbst bei einem Zweiparteien-System die Mehrheit, über die die Regierung verfügt. Da aber Minderheiten hellhörig zu sein pflegen und überzeugt sind, eine wirklich starke Mehrheit
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werde sie eines Tages vergewaltigen, so hat das Verhältniswahlsystem gerade aus diesem Grunde immer neue Anhänger gewonnen. Denn alle Gruppen und Grüppchen verfolgt das Gespenst der Furcht, daß unter dem Regime der modernen Demokratie die Massen die Klassen einmal viel gründlicher ausplündern werden, als je die Klassen die Massen geplündert haben. Auf der einen Seite sind so die Parlamente in wirtschaftliche Gruppen und Gruppengemeinschaften aufgelöst worden. Die Mehrheiten, die durch Koalition zustande kommen, kann man vielfach nur als „unheilige Allianzen“ bezeichnen. Auf der andern Seite führt die Besorgnis vor einer künftigen scharfen Scheidung der Parteien längs einer wirtschaftlichen Trennungslinie, wie Sozialismus und Privatkapitalismus, Besitzlose und Besitzende, zu einer Fortdauer dieses unerfreulichen Systems der politischen Mischung. Die Minderheiten haben solche Angst vor der Möglichkeit künftiger Majorisierung, daß sie sich im Notfall mit jeder anderen Minderheit zu einer Mehrheit zusammentun. Die Bildung „vernünftiger“ Mehrheiten wird dadurch erschwert, und die parlamentarische Maschine bricht unter der Last zusammen, die ihr aufgeladen wird. In einzelnen Ländern, z. B. in Österreich, mit verhältnismäßig einfachen Parteiensystemen, ist die gefürchtete Scheidung schon beinahe Tatsache geworden. Die beiden wirtschaftlichen Gruppen, die sich zu Parteien organisiert haben, halten einander ziemlich die Wage. Ein dauernder Schwebezustand ist entstanden, bei dem zwar die lebenswichtigen Interessen der Minderheit geschützt sind, bei dem aber die Mehrheit ihre eigene Politik nicht zielbewußt durchführen kann. Denn da die politischen Parteien nur aus wirtschaftlichen Gruppen bestehen und da die Verhältniswahl herrscht, können erhebliche Verschiebungen erst dann eintreten, wenn die soziale Schichtung sich stark verändert hat. Die Entscheidung bei den Wahlen liegt hier bei den dauernden organisierten wirtschaftlichen Interessengruppen, deren Umfang und Struktur sich nur langsam umbilden. Argumente und Gefühle spielen keine entscheidende Rolle mehr. Eine starke Verschiebung – ein Erdrutsch, wie man in Amerika sagt – ist ausgeschlossen. Die Dinge drehen sich dauernd um einen toten Punkt. Der Kampf zwischen den einander gegenüberstehenden wirtschaftlichen Interessen geht hin und her. Weder die kapitalistische noch die sozialistische Gruppe ist stark genug, ihren Willen ihren Gegnern aufzudrängen. Die Nation hat sich selbst durch Spaltung gelähmt.
3 Der Zustand parlamentarischer Dauerlähmung führt leicht zu dem Rufe nach einem Diktator, der der Herrschaft wirtschaftlicher Gruppen oder selbst der Mehrheit nicht unterworfen ist, dem man aber die Kraft zur Lösung der Probleme zutraut, die die Nation verlangt. Eine solche Lage erklärt das Aufkommen Mussolinis; sie macht es verständlich, daß die Reformen in Österreich und in Ungarn durch den Völkerbund
192 | Krise der Demokratie und den von ihm ernannten wirtschaftlichen Diktator verhältnismäßig reibungslos durchgeführt werden konnten. Denn dieser Diktator kann, wenn er die nötige Intelligenz besitzt, im Interesse der Gesamtheit handeln. Er ist politisch weder den Massen noch den Klassen, für die er handelt, verantwortlich. Man kann ihn kritisieren und dadurch die Festigkeit des eigenen politischen Charakters bezeugen; man hat aber die Sicherheit, daß die Kritik das Reformwerk nicht gefährdet. Und diese Gruppierung erklärt auch, warum in Deutschland und Frankreich das Parlament der Regierung die Durchführung weitgehender Reformen durch ein Ermächtigungsgesetz übertragen hat. Alle wirtschaftlichen Gruppen erkannten die Notwendigkeit der Reform an. Sie wollten aber ihren Wählern gegenüber nicht gern die Verantwortung für die Durchführung übernehmen. In dem Deutschland des 20. Jahrhunderts hat der Reichstag das Grundrecht des Parlaments, die Steuerbewilligung, freiwillig preisgegeben, die Regelung der Finanzen zeitweilig der Regierung in Bausch und Bogen übertragen und sich dabei mit einer fast nur ornamentalen Kontrolle begnügt. Es ist verständlich, daß die großen Wirtschaftsinteressen das Halbdunkel der Verordnungsdiktatur der öffentlichen Verhandlung vorzogen. Es ist begreiflich, daß die Bürokraten, die die Vertretung von Gesetzentwürfen in offenen Redeschlachten nicht lieben, dabei mitgewirkt haben. Es ist nur mit der völligen sozialen Auflösung als Folgeerscheinung der Inflation zu erklären, nicht zu entschuldigen, daß die Volksvertretung nicht den Mut gehabt hat, Gesetzentwürfe in öffentlicher Verhandlung anzunehmen, deren Annahme sie für nötig hielt. Die Gefahren dieser Entwicklung haben sich bald gezeigt. Die Regierung hat in der Frage der Ruhrentschädigungen das verfassungsmäßig festgelegte Einnahmeund Ausgaberecht des Reichstags mißachtet. Sie hat den Versuch gemacht, die Aufwertungsfrage in einseitiger Begünstigung der Schuldner auf dem bürokratischen Wege der Verordnung zu lösen, um die Bevölkerung vor eine vollendete Tatsache zu stellen; er ist kläglich gescheitert. Sie hat sehr bald lernen müssen, daß man die Wucht volkstümlicher Bewegungen nicht durch Verordnungen hemmen kann. Da die Parteien für die von der Regierung getroffenen Entscheidungen nicht verantwortlich gemacht werden konnten, so dachten sie nicht daran, die Regierung zu decken. Sie nutzten die berechtigte Entrüstung der Bevölkerung für ihre parteimäßigen Zwecke aus. Das Werk der bürokratischen Diktatur muß jetzt, nach Aufpeitschung aller Leidenschaften, auf gesetzmäßigem Wege in parlamentarischer Weise überarbeitet werden. Trotzdem scheint es manchmal, als ob das letzte Stündlein der Demokratie, zum mindesten des demokratischen Parlamentarismus, geschlagen habe. Wenn die eigentlichen Regierungsgeschäfte von einem fremden Diktator übernommen werden, oder wenn das Parlament immer dann ausgeschaltet wird, wenn es sich um Lebensinteressen der Nation handelt, dann scheinen in der Tat die Tage des Parlamentarismus gezählt zu sein, und mit ihm die Tage der parlamentarischen Demokratie. Die soziale Entwicklung hat in der Tat Zustände geschaffen, die den ordnungsgemäßen Gang der Parlamentsmaschine stören und zeitweilig fast unmöglich ma-
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chen. Und da die Welt den Stillstand des Wirtschaftslebens nicht zu ertragen vermag, während sie die Wirkung einer vorübergehenden Ausschaltung der parlamentarischen Gesetzgebungsmaschine nicht sofort verspürt, ertönt der Ruf nach dem Diktator, so oft ein mächtiges Interesse sich durch den schwerfälligen Gang der Verhandlungen geschädigt fühlt. Und er erfolgt manchmal auch, wenn bloß der Wunsch vorliegt, eine Entscheidung von der widerhallenden Tribüne des Parlaments in die verschwiegenen Amtszimmer der Ministerien zu verlegen. In leidlich normalen Zeiten dauern diese Stimmungen nicht an. Die Wirtschaft hängt ihrer ganzen Struktur nach an Ordnung und Regel. Sie droht in Ländern, in denen das industrielle Unternehmertum autoritär gestimmt ist, wohl gelegentlich mit Gewaltmaßnahmen. Sie lebt aber ihrem inneren Wesen nach in der Welt der Vergleiche. Sie ist sich bei kühler Überlegung der Tatsache wohl bewußt, daß die kapitalistische Ordnung auf Sicherheit und Vertrauen beruht und daß Vertrauen nicht ohne Gesetz bestehen kann. Sie spricht von Gewalt und Diktatur nur, wenn sie sich bedroht fühlt. Sie zieht, wenn sie nicht in Lebensgefahr schwebt, ein elastisches demokratisches System, wie in Amerika, oder ein geordnetes bürokratisches System, wie es in Deutschland neben dem Parlamentarismus blüht, der Diktatur vor. Denn der Diktator, der wirklich ein Mann ist, und nicht bloß eine Attrappe, wäre ihr Herr und nicht ihr Diener. Von der Seite der Wirtschaft ist der Ruf nach Diktatur erschollen, weil das Reich der Ordnung gefährdet erschien.
4 Jede militärische Niederlage von katastrophalem Ausmaß stürzt die Regierungsform, die man für sie verantwortlich machen kann. Dynastien und Republiken sind zusammengebrochen, wenn der Würfel des Kriegsspiels gegen sie entschieden hat. Denn trotz aller Verachtung, die die Völker ihren Regierungen so oft in Worten bezeugen, sitzt in ihren innersten Herzen ein Glaube an ihre wundertätige Macht. Wird dieser Glaube enttäuscht, so fragt kein Mensch nach den Gründen. Wer an der Macht war, ist verantwortlich, und weil er verantwortlich war, muß er gehen. Und wenn diejenigen, die an seine Stelle treten, das Unheil nicht sofort wieder ungeschehen machen, so wird ihnen eine doppelte Verantwortung aufgebürdet: die Verantwortung für den Eintritt der Katastrophe und die Verantwortung für ihre Wirkungen. Wo die Demokratie das Erbe des Weltkrieges angetreten hat, wird sie mit der Verantwortung für seine Folgen belastet; und wo die Demokratie neu ist, wo die Widerstände der Vertreter der alten Ordnung noch sehr stark sind, wo diejenigen, die für den Zusammenbruch verantwortlich sind, sich vor sich und der Welt rechtfertigen möchten, da werden Demokratie und demokratischer Parlamentarismus für eine Weltkatastrophe verantwortlich gemacht, die sie zwar nicht verschuldet, die sie aber auch noch nicht wieder gutgemacht haben.
194 | Krise der Demokratie Die Krise der europäischen Demokratie ist in ihrem innersten Wesen eine Krise des europäischen Lebens. Sie würde nicht verschwinden, wenn Europa heute von andern Regierungsformen erfüllt wäre. Sie verkörpert sich in Italien in Mussolini, in Rußland in Lenin und seinen Nachfolgern, in Spanien im Marquis d’Estella. Der Große Krieg hat auf der einen Seite Zustände geschaffen, die nur langsam gebessert werden können. Er hat auf der andern Seite einen Geist der Gewalttätigkeit erzeugt, der keinen Aufschub dulden will. Tausende und Abertausende haben es satt, zu warten, bis die Welt sich von selbst erhole, während Parlamente reden und Regierungen scheinbar handeln. Sie haben im Kriege lange auf den Sieg geharrt; er ist ausgeblieben. Man hat ihnen dann von einem sozialen tausendjährigen Reich gesprochen; es ist nicht gekommen. Nun sind sie des Wartens müde geworden. Da die Welt, in der sie leben, nicht lebenswert scheint, mag sie in Stücke fallen, wenn ein starker Mann, der gerade auf das Ziel losgeht und keine klugen Umwege macht, sie mit Gewalt ergreift. Eine Generation ist entstanden, die nicht länger an Ordnung glaubt, seit die alte Ordnung völlig versunken ist. Sie glaubt nicht mehr an Gott als gütige Vorsehung. Er ist im Kriege in solchem Umfang nationalisiert und monopolisiert worden, daß alles Universale von ihm abfiel. Er ist ein Stammesgott geworden, der nur für die Seinen sorgt, und die Seinen sind die Starken und Mächtigen. Ihrer Willkür gewährt er Erfüllung. Ihnen liefert er das Weltgefüge aus, in dessen Gehäuse sich die Sanftmütigen geborgen wähnten. Wer will, der kann. Und wo der Wille sichtbar nach außen strahlt, da ist die Kraft des Führers gegeben, der in Willkür aus Chaos Ordnung schafft, den neuen Staat, der das Sehnen der Jugend erfüllt, der nicht gebaut ist nach blutleeren Regeln der Vergangenheit. Die Jugend ekelt der heutige Zustand. Was liegt ihr an Demokratie und an Parlamentarismus, die die Dinge nicht geben, nach denen das Herz sich sehnt? Welchen Sinn hat es, die Zustimmung der Regierten zu den Handlungen der Regierung zu fordern, wenn die Regierten uneins sind und die Regierenden nicht handeln? Die Völker zersplittern in wirtschaftliche Fragmente. Arbeit und Kapital stehen sich in geschlossener Schlachtordnung gegenüber, keine Mehrheit ist verfügbar. Der tote Punkt ist erreicht, die Regierung gelähmt, der Staat ist in zwei Hälften geborsten. Die Völker sind in Gefahr, die nationale Einheit zu verlieren. Die Jungen und Kräftigen, die noch nicht in den Rahmen des wirtschaftlichen Lebens eingespannt sind, wollen den Staat, der den Zwiespalt heilt, der nicht in Wirtschaftshälften kraftlos auseinanderfällt, sondern in blutwarmer Mannigfaltigkeit alle Berufe in nationaler Einheit zusammenfaßt. Sie wollen nicht immer ein festes Ziel; sie wollen stets die Bewegung. So ergibt sich aus der Wirtschaft und gegen die Wirtschaft bei vielen Völkern der Ruf nach der Diktatur. Es hat nicht an Männern gefehlt, die bereit waren die Kinder Israel aus dem Lande Ägypten nach Kanaan zu führen, wo Milch und Honig fleußt. Das Rote Meer hat sich nicht vor ihnen geteilt; die Vorwitzigsten sind in ihm versunken. Den Berg Horeb hat nur ein Einziger von ihnen von ferne gesehen: Mussolini.
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Mussolini ist kein Berufssoldat, der keine andere Methode kennt, um die Willen der Menschen, zu beugen, als blinde Gewalt. Aber sein Glaube ist trotzdem ein leidenschaftlicher Glaube an das Recht der Gewalt. Sorel und Vilfredo Pareto sind seine Lehrer gewesen. Seine Gewalttätigkeit entspringt nicht bloß einem gewalttätigen Temperament; sie beruht auf der Überzeugung, daß Regieren ohne die Zustimmung der Regierten eine zweckmäßige, legitime Methode ist, um die Menschen zu beherrschen. Seine Theorie und seine Praxis sind die Lenins. Während aber Lenin eine deutliche Vorstellung einer idealrichtigen sozialen Welt besaß, der er mit rücksichtslosem Wollen zustrebte, kennt Mussolini kein scharfumrissenes Ziel. Ihm genügt der Wille zur Tat und der Wille zur Bildung der Gemeinschaft, deren die Menschheit bedarf und die ganz anders aussehen wird als die soziale Ordnung nach vorgefaßten festen Plänen, vernunfterdacht. Wozu bedarf es eines Plans, wenn in der Stunde der Entscheidung die fertige Welt dem Haupte des Schöpfers entsteigt? Mussolini ist überzeugter Nationalist. Die Menschheit als Ganzes interessiert ihn wenig. Er glaubt leidenschaftlich an Italien. Aber der tiefste Sinn seines Glaubens ist der Glaube an Mussolini. In dieser Beziehung ist er von den Diktatoren vergangener Zeiten nicht verschieden, die den Finger Gottes in jedem Entschlusse sahen, den der Zwang zur Entscheidung ihnen abrang. Da er keinen sicheren sozialen Glauben hat, so steht er manchmal auf der Seite der Arbeiter und manchmal auf der Seite der Unternehmer. Er geht nicht von der Vorstellung eines seinsollenden, idealen Menschen aus, sondern von dem Menschen, wie er ist und wie er ihn sieht. In dieser Beziehung ist sein Meister der große Begründer des modernen politischen Realismus gewesen, den moralisierende Staatsmänner so oft als Antichrist verschrien haben und dem praktische Staatsmänner um so eifriger gefolgt sind: Niccolò Machiavelli. Sein Beispiel hat in der ganzen Welt gewirkt. Der Demokratie stellt sich die ständische Hierarchie, dem Parlamentarismus die Diktatur, der Verständigung die Gewalt entgegen.
5 Eine ganze Anzahl verschiedener Kräfte – oft in innerem Gegensatz zueinander stehend – haben die Krise der europäischen Demokratie herbeigeführt. Es sind einmal in bunter Reihe die mannigfachen Kräfte, die gegen den Grundsatz der Mehrheitsherrschaft ankämpfen. Hierzu gehören die privilegierten Schichten der Vergangenheit, wie Bürokratie und bevorzugte Stände, die den Kastenstaat gegen übler dem Volksstaat vertreten. Es gehören dazu aber auch die reinen Wirtschaftsmächte, die, durch freien Wettbewerb und Rechtsgleichheit emporgekommen, eine wirtschaftlich monopolisierte Machtstellung erworben haben. Sie sehen den Ausbau und die Forterhaltung dieser Stellung durch die politische Mehrheitsherrschaft gefährdet. Es zählen dazu indes auch die Minderheitsfanatiker des Proletariats, die ihre Minderheitsinteressen nur durch diktatorische Vergewaltigung der Mehrheit durchsetzen
196 | Krise der Demokratie können. Und zu ihnen stoßen schließlich aristokratisch gestimmte Intellektuelle, die das Herrschaftsrecht der Minderheit teils aus ihrer Zugehörigkeit zu einer solchen, teils aus romantischem Hang zu einer farbigen Gesellschaftsgestaltung ableiten, in der aktive, in funkelnden Facetten ausgeschliffene Einzelpersönlichkeiten der trägen, eintönigen Masse gegenübertreten, die als Demokratie gilt. Aus einer Mischung ständischer mittelalterlicher Tradition und moderner rassenbiologischer Naturwissenschaft erbauen sie das philosophische Gehäuse, hinter dessen schützende Mauern sich die praktischen Interessen dann zurückziehen, wenn sie das Geistige – das sie sonst als Theorie verachten – zur Irreführung der öffentlichen Meinung benötigen. Diese Theorien werden zu einer lebendigen Macht, wenn sie die abstrakte Formulierung des leidenschaftlichen Selbstbewußtseins einer nationalen Minderheit darstellen, deren gewohnte Daseinsformen eine anders geartete Mehrheit gefährdet. Sehr viel alltäglicher sind die Tatsachen, die der zweiten Gruppe von Angriffen gegen die Demokratie zum Ausgangspunkt dienen. Die Demokratie, insbesondere die parlamentarische Demokratie, kann ohne dauernde Mehrheit nicht funktionieren. Wenn die wirtschaftlich-politische Zerrissenheit der Gegenwart die Bildung solcher Mehrheiten unmöglich macht, sind die gesetzgeberischen Aufgaben des Staates gefährdet. Da das zu einer Zeit geschieht, wo tiefgehende rücksichtslose gesetzgeberische Eingriffe unerläßlich sind, so ist die parlamentarische Lähmung keine bloße vorübergehende Unbequemlichkeit, sondern ein Vorbote der Auflösung. Die gleichen Schichten, die für die Herbeiführung dieser Lähmung mitverantwortlich sind, erstreben dann ihre Überwindung auf außerparlamentarischem Wege. Ihre Forderung muß nicht anti-demokratisch sein. Ein auf demokratischer Basis gewählter Präsident mit zeitlich befristeter diktatorischer Vollmacht wäre zwar eine Verneinung des Parlamentarismus, aber nicht der Demokratie. Sie findet ihre stärkste Unterstützung in Kreisen, die nicht das Ziel, sondern die Methode lockt, die kein Interesse an rational gestalteter wirtschaftlicher Gesetzgebung haben, sondern die den Diktator als solchen ersehnen. Diese Kreise bekämpfen Demokratie und Parlamentarismus: Demokratie, weil sie Gleichberechtigung bedeutet; Parlamentarismus, weil er ein System der Verhandlungen ist. Sie glauben an sozialen Militarismus, an ein Regierungssystem, das sich nicht sowohl praktisch-wirtschaftliche Teilaufgaben stellt, sondern große nationale Allgemeinziele, und das seine Ziele mit Gewalt verwirklicht Diese Gewalt ist kein bloßer Notbehelf, sondern die normale Regierungsweise. In dieser Auffassung stimmen koloniale Imperialisten mit Syndikalisten, Fascisten der verschiedensten nationalen Färbungen und Bolschewisten überein. Es ist in letzter Linie eine Revolte des Gefühls und des Wollens gegen Vernunft und Zwang; eine Auflehnung der persönlichen Freiheit, des Dranges ungebärdiger Jugend gegen den kalten Determinismus einer durch immanente Gesetze bedingten sozialen Bindung. Dahinter steht die unklare Vorstellung, daß diejenigen, die stark sind, recht haben, und dank dieser Stärke den richtigen Weg gehen. Es ist einerlei,
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ob diese Stärke gottgegeben und ihre Auswirkung damit gottgewollt ist oder ob sie gewissermaßen selbstgegebene, selbstgewollte Ziele setzen und erreichen kann. Dieser Geist der Gewalttätigkeit, den der Krieg erzeugt und den die Verzweiflung geboren hat, ist es, der die Krise der parlamentarischen Demokratie unendlich verschärft hat. Solange er fortdauert, ist nicht nur die Demokratie, sondern auch die soziale Ordnung gefährdet. Es scheint, indes, daß sein Einfluß im Sinken ist. In ein paar Jahren vielleicht wird die Welt wieder wissen, daß Gewalt keine Probleme löst. Es hat in der Vergangenheit Diktatoren gegeben, deren unbeschränkte Macht kein Parlament eingeengt hat. Sie hatten die bestehende Verfassung zerbrochen und betrachteten sich, vielleicht mit Recht, als die Erwählten des Volkes. Sie gingen ihren Weg, indem sie der inneren Stimme lauschten, der Stimme der Vorsehung. Manche von ihnen, wie Oliver Cromwell, haben zu den größten Figuren auf der Bühne der Welt gehört. Sie haben den gordischen Knoten mit scharfem Schwerte zerhauen. Ihr Werk ist nicht von Dauer gewesen. Sie haben die parlamentarischen Einrichtungen, die sie vernichtet hatten, bald wieder in irgendeiner Form aufbauen müssen. Sie brauchten eine Vertretung, die sie bei ihrer Aufgabe unterstützen sollte. So gaben sie selbst einen Teil der Macht zurück, die sie mit Gewalt gewonnen hatten. Und es ist noch keinem Diktator beschieden gewesen, einen Nachfolger zu finden, der sein Werk hätte zu Ende führen können. Wäre ein moderner Diktator vom Volke gewählt, von allen Fesseln des parlamentarischen Systems befreit, imstande, nicht nur die gewaltigen Fragen der Gegenwart zu meistern, sondern auch die Grundlagen eines politischen Systems zu legen, das Dauer hätte? Wäre seine Herrschaft etwas anderes als ein vorübergehendes Zwischenspiel, an dessen Abschluß kein Erbe steht? Parlamente und parlamentarische Einrichtungen bringen nicht regelmäßig große Männer hervor. Demokratische Regierungen sind häufig mittelmäßig. Das ist erträglich, denn man kann das System der Demokratie mit mittelmäßigen Kräften fortführen. Ein mittelmäßiger Diktator ist eine Unmöglichkeit. Aber selbst eine machtvolle Persönlichkeit, die nicht von ihren Gefolgsleuten abhängig ist, die stark genug ist, um sowohl mit einer parlamentarischen Opposition als auch mit dem Generalstreik fertig zu werden, selbst ein solcher Mann kann seinem Volke nicht den ebenbürtigen Erben verbürgen. Und sein Erfolg, sei er noch so groß, wäre doch nur der Anfang eines neuen Kampfes zwischen einem persönlichen Herrscher und den Kräften der Nation, die Vertretung verlangen. Der politische Dualismus, der so viele Kapitel der modernen Geschichte ausgefüllt hat, würde von neuem beginnen. Und eine neue Demokratie wäre das Ende.
198 | Krise der Demokratie 6 Die Demokratie ging von dem Glauben an die natürliche Gleichheit der Menschen aus, von der Überzeugung, daß alle Menschen, weiß und schwarz, arm und reich, eine lebendige unsterbliche Seele besitzen und daß der Besitz dieses höchsten Gutes ihnen ein Recht auf Anteilnahme an der Regierung der Gemeinschaft gibt. Die modernen Menschen haben diesen Berge bewegenden, leidenschaftlichen Glauben einer primitiven Demokratie verloren. Sie nehmen die Verschiedenheit der Menschen als gegebene Tatsache hin. Sie gehen von Unterschieden in Farbe und Fähigkeit, in Begabung und Tüchtigkeit aus. Ihre Vorstellungen sind in den letzten Jahren insbesondere durch biologische Untersuchungen beeinflußt worden. Sie können und wollen naturwissenschaftliche Tatsachen, das Vorhandensein von Rassen- und Klassenunterschieden, nicht leugnen. Sie können aber aus bestimmt erwiesenen körperlichen Eigenschaften nicht ohne weiteres auf die Anwesenheit oder die Abwesenheit unabänderlicher geistiger und moralischer Funktionen schließen und einfach annehmen, daß bestimmte Eigenschaften durch alle Zeiten, bestehen werden, weil man bis jetzt ihre Veränderung noch nicht hat feststellen können. Man kann den Glauben an die völlige Gleichheit und Einheitlichkeit der Menschheit, den die Demokratie der Vergangenheit mit glühendem Missionsfanatismus predigte, nicht länger aufrecht erhalten; man muß von nationalen und sozialen Verschiedenheiten ausgehen. Physisch-psychische Verschiedenheit ist aber nicht gleichbedeutend mit sozialer Unterlegenheit oder sozialer Überlegenheit. Sie bedeutet vielfach nur verschiedene Veranlagung für verschiedene soziale Aufgaben. „Im Hause meines Vaters sind viele Räume.“ Ein sozialer „Pluralismus“, der soziale und nationale Mannigfaltigkeit einer sozialen und nationalen Einförmigkeit (denn strenge Einheitlichkeit in diesem Sinne ist Einförmigkeit) gegenüberstellt, muß die Grundauffassung bilden, von der aus die Überbrückung der modernen Spannungen versucht werden kann. Gleichwertigkeit ohne Gleichartigkeit ist das gesellschaftliche Problem, das gelöst werden muß. Nur so wird es möglich sein, die nationalen Reibungen zu überwinden, die in den Tagen umfangreicher neuer Wanderbewegungen durch regionale Absonderung nicht beseitigt werden können. Und wenn man rassenmäßige Abneigung im Inland und im Ausland nicht bloß als gewichtige soziale Spannungen des täglichen Lebens betrachtet, sondern als biologische Grundgesetze, die bestimmten Schichten dauernde Herrschaft und anderen dauernde Dienstbarkeit auferlegen, dann ist ein sozialer Zersetzungsprozeß unvermeidbar. Dann hat die Demokratie keine Zukunft. Und ihre Zukunft ist gefährdet, wenn man den Versuch macht, eine soziale Ordnung aufrechtzuerhalten oder neu aufzurichten, in der das Privateigentum sich in den Händen einiger weniger befindet. Die Zeit, wo Grundbesitz und bewegliches Kapital in der Hand einer schmalen Schicht war, die sich gleichzeitig im Besitze der politischen Macht befand, weil die Massen blöde und knechtisch waren, ist vorüber. In einigen Ländern wird sich vielleicht eine Art von industriellem Feudalismus aus-
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bilden können. Er wird nicht von Dauer sein. Der moderne Kapitalismus bedarf einer intelligenten Arbeiterschaft. Er kann die Menschen nicht so abrichten, daß sich ihre Intelligenz auf denjenigen Teil ihrer Tätigkeit beschränkt, der den Zwecken der Arbeitgeber dient und die Gebiete ausläßt, wo politische Schwierigkeiten entstehen können. Die Menschheit hat sich einstweilen für das System des modernen Privatkapitalismus entschieden. Sie muß auf dem einmal gewählten Wege weitergehen. Der Kapitalismus muß dafür sorgen, daß ihm dauernd eine intelligente Arbeiterbevölkerung zur Verfügung steht. Er braucht ihre Intelligenz und sorgt für die notwendige Erziehung. Er hat sich über die ganze Welt verbreitet und er denkt nicht daran, sich selbst Halt zu gebieten und umzukehren. Er kann nicht den Versuch machen, diesen intelligenten Arbeitern die politischen Rechte vorzuenthalten. Sie haben das Stimmrecht bekommen und sie werden es behalten. Sie werden nie wieder bereit sein, ihren Führern zur Wahlurne zu folgen, wie ihre Urahnen ihnen vor Jahrhunderten in den Krieg gefolgt waren. Sie haben politische Macht bekommen und sie werden sie anwenden. Es ist unmöglich, eine Ordnung herbeizuführen oder aufrechtzuerhalten, bei der die Vielen die Stimme haben und die Wenigen das Geld. Die neue soziale Ordnung, die sich langsam herausbildet, wird wahrscheinlich keine rein sozialistische Ordnung sein. Fast in jedem Lande finden sich Millionen kleiner Eigentümer, die einer Politik der Sozialisierung und der Enteignung leidenschaftlichen Widerstand entgegensetzen werden. Wenn sich aber Privatmonopole herausbilden, die ihren Eigentümern dauernd die Herrschaft über die übrige Bevölkerung ermöglichen, und wenn es sich zeigt, daß diese Monopole aus technischen Gründen im Interesse der Produktion beibehalten werden müssen, dann wird der Staat auf eine Kontrolle der Monopole nicht verzichten, wenn anders die Demokratie bestehen soll. Und die Welt kann nicht in Ruhe und Frieden leben, wenn der soziale Gegensatz zwischen den Besitzlosen und den Besitzenden zwar in der inneren Politik verschwinden würde, in der Außenpolitik aber fortdauerte. Die Demokratie hat keine Zukunft, wenn die Welt in zwei Gruppen von Ländern zerfällt, die völlig ungleiche Entwicklungsmöglichkeiten haben. Eine Weltordnung, bei der die großen unerschlossenen Teile der Erde von einigen wenigen bevorzugten Nationen monopolistisch ausgebeutet werden, die anderen die Beteiligung an diesem Reichtum versagen, kann nicht dauern. Seit dem großen Krieg sind die internationalen Wirtschaftsbeziehungen enger geworden als früher. Ein Netz finanzieller Beziehungen spannt sich zwischen Schuldnern und Gläubigern über die ganze Erde. Es bedeutet sozusagen eine Umkehrung des Zustandes der Vergangenheit. Früher war der Schuldner – die jungen Länder – reich, zum mindesten an Entwicklungsmöglichkeiten; heute ist er – das alte Europa – arm. Die internationalen Wirtschaftsbeziehungen werden auf die Dauer nur gesichert sein, wenn das Monopol der Entwicklungsmöglichkeiten, das einzelne Völker besitzen, durch internationale Zusammenarbeit gebrochen wird. Kein Völkerbund kann dauern, auch wenn er alle Staaten der Erde umfaßt,
200 | Krise der Demokratie wenn von seinen Mitgliedern die Vielen die Stimme haben und die Wenigen das Geld. Armut, hoffnungslose Armut, nicht Reichtum sind immer und überall die Ursache der Unruhen und der Keim der Gewalttätigkeit gewesen. Arme Länder, nicht reiche Länder bedrohen die Welt. Wenn die Menschen zur Überzeugung kommen, daß die empörende Ungleichheit, die im Innern herrscht, und die empörende Ungleichheit, die zwischen den Völkern besteht, durch Verständigung nicht beseitigt werden kann, wenn kein Weg erkennbar ist, die gegenwärtige Ordnung der Dinge friedlich zu ändern, dann wird aus der Verzweiflung immer wieder die Gewalt geboren werden. Der große Krieg ist nicht eine Folge der wirtschaftlichen Kämpfe gewesen, die in den Jahren vor seinem Beginn spielten. Wäre er auch ausgebrochen, wenn überall in der Welt wirtschaftliche Zufriedenheit geherrscht hätte? Wenn auf der einen Seite nicht das Gefühl des Neides bestanden hätte, daß die Besitzlosen gegen die Besitzenden hegen, und wenn auf der anderen Seite nicht die blasse Furcht gewesen wäre, die die Begünstigten vor den Benachteiligten, empfinden? Kann die europäische Menschheit nichts aus ihren Erfahrungen lernen? Muß sie immer wieder Wege gehen, die nicht zum Ziele führen? Muß sie immer wieder von neuem mit alten Regierungsformen spielen? Wenn der Geist des wirtschaftlichen Monopolismus, in unheiliger Verbindung dem Geiste sozialer Gewalttätigkeit vermählt, die Herrschaft über die Menschheit gewinnt, wird die Krise der Demokratie zur Krise der Menschheit werden.
7 Die Zukunft des deutschen Liberalismus (1926) I Hat der Liberalismus noch eine Aufgabe? Die Frage, ob der Liberalismus, insbesondere der deutsche Liberalismus, eine Zukunft hat, hängt von dem Sinne ab, den man dem Worte Liberalismus gibt. Versteht man unter „Liberalismus“ nur die Parteien oder Gruppen, die sich selbst liberal nennen, oder diejenigen, die sich mit Recht oder Unrecht als Nachfolger der alten Liberalen betrachten und dabei gern das Wort „bürgerlich“ hinzufügen, so mag die Antwort verneinend ausfallen. Das ist aber eine Fragestellung, die am Kern des Problems vorbeigeht. Eine Partei ist eine Organisation zur Erreichung bestimmter Zwecke. Die Setzung dieser Zwecke, die Auswahl und die Anwendung der zu ihrer Erreichung geeigneten Mittel sind vielfach weltanschauungsmäßig bedingt. Sobald das Ziel erreicht ist, wird daher die Organisation als solche überflüssig; sie pflegt sich aber dem natürlichen Trägheitsmoment folgend fortzuerhalten und leicht einem innerlich hohlen, aber betriebsamen Opportunismus zu verfallen, wenn sie sich keine neuen Ziele zu stecken vermag. Eine Weltanschauung, die sich in der praktischen Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens sieghaft durchgesetzt hat, wird dadurch aber noch lange nicht überflüssig; sie würde höchstens selbstverständlich werden und infolge der Selbstverständlichkeit die revolutionäre Kraft einbüßen, die ihr vorher innewohnte. Da sie aber als Ganzes kaum unwidersprochen in das Bewußtsein der gesamten Gesellschaft übergehen wird, so wird sie, wenn sie erst siegreich geworden ist, sich auf der einen Seite gegen das Aufbäumen einer durch sie überwundenen älteren Weltanschauung wehren müssen und auf der andern Seite sich gegen die Angriffe einer jüngeren, der sie selbst das Leben gegeben hat, die aber über die von ihr gesetzten Grenzen hinausstrebt, zu verteidigen haben. Das ist das Schicksal des Liberalismus gewesen. Er war von Anfang an eine Weltanschauung, die von der Freiheit der menschlichen Persönlichkeit ausging. Er erstrebte diese Freiheit nicht unbedingt im Sinne der philosophischen Willensfreiheit. Im Gegenteil, er unterstellte menschliches Können und menschliches Wollen einer sich mit naturgesetzlicher Notwendigkeit abrollenden Ursächlichkeit. Er bekämpfte die Willkür, die die menschlichen Beziehungen, seiner Meinung nach im Gegensatz zu einer dem Wesen der Dinge entsprechenden inneren Ordnung, der Laune von Despoten überantwortete. Weil der Liberalismus an das Gottesgnadentum der einzelnen Menschen glaubte, das sich in seiner Vernunftfähigkeit offenbarte, bekämpfte er das Gottesgnadentum der Monarchen, die, ein besonderes Auserwähltsein beanspruchend, den anderen ihre Autorität aufzuzwingen trachteten. Der Liberalismus ist in seinem innersten Wesen antiautoritär, aber nicht in dem Sinne, daß der einzelne sich keiner Autorität zu fügen habe. Er bekämpft nur die Autorität, die den von ihren Auswirkungen Betroffenen weder Rechenschaft zu geben dachte, noch sich zur vernünftigen Begründung ihrer Befehle verpflichtet
202 | Krise der Demokratie fühlte, die befahl, weil sie die Macht hatte, und die die Macht hatte, weil sie zwingen konnte. Der Liberalismus hat sich in der Vergangenheit nach drei Richtungen gegen die großen Mächte der Unterdrückung gewendet: die religiös-geistige Unterdrückung durch Kirche und Staat, die persönlich-politische Unterdrückung durch den Staat mit seiner zivilen und militärischen Bürokratie, die wirtschaftliche Unterdrückung durch monopolistische Korporationen. Der Kampf gegen diese Mächte hat sein Lebenswerk ausgemacht; ein Teil davon ist vollendet; soweit das der Fall ist, mag er überflüssig geworden sein. Im Kampf gegen die geistige Unterdrückung hatte sich der Liberalismus bald gegen despotische Kirchen, bald gegen den Staat zu wenden, der die Kirche unterstützte oder sich an ihre Stelle setzte. In katholischen Ländern hat er vielfach im Bunde mit dem Staat sich gegen die Kirche gewendet, um die persönliche Gewissensfreiheit zu erkämpfen. Er ist dabei häufig in einen nicht nur antikirchlichen, sondern antireligiösen Säkularismus ausgeartet. In einzelnen Fällen, wie zum Beispiel im preußischen Kulturkampf, hat er sogar gelegentlich seine eigenen Grundsätze verleugnet. In den meisten protestantischen Ländern hat er sich dem Staatskirchentum erfolgreich widersetzt und das Recht des persönlichen freien Glaubens und der freien Meinungsäußerung verteidigt. Aber selbst auf diesem Gebiet ist der Sieg des Liberalismus nicht so gesichert, daß sein Fortbestand überflüssig geworden wäre. Die Forderung „Freie Kirche im freien Staat“ mag im großen ganzen verwirklicht sein. Aber es besteht durchaus nicht die Sicherheit, daß der moderne Staat die Gewissens- und Meinungsfreiheit aller seiner Mitbürger respektieren wird. Man braucht die schwierige Frage, wo das Recht zur freien Meinungsäußerung etwa in Aufforderung zur Gewalttätigkeit übergeht, gar nicht anzuschneiden. Ein bloßer Hinweis auf Rußland und Italien genügt, um zu zeigen, daß das Recht der freien Meinungsäußerung nicht überall gesichert ist. Das ist nicht bloß eine Frage der Regierungsverfassung. Die Demokratie als solche braucht ebensowenig tolerant zu sein wie die Diktatur oder die Oligarchie der Vergangenheit. Wenn amerikanische Staaten die Erörterung der Entwicklungslehre in den öffentlichen Schulen verbieten, so ist das grundsätzlich nichts anderes, als wenn deutsche Staatsanwälte kommunistische Dichter verfolgen oder wenn der englische Zensor die äußere Sittlichkeit des Theaters garantiert. Nicht anders ist es auf dem zweiten Gebiet, dem Gebiet der Freiheit vor den Übergriffen des Staates und seiner Organe gegenüber dem Staatsbürger. Auch hier muß man nicht gleich an Gewalttaten von Fascisten und Bolschewisten denken. Selbst in der ordnungsliebenden deutschen Republik haben der Fall Höfle und seine Begleiterscheinungen gezeigt 22, daß der einzelne gegen Zugriffe der richterlichen || 22 [Der ehemalige Reichspostminister Anton Höfle (Zentrum), der im Zuge des sog. BarmatSkandals um die Vergabe eines großzügigen, nicht hinreichend abgesicherten Kredits von seinem
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Behörden nicht genügend geschützt ist. Und wenn es sich dabei herausstellen sollte, daß formal durchaus korrekt verfahren worden ist, so wäre damit nur bewiesen, wie gering die bestehende legale Sicherung ist. An Stelle eines Monarchen von Gottes Gnaden ist eben vielfach eine Bürokratie getreten, die sich selbst von Gottes Gnaden dünkt, und deren Vorstellungen über das Recht der persönlichen Freiheit teilweise hinter der Auffassung zurückbleiben, die die englischen Barone im Jahre 1215 in der Magna Charta ihrem König aufzwangen. Die Behandlung des Budgetrechtes des deutschen Reichstages, dieses Grundrecht der politischen Freiheit, seitens der der Bürokratie entstammten Finanzminister beweist überdies, wie wenig das grundsätzliche Werk des Liberalismus gesichert ist. Der geringe Widerspruch, den solche Verletzungen in der öffentlichen Meinung finden, läßt keine Zweifel daran, daß der Liberalismus als Weltanschauung nicht sowohl überaltert als jugendlich unreif ist. Deutlicher als alles andere zeigt das der Ruf, der in so vielen Ländern nach dem Diktator erschollen ist. Die psychologische Grundlage der Diktatur ist der Glaube an die persönliche Eingebung, die Verneinung der vernünftigen Erkenntnis; ihr praktisches Mittel ist der Zwang, der sich bewußt an die Stelle der Überredung setzt. Der Liberalismus hat den Zwang als einzig zulässige regelmäßige Methode des Regierens abgelehnt, wenngleich er in einzelnen Fällen auf ihn zurückgreifen mußte. Der Glaube an die Diktatur geht aber davon aus, daß der Zwang als solcher vortrefflich sei und daß er eigentlich auch da angewendet werden müsse, wo er überflüssig und schädlich ist. Die Diktatur als solche ist die Verneinung des Parlamentarismus, nicht der Demokratie, und der Parlamentarismus, das System der Verständigung, ist die eigentliche Regierungsform des Liberalismus. Der Ruf nach der Diktatur bedeutete daher nicht, daß der Liberalismus überholt, sondern nur, daß er gefährdet ist. Der Sieg der Diktatur hätte nur die Folge, daß der Liberalismus die Aufgaben, die er schon einmal gelöst hat, noch einmal lösen müßte. Mussolini und Lenin sind daher nicht die Überwinder des parlamentarischen Liberalismus, sie geben ihm im Gegenteil neue Ziele und neues Leben. 23 Auf den Gebieten des wirtschaftlichen Lebens hat der Liberalismus die Monopole des Zunftzwanges und des Konzessionswesens aufgelöst und dadurch den aufstrebenden Mittelklassen den Weg zum Erfolg durch wirtschaftliche Freiheit geebnet. Es hat zeitweilig so ausgesehen, als ob er durch das System des freien Wettbewerbs nicht nur die beste Versorgung der Allgemeinheit sichern, sondern auch eine Befreiung der einzelnen von wirtschaftlicher Abhängigkeit herbeiführen könne. Sein Werk auf dem europäischen Kontinent waren die Bauernbefreiung, die Gewerbefreiheit, die Freizügigkeit. Aber gerade die Schichten, die er befreite, sind auf dem || Amt zurücktreten musste, starb am 20. April 1925 unter ungeklärten Umständen in der Untersuchungshaft.] 23 Ausführlicher habe ich dieses Problem in „Die Krisis der europäischen Demokratie“ (München 1925) besprochen.
204 | Krise der Demokratie Wege, neue Formen des wirtschaftlichen Zwanges zu finden, Monopole, die den einzelnen, wenn er auch formal frei ist, in drückender Abhängigkeit halten. Ohne wirtschaftliche Freiheit ist aber wirkliche persönliche Freiheit unmöglich. Dieser Gedanke, den der Sozialismus gegenüber dem Liberalismus so gern vertritt, ist dem Liberalismus nicht unbekannt gewesen. Er hoffte aber, ihn durch das System des freien Wettbewerbes verwirklichen zu können. Darin hat er sich getäuscht. Aber wenn der Sozialismus meinte, etwa durch einen konsequenten Staatssozialismus die wirtschaftliche Befreiung schaffen zu können, und damit zur Verneinung des Liberalismus kam, so hat auch er sich geirrt. Dem Staate und der Bürokratie sollte die gesamte Wirtschaftsmacht in der Hoffnung übertragen werden, daß dann in einem demokratischen Gemeinwesen die Freiheit aller gesichert sei. Diese Erwartungen werden sich, wenn überhaupt, nur langsam verwirklichen. Jede Bürokratie ist machtgierig. Auch wenn sie verfassungsmäßig dem Willen der Mehrheit untersteht, wird sie verwaltungsmäßig immer zu herrschen, das heißt zu zwingen suchen. Die Demokratie als solche garantiert überdies die Freiheit nicht, wenn es keine Demokratie ist, deren Einrichtungen und deren Geist von liberalen Gedanken erfüllt sind. Man kann es paradox so ausdrücken: wenn der Sozialismus als kollektivistischer Sozialismus Wirklichkeit würde, so wäre das sicher nicht das Ende des Liberalismus auf wirtschaftlichem Gebiet, sondern nur der Beginn seiner Umstellung. Er müßte dann auf wirtschaftlichem Gebiet Garantien ersinnen, um den Einzelnen in seiner persönlichen Existenz vor dem Druck des wirtschaftlichen Staatswillens zu schützen, wie er in der Vergangenheit Garantien hat erfinden müssen, um ihn vor Gewissenszwang und politischer Bedrückung zu retten. Die Organisation des Wirtschaftslebens als solche ist nur ein Mittel der Freiheit, nicht der Inhalt der Freiheit. Wenn der Liberalismus in der Vergangenheit für das System des freien Wettbewerbs eingetreten ist, so geschah das bei denjenigen, die ihrer Weltanschauung nach, nicht bloß ihren Interessen nach handelten, aus der Vorstellung heraus, das freie Spiel der Kräfte sei die beste Garantie dafür, daß der Einzelne nicht zu wirtschaftlicher Abhängigkeit von anderen verurteilt bleibe. Wenn das freie Spiel der Kräfte in der Wirklichkeit versagt, weil es auf der einen Seite durch Monopole der Vergangenheit eingeengt ist und weil auf der anderen Seite, bedingt durch den technischen Aufbau der modernen Wirtschaft, sich neue Monopole aus ihr herausbilden, dann muß die Aufgabe des Liberalismus die Regelung des Monopolismus sein. Und wenn die Auflösung des Monopolismus unmöglich wird, weil das Leben aus technischen Gründen Monopole zu brauchen scheint, dann müssen sie im Interesse der Gesamtheit beherrscht werden, damit sie nicht die Gesamtheit vergewaltigen. Dann wird der Liberalismus die Frage des Schutzes der persönlichen Freiheit auf wirtschaftlichem Gebiet mit neuen Methoden lösen müssen. Dann wird er zu entscheiden haben, ob private Monopole, die staatlicher Regelung unterstehen, so daß ihnen die Macht zur Vergewaltigung der einzelnen entzogen wird, zweckmäßiger sind als staatliche Monopole, deren Verfassung die einzelnen vor der Tyrannis der Bürokratie beschützt. Wenn der Liberalismus die wirtschaftliche Freiheit nicht durch freien
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Wettbewerb sichern kann, weil der freie Wettbewerb in Monopolen mündet, so muß er andere Wege gehen, um die Freiheit zu gewinnen.
II Sind in Deutschland die Kräfte vorhanden, die diese Aufgabe des Liberalismus lösen können? Es ist ausgeschlossen, die alte Front des bürgerlichen Liberalismus wieder herzustellen. Einmal sind die alten Gegner, im Kampf gegen die er groß geworden ist, größtenteils nicht mehr vorhanden. Gewissenszwang und politische Drangsalierung sind in der deutschen Republik nur dann möglich, wenn die deutsche Demokratie sich zu religiöser und politischer Vergewaltigung mißbrauchen läßt. Soweit Reste eines früheren Zwangssystems vorhanden sind, ist sicherlich ihre Bekämpfung nicht ausschließlich „liberale“ Sache. Auf diesem Gebiet sind die Gedanken des Liberalismus längst Bestandteile des sozialistischen Programms und der sozialdemokratischen Praxis geworden. Sie werden von dem größten Teil der Zentrumspartei geteilt. Dagegen hat sich zweifelsohne auf der anderen Seite ein Teil der Schichten, die früher „liberal“ waren, losgelöst, um in das Lager derjenigen überzutreten, die dem autoritären Regierungssystem huldigen. Der eigentliche unmittelbare Erbe des Liberalismus ist die Demokratische Partei. Sie hat bei ihrer Begründung offen und bewußt das Ziel erstrebt, die großen Gedanken des Liberalismus zu übernehmen und sie im liberalen Geiste in einer veränderten Welt zur Durchführung zu bringen. Sie hatte damit im Jahre 1919 einen überwältigenden Erfolg. Daß sie seitdem eine kleine Partei geworden ist, entspricht gerade diesem Umstand. Diejenigen Kreise, die sich heute in der „Deutschen Volkspartei“ zusammenfinden, nachdem sie in den Umsturzjahren ihre Zuflucht bei der Demokratischen Partei gefunden hatten, sind meist nur in dem gleichen bedingten Sinne liberal wie die alte Nationalliberale Partei. Nach Erreichung der Gewissensfreiheit und nach ihrem Eintritt in die Reihe der herrschenden Klassen haben sie an dem eigentlichen liberalen Gedanken kein Interesse mehr. Sie sind in ihrem innersten Kern eine Wirtschaftspartei des Unternehmertums geworden, deren Überschätzung des rein Wirtschaftlichen viel stärker ist als diejenige der Sozialdemokratie. Man kann ohne Übertreibung sagen, daß die einzigen echten Marxisten, die es in dieser Beziehung in Deutschland noch gibt, in den Kreisen der Großindustrie sitzen, Marxisten, deren wirtschaftsphilosophischer Materialismus ihnen selbst allerdings nicht zum Bewußtsein kommt. Für sie ist Liberalismus nur noch Widerstand gegen die Einmischung des Staates, insbesondere auch den Monopolen gegenüber. Die Demokratische Partei hingegen ist gerade darin eine bewußt liberale Partei in dem Sinne, daß sie die klassenmäßige Einstellung auf Arbeiter- wie auf Unternehmerseite ablehnt und die Politik nicht als bloßen Ausfluß der Wirtschaft betrachtet. Dadurch ist sie in normalen Zeiten zahlenmäßig zu geringer Stärke verurteilt, denn sie kann nur dort dauernde Unterstützung finden, wo weder berufsmäßige noch
206 | Krise der Demokratie klassenmäßige Bindungen vorliegen. Es ist nicht wahrscheinlich, daß sich das im Laufe der nächsten Zeit ändern wird, da die Probleme der Gegenwart vorwiegend wirtschaftlich sind. Infolge der auswärtigen Lage ist das lange Zeit nicht immer klar zutage getreten. Der deutsche Liberalismus ist in der Vergangenheit im echten Sinn des Wortes national gewesen: die deutsche Einheitsbewegung war sein Werk. Eine Weltanschauung, die die Vergewaltigung des eigenen Volkes durch eigene Despoten bekämpfte, muß naturgemäß mit noch größerer Leidenschaft sich gegen die Vergewaltigung durch fremde Tyrannen wenden. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist daher eine liberale Grundforderung gewesen. Aber gerade aus dieser Forderung heraus war der Liberalismus auch international. Wenn ein Volk das andere nicht durch Gewalt beherrschen soll, dann muß das Zusammenleben der Völker, das nun einmal nicht zu vermeiden ist, durch Verständigung und nicht durch Zwang erfolgen. Dieser logische Zusammenhang zwischen Nationalismus und Internationalismus führt in seinen letzten Konsequenzen zu einem Gebilde wie dem Völkerbund, der seinem innersten Wesen nach eine Verwirklichung dieses Doppelgedankens sein müßte. Die Gestaltung der Friedensverträge nach dem großen Kriege hat aber diesen Zusammenhang für Deutschland zerrissen. Wo nationale Gewaltherrschaft vor dem Kriege bestand, ist sie nicht beseitigt, sondern nur umgekehrt worden. Die Sünden der preußischen Polenpolitik wurden sicher dadurch nicht gut gemacht, daß man den Polen Gelegenheit gegeben hat, sie durch Deutschenverfolgungen zu übertreffen. Wohl aber wurde der Glaube an die liberalen Ideen dadurch erschüttert, daß ihre berufenen auswärtigen Vertreter im entscheidenden Augenblicke des Sieges auf ihre Durchführung verzichteten. Nichts hat dem Liberalismus in Deutschland mehr geschadet als diese Verleugnung seiner Grundsätze im Frieden von Versailles seitens der westlichen Demokratien. Deutschland ist heute, nach Locarno, immer noch kein souveräner Staat. Es untersteht immer noch einem verwickelten System der Fremdherrschaft. Die Beseitigung dieses Systems ist die wichtigste Aufgabe deutscher Staatskunst. Die deutsche Demokratie hat den Versuch gemacht, diese Befreiungspolitik im Sinne ihrer liberalen Ideen durch Verhandlung und Verständigung durchzuführen, ein Versuch, der schon deswegen gemacht werden mußte, weil Machtmittel nicht zur Verfügung standen. Die lange Reihe von Demütigungen und Mißerfolgen, die dieser Politik bis zur Annahme des Dawesplanes und der Locarnoverträge beschieden war, hat natürlich denjenigen Kreisen, die autoritär gesinnt sind und Macht und Zwang als geheiligtes Prinzip vertreten, auch wenn sie gar nicht in der Lage sind, sie anzuwenden, sehr große Betätigungsmöglichkeiten gegeben. Wenn die nationale Freiheit nicht gesichert ist, ist natürlich auch die Freiheit eines jeden einzelnen, insbesondere in besetzten Gebieten, gefährdet. Alles Freiheitsstreben kehrt sich daher in diese Richtung. Diejenigen Parteien, die auf dem Gebiet des Geistes, der inneren Verwaltung, der Wirtschaft Gegner der Freiheit und damit des Liberalismus sind, können unter diesen Umständen eine Rolle spielen, die ihrer inneren Bedeutung nicht entspricht,
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wenn sie die nationale Freiheit nur laut genug fordern. Sie greifen den nationalen Freiheitsgedanken auf und füllen ihn mit dem Gehalt bloßer Machtpolitik. Es ist nur zu begreiflich, daß diejenigen, die gedrückt und mißhandelt unter der Fremdherrschaft leiden, sich für die nationale Freiheit begeistern und den Freiheitsgedanken als solchen dabei mißachten. Dieser Zustand wird vorübergehen. Deutschland ist auf dem Wege, wieder ein souveräner Staat zu werden. Die Freiheit der eigenen Nation und die Verständigung mit anderen Nationen werden dann einander wieder bedingen. Dann wird der Liberalismus auf dem Gebiete der Außenpolitik ebenso Gemeingut aller Parteien sein wie die Befreiungspolitik, der Versuch, den deutschen Boden durch Verständigung mit den Gegnern zu befreien, schon heute ein Gemeingut aller deutschen Regierungen geworden ist, ganz einerlei, welcher Partei sie angehören. Der Kampf im Innern zwischen Zwang und Freiheit wird damit nicht aufhören, im Gegenteil, er wird ohne außenpolitische Hemmungen viel grundsätzlicher geführt werden können. Er wird sich in erster Linie auf dem wirtschaftlichen Gebiet abspielen und von dort aus alle Verfassungsfragen beeinflussen. Wird die Entscheidung im Sinne des Liberalismus fallen? Die Demokratische Partei als direkter Erbe des Liberalismus ist zu schwach, um ihre Anschauungen durchzusetzen. Sie ist eine kleine Partei und wird aller Wahrscheinlichkeit nach eine kleine Partei bleiben. Das wird aber nicht das Entscheidende sein. Da sie nicht klassenmäßig gebunden ist, kann sie in ganz anderer Weise grundsätzlich zu den Fragen Stellung nehmen wie die Parteien, die ausschließlich Klassen- und Berufsvertreter sind. Sie steht überdies mit ihrer liberalen Weltanschauung nicht allein. Auf die Schichten, die früher zum Liberalismus gehörten, wird sie allerdings nicht zählen dürfen. Parteien, die in der Schaffung eines bürgerlichen Blocks das Wesen des Liberalismus sehen, sind nicht liberal. Der Liberalismus kann den illiberalen Gedanken des Klassenkampfes, der im marxistischen Sozialismus steckt, nicht dadurch überwinden, daß er ihn sich in bürgerlicher Form zu eigen macht. Dagegen sind im Zentrum, insbesondere in Preußen, wo die Katholiken so lange unter Verfolgung und Zurücksetzung gelitten haben, starke politisch liberale Elemente vorhanden. Der Freiheitssinn der deutschen Katholiken, der sich so oft gegen den Zwangsstaat betätigt hat, wird immer lebendig werden, wenn es sich um den Schutz der menschlichen Persönlichkeit handelt, einerlei, ob es gegen den Staat oder das kapitalistische Monopol geht. Das gleiche gilt, was die praktische Einstellung betrifft für den größten Teil der deutschen Sozialdemokratie. Es gibt in ihr einzelne Gruppen, die vom Organisationsteufel besessen sind und in dem Zwang der Planwirtschaft die Freiheit der menschlichen Persönlichkeit verwirklicht sehen. Die Massen der deutschen Sozialdemokratie haben sich aber die geistige Ausrüstung des Liberalismus längst zu eigen gemacht. Sie haben die Waffen, die er ursprünglich geschmiedet hat, in manchem Strauß geführt, oft mutiger und erfolgreicher als die Liberalen selbst. Sie haben insbesondere in ihrem Kampf gegen den Bolschewismus gezeigt, daß sie ihr Dasein für den Freiheitsgedanken, wie ihn der Liberalismus
208 | Krise der Demokratie schuf, einzusetzen bereit sind. Sie gehen in der Theorie auf wirtschaftlichem Gebiete andere Wege wie der alte Liberalismus. Sie glauben an die Sozialisierung, aber vielfach doch in der gleichen entsagungsvollen Weise, in der der Liberalismus heute an den freien Wettbewerb glaubt. Beide Methoden würden, wenn sie folgerichtig angewendet werden könnten, der Menschheit die persönliche Freiheit sichern. Aber weder das eine noch das andere ist zurzeit möglich. Es wird schon viel erreicht sein, wenn man die Monopole durch ein System des freien Wettbewerbes kontrolliert und auf den Gebieten des Lebens, wo der freie Wettbewerb, behindert durch Monopole, noch existiert, die nötigen Sicherungen schafft. Der herrschsüchtige Kapitalismus der Gegenwart ist längst über den freien Wettbewerb herausgewachsen, er duldet ihn eigentlich nur auf dem Arbeitsmarkt. Die Methoden zu seiner Kontrolle sind heute noch nicht gefunden. Sie werden sich aber aus der liberalen Weltauffassung leichter und erfolgreicher entwickeln lassen als durch Sozialisierungsexperimente, die einstweilen nicht viel Aussicht haben. Wenn der Liberalismus diese Mittel zur Lösung ersinnt und in den Kämpfen um ihre Anwendung führt, wird er auch auf diesem Gebiete seine Lebensnotwendigkeit von neuem erweisen. Dieser Kampf wird aber nicht von einer einzigen geschlossenen Partei geführt werden, sondern, der deutschen Entwicklung entsprechend, durch Koalitionen. In ihnen kann die Demokratische Partei, eben weil sie die kleinste der Gruppen ist, die Rolle der geistigen Führung übernehmen. Namen und Programm, Mittel und Wege mögen sich dabei ändern: der Liberalismus als Weltanschauung wird jedoch bleiben. Denn immer wieder, wenn er müde von der Bühne abtreten möchte, werden ihm die Angriffe seiner Gegner neues Leben schenken. Erst dann wird er endgültig vom Schauplatz verschwinden, wenn die Ziele erreicht sind, für die er sich eingesetzt hat, wenn das Reich der Freiheit und Gerechtigkeit auf Erden verwirklicht ist. Solange es große und kleine Mussolinis gibt, solange Diktatoren gesucht und angeboten werden, so lange wird der Liberalismus leben. Denn er lebt durch den Kampf gegen die Gewalt; nur am Siege der Freiheit kann er sterben. Ich fürchte, es wird noch lange dauern, bis er sein „nunc dimittis“ sagen darf.
8 Die Krise des Parlamentarismus (1928) I Der Parlamentarismus als Regierungssystem kann wie jedes andere Regierungssystem unter zwei völlig getrennten Gesichtspunkten betrachtet werden. Er ist einmal eine Idee, die den Anforderungen der Menschen an Regierungen in mehr oder minder logisch vollkommener Weise entspricht. Er ist zum andern ein praktisches System, mittels dessen Gesetze gemacht und angewandt, Entscheidungen geplant und durchgeführt werden. Als abstrakte Idee ist er ein Teil der Bestrebungen, mittels deren die Menschen versuchen, durch äussere Einrichtungen und Massnahmen Glückseligkeit zu schaffen und zu verbreiten. Er verkörpert in dieser Beziehung den gleichen mystischen Gedanken wie das Königtum von Gottes Gnaden, die Vorstellung, dass der Staat überhaupt, beziehentlich die ihn vertretende Regierung, dank ursprünglicher, hinter dem rein Erkennbaren fliessenden Quellen, dem Seligkeitsbedürfnis der Menschen wenn nicht im Himmel so doch auf Erden genügen könne. Als gestaltende Kraft ist der Parlamentarismus daher in den Zeiten am stärksten, wo er sich einem überalterten anderen Regierungssystem gegenübersieht, dessen Leistungen die Menschen nicht länger befriedigen. Die parlamentarische Idee ist in solchen Zeiten die Idee der Befreiung und der Beglückung, die vielleicht ihren leidenschaftlichsten Ausdruck in den Tagen vor der französischen Revolution gefunden hat, als die mittelalterlichen Stände, zur Nationalversammlung umgebildet, Frankreich retten und beglücken sollten. Wo der Parlamentarismus dauernde praktische Gestalt gewonnen hat, pflegt sich der parlamentarische Mythos naturgemäss ebenso abzunutzen wie der Mythos des Königtums von Gottes Gnaden, wenn die praktischen Ergebnisse seines Wirkens nur geringe Spuren göttlicher Gnade aufweisen. Die Gedankengänge, die den Parlamentarismus als Idee bekämpfen, pflegen dann in solchen Zeiten in den Vordergrund zu dringen, während sie, wie etwa die Ausführungen der Physiokraten gegen die Anhänger des alleinseligmachenden Parlamentarismus in Frankreich, völlig wirkungslos verhallen, solange der Mythos keine Dauergestalt annimmt. Da der Parlamentarismus der Gegenwart in den meisten Ländern zur Wirklichkeit des alltäglichen Lebens geworden ist, so ist er damit für die mystisch gestimmten Gruppen, die es in jedem Lande gibt, an und für sich aus der Reihe der erstrebbaren Möglichkeiten ausgeschieden. Denn der politische Mythos lebt von der Verneinung der politisch gegebenen Wirklichkeit; sein Streben gewinnt werbende Kraft nur durch sein Bemühen, ihn zu überwinden. Je mehr Dichter und Träumer von der Gottähnlichkeit des politischen Wirkens im möglichen und zu erstrebenden Staate erfüllt sind, umso mehr stört sie die Abwesenheit dieser die Politik in das Reich der Dichtkunst hebenden Züge im politischen Sein des Alltags. Und je mehr
210 | Krise der Demokratie man versucht, diesen Alltag durch den politischen Mythos bereits vergangener Zeiten zu verklären, umso mehr stört seine schreiende Nüchternheit. Zu diesen allgemeinen Stimmungseinwirkungen, mit denen jedes Regierungssystem rechnen muss, kommen heute noch besondere. Die praktischen Aufgaben der Gegenwart sind unzählig; die Mehrzahl von ihnen trägt dabei einen wirtschaftlichen Charakter. Schon die Physiokraten hatten richtig erkannt, dass der Kampf um wirtschaftliche Ziele die Gesellschaft in Gruppen zerreisst und damit die nationale Einheit gefährdet werde. Sie hatten aus diesem Grund den Parlamentarismus verdammt und die absolute Monarchie gepredigt, die als solche die Idee der Gesamtheit ungeteilt repräsentieren könne. Die wirtschaftliche Zerrissenheit der Gegenwart ruft aus ähnlichen Gründen gegenüber dem Parlamentarismus die Sehnsucht nach dem Diktator hervor, der allein Gruppeninteressen zu überbrücken vermöge. Diese Wirtschaftskämpfe, die die Staaten zu zerreissen scheinen, führen aber auf der andern Seite zu immer wieder gesteigerten Staatseingriffen in das wirtschaftliche Leben. Die Frage des Parlamentarismus ist daher heute nicht nur eine Frage nach der besten Regierungsform; sie ist ihrem inneren Wesen nach die Frage nach der Begrenzung der Staatsaufgaben. Wenn es möglich wäre, den Idealen der alten NonInterventionisten zu entsprechen und die staatliche Tätigkeit auf rein formaljuristische Aufgaben zu beschränken, würden viele Gegner des Parlamentarismus sich damit zufrieden geben. Sie stossen sich nicht am Parlamentarismus als solchem, sondern an der Möglichkeit der Eingriffe der Staatsgewalt in ihre Angelegenheiten. Es ergibt sich so ein psychologisches Doppelspiel: Die Dichter und Träumer, die in der Staatsgewalt ein gottgewolltes Wesen sehen möchten, sind mit dem bestehenden Staat zerfallen, weil er seine göttliche Allmacht in ungenügender Weise verwirklicht, während diejenigen, die den Staat als blosses Instrument zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung betrachten, ihn bekämpfen, weil er sich selbst die Grenzen seines Handelns steckt. Staatsvergötterer und Staatsentgötterer haben vielfach einen Bund zur Herabsetzung des parlamentarischen Staates geschlossen. Wie jede moderne Staatsform ist der Parlamentarismus von der Vorstellung der absoluten Souveränität des Staates ausgegangen. Diese Vorstellung entspricht nicht länger der Wirklichkeit. Es soll hier nicht an die Frage gerührt werden, wo die Souveränität des Staates gegenüber den Rechten der einzelnen Person sich Grenzen stecken müsse. Das Entscheidende ist vielmehr der Umstand, dass die modernen Staaten zum mindesten in Europa zwar die äusseren Attribute der Souveränität besitzen und in ihrer formalen Willensfreiheit durch andere Staaten nicht beschränkt werden, dass sie aber durch enges räumliches Zusammensein und durch wirtschaftliche Verflechtung in ihren materiellen Willensentscheidungen auf Schritt und Tritt durch Auswirkungen und Ausstrahlungen anderer Staatsgebilde entscheidend beeinflusst werden. Es gibt in Europa keine eigentlich souveränen Staaten mehr, wenn man unter Souveränität nicht nur das Recht versteht, eigenmächtig zu entscheiden, sondern auch die Fähigkeit, die Folgen dieser Entscheidung zu tragen, ganz einerlei nach welcher Seite sie gehen, ohne dabei in seinem Dasein bedroht oder vernichtet
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zu werden. In der praktischen Politik setzt sich das in der Form der Allianzen, Konferenzen und Organisationen wie dem Völkerbund durch. Die Wissenden sind sich längst darüber klar, dass es eine praktische Souveränität im alten Sinne des Wortes nicht mehr gibt; die Unwissenden aber – und sie sind die Mehrheit der Gegner der parlamentarischen Idee – glauben noch an die nationale Allmacht und sehen in einer Regierung, die Kompromisse mit anderen nationalen Mächten schliesst, Verräter am Wesen der Nation und damit des Staates. Gerade in Ländern wie Deutschland, wo die Abwesenheit der vollkommenen Souveränität ja durch die Tatsache der Okkupation deutlicher zum Ausdruck kommt als in irgendeinem andern Lande, richtet sich die populäre Abneigung gegen das Regierungssystem, das die volle Souveränität nicht geniesst, und übersieht die Entwicklung, die sie beseitigt hat. Überdies sind nach der wirtschaftlichen Seite ähnliche Aushöhlungen eingetreten. Die Aufgaben, die Europa als Erbe des Krieges zu lösen hat, sind ihrem inneren Wesen nach nicht befriedigend zum Abschluss zu bringen. Eine Politik, deren letztes Ergebnis darin besteht, dass ein übervölkerter, unter ungünstigeren wirtschaftlichen Bedingungen lebender kleiner Erdteil Zahlungen für Kriegszerstörungen an einen reicheren, dünnbevölkerten Erdteil leisten muss, mit dem Ergebnis, dass der arme Steuerzahler Europas die Lasten des reichen Steuerzahlers der Vereinigten Staaten erleichtert, kann unter keinen Umständen populär sein. Das Regierungssystem, unter dem sie durchgeführt wird, wird daher mit dem Odium belastet, das früheren Regierungen zuzuschreiben wäre. Eine richtige Wirtschaftspolitik, d.h. eine Politik, die die Masse der Bevölkerung wohlhabender und zufriedener macht, ist zur Zeit nur in beschränktem Sinn möglich. Sie übersteigt die Möglichkeiten jeder Staatsgewalt; die Form des bestehenden Staates wird für sie verantwortlich gemacht, obwohl er gerade auf dem wirtschaftlichen Gebiet seine Machtstellung zu verlieren beginnt, da in den grossen organisierten Wirtschaftsgruppen der Unternehmer und der Arbeitnehmer ein Nebenstaat den eigentlichen Staat zu überschatten beginnt. Wenn er im Kampf gegen diesen Nebenstaat, der seinem innersten Wesen nach stets partikularistisch im schlimmsten Sinne des Wortes geartet sein muss, die Interessen der Gesamtheit vertritt, so findet er dabei vielfach nicht die Unterstützung derjenigen, die an ein Gesamtheitsideal glauben, weil sich in der Regierungsform des Parlamentarismus dieser Partikularismus breitzumachen sucht. Da das Wahlrecht auf die breiteste Basis gestellt worden ist, kann der angegriffene Parlamentarismus als Idee sich nicht wie in der Vergangenheit damit verteidigen, dass er die Schäden in der ungenügenden Vertretung sucht und von der Verbreiterung des Wahlrechts die Verwirklichung des Mythos erhofft.
II Man kann ohne weiteres zugeben, dass der Parlamentarismus als Lehre von der allein seligmachenden Kraft einer bestimmten Regierungsmethode nicht länger die
212 | Krise der Demokratie Herzen der Massen so zu begeistern vermag wie in seinem längst verklungenen heroischen Zeitalter. Damit ist aber weder gesagt, dass er als Methode der Gesetzgebung, der Verwaltung und der praktischen Politik Schiffbruch gelitten habe, noch dass es ein Regierungssystem gibt, das ihm trotz der ihm innewohnenden Mängel überlegen sei. In einzelnen Ländern ist der Parlamentarismus zweifelsohne zeitweilig steril, in anderen arbeitet er mit grossen Schwierigkeiten: das praktische politische Ergebnis steht vielfach weder im richtigen Verhältnis zu den Verheissungen, mit denen man sein Inslebentreten seinerzeit begrüsste, noch mit den Aufwendungen an Zeit, Kraft und Geld, die seine Anwendung bedingt. Der Parlamentarismus ist einmal eine Methode zur Auslese der Führerpersönlichkeiten. Er stellt als solche ein indirektes Wahlsystem dar. Das Volk wählt die Abgeordneten, die Abgeordneten ihrerseits erwählen in irgendeiner Weise die Regierung. Die Regierung ist dem Parlament, beziehentlich der Mehrzahl der Abgeordneten, verantwortlich. D.h. zum mindesten, dass ihre Amtsdauer sofort beendet werden kann. Die Abgeordneten sind dagegen gewöhnlich nur bei den regelmässig wiederkehrenden Neuwahlen dem Lande in dem gleichen Sinn verantwortlich. Dieses indirekte Wahlsystem, dessen Zweck es ist, die Führer des politischen Lebens zu bestimmen, ist zweifelsohne, wie jedes andere Auslesesystem, unvollkommen. Lässt sich nun aber behaupten, dass der Parlamentarismus ungeeignete Führer an die massgebenden Stellen bringt und geeignete Persönlichkeiten am Aufstieg zur Macht verhindert? Diese Dinge liegen in jedem Land verschieden. Sie sind nicht zum wenigsten von der Natur des Wahlrechts bedingt. Es kann dabei gar keinem Zweifel unterliegen, dass die Einführung des Verhältniswahlsystems insbesondere als Listenwahlsystem mit sehr grossen Wahlkreisen auf die Qualität der Abgeordneten schädigend einwirkt. Die grossen Wahlkreise verhindern die Fühlungsnahme des Abgeordneten mit seinen Wählern. Das Listenwahlsystem führt zu grossen Kämpfen in der Aufstellung der Kandidaten, die der Öffentlichkeit meist verborgen sind, in denen aber grosse Interessentengruppen sich immer stärker erweisen als einzelne auch noch so bedeutende Persönlichkeiten. Der Wahlkampf wird, zum mindesten für die Spitzenkandidaten, zu einem automatischen Einrücken in bereits gehaltene Stellen. Die Politik wird durch die Parteimaschine bürokratisiert. Es besteht insbesondere gar keine Möglichkeit, die Jugend am politischen Leben zu interessieren. Der politische Einzelkampf auf verlorenen Posten, in dem sich die jungen Leute zuerst ihre Sporen verdienen können, scheidet vollkommen aus. Für das Missvergnügen gibt es keine Betätigungsmöglichkeit durch Revolte gegen den offiziellen Kandidaten, da eine solche Revolte bei den grossen Wahlkreisen eine gewaltige Organisation voraussetzt. Die Jugend wird also von der Politik und vom Parlamentarismus abgedrängt und, insbesondere wenn sie geistig beweglich ist, zu Gegnern eines Systems gemacht, in dem organisierte Berufsinteressen wirtschaftlicher Machtgruppen und
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verkalkte Parteisekretäre zu dominieren scheinen. Überdies erschwert das Verhältniswahlsystem die Bildung geschlossener parlamentarischer Majoritäten. Trotz allem scheint die Erfahrung zu zeigen, dass die Qualität der Abgeordneten auch beim Verhältniswahlsystem dem Durchschnitt der nationalen politischen Begabung durchaus entspricht. Die wenigen Genies, die eine Nation in einem gegebenen Zeitraum hervorbringt, pflegen natürlich in den seltensten Fällen einen Sitz im Parlament zu erringen. Die Geschichte lehrt aber, dass auch in der Vergangenheit die unmittelbare Tätigkeit der grossen Geister im politisch gestaltenden Leben der Nationen nicht sehr erheblich gewesen ist. Wenn man darauf hinweist, dass ausserhalb des Parlaments Leute von hervorragender Begabung im praktischen Leben stehen, die sich für zu gut halten, ihre Zeit und Kraft im Parlament zu vergeuden, so ist das kein Versagen des Parlamentarismus als solchen. Diese Erscheinungen können nur dort eintreten, wo der Parlamentarismus nicht vollkommen durchgeführt ist, d.h. in Ländern, wo es ausserhalb des Parlamentarismus wirtschaftliche oder gesellschaftliche Machtpositionen gibt, von denen aus man das Leben der Nation erfolgreicher beeinflussen kann als in der Öffentlichkeit der Volksvertretung. Wenn überdies die Erreichung der führenden Ministerstellen nicht an die Zugehörigkeit zu einem Parlament gebunden ist, ist es natürlich gerade für machtbewusste Persönlichkeiten viel bequemer, auf den ihnen vertrauten Nebenwegen des eigenen Berufs an die Macht zu gelangen als im Kampf mit parlamentarischen Gegnern. In den Ländern, die kein Oberhaus besitzen, wie z.B. in Deutschland, entsteht in der Tat das grosse Problem, ob man das gewählte Parlament zum einzigen Zugang zur Macht machen will oder ob man andere Wege zur Macht offen lässt. Tut man das erste, so stärkt man zweifelsohne den Parlamentarismus; man versperrt aber auch wahrscheinlich manchen politisch Begabten den Weg. Tut man das letztere, so verwässert man den Parlamentarismus, indem man ihm andere, bequemere Möglichkeiten vorzieht. Die letzte Gefahr ist wahrscheinlich die grössere. Es sind nach der deutschen Erfahrung eine ganze Anzahl Leute an die politische Macht gekommen, die nicht durch die Schule des Reichstags gegangen waren; von den einen kann man ohne weiteres sagen, es wäre im Interesse der Gesamtheit besser gewesen, wenn der Zugang zur Macht ihnen versagt geblieben wäre; die anderen hätten sich zweifelsohne um ein Reichstagsmandat bemüht und ein solches bekommen, wenn ihnen nicht ein anderer Weg zur Macht offen gestanden hätte. Gerade die deutsche Erfahrung zeigt übrigens, dass ein dem Parlamentarismus so ungünstiges Auslesesystem wie die Verhältniswahl mit grossen Wahlkreisen den Eintritt der verschiedensten Persönlichkeiten in die Politik nicht verhindert. Die ausgesprochenen wirtschaftlichen Gegner des Parlamentarismus wie Hugo Stinnes und andere haben ebenso ein Mandat bekommen wie die völkischen Verneiner des parlamentarischen Systems wie Ludendorff und die kommunistischen Anhänger der Sowjetidee. Entscheidend für die Beurteilung des Parlamentarismus als Auslesesystem ist die Frage, ob in der modernen Welt ein anderes, besseres Auslesesystem anwendbar ist. Als solches wird einmal die direkte Wahl empfohlen, wie sie sich beim amerika-
214 | Krise der Demokratie nischen Präsidentschaftssystem entwickelt hat. Soweit man aus den Erfahrungen schliessen kann, die an die besondere Aufmachung anknüpfen, mit der ein Wahlprinzip im gegebenen Fall ausgestattet sein muss, wird man ohne weiteres sagen dürfen, dass die unmittelbare Wahl das Bestreben zeigt, den Wahlvorschlag, von dem das Ergebnis abhängt, in die Hand einer politischen Maschine zu legen. Diese Maschine hat das Bestreben, eine vom Parteistandpunkt aus möglichst sichere, vom Verdacht genialen Eigenwillens völlig freie Durchschnittspersönlichkeit zu gewinnen, die sich den Wünschen der Berufspolitiker fügt und immer bereit ist, sich mit den beiden Häusern des Kongresses durch Kompromisse zu einigen. Der Präsident der Vereinigten Staaten ist nur als Mythos der Übermensch, von dem die Gegner des Parlamentarismus träumen; in der Praxis brauchen die meisten Ministerpräsidenten parlamentarisch regierter Länder selbst den Vergleich mit grossen Präsidenten nicht zu scheuen, wenn man von Abraham Lincoln allenfalls absieht. Die Auslese der Führerpersönlichkeiten auf dem Wege der Erblichkeit ist in den meisten Ländern heute nicht mehr möglich; der Glaube an die Treffsicherheit der Vererbung in der praktischen Politik ist längst erschüttert. Es bleiben daher als praktische Systeme nur die der Usurpation und die Auswahl durch Examina übrig. Das erste System lässt sich nur solange rechtfertigen, als es dem Usurpator glückt, die Macht zu halten. Es ist als Regierungsmethode nur denkbar, wenn es kein System ist, d.h. wenn nicht der herrschende Usurpator sich gegen ehrgeizige Usurpatorenkandidaten zu wehren hat. Das andere System, das bürokratische, das die Ernennung eines Amts weder von der Geburt des Kandidaten noch von seinem eigenen Willen, noch vom Wahlzettel abhängig macht, sondern sie an den Nachweis gewisser Kenntnisse und an das Ableben seiner Vorgänger bindet, sichert zweifelsohne die ordentliche Verwaltung eines Landes in allen nachgeordneten Stellen. Es hat nirgends den Beweis dafür erbracht, dass die Auswahl politischer Führerpersönlichkeiten, d.h. von Männern, die nicht nur verwalten können, sondern auch Ziele setzen und Mittel anzuwenden vermögen, in einem Lande gesichert sei. In den Ländern mit einer grossen bürokratischen Tradition, wie z.B. in Deutschland, ist die Zahl der politischen Versager unter den aus der Bürokratie stammenden Männern, die an die ersten Stellen gekommen sind, sehr viel grösser als die Zahl derjenigen, die sich aus der Politik entwickelt haben. Man wird ohne weiteres zugeben müssen, dass die auswärtige Politik des Deutschen Reichs in der Zeit, wo sie unter erblichen Einflüssen von berufsmässig ausgebildeten Beamten geleitet wurde, sehr viel leichter zu führen war als das heute der Fall ist. Und man wird weiter zugeben müssen, dass die auswärtige Politik, die heute von Politikern geleitet wird, trotz der schwierigen Verhältnisse, sehr viel geschickter ist, als sie in der guten alten beamteten Zeit gewesen ist. Im grossen ganzen wird man sagen dürfen, dass der Parlamentarismus, was die Auswahl der Männer betrifft, genau so gut und genau so schlecht ist wie das Volk, das ihn anwendet. Er kann aus dem nationalen Reservoir an tüchtigen Persönlichkeiten nicht mehr schöpfen als in ihm vorhanden sind. Er ist darin von anderen Systemen nicht wesentlich verschieden. Zufall und Willkür sind weder beim erbli-
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chen System noch beim Wahlsystem völlig ausgeschlossen. Er begünstigt vielleicht die Mittelmässigkeit, die sichere Wege wandelt, und hemmt die Genialität, die zum Abgrund torkelt. Der Parlamentarismus ist also nicht nur eine Methode zur Auswahl der Führerpersönlichkeiten; er ist auch eine Methode, die politische Willensbildung einheitlich zu gestalten und den Dualismus zu beheben, der zwischen Regierung und Regierten so leicht entsteht. Die Tatsache, dass die Regierung dem Parlament, beziehentlich der Mehrheit desselben, unmittelbar verantwortlich ist, während das Parlament als solches dem Lande direkt verantwortlich ist, bringt einen automatisch geschlossenen Zusammenhang zwischen den Beteiligten zustande. Die Regierung wird in der Tat der Exponent des Volkswillens. Der Parlamentarismus als solcher wird daher von einer doppelten Gefahr bedroht: Zur Regierung ist eine Mehrheit nötig. Diese Mehrheit muss, um sicher wirken zu können, einen Rückhalt im Lande haben. Wenn das der Fall ist, ist ihre Machtbefugnis eigentlich unbegrenzt. Sie kann sich über die Wünsche jeder Minderheit hinwegsetzen. Der Parlamentarismus geht dabei von der Voraussetzung aus, dass der Gegensatz zwischen Mehrheit und Minderheit auf Meinungsverschiedenheiten beruhe, die auf dem Wege der Erörterung in aller Öffentlichkeit beseitigt werden können. Wenn auf der Seite der Mehrheit die Vernunft nicht vorhanden ist, so wird sich dieser Mangel im Laufe der Zeit ergeben. Die Mehrheit wird die Folgen tragen müssen und zusammenschrumpfen. Die Minderheit wird gerechtfertigt sein und zur Mehrheit werden. Diese Vorstellung ist solange berechtigt, als es sich in der Tat um solche Weltanschauungsfragen handelt, die dem Zugriff der Vernunft zugänglich sind. Reine Glaubensfragen, die auf nicht demonstrablen Überzeugungen beruhen, scheiden aus. Ebenso scheiden aber auch die grossen Interessenfragen wirtschaftlicher Natur aus, bei denen die Mehrheit ihren Standpunkt nicht einnimmt, weil er richtig ist, sondern weil er ihren Interessen bekömmlich ist. Es entsteht damit die Möglichkeit einer Misshandlung und Bedrückung der dauernden Minderheiten nationaler, lokaler, sozialer oder religiöser Natur, d.h. aller Gruppen, die wesensverschieden von der Mehrheitsgruppe sind und durch Argumente weder überzeugt noch beseitigt werden können. Geht die Mehrheit rücksichtslos über ihre Interessen hinweg, so kann sich die Minderheit innerhalb des Parlamentarismus nur durch Obstruktion, ausserhalb des Parlamentarismus nur durch Rebellion oder Sezession wehren. Beide Methoden, die Obstruktion sowohl als die Rebellion, erschüttern den Parlamentarismus, indem sie den Minderheitswillen anstelle des Mehrheitswillens setzen. Die Lösung des Problems des Minderheitsschutzes ist daher nur durch eine Art Autonomie zu bewerkstelligen, die die Minderheit auf dem in Frage stehenden Gebiet von den Folgen des Mehrheitswillens ausnimmt. Das eigentliche Problem hierbei ist nicht der Grundsatz des Minderheitsschutzes, sondern die Frage, wo die Grenzen des Minderheitsschutzes laufen sollen, welche Interessen als nationale und welche als partikuläre bezeichnet werden können. Das Problem als solches ist gar kein Problem des Parlamentarismus. Es ist vielmehr eine gegebene Tatsache, mit der die Auseinander-
216 | Krise der Demokratie setzung unter dem Parlamentarismus äusserlich schwieriger ist als unter anderen Systemen, weil der Parlamentarismus als solcher die gewaltsame Lösung, die der Absolutismus versucht: Verneinung jedes Schutzes der Minderheit, nicht ohne weiteres anwenden kann. In Ländern mit parlamentarischer Verfassung ist in der Regel der Versuch gemacht, lebenswichtige Interessen anerkannter Minderheiten in einem gewissen Umfang zu schützen, sei es durch Herausnahme bestimmter Lebensgebiete aus der Zuständigkeit parlamentarischer Zugriffe, sei es durch ein Minderheitsschutz-Wahlrecht oder andere Massnahmen. Die hauptsächlichste theoretische Schwierigkeit, mit der der Parlamentarismus zu kämpfen hat, der Schutz der dauernden Minderheit, ist indessen praktisch lange nicht so bedeutsam wie ein anderes theoretisch nicht vorgesehenes Übel: die Schwierigkeit einer dauernden Mehrheitsbildung. Der Parlamentarismus als praktisches System ist mit der Vorstellung zweier sich ablösenden Parteien gross geworden. Diese Vorstellung hat auch in der Vergangenheit der Wirklichkeit nicht immer voll und ganz entsprochen. Solange die Parteibildung indessen einen persönlichen Charakter trug, sind die Gruppen und Grüppchen, auch wo sie sachlich nicht stark übereinstimmen, zur Ausübung der Macht gelegentlich immer wieder zusammengestanden. Die moderne Entwicklung, bei der Parteien sich gegenüberstehen, die teils historische geworden sind, teils durch moderne wirtschaftliche Gruppeninteressen gebildet werden, hat einmal zu ihrer inneren Spaltung geführt. Sie sind überdies niemals imstande, für sich allein eine Mehrheit zu bilden. Sie müssen sich also mit anderen Parteien zu Regierungszwecken zusammenschliessen. Solche Koalitionen sind unter dem Zwang äusserer Notwendigkeit, wie z.B. während eines Krieges, verhältnismässig leicht vorzunehmen. Dann ist die Aufgabe, die politisch zu lösen ist, gegeben. Man kann über ihre Vordringlichkeit nicht verschiedener Meinung sein. Man muss insbesondere dann, wenn man in anderen Fragen verschiedener Meinung ist, in dieser Frage schon deswegen zusammenarbeiten, damit man sie von der Tagesordnung absetzen kann, um an die anderen Fragen herantreten zu können. In normalen Zeiten dagegen ist die Bildung einer Koalitionsregierung immer mit Schwierigkeiten verbunden. Selbst wenn man sich auf ein bestimmtes Arbeitsprogramm einigt, müssen die verschiedenen Gruppen über das nächst gesteckte Ziel hinausschielen und dabei an den Tag denken, wo ihre Zusammenarbeit zuende sein wird. Sie müssen dann in einer Lage sein, die ihnen das getrennte Marschieren erleichtern wird. Es kommt daher in alle Koalitionsregierungen ein gewisses Mass von Misstrauen. Dieses Misstrauen wird im Kabinett durch Zusammenarbeit überbrückt werden können. Es wird sich im Parlament ertragen lassen, da das Parlament ja immer vor der Notwendigkeit steht, falls die Koalition auseinanderfällt, eine andere Koalition bilden zu müssen. Es wird aber im Lande wachsende Abneigung erregen. Denn jede Koalition bedeutet, dass man gewisse wichtige eigene Wünsche zurückstellt und nicht nur anderer Leute Wünsche verwirklicht, sondern eigene Hoffnungen dauernd begräbt. Der Ausgleich, der stattfinden muss, erfolgt nun nicht nur zwischen Massnahmen, sondern naturgemäss auch zwischen Personen, da Mass-
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nahmen ohne Personen nicht durchzuführen sind. Es entwickelt sich so naturgemäss ein gewisser Schacher in Massnahmen und Personen, der das parlamentarische System als solches dem Lande leicht verächtlich erscheinen lässt. In Wirklichkeit ist auch hier der Parlamentarismus nur die Erscheinungsform eines viel tiefer begründeten sozialen Zustandes. Wenn die Nation historisch, geographisch, politisch und wirtschaftlich in eine Anzahl auseinanderstrebender Gruppen geteilt ist, so ist dieser Zustand auch durch ein anderes Regierungssystem nicht zu beheben. Er würde nur nicht so stark in Erscheinung treten. Die Linien des Kompromisses, die heute in einem Koalitionskabinett gefunden werden müssen, werden sich bei einer Diktatur in der Seele des Diktators schneiden, ohne dass sie damit verschwänden. Die Popularität des Diktators wird schwanken, je nachdem der Ausgleich mehr oder minder vernünftig erscheint. Ein anderes Ergebnis ist nur dann möglich, wenn der Diktator sich bewusst für eine Schicht einsetzt und deren Interessen unter allen Umständen verficht. Das würde aber nichts anderes bedeuten, als dass die Zerrissenheit der Nation, die sich in unbefriedigten Kompromissen zeigt, als klaffender, unüberbrückbarer Widerspruch dauernd zutagetritt und dass das Volk in zwei Hälften zerfällt, die einander nicht mehr verstehen. Die Tatsache der Kompromisse und der Koalitionsregierungen verkleistert nicht nur diesen Riss oberflächlich, sie verringert ihn auch. Der Umstand, dass die Parteien der Gegenwart nicht längs eines grossen Prinzips aufmarschieren, ermöglicht den nationalen Zusammenhalt. Die Parteienzerrissenheit, die zweifelsohne im einzelnen häufig unerfreulich ist und die, wenn übertrieben, das praktische Regieren erschwert, könnte unter den heutigen Verhältnissen durch ein Zweiparteiensystem nur abgelöst werden, wenn dieses Zweiparteiensystem rein wirtschaftliche Gesichtspunkte verfolgte. Diese Teilung wäre die Teilung der Nation in Besitzende und Besitzlose, eine Scheidung, bei der sich die beiden Parteiengruppen als bewaffnete Mächte gegenüberstehen würden und bei der das Regieren entweder aufhören würde, weil die Regierung nie stark genug ist, die Opposition klein zu kriegen und umgekehrt, oder weil ein Bürgerkrieg folgen müsste, der nicht nur die Methode des Parlamentarismus, sondern die Methode des bürgerlichen Regierens überhaupt unmöglich machen wird. Sieht man die Dinge von diesem Standpunkt, so begreift man ohne weiteres die weitgehende Unzufriedenheit mit dem Parlamentarismus. Sie ergibt sich einmal aus der Grösse der zu lösenden Aufgaben, die auch mit dem idealsten Regierungssystem nicht restlos zu bewältigen wären. Sie ergibt sich zum zweiten nicht so sehr aus der falschen Auslese der Persönlichkeiten als aus dem Umstand, dass in einer Zeit der weitgehenden Umschichtungen politische Gegensätze bestehen, die ihren Ursprung teilweise in historischen Ursachen haben, teilweise aber aus dem Flusse der wirtschaftlichen Entwicklungen stammen. Die Zersplitterung des parteipolitischen Lebens ist das Ergebnis der gesellschaftlichen Zerklüftung. Die schnelle Beseitigung dieser Zersplitterung könnte nur auf dem Wege eines sich mit rasender Schnelligkeit
218 | Krise der Demokratie entwickelnden Klassenkampfes restlos erzielt werden, ein Ereignis, für dessen Abwendung man selbst dem verächtlichsten Parlamentarismus Dank schulden müsste. Es ergibt sich zum dritten aus den mythischen Vorstellungen, die einen grossen Teil der Menschen noch bewegen, die in der Regierung etwas sehen, das ausserhalb und über den Menschen steht, und noch nicht begreifen wollen, dass Regierungen keine Wunder vollbringen können, dass sie vielmehr immer nur Wollen und Können der von ihnen Regierten widerzuspiegeln vermögen. Wer den Parlamentarismus reformieren will, sollte daher nicht ausschliesslich an die vielen praktischen Möglichkeiten denken, mit denen man Wahlrecht, Parlamentsverfassung und parlamentarische Geschäftsordnung nicht unerheblich verbessern kann, sondern vor allen Dingen daran, dass der Parlamentarismus, der auf einem demokratischen Wahlrecht beruht, ein Spiegelbild des Volkes und seiner Kräfte sein muss, das ihn sich geschaffen hat. Wer ihn bessern will, muss sich selbst bessern, nicht, indem er in hochmütiger Überhebung daneben steht, sondern indem er das Seine tut, um den Parlamentarismus als praktische Einrichtung erfolgreich zu machen, und dabei den Glauben fahren lässt, dass Regierungen irgendwelcher Art imstande seien, den Menschen auf Erden Glückseligkeit zu verschaffen. Dieser Mythos einer vergangenen Zeit ist vielleicht das grösste Hindernis der Besserung in der Gegenwart.
9 Die Entseelung der Politik (1928) Die Klagen über das geringe Interesse am Wahlkampf kommen aus allen Lagern. Der eine sucht die Ursachen in der allgemeinen politischen Ermüdung, der andere im Versagen des parlamentarischen Systems, das dem Genius des deutschen Volkes nicht entspreche; der dritte in der Entpersönlichung des Wahlverfahrens, das der Parteibürokratie ungeahnte und unbeabsichtigte Entwicklungsmöglichkeiten gegeben habe. An allen diesen Behauptungen ist etwas Wahres. Das deutsche Volk ist sicher durch politische Krisen, meist von außen kommend, so überanstrengt worden, daß man ihm ein gewisses Maß von Gleichgültigkeit zur Erholung gönnen darf. Ein parlamentarisches System, das sich Mehrheiten durch Koalition schaffen muß und dem obendrein durch die äußere Politik die Ziele doch ein für alle Mal vorgeschrieben sind, kann sich nicht in der gleichen, die Gemüter mitreißenden Lebendigkeit entwickeln wie ein System, bei dem zwei Parteien in geschlossener Weltanschauung miteinander ringen. Eine andere Frage ist allerdings, ob man diese Tatsache bedauern soll. Wäre das Zweiparteien-System in Deutschland, das doch heute nur auf dem Schlagwort: „Die Klassen, die Massen“ aufzubauen wäre, wirklich ein Ideal, dem wir nachstreben sollten? Ist die Einfachheit des politischen Systems, die es dem schwerblütigen Spießer ermöglicht, rechts oder links zu wählen, nicht mit der Tatsache zu teuer erkauft, daß dann die Nation nicht nur in zwei Parteien, sondern in zwei Völker zerfällt? Man muß nur an Österreich denken. Es ist auch sicher richtig, dass das Proportionalsystem, wie es nun einmal in Deutschland zur Anwendung gekommen ist, die Politik nicht nur entpersönlicht, sondern auch das ganze Volk standardisiert, viel mehr etwa als der Einheitsstaat. Anstelle des örtlichen Wahlkreises ist heute die Berufsgruppe getreten. Der Abgeordnete vertritt nicht länger das deutsche Volk in seinem Heimatbezirk als Vertreter dieser Heimat, mit der er durch tausend Bande der verschiedensten Art verbunden ist, sondern als Zunftgenosse, den die Zunftbrüder abordnen. Das alles mag man zugeben, bedauern oder begrüßen. Die wirklichen Ermüdungserscheinungen in der Politik sind nicht auf Deutschland beschränkt. Sie gehen nicht aus zufälligen Umständen hervor, sondern aus einer historischen Entwicklung. Die Politik wird allmählich entseelt. Diese Entseelung greift Platz, nicht weil die Menschen blöder oder materialistischer geworden sind, sondern weil ein paar Jahrhunderte erfolgreicher politischer Wirksamkeit hinter ihnen liegen. Die großen politischen Kämpfe der Vergangenheit waren geboren aus der Angst um die Seele. Der Ursprung der politischen Parteien liegt zum großen Teil in Religionsgemeinschaften, die sich des ewigen Heils wegen bekämpften und verbrannten. Über diese Kämpfe ist die Gegenwart trotz aller Meinungsverschiedenheiten auf diesem Gebiet herausgewachsen – man denke nur an das Schulgesetz. Sie bringt die Leidenschaft der Vergangenheit nicht mehr auf, weil die Güter, die in Frage stehen,
220 | Krise der Demokratie eigentlich nicht länger gefährdet sind. Der Ketzer wird heute immer noch gelegentlich schikaniert und zurückgesetzt; er wird nicht mehr verbrannt. Und ähnlich ist es auf politischem Gebiet. Der große Kampf um die persönliche Freiheit ist auch dort im großen ganzen ausgekämpft. Es gibt einige Rückfälle, wie in Rußland und Italien. Das politische Leben wird durch sie nicht lebendiger. Stellt die Ruhe des Kirchhofs, die in diesen Ländern zweifelsohne herrscht, soweit die Opposition in Frage kommt, wirklich eine lebendigere Atmosphäre dar als die Parlamente Westeuropas? Diese Ausnahmen werden sicher im Laufe der Zukunft neue Freiheitskämpfe auslösen. Im großen ganzen hat die Masse der westeuropäischen Wähler, trotz kommunistischer und fascistischer Deklamationen, die Empfindung, daß die persönliche Freiheit nicht sonderlich gefährdet ist und daß sie sich daher nicht in leidenschaftlicher Erregung zur Wehr zu setzen braucht. Hie und da erklingt einmal eine andere Stimme. Wilhelm II. hat in einer Ausführung über die Frage „Ist die Demokratie ein Mißerfolg?“, die er mit sicherem Taktgefühl einer amerikanischen Zeitschrift zur Verfügung gestellt hat, den Gedanken ausgesprochen, die europäischen Monarchien hätten sich leicht halten können, wenn sie nach dem Beispiel Iwans des Schrecklichen gehandelt hätten, der den holländischen Gesandten einmal durch den Dolmetscher sagen ließ: „Sage den Narren, daß ich ihre Köpfe abschlage, weil ich mein Volk kenne; täte ich es nicht, so würden sie den meinen herunterschlagen.“ Er hat angedeutet, daß er und Nikolaus bei ihrer völkerbeglückenden Tätigkeit gescheitert seien, weil sie infolge allzu großer Humanität dem Beispiel des großen Zaren nicht gefolgt wären. Diese blutrünstige Äußerung braucht als Programm nicht zu schrecken. Die Monarchen der Gegenwart, die ihren Thron behaupten und behaupten wollen, sind so bürgerlich brav, daß weder ihre Unterstützung noch ihre Bekämpfung große Leidenschaften auslöst. Der Staat der Vergangenheit ist den Menschen ein göttliches Kunstwerk gewesen, in dem der Odem der Vorsehung lebendig war. Einerlei, ob es ein König von Gottes Gnaden war oder das Volk, dessen Stimme Gottes Stimme war – der Staat war etwas Göttliches. Millionen und aber Millionen Menschen glaubten daher, daß es dem Staat möglich sei, die Seligkeit dieser Bürger herbeizuführen. Sie haben dem Staat und der Regierung Aufgaben gestellt, die selbst die Vorsehung nur mangelhaft zu erfüllen vermöchte. Dieser Wunderglaube ist ins Wanken geraten. Der Staat ist entgöttlicht worden. Darunter hat zuerst die Person des Monarchen gelitten; später hat sich die Enttäuschung, insbesondere in dem letzten Jahrzehnt, auf die Staatsidee überhaupt ausgedehnt. Die Menschen glauben nicht mehr, daß Regierungen, einerlei wie sie geartet seien, Glückseligkeit schaffen können. Sie haben sich in dieser Beziehung vom Wunderglauben und vom Staate befreit und sind in diesem Sinne gedanklich beinahe Anarchisten geworden. Solange sie sich in einer rein negativen Einstellung befinden und also den Glauben an das politische Wunder verloren haben, müssen sie in politischen Dingen lauwarm und mißvergnügt sein. Wenn man nicht länger glaubt, durch Handhabung staatlicher Macht den Himmel auf Erden schaffen zu können, wird man die Ergreifung der staatlichen Macht im politi-
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schen Kampf nicht besonders leidenschaftlich erstreben. Erst langsam beginnen sie zu erkennen, daß die Ordnung der gesellschaftlichen Dinge durch die Regierung nach der politischen Seite ein gewaltiges Gebiet praktischer Betätigungsmöglichkeiten gibt, zu dessen Bewältigung die Besten gerade gut genug sind. Der Mythos vom Staate ist gestorben, der Glaube an das Wunder im politischen Leben erloschen. Die Entseelung der Politik hat begonnen. Das erklärt zur Genüge die Müdigkeit, die alle Schichten und alle Parteien erfüllt. Sie haben noch nicht gelernt, daß die praktischen Möglichkeiten der Politik heute weiter und größer sind, als sie je zuvor waren, und daß die Aufgabe, den eigenen Volksgenossen und den Bürgern dieser Welt ein menschenwürdiges gesellschaftliches Dasein zu schaffen – nicht durch bloßes Vertrauen auf die Wunderleistung einer Idee, sondern in zäher, praktisch gestaltender Arbeit – eine Aufgabe ist, die die politische Betätigung wohl lohnt. Mit innerer Hingebung ausgeübt, kann sie vollen Ersatz für die Leidenschaftlichkeit bieten, mit der man einmal Politik als Teil des Glaubens betrieb.
10 Die Zukunft der Demokratie in Europa. Das Problem des Verhältnisses von Mehrheit und Minderheit (1929) In den letzten Jahren ist in Europa eine Anzahl neuer Autokratien entstanden. Diese Autokratien können nicht als bloße Zufallserscheinungen gewertet werden, nicht als Zufallsergebnis gewalttätiger Usurpation, als vorübergehende Phase, die man über sich ergehen lassen muß, auch wenn man mit ihr nicht einverstanden ist. Eine solche Einstellung wäre falsch. Wir waren nicht bloß Zeugen des Wiedererstehens einer Gewaltherrschaft, die durch den Krieg und seine Folgen leicht zu erklären wäre, es hat sich vielmehr eine neue Lehre von Gewaltherrschaft und Despotismus gebildet. Obwohl das kontinentale Europa einen großen Teil seiner Freiheit England verdankt, darf dennoch nicht vergessen werden, dass Lord Carson und Bonar Law die Urheber der Theorie waren, daß Minoritäten, die im Vollbesitz ihrer kulturellen Rechte innerhalb einer modernen Demokratie leben, ihren Willen, wenn nötig mit Waffengewalt, durchsetzen können. Diese beiden britischen Staatsmänner wurden dadurch wahre Pioniere des Faschismus. Die Ausbreitung der autokratischen Ideen in Europa wurde durch viele Ursachen gefördert. Die Annahme einer Art von göttlichem Recht der Demokratie, das auf der irrigen Vorstellung fußt, die kollektivistische Torheit einer Mehrzahl beschränkter Individuen könne Weisheit genannt werden, hat schon vor langer Zeit zu einem antidemokratischen Kreuzzug geführt. Aristokratische Minoritäten, die ihre Ansprüche auf das Vorrecht der Geburt, der Erziehung, der Rasse oder des Glaubens stützen, haben nicht allein die Befreiung von der Tyrannei beschränkter fanatischer Majoritäten gefordert, sondern auch für sich eine höhere Einschätzung ihres eigenen Wertes mit der Begründung, daß sie eine angeborene Überlegenheit besitzen. Wer für eine Minoritätengruppe natürliche Überlegenheit beansprucht, wird logischerweise mit der Zeit in der Politik für die Autokratie eintreten. Keine selbstbewußte politische Majorität wird ihren Führer aus den Reihen einer „überlegenen Minorität“ wählen. Diese Minorität muß ihre Führerschaft also auf Grund einer göttlichen Fügung oder auf Grund der „Selbstberufung“ eines Einzelnen beanspruchen – was mit anderen Worten Usurpation besagen soll. Ob es nun die Autokratie einer Minderheit von Bolschewisten oder Fascisten, die Herrschaft eines angestammten Monarchen, der sich als von Gott gesandt betrachtet, oder die eines starken Usurpators ist, sie alle haben ihren Platz nicht durch die Unterstützung der Massen inne, sondern kraft ihres persönlichen, angemaßten Rechtes. Sie sind ihrem Herrn und Gott oder ihrem Gewissen verantwortlich, niemals jedoch ihren Untertanen, die ihnen Gehorsam schulden.
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Neue Formen der Autokratie In diesem Zusammenhang ist es leicht verständlich, daß fähige Minoritäten, die gewöhnt sind, ohne Verantwortlichkeit zu herrschen, seien es nun Feudalherrn oder Bureaukraten, Sehnsucht nach der Rückkehr eines autokratischen Regierungssystems empfinden. Und es ist nur zu natürlich, daß nationale Minoritäten, die früher über Mehrheiten herrschten, von diesen Vorstellungen ebenso durchdrungen sind, wie manche Industriekapitäne, die sich gegen die durch die parlamentarischen Majoritäten beschlossene Arbeitsgesetzgebung auflehnen. Anderseits gibt es in jedem Staat eine große Anzahl beschränkter, jedoch tätiger Menschen, die im Regieren nur das Erteilen von Befehlen sehen wollen und sich selbst als vom Himmel gesandte Vollzugsorgane betrachten, die jedoch für Fehlschläge nicht verantwortlich sind. Diese Menschen tragen am Aufleben des Fascismus Mitschuld, der sich durchaus nicht still gebärdet. Auf mich wirkt es immer erheiternd, wenn die Fascisten bei Angriffen auf das Parlament infolge ihres wirkungslosen Redeschwalls ungereimtes Zeug in einem Tempo hervorbringen, wie es kein reifer Parteipolitiker täte. Eine andere Tatsache ist, daß die meisten Völker keine sehr tief eingewurzelte Leidenschaft für Selbstverwaltung hegen. Sie sind seit Jahrhunderten an eine bureaukratische Kontrolle gewöhnt. Wenn sie aber die konstitutionelle Selbstverwaltung genießen, die Resultate der politischen Tätigkeit ihrer Repräsentanten ihnen jedoch nicht zufriedenstellend scheinen, dann wenden sie sich gegen die Demokratie. Diese Ungeduld rührt daher, daß die Macht der Regierungen sehr überschätzt wird. Das Glorifizieren der Staatsgewalt ist gewiß nicht ganz unangebracht, es ruft jedoch unter den Massen die irreführende Vorstellung hervor, von der Tätigkeit des Staates absolute wirtschaftliche Sicherheit erwarten zu können. Das ist eine der Grundursachen für das wachsende Mißtrauen, die zunehmende Desillusion, die in manchen europäischen Staaten, insbesondere in jenen, die im Kriege ganz oder teilweise versagten, um sich greift. Es ist nicht im geringsten verwunderlich, daß ein Land wie Italien, das im Kriege wenig Lorbeer erntete und sich auch, zumindest nach seiner Ansicht, durch den Frieden nicht genügend entschädigt sah, das Sprungbrett für eine Gewaltherrschaftstheorie wurde. Der Fascismus ist die logische Folge der Niederlage von Karfreit, der Teilung Fiumes. In Deutschland hat glücklicherweise die Stabilisierung der Währung dem Anwachsen der sozialen Anarchie Einhalt geboten und den deutschen Fascismus damit im Kern erstickt.
Notwendigkeit der Koalitionspolitik Gegenwärtig ist in ganz Europa die Regierungsorganisation politisches Flickwerk. Die Folgen des Krieges haben es jeder politischen Partei für sich allein unmöglich gemacht, ihr Programm durchzuführen, das bedeutet die Notwendigkeit lästiger
224 | Krise der Demokratie Kompromisse und fruchtloser Unterhandlungen. In allen Ländern sind die Wähler in Schrecken versetzt. Sie betrachten Parteien und Politiker als korrupt. Die Idealisten verabscheuen die parlamentarisch-demokratischen Regierungsformen, weil sie ohne feste Grundsätze sind und sich von den praktischen Forderungen leiten lassen. Die Realisten wieder verachten sie, weil sie Grundsätze aufstellen, welche die praktische Arbeit behindern. Die Erscheinung der Koalitionsregierungen führt zumeist zu einer Art Bastardisierung der Politik. In manchen Kreisen ist man der Ansicht, daß die Krise durch das amerikanische Präsidentschaftssystem überwunden werden könnte, durch eine direkte Demokratie mit einem fast autokratische Macht besitzenden Präsidenten, einem Manne, dessen Wille ausschlaggebend ist, einem Übermenschen, der für die starke, geeinte Tat eintritt, und etwas von einem Cromwell und Napoleon, einem Bismarck und Mussolini hat. Aber auch in diesem Falle würde das Volk von seinem Führer zu viel erwarten. Letzten Endes sind die Regierungen so wie Spiegelgläser, die einzig die Gestalt und das Antlitz der Nation widerspiegeln können. Auch eine Rückkehr zum Zweiparteienstatus würde nichts helfen, denn wir würden dann den Ausbruch eines Klassenkampfes mit bitteren wirtschaftlichen Folgen und moderner Gewalttätigkeit erleben. Das heutige Österreich ist ein ausgezeichnetes Beispiel für das Zweiparteiensystem, wo beide Teile gegeneinander gerüstet sind und keine stark genug ist, um die Initiative zu ergreifen und loszuschlagen. Das schwierigste Problem, dem die Demokratie heutzutage gegenübersteht, ist ihre Einstellung zu einer starken Minorität, ein Problem nicht für die sozialistischen Demokraten, sondern für jene in Europa, denen die liberale Demokratie ein Bollwerk gegen die Autokratie ist. Unterdrückung und Despotismus müssen ausgeschaltet bleiben. Der Einzelne und die einzelnen Gruppen haben vor Übergriffen des Staates, vor Monopolen, vor Klassen- und Massenherrschaft geschützt zu werden. Bürgerkrieg und alle Formen sozialer Unruhen sollen geächtet sein. Das aber muß erreicht werden, indem man eine feste und breite Grundlage eines besseren und gerechteren Wohlstandes schafft, eine Organisation der absoluten und freien Anerkennung der Minoritäten. Der Eckpfeiler des künftigen Erfolges der Demokratie ist der vollständige Schutz der Minderheiten. Wenn es die europäische Demokratie nicht lernt, gerecht, stark und tüchtig zu regieren, dann werden die Völker von Zeit zu Zeit immer wieder zu irgendeiner Form der Autokratie zurückkehren. Nicht aus dem Grunde, weil sie diese schätzen, sondern weil sie die Demokratie verachten. Weder der Fascismus noch die sozialistische Demokratie können das Problem lösen, die Geschichte der Nachkriegsjahre bietet der liberalen Demokratie diese einzigartige Gelegenheit, die Wunden der Völker zu heilen.
| III
Faschismus und Nationalsozialismus
11 Schlußwort [zum internationalen Faschismus] (1928) Seit dem großen Krieg ist im politischen Leben der Völker eine widerspruchsvolle, nach zwei entgegengesetzten Richtungen gehende Entwicklung festzustellen. Auf der einen Seite greifen die Vorstellungen der modernen Demokratie, die allen Völkern das Recht auf Selbstregierung zuerkennen, immer weiter um sich. Aus der antikolonialen Entwicklung der Gegenwart, die man am besten als „Zeitalter der Gegenkolonisation“ 24 bezeichnet, steigen an allen Ecken und Enden des Erdballs bei politisch primitiven Völkern Forderungen nach Parlamentarismus und Demokratie an die Oberfläche. Auf der andern Seite ist in Europa eine weit verbreitete Unzufriedenheit mit der Demokratie, insbesondere in der Form der parlamentarischen Demokratie, zu verspüren. Diese Unzufriedenheit ist weit verbreitet; sie ist nicht an bestimmte historische, geographische nationale Vorbedingungen geknüpft. In Rußland und in Italien, in Spanien und in Polen, in Griechenland und in Portugal, in der Türkei und in Ungarn haben sich Regierungsformen ausgebildet, die Parlamentarismus und Demokratie manchmal als Dekorationsstücke beibehalten, meist aber sich grundsätzlich gegen sie als Regierungsmethoden oder als Weltanschauung wenden. Gleichzeitig haben sich in anderen Ländern, wie in Deutschland und in Frankreich, Geistesströmungen entwickelt, die mit größter Schärfe die Beseitigung der Demokratie fordern, und an ihrer Stelle die Einsetzung der Diktatur verlangen. Frei von diesen antidemokratischen, antiparlamentarischen Bewegungen sind eigentlich nur die skandinavischen Länder, die Schweiz, Holland, Belgien, die britischen Dominien, das Vereinigte Königreich und die Vereinigten Staaten geblieben, obwohl auch in diesen Ansätze vorhanden sind. Die Suffragettenbewegung in England leitete den Kampf gegen die Souveränität der parlamentarischen Demokratie mit physischen Gewaltmitteln ein. Die Freiwilligenbewegung in Ulster ist das Vorbild der gegen den demokratischen Staat gerichteten Miliz einer sich bedroht fühlenden Minderheit gewesen und von den Führern der konservativen englischen Partei, Mr. Bonar Law und Lord Carson, gutgeheißen worden. 25 In den oft in Mummenschanz verhüllten Gehabungen des amerikanischen Ku-Klux-Klan stecken Empfindungen, Auffassungen und Betätigungen einer verängstigten Minderheit, die sich mit Terrorismus gegen eine Mehrheit wendet und europäischen Bildungen nicht unähnlich ist. Es handelt sich bei den modernen antiparlamentari|| 24 Siehe darüber meine Schrift: „Das Schicksal des deutschen Kapitalismus“, Berlin 1925. 25 Es gibt in England eine richtige faschistische Organisation. Vor allem führen aber ernsthafte konservative Politiker den Kampf gegen die Arbeiterorganisationen mit faschistischen Schlagworten. Faschistische Gedankengänge in der Literatur sind seit Thomas Carlyle nicht selten. Sie sind z. B. in den Gedichten von Al. Carthill „A lost dominion“, Edinburgh und London 1924, enthalten.
228 | Faschismus und Nationalsozialismus schen und antidemokratischen – das ist nicht dasselbe – Bewegungen um weit verbreitete Erscheinungen, die eine vergleichende Darstellung wohl verdienen. Eine Anzahl Sachkenner hat versucht, diese Bewegungen in den wichtigsten Ländern aufzuzeichnen. Gibt man ihnen den Sammelnamen „Faschismus“, so hat man sie nur nach der negativen Seite gekennzeichnet, soweit sie sich wie ihr italienisches Vorbild bald gegen Parlamentarismus, bald gegen Liberalismus, bald gegen Demokratie kehren. Sie sind, schon weil sie die nationale Note im Wesen der Völker besonders betonen, untereinander sehr wesensungleich. Allen gemeinsam ist vielleicht nur der Glaube an die physische Gewalt als grundlegendes Mittel zur Gestaltung und Leitung des Gemeinwesens. Im einzelnen sind sie voneinander sehr verschieden. Es ist begreiflich, daß in der Darstellung Italien, wo sich zwar nicht die Theorie, wohl aber die Praxis am konsequentesten entwickeln konnte, eine zweifache Behandlung gefunden hat. Daneben stehen als Staaten, in denen bestimmte Gedankengänge verwirklicht worden sind, Spanien und Ungarn. In Deutschland und Frankreich sind die Bewegungen über theoretische Formeln nicht hinausgekommen, ein Umstand, der deswegen besonders schmerzlich für ihre leidenschaftlichen Vertreter sein muß, weil sie sich grundsätzlich gegen den Intellektualismus auf dem Gebiet der Politik wenden und dabei doch nur Intellektualismus üben, der sich vielleicht manchmal etwas blutrünstig gibt, aber graue Theorie bleibt, solange seine Vertreter nicht die praktische Macht ergriffen haben. Die Verfasser der einzelnen Arbeiten gehören drei Gruppen an, die einen sind Anhänger, die andern sind Gegner des neuen „Systems“, während zum mindesten zwei der vorliegenden Arbeiten von uninteressierten, rein wissenschaftlichen Beobachtern verfaßt worden sind. Die Arbeiten sind daher nach Einstellung, wie nach Ergebnis verschieden. Läßt sich aus diesen Untersuchungen ein einheitliches Bild formen?
I Der Faschismus ist eine rein politische Bewegung, deren Anhänger ihre rein praktische Einstellung betonen und immer wieder versichern, daß er weder auf philosophischen Grundlagen aufgebaut sei, noch eine Nachahmung auswärtiger Einrichtungen bedeute; er ist rein national und rein empirisch. Sie gehen dabei von der Vorstellung aus, daß die Politik, die Setzung der richtigen Gemeinschaftsziele und die Auswahl der zu ihrer Erreichung geeigneten Mittel ohne weiteres aus der nationalen Eigenart herausquelle, wenn man sich nicht durch Intellektualisierung verbilde und durch fremde Vorbilder verwirre. Der Faschismus ist ursprünglich überall anti-intellektuell und anti-rationalistisch eingestellt. Das richtige Ziel ergibt sich aus dem nationalen und dem personalen Instinkt. Jeder Versuch einer theoretischen Erkenntnis des Richtigen und des Zweckmäßigen mittels der Vernunft ist abwegig. Einmal sind die eigentlichen politisch-gesellschaftlichen Probleme viel zu triebhaft bedingt, als daß sie der Vernunfterkenntnis zugänglich wären, zum zweiten aber ist
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die vernünftige Erkenntnis, selbst wenn sie richtig ist, schädlich. Denn der Erwerb der Erkenntnis führt zu einer so weitgehenden Intellektualisierung der Erkennenden, daß sie zu einem frischen freien Entschluß nicht mehr fähig sind. Damit wendet sich der Faschismus bewußt gegen die Auffassung des gesellschaftlichen Geschehens, die dem rationalistischen Liberalismus und später dem deterministischen Sozialismus eigentümlich war, nach der die gesellschaftlichen Vorgänge sich mit naturgesetzlicher Notwendigkeit abrollen. Die Aufgabe der Vernunft ist es, die Gesetze des Werdenmüssens zu erkennen und sich ihnen zu fügen. Aus der Güte eines Gottes, der die Menschen mit Vernunft begabt hat, erkennt der liberale Rationalist die Herrschaft der Natur, insofern die richtige Erkenntnis zu zweckmäßigen und den Menschen nützlichen Maßnahmen führt, während der irrtümlichen zweckwidrige, schädliche Maßnahmen folgen. Alles gesellschaftliche Geschehen erfolgt also mit naturgesetzlicher Notwendigkeit, die durch menschliche Eingriffe wohl gehemmt oder beschleunigt, aber nicht wesentlich geändert werden kann. Daher ist eine konstruktive Wirtschaftspolitik unmöglich. Man hat nur die Wahl zwischen einer falschen Wirtschaftspolitik und dem „Nichteingreifen“. Diese naturgesetzliche Auffassung ist ursprünglich von den Physiokraten erdacht worden. Sie hat sie zu Gegnern des Parlamentarismus gemacht, dessen Anhänger in ihm ein Mittel sehen, die Grundlagen der Gesellschaft auf dem Wege der Gesetzgebung abzuändern. Sie ist dann zur philosophischen Glaubenslehre der Manchesterschule geworden und hat schließlich ihren deutlichsten Ausdruck im Marxismus gewonnen. Als Determinismus ist der Marxismus nur eine wissenschaftliche Übersteigerung der liberalen Vorstellungen: Der Wille der Einzelnen, der den ihnen eingegebenen wirtschaftspsychologischen Trieben folgt, hat bestimmte wirtschaftliche Zustände geschaffen. Diese wirtschaftlichen Zustände erzwingen Handlungen, deren Folgen die Menschen nicht entgehen können. Sie können auch diese Handlungen nicht unterlassen, weil sie zwangsläufig aus Zuständen geboren sind, die das Ergebnis früheren menschlichen Wollens sind, aber nicht eines frei gewollten Willens, sondern eines gemußten Wollens. Diese ganze gesellschaftliche Auffassung ist gewissermaßen eine Begleiterscheinung der Calvinistischen Gotteslehre auf sozialem Gebiet: der Lehre von der göttlichen Willkür, die dem Menschen sein Seelenschicksal vorschreibt, das man erkennen kann, dem man sich fügen kann, dem man sich aber nicht zu entziehen vermag. So wenig aber die Erlösungsbedürftigen auf religiösem Gebiet diese unpersönliche Diktatur ertragen haben, wie sie das Gesetz des Geschehenmüssens durch einen es willkürlich abbiegenden Gott durchbrochen haben, so ist es auch auf sozialem Gebiet gegangen. Das Lebensgefühl wendet sich gegen ein soziales Naturgesetz, das jede zweckbewußte Lebensgestaltung der Gemeinschaften und jede soziale Politik unmöglich macht. Der leidenschaftlichste Widerspruch des Faschismus gegen den Sozialismus richtet sich gegen den Marxismus, solange er auf deterministischer Grundlage steht,
230 | Faschismus und Nationalsozialismus während er dem russischen Bolschewismus, der in kühler Vorwegnahme der Entwicklungsgesetze der sozialen Reife den Kommunismus erzwungen hat, seine Sympathie bezeugte. Die Masse der Faschisten, die soziale Naturgesetze leugnen, sind sich allerdings der philosophischen Bedeutung ihrer Negation kaum bewußt. Sie leugnen sie nicht sowohl, weil sie sie für unrichtig halten, als weil sie auf dem Wege der vernünftigen wissenschaftlichen Erkenntnis gewonnen sind und weil die Erkenntnis als solche ihnen verdächtig erscheint. Sie leugnen sie mit der tiefgründigen Verachtung, die der Dilettant dem Fachmann entgegenbringt. Sie vertreten ganz bewußt die lebendigen triebhaften Kräfte im Menschen, die bestenfalls die intuitive Erfassung sozialer Zusammenhänge gestatten. Wollte man ihnen die Tauglichkeit zu wissenschaftlicher Erkenntnis absprechen und die Fähigkeit zur Anwendung wissenschaftlicher Methoden aberkennen, so würden sie diesen Vorwurf als Lob empfinden. Als Intellektuelle, die sich vernünftiger Erkenntnis bestreben, gelten ihnen kurzsichtige, wenn möglich bebrillte Spezialisten, die stets nur einen Teil der Dinge kennen, die die einzelnen Teile nicht miteinander verbinden können, und die, selbst wenn die Verbindung richtig geglückt wäre, nicht die moralische Kraft haben, das theoretisch richtig Erkannte praktisch durchzusetzen. Diese Auffassung stimmt schlecht mit ihrer restlosen Bewunderung für die Bürokratie überein, die ihrem inneren Wesen nach auf bruchstückweise, referatmäßige Erkenntnis eingestellt ist, bei der eine widerspruchslose Verschmelzung der Einzelerkenntnisse häufig gar nicht versucht wird und die zur Entscheidung nur dann getrieben werden kann, wenn ein außer ihr stehendes Organ sie in Bewegung setzt. Sie setzen Intellektualismus gleich Parlamentarismus und hohlem Schwätzertum, eine Gleichsetzung, die noch zu beweisen wäre, da sie dem Parlamentarismus als solchem Intellektualität und Intelligenz absprechen. Sie haben die Theorie von der Entschlußlosigkeit der Schwätzer von George Sorel übernommen, und nehmen ohne weiteres an, daß Intellekt – darunter verstehen sie häufig Intelligenz – und Wille einander ausschließen. Dabei sind gerade im letzten Jahrzehnt die entscheidenden Umstürze von Intellektuellen gemacht worden. Leute wie Kurt Eisner, Lenin und Trotzki, Liebknecht und Luxemburg, und nicht zuletzt Mussolini selbst, sind Männer der Feder gewesen, die – vielleicht falsch gerichtete – Weltgeschichte gemacht haben, aber nicht bloß Weltgeschichte geredet haben. Der zum Handeln vorbestimmte „starke Mann“, der nach den Ausführungen faschistischer Theoretiker – und ein Faschist, der nur schreibt und redet, ist entweder Theoretiker oder Propagandist – aus dem militärischen Beruf oder der Verwaltungsbeamten-Laufbahn kommen sollte, hat nur in den seltensten Fällen im entscheidenden Moment gehandelt. Weder Boulanger, noch Ludendorff, noch Herr von Kahr haben gezeigt, daß die bloße Abwesenheit gedanklicher Blässe die angeborene Farbe der Entschließung sichert. Soweit überhaupt eine Erkenntnis nötig ist, muß sie, dem Faschismus zufolge, intuitiv sein. Ein König von Gottes Gnaden kann sich diese Intuition auf dem Wege der göttlichen Inspiration zumessen; ein Usurpator, dem es geglückt ist, die Herr-
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schaft an sich zu reißen, kann im Erfolg die Fügung erblicken und in jeder einzelnen seiner Handlungen den Atem Gottes verspüren. Eine ähnliche Vorstellung muß vorhanden sein, weil sonst jede Handlung zu einem völlig irrationalen Willkürakt werden würde. Denn irgendwo und irgendwie muß ja ein Ziel als richtig und möglich erkannt sein, damit seine Verwirklichung unternommen werden kann. Der Faschismus, der sich nicht religiösen Spekulationen hingibt, sucht die Quelle dieses intuitiv richtigen Erkennens in der Stimme des Blutes. Volkesstimme, soweit sie rassenmäßig richtig abgetönt ist, ist Gottesstimme. Die Richtigkeit der Ziele wird nicht verbürgt durch Überlegungen, die die Vernunft anstellt. Die Chromosome, die die Erbmasse zusammensetzen, sichern diese Erkenntnis. Daran mag auf rein geistig-kulturellem Gebiet etwas Wahres sein, insofern es besagt, daß man so denkt, wie man ist. Ein weitgehender Solipsismus ist aber leicht geneigt, zu dem Schlusse zu kommen, daß die Außenwelt so ist, wie man sie sich vorstellt und damit so ist, wie man selber ist. Über rein kulturelle Erwägungen hinaus vermag indes diese Auffassung nicht zu führen. Sie setzt das intuitiv richtige Erkennen gleich der naiven Einstellung der geistig nicht verbildeten Massen, zu denen nicht nur das einfache Volk zählt, sondern insbesondere die Kämpfenden und Krieger, deren heroisch-militärische Auffassung als natürlich und richtig gilt. Hier liegt indes ein Anachronismus vor. Der moderne Krieg ist in seinem innersten Wesen gar nicht das intuitiv individualistische Erlebnis der Heroenzeit, er ist vielmehr massenmäßig mechanisch erdacht. Wohl ist an der Front für individuellen Heroismus und für persönliche Aufopferung ein weiter Spielraum. Gerade für den militärischen Führer ist der Krieg heute eine Massenorganisation. Er hat als Generaldirektor eines Weltvernichtungsunternehmens die Aufgabe und damit das Bestreben, die Mechanisierung der Menschen immer weiter zu treiben. Seine Unterführer sind dabei die Physiker und die Chemiker, die menschenersetzende und menschenvernichtende Apparate erfinden. Genau so wie der moderne Industrieprozeß dahin strebt, den einzelnen Arbeiter zum Anhängsel der Maschine zu machen, genau so schreitet die moderne Kriegstechnik zur Mechanisierung der Vernichtung. Die persönlich intuitive Einstellung zum Krieg gehört daher einer vergangenen Zeit an. Vielleicht ist darin die Ursache zu sehen, daß der große Krieg keine militärischen Führerpersönlichkeiten hervorgebracht hat, die das Massenhafte persönlich so zu durchgeistigen vermocht hätten, wie es Cromwell, Friedrich und Napoleon in der Vergangenheit getan haben. Ähnlich ist es auf dem Gebiet der Wirtschaft. Die Intuition des schöpferischen Fachmanns ist auch heute noch wirksam, sie muß aber, um wirtschaftlich praktische Ergebnisse zeitigen zu können, intellektuell unterbaut sein. Das moderne Wirtschaftsleben ist seinem innersten Wesen nach rational. Es enthält gewisse irrationale Elemente, die zum Teil, soweit sie traditionell sind, wirtschaftshemmend sein können, aber einkalkuliert werden müssen. Beherrscht werden kann es nur durch
232 | Faschismus und Nationalsozialismus vernünftige, zweckmäßige Erkenntnis. Die bloße Vernunft mag nicht immer ausreichen; die Unvernunft genügt sicher nicht. Das faschistische Denken wendet sich an diejenigen, die individuell persönlich gerichtet und stimmungsgemäß gegen die Massenmechanik eingestellt sind. Es ist ganz begreiflich, daß es sich an die Träumer und an die Jungen richtet und begeisterte Unterstützung bei allen denen findet, denen diese moderne seelenlos gewordene Welt zuwider ist. Es ist bittere Ironie, daß die eigentliche Bewegung zum mindestens zeitweilig von Leuten finanziert worden ist, die an einer fortschreitenden Mechanisierung interessiert sind, und daß sie unbewußt für deren Interessen eingetreten ist. Es ist sehr zweifelhaft, ob an irgend einem Orte der Welt der Faschismus ohne die Großindustrie große Fortschritte gemacht hätte. Er ist dabei seinem innersten Wesen nach ihr entgegengesetzt. Denn sie verkörpert mehr als alles andere die Vernichtung der menschlichen Persönlichkeit und die zweckhaft kausal gestaltete. Ordnung des gesellschaftlichen Lebens, die nicht durch geniale Einfälle mächtiger Individualgestalten, sondern durch Befolgung naturgesetzlicher, in erster Linie naturwissenschaftlicher Ergebnisse zwangsläufig ablaufen muß.
II Gewissermaßen wider seinen Willen, denn er leugnet ja jede philosophische Einstellung, ist der Faschismus zu einer grundsätzlichen Stellungnahme zu einer der tiefsten philosophischen Fragen verführt worden: dem Problem des freien Willens. Er fordert die Freiheit vor immanentem Zwang; der menschlichen Persönlichkeit soll die Notwendigkeit kein Gesetz vorschreiben können. Vor äußerem menschlichem Zwang schreckt er dagegen nicht zurück. Im Gegenteil. Wer handeln kann, wie er will, ohne daß ihn die Natur der Dinge daran hindert, handelt nach Willkür; er kann andere zwingen. Die Freiheit von außermenschlichen Einflüssen und die eigene Kraft berechtigen ihn zum Zwang andern gegenüber. Wo der Liberalismus Gesetz und Freiheit verlangt, fordert der Faschismus Willkür und Gewalt. Alle Politik ist ein Setzen von Gemeinschaftszielen und eine Anwendung von Mitteln zu ihrer Durchführung. Das ist in der auswärtigen Politik leicht erkennbar. Das eigentliche Problem ist das Problem der Innenpolitik. Wie erfolgt die Willensbildung in Gemeinschaften, die nach außen hin einen einheitlichen Willen zu vertreten haben? In einer Monarchie von Gottes Gnaden oder bei einem Usurpator ist der Vorgang ganz einfach. Hier handelt es sich um eine Einzelpersönlichkeit, die einen Einzelwillen besitzt und die sich als Individuum Ziele setzt. Die Masse ist willenlos. Der Herr will für sie; sie muß gehorchen. Zwar kann er nur die Willensbildung, die Zielsetzung allein durchführen, nicht die Willensverwirklichung. Zur Willensverwirklichung müssen andere Willen für das fremdgewollte Ziel eingespannt werden. Das kann bei Willenlosigkeit der andern durch bloßes Gehorchen erreicht werden oder, wo nicht reine Willenlosigkeit vorliegt, durch Umschaltung anderer Willen. Diese
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Parallelschaltung anderer Willen ist im Endergebnis das Stärkere, weil dann, nachdem etwaige Willenswiderstände überwunden sind, eine positive Einstellung erfolgt. Selbst wo die Willensbildung eine personale ist, ist also zu ihrer Durchführung eine unpersönliche Willensverbreiterung nötig. Zur Durchführung dieser unpersönlichen, unentbehrlichen Willensverbreiterung, beziehentlich Willensvereinigung, sind zwei Methoden möglich: Einmal ist eine drucklose Einstellung möglich, wenn die Unterworfenen keinen eigenen Willen haben und in blindem Gehorsam durch die Überzeugung, daß der Willensbilder berechtigt ist, für sie zu wollen, ihm in bloßer Nachahmung Folge leisten. Es ist aber auch möglich, daß diese passive Anpassung nicht genügt und durch Überredung, durch Propaganda, beziehentlich Argumente, eine aktive Umstellung erfolgen muß. Wo das nicht genügt, tritt der Zwang in sein Recht, der physische Zwang, der den Nichtwollenden oder Anderswollenden zum Mitgehen nötigt (Zwangsaushebung), oder der wirtschaftliche Zwang, der den Menschen das Nichtwollen oder das Anderswollen unmöglich macht. Zu den beiden kommt als Drittes, in vergangenen Zeiten oft mächtiger als der physische, der psychische Zwang, die Drohung mit physischen, wirtschaftlichen oder psychischen Schädigungen, wie z. B. in der Ausnutzung religiöser Vorstellungen für politische Zwecke. Wo das Recht der Willensbildung seitens eines Einzelnen oder einer Gruppe von Einzelnen ohne weiteres anerkannt wird, ist das Problem der Parallelschaltung anderer Willen zum Zweck der Ausführung ziemlich leicht. Die wirklichen Schwierigkeiten entstehen dort, wo die Willensbildung keinem Einzelnen zusteht, sondern eine Frage der Massenwillensbildung ist. Das Problem der „Massenwillensbildung“ ist das politische Problem der Gegenwart. Ganz einerlei, ob man mit dem politischen System zufrieden ist oder nicht, nirgendwo in Europa, aber auch kaum außerhalb Europas, ist heute ein Zustand denkbar, bei dem die Mehrheit aller Einzelpersonen gewillt wäre, die Entscheidungen über ihr gesellschaftliches Schicksal ohne ihr Dazutun irgendeiner Instanz zu überlassen. Diese Zeiten sind ein für allemal vorüber. Alle Willensbildung ist ihrem innersten Wesen nach ein Individualakt. Die Entscheidung eines in der Masse stehenden Einzelnen ist von der Entscheidung eines völlig isolierten Menschen verschieden, da die Willensbildung, zu der ihn der Einfluß der Masse veranlaßt, von der Willensbildung, die sonst eintreten würde, verschieden sein kann. Sie bleibt aber schließlich sein persönliches Wollen. Das ist die Grundvorstellung des liberalen politischen Denkens. Sie gibt ohne weiteres zu, daß der Gesamtwille von der Summe der Einzelwillen verschieden ist; sie gesteht aber nicht zu, daß dieser Gesamtwille etwas ist, das außerhalb der einzelnen Teile entstehen kann. Der Faschismus nimmt dagegen für sich eine organische Staatsvorstellung in Anspruch. Der Staat ist ihm nicht eine Summe von Gruppen und Personen, sondern eine Persönlichkeit. In dieser Persönlichkeit ist die Gesamtheit der einzelnen Volksgenossen, die Gesamtheit, vertreten, und zwar sowohl die Gesamtheit der Volksgenossen der Gegenwart, wie die der Vergangenheit und der Zukunft. Das mag
234 | Faschismus und Nationalsozialismus als Abstraktion richtig sein 26 – es ist trotz allem eine Abstraktion. Eine Aktiengesellschaft ist zweifelsohne von der Gesamtheit der einzelnen Aktionäre verschieden. Man kann sie sich als Persönlichkeit vorstellen. Aber diese abstrahierte „Persönlichkeit“ als solche vermag weder zu denken noch zu entscheiden. Je nachdem man sie demokratisch, aristokratisch oder diktatorisch organisiert hat, entsteht der Wille dieser Persönlichkeit beim Generaldirektor, beim Aufsichtsrat oder bei der Generalversammlung. Im Kopfe der Aktiengesellschaft als solcher entsteht er nicht. Juristische Persönlichkeiten haben keinen Kopf. Sie haben keine Seele. Sie haben kein Wollen. Sie sind organisiert worden, um das Wollen vieler Einzelner zusammenzufassen und dadurch zu steigern. Das Rutenbündel, das das Sinnbild des Faschismus darstellt, besteht aus einzelnen Stäben, deren Einzelstärke gewiß weit geringer ist als die Stärke des Bündels. Aber es bleibt ein hölzernes Rutenbündel, ohne Rücksicht auf Zahl und Bindung der Stäbe; keine Kunst der Zusammensetzung, keine organische Vorstellung kann einen Baumstamm daraus machen. Die Schwierigkeit der Willensbildung innerhalb der Bestandteile einer juristischen Person beruht nicht auf dem begrifflichen Gegensatz zwischen Mehrzahl und neuer Einheit; sie beruht vielmehr auf der Willensspaltung. Solange die Einzelwillen nicht zu wollen haben, weil sie einen andern Willen als den ihren anerkennen, entsteht kein Problem. Das Problem entsteht erst, wenn die Einzelwillen oder die Willen verschiedener Gruppen verschieden gerichtet sind. Das Problem lautet dann: Wie kann die Willensspaltung überbrückt werden, so daß aus der Willensvielheit eine Willenseinheit wird? Der Parlamentarismus als politisches System sucht darauf die Antwort zu geben: Die verschiedenen Willensrichtungen kommen im Meinungsstreit zum Ausdruck. Die Erörterung, vorgenommen in aller Öffentlichkeit, schaltet die schwach begründeten Meinungen aus. Was übrigbleibt, sind unerschütterliche, durch Argumente nicht zu beeinflussende Überzeugungen oder festgefügte Interessen. Die Entscheidung folgt nach ausgiebiger Rede und Gegenrede durch Abstimmung, bei der die Mehrheit entscheidet. Die Minderheit fügt sich, wenn sie nicht überzeugt ist, nicht der Kraft der Mehrheitsargumente, sondern der Mehrheit als solcher. Sie hat stets die Möglichkeit, für ihre Anschauungen weiter zu wirken und die Mehrheit in eine Minderheit zu verwandeln. Falsche Entscheidungen werden auf diese Weise nicht verhindert, denn die Mehrheit ist nicht immer vernünftig; sie können aber korrigiert werden, wenn im Laufe der Entwicklung der Irrtum der Mehrheit erwiesen wird und infolgedessen die Minderheit ans Ruder kommt, d. h. zur Mehrheit wird. Die geregelte Erörterung in aller Öffentlichkeit ermöglicht es so, daß die Willensspaltung durch Bildung der Willensmehrheit überbrückt wird und eine Willenseinheit entsteht. In den antidemokratischen Diskussionen macht man sich die Kritik dieser Methode sehr leicht. Man geht von der Vorstellung aus, daß nicht alle Mitglieder der || 26 Vgl. Corrado Gini, Scientific basis of Fascism, Political Science Quarterly, März 1927.
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Gemeinschaft ihrem innersten Wesen nach willensfähig seien, wegen mangelnder Intelligenz oder mangelnder ökonomischer Verwurzelung. Man folgert daraus, sie dürften nicht willensberechtigt, beziehentlich nicht gleichberechtigt sein. Das mag praktisch von größter Bedeutung sein; theoretisch ist es eine bloße Umstellung des Problems auf einen geringeren Zahlenbegriff. Denn die Frage ist nicht: Wie soll entschieden werden, wenn viele Willensunfähige wenigen Willensfähigen gegenüberstehen – diese Frage ist leicht zu entscheiden –, sondern: Nach welchen Gesichtspunkten soll die Entscheidung unter den Willensfähigen und Willensberechtigten erfolgen? Man kann einmal die Willensentscheidung an Einstimmigkeit knüpfen. Dieses wäre die logische Weiterbildung der organischen Staatsidee. Nur bei völliger Gleichrichtung aller Einzelwillen ist eigentlich ein lebendiger, lebensfähiger Organismus vorhanden. Ist aber die Willenseinheit durch Einstimmigkeit nicht zu erreichen, so kann die Entscheidung entweder bei der Mehrheit oder bei der Minderheit liegen. Sind die Willensberechtigten gleichwertig, d. h. also gleich willensfähig, so muß zugunsten der Mehrheit entschieden werden. Nimmt man an, daß keine gleiche Willensfähigkeit vorliegt, so könnte die Entscheidung zugunsten der Minderheit fallen, aber nur, wenn sie sich aus den besser Befähigten zusammensetzt. An und für sich sind Mehrheiten und Minderheiten reine Zahlenbegriffe. Geht man aber davon aus, daß jeder einzelne Wollende ein lebendiger Mensch mit Intelligenz oder auch meinethalben mit Intuition ist, so muß man nicht annehmen, daß eine Entscheidung richtig ist, weil sie von einer Mehrheit gleich Intelligenter gefaßt worden ist; man hat aber noch weniger Grund zu der Annahme, daß diejenige Entscheidung richtig ist, der die Minderheit zustimmt. Rein praktisch ergibt sich bei gleicher Willensfähigkeit, daß die Entscheidung der Mehrheit leichter durchzusetzen ist als diejenige der Minderheit, weil bei ihrer Durchführung viel mehr gleichgerichtete Willen zur Verfügung stehen und weil die Verantwortung für den etwaigen Mißerfolg sich auf viel mehr Schultern verteilt. Das entscheidende Problem ist also gar nicht die Frage: Hat die Minderheit recht, sondern: Wie wird der Willensentscheid durchgeführt? Hat die Mehrheit oder hat die Minderheit das Recht zum Zwang? Jede Willensspaltung kann nur überbrückt werden, wenn die Dissidenten, einerlei ob sie Mehrheit oder Minderheit sind, sich fügen. Tun sie das nicht, so kommt ein Gemeinschaftswille überhaupt nicht zustande. Aus den Dissidenten werden dann Sezessionisten. Die Grundvorstellung des Parlamentarismus ist, daß Meinungen, aus denen Willensbildungen hervorgehen, durch öffentliche Erörterung gebildet, beziehentlich aufgegeben werden. Die Erörterung, die Überredung, das Zugeständnis sind in letzter Linie die Methoden, mit denen der Parlamentarismus aus Willensspaltung Willenseinheit herbeizuführen sucht. Er geht dabei von der Voraussetzung aus, daß es der Mehrheitspartei gelingen müsse, die Widerstrebenden von der Richtigkeit ihrer Auffassungen zu überzeugen, oder, wenn nicht zu überzeugen, so doch zur Zustimmung zu gewinnen und auf diese Weise den Zwiespalt zu überbrücken. Die Anwendung von Zwang ist aber in der Regel nicht nötig, da die
236 | Faschismus und Nationalsozialismus Minderheit ja stets die Möglichkeit hat, im Laufe der Zeit zur Mehrheit zu werden. Da sie das weiß, fügt sie sich. Es ergeben sich also drei Möglichkeiten: Die Möglichkeit der Willenslähmung, wenn der eine Teil den andern an der Willensbildung verhindern kann, die Möglichkeit der Willenseinordnung, wenn der eine Teil sich fügt, und die Möglichkeit der Willensauflehnung, wenn der überstimmte Teil Widerstand leistet, einen Widerstand, der die Willensspaltung zur Gemeinschaftsspaltung führen kann. Der Zweck des Parlamentarismus ist der Willensausgleich. Meinungsverschiedenheiten können dabei durch Zugeständnisse ihre Lösung finden, Interessengegensätze durch Verhandlungen ausgeglichen werden. Da es sich bei wirtschaftlichen Dingen um Geschäftsfragen, also um Geldfragen handelt, dreht sich der Streit immer um Quantitäten. Da bloße Quantitäten stets teilbar sind, müssen alle wirtschaftlichen Gegensätze mit gutem Willen und gesundem Menschenverstand in Einklang zu bringen sein. Aus dem Wesen des Parlamentarismus entsteht daher die Theorie des Kompromisses. Wo Weltanschauungsmomente vorliegen oder wo ideologische Motive ins Wirtschaftsleben eindringen, wie insbesondere die militaristische Auffassung des „Herr-im-Hause-Seins“ auf seiten der Industrie, oder die sozialistische Theorie des Klassenkampfes, wird dieser Ausgleich schwierig. Das kluge Kompromiß erscheint dann leicht als verächtlicher Kuhhandel. Die Methode der Willensbildung einer Gemeinschaft über den Weg des Parlamentarismus ist verhältnismäßig verwickelt, da sie sich auf indirektem Wege vollzieht. Die Willensberechtigten, die Wähler, wählen ihre Vertreter. Diese bilden dann als Parlament ein engeres Gremium von Willensberechtigten. Sie übertragen wiederum die Aufgaben der Willensbildung an einen engeren Ausschuß, die Regierung, die Ziele und Mittel zu bestimmen hat. Für ihre Entscheidungen ist sie dem Parlament verantwortlich. Sie kann die einmal gewählte Willensrichtung nur einhalten, wenn sie im Parlament eine Mehrheit findet. Diese Mehrheit kann nur zustande kommen, wenn die Abgeordneten die Willensrichtung der ursprünglich Willensberechtigten vertreten, oder wenn sie wenigstens die Hoffnung haben, diese zu ihren Entscheidungen bekehren zu können. Der entscheidende Gegensatz zum Parlamentarismus ist der Militarismus. Militarismus als politische Methode gesehen, ist ein System, bei dem ein Wollender oder eine Gruppe Wollender den andern an den Folgen dieser Entscheidung Beteiligten Willensziele und Willenswege vorschreibt. Sie sind dabei weder verpflichtet, ihre Entscheidung zu begründen, noch sie mit den Beteiligten zu erörtern, noch deren Zustimmung einzuholen. Sie sind ihnen für Erfolg oder Mißerfolg nicht verantwortlich. Es ist ein System des Regierens durch Befehlen, nicht durch Besprechen. Es löst die Schwierigkeiten der impersonalen kollektiven Willensbildung dadurch, daß es auf einen personalen Einzelwillen zurückgreift, dem Tausende und aber Tausende anderer Einzelwillen sich ohne weiteres fügen, sei es von selbst, sei es durch Zwang. Begreiflicherweise ist es daher die politische Methode des Absolutismus gewesen. Es ist die Methode jeder Kriegführung. Es war in der Vergangenheit die Me-
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thode der meisten organisierten Religionen: Wer anderer Meinung ist, wird verbrannt. Es ist auch die politische Methode, die sich aus der Lehre vom Klassenkampf ergibt. Klassen, die sich in unversöhnlicher Feindschaft mit naturgesetzlichem Zwange gegenüberstehn, können durch parlamentarische Kompromisse nicht ausgesöhnt werden. Diese militaristische Methode kommt im Wirtschaftsleben beim Generalstreik oder bei der Generalaussperrung zur Anwendung. Man versucht nicht, die anders gerichteten Willen der Beteiligten durch Überredung umzustellen. Man schaltet sie durch Befehl in die gewünschte Richtung ein. Diese Methode pflegen die Faschisten aller Länder gegenüber dem Parlamentarismus anzupreisen. Sie denken dabei weniger an die Methoden des Königs von Gottes Gnaden als an die Methode des geborenen Schlachtenlenkers, der seine Ziele nur durch blinden Gehorsam erreichen und nicht dulden kann, daß seine Vollzugsorgane über Zulässigkeit und Zweckmäßigkeit seiner Anordnungen verhandeln. Der Krieg ist eine Krise im Leben der Völker, in der prompte Entscheidung wichtiger sein mag als ausgiebige Erörterung. Die Anwendung der militaristischen Theorie auf die eigentliche Politik erscheint daher berechtigt, wenn das Leben der Völker Krisencharakter annimmt und mehr oder minder breite Schichten das Gefühl haben, sich in einer Dauerkrise zu befinden. Voraussetzung ihrer Durchführung ist die Möglichkeit, das Volk im bürgerlichen Leben wie ein Heer zu organisieren. Militarismus im politischen Sinn ist dann noch nicht vorhanden, wenn das Heer das Volk in Waffen ist, sondern erst wenn die Gesamtheit des Volkes im bürgerlichen Leben durchorganisiert ist und Befehlshabern gehorcht, die ihm unverantwortlich sind. Die Organisation einer politischen Miliz zu Regierungszwecken ist eine der Voraussetzungen dieses Systems. Es kann sich indes nur dort entwickeln, wo in den breiten Massen ein Bedürfnis nach Selbstregierung nicht besteht, sondern wo die Unterordnung unter einen fremden Willen historische Gewohnheit ist, dieses Gehorchen dem Einzelnen die Last der Selbstverantwortlichkeit abnimmt und ihm eine Sicherheit vor dem Sich-entschließenmüssen verleiht, die ihm bei einem selbsttätigen Wollen-müssen fehlt. Es ist daher ganz klar, daß für dieses System alle diejenigen zu haben sind, deren jugendlicher Romantik der Krieg als verantwortungsloser Parademarsch erscheint. Es wendet sich aber auch an diejenigen, die rein betrachtend eingestellt sind, denen das Gleichgewicht der inneren Freiheit nur dann verbürgt erscheint, wenn die Ebenmäßigkeit ihres äußeren Daseins nicht durch die Notwendigkeit von Entscheidungen gestört wird. Der Parlamentarismus nimmt die Güte und die Vernünftigkeit der einzelnen Menschen als gegeben an. Er ist zwar nicht in seiner Entstehung und seinen äußeren Formen, aber in seiner geistigen Durchführung ein Kind des rationalistischen Liberalismus. Es ist kein Zufall, daß der Schöpfer des italienischen Faschismus sich so gern auf Machiavell beruft, dessen Grundgedanke die Bösartigkeit und Unvernünftigkeit der einzelnen Menschen ist, die nur an der Hand eines verantwortungslos Wollenden ihrer richtigen staatlichen Bestimmung zugeführt werden können. Mit
238 | Faschismus und Nationalsozialismus Güte und Zureden ist nichts zu erreichen. Das Urelement der Politik ist der Zwang. Je tiefer die menschlichen Leidenschaften gehen, je fester die Meinungen im Boden von Weltanschauungen verwurzelt sind, je mehr wirtschaftlicher Eigennutz die Interessen beherrscht, desto ergebnisloser wird die Methode des Ausgleichs durch Verhandlungen sein. Denn obwohl Wirtschaftsgrößen als solche immer teilbar sind, ist der raubgierige Egoismus, der sie begehrt, zu vernünftigen Kompromissen selten geneigt. Die endlosen Verhandlungsschwierigkeiten, die ein gutes Teil aller parlamentarischen Kräfte in Anspruch nehmen, führen häufig zu keinem völlig befriedigenden Ergebnis. Diese Ergebnislosigkeit erscheint dem faschistischen Denken als Rechtfertigung eines Handelns ohne Verhandeln. Der Befehl als solcher, Zwang und Zwangsandrohung, sind die richtigen Regierungsmethoden, weil sie nur so die richtige Zielsetzung und die reibungslose Zielverwirklichung verbürgen. Auch der Parlamentarismus als solcher kennt den Zwang: Die Mehrheit vergewaltigt schließlich die Minderheit. Sie besitzt aber, wenn bestimmte Formen gewahrt worden sind, gewissermaßen deren Zustimmung hierzu. Denn der parlamentarische Kampf, vom Wahlkampf bis zur Schlußabstimmung im Parlament, wird von allen Beteiligten in der Voraussetzung geführt, daß die Mehrheit entscheiden soll und die Minderheit sich fügt. Überdies ist die Mehrheit, beziehentlich die von ihr gewählte Regierung, verantwortlich. Sie wird in der Regel nicht zur strafrechtlichen Verantwortung herangezogen; sie büßt den Mißerfolg mit zeitweiliger, unter Umständen sogar dauernder Ausschließung von der politischen Macht. Die militaristische Auffassung geht bewußt von der Vorstellung der unverantwortlichen Regierung aus. Der absolutistische Monarch von Gottes Gnaden ist nicht seinem Volke, sondern nur seinem Gotte verantwortlich, der die Übertretung der göttlichen Gesetze nicht in einem vor der Öffentlichkeit sich abspielenden Gerichtsverfahren zu ahnden pflegt. Der Usurpator, der die Macht an sich gerissen hat, ist nur seinem Gewissen verantwortlich, eine Instanz, die der Berufung meist noch weniger zugänglich ist als die Vorsehung. Da er die Machtmittel des Staates, die physischen sowohl als auch die wirtschaftlichen und die psychologischen, in der Hand zu haben pflegt, so ist er unverantwortlich, solange diese Mittel wirksam sind. Sie sind in letzter Linie in den Menschengruppen verkörpert, die ihm blind ergeben sind, weil sie von ihm leben oder an ihn glauben. Diese Anhänglichkeit bedingt in letzter Linie den Erfolg. Die Weltgeschichte mag auch für ihn das Weltgericht sein, wobei vielleicht die später geborenen Generationen als letzte Berufungsinstanz fungieren mögen. Das Urteil des Tages aber, auch wenn es unberechtigt ist, entscheidet darüber, ob er steht oder fällt.
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III Der Parlamentarismus ist nicht nur eine Methode der Willensbildung, der Zielsetzung und des Willensvollzugs, er ist auch ein System der Führerauslese. Nach verschiedenen Wahlverfahren werden aus den Reihen der Wahlberechtigten Unterführer gewählt, die Abgeordneten, die aus ihrer Mitte durch Auslese irgendeiner Art das Kabinett zustande bringen. Dieses Kabinett stellt die Führer. Es sind Führer, die ihre Macht durch indirekte Wahl vom Volke bekommen haben. Sie sind dem Parlament verantwortlich. Die Tatsache dieser Verantwortung lähmt, nach der Auffassung des Faschismus, häufig den Entscheidungswillen. Advokaten, Schönredner, Schwätzer bilden seiner Meinung nach die Mehrheit des Parlaments, die die geschicktesten Macher aus ihrer Mitte ins Kabinett entsenden. Wo die Parteien nur persönliche Gefolgsgruppen sind und weder festgefügte Interessen noch Weltanschauungen vertreten, werden die Parlamente zu Korruptionsherden. Abgeordneter kann nur werden, wer einflußreiche Freunde hat, die sich für seine Wahl interessieren und der ihnen dann entsprechende Dienste leistet. Minister wird man, wenn man eine ausreichende Gefolgschaft von Abgeordneten hat, die man durch Begünstigung ihrer Günstlinge sich sichert. Minister bleibt man, wenn man sich eine feste Gefolgschaft zu erhalten weiß und sich selbst persönlichen Reichtum sichert. Falsche Führer werden gewählt, die die großen Interessen der Nation vernachlässigen. Das etwa ist das Bild, das sich der Faschismus vom modernen Parlamentarismus macht. 27 Für einzelne Länder mag es zutreffen, vielleicht für Spanien; für andere, insbesondere für Deutschland, ist es sicher verzeichnet. Die Schönrednerei der Advokaten und Literaten, gegen die sich auch in Deutschland der Faschismus wendet, sind Lesefrüchte aus den Angriffen ihrer Gesinnungsgenossen gegen den Parlamentarismus in romanischen Ländern. Der deutsche Reichstag leidet heute mehr an nüchterner breitplätschernder gedankenloser Detailkrämerei. Die Schönrednerei und die große Geste blühen im faschistischen Lager. Und auch die Korruption der einzelnen Personen, die ein so dankbares Agitationsfeld gibt, ist kaum vorhanden. Dagegen ist die Massenkorruption organisierter Wirtschaftsgruppen, bei der sich ganze Berufsstände ungeniert und unpersönlich auf Kosten anderer Schichten bereichern, die das Wilhelminische Zeitalter als etwas Selbstverständliches ansah, weiter gewachsen. Das System der Führerauslese durch den Parlamentarismus ist zweifelsohne in vielen Ländern nicht einwandfrei. Je mehr organisierte Wirtschaftsgruppen das politische Leben beherrschen, je mehr infolge des proportionalen Wahlrechts und der Riesenwahlkreise Plutokratisierung und Bürokratisierung der politischen Maschine eintritt, desto mittelmäßiger werden die Abgeordneten. Der politische Wahlkampf als Kampf von Personen, die sich um einen Sitz bewerben, hat beinahe aufgehört. || 27 Es ist in viel geistreicherer und viel lebenswahrerer Form bereits von R[obert] de Jouvenel in „La République des Camarades“ [Paris 1914] gezeichnet worden.
240 | Faschismus und Nationalsozialismus Der Wahlkampf spielt sich innerhalb der Partei um den Platz auf der Liste ab. Dadurch verzichtet der Parlamentarismus auf die Heranziehung aller kampflustigen Elemente unter der Jugend, die sich sonst leicht für die Politik interessieren lassen. Weil der Wahlkampf mechanisiert worden ist, findet sich ein großer Teil der Jugend bei den Radauparteien ein, da die „Bonzen“ in den anderen Parteien sie zu einer fruchtbaren Mitarbeit nicht heranlassen würden. Überdurchschnittlich Begabte halten sich fern. Die Bürokratisierung der Parlamente wirkt genau so wie die Bürokratisierung auf anderen Gebieten: Man produziert gute Mittelware. Der Aufstieg erfolgt nicht nach der Tüchtigkeit – Tüchtigkeit ist häufig Unbequemlichkeit für die Vorgesetzten – sondern nach der Anciennität. Alle diejenigen, die nicht aufgestellt und nicht gewählt werden, oder die ihren Willen nicht in den Parteien durchsetzen können, bekämpfen daher den Parlamentarismus als Methode der Auslese. Sie finden lebhafte Unterstützung bei der Bürokratie, die nach Einführung des parlamentarischen Systems die eigentlichen Führerstellen verschlossen findet. Dabei ist ihre Mitarbeit unentbehrlich. Sie hat in der Monarchie die Spitze des Staates gebildet und regiert unter dem Schutz und im Schatten eines Monarchen. Er war dem Parlament unverantwortlich; sie war ihm verantwortlich. Da er aber infolge der modernen Überlastung gar nicht imstande war, diese Verantwortlichkeit durchzuführen, so herrschte eigentlich eine unverantwortliche Bürokratie, die nach außen durch den Monarchen geschirmt wurde. Nach den Vorstellungen der Bürokratie muß die richtige Führerauslese durch Ernennung seitens des Monarchen vor sich gehen, der dabei auf Kreise beschränkt ist, die ihre Eignung durch Ablegung von Examina, Beschäftigung in den einschlägigen Dienststellen und Altersgrad erweisen. Manche faschistischen Bewegungen haben sich dieser Gedankengänge bemächtigt und den „Fachmann“ als den modernen Führer bezeichnet. Die jüngeren Faschisten sind in dieser Beziehung natürlicher und einsichtiger. Sie erkennen, daß der Fachmann ein unentbehrlicher Gehilfe eines großen Staatsmanns ist. Sie haben aber dank ihrer halb dilettantistischen, halb universalen Einstellung zum Leben eine gründliche Abneigung gegen den wohlgeeichten Spezialisten. Sie verlangen den geborenen Führer. Sie haben mit dieser Forderung vollkommen recht. Die Frage ist nur: Verhindert der Parlamentarismus das Aufsteigen wirklich begabter Führer? In Ländern mit einer alten parlamentarischen Tradition, wo die ehrgeizigsten und besten Köpfe in das Parlament eintreten, ist das sicher nicht der Fall gewesen. In parlamentarischen Neuländern wie Deutschland hat das Parlament vielleicht keine Riesengestalten hervorgebracht. Aber immerhin wird die Weltgeschichte Erzberger, Ebert und Noske als Männern der Tat eine höhere Stelle anweisen als etwa den Bürokraten Cuno und Herrn von Kahr. Der deutsche Parlamentarismus hat überdies dem Aufstieg von Führerpersönlichkeiten keine Schranken gesetzt. Die höchsten Stellen sind nicht ausschließliches Monopol der Parlamentarier. Die Wahl ins Parlament wird durch antiparlamentarische Einstellung nicht verhindert. Die Pforten des Reichstags haben sich den deutschen Faschisten
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weit geöffnet. Es ist sicher nicht jeder, der gewählt worden ist und es zum Minister bringt, ein geborener Führer. Aber das Nichtgewähltwerden allein ist keine erfolgreich bestandene Eignungsprüfung. Das einzig Positive, was der Faschismus zur Lösung des Führerproblems beiträgt, ist seine Bereitschaft, einem Führer zu folgen, wenn ein solcher geboren wird. Methoden, die nicht nur die einmalige, sondern die wiederholte Geburt eines derartigen Führers verbürgen, hat er bis jetzt nicht ausgearbeitet. Die Auswahl kann entweder durch direkte Wahl seitens des Volkes erfolgen; man denkt dabei an das amerikanische Präsidentschaftssystem. Es ist natürlich leichter, einen Kandidaten zu finden, der die Gaben des großen Führers hat, als vierhundertundfünfzig; es ist aber viel schwerer diesen einen zum Kandidaten und zum Präsidenten zu machen, als vierhundertundfünfzig Parlamentarier zu wählen, unter denen ein geborener Führer Ministerpräsident werden kann. Das oft gepriesene amerikanische System der direkten Demokratie drängt dazu, Durchschnittsmenschen zu Präsidenten zu machen. Präsidenten wie Roosevelt und Wilson, die über diesen Durchschnitt hinausgeragt haben, sind Zufallserscheinungen gewesen. 28 Überdies spielt die Parteimaschine bei der direkten Demokratie noch eine ganz andere Rolle als bei den Wahlen im einzelnen Wahlkreis. Der konsequente Faschismus denkt aber gar nicht an diese komplizierte Methode. Für ihn ist der geborene Führer der, der die Macht an sich reißt und sie behauptet, eine Methode, die, wenn sie Erfolg hat, zweifelsohne den richtigen Mann an den richtigen Platz bringt. Sie ist in südamerikanischen Republiken sehr beliebt. Sie steht in China im Augenblick zur Erörterung. Sie hat in Rußland und in Italien und vielleicht auch in Spanien Erfolg gehabt, weniger, weil die Methode richtig war, als weil der richtige Mann zur Verfügung stand. Voraussetzung für diesen Militarismus als politisches System ist daher der Erfolg, beziehentlich der Glaube an die Möglichkeit eines Erfolges. Der militaristische Staatslenker muß ein Mann sein, der richtig wollen kann, richtige Ziele sieht und ihre Verwirklichung zu verbürgen scheint. Dem König von Gottes Gnaden werden diese Eigenschaften durch seine Geburt als Kronprinz attestiert. Er bedarf einer langen, an immer wiederkehrenden Mißerfolgen reichen Laufbahn, um den Beweis der Unfähigkeit zu erbringen. Der Usurpator ist weniger glücklich gestellt. Er muß nicht nur an sich glauben, sondern er muß den Glauben an sich einer Schicht beigebracht haben, die stark genug ist, mit ihm die Macht zu ergreifen und ihn an der Macht zu erhalten. Er muß dieser Schicht, die einen wesentlichen Teil der öffentlichen Meinung beherrschen muß, immer wieder von neuem beweisen, daß er nicht nur der Mann der Stunde ist, sondern der Mann der Tage, Wochen und Jahre. Der
|| 28 Der eine, Roosevelt, war, weil man ihn kaltstellen wollte, zum Vizepräsidenten gewählt und nur durch den Mord McKinleys Präsident geworden. Wilson ist der Kandidat einer Minderheit gewesen, der nur durch den Bruderzwist im republikanischen Lager gewählt wurde.
242 | Faschismus und Nationalsozialismus König von Gottes Gnaden, der absolutistisch regiert, kann nur durch eine lange Reihe von Mißerfolgen den Glauben erschüttern, daß er von Gottes Gnaden ist. Der Usurpator muß den Erfolg dem Erfolge folgen lassen, um nicht im Abgrund der Revolution zu versinken. Denn in der modernen Welt kann man zwar theoretisch den Zwang als ideale Regierungsmethode feiern; da er in Form der Steuererhebung und der Regelung des wirtschaftlichen Lebens tagtäglich in das Dasein des einzelnen Bürgers eingreift, wird er auf die Dauer nur ertragen werden, wenn im Bewußtsein der Massen dem Opfer ein einigermaßen entsprechender Gewinn gegenübersteht. Es ist sehr interessant, daß selbst der erfolgreiche Diktator nicht daran denkt, den Weg, den er gegangen ist, zu normalisieren. Nur in den zurückgebliebensten Ländern des lateinischen Amerika oder in China wird die Usurpation als regelmäßige Führerauslese betrachtet. Anderswo gilt die Diktatur, sei es in Rußland, sei es in Spanien oder in Italien, dem Diktator selbst nur als Übergangsmaßnahme. Er sucht sie nicht nur äußerlich zu legalisieren, er trachtet vielmehr danach, Organisationen zu schaffen, die ihm Nachfolger in automatischer Weise liefern sollen. Er schafft Parlamente und Verfassungen, bei denen vielleicht das Wahlrecht anders organisiert ist als früher, bei denen aber sorgfältig darauf gesehen wird, daß die Mitarbeit der Beteiligten erfolgt und eine Führerauslese oder Führerabwechslung garantiert wird. Der größte Usurpator des modernen politischen Lebens, Bismarck, hat das Glück gehabt, die Macht in der legalistischen Form, die ihm das Vertrauen eines Königs gab, an sich reißen zu können. Er hat einen guten Teil seiner Kraft im Kampf gegen den Parlamentarismus verausgabt; er hat den Weg, Führer aus dem Parlament oder aus der Bürokratie zu gewinnen, verbaut und keine brauchbare Methode zur Auslese geeigneter Führer hinterlassen.
IV Anwendung von Zwang als normales Mittel des politischen Lebens und Auslese durch Usurpation sind die beiden Grundsätze, die den Faschismus scharf vom Parlamentarismus scheiden. Dabei pflegt der Faschismus auch den Zwang und die Drohung mit dem Zwang, den Terror, in der Praxis nur vorübergehend zu fordern. Wenn er stabilisiert ist, hofft er auf diese Methoden verzichten zu können. Nur Industrieherren und Plantagenbesitzer glauben an die Möglichkeit dauernden Zwanges. Der Faschismus, der gesiegt hat, hat im nationalen Staat wenig für sie übrig. In einem gewissen Sinn trägt der Faschismus, der Gewalt verkündet und Zwang anwendet, in seinem innersten Wesen auch die Züge einer Freiheitsbewegung. Die moderne Demokratie gibt der zahlenmäßig stärksten Willensgruppe das Recht der Entscheidung, ohne daß die Grenzen des Zwanges feststehen. Sie geht von der Voraussetzung aus, daß die Fehler der Mehrheitspartei sich zeigen werden und die Minderheit dadurch zur Mehrheit wird. Wo aber ein Mehrheitswechsel ausgeschlossen ist, weil, wie bei Nationalitätsfragen, Mehrheit und Minderheit fest voneinander
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abgegrenzt sind, oder wo die Mehrheit Lebensfragen der Minderheit mit rücksichtsloser Gewalt entscheidet, pflegt die Minderheit sich aufzulehnen. Der Zwang einer Mehrheit gegen die Minderheit wirkt in allen diesen Fragen genau so brutal, wie umgekehrt unter der Faschistenherrschaft der Minderheitszwang auf die Mehrheit. Die zahlenmäßige Verschiedenheit ändert für die Empfindung der Minderheit nichts. Wenn überdies die Minderheit sich als hochwertig betrachtet und die Mehrheit als minderwertig verachtet, ist die Rebellion in ihren Augen berechtigt. Religiöse, regionale, nationale, soziale Minderheiten haben daher immer wieder rebelliert und im Namen der Freiheit gegen den Zwang der Mehrheit zu den Waffen gegriffen. Die Sezessionisten in den Vereinigten Staaten, die Ulster-Leute in Irland, die KuKlux-Klan-Leute des amerikanischen Südens, wie die gefährdeten kapitalistischen Minderheitsgruppen Zentraleuropas oder die syndikalistischen Arbeitergruppen haben sich mit Gewalt gegen Vergewaltigung gewehrt, ob mit Waffen oder mit dem Generalstreik, ist eine rein technische Frage. Vergewaltigung hört nicht auf Vergewaltigung zu sein, auch wenn sie mit formal legalen Mitteln betrieben wird. Die Rebellen sind meist Leute, die selbst vor Zwang gegen Andersdenkende und Andersseiende nicht zurückschrecken würden. Das beraubt sie des Rechts, sich über die Anwendung des Zwangs zu entrüsten. Es macht den Zwang nicht weniger zum Zwang. Er wird nicht besser, wenn er als qualitatives Vorrecht einer sozialen aristokratischen Minderheit gefordert wird, als wenn er im Namen einer quantitativen sozialen demokratischen Mehrheit angewendet wird. Wenn anderseits der Faschismus im Namen einer Minderheit sich gegen Vergewaltigung durch die Mehrheit zur Wehr setzt, so verkündet er damit ein altes liberales Prinzip, das Prinzip, auf Grund dessen der moderne Liberalismus bei den dissentierenden Kirchen entstanden ist. Er bricht diesem System allerdings die Spitze ab, indem er das Recht der Vergewaltigung als solches verkündet und es als Gegner der Demokratie für die Minderheit in Anspruch nimmt. Er ist, aus Freiheitsgedanken geboren, zur Gewalt fortgeschritten. Man kann ihn daher, wenn er nicht nur argumentiert, sondern handelt, zur Freiheit nur bekehren, wenn man ihm das einzige Argument entgegensetzt, das er versteht: Gewalt. Dabei haßt der Faschismus aus eben diesem Grunde die Demokratie viel weniger als den Liberalismus. Der Liberalismus ist ihm ein feindliches Prinzip. Er geht von der Vernunft und der ursprünglichen Güte der Menschen aus und löst Konflikte durch parlamentarischen Ausgleich. Parlamentarismus kann demokratisch sein; er braucht es nicht zu sein. In seiner Glanzzeit ist der englische Parlamentarismus nicht demokratisch gewesen. Die Demokratie, auf der andern Seite, braucht ihrem innersten Wesen nach weder gütig noch vernünftig noch parlamentarisch zu sein. Sie ist oft genug brutal gewesen und hat Minderheiten vergewaltigt. Und weil dem so ist, ist sie vielfach dem Faschismus gar nicht unsympathisch. Nicht nur in Spanien, wo nie ein Wort gegen die Demokratie fällt, auch in vielen andern Ländern ist der Faschismus in seinem innersten Wesen gar nicht antidemokratisch.
244 | Faschismus und Nationalsozialismus Der Faschismus erstrebt bewußt eine Volksgemeinschaft der Gleichgesinnten. Er hat weitgehendes Verständnis für die Tyrannei der primitiven Demokratie gegen stammesfremde Bestandteile, die vertrieben oder wesensgleich gemacht werden müssen. Gerade weil er national ist, will er die gesamte Nation umfassen. Er hat sich den gewalttätigen Gemeinschaftsbegriff angeeignet, der z. B. in der amerikanischen Demokratie immer wieder lebendig wird. Er ist in Italien gezwungen gewesen, ähnlich wie der Kommunismus in Rußland, sich „vorübergehend“ auf Minderheitsgesichtspunkte einzustellen; aber nur „vorübergehend“. Wie die Diktatur des Proletariats nur dazu dienen soll, eine gesellschaftliche Ordnung herbeizuführen, bei der schließlich eine wirkliche Demokratie, nicht nur eine formale Demokratie, besteht, so auch beim Faschismus. Er hat begonnen als aristokratische Minderheit: Die Minderheit der Kriegsteilnehmer stellte die Aristokratie des Volkes dar. Sie war einstweilen eine Minderheit, aber sie vertrat den nationalen Geist, der sich von einem auf andere verbreitete. Sie wirkte vor allen Dingen auf die Jugend und gewann damit ihrer Auffassung nach die Mehrheit der kommenden Generation. Denn was heute eine Gymnasialbewegung ist, kann morgen eine Nationalbewegung sein – wobei man allerdings vergißt, daß es der menschlichen Natur entspricht, sich bald von den jugendlichen Idealen abzukehren. Die Minderheit wird also ganz organisch zur Mehrheit werden, die störende Elemente unterdrückt oder einschmilzt und eine wahrhaft nationale Demokratie darstellt. Von diesem demokratisch-nationalen Gesichtspunkt aus erklärt sich der Haß der Faschisten gegen das Parteiwesen. Er entspringt nicht nur, wie bei manchen Führern, dem Ärger darüber, daß man, obwohl man zu befehlen gelernt hat – aber sonst nichts – in den Parteien keine Rolle spielen kann; er entstammte der ganz richtigen Empfindung, daß Parteien, die in großen Fragen weltanschauungsmäßig geschieden sind, die Nation zerklüften, und der ebenso klaren Vorstellung, daß Parteien, die rein wirtschaftsmäßig geschieden sind, die Gesellschaft in Klassen zerreißen. Die sozialistische Unterstreichung des Klassencharakters der Gesellschaft, die mit Notwendigkeit zur Verneinung der nationalen Einheit überhaupt führt, löst dieses natürlich-demokratische Empfinden des Faschismus aus. Ein Land kann durchaus lebensfähig sein, wenn es nationale Minderheiten in sich schließt, weil der Faschismus glaubt, er könne diese nationalen Minderheiten mit Gewalt assimilieren; es ist aber nicht lebensfähig, wenn es in Arbeitgeber und Arbeitnehmer nach der sozialistischen Klassentheorie zerrissen ist. Denn da man Arbeitgeber als solche ebenso wie Arbeitnehmer als solche braucht, kann man sie durch gewaltsame Assimilierung nicht abschaffen. Man muß sie also zu gemeinsamer Arbeit zwingen, weil sonst der Staat zerbricht. Die faschistische Staatsidee, die sich den Staat als organische Persönlichkeit vorstellt, unterstützt die Auffassung: Eine in sich gespaltene Persönlichkeit ist leistungsunfähig. Der in Individuen atomisierte Staat der Liberalen scheint den Faschisten lebensunfähig, weil jedes Atom nur Eigenes will. Im sozialistischen Klassenstaat sind die Atome in zwei einander unversöhnlich gegenüberstehende Fronten ausgerichtet. Der Faschismus sucht sie ineinanderzupressen,
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aus den gebrochenen Hälften ein Ganzes zu machen. Er tut es, indem er sich von der feudal-romantischen Schule der Vergangenheit die Idee des Ständestaates ausleiht, Arbeitgeber und Arbeitnehmer in Korporationen zusammenfaßt und diese Korporationen für die einzelnen Industrien zunftmäßig zu organisieren sucht. Er setzt so an Stelle einer freien Demokratie der gleichartigen Gleichwertigen eine Zwangsdemokratie der Ungleichartigen, aber doch Gleichnotwendigen. Er ist immer antiliberal, aber nur vorübergehend antidemokratisch, solange er eine Minderheit vertritt. Er möchte ganz bewußt Mehrheitsglaube werden, ohne dabei auf die Anwendung von Gewaltmaßnahmen zu verzichten, die die Demokratie oft genug benutzt hat. Der Faschismus kann bei seiner Entstehung eine Leibgarde materialistisch gesinnter Interessentengruppen sein. Er kann sich, wo er sich gegen den Sozialismus wendet, teils bewußt, teils unbewußt, der finanziellen Unterstützung des industriellen Unternehmertums bedienen. Er muß aufhören, Klassenbewegung zu sein, wenn er die Macht erlangt hat. Da die Volksmassen auf die Dauer nicht außerhalb der Volksgesamtheit stehen können, muß er aus einem Gesamtheitsempfinden heraus Masseninteressen vertreten. Die Wandlung in Italien zeigt dies deutlich.
V Eine Lehre, die in der inneren Politik militaristisch denkt, kann selbstverständlich nach außen nicht pazifistisch gesinnt sein. Der Faschismus ist antiinternationalistisch, nicht nur, weil die Gegner der faschistischen Frühzeit international gesinnte Sozialisten waren. Er haßt den Völkerbund einmal, weil dies ein Versuch ist, die internationalen Konflikte mit den Methoden des Parlamentarismus zu lösen, mit den Methoden, die der Faschismus verabscheut. Dazu kommt aber noch ein anderes. Der Faschismus ist zweifelsohne überall aus nationalen Empfindungen geboren. Nationale Empfindungen pflegen siegreichen Völkern selbstverständlich zu sein. Sie treten dagegen besonders deutlich im Bewußtsein der Besiegten und der Mißhandelten auf. Der Faschismus in Italien ist weniger aus dem „Siege“ von VittorioVeneto geboren als aus der Niederlage von Caporetto. Der Verlust von Fiume, der als ergebnislos empfundene Ausgang des Krieges, hat ihn vor allem zu lodernden Flammen entfacht. Der liberale Wilson, der Italien Fiume verbot, wurde der Feind. Ähnlich ist die spanische Diktatur aus den Niederlagen Spaniens in der Marokkopolitik geboren worden. In Ländern wie England und Frankreich sind es nur romantisch gestimmte, zurückgebliebene oder wirtschaftlich verängstigte Gruppen, die dem Faschismus zuströmen. Es ist auch kein Zufall, daß der Ku-Klux-Klan in den Vereinigten Staaten, der heute wieder auflebt, seine Anhänger unter dem kleinen Bürgertum angelsächsischen Ursprungs findet, das sich bis jetzt als Herren der Welt betrachtete und nun plötzlich in beängstigende Isolation zu geraten scheint. Auch der deutsche Faschismus ist weit weniger ein Ergebnis der Untüchtigkeit des deutschen Parlamentarismus als eine Folge des Friedens von Versailles. Die Vorstellung,
246 | Faschismus und Nationalsozialismus die eigene Nation könne nach eigenem Ermessen, unbekümmert um den Willen anderer, auswärtige Politik machen, ist als frommer Wunsch bei unterlegenen Völkern selbstverständlich viel lebendiger als bei Völkern, deren Einfluß in der Welt unbestritten ist. Je leidenschaftlicher die nationale Souveränität betont wird, desto enger ist sie häufig in der Wirklichkeit gebunden. Sieht man von den Vereinigten Staaten und vielleicht von Großbritannien ab, so gibt es keinen Staat mehr, der materielle Souveränität besäße. Denn das eigene Wollen ist zwangsläufig von dem Wollen der Nachbarn abhängig. Gerade, wenn man – bildlich gesprochen – in den Staaten nationale, individuelle Persönlichkeiten sieht, so sind es Persönlichkeiten, die nicht im luftleeren Raum leben, sondern in der Nachbarschaft und im Verkehr mit anderen ähnlich gearteten Persönlichkeiten. Der Faschismus, der den Staat für eine überindividuelle Persönlichkeit hält, ist geneigt, diese Persönlichkeit für einen staatlichen Übermenschen zu halten, deren Souveränität nirgends beschränkt ist. Die faschistische Außenpolitik gebärdet sich gern, als ob sie ohne Rücksichtnahme auf Nachbarn ihr eigenes Schicksal selbst bestimmen könne. Sie wendet sich nicht nur gegen den Völkerbund; sie kehrt sich gelegentlich gegen rein praktische Veranstaltungen, wie das internationale Arbeitsamt 29, und huldigt der Vorstellung des sich selbst genügenden Staates, der keiner fremden Handelsbeziehungen bedarf und seiner Bevölkerung im Inland die nötigen Daseinsbedingungen zu sichern vermag. Dieses Ideal steht in schreiendem Gegensatz zu der Wirklichkeit. Es könnte nur erfüllt werden, wenn der betreffende Staat durch eine erfolgreiche Annexionspolitik räumliche Möglichkeiten gewänne, über die er heute nicht verfügt. Aus diesem Gefühl der Einengung auf der einen Seite und dem Gefühl der Mißachtung seitens anderer Gleichgestellter ergibt sich die Abneigung gegen internationale Zusammenarbeit. Man kann sich wirtschaftlich nur erweitern, wenn man in enger Zusammenarbeit mit anderen steht. Man muß dann aber die anderen anerkennen. Will man das nicht, so kann man es nur durch gewaltsame Erweiterung tun, die ein Zusammenschluß der anderen verhindern wird. Die soziale Ordnung eines völlig durchorganisierten Staates, wie sie der Faschismus in Italien heute versucht, ist daher nur in einem geschlossenen Handelsstaat möglich. Ein solcher kann auf die Dauer aber nur bestehen, wenn die Lebensbedingungen den Bedürfnissen aller genügen. Während man so auf der einen Seite die stolze Selbstgenügsamkeit und die Unabhängigkeit von internationalen Bindungen betont, ist der faschistische Staat nicht imstande, seinen Auswanderern die Tore Amerikas zu öffnen. Er muß sich damit begnügen, ihre Tätigkeit in der Heimat mit amerikanischen Kapitalien zu befruchten.
|| 29 [Bonn meint hier die Internationale Arbeitsorganisation, die als ständige Einrichtung des Völkerbundes 1919 ins Leben gerufen wurde.]
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VI Seinem innersten Wesen nach ist der Faschismus eine selbständige, eigenartige Erscheinung nur in der Methode. Er versucht nur, das Kernproblem der Demokratie, die Behandlung der dauernden Minderheiten dadurch zu lösen, daß er sein Wesen ignoriert. Er haßt die individuelle Freiheit, nicht die Demokratie. Jede Bewegung, die in ihrem letzten und tiefsten Sinn national ist, muß eine demokratische Bewegung sein; keine nationale Bewegung kann klassen- und gruppenmäßig gebunden sein. Das Undemokratische am Faschismus kann daher nur vorübergehend sein. Dagegen ist er in seinem innersten Wesen ein Gegner des Parlamentarismus, einmal, weil ihm die Führerauslese durch Parlamentswahlen unrichtig erscheint. Er erstrebt entweder die direkte Demokratie, bei der sich die Demokratie in einem auf Zeit gewählten Präsidenten verkörpert – wobei er sich über die Technik dieser Demokratie völlig falsche Vorstellungen macht –, oder am liebsten die Usurpation eines von einer zugkräftigen Gruppe getragenen, später von der öffentlichen Meinung der Mehrheit anerkannten Diktators. Er bekämpft den Parlamentarismus aber vor allen Dingen deswegen, weil er keine Lösung der Probleme der kollektiven, impersonalen Willensbildung gegeben sieht und daher auf die personale Willensbildung des Individuums zurückgreift, die ihren Einzelwillen mit Gewalt zum Gesamtwillen macht. Dazu bedarf er des Handelns ohne Verantwortung, der Entscheidung ohne Erörterung. Er ist in dieser Beziehung der Nachfolger der absolutistisch-bürokratischen Regierungsmethode, die sich beim Monarchen auf die richtige Eingebung, beim Bürokraten auf Vorbildung und Erfahrung begründet. Er ist, da er ein bloßes politisches Verfahren war, ohne eigentliches Regierungsprogramm an die Arbeit gegangen. Er hat nicht die Macht erobert, um Versprechungen einzulösen, die er den Menschen gemacht hatte, er hat erst die Macht erobert und sich dann an die Arbeit begeben. Er ist darin vom Bolschewismus verschieden, so sehr er ihm in den Methoden ähnelt. Der Bolschewismus hat dem sachlichen Programm zuliebe sich für die Methode der Diktatur entschieden. Der Faschismus muß der Diktatur zuliebe ein sachliches Programm erfinden. Er hat den liberalen Staatsgedanken des freien Wettbewerbs abgelehnt; denn er haßt den Liberalismus. Er bekämpft das wirtschaftliche System des Sozialismus; denn er muß den Klassenkampf überwinden. So ist ihm nichts anderes übriggeblieben, als die beiden, unter Zuhilfenahme konservativromantischer Verbrämung, positiv zu verschmelzen. Was der Faschismus heute in Italien an sozialen Einrichtungen schafft, liegt im großen ganzen in der Linie der Vorstellungen des deutschen Kathedersozialismus, wie sie Fürst Bismarck für seine Zwecke zu verwenden suchte, mit starken Konzessionen an die inzwischen entwickelte Gewerkschaftsbewegung, wie sie den Ideen Lujo Brentanos oder des Gildensozialismus entsprechen. Fürst Bismarck hat den Sozialismus töten wollen, indem er die Funktionen der Gewerkschaften größtenteils durch den Staat zu übernehmen trachtete und dadurch ihre Daseinsberechtigung und ihre Entstehung überflüssig zu machen suchte. Er hat die Aufgaben der Gewerkschaften verstaatlicht.
248 | Faschismus und Nationalsozialismus Mussolini verstaatlicht die Gewerkschaften als solche, und mit ihnen die Unternehmerverbände. Er macht den Versuch, in die privatwirtschaftliche Welt der Gegenwart einen staatssozialistischen Staat zu stellen, der ständemäßig gegliedert ist. Er hat ihn schaffen müssen, weil er die Macht ergriffen hatte. So ist ein sehr interessantes soziales Experiment der Weltgeschichte zustande gekommen. Es ist sehr fraglich, ob es eine neue Ära sozialen Geschehens einleitet. Es enthält kaum etwas, was nicht irgendwo in der Welt, meist unter der demokratisch-parlamentarischen Regierungsform, verwirklicht worden wäre. Es wird sich zeigen müssen, ob es Erfolg hat. Aber selbst wenn es Erfolg haben sollte, wäre damit nicht gesagt, daß anderswo die gleichen Bedingungen des Erfolgs gegeben wären, noch daß die Größe der Wirkungen die Erfolgsmöglichkeiten anderer Systeme wesentlich übertreffen wird. Der Diktator als solcher verbürgt nicht den Erfolg. In Spanien hat das „neue System“ positiv einstweilen keine neuen Lebensformen geschaffen. Ja, es scheint sogar, daß die Herrschaft eines militärischen Diktators in Madrid den Sieg der spanischen Waffen in Afrika nicht immer verbürgt. Es ist zweifelhaft, ob Mussolini, der seine Laufbahn als Sozialist begonnen hat, in seiner Grundstimmung wesentlich revolutionärer ist als der konservative Junker Otto von Bismarck. Hier wie dort hat ein gewaltiger, gewalttätiger Mann im Schatten eines Königs die Macht usurpiert. Beide weigern sich, sie mit einem Parlament zu teilen und ihre Kraft durch Überzeugung von Gegnern zu erschöpfen. Beide regieren mit Gewalt und Verfolgung. Beide machen nationale Außenpolitik und wissen im gegebenen Falle die nationale Leidenschaft aufs höchste aufzupeitschen. Aber hinter dem großen Wort steht meist die kühle Berechnung. Beide, der Nachahmer wie das Vorbild, suchen die Leidenschaft der Massen zu politischer Betätigung in soziale, unter Staatskontrolle stehende organisatorische Arbeit umzubiegen. Man könnte den Vergleich noch sehr viel weiter ziehen. Man könnte ausführen, wie Mussolini durch Organisation der Verwaltung Italien „verpreußt“ hat und die sehr interessante Frage aufwerfen, wieviel Verpreußung es vertragen wird. Man könnte auch auf die Unterschiede hinweisen: Daß Mussolini als Sozialist begonnen habe, und daß er unter dem Einfluß von Sorel nicht nur wie Bismarck die Praxis der Gewalt, sondern auch die Theorie der Gewalt vertreten habe. Bei der Betrachtung des Faschismus als politischer Bewegung handelt es sich indessen nicht um den Vergleich zweier Persönlichkeiten, von denen man jedenfalls sagen kann, daß sie singuläre Erscheinungen sind. Bewegungen, die ihrem innersten Wesen nach in singulären Persönlichkeiten gipfeln müssen, sind selbst singulär. Sie unterbrechen den regelrechten Gang der Entwicklung. Sie führen durch diese Unterbrechung Störungen und Ablenkungen herbei, deren Dauer sich nicht voraussagen läßt. Können sie die Kräfte und die Bewegungen, die sie zersetzt und zerstört haben, ersetzen? Wird die Umbiegung des Singulären in das Reguläre ebenso möglich sein wie die Umstellung des Regulären zum Singulären? Auf diese Frage ist heute noch keine endgültige Antwort möglich, obwohl sie die Kernfrage des Faschismus ist.
12 Die Psychologie des Nationalsozialismus. Seine Wurzeln und sein Weg (1931) Im Mai 1924 hat die deutschnationale Freiheitsbewegung, der Vorläufer der heutigen Nationalsozialisten, eine Stimmenzahl von 1,9 Millionen aufgebracht und damit 34 Reichstagsmandate erhalten. Sieben Monate später, bei den Dezemberwahlen 1924, als die Inflationsfolgen überwunden schienen, ist die Zahl der Wähler auf 907.000 mit 14 Mandaten gesunken. Man kann aus diesen Ziffern ohne weiteres den Schluß ziehen, daß die nationalsozialistische Bewegung eine im höchsten Grade konjunkturempfindliche politische Erscheinung ist. Sie ist zweifelsohne, soweit es sich um die Masse der Mitläufer handelt, das Ergebnis schlechter Wirtschaftslage. Die Gedrückten und Entgleisten pflegen sich in großen Krisen immer und überall gegen die Zinsknechtschaft des Kapitals zu wenden. Sie lassen sich dabei nicht in tiefgründige Untersuchungen über das Wesen des Kapitals ein, sondern kehren sich mit dem jahrhundertealten Haß, der sich in den primitiven Schichten der Gesellschaft instinktiv gegen das Geldkapital erhalten hat, gegen ihre konkret gesehenen Gläubiger, die Inhaber von Wertpapieren und von Banktiteln. Wohl dem Lande, das genug Juden hat, auf die man die Ausbrüche der haßerfüllten Volksseele ablenken kann; seine gesellschaftlich-wirtschaftliche Verfassung als solche wird dann nicht grundsätzlich gefährdet. Man bekämpft nur die „Auswüchse“, die die Karikatur leicht erkenntlich macht. So entwickelt sich das, was vor vielen Jahren, als der Antisemitismus in Österreich in der Seele des Kleingewerblers lebendig wurde, ein kluger Abgeordneter als den „Sozialismus der dummen Kerls“ bezeichnet hat. Dieser Sozialismus tobt, aber er enteignet nicht.
Australischer und amerikanischer Radikalismus von heute Ein ähnliches Spiel läßt sich indes auch dort erfolgreich spielen, wo keine eingesessene fremdrassige Bevölkerung vorhanden ist. Die radikalen Elemente der australischen Arbeiterpartei vertiefen sich nicht etwa in die komplizierten Gedankengänge eines kommunistischen Manifests. Primitiven Gehirnen liegt eine solche nach Intellektualismus duftende Auflehnung nicht. Sie deklamieren vielmehr gegen die „internationale jüdische Hochfinanz“, die Australien gefesselt habe, und verlangen die Befreiung Australiens von den Tributlasten des Weltkrieges, obwohl die Außenschuld Australiens, die es in England für Kriegszwecke aufgenommen hat, nur 82 Millionen Pfund Sterling beträgt, gegenüber Entwicklungsanleihen im Betrage von beinahe einer Milliarde Pfund Sterling, die es in größenwahnsinnigem Erschließungsfanatismus – in Deutschland nennt man es Nationalisierung – in den letzten Jahrzehnten aufgenommen hat. Not und Elend haben zu allen Zeiten und allen Orten die gleiche Demagogie erzeugt. Auf den Weizenfeldern von Saskatschewan und Al-
250 | Faschismus und Nationalsozialismus berta hört man die Farmer, sonst Träger einer demokratischen Eigentumsordnung, gelegentlich kommunistische Reden halten, die an die große Zeit von William Jennings Bryan erinnern, wo dieser Apostel des Völkerfriedens und Klassenkampfes eine Sprache redete, die der der deutschen nationalsozialistischen Führer wesensverwandt ist. Gute Tage pflegen eine solche Hochflut stark abzudämmen, das beweist nicht nur diese amerikanische Entwicklung, das beweisen auch die deutschen Dezemberwahlen des Jahres 1924. Sie können aber nur die Nebenströme austrocknen, die den Hauptstrom speisen. So sehr die nationalsozialistische Bewegung konjunkturempfindlich ist, so wenig ist sie ausschließlich aus der Konjunktur zu begreifen.
Schönerer und die Alldeutschen als Väter des Hitlertums Ihre Wiege hat im alten Österreich gestanden. Hitler ist der direkte Nachkomme der Schönerer und Wolf. Die gleichen psychologischen Voraussetzungen, die die alldeutsche Bewegung in Böhmen in Leben riefen, haben ihr auch in Deutschland den Boden bereitet. Das Erwachen eines nationalistischen, das heißt besonders empfindlichen Nationalbewußtseins hat einen doppelten Ursprung. Es entwickelt sich einmal aus dem Widerstand eines Volkes, dem Fremdherrschaft politischer und geistiger Art ihr eigenes Wesen aufzwingen will und das dieser Zwang zur Erkenntnis des eigenen Andersseins, Andersfühlens, Andersdenkens und Anderswollens erweckt. Es ist eine geistig-seelische Bewegung, die vielfach auf den Schreibtischen der Dichter und Philologen entstanden ist und die ihren literarisch-idealistischen Ursprung auch dann nicht verleugnen kann, wenn sie zu raffkemäßigem Schutzzollnationalismus materialistisch umgebogen worden ist. Ein überempfindliches Nationalbewußtsein kann sich aber auch bei Völkern entwickeln, die keiner Fremdherrschaft unterworfen waren, vielmehr ungehemmt ihr eigenes Wesen entwickeln konnten, die aber plötzlich durch den Gang der Weltgeschichte zur Erkenntnis gezwungen werden, daß die Sicherheit, auf der ihre selbständige Entfaltung beruht hat, nicht länger vorhanden ist. Das ist der Ursprung des Alldeutschtums in Österreich gewesen, als die österreichischen, insbesondere die böhmischen Deutschen endlich eingesehen hatten, daß sie nicht länger die Herren im Hause Österreich waren. Damals genügte es nicht mehr, einen Ausgleich mit den Nationalitäten zu treffen, der diesen völlig freie Entwicklung gewährt hätte. Vielmehr drohte den Deutschen, insbesondere in Böhmen, die Gefahr einer Vorherrschaft der bis dahin dienenden Nationalitäten. Nun rissen sie sich geistig los vom schwarz-gelben Österreich, dem das Jahr 1866 die Möglichkeit genommen hatte, als deutsches Mutterland eines Kolonialreiches slawische, ungarische, italienische und rumänische Nationen zu regieren. Sie kehrten sich gegen die katholische Kirche, die infolge ihrer universalistischen Einstellung in einem nichtdeutschen Reich nicht deutsch sein konnte. Sie wollten nicht nur mit dem Deutschen Reich verbunden werden, sondern entwickelten ein übersteigertes deutsches Hochgefühl und Herrengefühl, das ähnlichen Angstzuständen
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und Bedrückungsempfindungen entstammte wie der italienische Fascismus, der ja nicht dem sagenhaften Siege von Vittorio Beneto, sondern der Niederlage von Caporetto und den Enttäuschungen der Friedensverträge seinen Ursprung verdankt.
Nationalsozialismus und Friedensvertrag. Daß eine solche Bewegung auf Deutschland übergreifen konnte, ist die Folge des Versailler Friedensvertrages und der unausgesetzten kleinen und großen Demütigungen, die Deutschland wenigstens bis zu den Locarnoverträgen regelmäßig erfahren hat. Sie ist das Ergebnis der Reparationsverpflichtungen, deren törichter Aufbau von Anfang an den gesunden Menschenverstand beleidigt hat, und der sogenannten Schuldlüge, die man in Deutschland naiverweise als Urgrund der Reparationsverpflichtungen betrachtet, Kriegsschuld und Kriegsschulden auf diese Weise verwechselnd. Es ist sehr charakteristisch, daß gerade die Kreise, die am lautesten nationale Kraft und Stärke betonen, sich nicht dazu aufschwingen können, den Gegnern klipp und klar zu sagen: „Was geht uns die verlogene Auffassung von Kriegsschuld an, die ihr in die Friedensverträge hineingezwungen habt? Wir sind nicht euch, sondern nur unserem eigenen Gewissen verantwortlich.“ Es ist im hohen Grade wahrscheinlich, daß Staatsmänner des alten weltbeherrschenden England, das sich den Teufel um die Urteile der anderen Welt scherte, in ähnlicher Lage so gesprochen hätten. Dieser Auffassung entstammt ja das Wort: „Right or wrong, my country.“ Der deutsche Nationalist aber ist zwar von der Überwertigkeit des Deutschtums und der Deutschen theoretisch vollkommen überzeugt; diese Überzeugung reicht aber nicht aus, um ihm den ehemaligen Gegnern gegenüber eine selbstsichere Haltung zu geben: Es genügt ihm nicht, daß er sich schuldlos fühlt; er verlangt mit pedantischer Gründlichkeit ordnungsgemäße Attestierung seiner Auffassung. Diese Empfindungen werden solange dauern, als die Erinnerung an die moralische und politische Minderwertigkeit Deutschlands, die seine ehemaligen Gegner verkündet haben, im Bewußtsein des deutschen Volkes leben wird. Solange Reparationszahlungen entrichtet werden, wird es in Deutschland immer nationalistische Bewegungen geben. Sie werden in Zeiten, wo der Steuerdruck gering ist und die Wirtschaft blüht, abflauen. Sie werden immer wieder neu entflammen, wenn der Steuerzahler neue Lasten zu tragen hat. Steuerzahlen ist an und für sich nicht populär. In Deutschland hat der einzelne den Staat als Fiskus traditionsgemäß immer als Feind empfunden, auch wenn er ihn als Idee vergöttert hat. Steuerzahlen ist hier viel unpopulärer als in den angelsächsischen Ländern. In keinem Lande aber – das australische Beispiel zeigt das deutlich – kann Steuerzahlen zu Erleichterung eines fremden Steuerzahlers, insbesondere für einen ehemaligen Feind, Herzensangelegenheit sein. Wenn der Feind nüchtern erklärt: Ihr müßt bezahlen, weil ihr den
252 | Faschismus und Nationalsozialismus Krieg verloren habt, so ist die Last allenfalls noch zu ertragen; wenn er sich aufs hohe Roß setzt und Steuern mit moralischer Begründung einkassiert, wird der Druck unerträglich werden. Jede deutsche Regierung, die aus Gründen vernunftgemäßer Überlegung die Einhaltung übernommener Verpflichtungen fordert, wird aus diesem Grunde unpopulär sein und als Tributregierung bekämpft werden. Und es ist ganz begreiflich, daß die Leidenschaft gegen das Steuerzahlen am allergrößten bei denen ist, die überhaupt keine Steuern zahlen, wie die akademische Jugend, die die Regierung angreift, die ihr das Studium ermöglicht. Diese Dinge sind nicht logisch und können nicht logisch sein. Die gleichen Kreise, welche die deutsche Regierung dazu gezwungen haben, auf eine endgültige Lösung des Reparationsplanes hinzuarbeiten, weil sie Endgültigkeit für die Grundlage der wirtschaftlichen Entwicklung hielten, haben die nationalsozialistische Bewegung finanziell gestützt, als ihnen plötzlich zum Bewußtsein gekommen war, was man ihnen längst vorausgesagt hatte, daß Deutschland keinerlei Interesse an der Endgültigkeit, sondern nur an der Geringfügigkeit der Zahlungen hatte. Es gibt keine Reparationsregelung, die endgültig sein wird. Erst das Ende der Reparationen wird sie bringen, nachdem es vorher leider das Ende mancher Reputationen gebracht haben wird, die an ihrer Ausarbeitung an erster Stelle verantwortlich mitgearbeitet haben.
Die Ahnengalerie des Nationalsozialismus. Aber die psychischen Grundlagen, auf denen der deutsche Nationalsozialismus sich aufbaut, gehen viel weiter zurück. Sowohl die Leidenschaft, mit der sich das protestantisch werdende Deutschland gegen den Universalismus der katholischen Kirche gewendet hat, wie der Haß, mit dem sich ein naturalwirtschaftlich wirtschaftendes Deutschland gegen das römische Recht gekehrt hat, sind Quellen, die heute noch fließen. Der deutsche Feudalismus, der die Bauernbefreiung zu hindern suchte, als Stein und Hardenberg den Rationalismus der französischen Revolution in deutsche Formen zu gießen suchten, um dadurch die Grundlage der nationalen Befreiung zu legen, hat sich gegenüber einer sozial besseren, modernen Welt mit der gleichen Leidenschaft auf das deutsche Anderssein, Andersdenken, Andersfühlen und Anderswollen berufen, wie seine heutigen Nachfolger. Und im Jahre 1848 hat sich die Deutschtümelei, damals in demokratischem Gewande, mit schwarz-rot-goldener Schärpe geschmückt, dem auf fremden Gedanken beruhenden Absolutismus entgegengestellt und Freiheit gefordert. Der Turnkunstmeister Maßmann, den Heine verhöhnt hat 30, gehört in die Ahnengalerie der deutschen Nationalsozialisten; aber neben ihn gehören viele der führenden Liberalen dieser Zeit. Denn Liberalismus || 30 [Der Turnkunstmeister Maßmann ist eine Figur aus Heinrich Heines Atta Troll. Ein Sommernachtstraum.]
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und Nationalismus waren damals Geschwister. Der Liberalismus, der despotischen Regierungen gegenüber die Freiheit der Person forderte, verlangt auch die Freiheit der Nation. Wie der Sozialismus später vom geistigen Erbgut des Liberalismus gelebt hat, so tut es heute der Nationalsozialismus. Dabei darf man ihm zugute halten, daß er sich zweifelsohne der Aneignung dieses fremden Besitzes nicht bewußt ist. Die Vergötterung der Rasse hat es auch damals schon gegeben, obwohl Darwin die wissenschaftlichen Grundlagen der Vererbung noch nicht gelegt hatte. In Heines Gedicht „Die Wahlesel“ finden die Vorstellungen des auserwählten Volkes, das durch Rassenreinheit und Rassenfeinheit und Rasseneinheit allen anderen Völkern überlegen ist, nicht zu übertreffende Verspottung. Sie sind auch hier nicht zum erstenmal aufgetreten. Die Idee des auserwählten Volkes ist, um in der Sprache der Nationalsozialisten zu reden, eigentlich eine jüdische Erfindung, ebenso wie die Führersehnsucht und die Vorstellung eines Stammesgottes. Die Nationalsozialisten haben nur einen altjüdischen Jehova ins Germanische übersetzt und seinen Bart blond gefärbt.
Die Rassenlehre als Stammbaum der Demokraten. Daß das so ist, spricht für die Universalität, aber nicht gegen die Echtheit und Mächtigkeit dieser Empfindungen. Es besagt nur, daß sie allgemein menschlich sind und daß Völker, die sich gedrückt und gequält fühlen, weil sie sich in ihrer inneren und äußeren Bewegungsfreiheit gehemmt vorkommen, sich auf sich selbst zurückzuziehen pflegen und das eigene Ich in riesenhaftem Ausmaß auf die Leinwand der Weltgeschichte zu projizieren suchen. Das beweist unter anderm die moderne amerikanische Entwicklung deutlich genug. Das Herrengeschlecht der englischen Aristokratie hat nie das Bedürfnis gefühlt, sich sein Herrentum beglaubigen zu lassen. Seit aber die Nachkommen der kleinbürgerlichen amerikanischen Puritaner in Neuengland Minderheitsbefürchtungen empfinden, haben sie den nordischen Menschen und seinen Kult entdeckt, obwohl sie meist ebensowenig dem gefeierten Typus entsprechen wie die Massen der Rassereinen in anderen Ländern. Diese ganze Rassenvergötterung ist auf der einen Seite das Ergebnis populärer naturwissenschaftlicher Vorstellungen; sie beweist aber auf der anderen Seite auch den unaufhaltsamen Fortschritt der Demokratie. Nachdem die Aristokraten ein paar Jahrhunderte lang ihre Stammbäume sorgfältig gepflegt und sich auf Grund dieser Stammbäume etwas Besseres gedünkt haben, ist ihre Arroganz demokratisiert und universalisiert worden. Auch der gemeine Mann hat seinen Stammbaum entdeckt.
254 | Faschismus und Nationalsozialismus Die Rolle der Jugend im Hitlertum Eine weitere Quelle, aus der die nationalsozialistische Bewegung ihre Kraft schöpft, ist die eigenartige Stellung der Jugend. Die Jugend hat sich zu allen Zeiten gegen das Alter aufgelehnt und ihm Verknöcherung und Unfähigkeit, neue Gedanken zu ergreifen, vorgeworfen. Wer den Ausgang der Kämpfe um Richard Wagner miterlebt hat oder das leidenschaftliche Ringen um Ibsen oder den jungen Hauptmann – man hat beinahe die Empfindung, als handle es sich bei der Erwähnung dieser Dinge um Vorgänge, die kurz nach der Sintflut oder mindestens etwa im Zeitalter der Völkerwanderung stattgefunden haben – dem erscheint diese Empörung nicht als etwas wesentlich Neues. Sie hat zu allen Zeiten bestanden und wird zu allen Zeiten bestehen, solange Wachsendes sich von Gewachsenem gehemmt fühlt. In dieser Rebellion der modernen Jugend steckt jedoch mancherlei, das sie von den alten Rebellionen unterscheidet. Wenn sonst das Alter der Jugend das Gewordene dem Werdenden entgegenstemmte, so konnte es darauf hinweisen, daß unruhiges Stürmen und Drängen die Sicherheit des Gewordenen und Erprobten zu gefährden drohe. Heute kann man der Jugend mit diesen Dingen nicht mehr kommen. Denn sie kann der alten Generation mit vollem Recht erklären, daß diese herrliche erprobte Welt der Alten, die unter allen Umständen erhalten werden müsse, ja gar nicht mehr bestehe, daß das goldene Zeitalter in der Vergangenheit und nicht in der Zukunft liege, daß es nicht durch den Ansturm der Jugend, sondern durch die Torheit des Alters zerstört worden sei. Das Alter kann sich gegenüber der Jugend nur solange auf seine Weisheit berufen, als seine Torheit nicht so augenfällig ist wie bei der Generation, die weder den Weltkrieg verhindern noch seine Folgen liquidieren konnte. Diesem Alter kann die Jugend sagen: Entweder ihr seid zu schwach gewesen, den Zustand, dessen Herrlichkeit ihr uns gegenüber betont, zu erhalten und uns zu vererben, oder ihr redet von Dingen, die überhaupt nicht gewesen sind. Entweder ihr habt den Krieg gewollt oder ihr habt ihn nicht gewollt. Auf jeden Fall habt ihr Zustände herbeigeführt, deren Folgen wir nun tragen müssen. Darauf kann man nicht viel erwidern. Den Mut zu sagen: Wir sind Toren gewesen, aber das ist kein Beweis dafür, daß ihr weise seid, haben die wenigsten Menschen. Und wenn die an der Regierung befindliche Generation die Macht politisch so organisiert, wie das im Zeitalter der Verbände und des proportionalen Wahlrechtes geschehen ist, und die Jugend vom Hineinwachsen in die Politik und die Verantwortlichkeit geradezu ausschließt, so muß man sie zum Radikalismus erziehen. Das wird auch dadurch nicht anders, daß man Jugendbewegungen organisiert.
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Das Besondere der neuen Jugendorganisation Jugend ist ihrem innersten Wesen nach Bewegung, die man beeinflussen kann, indem man ihr Ziele weist. Wenn man nur die Bewegung der Bewegung organisiert, so trägt man damit auf der einen Seite ein unnatürliches Element der Selbstüberschätzung und auf der anderen die Erstickung des Individuums in das Leben der Jungen hinein. Organisation ist ihrem innersten Wesen nach stets Eingleichung und Abrichtung des Individuums, Befreiung von der Freiheit, Reinigung von Eigenart. Die störrische Jugend der Gegenwart ist in der Tat von der störrischen Jugend der Vergangenheit sehr verschieden. In der Vergangenheit waren es aufgeregte, leidenschaftliche Individualisten, die gegen Zucht, Gehorsam und Ordnung rebellierten, die nicht nach Führern jammerten und schrien, sondern sich in unglaublicher Selbstüberschätzung für geborne Führer hielten und glaubten, wenn sie in Kaffeehäusern saßen und revolutionäre Gedanken spannen und in Theatern und Konzerten neuen Ideen und neuer Rhythmik zum Siege verhalfen, so seien sie die kommenden Herren der Welt. Sie waren sicher ein bißchen komisch, wenn man sie heute in ihrem Größenwahn rückblickend betrachtet. Aber sie waren Einzelwesen, nicht organisierte Massenartikel. Sie brüllten laut und frech als Einzeldarsteller, nicht in wohlgeübten Sprechchören. Diese neue Jugend, die so leidenschaftlich tut und die vor befohlener Gewalt nirgends zurückschreckt, ist innerlich viel schwächer, als ihre Vorgänger gewesen sind. Sie höhnen den Liberalismus und verachten den Individualismus, weil sie glauben, das sei die Weltauffassung tränenreicher Pazifisten gewesen. Sie verstehen nicht, daß sie selbst bloß Massenfunktionen darstellen und nur Teilseelen haben, die mit anderen Teilseelen militärisch kombiniert werden müssen. Sie reden von Freiheit und Sichausleben und leben sich nicht im Wollen, sondern nur im Gehorchen aus. Der Rassenbegriff befreit sie von der persönlichen Verantwortlichkeit, die den alten Individualisten selbstverständlich war, der Befehl von der Selbstentscheidung, die den Liberalen naturgemäß war.
Die Schuld der alten Generation Schuld an dieser Entwicklung aber trägt in erster Linie die alte Generation. Sie hat diese Jugend im Krieg geistig verwahrlosen lassen und wundert sich jetzt darüber, daß sie nichts gelernt hat. Sie hat, in materialistischen Vorstellungen vor dem Kriege, im Kriege und nach dem Kriege befangen, einen Idealismus gepredigt, den sie gar nicht empfand. Sie hat den alten Staat nicht regieren können und den neuen nicht mit neuem Geist zu füllen vermocht. Sie hat insbesondere dadurch, daß sie den Primat der Wirtschaft errichtete, das ganze nationale Leben in wirtschaftliche Interessenkämpfe zerrissen und den Begriff der Einheit höchstens in der paritätischen Verfilzung widersprechender, aber einflußreicher Interessen gesehen. Es ist
256 | Faschismus und Nationalsozialismus ganz begreiflich, daß eine Jugend sich dagegen stellt, die nicht wirtschaftlich denken kann und gar nicht wirtschaftlich denken soll, denn das Wesen der Wirtschaft muß die Vernunft sein – eine Eigenschaft, die dem Alter wohl stünde, die die Jugend aber weder ziert noch benötigt. Sie haben mit dieser Verwirtschaftlichung des nationalen Lebens aber noch nicht einmal die Wirtschaft in die Reihe gebracht. Ganz instinktiv empfindet die Jugend, daß moderner Kapitalismus, wie ihn die deutschen Wirtschaftsführer fabriziert haben, eine Stickluftatmosphäre schafft, in der natürliche und naive Menschen nicht leben können. Die Inflation hat das Gefühl der Sicherheit beseitigt, das den breiten Schichten des deutschen Mittelstandes selbstverständliche Lebensluft war und sich von dort auf die Arbeiterschaft zu verbreiten begonnen hatte. Die Kartellierung, Monopolisierung und Verbandsbildung in Unternehmung und Arbeitsbelegschaft hat dem Einzelnen den Aufstieg außer durch eine Hierarchie geradezu unmöglich gemacht. Hier haben wir eine Jugend, die ihrer sentimentalen Tradition nach aus den sogenannten besseren Ständen stammt und die Vergangenheit nur aus den Erzählungen kennt, die ihre heruntergekommenen Verwandten zum besten geben.
Die hoffnungslose Frage nach der Zukunft Was hat diese Jugend im Leben zu erwarten? In die Staatsstelle teilen sich die Vertreter der großen Parteien 31, hinter denen sich die mächtigen Verbände verstecken, und im Privatwirtschaftsleben herrscht heute bereits die gleiche Bureaukratie, die das öffentliche Leben erstarren läßt. Es ist kein Platz, keine Luft vorhanden. Das Privilegium der akademischen Bildung ist so demokratisiert worden, daß akademische Bildung heute für alle möglichen Berufe nötig ist, auch für diejenigen, wo sie, wenn sie echt akademischen Sinn hat, gar keine Berufsförderung, sondern nur eine Berufshemmung bedeutet. Diese Erweiterung aber hilft den ehemals sozial privilegierten Ständen nicht. Sie müssen sie mit der Konkurrenz der neu hinzugekommenen Gruppen teilen. Es ist ja nicht so, daß man durch die neue Ordnung dem Tüchtigen die Bahn frei gemacht hat; man hat sie aber für sämtliche Untüchtige geebnet. Man kann im Wirtschaftsleben nicht vorwärtskommen; man kann nicht Soldaten spielen, denn es gibt keine richtige militärisch Karriere mehr; man kann nicht in die Kolonien gehen und Eingebornen gegenüber als Herrenmenschen auftreten; man kann nicht mehr nach Amerika auswandern, denn der letzte Westen ist geschlossen. Welche Zukunft hat eine Jugend zu erwarten, die unter solchen Bedingungen aufwächst, die, im Gegensatz zu ihren Vorgängern, keine geistigen Interessen hat und
|| 31 [Dieser Halbsatz ist grammatisch und logisch schwer aufzulösen. Vermutlich wollte Bonn zum Ausdruck bringen, dass die Vergabe der wesentlichen Ämter im Staat dem Einfluss der großen Parteien unterliegt.]
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sich nicht in die Beschaulichkeit des Lebens flüchten möchte, die aber Lebensfreude empfindet und eine mechanisierte Weltauffassung besitzt? Außer dem körperlichen Sport bleibt ihr nur der politische Sport, die Bildung von Verschwörerzellen, das Demonstrieren in Lodenhemden. Ist es nicht ganz begreiflich, daß sie das gefundene Menschenmaterial für die Offiziere der alten Wehrmacht und die, die ihnen geistig nahestehen, darbietet und diesen endlich wieder einmal die Möglichkeit gibt, auf dem Kasernenhof zu stehen und rechtsum und linksum zu kommandieren. Siegreiche Generäle und solche, die sich als Sieger ausgeben, sind immer die Abgötter der Jugend gewesen, wie hochgemute Indianer und kühne Trapper, die die Prärie erobern. Rudyard Kipling und Karl May haben immer viel lebendiger zur Jugend gesprochen als der Goethe im zweiten Teil des „Faust“ oder in „Wilhelm Meisters Lehrjahren“. Die große Menge des deutschen Bürgertums ist überdies im wilhelminischen Zeitalter gar nicht mehr wirklich gebildet gewesen; sie hat ihre Zugehörigkeit zum Volk der Dichter und Denker nur auf ihren SonntagsbesuchsVisitenkarten verzeichnet, aber nicht auf den Karten, mit denen sie ihre viel wichtigeren Geschäftsbesuche machten. Wahrscheinlich wäre die moderne Jugend – das liegt im Wandel der Generationen begründet – auch ungeistig und unsentimental im althergebrachten Sinn (ohne Sentimentalität neuerer Art wäre ihre ganze Gemeinschaftsbewegung nicht zu erklären), wenn die Bildung der Alten echt gewesen wäre. Da sie deren Oberflächlichkeit und Unwirklichkeit deutlich empfindet, so erhält sie ein Gefühl der Überlegenheit. Eine Bildung, die der andere hat und die man nicht hat, kann man verachten und doch beneiden. Eine Bildung, die der andere nur vortäuscht, verachtet man mit vollem Recht.
Der Weg zu den extremen Parteien Und so ist es ganz natürlich, daß die Jugend Parteien zuströmt, die ihr Befreiung von Druck und Stumpfheit versprechen. Diejenigen, die sich ein streng gefügtes Gedankensystem erarbeiten können und von standesmäßigen Vorurteilen frei sind, werden Kommunisten; diejenigen, die sich ein Weltbild aus der Tiefe ihrer Seele schöpfen – sie haben wahrscheinlich Fichte nicht gelesen, sie betrachten aber im Fichteschen Sinn die Welt als Schöpfung des Ichs – und die aus ihren Elternhäusern Vorurteile gegen Arbeiter und Juden haben, werden Nationalsozialisten. Da diese Partei das Geschäft der Organisation dieser Leute geradezu genial beherrscht, ihnen keine praktischen Ziele zumutet, sondern Gefühls- und Willensäußerungen mit der Intuition eines genialen Regisseurs auslöst, ist es ganz natürlich, daß sie der nationalsozialistischen Partei in Massen zuströmen. Sie werden ihr treu bleiben, solange die Partei sich treu bleibt. Treubleiben für eine solche Partei kann aber nur darin bestehen, daß sie sich nicht ernüchtert, daß sie nicht teilnimmt am praktischen politischen Leben der Nation, daß sie eine Organisations- und eine Deklamationspartei bleibt.
258 | Faschismus und Nationalsozialismus Die Jugend wird durch die Besserung der Konjunktur einer solchen Partei nicht entfremdet werden. Wohl aber wird sie ihr durch eine Macht entzogen, die viel stärker ist als das größte Organisationsgenie. Jugend ist ein Zustand, keine Weltauffassung. Eine Generation nach der anderen durchlebt diesen Zustand und hat, solange er dauert, die ihm entsprechende Weltanschauung. Aber sie bleibt nicht in ihm, denn sie altert. Und wenn sie auch nicht weise wird, so wird sie doch nüchtern. Es kommt eine Zeit, in der sie praktisch greifbare Ergebnisse fordert und in der die Führer der Revolution sie nicht liefern können, wenn sie echte, permanente, ausschließliche Revolutionsführer geblieben sind. Es schadet nichts, daß Moses auf dem Berge Horeb zurückgehalten wird, wenn die Kinder Israels ins Gelobte Land eingehen dürfen. Keine Bewegung aber kann dauern, wenn Volk und Führer das Gelobte Land nur jenseits des Jordans erblicken dürfen und auf dem Berge Horeb verweilen müssen. Die erste junge Generation fällt ab und wird nüchtern, um so sicherer, je leidenschaftlicher sie gewesen ist, als sie ganz jung war. Eine zweite junge Generation wird an ihre Stelle treten und zeitweilig dem Rufe der Führer folgen, wenn diese jung genug geblieben sind, um Generation auf Generation zu erwärmen. Aber in der Politik werden selbst die gefeiertesten Primadonnen und Heldentenöre schnell alt und wohlbeleibt. Die Sirenenstimme, die eine Jugendgeneration betört, klingt der zweiten Generation meist schrill. Und wenn diese zweite Generation unter Verhältnissen aufwächst, die besser und glücklicher sind als die der heute revolutionierenden Jugend, dann wird auch sie revolutionär sein – das ist jede Jugend und muß es sein – sie wird aber nicht gegen die alte Generation rebellieren, sondern gegen ihre unmittelbaren Vorgänger. Es ist die Aufgabe der heute am Ruder stehenden Generation, Zustände zu schaffen, die die übernächste Jugend mit dem Bestehenden oder besser gesagt mit dem Werdenden versöhnt. Dazu wird sie sich allerdings freimachen müssen von jenem bornierten materialistischen Geist, der in Technik und Wirtschaft den Herrn und nicht den Diener sieht. Sie wird den Marxismus überwinden müssen, aber nicht nur den Marxismus, der manche Kreise der Arbeiterschaft beherrscht hat, sondern vor allem den primitiv-naiven Marxismus, der Unternehmergehirne benebelt und sie verleitet, politische Führung mit Geld und ohne Geist zu erstreben.
13 Die Radikalisierung der deutschen Jugend. Die Politisierung der Intellektuellen (1932) Die Intellektuellen in Deutschland bilden einen Teil jener sehr viel größeren Gruppe, die man die „Gebildeten“ zu nennen pflegte. Von der Masse der Gebildeten zeichnete sich aber als Muttergehäuse, als Matrix der Intellektuellen, die Schicht der akademisch Gebildeten ab. Die akademisch Gebildeten als Ganzes stellten in Deutschland eine Oberschicht dar, die eine eigenartige Stellung einnahm. Die deutsche Bildung war im wesentlichen unpolitisch gerichtet. Sie war an der praktischen Verwirklichung von Ideen nur sehr bedingt interessiert und stieß daher weit kühner in die Welt der Ideen vor als die Intellektuellen irgendeines anderen Landes. Die äußere Welt war ihr Objekt der Betrachtung und der Erkenntnis, weit mehr als Gegenstand der Verbesserung. In der Welt der Gedanken war der deutsche Akademiker in mancher Beziehung ein Anarchist. Der praktische Zusammenhang der deutschen Intellektuellen mit dem Leben bestand darin, daß die höheren Beamten eine akademische Bildung haben mußten. Und da Deutschland, abgesehen von manchen Kleinstaaten, mehr und mehr ein von akademisch gebildeten „Schreibern“ regiertes Land wurde, war der Einfluß der Intellektuellen stetig im Wachsen. Wenn auf der einen Seite im alten Deutschland militärische Privilegien vorhanden waren, so gab auf der anderen Seite die akademische Bildung weitgehende Vorrechte, die sich von anderen Vorrechten dadurch unterschieden, daß die Nation als Ganzes sie willig anerkannte und ihren ausgezeichneten Trägern einen Einfluß einräumte, der ihrer praktischen Erfahrung nicht entsprach.
Geist von Weimar oder Geist von Potsdam Ohne daß sie es wußten, hatten die deutschen Intellektuellen in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, insbesondere aber seit dem Regierungsantritt Wilhelms II., einen inneren Bruch erlebt. In dem neuen, mächtig und reich gewordenen Deutschland mußten die Intellektuellen, die akademisch Gebildeten insbesondere, sich praktischen Aufgaben zuwenden, ob sie wollten oder nicht. Man hat ihnen vorgeworfen, sie hätten den Geist von Weimar dem Geist von Potsdam geopfert. Aber der Geist von Potsdam, wie er sich in Friedrich dem Großen verkörperte, verstand sich ganz gut mit dem Geist von Weimar. Was die Änderung unvermeidlich machte, war, daß, Deutschland aus der kleinbürgerlichen Enge, die Potsdam und Weimar, trotz höfischer Aufmachung, das wahre Gesicht gab, herausgewachsen war und sich mit Weltproblemen beschäftigen mußte. Im Zeitalter der Eisenbahn und des Telegraphen konnte die Mehrzahl der durch ihre Vorbildung zur Führung der Nation bestimmten Schichten sich nicht dauernd an die Ideale der Vergangenheit anklammern.
260 | Faschismus und Nationalsozialismus Die Vernichtung des Bürgertums durch die Inflation Der Krieg und die Revolution haben die Lage der deutschen Intellektuellen von Grund auf zerstört. Die Revolution führte nicht zu großen konstruktiven sozialen Umwälzungen, die man mit dem Begriff der Sozialisierung verbinden kann. Sie brachte dagegen eines: Niederbrechung der akademischen Privilegien. Das Bildungsprivileg wurde vielfach noch aufrechterhalten, indem die meisten höheren Stellen und Berufe an den Besitz akademischer Bildung geknüpft waren; aber die Zulassung zum akademischen Privileg wurde verbreitert. Der Satz „Freie Bahn dem Tüchtigen“ wurde geprägt mit dem Ergebnis, daß viele mittelmäßig Begabte, sich für tüchtig haltend, heute der akademischen Berufsbildung zuströmen und die Hochschulen in einer Weise überfüllen, wie es noch nie der Fall war. Alles das wäre erträglich gewesen, wenn nicht auf die Niederlage und die politische Revolution, zum Teil aus der Niederlage hervorgehend, eine wirkliche soziale Revolution gefolgt wäre: die Inflation. Die Inflation hat zur wirtschaftlichen Vernichtung des deutschen Bürgertums geführt. Sie hat den gebildeten Schichten die Grundlage der geistigen Unabhängigkeit entzogen. Die Revolution hat gleichzeitig die Stellung der sogenannten Handarbeiter sehr verbessert. Die soziale Gesetzgebung, insbesondere die Versicherung gegen Arbeitslosigkeit, hat das Leben der sogenannten Proletarier von seiner fürchterlichsten Bedrohung befreit: der dauernden Unsicherheit. Dagegen hat die Inflation dem Leben der bürgerlichen Schichten, zu denen die Intellektuellen ihrer Herkunft nach meist gehörten, das Gefühl der Sicherheit, auf dem ihr Dasein beruhte, genommen. Was sollen nun die vielen tausend jungen Leute erhoffen, wenn sie nach großen Entbehrungen schließlich ihre Examina bestanden haben? Der Staat ist zu arm, um sie alle zu beschäftigen; und die Stellen, die er noch vergeben kann, gehen – so glauben sie – durch Korruption an die politischen Parteien, die die Minderbegabten vertreten. Und im Privaten ist es nicht viel anders: Wo ist noch Platz für Ärzte und Rechtsanwälte? So sind die Hüter der Tradition einer besseren Zeit in die Lage von Handarbeitern herabgesunken, die heute nicht wissen, was der morgige Tag bringt, ohne doch deren robuste Psyche zum Durchhalten und Durchdrücken zu besitzen. Sie haben keine Aussichten und sie haben keinen Glauben. Kein anderes der großen Länder der Erde hat daher heute ein solches Intellektuellenproblem wie Deutschland, da nur in Deutschland die Inflation die wirtschaftliche Basis, auf der die gebildeten Schichten aufzubauen gewohnt waren, vollkommen zerschlagen hat. Daran ist Deutschland selbst nicht unschuldig gewesen. So groß aber auch die Fehler waren, die Deutschland begangen hat, sie wären niemals gemacht worden ohne den Druck der Reparationslasten.
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Versperrte Wege Den deutschen Intellektuellen fehlt nicht nur die Sicherheit; es fehlt ihnen etwas Wichtigeres: der Weg ins Freie. Schon vor dem Krieg hat in Deutschland gerade in diesen Schichten eine gewisse dumpfe Unzufriedenheit geherrscht, die damals insofern unberechtigt war, als man Sicherheit hatte. Schon damals aber fehlte Deutschland weitgehend das ausgiebige Neuland, in das die unternehmungslustigen und abenteuerlustigen Mitglieder der gebildeten Schichten abströmen konnten. Heute ist dieses Ventil völlig verschlossen; die Beschränkung von Heer und Flotte tut ein übriges. Zu Hause gibt es weder Sicherheit noch Aufstiegsmöglichkeiten, im Ausland weder Raum noch Zulassung. Kann man sich daher wundern, daß es in Deutschland gärt? Im Leben der nichtkatholischen deutschen Intellektuellen hat die Religion vor dem Kriege nur eine verhältnismäßig geringe Rolle gespielt. Sie ist im Krieg nicht gewichtiger geworden. Den Halt, den der Mensch braucht, hat er in der bestehenden äußeren Ordnung gefunden: in der Gesellschaft, im Staate. Aber dieser vergötterte Staat ist zusammengebrochen, und wenn er auch wieder aufgebaut ist, so ist es doch nicht mehr der Staat, den die eigene Schicht beherrschte. Eine Zeitlang hat man Anlehnung an die großen Wirtschaftsmächte gesucht. Seit man weiß, wie tönern die Füße sind, auf denen die Wirtschaftsführer stehen, ist diese Zeit vorüber. Aber nicht vorüber ist der Ansturm der Menge, die den Beruf zur Führerschaft zu besitzen glaubt, jedoch keine Aussicht hat, ein Plätzchen an der Sonne zu finden. Es ist daher natürlich, daß diese Jugend den Umsturz will, um sich durch ihn den Weg ins Freie zu bahnen. Sie macht mit der größten Leidenschaft einen Frontwechsel, der geistig bequem, aber selbstmörderisch ist: sie verneint den Geist. Instinktmäßig sieht sie in der ihrer Meinung nach zur Macht gekommenen Arbeiterschaft den Sieg der Barbaren über die Bildung. Sie sucht die Barbarei nicht durch Bildung, sondern durch grundsätzliche Verneinung der Bildung zu überwinden. Sie, die zuinnerst empört darüber ist, daß der einfache Mann ohne Bildung nun Macht und Ehrenstellen einnimmt, will auf die Bildung verzichten, die sie doch zu nichts führt. Und so berauscht sie sich an den mystischen Vorstellungen eines auserwählten Volkes, dem sie durch Geburt angehört, das durch einen gottgesandten Führer aus der Not befreit werden soll. An die Stelle der Persönlichkeit tritt das Kollektiv; an die Stelle des persönlichen Willens die allgemeine Sehnsucht. Der Verstand ersinnt nicht mehr Ziele, Zwecke und Mittel. An seine Stelle ist ein Glaube getreten, dessen Lehrsätze an die heidnische Vorstellung einer Blutgemeinschaft aufgebauten Stammesreligion anklingen und der eine auf rein praktische Dinge abgestellte Erlösungssehnsucht ausstrahlt, die nach der Tat schreit, aber auf das Wunder wartet.
| IV
Der Blick nach Amerika
14 Zum 150. Jubiläum der Unabhängigkeitserklärung (1926) Heute, am 4. Juli, sind 150 Jahre verflossen, seit die dreizehn nordamerikanischen Kolonien sich vom britischen Mutterland losgesagt haben. Mit Recht wird dieser Tag als Geburtstag der modernen Demokratie gefeiert. In der Erklärung, mit der die Kolonien sich aus dem Verbande des Mutterlandes loslösten und ihre Unabhängigkeit verkündeten, haben die Gedanken der „Menschenrechte“ ihren einfachsten und leidenschaftlichsten Ausdruck gefunden. Wie heute die Gestalt der Freiheitsgöttin, die Fackel in der erhobenen Hand haltend, von fern schon den Besucher grüßt, der sich der amerikanischen Küste bei New York nähert, so ist damals in Philadelphia das Flammenzeichen aufgeloht, das den unterdrückten Völkern der Erde den Weg in das Reich der Freiheit weisen sollte. Daher ist es selbstverständlich, daß die europäische Demokratie am 150. Jahrestage der Unabhängigkeitserklärung nicht schweigend vorübergeht, auch wenn sie sich die Frage stellt, ob denn alles von dem erfüllt ist, was sie den Menschen verheißen hat. Amerikanische Schriftsteller haben oft darauf hingewiesen, daß die junge Republik im Gegensatz zu den Despotien des alten Europa nicht etwa versprochen habe, die Menschen zu beglücken. Sie habe ihnen nur Gelegenheit geben wollen, Leben und Freiheit zu besitzen, ihr Glück durch eigenes Tun zu suchen und zu finden und das Gefundene in Sicherheit zu genießen. Die Bevölkerungen, die die Grundlage der Republik bildeten, im Süden wie im Norden, waren ihrer inneren Einstellung nach gegen eine starke Regierung. Sie glaubten, eine mächtige Regierung müsse despotisch sein und unter dem Vorwand, die Menschen zu beglücken, sie zu versklaven suchen. Sie haben daher ein eigenartiges System von Hemmungen in der Verfassung, eine Trennung der Gewalten festgelegt, die der Bundesregierung wie den einzelstaatlichen Regierungen möglichst geringe Befugnisse gegenüber dem Individuum gab. Der Staat war Gewalt; der Staat war der Feind. Im Norden sahen Presbyterianer, Kongregationalisten und Methodisten in ihm ursprünglich ein Organ des Gewissenszwanges. Die Gemeinde, als Kirchengemeinde der Gleichgesinnten, war der eigentliche Kern der Gemeinschaft. Im Süden bestimmte das Unabhängigkeitsgefühl des Landedelmannes, der die Verwaltungsaufgaben des Staates auf eigenem Grunde ausübte und den Eingriff der Regierung in seinen Bereich verabscheute, die Haltung der virginischen Aristokraten. Während das Freiheitsgefühl des Neuengländers der Sorge um das ewige Heil der Seele entsprang, das Regierungen mit Zwangsgewalt gefährdeten, ähnelte das des Südens demjenigen der englischen Barone, als sie in Runnymede einem despotischen König Achtung vor der persönlichen Freiheit abzwangen. Der amerikanische Staat war seinem Ursprung nach ein schwacher Staat, ein Staat des „laissez aller“, wo weder der Bund noch der Einzelstaat weitgehende Befugnisse zur Beglückung der Menschen hatte. Das Heil der Menschen mußte aus ihnen selber kommen. Sie waren ihrem Gotte, nicht einer Regierung verantwortlich.
266 | Der Blick nach Amerika Da sie zur Wahrung ihres Seelenheils keines Mittlers bedurften, so konnten sie die irdischen Angelegenheiten ohne Regierungseinmischung erledigen. Diese Anschauungen der Unabhängigkeitserklärung wurden von den „Vätern der Republik“ nur bedingt geteilt. Männer wie Washington und Hamilton hatten sich gegen die Regierungsgewalt eines englischen Königs gewandt, nicht weil sie Gewalt war, sondern weil sie fern und unverständig war. Sie hatten sich in ihrem Kampf auf die Menschenrechte berufen. Sie fürchteten aber die ungebändigte Demokratie, die, im leidenschaftlichen Glauben an diese Menschenrechte befangen, allzu geneigt war, sie in Wirklichkeit umzusetzen. So suchten sie ihr durch die Bundesverfassung, durch das Wahlrecht in den Einzelstaaten, durch die Bildung des Senats und durch die Schaffung des Obersten Gerichtshofs eine Schranke zu errichten. Die öffentliche Meinung der Demokratie vermag alles. Das Volk als Ganzes ist souverän. Der Oberste Gerichtshof aber bestimmt, ob der Wille des Volkes der Verfassung entspricht oder nicht. Gegebenenfalls verweist er ihn auf den Weg der Verfassungsänderung, der seit Bestehen der Verfassung nur 19 Mal erfolgreich beschritten worden ist. Die eigentlichen Schöpfer der Verfassung träumten von einer starken Regierungsgewalt, die die Begierden der Menge im Zaum halten sollte. Erst Jefferson, aus dessen Feder die Unabhängigkeitserklärung geflossen war und der in seiner praktischen Lebenshaltung ein Aristokrat von jenem demokratisch-doktrinären Fanatismus war, der sich auch bei manchen der großen englischen Whigs findet, hat den Versuch gemacht, die Demokratie, wie sie in der Unabhängigkeitserklärung enthalten war, zu verwirklichen. Thomas Jefferson hat nicht nur die Unabhängigkeitserklärung geschrieben und ihre Grundsätze in seiner Präsidentschaftszeit durchzuführen gesucht, er hat auch die Grundlagen geschaffen, auf denen ihre Verwirklichung möglich war. Er hat im Jahre 1808 den Franzosen Louisiana abgekauft und dadurch das Mississippital und den amerikanischen Westen der amerikanischen Besiedlung zugänglich gemacht. So ist das Neuland gewonnen worden, auf dem die eigentliche amerikanische Demokratie entstanden ist. Die dreizehn Staaten, die die Unabhängigkeitserklärung unterzeichnet hatten, erfüllten nur das Vorland, das zwischen dem Meer und den Alleghanybergen lag. Von Buchten, Flüssen und Hügeln durchschnitten, war es mit seinen 322.000 englischen Quadratmeilen nicht viel größer als das heutige Deutschland. Wäre die amerikanische Entwicklung infolge des Fortbestandes der französisch-spanischen Umklammerung auf dieses Gebiet beschränkt geblieben, so wäre sie in ihren Grundzügen europäisch geworden. Denn schon damals war die Bevölkerung verhältnismäßig dicht trotz der Ausgänge ins Hinterland, und über die Bergpässe wies sie schon viele Merkmale der sozialen Ungleichheit auf, die die europäische Entwicklung bezeichnen: Nicht nur in den eigentlichen Sklavenstaaten, auch im Staate New York, an den Ufern des Hudson hat es Fronhöfe gegeben. Und in den Kämpfen um die Verfassung haben die Besitzenden mit den Besitzlosen gerungen. Philosophen, die die Besitzlosen vertreten, haben der Unabhängigkeitserklärung ihr leidenschaftliches Leben eingehaucht; bedächtige Großgrundbesitzer und Kaufleute
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haben die Verfassung vom Jahre 1787 geschaffen, die dieses Leben zu bändigen sucht. Was wäre in einer sich einengenden, der europäischen Mutter nachgebildeten Welt das Schicksal derjenigen gewesen, die, feierlicher Erklärung vertrauend, auf ihr Recht gepocht hätten, „Leben und Freiheit und die Möglichkeit Eigentum zu erwerben und zu besitzen und Glück und Sicherheit zu suchen und zu genießen“? Dem Verfasser der Unabhängigkeitserklärung ist das einzigartige Glück geworden, daß er das Gelobte Land den Seinen nicht nur vom Gipfel des Horeb zeigen konnte, sondern die Schranken niederriß, die sie von ihm trennten. Thomas Jefferson hat dem amerikanischen Volke den Westen gegeben, und der amerikanische Westen gab ihm Amerika, wenn wir unter Amerika nicht einen bloßen geographischen Begriff verstehen, sondern die Möglichkeiten einer sozialen Entwicklung, die in Europa fehlten und ohne die die Verheißungen der Unabhängigkeitserklärung leerer Schall geblieben wären. Der Westen, der sich vor Amerika auftat, war reich; er war, wenn man von den Indianern absah, leer: ein Land ohne Schranken, in dem der Einzelne in der Tat Leben und Glück, Freiheit und Besitz suchen und finden konnte. Der Gedanke der Freiheit stammte aus dem Osten; die Verwirklichung der Freiheit hat der Westen gegeben. Auch heute noch, wo die „letzte Grenze“ schon jenseits der Vereinigten Staaten vom kanadischen Felsengebirge am Stillen Ozean zur Hudsons-Bucht verläuft, ist der Westen das Land der Freiheit und der Demokratie, die am 4. Juli 1776 verheißen worden sind. Nur wer ihn kennt, kennt Amerika, dessen Osten samt den großen Städten nicht viel anderes ist als eine riesenhafte Steigerung europäischer Vielgestaltigkeit, eingepfercht in amerikanische Rahmen. Aber im Westen, in dem Pionier und dem Farmer, sind die Menschen entstanden, die, auf sich selbst gestellt, ohne den Staat und wenn nötig gegen den Staat, das Glück suchen und zu finden vermochten. In diesem Westen hat Amerika das Problem gelöst, das in der Weltgeschichte zum ersten Mal in solchem Umfang gestellt war: wie aus einem Mutterland durch Auswanderung und Besiedlung sich eine neue Gesellschaft loslöst, die, in zeitweiliger Unmündigkeit vom Mutterland abhängig, sich bei beginnender Reife von seiner Vormundschaft befreit, aber sich nicht von ihm trennt, sondern mit ihm zu einem Bunde zusammenschmilzt. Amerika hat der modernen Welt den Bundesstaat in doppeltem Sinn gegeben: die Not der Zeit hat einmal die dreizehn alten Staaten dazu gebracht, allen Hader und alle Eigenart zu vergessen und sich zu einem Bunde zusammenzuschließen. So sind sie das Vorbild jenes Staatenwachstums geworden, das nicht durch gewaltsame Annexionen, sondern durch freiwillige Verschmelzung erfolgt. Sie haben dann nach Westen vordringend Tochterstaaten gezeugt und schon früh, im Jahre 1787, die Formen gefunden, in denen diese Tochterstaaten heranreifen und mit dem Mutterstaat als Bundesteilnehmer verwachsen können. Durch die Bestimmung der Verfassung, daß jeder Staat im Bunde die gleiche Vertretung im Senat ohne Rücksicht auf Größe genieße, haben sie zwar die „Demokratie der Personen“ oft genug beeinträchtigt, aber die „Demokratie der Staaten“ verwirklicht und so das Vorbild geschaffen, nach dem sich alle Zusammenschlüsse der Welt, nicht zum wenigsten die Organisation des Völkerbun-
268 | Der Blick nach Amerika des vollziehen. Und wenn durch diese Methode die Interessen der Massen gelegentlich geschädigt worden sind, weil die dünn besiedelten Staaten die Küstenstaaten des Ostens majorisieren konnten, so sind doch gerade die dem Prairie-Zustande noch nahen jungen Weststaaten die Träger allen sozialen und politischen Fortschritts in Amerika gewesen. Und immer wieder, wenn es schien, als ob Amerika, in Reichtum und Behaglichkeit versinkend, zu erstarren drohe und der Osten die Welt nach rein rechnerischen Gesichtspunkten in seine Unternehmungen einzugliedern suchte, gärt und brodelt es im Westen, und die Gedanken der Unabhängigkeitserklärung werden lebendig. Noch eines, was die Unabhängigkeitserklärung verhieß, hat der Westen zu verwirklichen gesucht: die Gleichheit aller Menschen. Sie, weit mehr als die Freiheit, ist in den neuenglischen Staaten entstanden, deren Denken von der Vorstellung ausging, das alle Menschen als lebendige Seelen vor Gott gleich sind und alle in der Aufgabe, das Heil dieser Seelen zu wahren, das Recht auf gleiche Betätigung in der Gemeinde haben. Aber dieser neuenglische Gleichheitsfanatismus erstreckt sich doch im wesentlichen nur auf die, die zur Gemeinde gehören und den Glauben teilen. Wer ihn nicht hatte, ist in der Vergangenheit oft genug aus Gemeinde und Staat rücksichtslos ausgeschlossen worden. Die Demokratie des auserwählten Volkes ist immer aristokratisch. Der Westen hat die Gleichheit verwirklicht. Er nahm die Menschen, woher sie kamen: Er wertete sie nach ihren Leistungen. Wer sich der gleichen Aufgabe unterzog, die gleichen Gefahren und Lasten mit den anderen teilte, der war ein Gleicher, Gleichgearteter. Und wer dieses Leben der Gleichen unter den Gleichen lebte, wurde durch die gewaltige Macht der Umwelt in die gleiche Form gepreßt, die aller Züge prägte. Der Westen wurde ein Land der rücksichtslosen Individualisten, in dem aber das Antlitz eines jeden Individuums in der gleichen Matrize des westlichen Lebens geformt, die gleichen Züge trägt, – das Land, in dem Individualisten, nicht Individualitäten, als Massengüter hergestellt werden. Und so schmolz er in seinen gemeinsamen Aufgaben alle die ein, die zu ihm kamen; virginische Pflanzer und neuenglische Bauern, deutsche Achtundvierziger und irische Kleinpächter. In ihm, weit mehr als im Osten, ist der Glaube berechtigt gewesen, daß Amerika das Nationalitätenproblem dadurch überwinden werde, daß alle, die aus verschiedener Herren Länder kamen, in die gemeinsame amerikanische Nationalität eingetaucht würden. Der Osten hat bestenfalls zwei Typen gekannt, die wie Feuer und Wasser zueinander standen: den neuenglischen Yankee und den Gentleman des Südens. Beide wurden geboren, nicht geformt. Der Westen aber hat den Westler geschaffen, dein einheitlichen Typus, in den sie alle eingehen, alle, denen das breite Land den Stempel seines eigenen Wesens aufdrückte. Und noch ein weiteres hat der Westen getan: Indem er jedem, der zu ihm kam und einige Kraft besaß, mit seinen unerschöpflichen Hilfsquellen Gelegenheit gab, Eigentum zu erwerben und zu besitzen, hat er die Grundlage zu einer Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft in Amerika gelegt, wie sie anderswo nirgends gefunden werden konnte. Nur in Amerika ist der freie Wettbewerb trotz aller Monopole
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dank der reichen Hilfskräfte des Landes möglich und bis zu einem gewissen Grade erfolgreich gewesen, der als Grundlage der liberalen Wirtschaftspolitik überall gefordert, aber nirgends gesichert werden konnte. Von den großen Verheißungen, die heute vor 150 Jahren in die Welt hinausgegangen sind, hat sich vieles nicht erfüllt. Aller Menschen Gleichheit ist nirgends verwirklicht. Nirgends ist die Freiheit gesichert. Die Aufgabe der Regierungen, Leben, Freiheit und das Streben nach Glück unter den Regierten zu sichern, hat sich wieder und wieder als unlösbar erwiesen. Es scheint manchmal, als sei die Menschheit einer Freiheit überdrüssig geworden, die sie solange genießt, daß sie sie nicht länger zu schätzen weiß, und deren Möglichkeiten ihr so selbstverständlich geworden sind, daß sie sie nicht auszunutzen versteht. Die Menschen scheinen müde geworden, die Verantwortung für ihr Schicksal länger zu tragen. Sie sehen in den Katastrophen, die ihre Torheit oder ihre Untüchtigkeit hervorgerufen hat, Naturereignisse, die über sie hereinbrechen und denen sie schutzlos gegenüberstehen. Sie sehnen sich als müde Seelen nach einer starken Hand, die das Geschehen meistern, das sie selbst verursachen. Sie rufen nach einem Diktator und sehen in einem Frieden schweigender Unterwürfigkeit ein höheres Glück als in einem Kriege freier Meinungsäußerung und freien Wollens. Es scheint manchmal, als seien die Gedanken, die vor 150 Jahren nicht zum ersten Mal ausgesprochen wurden, aber zum ersten Mal Weltklang angenommen haben, nichtssagend und leer geworden und selbst in Amerika im Absterben. Moderne Tyrannen sind groß geworden, die sich nicht länger gezwungen fühlen, in heuchlerischer Ehrerbietung in Worten dem zu huldigen, was sie in der Tat verneinen, sondern sich bewußt und aller Welt vernehmbar in Gegensatz zu ihm setzen. Werden sie die Gedanken von 1776 wirklich überwinden? Wird nicht die Tatsache, daß es wieder Tyrannen gibt (und solche, die es werden wollen), dem Worte Freiheit einen neuen Sinn geben? Muß nicht die Demokratie gerade dadurch einen neuen Inhalt bekommen, daß die Gleichheit und Freiheit, die sie gefordert hat, nicht verwirklicht worden sind? Weltanschauungen und Gedanken sterben, wenn sie ihre Aufgabe erfüllt haben. Thomas Jeffersons Unabhängigkeitserklärung wäre verklungen (sie wäre kaum etwas anderes geworden als die „heiße Luft“, die amerikanische Volksredner heute bei festlichen Gelegenheiten mit dröhnender Stimme ausstoßen), wenn sie nicht gegen lebendige Tyrannen ergangen wäre, die damals auf den Thronen saßen. Weil Gewalt und rücksichtslose Macht damals die Welt beherrschten und wie glühendes Eisen in die Seelen der Menschen brannten, ist die Unabhängigkeitserklärung ein Trompetenstoß gewesen, der die Wälle von Jericho erbeben ließ und die Mauern der Bastille niederriß. Kaum jemals in der Weltgeschichte haben ein paar Gedanken, in ein politisches Dokument gegossen, solche Wirkung gehabt wie diese Worte, die vor 150 Jahren zum ersten Mal erklungen sind. Die paar Millionen Amerikaner, in deren Sinn sie gesprochen wurden, waren ein kleiner Bruchteil der damaligen Welt. Ihr Wort hat diese Welt erschüttert. Ihre Tat hat schließlich das moderne Amerika zum mächtigsten Gemeinwesen dieser Erde gemacht. Und wenn neue Mächte heute an der Arbeit
270 | Der Blick nach Amerika sind, neue Ketten zu schmieden, die den menschlichen Willen bändigen und das menschliche Freiheitssehnen töten wollen, so ist der Same, der damals ausgestreut worden ist, in die Herzen aller Völker zu tief eingesunken, als daß er nicht immer wieder von neuem aufgehen werde. Thomas Jefferson, der Verfasser der Unabhängigkeitserklärung, hat selbst gesagt, er habe es nicht als Teil seiner Aufgabe betrachtet, neue Ideen zu erfinden oder Gefühle auszudrücken, die noch niemand vorher ausgesprochen habe; er wisse nicht, ob er die Gedanken durch Lesen oder Nachdenken gefunden habe; es sei leicht möglich, daß es sich nur um Gemeinplätze und um alte Ideen gehandelt habe. Gerade damit hat er ihre zündende Kraft erklärt. Nicht was ein großer Denker den Menschen als abstraktes Ergebnis seines Sinnens vorträgt, sondern das, was sie lebendig selbst in ihrer Seele fühlen und verstehen, wann es einer der Ihren in Worte kleidet, gibt ihnen die Kraft zum Handeln. Und solche Selbstverständlichkeiten, weil es eben Selbstverständlichkeiten sind, werden in ihnen immer neuen Widerhall finden, wenn das bedroht ist, was den Menschen das Leben schließlich doch lebenswert erscheinen läßt: das Recht auf Leben und Freiheit und das Suchen nach Glück.
15 Amerikanische Prosperität (1927) Demokratie und Produktionsteilung Die Grundrichtung der amerikanischen Entwicklung geht nach oben. Die Mehrheit der Unternehmer ist durchaus gewillt, die Zweckmäßigkeit hoher Löhne in ihr Glaubensbekenntnis aufzunehmen. Sie geht nicht so weit wie Henry Ford, der den mangelnden Beschäftigungsgrad seiner Fabriken hinter einer fünftägigen Arbeitswoche bei gleichbleibenden Löhnen verstecken will. Da sie aber von dem Optimismus beseelt wird, der das Wesen des wirtschaftlichen Amerika ausmacht, und überdies von jener ehrlichen Sentimentalität nicht ganz frei ist, in der man in Amerika gern schwelgt, tritt sie ganz bewußt für hohe Löhne und Zufriedenheit ein. Politische Erwägungen kommen hinzu. In keinem Lande der Erde ist die Bolschewistenfurcht so groß wie in dem gesicherten Amerika. Ein Kommunist wird als Feind der menschlichen Gesellschaft geächtet; die allgemein gültige Rechtsordnung beschirmt ihn nur in beschränktem Maße. Diese Stimmung beherrscht nicht nur die Unternehmerkreise; auch die organisierten Arbeiter sind antibolschewistisch. Es gibt einzelne Gruppen der amerikanischen Unternehmerschaft, die aus geschäftlichen Gründen zur Anerkennung der bolschewistischen russischen Regierung durchaus bereit sind; die in der American Federation of Labour organisierte Arbeiterschaft ist leidenschaftlich dagegen. Diese Unternehmer wollen vielleicht nicht nur Geld verdienen; sie hoffen möglicherweise auch den Bolschewismus durch Prosperität zu entgiften. Auf jeden Fall soll die Prosperität der amerikanischen Arbeiter sein Aufkommen in den Vereinigten Staaten verhindern. Zufriedene Arbeiter sind nicht revolutionär. An der Westküste sieht man das ganz deutlich. Die Besserung der Zustände der Lager hat die Holzfäller aus den Netzen der I. W. W. 32 befreit. Das Steigen der landwirtschaftlichen Löhne hat die Landarbeiter beruhigt. Während sie früher in Scharen auf den Trittbrettern der Frachtzüge als blinde Passagiere gegen Westen zogen, die sogenannten „Hobos“, haben sie heute Anteil an der Prosperität bekommen. Sie fahren in einem Fordwagen – Fliver oder „tinlizzy“ genannt – von Farm zu Farm, um ihre Dienste anzubieten. Sie bringen die ganze Familie mit – sie ist nicht immer legitim – und dazu, wenn nicht auf einem Anhängewagen, so auf dem Trittbrett eine Ziege oder sonstigen lebenden oder toten Hausrat. Da diese Nomaden nicht an die Erziehung der Kinder denken und sie gern der Schulpflicht entziehen, verursachen sie den kalifornischen Schulbehörden viele Schwierigkeiten. Aber sie sind keine Revolutionäre mehr.
|| 32 [Industrial Workers of the World: eine 1905 in Chicago gegründete international ausgerichtete Gewerkschaftsbewegung.]
272 | Der Blick nach Amerika Seit die Einwanderungsgesetzgebung den Massenzustrom ungelernter Arbeiter gedrosselt hat, kann die gelernte Arbeiterschaft die Früchte der Konjunktur unbesorgt genießen. Diese Stimmung hat gelegentlich solchen Umfang angenommen, daß die Arbeiterorganisationen bedroht erscheinen. Denn wenn ein praktischer Amerikaner ohne Bindung an eine Gewerkschaft höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen erhält, als ihm die Gewerkschaftsbewegung versprochen hat, wird er leicht geneigt sein, diese Vorteile ohne weiteres mitzunehmen. Der amerikanische Arbeiter, insbesondere der eingeborene amerikanische Arbeiter, besitzt auch heute noch kein Klassenbewußtsein. Mit der Erschöpfung des freien Landes ist der automatische Aufstieg vom Arbeiter zum selbständigen Unternehmer zu Ende gekommen; die industrielle Entwicklung hat aber dem amerikanischen Arbeiter den Glauben erhalten, daß es auch heute noch keine eigentliche Arbeiterklasse in Amerika gebe und daß das Lohnverhältnis ein bloß vorübergehendes wirtschaftliches Abhängigkeitsverhältnis darstelle. Viele große Industrieherren Amerikas sind im Laufe der letzten Generation aus dem Arbeiterstande aufgestiegen; die Vorstellung, jeder amerikanische Arbeiter habe den Bleistift des Generaldirektors in der Westentasche wie der Soldat Napoleons den Stab des Feldmarschalls im Tornister, hat daher weitergelebt. Solange dieser Glaube besteht, bedeutet es wenig, ob die Statistik des Erfolges der Statistik der Erwartung entspricht oder nicht. Die Richtung des Lebens wird weniger von den Ergebnissen der Wahrscheinlichkeitsrechnung als von der Stärke der Wünsche beeinflußt. Die demokratische Grundlage des gesellschaftlichen Lebens hat jedem den Glauben beigebracht, daß er alles erreichen kann, wenn er nur die dazugehörigen Fähigkeiten aufweist. Es gibt, insbesondere im Osten und im Süden, eine gesellschaftliche Aristokratie, die sich selbst gebildet hat und die ihre Türen ängstlich dem „Neuankömmling“ verschließt. Sie besitzt keinerlei Rechte, die sie ihm vorenthalten könnte. Sie verfügt über keinerlei Genüsse, die sie für sich mit Beschlag belegen könnte. Solange er im Aufsteigen begriffen ist, weiß er überdies gar nichts von ihrem Dasein, da er glaubt, daß der wirtschaftliche Erfolg alles kaufen kann. Erst wenn er „arriviert“ ist, werden seine Frau und vielleicht seine Töchter einige Demütigungen empfinden. Aber alles das hat keine Wirkung auf seine Willensrichtung beim Aufstiege. Hier bestehen keine Schranken, die ihn am Emporkommen verhindern könnten. Es gibt in Amerika keine Stände, es gibt nur Stufen. Der einzelne steigt, seinen Fähigkeiten und seinem Glück entsprechend, hinauf und hinab. Er hat keine Rechte auf eine einmal erworbene Lebenshaltung. Niemand lehrt ihn, daß es seine Pflicht sei, dem einmal ergriffenen Berufe treu zu bleiben. Im Gegenteil. Es gibt keine geschlossenen Berufe. Es kommt nicht darauf an, den Befähigungsnachweis für einen Beruf durch ein Diplom zu erbringen, sondern darauf, daß man ihn erfolgreich ausübt. Der Europäer, insbesondere der Deutsche, ist bewußt spezialisierter Fachmann; der Amerikaner ist bewußt „Dilettant“. Er geht nicht immer so weit wie Henry Ford, der jeden neuen Zweig seiner Unternehmung nur einem Nichtfachmann anvertrauen will, er hat aber den Glauben des Pioniers behalten, daß der
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tüchtige Mann alles kann. Und da man in der technischen Ausgestaltung den Menschen mehr und mehr durch die Maschine ersetzt, so werden Intuition, Anstelligkeit und Findigkeit wichtiger als das Lehrzeugnis. Der einzelne ist also nicht darauf beschränkt, sein Schifflein in der schmalen Rinne des erwählten Berufes stromaufwärts zu rudern, das weite Meer des ganzen Wirtschaftslebens steht ihm offen, wo ein günstiger Wind ihm immer die Segel schwellen kann. Er weiß, daß das Meer andere Gefahren bietet als der enge Kanal. Er ist von der Zeit der Väter her gewohnt, zu riskieren. Der moderne industrielle Aufstieg ist sicher ungefährlicher, als es die Eroberung des Westens gewesen ist. Die Ängstlichen sind damals zu Hause geblieben, die Schwachen sind am Wege zusammengebrochen, die Tüchtigen haben das Ziel erreicht. Warum soll er weniger tüchtig sein als seine Ahnen? Er ist bereit, den vollen Einsatz zu zahlen. Er will in die Höhe kommen, Unternehmer werden, Kapitalist. Der eigene Arbeitgeber ist für ihn keine besondere Klasse, die ihm irgendwie von Natur überlegen wäre. Es hat wohl einmal ein Unternehmertum gegeben, im alten Neuengland sowohl als im Süden, das sich als eine besondere Klasse betrachtete und die Arbeiter als „Dienende“ ansah. Die Erschließung des Westens und der Bürgerkrieg haben den Begriff der Klasse endgültig ausgetilgt. Zwar hat sich in den Anfängen der kapitalistischen Konzentrationsbewegung bei den Eisenbahnmagnaten und gelegentlich in der Schwerindustrie eine Stimmung breitgemacht, daß der Unternehmer „Herr im Hause“ sei. Die Antitrustgesetzgebung hat indessen diesen Bestrebungen das Rückgrat gebrochen. Der Monopolismus ist zwar nicht beseitigt, er wird aber nur geduldet, solange der Monopolist darauf verzichtet, nach außenhin als Herrscher aufzutreten. Der Arbeitgeber scheint daher dem amerikanischen Arbeiter nicht als besondere Menschengattung. Er ist nicht „Wirtschaftler“, sondern „Geschäftsmann“, nicht „Bergherr“, sondern „Operationsleiter“ (Operator). Er ist nicht andersartig, nicht anderswertig. Er hat nur ein paar Nullen mehr hinter seinem Einkommen, das ist alles. Es ist eine bloße Quantitäts-, keine Qualitätsfrage. Der Arbeiter hat auf der anderen Seite auch nicht die Empfindung, daß er für einen Herrn arbeitet. Er arbeitet für sich. Der Unternehmer führt den Begriff des „Dienstes“ immer im Munde. Er will damit ausdrücken, daß seine Tätigkeit von sozialem Nutzen für das Gemeinwohl ist. Der Arbeitnehmer wendet dieses Wort nicht an. Für ihn hat der Begriff „dienen“ den Charakter der Unfreiheit. Ihm sind bezahlte häusliche Dienste eine Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit, selbst wenn sie nicht von Dienstboten, sondern von Hausangestellten verrichtet werden. Es ist Negerarbeit. Wenn der Weiße sie tun muß, macht er es schlecht und widerwillig. Dagegen ist er im industriellen Arbeitsverhältnis durchaus bereit, sein Bestes herzugeben, die Arbeit zu beschleunigen, sich geistloser mechanischer Verrichtung willig anzupassen, vorausgesetzt, daß er durch Mehrleistung mehr Lohn erzielt. Er sträubt sich nicht gegen Fordismus und Taylorismus, wenn sie nicht zum Lohndrücken verwendet werden. Denn die Arbeit ist ihm ein Mittel, Geld zu verdienen, aufzusteigen, kein Beruf, an den man seelisch gebunden ist.
274 | Der Blick nach Amerika Der amerikanische Arbeiter ist daher auch nicht geneigt, Einrichtungen zu fordern, die einen Sondernutzen für eine Sonderklasse haben. Er hat wenig Verständnis für soziale Versicherung. Er versteht das Wort Fürsorge überhaupt nicht; von seinem Standpunkt aus mit einem gewissen Rechte. Denn er will an allen Möglichkeiten des Lebens Anteil nehmen und sich nicht durch eine Rente den Verzicht auf den Aufstieg abkaufen lassen. Von den verschiedenen Arten der Sozialversicherung ist daher nur die Unfallversicherung in den Vereinigten Staaten weitverbreitet. In 42 Staaten besteht eine Unfallversicherungsgesetzgebung, in 38 Staaten herrscht Zwangsversicherung. Im ganzen dürften etwa 70 Proz. der Bevölkerung, für die die Unfallversicherung eigentlich in Frage käme, versichert sein. In einzelnen Staaten gibt es Krankenversicherung und Altersversicherung. Meist überläßt man die Versicherung privater Tätigkeit, obwohl selbst in einem so wohlhabenden Staate wie Kalifornien nur ein Drittel der Arbeitnehmer sich gegen Krankheit versichert hat. Man hat nur auf dem Gebiete der Versicherung gegen Arbeitslosigkeit sehr interessante und auch in gewissem Sinne erfolgreiche Versuche unternommen. Da die Gewerkschaftsbewegung nur einen verhältnismäßig kleinen und dazu sehr schwankenden Teil der Arbeiterbevölkerung umfaßt, ist sie als Organ der Fürsorge nicht an die Stelle des Staates getreten. Sie spielt, bei aller Macht einzelner Verbände, überhaupt nicht die gleiche Rolle wie in Europa, da der amerikanische Arbeiter im großen ganzen weder klassenbewußt denkt noch berufsmäßig gebunden ist. Er hängt der Gewerkschaft nur an, wenn sie ihm Vorteile zum Aufstieg bietet. Wenn der Unternehmer ihm günstige äußere Arbeitsbedingungen und hohe Löhne gewährt, so ist er oft genug bereit, auszutreten und sich entweder der von den Unternehmern organisierten bevorzugten Gewerkschaft anzuschließen oder auf Organisation zu verzichten, was heute als amerikanisches „System“ bezeichnet wird. Nach dem Niederbruch der Sklaven besitzenden Aristokratie des Südens ist die an und für sich schmale Schicht der Nichtarbeitenden, Muße Besitzenden fast verschwunden; nur spärliche neue Ansätze zu einer solchen Klasse haben sich gebildet. Daher fehlt auch der Hintergrund, von dem sich das Klassenbewußtsein einer Arbeiterschaft abheben könnte. Wer in Amerika wirklich nichts tun will, geht nach Europa. Vorübergehende Muße bieten Südkalifornien und Florida. Diese Vergnügungsstätten sind der täglichen Beobachtung der Arbeitenden entrückt; was diese davon lesen, spornt überdies höchstens zur Nachahmung an. Es gibt einstweilen noch keinen weitverbreiteten, ansässigen, weithin sichtbaren „Kulturkapitalismus“ wie in Europa, den man beneiden könnte, weil er nicht mehr im Wirtschaftsleben tätig sein muß. Er beutet zwar keine Arbeiter mehr aus; da er aber feiert, kann man ihn als Drohne befehden, wie es der profitgierige europäische Industriekapitalismus getan hat, der durch Ausbeutung Reichtum zu erraffen sucht, am Ergebnis dieser Ausbeutung aber seine kapitalistischen Mitarbeiter nicht gern teilnehmen läßt, wenn sie als Gläubiger die Zahlung ihrer Schuldzinsen verlangen. Da in den Verei-
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nigten Staaten alles tätig ist und da einstweilen noch keine breite Schicht bewußt beschaulich genießt, fehlt der Hintergrund eines Klassenbewußtseins, das sich auf dem Gegensatz von Arbeit und Muße aufbaut.
Die Demokratisierung der Bedürfnisse Ein erheblicher Teil der amerikanischen Arbeiter ist heute imstande, die Welt vom Standpunkt eines „bürgerlichen Kapitalismus“ zu betrachten. Einige der führenden Gewerkschaften haben „Arbeiterbanken“ begründet. Am 30. Juni 1926 bestanden in zwölf verschiedenen Staaten 36 Banken, deren Eigenkapital 9,4 Millionen Dollar ausmachte, während sie über insgesamt 127 Millionen Dollar verfügten. Unter der Masse der Sparer, deren Einlagen 21 Milliarden Dollar erreichten (1924), sind zahlreiche Arbeiter vertreten. Die großen Gesellschaften suchen ihre Aktien systematisch im kleinen Publikum und insbesondere bei ihren Arbeitern und Angestellten unterzubringen. Von den 80000 Aktionären von Armour & Co. sind fast die Hälfte Angestellte; 16358 Angestellte der Standard Oil Co. of New Jersey besitzen 864041 Anteile mit einem Marktwert von 38 Millionen Dollar. Über die Hälfte der Anteilseigner der New York Central Railroad sind Angestellte der Gesellschaft. Diese Unternehmungen werden nicht von Arbeiterausschüssen geleitet oder kontrolliert, die der Leitung kapitalistischer Anstalten etwa die sozialistischen Anschauungen von Betriebsräten aufdrücken wollen. Sie bleiben echt kapitalistische Unternehmungen, an deren Rentabilität ihre Arbeiter-Anteilseigner nach kapitalistischen Gesichtspunkten interessiert sind. Sie werden weder sozialisiert noch in der Verwaltung demokratisiert – auch in Amerika werden die Rechte des Kleinaktionärs nicht immer gewahrt –, es wird nur die wirtschaftliche Weltauffassung der Arbeiter kapitalisiert. Während in Rußland die bolschewistische Revolution die Klassenscheidung dadurch zu überwinden trachtet, daß sie den Bürger ausrottet und sein Neuentstehen verhindert, sucht die kapitalistische Revolution in den Vereinigten Staaten die Kluft dadurch zu überbrücken, daß sie den Arbeiter verbürgerlicht. Der amerikanische Arbeiter der begünstigten Schichten ist daher heute imstande, die materiellen Kulturgüter zu genießen, die die Sehnsucht des kleineren amerikanischen „Geschäftsmannes“ bilden. An der ganzen Westküste, aber auch in den kleinen Städten des Mittelwestens und des Ostens, lebt der Arbeiter im eigenen Hause; er fahrt im eigenen Wagen zur Arbeitsstätte; er ist außerhalb der Arbeitszeit wie der kleinere „Geschäftsmann“ gekleidet. Im Beruf gibt es eine „Berufskleidung“, die nach der technischen Zweckmäßigkeit unterschiedlich gestaltet ist, auf der Straße gibt es keine „Ständekleidung“. Neger und Chinesen erscheinen dort als rassenlose und klassenlose Amerikaner; nur Gesicht und Hände sind afrikanisch oder asiatisch. Wo Gott eine Vielheit geschaffen hat, täuscht der Massenschneider eine Einheit vor.
276 | Der Blick nach Amerika Der amerikanische Arbeiter steht sich vielfach besser als die kaufmännischen Angestellten und als die Mehrzahl der Intellektuellen. Ein Maurer in einer amerikanischen Großstadt hat ein wesentlich höheres Einkommen als ein jüngerer Dozent an einer durchschnittlichen amerikanischen Universität. Wer ein eigenes Haus hat und einen eigenen Kraftwagen, rechnet sich selbst nicht mehr den Besitzlosen zu, auch wenn er auf das Haus nur eine Anzahlung geleistet hat und das Automobil, in dem er heute fahrt, und den Anzug, den er heute trägt, nicht bezahlt hat, sondern nur ihre Vorgänger, die er entweder bereits verbraucht oder beim Umtausch in Zahlung gegeben hat. Die amerikanische Industrie ist durch das Streben nach Massenproduktion auf „Demokratisierung der Bedürfnisse“ eingestellt. Der Klassencharakter von Stellung und Lebensauffassung, der Europa erfüllt, hat dort natürlich auch zu einer klassenmäßigen Bedürfnisbefriedigung geführt. Europäische Bedürfnisse sind schichtenmäßig gegliedert, amerikanische sind massenmäßig zusammengefaßt. In Amerika fährt in den gewöhnlichen Eisenbahnwagen jedermann gleichmäßig schlecht, und jedermann fährt gleich bequem, der den Pullman benutzt. Es gibt zwar einige Luxusabteilungen in den Pullman; sie kosten viel und liegen über den Rädern. Natürlich entstehen auch in den Vereinigten Staaten die neuen Bedürfnisse zuerst in den wohlhabenden Schichten. Die auf Massenabsatz eingestellte Wirtschaft sucht aber sofort durch neue Herstellungsmethoden und verbesserte Organisation die Verbreitung der Bedürfnisbefriedigung herbeizuführen. Diese Demokratisierung der Bedürfnisbefriedigung ist gleichzeitig Vorbedingung und Ergebnis der Standardisierung. Die Verallgemeinerung der Bedürfnisbefriedigung verbilligt sie, die Verbilligung ermöglicht andererseits die Verallgemeinerung. Sie macht den Unternehmer durch Massenabsatz reich. Sie schafft den Neid der Armen auf die Reichen ab, da auch die Armen der Genüsse teilhaftig werden. Kino und Radio haben das Kulturmonopol gebrochen, das früher die Gebildeten besessen haben. Der Film vermittelt dem ungeschulten Auge Bilder von Leben und Kunst, die es durch naives Schauen, nicht durch lange geübtes gedankliches Zergliedern zu erfassen vermag. Das Radio gibt der Masse Wissen von Dingen und Vorgängen, die außerhalb ihres täglichen Tatenkreises geschehen und die ihnen durch primitives Erzählen, nicht durch abstraktes Wesen, gegenständlich werden. Die Fülle des Wesens ist ihr in Formen zugänglich gemacht, die weder langjährige technische Vorbereitung noch tief bohrende häusliche Einstellung erfordern. Was die Gebildeten in der Vergangenheit durch Schulung des abstrakten Denkvermögens sich als bloße Vorstellung mühselig aneignen konnten, schenken die Wunder der modernen Technik den Massen in müheloser farbenprächtiger Anschaulichkeit. Das Ausmaß der persönlichen Fühlungnahme mit den Dingen dieser Erde weitet sich, so daß die Wißbegierigen – oder sind es nur Neugierige – die ganze Welt umfassen könnten. Sie können diese wissenschaftsgespannte Umwelt mit den gleichen Mitteln begreifen, mit denen sie das Wesen der Nachbarschaft zu verfolgen geartet waren. Mit dem eigenen lebendigen Auge und dem lauschenden Ohr. Das Gedankli-
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che, das sauer erworbene Erbe der Gebildeten, verliert an Wert und mit ihm wohl die Kunst, als individuelles Schaffen. Das Leben aber wird reicher und freier. Das Automobil ist vielleicht das revolutionärste Element in der gerade seßhaft werdenden amerikanischen Gesellschaft geworden. Es verleiht dem einzelnen in einem Lande der vorzüglichen Straßen ein neues Gefühl der persönlichen Freiheit. Es löst ihn von der Gebundenheit der Mietskasernen und der Eintönigkeit der Farm los. Es gibt ihm eine Freizügigkeit, die seit dem Mittelalter nicht einmal der wandernde Handwerksbursche, sondern nur der Vagabund besessen hat. Es führt beinahe zu einer neuen Gliederung der Gesellschaft: Nur wer einen Wagen hat, ist persönlich frei; die anderen sind gebunden. Und innerhalb der Schichten, denen das Automobil Frohheit und Freiheit gebracht hat, gliedert sich eine Art feudaler Gesellschaft nach dem Wagentyp, den man fährt. Der gewöhnliche Mann besitzt einen Ford, der nicht länger als Automobil gilt und gesellschaftlich kaum wesentlich höher steht als ein Motorrad. Es ist eine bloße Blechbüchse (tin-lizzy). Der gelernte Arbeiter, der etwas auf sich hält, fährt in einem Chevrolet und vielleicht gar in einem Dodge. In dieser neuen Völkerwanderung, die die Menschen in immer weiter werdenden Bogen um Arbeitsstelle und Wohnstätte kreisen läßt, bilden sich Gesellschaftsklassen nach Wagentypen und Wagenkosten.
Der Herr der Wirtschaft Der amerikanische Kapitalismus sieht die Voraussetzung seines Erfolges in einer arbeitsteiligen Wirtschaft gegeben. Sein eigentliches Ziel ist der Verkauf unter der Produktion. Er denkt nicht länger technisch, sondern geldwirtschaftlich. Er hat begriffen, daß sein Absatz vom Einkommen seiner Kunden bedingt wird. Also treibt er Kundenpflege und Kundenfang. Er ist nicht in der engstirnigen Vorstellung befangen, die gelegentlich die deutsche Schwerindustrie beherrscht hat, die am liebsten die „kundenfreie Wirtschaft“ einführen möchte. Er weiß, daß seine Aufträge von der Verwendung des Einkommens der Kunden abhängen. Sie können es auf verschiedene Weise verwenden. Es ist also nötig, den Kunden zu veranlassen, möglichst viel auszugeben und einen möglichst großen Teil seiner Mittel in dem gewünschten Erwerbszweig anzulegen. Dazu bedarf es einmal des „Sonnenscheins“, jener optimistischen Atmosphäre, die das Geldausgeben erleichtert, und zum anderen der Anpreisung, der Kunst, dem Konsumenten Bedürfnisse zu suggerieren. Die amerikanischen Werber sind Meister darin, „Sonnenschein“ zu schaffen und Bedürfnisse zu erwecken. Wer die Seele des durchschnittlichen amerikanischen Bürgers wirklich verstehen will, sollte nicht die ernsthaften, auf Probleme eingestellten amerikanischen Wochen- und Zeitschriften lesen, sondern die in Philadelphia erscheinende „Saturday Evening Post“ abonnieren (sie erreicht 10 Millionen Leser), die er für 5 Cent haben kann. Dort findet er nicht nur rührende Geschichten, die ihm die naive Romantik des amerikanischen
278 | Der Blick nach Amerika Lesers zeigen, wie der Film ihm die Seele des amerikanischen Kinobesuchers erschließt; er kann vielmehr in den Anzeigenblättern, mit denen die Geschichten durchschossen sind, sehen, wie man „Sonnenschein“ macht. Die amerikanische Industrie hat begriffen, daß man nur produzieren kann, wenn man verkaufen kann. Eine neue Wissenschaft, die „Kunst zu verkaufen“ ist erstanden, deren Ergebnisse in zahlreichen Lehrbüchern niedergelegt sind. Der Herr der Welt ist der Kunde, der Mann, der Bedürfnisse hat und für ihre Befriedigung frei entscheiden kann, wofür er sein Einkommen verwenden will. Ihn muß man gewinnen. Man drückt das nicht roh aus, denn nichts ist im Geschäftsleben wertvoller als süße Sentimentalität. Man spricht vielmehr vom „sozialen Dienst“ und meint damit den sehr gesunden Gedanken, daß man dem Käufer eine Ware geben muß, bei der er, sei es dem Preis oder der Qualität nach, die Empfindung hat, man habe ihm einen Dienst erwiesen. Dazu muß man aber das Bedürfnis geweckt haben. Und um das Bedürfnis zu wecken, muß man den etwaigen Kunden in die richtige Stimmung versetzen, damit er die richtige Ware kauft. Der eigentliche Wettbewerb spielt sich heute vielfach also nicht in dem eigenen Geschäftszweig ab, obwohl er dort manchmal so heftig ist, daß die begehrtesten Artikel an Qualität zurückgehen. Sie sind in ihrem Absatz an eine große Reklame gebunden. Die Kosten der Reklame sind so hoch, daß kein Gewinn bleibt, wenn man das Produkt nicht verschlechtert. Eine Verschlechterung des Produktes bei gleichbleibendem oder wachsendem Absatz ist manchmal ungefährlicher als eine Einschränkung der Reklame mit der unfehlbar folgenden Absatzverminderung. Die entscheidende Konkurrenz ist der Wettbewerb der Bedürfnisse. Wenn z. B. die Prohibition den Mann am Trinken verhindert, so spart er Einkommen; er kann seiner Frau seidene Strümpfe kaufen und die Familie am Sonntag in einem Automobil spazierenfahren. Unter diesem Wettbewerb des Automobils leidet aber unter Umständen die Schuhindustrie – bis sie sich auf die neuen Bedürfnisse nach leichterem Schuhwerk eingestellt hat –, da die Millionen Selbstfahrer natürlich nicht die gleiche Sohlenabnutzung haben wie die Fußgänger in der Zeit, wo der Schuh noch etwas anderes war als ein am Fuß getragener Handschuh. Der Wettbewerb verschiedener Güter setzt ohne große Schwierigkeiten ein, wenn es sich um Waren in einer ähnlichen Preisklasse handelt. Da aber der Kaufpreis eines Automobils, auch wenn es noch so billig ist, das Vielfache des Preises der größten Alkoholmengen darstellt, die das Individuum auf einen Satz – in Amerika hätte man besser gesagt: auf einen Stand – verzehren kann, so muß man entweder das Einkommen der Konsumenten so steigern, daß sie sich auf einen Schlag ein Automobil kaufen können, oder man muß den Preis des Automobils durch Zahlungsbedingungen so splittern, daß er sich den gewohnten Wochenausgaben für Schnaps und Bier anpaßt. Da das Automobil bestimmten physischen Anforderungen genügen muß, kann man es nicht ohne weiteres durch schlechte Ausstattung in die Verbrauchssphäre der kleineren Einkommen rücken. Da sich andererseits sein Gebrauch und seine Abnutzung über eine längere Frist erstrecken, kann man die Be-
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zahlung über die Konsumperiode verteilen und in Raten stückeln. Das ist der psychologisch richtige Sinn des Abzahlungsgeschäfts in der Automobilindustrie; ein Sinn, der gerade dort unbestreitbar ist, weil das Automobil meist gegen ein neues vertauscht wird, ehe sein physisches Leben zu Ende ist. Kleider, die man auf Abzahlung kauft, sind zur Zeit, wo die Abzahlung vollendet ist, kaum noch etwas wert; das Automobil kann man aber entweder im Austausch gegen ein neues verwenden oder nach Südamerika exportieren, wenn man es nicht auf einem der zahlreichen Automobilfriedhöfe stehen läßt, die das ganze Land bedecken.
Konsumentenfinanzierung Dieser grundsätzlich richtige Gedanke hat sich in der Verbreitung des Abzahlungsgeschäfts in den verschiedensten Geschäftszweigen durchgesetzt. Da die Produktionskosten mit zunehmender Ausdehnung der Produktionsanlagen sinken – vorausgesetzt, daß eine annähernde Vollausnutzung möglich wird –, ist die Rentabilität der bestehenden Anlagen nur bei weitgehender Ausnutzung gesichert. Eine solche Ausdehnung ermöglicht natürlich niedrigere Preise, die ihrerseits wieder erneute Ausdehnung und erneut fallende Preise zur Folge haben. Die Steigerung des Absatzes kann aber trotz niedriger Preise nicht erreicht werden, wenn der Gesamtpreis der Ware einen unverhältnismäßig hohen Betrag des Gesamteinkommens der möglichen Kunden in Anspruch nimmt. Angestellte und Arbeiter beziehen ihr Jahreseinkommen in Wochenraten. Ihr Verbrauch an verhältnismäßig kostspieligen Gegenständen, wie Autos, Klaviere, Gefriermaschinen, Möbel, Häuser, Obligationen und Radios kann daher nur befriedigt werden, wenn die Zahlung ratenweise erfolgt. In vielen Geschäftszweigen ist diese Methode immer üblich gewesen. Ihre Anwendung auf neue Waren bringt natürlich diese Waren in Wettbewerb mit anderen Waren. Längst „demokratisierte“ Waren, wie Kleidung und Schuhe, leiden dann zweifelsohne, zum mindesten vorübergehend, durch die Demokratisierung neuer Waren, wie das Auto oder der Funkapparat. Gleichbleibende Gesamtausgaben verteilen sich dann natürlich in verändertem Verhältnis auf verschiedene Gütergattungen. Diejenigen Produzenten, die sich durch die Verschiebung benachteiligt fühlen, beginnen zu moralisieren. Die Waren, die sie selbst herstellen, werden als nützliche und notwendige Waren bezeichnet, bei denen eine Konsumsteigerung volkswirtschaftlich erwünscht ist. Bei diesen gilt die Erleichterung des Verbrauches durch bequemere Zahlungsbedingungen als berechtigt. Die Konsumsteigerung anderer, „nutzloser“ Waren wird dagegen vom volkswirtschaftlichen Standpunkt aus bekämpft. Solche Gedankengänge passen in eine mittelalterlich-ständische Gesellschaft, die mit einem moralischen Luxusbegriff operiert. Sie wären auch in einer sozialistischen Wirtschaftsordnung durchaus verständlich. In einer kapitalistischen Gesellschaft gibt es außerhalb des Strafgesetzbuches keine unmoralischen Genüsse und
280 | Der Blick nach Amerika keinen berechtigten oder unberechtigten Konsum. Die Produktion, die mit Gewinn betrieben werden kann, ist berechtigt, der Konsum, der bezahlt wird, ist zulässig. Wenn der Konsument nichts zurücklegt und alles verbraucht, gefährdet er sich zweifelsohne persönlich, falls ihm etwas zustößt. Die Wirtschaft als Ganzes untergräbt er damit noch lange nicht. Es ist vom Standpunkt der Produktion aus gesehen viel zweckmäßiger, daß der Konsument sein Einkommen zu Käufen verwendet, die ein bestehendes Unternehmen rentabel machen, als daß er seine Ersparnisse durch die Banken ausdehnungslustigen Produzenten als Kredit zur Verfügung stellt. Der Konsum, nicht die Produktion, ist der Zweck der Wirtschaft. Ein Unternehmen, das ausschließlich mit eigenen Mitteln arbeitet und von allen Kunden Barzahlung erhält, ist natürlich besser daran als ein solches, das Kredit nehmen oder gewähren muß. Das gleiche gilt für eine ganze Volkswirtschaft. Wenn zur Produktion oder zur Konsumtion an einer Stelle Kredit nötig ist, so ist das immer ein Zeichen nicht völliger Saturierung. Eine solche Saturierung ist in der modernen Welt ausgeschlossen. Auf irgendeinem Punkt der langen Stufenreihe, die moderne Waren von der Urproduktion bis zum letzten Konsumenten durchlaufen, findet immer ein zeitliches Auseinanderfallen von Lieferung und Zahlung statt. Selbst in den kapitalkräftigsten modernen Unternehmungen pflegt die Arbeiterschaft dem Unternehmer ihre Leistungen eine Woche lang bis zur Lohnzahlung am Wochenende vorzuschießen. Stundungen und Vorschüsse von den einfachsten bis zu den kompliziertesten Formen sind daher unvermeidbar. Und sie sind möglich, weil sich Geldüberschüsse an den verschiedensten Punkten automatisch ansammeln, von denen aus sie durch geschickte Leitung den Stellen des Geldbedarfs zugeführt werden. Eine Finanzierung der Unternehmungen durch Käufe der Kunden ist grundsätzlich viel wirtschaftlicher als die Finanzierung durch Produktionskredite. Muß sich der Kunde die Zahlung vorschießen lassen, um sie später aus seinen Einkommen abzudecken, so ist das natürlich nicht so peinlich, als wenn sein Einkommen ohne Kreditnahme zur Befriedigung des fraglichen Bedürfnisses ausreicht. Der Konsumkredit, der ein fälliges Einkommen vorwegnimmt, ist indes an und für sich unbedenklicher, als der Produktionskredit, der über den künftigen Absatz verfügt. Der eine ermöglicht die Anpassung der Produktionsanlagen an den wirklich vorhandenen Bedarf, der andere führt zur Ausdehnung der Produktionsanlagen, denen erfahrungsgemäß häufig der Absatz fehlt. Sie versuchen dann, den fehlenden Absatz durch monopolistische Preisbildung zu ersetzen, d. h. sie trachten, Verzinsung und Rückzahlung der geliehenen Kapitalien und die Rentabilität der durch Produktionskredite aufgeblähten Anlagewerte sich hinterher von den Konsumenten finanzieren zu lassen, denen sie bei hohen Preisen wenig für ihr Geld geben. An und für sich sollte es überdies für ein Unternehmen angenehmer sein, Forderungen an letzte Kunden zu haben, als eigenen Lieferanten und Banken Geld schuldig zu sein. Geht man mit der nötigen Vorsicht zuwege, so kann eine Gefahr in beiden Fällen nur bei einer allgemeinen Krise eintreten. Dann können die Abnehmer nicht zahlen, die Anzahlungen verfallen, man hat eine große Anzahl gebrauchter Gegenstände auf La-
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ger. Der neue Absatz stockt; man besitzt Forderungen, die nicht viel wert sind. Ist diese Lage wirklich schlimmer als diejenige eines Unternehmens, das infolge der Krise keinen Absatz hat und damit keine Eingänge, statt der Forderungen aber nur Schulden besitzt? Selbst wenn man die Inflationsmoral, daß der industriell tätige Schuldner immer das ungeschriebene Recht besitzt, seine Gläubiger zu betrügen, als geltendes Recht betrachtet, so ist doch der letzte Kunde des Abzahlungsgeschäfts persönlich ein Privatmann, der sich nicht hinter Geschäftsaufsicht versteckt und der es noch als selbstverständlich ansieht, seine Schulden zu bezahlen. Wenn der Produzent den Kredit nicht selbst an den Käufer gewährt, dafür aber ein besonderes Finanzinstitut, eine Art „Konsumentenwechsel“ diskontiert, so vermindert sich dadurch nicht nur sein Risiko; er wird ins besondere auch der Notwendigkeit enthoben, seine eigenen Mittel den Konsumenten als Bankier vorzuschießen. Er kann mit geringerem Kapital arbeiten und Risiko und Überwachung der Schuldner dem Finanzinstitut überlassen. Dieses Institut diskontiert das meist in Raten fällige Einkommen des Käufers. Es ermöglicht so den Kauf „kostspieliger“ Güter. 70 Prozent der Automobile, 80 Prozent aller Grammophone, 75 Prozent der Waschmaschinen und der größte Teil der Klaviere, Nähmaschinen, Radios, elektrischen Eismaschinen werden durch Abzahlungsgeschäfte verkauft. Von insgesamt 40 Milliarden Dollar Verkäufen, die der amerikanische Einzelhandel tätigt, kommen etwa 6 Milliarden, d.h. 15 Prozent, auf Abzahlungsgeschäfte. Die ausstehende Schuld ist etwa 2750 Millionen Dollar (darunter 1500 für Automobile), was gegenüber einer Gesamtkreditgewährung von 120-130 Milliarden nicht ins Gewicht fällt. Es ist natürlich möglich, daß manche Konsumenten ihren Verbrauch übersteigern, so daß nicht genügend Rücklagen für sie übrigbleiben und sie der Allgemeinheit zur Last fallen. Wenn es sich nicht nur um einzelne Individuen, sondern um ganze Schichten handelt, so müßte man die Folgerung ziehen, daß diese Schichten zwar im Erwerbsleben selbständig handeln können, daß sie aber nicht imstande sind, ihren Verbrauch richtig zu regeln. Die patriarchalische Konsumentenkontrolle, die dadurch bedingt wäre, ist in der Praxis nicht durchführbar. Ein Nachweis der Schädigungen in dieser Richtung ist einstweilen nicht erbracht worden. Die Kapitalbildung der amerikanischen Volkswirtschaft als Ganzes hat sicher nicht gelitten; es steht nicht einmal fest, ob die Spartätigkeit in den Kreisen, die sich des Abzahlungsgeschäfts bedienen, überhaupt nachgelassen hat. Die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse durch Konsumtion zunehmender Gütermengen und Güterarten trägt zur Vermehrung sozialer Zufriedenheit bei. Der klassenkampffeindliche Charakter des amerikanischen Wirtschaftslebens, der auf der Vorstellung beruht, daß die Masse der Lebensgenüsse nicht Vorrecht einer Klasse oder einer Einkommensstufe sein darf, erhält durch diese Ausdehnung des Konsums neue Kraft. Sie ermöglicht auf der einen Seite die lebendige Anteilnahme aller an jedem der Bedürfnisbefriedigung dienenden technischen Fortschritt, da die amerikanische Demokratie weiß, daß es sich um ihre Interessen handelt. Auch wenn das
282 | Der Blick nach Amerika Ergebnis zeitweilig nur wenigen erreichbar ist, so zielt man doch von Anfang an darauf ab, den Klassenartikel zu einem Massenartikel zu machen. Auf der anderen Seite führt eine sich immer wiederholende Verschuldung zu einer Bindung des Menschen an die Arbeit. Arbeiter und Angestellte leben in einer Art dauernder Schuldknechtschaft. Sie haben sie auf sich genommen, um durch sie ein genußreicheres Leben führen zu können. Sie können sie nicht abschütteln, nicht, weil der alte Gläubiger auf alten Forderungen beharrt, sondern weil nach Tilgung der alten Verpflichtungen neue Bedürfnisse zu neuer Verstrickung verlocken. Da Arbeitgeber und Gläubiger völlig getrennte Personen sind, empfindet der Schuldner das Verhältnis nicht als „Péonage“. Der Herr, dem er seine Arbeitskraft verpfändet hat, ist nicht sein Arbeitgeber, sondern der Lebensgenuß, den er sich durch immer erneute Anspannung zu verschaffen sucht. Und da dieser Lebensgenuß das Leben nicht nur verschönt, sondern auch verbilligt – man denke nur an Waschmaschinen, Fahrten im Auto zur Arbeitsstätte –, so schafft diese Konsumtion neue Produktivkräfte. Die Ausdehnung des Abzahlungsgeschäfts ist daher eine logische Folge der Prosperitätspolitik gewesen. Man befriedigt die Massen nicht nur, indem man die Genüsse demokratisiert; die Demokratisierung der Genüsse führt ihrerseits zu einer Steigerung des Absatzes, damit zu fallenden Preisen und zu steigenden Löhnen in den sich ausdehnenden Industrien und zur Freisetzung von Kaufkraft in den Löhnen der konsumierenden Industrien. Denn wenn die Verteuerung der einzelnen Waren für Käufer auf Raten zwischen 11 und 40 Proz. beträgt, so holt die Verminderung der Produktionskosten infolge des steigenden Absatzes aller Wahrscheinlichkeit nach diese Verteuerung ohne weiteres ein. Die Verschuldung durch das Abzahlungsgeschäft schreckt überdies die Amerikaner nicht. Amerika ist in gewissem Sinne durch Abzahlungsgeschäfte groß geworden. Die Landverkäufe zu niedrigen Preisen durch Bund und Staaten und die Finanzierung der Farmer durch die Banken stellen in ihrer Art ein riesenhaftes Abzahlungsgeschäft dar. Der unverwüstliche Optimismus des amerikanischen Volkes, der das Ergebnis klimatischer Verhältnisse und praktischer Lebensfolge sein muß – denn die Pilgerväter waren eigentlich sauertöpfische Pessimisten –, rückt überdies alle amerikanischen Geschäfte, insbesondere das Kreditgeschäft, in eine andere Atmosphäre, als sie in Europa herrscht. In den Vereinigten Staaten weiß man, daß es gut gehen muß, denn es ist noch immer gut gegangen. Und wenn es einmal schief gehen sollte, schadet es auch nichts. Es wird nur eine vorübergehende Schwierigkeit sein. Der wichtigste Beitrag, den Amerika im vorigen Jahrhundert zur Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung beigesteuert hat, ist die „Ehrlichmachung des Bankerotts“. In Amerika ist Umwerfen keine Schande, solange es nicht in betrügerischer Weise geschieht. Es ist ein Ereignis wie ein Wirbelsturm oder eine Überschwemmung, für die man die Betroffenen nicht verantwortlich macht. Sie werden sich erholen, wenn der Orkan vorüber ist.
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Das Abzahlungsgeschäft in Amerika ist daher in normalen Zeiten ein Geschäft, bei dem man keine größeren Risiken läuft als bei irgendeinem anderen Geschäft. Die Verluste bei der General Motors Corporation, die seit 1909 über 800 Millionen Dollar Konsumentenkredit gewährt hat, haben weniger als ein Fünftel Prozent betragen. Diese niedrige Quote kann leicht auf den Preis aufgeschlagen und von allen Kunden getragen werden. Die Gefahr liegt also nicht sowohl in der unvernünftigen Ausdehnung des Verbrauchs von Häusern, Möbeln, Kleidern und Radioapparaten, sondern in der Möglichkeit einer allgemeinen Krise. Daraus kann man aber nur den Schluß ziehen, daß man eine allgemeine Krise verhindern muß, nicht aber, daß man sich in normalen Zeiten beim einzelnen Geschäft bereits auf eine allgemeine Krise einrichten soll. Amerika hat bis vor kurzem immer Krisen von einer in Europa nichtgekannten Heftigkeit gehabt. Sie gehörten nach amerikanischer Auffassung zum amerikanischen wirtschaftlichen Klima wie Schneestürme (Blizzards), Erdbeben und Orkane zu seinem physischen Klima. Kein Mensch in San Francisco denkt daran, nur einstöckige Holzhäuser zu bauen, die ein künftiges Erdbeben verschonen würde. Man baut Wolkenkratzer, besser und fester als früher, und läuft das Risiko. Nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeitsrechnung besteht ja gerade nach einer Katastrophe die Aussicht auf ein paar Jahre Schonung, während deren man sich erholen kann. Im Wirtschaftsleben denkt man ähnlich.
Der Optimismus als Produktionsfaktor Der Optimismus des erfolgreichen Grundstücksspekulanten hat seine Berechtigung im Gange der amerikanischen Entwicklung bis heute erwiesen. Daher kommt es vor allen Dingen darauf an, zu glauben, daß es gut gehen wird, und anderen diesen Glauben beizubringen. Der Amerikaner ist auf religiösem Gebiete längst zu der Überzeugung gelangt, daß ihm die Erlösung sicher ist, wenn er sie durch den konzentrierten festen Glauben an Gottes Güte erzwingt. Er hat sich seit langem von dem Zweifel der strikten Calvinisten befreit und sich Kirchen zugewandt, die ihm sicheres Heil verheißen. Der äußere Erfolg der ,,christlichen Wissenschaft“ in den wohlhabenden Schichten geht nicht zum wenigsten auf deren menschlich bequeme Einstellung zum Problem der Erlösung zurück, die in Sünde und Krankheit nur die Einbildungen eines zweifelnden Gemüts sieht, die durch Glaubenwollen überwunden werden. Die gleiche zielbewußte Selbstüberredung übt der Amerikaner auf wirtschaftlichem Gebiete aus. Ein guter Teil der amerikanischen Energie wird heute auf die Schaffung einer optimistischen „Atmosphäre“ verwendet. Man veranstaltet einen „Sonnenscheinfeldzug“ – sunshine campaign, wie man es so hübsch ausdrückt –, um das Abflauen der Konjunktur zu verhindern. Wie man in den Straßen einer Großstadt zur Überwindung der Staubplage einen Park von Sprengwagen verwendet, so sprenkelt man Optimismus auf den Wegen, die zum Markte führen. Man
284 | Der Blick nach Amerika lügt sich nicht selbst an, indem man ungenügende Statistiken vornimmt und sich hinter der eignen Unwissenheit Mut zuspricht. Man sammelt vielmehr eifrige Statistiken über alle Dinge, die man wissen kann, und über viele, die man nicht wissen kann. Man ist tatsachendurstig und studiert die Konjunktur an einem Tatsachenmaterial, das für einen Nationalökonomen geradezu eine Freude ist. Man malt Schaubilder, Kurven, Skalen; man pflegt sich ein sehr klares Bild der tatsächlichen Verhältnisse zu machen. Nachdem man über die Tatsachen ins Reine gekommen ist, macht man sie geschickt auf, um auf Menschen zu wirken. Man fabriziert Optimismus und verkündet ihn laut. Die Führer der Industrie werden nicht müde, aus den Statistiken nachzuweisen, daß die Prosperität dauern müsse. Diese Bestrebungen sind nicht unberechtigt. Aus wirtschaftlichen Krisen sind in den Vereinigten Staaten immer wieder leidenschaftliche soziale Bewegungen hervorgegangen, die nicht fernen, sorgsam durchdachten Zielen zustrebten, wie etwa der deutsche Sozialismus, sondern in unvermitteltem Aufbäumen erregter Empfindungen die augenblickliche Verwirklichung ihrer Forderungen verlangten. Der deutsche Radikalismus ist eine geistig gründliche, praktisch harmlose Beschäftigung mit Gedanken. Er ist immer gewillt, das Problem rücksichtslos bis zu Ende durchzudenken; wenn er die Lösung gefunden zu haben glaubt, ist er nur in beschränktem Maße an ihrer Durchführung interessiert. Der amerikanische Radikalismus faßt das Problem meist nur an seinen vorspringenden Ecken und Kanten an. Sobald er zu einem nur halbwegs einleuchtenden Schluß gekommen ist, setzt er sich für restlose Durchführung ein. Der deutsche Radikalismus ist theoretisch interessant und praktisch ungefährlich, der amerikanische dagegen ist praktisch insbesondere deswegen gefährlich, weil er theoretisch nicht tief geschürft hat. Das amerikanische Volk ist ungeduldig; es hat bei aller Gutmütigkeit eine Neigung zur Gewalttätigkeit. In seinem Innern schlummern noch ungebändigt die Instinkte eines Grenzertums, das an Selbsthilfe glaubt und, wenn es sich gefährdet sieht, zupackt und nicht wartet. Gefühlsmäßig steht es einem organisch-kollektivistischen Sozialismus völlig ablehnend gegenüber. Ein praktischer, alles zertrümmernder Anarchismus liegt ihm sehr viel näher.
Der erste Kapitalismus als soziales Problem Diese Gefahr kann nur durch ein gesellschaftliches System überwunden werden, das keinen Raum für eine Erhebung der Unzufriedenen läßt. Die breiten Massen der amerikanischen Bevölkerung sind nicht homogen. 35,3 Millionen Fremdgeborene sind im Laufe eines Jahrhunderts herübergekommen. Ein Teil von ihnen ist scheinbar restlos in den Typus des Amerikaners umgeschmolzen worden. Millionen anderer sind nur notdürftig assimiliert worden. In vielen Industrien, ja in vielen Gegenden dominieren die Fremdgeborenen. Man hat den Nachschub durch Änderung der Einwanderungsgesetzgebung künstlich gedrosselt, um die Einschmelzung zu be-
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schleunigen. Das Ziel kann trotz dieser Maßnahmen nur erreicht werden, wenn man die Fremdgeborenen und ihre Kinder durch sozialen Aufstieg so mit dem amerikanischen Leben verknüpft, daß sie die Wurzeln des eigenen Daseins, die in fremden Tiefen liegen, in der Verwipfelung in amerikanischen Höhen vergessen. In diesen europäischen Gehirnen lebt, anders als in denen der geborenen Amerikaner, der Neid der Enterbten und der Haß der Getretenen noch fort. Diesen Kindern der unterdrückten Klassen ist der Gedanke des Klassenkampfes eingeboren. Bei ihnen findet die Vorstellung, daß der soziale Fortschritt nicht durch Versöhnung der Klassen, sondern nur durch gewaltsame Überwindung der bis dahin herrschenden Schichten erfolgen könne, einen fruchtbaren Boden. Sie, insbesondere Deutsche und russische Juden, sind schon vor dem Kriege Träger des Sozialismus gewesen, die einen, weil der Gedanke eines organisierten Staates ihr Gemüt ergriff, die anderen, weil der Haß der Unterdrückung tief in ihren Herzen brannte. Sie haben außerhalb bestimmter Gebiete, wie der Staat Wisconsin und die Stadt Neuyork, keine Rolle gespielt. Selbst wenn sie zu einer Zeit heftigster Wirtschaftskrisen Mitläufer fanden, stellten sie stets eine machtlose Nebenbewegung dar, die nur bei einer einzigen Präsidentschaftswahl 6,2 Proz. der abgegebenen Stimmen erreichte. Es ist nicht damit zu rechnen, daß sie in absehbarer Zeit das organische politische Leben des Landes machtvoll beeinflussen werden. Minderheiten, die keine Aussicht haben, in absehbarer Zeit zu Mehrheiten zu werden, sind aber nur solange harmlos, als sie den Glauben hegen, Minderheiten seien verpflichtet, sich dem Willen der Mehrheit geduldig zu fügen. In einem Lande wie die Vereinigten Staaten, wo die Gewalttätigkeit ungebärdiger Minderheiten die demokratische Tradition wieder und wieder gefährdet hat, mußte der Sieg des russischen Bolschewismus einen tiefen Eindruck machen. Er verkündete das Recht auf Herrschaft einer zielbewußten, gewalttätigen Minderheit. Er hat es in der Praxis verwirklicht und den Versuch gemacht, dem einzigen Lande Europas, dessen Raumverhältnisse amerikanisch sind, ein soziales System aufzuzwingen, das die Verneinung aller amerikanischer Ideale ist und das dabei doch in seiner rücksichtslosen Vernichtung aller gesellschaftlichen Unterschiede, in seiner Glorifizierung der Technik, in der Demokratisierung des Schulwesens und in der fanatischen Propaganda manche amerikanischen Züge trägt. Würde dieses System, das nicht länger eine bloße Theorie ist, tatkräftige Schichten des amerikanischen Volkes ergreifen, so wäre das gesamte soziale Leben Amerikas gefährdet. Denn wenn sich der schrille Fanatismus enttäuschter Fremdgeborener mit der Zügellosigkeit eines eingepferchten Grenzertums verbände, dem der altgewohnte Weg ins Freie verschlossen ist – die Explosion könnte furchtbar werden. Und hinter diesen steht noch ein dunkles Rätsel: Die Millionen Neger, die der Süden aufgezogen hat, beginnen von den Pflanzungen in die Gruben und die Fabriken zu strömen. Sie werden zu einem Industrieproletariat, in dem sich primitive antikapitalistische Stimmungen einer sich erst bildenden Arbeiterklasse mit ebenso primitiven Rasseninstinkten gegen eine dominierende Herrenschicht verbinden.
286 | Der Blick nach Amerika Amerika kann gegen die Gefahren, die sich aus seiner sozialen Vielgestaltigkeit ergeben, nur gesichert werden, wenn sein soziales System die Einschmelzung aller fremdgerichteten Bevölkerungen in ganz anderem Ausmaß vollendet, als sein politisches System bisher getan hat. Man kann Neger und fremdgeborene Proletarier nur dann erfolgreich amerikanisieren, wenn man sie dauernd am amerikanischen Wohlstand beteiligt. Die Vereinigten Staaten sind das einzige große Land der Erde, das einen „echten“ Kapitalismus besitzt. Bei allen anderen Völkern fällt der Schatten einer feudalen oder einer kastenmäßig-militaristisch gebundenen Vergangenheit immer noch über die Pfade einer demokratisch-industriellen Gegenwart. Nur in den Vereinigten Staaten mit ihrem freien Land und ihrem ungebundenen Landsystem sind die Voraussetzungen des echten kapitalistischen Systems, der freie Wettbewerb, annähernd vorhanden gewesen. Dank diesem Geiste des Wettbewerbs, der die Massen beseelte, sind die gewaltigen natürlichen Hilfskräfte des Landes erschlossen worden, so daß es zum reichsten der Erde geworden ist. Es ist heute noch in seinem Denken weder feudal-agrarisch noch proletarisch-kommunistisch, sondern bürgerlich-kapitalistisch. Es hat einen Kapitalismus geschaffen, dessen technische Ausrüstung den Menschen die Herrschaft über die Natur gesichert und ihre Produktionsfähigkeit ins Maßlose gesteigert hat. Nun muß es diese Produktion so leiten, daß das Einkommen der Massen, ausgedrückt in Güterverbrauch, dauernd zunimmt. Es muß dem technischen Erfolg des Kapitalismus einen sozialen nachfolgen lassen und dafür Sorge tragen, daß die Schichten, die als Arbeiter kein oder wenig Eigentum besitzen, durch die wachsende Kaufkraft steigender Löhne einen immer reichlicheren Anteil an den Genüssen des Lebens erhalten. Der Kapitalismus muß nicht nur von den kapitalbesitzenden Klassen, sondern auch von den Lohnempfängern als Segenspender anerkannt werden. Er muß einmal danach trachten, daß Eigentum, sei es an Land, an Häusern, an Ersparnissen oder an Anteilen, einem stets wachsenden Bruchteil der Bevölkerung zuwächst, er muß zum anderen dafür sorgen, daß die Arbeitskraft der Vermögenslosen durch Kuppelung mit immer mächtiger werdenden mechanischen Hilfskräften an Ergiebigkeit immer zunimmt und damit ihre Verfügungsmöglichkeit über Waren und Leistungen dauernd vermehrt wird. Wenn sich das amerikanische Leben für alle, die in ihm tätig sind, dauernd erweitert, wird keine europäische Theorie stark genug sein, die „Harmonie der Interessen“, die ein modernes Unternehmertum erstrebt, zu zerreißen. Der amerikanische Kapitalismus will den europäischen Sozialismus dadurch überwinden, daß er der Arbeiterschaft nicht nur Beteiligung am Kapital, sondern insbesondere zunehmende Beteiligung am Sozialprodukt durch Löhne gewährleistet, deren Kaufkraft schneller steigt als die Preise der Waren.
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Die Dauerhaftigkeit der Prosperität Wird es möglich sein, die Prosperität dauernd aufrechtzuerhalten? Von Zeit zu Zeit tritt ein wirtschaftliches Naturereignis ein, wie eine besonders gute Baumwollernte, der ein Fallen der Baumwollpreise folgt. Dann geht ein Schauern durch das Land. Denn trotz aller Konjunkturforschung und trotz aller Konjunkturdeutung sitzt heute die schwarze Sorge neben dem Chauffeur, wie sie früher hinter dem Reiter saß. Es hat noch immer nach einem Aufschwung, sei er auch noch so groß gewesen, einen Rückschlag gegeben, dessen Ausmaß dem Aufschwung entsprach. Wird das heute anders sein? Wird die Schaffung der Bundesreservebank, die die eigentliche Geldkrise, unter der Amerika früher so häufig litt, unmöglich gemacht hat, auch jede andere Art von Wirtschaftskrise ausschließen? Einstweilen sind die Konjunkturschwankungen zwar vermindert, aber nicht völlig ausgemerzt. Die Lage der Farmer ist wieder und wieder kritisch geworden. Sie haben infolge des industriellen Aufschwungs mit vermehrten Arbeitskosten zu rechnen. Die Löhne sind gestiegen, ohne daß die Steigerung, wie in der Vorkriegszeit, durch Einstellung arbeitsparender Maschinen mehr als aufgehoben würde. Wenn gute Ernten den Markt überschwemmen, geraten die Farmer in Schwierigkeiten, zumal die Verschuldung trotz des sinkenden Zinsfußes infolge des Falles der gesamten Farmwerte etwa 20,7 Proz. des in der Landwirtschaft angelegten Kapitals ausmacht. Die Farmer erstreben daher eine Erhöhung der Preise der landwirtschaftlichen Produkte. Sie kann in einem Ausfuhrland nicht durch Schutzzölle, sondern nur durch Ernteausfall und Weltmarktnachfrage herbeigeführt werden. Sie haben daher – trotz grundsätzlich antimonopolistischer Stellung – eine Valorisationsgesetzgebung im Kongreß durchgedrückt, kraft derer ein Aufkauf „überschüssiger“ Mengen von Weizen, Reis und Baumwolle bis zum Betrage von 50 Millionen Dollar seitens einer Valorisationsgesellschaft erfolgen soll. Die Politik Josephs in Ägypten soll, den veränderten Zeiten entsprechend, umgestellt werden. Der Rahm der fetten Jahre soll abgeschöpft und dem amerikanischen Konsumenten vorenthalten werden; er soll in mageren Jahren seiner Portion zugesetzt werden – wenn er bis dahin nicht sauer geworden ist und wenn es der Vorsehung gefällt, fette und magere Jahre in der der Vorratsbildung und -haltung entsprechenden regelmäßigen Abwechslung eintreten zu lassen. Der Präsident hat diesem Gesetzentwurf seine Zustimmung versagt. Sollte er wiederkehren und erfolgreich angewendet werden, so würde die Kaufkraft der Farmer stabilisiert, es würde damit aber auch die Konsumentenrente gekürzt, die der amerikanischen industriellen Bevölkerung in den letzten Jahren zugewachsen ist. Die Konjunktur mag stabiler werden; ob sie im Durchschnitt günstiger werden wird, mag füglich bezweifelt werden. Das eigentliche Problem ist nicht nur die Anpassung der im Lande vorhandenen Kaufkraft an eine gegebene Produktionsfähigkeit. Die Produktionsfähigkeit als solche ist vielmehr in einer dauernden, riesenhafteren Ausweitung begriffen. Es handelt sich um die Frage, ob die Steigerung des Lohneinkommens der mittelbar und
288 | Der Blick nach Amerika unmittelbar Beteiligten so vor sich gehen kann, daß die Kosten weniger erhöht werden, als die Kaufkraft erweitert wird. Und zum mindesten ist es zweifelhaft, ob eine Anpassung zeitlich so schnell erfolgt, daß keine Störungen eintreten können. Dadurch wird für die Vereinigten Staaten die Ausfuhr von Fertigfabrikaten von der größten Bedeutung. Sie sind bisher ein Schutzzolland gewesen, das Rohstoffe und Nahrungsmittel ausführte, deren Zollbelastung fast ausschließlich auf Kosten der diese Zölle erhebenden auswärtigen Bevölkerungen ging, während der Zoll auf eingeführte Industriewaren bald vom amerikanischen Konsumenten, bald vom fremden Importeur getragen wurde. Sie werden jetzt für ihren industriellen Absatz von der Zollpolitik fremder Länder abhängig. Sie wollen die Lebensmittelpreise im Inland sich durch Valorisation verteuern. Sie waren in ihrer Handelspolitik früher verhältnismäßig frei. Sie fangen an, gebunden zu werden. Sie müssen den Ausfuhrüberschuß und die ihnen zufallenden Schuldzinsen, soweit ihre Reisenden sie nicht im Auslande konsumieren, dort als Anleihen stehenlassen. Sie werden in immer steigendem Maße die Gläubiger der Welt. Sie müssen den Bereich ihrer Gläubigerherrschaft immer weiter ausdehnen, denn da sie die Einfuhr nicht steigern wollen, müssen sie der Welt immer von neuem Vorschüsse machen, indem sie fällige Schuldzinsen und Ausfuhrüberschüsse im Auslande belassen. Sie treiben mit einem Wort „internationale Konsumentenfinanzierung“ in allergrößtem Ausmaße. Sie suchen die Prosperität des amerikanischen Wirtschaftslebens durch Bevorschussung des Konsums ihrer ärmeren Wettbewerber zu sichern. Sie verknüpfen dadurch das Wohlergehen der Vereinigten Staaten mit dem Wohlergehen der gesamten Erde. Die eigene Prosperität ist nur gewährleistet, wenn überall in der Welt amerikanische Kapitalanlagen sicher und rentabel sind, und wenn das soziale System der anderen Völker sich dem amerikanischen System, wenn auch in langsamem Tempo, anpaßt. Wird dieser soziale Amerikanismus wirtschaftlichen Erfolg haben? Werden die Reibungen, die seine Verbreitung nach sich ziehen muß – sei es die Gefährdung amerikanischen Eigentums im Auslande seien es antiamerikanische Schutzzollwälle, sei es die Schleuderkonkurrenz schlechter gelohnter Völker –, nicht unter Umständen den amerikanischen Missionsimperialismus auslösen, den Glauben, daß es Aufgabe der Vereinigten Staaten ist, einer mehr oder minder rückständigen Welt ihren sozialen Kapitalismus mit gewaltsamer Güte aufzudrängen? Durch die laute Zufriedenheit, mit der Amerika heute allen Völkern der Erde das Maß seiner Prosperität verkündet, klingt daher immer wieder ein banger Zweifel durch. Man kann beinahe von „verdrossener Zufriedenheit“ (disgruntled prosperity) sprechen.
Der Sinn der Prosperität Umfang und Dauer der Prosperität bedingen den sozialen Frieden. Darüber hinaus hat sie für das amerikanische Volk noch eine ganz eigenartige Bedeutung. Dem
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Worte der Verheißung folgend, haben seine Kinder das Gelobte Land erreicht. Nach unendlichen Prüfungen und Mühen haben sie einen Kontinent dem Willen der Menschheit unterworfen und die Natur gebändigt. Sie bäumt sich noch in einzelnen Katastrophen auf. Sie vermag das Werk der Menschen nicht mehr zu zerstören; es hat Bestand. Für denjenigen Teil des amerikanischen Volkes, der in seinem Schicksal stets die Hand Gottes zu erkennen glaubt, ist diese Prosperität keine Frage der bloßen Rentabilität, sondern ein Zeichen der Erfüllung. Und auch für diejenigen, die nicht von der Errichtung eines Gottesstaates in Amerika träumten, sondern mühebeladen aus Europa herüberkamen, um sich und den Ihren ein menschenwürdiges Dasein zu verschaffen, auch für sie hat diese Prosperität einen bedeutsamen, beinahe religiösen Sinn. Auch sie sind am Ziel. Sie haben nach schwerer, harter Arbeit, nach einer Fron, deren Qualen, trotz persönlicher Freiheit, die Anspannungen der Heimat oft übertroffen hatten, für ihre Kinder und Kindeskinder die Grundlagen eines menschenwürdigen Daseins gelegt. Prosperität in Amerika bedeutet, daß die Natur gezähmt ist und der Mensch zum Menschen werden kann, weil er nicht länger Sklavendienste verrichten muß. Weit bedeutsamer noch als die Erfindungen, die die Produktion steigern, sind für das amerikanische Leben die Maschinen geworden, die den einzelnen die äußere Last des Lebens erleichtern. In einem Lande, in dem persönliche Dienste als Zeichen der Unfreiheit gelten, wo das Halten von Hausangestellten nur den Reichen möglich ist, war die technische Befriedigung der täglichen Lebensbedürfnisse eine schwere Bürde. Sie hat mit hartem Druck insbesondere auf den Frauen gelegen. Laufendes Wasser, elektrisches Kochen, Staubsauger und Waschmaschinen haben hier endlich die Befreiung von schwerster Arbeit gebracht. Die schmutzige, menschenentwürdigende Arbeit wird nicht länger von einer Schicht einer anderen zugeschoben. Der Weiße wird nicht frei, weil der Neger dient. Die Sklavenarbeit wird vom Menschen der Maschine überlassen – dank der herrschenden Prosperität. Im Munde des Amerikaners klingt daher in diesem Worte etwas von der Faustischen Befriedigung, daß es ihm endlich vergönnt ist, ,,auf freiem Grund mit freiem Volk zu stehen“. Und zum ersten Male in der amerikanischen Entwicklung tritt dabei auch die zweite Hälfte des Faustischen Gedankens bewußt in die Vorstellung breiter Schichten: der Wunsch, den Augenblick festzuhalten. Die oberen Schichten bemühen sich ängstlich, die Dauer der Prosperität zu sichern, weil sie ihre gesellschaftliche Stellung vor Erschütterungen bewahrt und weil ihnen der Umstand, daß die Lebensgenüsse auch von anderen geteilt werden, ein gutes Gewissen gewährt. Durch die Massen aber geht das Aufatmen, das der erfolgreiche Pionier empfindet, der in stetem Westwärtswandern Farm auf Farm erschlossen hat, bis er die letzte schließlich verkauft und an seinem Lebensabend Kalifornien erreicht hat, das Land, wo die Sonne untergeht. Hier kann er zum erstenmal von den Härten des Sommers und des Winters ausruhen und von der nie endenden Fron der Farm. Arbeit und Mühe sind zu Ende. Nun beginnt die Rast.
290 | Der Blick nach Amerika Das ist der letzte Sinn der Prosperität im amerikanischen Leben. Man freut sich ihrer und genießt sie, aber man genießt sie nicht ohne Besorgnis. Man fragt sich einmal: Wird sie dauern, und berechnet sich immer wieder, daß sie dauern muß. Zum andern aber taucht hinter der Prosperität eine neue Frage auf: Prosperität bedeutet nicht nur Wohlergehen und Deckung aller menschlichen Bedürfnisse. Sie bedeutet in einem neuen Lande, wo jedermann immer gearbeitet hat, ein neues Problem. Sie bringt zum erstenmal in den Bereich immer breiter werdender Massen ein Ding, das ihnen bis dahin nicht bekannt war: Muße. Die Maschine in der Fabrik hat den Arbeitstag verkürzt. In vielen Gewerben ist die Dauer der normalen Arbeitswoche in den letzten fünfzehn Jahren um 15-25 Prozent vermindert worden. Die Maschine im Haus hat die Haussklaverei beendet, die die amerikanische Familie ertragen mußte, wenn sie nicht ihre Lebenshaltung erniedrigen wollte. Das Automobil hat Freizügigkeit gebracht, zur Arbeitsstätte und nach vollbrachter Arbeit. Man beginnt „Zeit zu haben“. Bis heute war dem amerikanischen Volke das Leben ein bloßes Werden; jetzt rundet es sich zum Sein. Bis jetzt ist Zeit immer Geld gewesen; nun wird Geld Muße. Man erzählt eine Geschichte von einem Amerikaner, der seinen europäischen Gast veranlaßt, unter Aufbietung aller Kräfte mit Lebensgefahr auf einen fahrenden Zug aufzuspringen. Als die beiden endlich wieder zu Atem gekommen sind, sagt der Amerikaner mit stolzer Genugtuung: „Wir haben es geschafft, wir haben eine Minute gespart.“ Der Europäer wartet einen Augenblick; dann fragt er seinen Freund: „Das ist wunderschön; was werden wir damit anfangen?“ „Was werden wir mit der ersparten Zeit anfangen?“ Das ist die Frage, die das amerikanische Volk beantworten muß.
16 Sinn und Bedeutung der amerikanischen Krise (1931) I Sinn und Bedeutung der gegenwärtigen amerikanischen Krise liegen in der Tatsache, daß es die erste Krise ist, die Amerika durchlebt, seit der „letzte Westen“ geschlossen und die Einwanderung im großen ganzen zum Stillstand gekommen ist. Die Vereinigten Staaten haben dadurch gewissermaßen ihren kolonialen Charakter abgestreift. Sie sind nicht länger ein Land, das durch territoriale Angliederung in die Breite wächst; sie können nicht mehr anbauen, sie müssen aufstocken. Sie haben sich dadurch in sozialer Hinsicht gewissermaßen europäisiert. Damit ist das wichtigste grundsätzliche Unterscheidungsmerkmal, das in dieser Beziehung zwischen ihnen und Europa bestand, weggefallen. Sie sind ein kapitalistisches Land geworden, wie es Westeuropa ist, das seine wirtschaftliche Expansion heute nur durch kaufmännische Herrschaftspolitik vollziehen kann. Ihrer kolonialen Ausbreitung sind politische Grenzen gezogen, deren Überschreitung schwerwiegende Folgen nach sich ziehen müßte. Wohl konnte man zeitweilig im kanadischen Westen neue Heimstätten gewinnen und mit auswandernden amerikanischen Farmern jenseits der amerikanischen Grenzen den wirtschaftlichen Ausbreitungsprozeß fortsetzen. In dieser Amerikanisierung des kanadischen Westens lagen gewisse Gefahren. Sie sind heute gegenstandslos geworden. Die Agrarkrise hat die kanadischen Weizenprovinzen so heftig ergriffen, daß dort für Neusiedlung zur Zeit kein Raum ist. An der andern Grenze, nach Mexiko hin, dehnen sich allerdings noch gewaltige menschenleere Ländereien aus. Die nördlichen Provinzen Mexikos, die an die Vereinigten Staaten stoßen, sind jedoch, abgesehen von Flußläufen und Küstenebenen, mehr oder minder Steppenländereien, die zwar endlose Räume für Viehranches und für große Güter bieten, auf denen aber für das Heimstättensystem der amerikanischen Agrardemokratie kein Platz ist, selbst wenn die Politik und die Nachbarschaft billiger mexikanischer Arbeit ihre Ausbreitung gestatteten. Die amerikanische Agrardemokratie hat den Höhepunkt ihrer gebietsmäßigen Ausdehnung erreicht, wenn man nicht mit dem Gedanken eines späteren Zusammenschlusses mit Kanada spielen will, für den zur Zeit fast alle Voraussetzungen fehlen. Sie ist dabei in ihrem inneren Aufbau erschüttert. Ihre Erweiterungsfähigkeit ist bis dahin der große soziale Regulator des amerikanischen Lebens gewesen. Die großen Kämpfe der amerikanischen Geschichte sind geführt worden, um ihn zu schaffen und ihn zu erhalten. Der innere Sinn des Bürgerkrieges war ja schließlich in der Vorstellung umschlossen, die agrarische Demokratie des mittleren Westens könne auf die Dauer nicht neben dem mit billigen Negersklaven wirtschaftenden Großgrundbesitz bestehen, der flächenmäßig die Hälfte der Union bedeckte und die po-
292 | Der Blick nach Amerika litische Macht in seinen Händen zu halten suchte. Und der wahre Grund der Leidenschaft, mit der die agrarischen Gebiete der Westküste sich gegen die Zulassung farbiger Einwanderer richteten, lag in der Befürchtung, die farbige Masseneinwanderung werde die Ausbreitung des aus spanischen Zeiten stammenden Großgrundbesitzers fördern. Die Agrarkrise der Gegenwart und die veränderte Technik haben die Entwicklung großer Güter als Industriegüter begünstigt, auch wenn sie zahlenmäßig noch keinen großen Umfang erreicht haben. Gleichzeitig haben fallende Preise, steigende Lohnkosten, erhöhte Lebenshaltung der Farmer und Abwanderung der Kinder in die Stadt zur Mechanisierung und damit zur Vergrößerung der verbleibenden Farmen geführt. Die Agrardemokratie ist nicht ausgestorben; sie hat aber ihr Gesicht nicht unerheblich verändert. Die Reihen ihrer Mitglieder sind in dem gleichen Ausmaß gelichtet worden, in dem die Grundflächen, die der einzelne bewirtschaftet, gewachsen sind. Sie kann sich räumlich nicht mehr verbreitern. Es gibt überhaupt nur noch eine verhältnismäßig schwache Schicht, die das Bedürfnis empfindet, sich unter den sehr harten Bedingungen, die der Landerwerb für den kapitallosen Mann mit sich bringt, selbständig zu machen. Früher führte den besitzlosen Arbeiter eine Rolltreppe gewissermaßen automatisch in den Stand der Landbesitzer über; dieser Mechanismus funktioniert nicht mehr. Das Ideal der Nation war ehemals eine breite, fast das ganze Volk umfassende Mittelschicht, unter deren allgemeinen Lebensstandard nur die Neger und die frisch Eingewanderten – diese vorübergehend – sanken, während nur wenige sich in verhältnismäßig gehobener Stellung befanden. Dagegen beginnt heute die amerikanische Gesellschaft so etwas wie Pyramidenform anzunehmen; selbst auf agrarischem Gebiet sieht man eine neue Art von Feudalismus entstehen. Damit beginnt auch das sich zu verflüchtigen, was das Eigenartigste am amerikanischen Leben gewesen ist: die Klassenlosigkeit der amerikanischen Gesellschaft. Daher hat sich auch der Sozialismus nur sehr langsam Bahn gebrochen. In den religiösen Grundstimmungen der amerikanischen Sekten schwingen Empfindungen, die ihre Mitglieder einem gemütlichen Sozialismus geneigt machen. Es hat auch an sozialistischen Siedlungen und Experimenten, die oft auf kirchlicher Grundlage aufgebaut waren, nie gefehlt. Der Sozialismus als Klassenbewegung war dagegen eine Einfuhrware, die hauptsächlich von Deutschen und Russen mitgebracht wurde. Weder das Klassenmäßige noch die Betonung des Ausbeutungsmäßigen lag dem Amerikaner. Das Klassenmäßige empfand er nicht, und die Ausbeutung war ihm selbstverständlich. Denn Gott hatte seine Ahnen und damit ihn selbst in dieses weite reiche Land gesandt, dessen unerhörte Hilfsquellen, die ursprünglich anderen Leuten gehört hatten, sie sich aneignen sollten. Dafür trugen die Pioniere ihre Haut zu Markte. Sie waren sich selbst Herr und Gesetz und stets bereit, ihren Willen, wenn nötig, mit Gewalt durchzusetzen. Daher hat Amerika für die wissenschaftlichen Gedankengänge eines marxistischen Sozialismus bestenfalls ge-
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langweilte Verachtung. Man ist nicht gewohnt, die Entwicklung der Dinge den immanenten Gesetzen zu überlassen. Was man will, das tut man selber. So wenig der Sozialismus als Vorstellung einer geordneten Lebensform die Arbeiterschaft ergriffen hat, so wenig haben das auf der andern Seite auch die Gewerkschaften getan. Man hat heute eigentlich nur in ein paar großen Industrien organisierte Gewerkschaften; die Gesamtzahl ihrer Mitglieder dürfte vier bis fünf Millionen nicht übersteigen. Trotzdem hat sich auch hier die alte Vorstellung einer klassenlosen Ordnung verschoben. Riesenunternehmungen sind im ganzen Lande entstanden, die ihrem inneren Aufbau nach der Masse der Angestellten den Aufstieg zum Unternehmer großen Stils unmöglich machen. Die Hierarchie ist noch weniger starr als in anderen Ländern; die ehemalige fast automatische Sicherheit des Emporkommens ist aber nicht länger gegeben. Die Unternehmer selbst haben das längst erkannt. Sie haben die Bindung der Arbeiter an die kapitalistische Eigentumsordnung mit allen Kräften zu fördern gesucht. Sie haben ihnen hohe Löhne gewährt und ihnen den Erwerb von Grundbesitz, insbesondere des eigenen Hauses, in jeder Beziehung zu erleichtern gesucht. Denn sie wissen, daß ein Hauseigentümer, auch wenn er mit Raten verschuldet ist, zu der besitzenden Klasse gehört und mit ihr gegen den sozialen Umsturz verhaftet ist. Sie haben ihr möglichstes getan, um Aktien, insbesondere Aktien des eigenen Unternehmens, an die Arbeiter und Angestellten zu verteilen und in ihnen dadurch ein Gefühl der Besitzgemeinschaft zu erwecken. Sie haben zwar die Gewerkschaften vielfach bekämpft, aber in ihren eigenen Fabrikgewerkschaften den Arbeitern die Vorzüge der Gruppenversicherung zu verschaffen gesucht. Sie haben sich überdies mit den Gewerkschaften, die zur Macht gekommen waren, zu stellen vermocht und es durchaus begrüßt, daß sie Gewerkschaftsbanken und Gewerkschaftsversicherungen errichteten. Auch wenn dadurch die Streikgefahr erhöht wurde, so war doch auf der andern Seite die Verbürgerlichung erreicht. In diesen gehobenen Arbeiterschichten entsteht eine neue Mittelklasse oder, wenn man will, verstärkt sich die alte Mittelklasse, während ihre Stellung in den kleinen selbständigen Unternehmungen schwächer wird. Denn mit dem Emporkommen der industriellen Riesen als Kunden und Lieferanten, insbesondere in vielen Schlüsselindustrien, wird die Lage des selbständigen kleinen Unternehmers abhängiger. Er ist zwar im inneren Betrieb sein eigener Herr, aber nur, wenn die andern ihm Aufträge geben und ihn beliefern. Er macht wohl verzweifelte Anstrengungen, durch Ausdehnung und durch Umorganisierung sein Werk zu sichern. Aber das glückt doch nur in beschränktem Maße. Man wird dadurch noch lange kein Großunternehmer, daß man das eigene Geschäft in eine Gesellschaftsunternehmung verwandelt, sich selbst zum Präsidenten, den Buchhalter zum Vizepräsidenten und den Kassierer zum zweiten geschäftsführenden Vizepräsidenten ernennt und die Firma Kunz & Schmidt in The Kunz & Schmidt Corporation umwandelt. Man kann so das Unternehmen vielleicht etwas entpersönlichen und
294 | Der Blick nach Amerika bei Uneingeweihten den Eindruck einer Bedeutung erwecken, die nicht vorhanden ist.
II Das Ideal des emporstrebenden kleinen Geschäftsmannes, dem früher die amerikanischen Massen huldigten, hat sich infolge dieser Entwicklung zu einem andersgearteten Bild gewandelt; zu der Gestalt des großen Wirtschaftsführers – captain of industry –, der, mit beinahe dämonischer Genialität begabt, den Gang des wirtschaftlichen Lebens leitete. Diese Wirtschaftsführer sind in den Vordergrund des Interesses gerückt worden, insbesondere, da das Wirtschaftsleben von Zeit zu Zeit immer wieder Persönlichkeiten von besonderer Eigenart emporgetragen hat, die die öffentliche Meinung faszinierten. In der Vergangenheit waren das Männer wie James Hill oder Edward Harriman, deren Riesenkämpfe um die Beherrschung der Kontinentalbahnen nicht nur die interessierte Öffentlichkeit in Atem hielten, sondern die auch vor den Augen des großen Publikums als Reichserbauer – Empirebuilder – in der bunten Beleuchtung vorbeizogen, die die Filmtechnik heute für Filmsterne reserviert hat. Sie verkörpern sich heute am deutlichsten in Persönlichkeiten wie Henry Ford, dessen eigenartige Mischung technisch-geschäftlicher, fast prophetischer Genialität mit kulturell bedürfnisloser Naivität dem amerikanischen Publikum die Versinnbildlichung geschäftlicher Größe ermöglicht, die ohne Fords Entgleisungen gar nicht darstellbar wäre. Ein Satz wie der: „Geschichte ist Quatsch“ mag den gebildeten Amerikaner zum Zweifel an der Fordschen Genialität anregen; den einfachen Leuten, die, wenn sie überhaupt über diesen Gegenstand nachdenken, ganz der Fordschen Meinung sind, kommt seine geschäftliche Größe dadurch menschlich besonders nahe. Sie fühlen, daß er einer der ihren ist, nur größer, erfolgreicher, vom Glück begünstigter als sie selbst, aber nicht einer andern geistigen Sphäre angehörend. In der Periode der ungebrochenen Prosperität hat nun die Rolle dieser Wirtschaftsführer im Leben der Nation eine ganz neue Bedeutung erhalten. Einen Wirtschaftsaufschwung von solchem Ausmaß und von solcher Dauer wie die Prosperität der letzten fünf Jahre hat weder die Welt als Ganzes noch die amerikanische Welt jemals gesehen. Alle Erfahrung sprach dagegen, daß sie ohne Unterbrechung und ohne Erschütterung weiter bestehen könne. Aber alles Wünschen und alles Sehnen setzte sich in Gegensatz zu der Erfahrung und klammerte sich beinahe leidenschaftlich an den Willen an, daß sie dauern müsse, weil sie nicht zusammenbrechen dürfe. Das amerikanische Volk hat an Stelle des natürlichen Seins mit gewaltigem Wollen und Können den Kunstbau einer neuen wirtschaftlichen Zivilisation aufgebaut. Sollte es ihm nicht möglich sein, auch die Zukunft klar vorauszusehen? Und war es dann nicht möglich, den Weg der Gegenwart zur Zukunft hin so zu lenken, daß sich das Werden aus dem Sein ohne Erschütterung auslöste? Und war dann nicht auch
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das Dritte erreichbar: durch richtiges Voraussehen die Zukunft planmäßig zu gestalten? Auf dem Boden des freien Wettbewerbs, ohne Notwendigkeit weitgehender staatlicher Eingriffe ein System der planmäßigen Wirtschaft ersinnen zu können, wurde die Losung der Wortführer des kapitalistischen Systems. Wer aber hinter der Sicherheit der lauten Worte das kaum fühlbare Schwingen der Seelen zu hören vermochte, konnte auch in der Zeit des blühendsten Aufschwungs den leisen Zweifel, die furchtsame Resignation empfinden, die immer wieder Platz griff, wenn man nicht sich und andern durch dröhnende Reden Mut zu machen suchte. Der Zweifel hat recht behalten. Was die heutige Krise in den Vereinigten Staaten und in der ganzen Welt von anderen Krisen unterscheidet, ist vor allem der Umstand, daß frühere Krisen sich in einer Welt vollzogen, die vorstellungsmäßig mehr oder weniger den Gesetzen eines „anarchistischen“ Wettbewerbs noch unterstand. Die heutige Krise dagegen ist die Krise einer stark planwirtschaftlich geordneten Welt, in der von einem anarchistischen Gang der Produktion nur sehr bedingt die Rede sein kann. Es ist eine Krise, die in eine Welt der Trusts, Kartelle, Verbände, Organisationen und Konjunkturinstitute hineingeschlagen ist, deren Ausmaß dabei aber größer und deren Tiefgang stärker ist als der ihrer Vorgänger. Der Planwirtschaftler mag sich sagen, das sei deswegen der Fall, weil die Planwirtschaft die Welt als Ganzes noch nicht umfasse. Man könnte diesem Einwand erhebliche Bedeutung beimessen, wenn die Führer der kontrollierten Wirtschaft auf diese Gefahr hingewiesen hätten, als alles noch in voller Blüte stand. Wenn sie jetzt die Krise der Planwirtschaft durch stärkere Planwirtschaft ersetzen wollen, so sollten sie zum mindesten erst den Beweis dafür erbringen müssen, daß sie die Krisen, die infolge der noch nicht genügend geordneten Planwirtschaft eintreten müssen, zeitig vorausgesehen haben. Da sie von ihr weit stärker als die Außenstehenden überrascht worden sind, da sie noch zu einer Zeit, wo der nüchterne Beobachter bereits klar erkennen konnte, daß die Dinge mitten im Zusammenbruch waren, wieder und wieder die Überwindung der Krise verkündet haben, so muß man entweder ihre Intelligenz oder ihre Integrität bezweifeln. Man wird ihnen menschlich gerecht werden, wenn man das erste tut. Man kann natürlich nicht behaupten, daß sie etwa den Anforderungen der durchschnittlich wiederkehrenden wirtschaftlichen Lebensnotwendigkeiten nicht genügt hätten. Man kann ihnen nur vorwerfen, daß sie sich durch vorübergehende Erfolge sowohl in den Augen der Menge als in den eigenen Augen zu wirtschaftlichen Übermenschen aufblähen ließen, während sie doch nur gutes Normalmaß hatten. Die Wirkung des Zusammenbruchs ist denn auch ungeheuer gewesen. Ich habe des öfteren recht bedeutende Geschäftsleute kennengelernt, die, wie alle andern von der Krise überrascht, sie mit schweren Verlusten bezahlen mußten. Sie waren völlig gebrochen, obwohl ihre wirtschaftlichen Verhältnisse in keiner Weise erschüttert waren. Rein buchmäßig standen sie wahrscheinlich am Abschluß der Krise, nach Abschreibung aller papierenen Gewinne, wenig, wenn überhaupt, schlechter da als vor Beginn der großen Aufschwungsperiode. Sie hielten sich aber
296 | Der Blick nach Amerika für völlig verarmt und begannen ihre Lebenshaltung in bedenklicher Weise einzuschränken. Denn die Krise hatte eines getan: Sie hatte ihren eigenen Glauben an ihre göttliche Sendung erschüttert. Sie waren im Laufe der letzten Jahre durch die leichten, sich häufenden Gewinne zu der Überzeugung gekommen, der gewaltige Aufschwung sei ihren schöpferischen Kräften zu danken. Nun mußten sie erkennen, daß sie nicht der Windgott gewesen waren, der die Fluten getrieben hatte, sondern weit eher der Kork, der willenlos und ziellos von den Wellenkämmen emporgetragen wurde. Eine derartige Erkenntnis ist bitter. Sie ist für die Zukunft heilsam. Die Leute, die sie sich einmal erworben haben, werden in kommenden Zeiten eigenes und fremdes Können mit gerechterem Maßstab messen und äußeren Erfolg den Umständen, nicht mehr ausschließlich den eigenen Fähigkeiten zuschreiben. In dieser Beziehung ist gerade die Größe der Krise ein Heilmittel für die wirtschaftliche Entwicklung der Zukunft in Amerika sowohl als für das Verhältnis der Vereinigten Staaten zu Europa. Denn die Überheblichkeit, mit der die erfolgreichen amerikanischen wirtschaftlichen „Halbgötter“ die Schwierigkeiten des sterblichen europäischen wirtschaftenden Menschen betrachtet haben, beginnt einem verständnisvollen Mitgefühl zu weichen, seit man erkannt hat, daß wieder und wieder die Kräfte der Vergangenheit, nicht das eigene Wollen der Gegenwart, über Erfolg und Mißerfolg entscheiden. Sehr viel ernster ist dagegen die Wirkung der Krise nach der andern Seite. Ein Erdbeben hat den Olymp erschüttert. Es ist für den Gläubigen schon sehr ernüchternd, wenn die Götterbilder bersten und die Säulen splittern; die Einsicht, die aus der bloßen Tatsache hervorgeht, daß auch die Götter gegen die Fährnisse des Lebens nicht gefeit sind, ist bereits ein Ergebnis, das zum Nachdenken zwingt. Wenn aber die stürzenden Mauern der Tempel die Dächer der Hütten einschlagen und die sterbenden Götter statt Schutz Vernichtung um sich verbreiten, dann erfaßt den Gläubigen nicht bloß Mitleid damit, daß auch die Götter sterblich sind, sondern bitterer Zweifel und blinder Haß. Welchen Sinn hat es dann, noch länger zu ihnen zu beten? Die Millionen Arbeitslose, die Hunderttausende zerrütteter Existenzen, die heute in den Vereinigten Staaten unter den Folgen der Krise leiden, klagen nicht die einzelnen Wirtschaftsführer an, die die Krise nicht verhindern konnten, sie beginnen das System anzuzweifeln, das die Krise ermöglicht hat. Wenn die Krise lange genug dauert, geht es nicht einfach um die Kritik dieser oder jener Maßnahme oder dieser oder jener Persönlichkeit. Es handelt sich nicht bloß um Subventionen und um Notstandsarbeiten.
III Der Kapitalismus und die kapitalistische Wirtschaftsordnung galten bisher dem durchschnittlichen Amerikaner als selbstverständliche Lebensform. Sie haben seinen Vorgängern Lebensmöglichkeiten gewährt; sie haben das Land groß gemacht.
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Er hat von ihnen, allerdings unter veränderten Umständen, ein Lebenslos erwartet, das vielleicht nicht so groß ist wie die Lose der Vergangenheit, das aber dafür nicht den gleichen Fährnissen ausgesetzt ist wie im Zeitalter der Pioniere. Dieser Aufgabe scheint das System nicht länger genügen zu können. Und ganz naiv erhebt sich in Tausenden von Herzen und Hirnen die Frage: Hat das kapitalistische System überhaupt noch irgendeine Berechtigung, wenn es im reichsten Land der Welt nicht imstande ist, eine Ordnung zu schaffen, die einer verhältnismäßig dünnen, arbeitsamen und tüchtigen Bevölkerung ein Auskommen verbürgt, wie es den durch die moderne Technik entwickelten menschlichen Bedürfnissen entspricht – ohne daß von Zeit zu Zeit Millionen betteln gehen und durch Suppenküchen und Obdachasyle erhalten werden müssen? Der Sinn und die Bedeutung der amerikanischen Krise bestehen darin, daß heute nicht etwa nur die gegenwärtige amerikanische Wirtschaftsführung oder die herrschende amerikanische Wirtschaftspolitik, sondern daß das kapitalistische System als solches in Frage gestellt wird. Das geschieht in der Regel nicht in rein theoretischen Auseinandersetzungen. Abstrakte sozialwirtschaftliche Theorien liegen der amerikanischen Masse nicht. Selbst unter den amerikanischen Kommunisten sind wahrscheinlich recht wenige, die ein theoretisches Examen auf Grund der Lektüre des Marxschen „Kapitals“ mit großem Erfolg bestehen würden. Aber das ist nicht das Entscheidende. Die ganze gegenwärtige Welt, die europäische sowohl als die amerikanische, ist heute von Ressentiments wirtschaftlicher Art erfüllt, die nicht auf Grund verstandesmäßiger Überlegungen entstanden sind. Man kann sie daher nicht mit vernünftigen Argumenten überwinden. Das Gefährliche solcher Gedankengänge, wie etwa die der deutschen Nationalsozialisten, ist nicht etwa, daß sie unrichtig sind und mit richtigen Argumenten widerlegt werden müssen, sondern daß sie Empfindungen entstammen, die nicht in der Ebene des Denkens, sondern in der des Fühlens gewachsen sind. Die große Gefahr der gegenwärtigen Krise liegt eben darin, daß sie zum guten Teil eine Empfindungskrise und keine Gedankenkrise ist. Denn Gedanken kann man mit Gedanken bekämpfen; Empfindungen aber nur mit veränderten Tatsachen. Der große Optimismus des amerikanischen Volkes, der immer noch gewaltige Reichtum, die insbesondere auf geistig-moralischem Gebiete stark traditionellen religiösen Bindungen machen einen gewaltsamen, die Grundlagen des amerikanischen Lebens erschütternden Umsturz nicht eben wahrscheinlich. Solange die kapitalistische Ordnung nur von einer Seite angegriffen wird, braucht sie an ihrer Sicherheit nicht zu zweifeln. Eine Gefahr entsteht erst dann, wenn diejenigen Schichten, die ihrem inneren Wesen nach die Stützen des Kapitalismus sein sollten, sich von ihr abwenden, wie das in Deutschland als Folge der Inflation der Fall gewesen ist, so daß dann der Kapitalismus zwischen zwei Fronten gerät. Amerika befindet sich nicht in dieser Lage. Dafür ist aber in den Vereinigten Staaten trotz allem konservativen Beharrungsvermögens in geistigen Dingen der Weg zwischen Gedanke und Empfindung auf der einen Seite und der Tat auf der andern Seite viel kürzer als
298 | Der Blick nach Amerika anderswo. Man darf nie vergessen, daß es in den Vereinigten Staaten breite Schichten gibt, denen stets die Vorstellung des Naturrechts vorschwebt, eines Naturrechts, das die Formen der Gesetzlichkeit nur gering achtet und den einzelnen gestattet, die positiven Gesetze zu brechen, wenn die Werte, die sie als Persönlichkeitswerte empfinden, ihnen gefährdet erscheinen. Die Vorstellung der „permanenten Revolution“, die in Rußland wahrscheinlich weniger die Grundlage der russischen Revolution als der Grundton mancher revolutionärer russischer Temperamente ist, entspricht durchaus dem Wesen der protestantisch-puritanischen Sekten. Der einzelne hat sich das Recht der „permanenten Revolution“ auf geistigem Gebiet immer vorbehalten, das Recht, sich ein eigenes Glaubens- und Sittengesetz zu machen, das den Anforderungen seines Gewissens und seiner Vorstellungen von der Gottheit entspricht. Und da diese Einstellung mit den Traditionen eines gewalttätigen Grenzertums zusammenfließt, dessen letzte einfachste Vorstellung doch die ist: „Der Herr hat es gegeben; greif zu“, so liegen in der amerikanischen Welt sehr viel stärkere Spannungen verborgen als in andern Ländern. Das hat sich in den letzten Jahren besonders deutlich in der Behandlung der Prohibitionsfrage gezeigt, wo sich ein System der organisierten Gesetzlosigkeit, verbunden mit den rücksichtslosesten Gewalttaten, entwickelt hat, das kein anderes Land zu ertragen vermöchte. Diese Gesetzlosigkeit hat in vergangenen Jahrzehnten erhebliche Teile der Arbeiterschaft beherrscht. Sie ist heute unter den organisierten Arbeitern nicht vorhanden. Die bürgerlich geachtete Stellung, die sich ein großer Teil von ihnen erworben hat, macht sie heute zu den energischsten Verteidigern des bestehenden Systems. Von niemandem ist der Bolschewismus leidenschaftlicher bekämpft worden als von den amerikanischen Gewerkschaften. Aber wenn auch das Gros der organisierten amerikanischen Arbeiterschaft enger mit dem kapitalistischen System verknüpft ist als irgendeine andere Arbeiterschaft in der Welt, so bleiben doch die Massen der Unorganisierten oder Unorganisierbaren, die natürlich der Druck der Arbeitslosigkeit viel stärker trifft. Hätten die Kommunisten sich darauf beschränkt, ihre Propaganda ausschließlich unter diesen weißen Arbeitern zu treiben, so wäre ihnen sicher mancher Erfolg beschieden gewesen. Ihr Doktrinarismus hat sie aber dazu verführt, gleichzeitig Weiße und Schwarze revolutionieren zu wollen. Sie gehen dabei von der psychologisch richtigen Voraussetzung aus, daß Schwarze ihren primitiven Argumenten gegenüber viel weniger widerstandsfähig sind und insbesondere durch das Rassenressentiment überall dort, wo sie mit weißer Arbeit in Konkurrenz stehen, aufgereizt werden können. Sie vergessen aber, daß die Vereinigten Staaten keine afrikanische Kolonie sind, in der die farbige Bevölkerung zahlenmäßig überwiegt, die zur Empörung gegen den Druck fremder Herren aufgereizt werden kann. Der sehnlichste Wunsch derjenigen Neger, die bereits aus der traditionellen Umwelt herausgetreten sind, ist die Erreichung einer wirtschaftlich gehobenen Lage, die derjenigen der niedrig gelohnten weißen Arbeiter und der kleinsten Unternehmer entspricht. Die Gruppen unter ihnen, die wirklich aufgereizt werden können, sind verhältnismäßig nicht zahlreich. Und wenn sie wirklich auf die Fahne
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des Kommunismus schwören wollten, so wäre ihre Niederhaltung sehr leicht. Denn auch diejenigen Weißen, die sich heute gegen den Rassenterrorismus wenden, der gelegentlich gegen die Neger ausgeübt wird, würden die Front wechseln, wenn die Neger sich einer Partei anschlössen, die den Terrorismus als selbstverständliches politisches Mittel betrachtet. Überdies kann ein Kommunismus, der sich an die Neger richtet, bei den weißen Arbeitern des Südens nicht auf Erfolg rechnen. Das Verhältnis zwischen weißen Herren und farbigen Dienern und Arbeitern, wie es auf den alten Pflanzungen bestand, war vielfach patriarchalisch-freundschaftlich. Beide lebten in verschiedenen Lebenssphären; wo der eine treue Dienste leistete und der andere sie entsprechend entlohnte, war für rassenmäßiges Klassenbewußtsein wenig Raum. In der Sphäre der Lohnarbeit liegen die Dinge anders. Der weiße Arbeiter sieht im Neger nicht nur eine tieferstehende Rasse, mit der er nicht auf der Grundlage der Gleichberechtigung verkehren will, er erblickt in ihm überall dort, wo überhaupt ein Wettbewerb möglich ist, auch den bedürfnislosen Wettbewerber, dessen Anspruchslosigkeit ihm einen Arbeitsplatz vorenthält oder entreißt. Die kommunistische Bewegung als solche bedeutet daher einstweilen keine Gefahr. Dagegen ist die Bedeutung der Haltung der Intellektuellen trotz offensichtlicher Machtlosigkeit nicht zu unterschätzen. Das Aufsteigen der organisierten Wirtschaftsmächte hat die geistige Atmosphäre der Freiheit in Amerika nicht unerheblich verschlechtert. Das Gefühl der Unabhängigkeit, auf der Tatsache beruhend, daß jeder, der arbeiten wollte, irgendwie eine Chance finden konnte, hat es früher dem einzelnen ermöglicht, unpopuläre Anschauungen zu hegen und zu bekennen, ohne daß damit eine besondere Gefährdung seiner Existenz verbunden gewesen wäre. Ein System, das seiner selbst gewiß ist, kann die „Gazetten immer niedriger hängen lassen“. Ein System aber, das gegenwärtig nicht Ergebnisse zeitigt, die allein seinen Bestand rechtfertigen könnten, ist natürlich gegen die Kritik empfindlich. Es ist das in ganz besonderem Maße, wenn man seine zeitweiligen Minderleistungen mit den angeblichen Mehrleistungen des gegensätzlichen Systems vergleicht.
IV Die welthistorische Bedeutung der russischen Revolution liegt weniger in der tatsächlichen Umgestaltung Rußlands und in den Ergebnissen, die der Bolschewismus dort gezeitigt hat, als in seelischen Einwirkungen auf die übrige Welt und insbesondere in der bloßen Tatsache, daß er besteht. Bis zu dem Tage der bolschewistischen Revolution konnte man den Anhängern des Sozialismus immer entgegenhalten, ihr System sei nicht nur unrichtig, es sei, selbst wenn es richtig wäre, unmöglich. Ein bestehendes sozialistisches System kann verabscheuungswürdig oder sogar verheerend sein; es kann aber nicht länger als unmögliches System abgetan werden. Es besteht, und weil es besteht, und neben dem kapitalistischen System besteht, fordert es zum Vergleich heraus. Und wenn es von Leuten gehandhabt wird, die es, was die
300 | Der Blick nach Amerika Aufmachung nach außen betrifft, getrost mit den erfolgreichsten amerikanischen Reklamebureaus aufnehmen können, so übt dieses System naturgemäß gerade dort seine größte Wirkung aus, wo man das Wirken der Propaganda am besten versteht, in den Vereinigten Staaten. Schon in der zaristischen Zeit hat im politischen Bewußtsein der Amerikaner eine eigenartige russophile Note mitgeschwungen. Sie ist nicht etwa ausschließlich durch den Gegensatz zu Japan hervorgelockt worden; die antijapanische Stimmung ist nur an der pazifischen Küste stark entwickelt gewesen. Sie ist eine Art dauernder Bestandteil der außenpolitischen Tradition gewesen: Rußlands Außenpolitik hat die Vereinigten Staaten nie gefährdet. Der Verkauf von Alaska, durch den Rußland seine Stellung auf dem amerikanischen Kontinent aufgegeben hat, hat überdies dem amerikanischen Volke die freundschaftlichen Absichten des Zarenreichs deutlich gezeigt. Vor allem aber hat die Erkenntnis mitgespielt, daß das russische Reich in seiner gewaltigen Ausdehnung ein Kolonialland war, dessen endlose Räume den gleichen, von Meer zu Meer reichenden Kontinentalcharakter aufwiesen wie die Vereinigten Staaten und dessen Besiedlung und Erschließung als Parallele zu derjenigen Amerikas gedacht werden konnte. In einer Welt, in der die übervölkerten, von Traditionen überwucherten europäischen Staaten räumlich kleinen Umfangs dominierten, war Rußland neben den Vereinigten Staaten das einzige Land der weiten Flächen, der pionierhaften Traditionslosigkeit und der technisch großzügigen Erschließung. Der Bau der Sibirischen Bahn zeigte, rein wirtschaftlich betrachtet, die gleiche technische Besiegung eines Kontinents, die den Amerikanern aus der eigenen Entwicklung bekannt war, und der Aufbau des neuen kolonialen Lebens in Sibirien stellte eine gewollte Gesellschaftsgründung dar, die der amerikanischen analog erschien. Diese Vorstellungen haben sich trotz aller Opposition gegen die politische Technik des zaristischen Systems in Amerika behauptet. Selbst die Masseneinwanderung der russischen Juden, die sich mit ihrer ganzen fanatischen Leidenschaft gegen den zaristischen Despotismus kehrten, hat daran nicht viel geändert. Denn die Bilder von einem weiträumigen Rußland konnten dadurch nicht verwischt werden, daß das weiträumige demokratische Amerika denen ein Asyl gab, die der russische Despotismus in enge Gettomauern eingesperrt hatte. Neben allem andern teilt aber die geistige Einstellung des Bolschewismus eine Anzahl ihrer Grundlagen mit dem amerikanischen ökonomischen Denken. Der russische Bolschewismus ist weder der romantische Sozialismus weltverbessernder Sekten, noch der kleinbürgerliche Sozialismus organisierter Gewerkschaften, die im zähen Ringen um Tarifverträge die bestehende kapitalistische Welt dadurch umzugestalten suchen, daß sie den Kapitalismus zwingen, Lohnkosten, die durch Lohnsteigerungen entstehen, durch erhöhte Organisationsleistung wieder einzubringen. Der russische Bolschewismus ist brutal gewollte Planwirtschaft, in der der Ingenieur mit allen Mitteln der modernen Technik Riesenunternehmungen aus dem Boden zu stampfen sucht. Sie stellt sich den Amerikanern gewissermaßen als ein System dar,
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das eine Welt von Wolkenkratzern in noch schnellerem Tempo aus der Prärie stampft, als es die private amerikanische Unternehmungslust getan hat. Es ist in ihren Augen der grandioseste Versuch des Strebens, eine gewollte Welt an Stelle einer gewordenen zu setzen. Das Herz des amerikanischen Ingenieurs, der von Betätigungsmöglichkeiten in Rußland hört, schlägt höher, weil er dort, ohne Rücksichtnahme auf die beengende Rentabilität, die das kapitalistische System nun einmal erfordert, technische Anlagen schaffen kann, die alles bis dahin Gewesene übertreffen. Und die Gebildeten, die den Zusammenbruch der amerikanischen Prosperität mit ihren furchtbaren Folgen miterlebt haben, schauen bewundernd auf den Fünfjahresplan, der in ihren Augen einen Weg zeigt, wie man mit fester Hand das wirtschaftliche Werden wollend meistern kann. Die Klügeren von ihnen betonen, daß diese gewaltigen Schöpfungen Schöpfungen der Gewalt sind und daß sie nur auf Kosten einer hungernden Bauernbevölkerung oder einer schlecht versorgten, nicht ausreichend gelohnten Arbeiterbevölkerung zustandekommen konnten. Aber diese Not und dieses Elend stellen sich ihnen nur als kurze Übergangszeit dar, hinter der dann in der Tat ein von Menschen gewolltes, durch Menschen gewordenes tausendjähriges Reich beginnen kann. Sie vergessen dabei vollkommen, daß die Opfer, die der Gesamtheit des amerikanischen Volkes für ihre großen industriellen Schöpfungen in normalen Zeiten auferlegt werden, viel kleiner sind als diejenigen, die der Russe zu bringen hat. Denn sie empfinden sehr deutlich den Unterschied, daß aus dem amerikanischen Opfer, auch wenn es viel kleiner ist, unerhörte Gewinne für die Bevorzugten abfallen, während das große russische Opfer von allen geteilt wird. Und sie übersehen auch, daß es nicht schwer ist, in einem Lande, das fast völlig unentwickelt ist, mit gewaltiger Kraftanspannung eine neue technische Welt aufzubauen, deren Erzeugnisse, auch wenn sie noch so reichlich fließen, den Markt nicht überschwemmen können, da Millionen und aber Millionen seit Jahrzehnten nach ihnen darben. Alle solche Überlegungen können nicht verhindern, daß von Rußland aus ein eigenartiger Zauber auf die amerikanische Welt ausgeht. Sollte der Fünfjahresplan in der Tat eingehalten werden können und sollte nach seiner Verwirklichung ein Nachlassen des furchtbaren Drucks in Rußland eintreten, so wäre damit für den objektiven Beurteiler des russischen Systems nicht mehr bewiesen, als die Pyramiden beweisen: daß man mit rücksichtslosem Willen und rücksichtslosem Antreiben widerstandsloser Arbeitskräfte Gebilde erzeugen kann, die die Äonen überdauern, die aber ein kapitalistisches Unternehmertum mangelnder Rentabilität wegen nicht herstellen würde. Es würde aber in vielen naiven Seelen die Vorstellung lebendig werden, diese Russen, die man noch vor kurzer Zeit als emotional begabte Barbaren betrachtete, die allenfalls Dostojewskische Romane schreiben und Tschaikowskysche Opern komponieren konnten, seien auf dem Gebiete der Technik den Amerikanern ebenbürtig und auf dem Gebiet bewußter sozialer Gesellschaftsgestaltung ihnen, wie der Erfolg beweise, überlegen. Die psychologischen Wirkungen einer derartigen Entwicklung könnten sehr weitgehende sein, wenn es dem kapitalisti-
302 | Der Blick nach Amerika schen System nicht gelingt, die Millionen Arbeitslosen wieder in den Arbeitsprozeß einzureihen und ihre künftige Ausstoßung wenn nicht zu verhindern, so doch durch soziale Einrichtungen schmerzlos zu machen. Denn die Not und das Elend, das die planwirtschaftlich gestaltende Brutalität der russischen Machthaber in Rußland hervorruft, sieht man in Amerika nicht. Wohl aber hallt dort überall der Schritt der Hunderttausende, die arbeitslos in den Straßen auf und abgehen und frieren und für die einstweilen keine soziale Ordnung sorgt. Diese Wirkung, die das russische Beispiel psychologisch auf Amerika ausüben könnte, haben vor allen Dingen die Gewerkschaften erkannt. Sie werden nicht müde, darauf hinzuweisen, die russischen Waren, die in Amerika billig eingeführt werden, seien Schleuderwaren, die Rußland mittels gering entlohnter Zwangsarbeit auf den Markt werfe, um die Lebenshaltung der amerikanischen Massen zu untergraben. Die amerikanischen Unternehmer haben diese Entwicklung bis jetzt nicht gefürchtet. Ihren Werkstätten entstammen ja die Maschinen, die das rückständige Rußland industrialisieren sollen. Sie suchten Märkte und Konzessionen. Und so ergibt sich ein widerspruchsvoller Zustand: Die amerikanische Öffentlichkeit hat bis jetzt die Anerkennung der bolschewistischen Regierung seitens der Vereinigten Staaten verhindert, da das russische Regierungssystem dem amerikanischen Ideal zuwiderlaufe. Sie hat aber bis vor kurzem nicht das geringste dagegen einzuwenden gehabt, daß der amerikanische Kapitalismus dieses System mit Lieferungen und Anleihen am Leben erhalte. Sie huscht über die sehr eindeutige Vorstellung schnell hinweg, daß Handel mit Rußland und Handel mit der russischen Regierung dasselbe ist, da jedes Geschäft, das man mit Rußland machen kann, ein Geschäft mit der nichtanerkannten Regierung sein muß und, wenn es von deren Standpunkt aus ein gutes Geschäft ist, die russische Regierung stärkt und festigt. Der amerikanische Kapitalismus ist in dieser Beziehung nicht kurzsichtiger als der Kapitalismus anderer Länder. Er hat keinerlei Bedenken, seinen Erbfeind zu finanzieren und besänftigt sein schlechtes Gewissen damit, daß er sich und anderen einredet, durch Ausbreitung kapitalistischer Technik werde der russische Bolschewismus verbürgerlicht. Er vergißt dabei, daß man Arbeiter verbürgerlichen kann, deren Ideal der Aufstieg in die bürgerliche Welt ist, daß man aber Fanatiker, die der bürgerlichen Weltauffassung den Krieg angesagt haben, nur die Kriegführung erleichtert, wenn man sie mit den Waffen der bürgerlichen Technik ausstattet.
Quellennachweise I
Weltpolitik und internationale Ordnung
Herrschaftspolitik oder Handelspolitik, München/Leipzig: Duncker & Humblot, 1919. Gerechtigkeit, München: Ernst Reinhardt, 1919. Völkerbund und auswärtige Politik, Gotha: Perthes, 1920. Die Gegenkolonisation, in: Die Neue Rundschau 37 (1926), S. 225-232. [basiert zu weiten Teilen auf dem gleichnamigen Kapitel in: Moritz Julius Bonn, Das Schicksal des deutschen Kapitalismus, Berlin: S. Fischer, 1926, S. 21-28] II
Krise der Demokratie
Die Auflösung des modernen Staats, Berlin: Verlag für Wissenschaft und Politik, 1921. Die Krisis der europäischen Demokratie, München 1925. Die Zukunft des deutschen Liberalismus, in: Europäische Revue 2 (1926), S. 260-268. Die Krise des Parlamentarismus, in: Interparlamentarische Union (Hg.), Die gegenwärtige Entwicklung des repräsentativen Systems. Fünf Antworten auf eine Rundfrage der Interparlamentarischen Union, Berlin: Carl Heymanns Verlag, 1928, S. 95-106. Die Entseelung der Politik, in: Frankfurter Zeitung, 15. 5. 1928, S. 1. Die Zukunft der Demokratie in Europa. Das Problem des Verhältnisses von Mehrheit und Minderheit, in: Neue Freie Presse (Wien), 15. Januar 1929, Morgenblatt, S. 2. III
Faschismus und Nationalsozialismus
Schlusswort, in: Carl Landauer/Hans Honegger (Hg.), Internationaler Faschismus. Beiträge über Wesen und Stand der faschistischen Bewegung und über den Ursprung ihrer leitenden Ideen und Triebkräfte, Karlsruhe 1928, S. 127-150. Die Psychologie des Nationalsozialismus. Seine Wurzeln und sein Weg (I und II), in: Neue Freie Presse (Wien), 5. April 1931, S. 5-6; 12. April 1931, S. 3-4. Die Radikalisierung der deutschen Jugend. Die Politisierung der Intellektuellen, in: Neue Freie Presse (Wien), 19. Juni 1932, S. 2. IV
Der Blick nach Amerika
Zum 150. Jubiläum der Unabhängigkeitserklärung, in: Frankfurter Zeitung, 4. 7. 1926, S. 1-3. Amerikanische Prosperität, in: Die Neue Rundschau 38 (1927), S. 561-585. [basiert auf Textpassagen in: Moritz Julius Bonn, Geist und Geld. Vom Wesen und Werden der amerikanischen Welt, Berlin: S. Fischer, 1927, S. 69-104] Sinn und Bedeutung der amerikanischen Krise, in: Die Neue Rundschau 42 (1931), S. 145-159. [basiert auf Textpassagen in: Moritz Julius Bonn, „Prosperity“. Wunderglaube und Wirklichkeit im amerikanischen Wirtschaftsleben, Berlin: S. Fischer, 1927, S. 112-168]
Personenregister Alexander der Große 114, 160
Fraenkel, Ernst 33 Friedrich II., König von Preußen 114, 231, 259
Bamberger, Ludwig 5 Bernstorff, Johann Heinrich Graf von 9
George, David Lloyd 2, 63, 64, 118
Birnbaum, Immanuel 4, 5, 13
Gini, Corrado 234
Bismarck, Otto von 5, 25, 129, 185, 224, 242,
Goethe, Johann Wolfgang von 257
247, 248 Bonald, Louis-Gabriel-Ambroise de 181
Hamilton, Alexander 266
Bonaparte, Napoleon 114, 182, 224, 231, 272
Hardenberg, Karl August von 252
Boulanger, Georges Ernest Jean Marie 230
Harriman, Edward 294
Brecht, Arnold 16
Hauptmann, Gerhart 254
Brentano, Lujo 6, 10, 13, 25, 27, 247
Heine, Heinrich 31, 252, 253
Briefs, Götz 10, 36
Heller, Hermann 3
Bryan, William Jennings 250
Herkner, Heinrich 10
Bryce, James 139
Heuss, Theodor 13
Bucher, Lothar 140
Hill, James 294
Burke, Edmund 6, 181
Hirsch, Julius 10 Hitler, Adolf 10, 31, 250
Carlyle, Thomas 227
Hobbes, Thomas 162
Carson, Baron Edward 222, 227
Honigsheim, Paul 10
Carthill, Alexander 227
Höfle, Anton 202
Cäsar, Gaius Julius 160
Hussein bin Ali 92
Clemenceau, Georges 65 Colbert, Jean-Baptiste 112
Ibsen, Henrik 254
Cole, George Douglas Howard 126
Iwan IV der Schreckliche 220
Cortés, Hernán 45 Cox, Harald 81
Jefferson, Thomas 4, 266, 269, 270
Cromwell, Oliver 46, 197, 224, 231
Jouvenel, Robert de 239
Cubitt-Bonn, Therese 3 Cuno, Wilhelm 132, 240
Kahr, Gustav von 230, 240 Kelsen, Hans 3, 12, 24
Darwin, Charles 253
Keynes, John Maynard 2, 17, 19 Kipling, Rudyard 257
Ebert, Friedrich 240 Eisner, Kurt 230
Landauer, Karl 10
Erzberger, Matthias 240
Laski, Harold 32, 183 Law, Andrew Bonar 222, 227
Fichte, Johann Gottlieb 257 Ford, Henry 271, 272, 294
Lenin, Wladimir Iljitsch 28, 164, 166, 194, 195, 203, 230
Personenregister | 305
Liebknecht, Karl 166, 230
Rathenau, Walter 2
Lincoln, Abraham 214
Reger, Erik 13
Ludendorff, Erich 213, 230
Ricardo, David 113
Ludwig XIV., König von Frankreich 50, 111, 115,
Richter, Eugen 5
118
Roosevelt, Theodore 140, 241
Lueger, Karl 31
Röpke, Wilhelm 2, 17
Luther, Hans 2
Rüstow, Alexander 2, 17
Luxemburg, Rosa 166, 230 Saint-Simon, Henri de 114, 129, 185 Machiavelli, Niccolò 151, 195, 237
Schacht, Hjalmar 2
Maistre, Joseph Marie de 181
Schleicher, Kurt von 2, 11
Mann, Thomas 2
Smith, Adam 113
Maurras, Charles 154
Schmitt, Carl 3, 10, 21, 22, 23
May, Karl 257
Schmoller, Gustav 5
McKinley, William 241
Sorel, Georges 157, 195, 230, 248
Menger, Carl 6
Schönerer, Georg von 31, 250
Milner, Alfred 75
Sombart, Werner 10
Milton, John 137
Spann, Othmar 26
Mirabeau, Victor Riquetti Marquis de 112
Spencer, Herbert 113
Mises, Ludwig von 17
Stein, Heinrich Friedrich Karl von 252
Montezuma 58
Stinnes, Hugo 132, 134, 168, 213
Mussolini, Benito 28, 151, 191, 194, 195, 203, 208, 230, 248
Tocqueville, Alexis de 31, 33, 34, 37
Moses 258
Troeltsch, Ernst 11
Müller, Adam 182
Trotha, Lothar von 7 Trotzki, Leo 166, 230
Nikolaus II., Kaiser von Russland 220 Noske, Gustav 240
Valois, Georges 183
Oppenheimer, Franz 10
Wagner, Richard 254 Washington, George 266
Papst Benedikt XV 74
Webb, Beatrice 135
Pareto, Vilfredo 195
Webb, Sidney 135
Pizarro, Francisco 45
Weber, Alfred 3, 10, 24
Plessner, Helmuth 9
Weber, Max 2, 8, 24, 25
Preuß, Hugo 8
Wiedfeldt, Otto 132
Primo de Rivera, Miguel 194
Wiese, Leopold von 10
Psichari, Ernest 154
Wilhelm II., deutscher Kaiser 139, 220, 259 Wilson, Woodrow 18, 33, 36, 61, 63, 68, 74, 76,
Quaatz, Reinhold Georg 132 Quesnay, François 113
78, 82, 118, 140, 241, 245 Wolf, Karl Hermann 31