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German Pages 302 Year 2017
Margrit Seckelmann, Johannes Platz (Hg.) Remigration und Demokratie in der Bundesrepublik nach 1945
Histoire | Band 116
Margrit Seckelmann, Johannes Platz (Hg.)
Remigration und Demokratie in der Bundesrepublik nach 1945 Ordnungsvorstellungen zu Staat und Verwaltung im transatlantischen Transfer
Veröffentlicht mit Unterstützung der Herbert und Elsbeth Weichmann-Stiftung Hamburg.
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Inhalt
Abkürzungsverzeichnis | 9 Ansätze zu einer erneuerten Ideengeschichte der Remigration Zur Einleitung Johannes Platz/Margrit Seckelmann | 13
I. A tl antischer T ransfer verwaltungswissenschaftlicher
K onzepte
»Max Weber im Exil« Talcott Parsons und die US-amerikanische Weberrezeption Uta Gerhardt | 23
II. R ahmenbedingungen Die Emigration von Rechtswissenschaftlern nach 1933 Leonie Breunung | 49
Formen der Reintegration in das west- wie ostdeutsche Universitätssystem am Beispiel der Berliner Universitäten Katrin Krehan | 69
Von der Kooperation zur Abgrenzung Der Einfluss US-amerikanischer Reformideen auf die westdeutsche Politik 1945-1960 Frieder Günther | 83
III. T heorie und P raxis : R emigranten und sojourners Ernst Fraenkel und die Verwestlichung der politischen Kultur in der Bundesrepublik Deutschland Alfons Söllner | 99
Postheroische Verwaltung: Fritz Morstein Marx Margrit Seckelmann | 131
Arnold Brechts Vorschläge zur westdeutschen Verwaltung und Verfassung im Spannungsfeld von Expertise und Erfahrung Corinna R. Unger | 155
Hans Simons: (Fast) Vergessener Aufbauhelfer der westdeutschen Demokratie Philipp Heß | 171
Theodor W. Adornos Demokratieexpertise beim Aufbau der Bundeswehr: Authoritarian Personality, Charakterologie oder Psychotechnik? Die Konflikte um Einrichtung und Ausrichtung des Psychologischen Dienstes der Bundeswehr Johannes Platz | 189
IV. A lternative V erl äufe : E xil in P al ästina , bewusste N icht -R emigration und »I nnere E migration « Ein (Wieder-)Begründer der Politikwissenschaft: Siegfried Landshut Rainer Nicolaysen | 221
»Des Wandermüden letzte Ruhestätte« Die Nicht-Remigration Hans Kelsens Matthias Jestaedt | 239
Widerstand und innere Emigration der Daheimgebliebenen Das Beispiel von Hans Peters Steffen Augsberg | 263
V. B il anz und P erspek tiven Wissenstransfer aus dem Exil in Politik, Verwaltung, Wissenschaft Eine Spurensuche Marita Krauss | 279
Autorenverzeichnis | 293
Abkürzungsverzeichnis
Abs. Absatz AöR Archiv des öffentlichen Rechts APuZ Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“ Art. Artikel Aufl. Auflage Bd. Band ders. derselbe dies. dieselbe(n) DJZ Deutsche Juristen-Zeitung Drs. Drucksache DV Die Verwaltung (Zeitschrift) DVBl. Deutsches Verwaltungsblatt Ebd. ebenda ed. editor, edited eds. editors e. V. eingetragener Verein f. folgende FES Friedrich Ebert-Stiftung FU Berlin Freie Universität Berlin ff. fortfolgende Fn. Fußnote GG oder Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft GG Grundgesetz Hrsg. Herausgeber hrsg. herausgegeben HUB Humboldt-Universität Berlin
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Remigration und Demokratie in der Bundesrepublik nach 1945
i. D. im Druck i. E. im Erscheinen insbes. insbesondere i. O. im Original Kfz Kraftfahrzeug KJ Kritische Justiz m. w. N. mit weiteren Nachweisen N. F. Neue Fassung Nachw. Nachweis(e) ND Nachdruck NDB Neue Deutsche Biographie NPL Neue Politische Literatur Nr. Nummer NY New York o. J. ohne (Druck-)Jahr o. O. ohne (Druck-)Ort ÖZöR Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht PA Personalakte PVS Politische Vierteljahresschrift RabelsZ Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Rep. Repositur s. siehe S. Seite SJZ Schweizerische Juristen-Zeitung Sp. Spalte u. und UA Universitätsakte(n) UA HUB Universitätsakte(n) Humboldt-Universität Berlin u. a. und andere v. von VfZ Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte vgl. vergleiche VHD Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands vol. volume VVDStRL Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staats- rechtslehrer WS Wintersemester
Abkürzungsverzeichnis
ZHG Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte ZÖR Zeitschrift für öffentliches Recht Ziff. Ziffer zit. Zitiert Zyklos Zyklos. Jahrbuch für Theorie und Geschichte der Soziologie Weitere Abkürzungen werden in den jeweiligen Beiträgen erläutert.
B ildnachweise Umschlagfoto: aus dem Bildarchiv der Friedrich Ebert-Stiftung. Sollten anderweitige Rechte daran bestehen, bitten wir um sofortige Anmeldung des Honoraranspruchs an die Herausgeber. Ernst Fraenkel (S. 98): picture alliance Fritz Morstein Marx (S. 130): freundlicherweise überlassen von Robert Morstein-Marx, Santa Barbara Arnold Brecht (S. 154): Bildstelle des Bundesarchivs Hans Simons (S. 170): freundlicherweise überlassen von Gerhard Simons, Hamburg Theodor W. Adorno (S. 188): picture alliance Siegfried Landshut (S. 220): freundlicherweise überlassen von Rainer Nicolaysen, Hamburg Hans Kelsen (S. 238): freundlicherweise überlassen vom Verlag Mohr Siebeck, Tübingen Hans Peters (S. 262): Privatbesitz/Reproduktion Gedenkstätte Deutscher Widerstand, freundlicherweise überlassen von der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin
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Ansätze zu einer erneuerten Ideengeschichte der Remigration Zur Einleitung Johannes Platz/Margrit Seckelmann Migration ist in aller Munde. Es migrieren nicht nur Menschen, sondern auch Ideen. Netzwerke und neue Arbeitsmärkte entstehen.1 Dieses Phänomen lässt sich kaum besser studieren als am Beispiel der nach 1933 vor dem Nationalsozialismus geflohenen Wissenschaftler, die ihre aus der Zeit der Weimarer Republik mitgebrachten Methoden mit denen der US-Forschung verbanden und weiterentwickelten – und die diese intellektuell-methodische Morgengabe als Remigranten oder sojourners mit in die junge Bundesrepublik Deutschland brachten. Oftmals wirkten sie zugleich am Auf bau demokratischer Strukturen in der Bundesrepublik mit, namentlich an der Redaktion des Grundgesetzes und/oder von Landesverfassungen. Ob es im Titel dieses Buches »der« oder »die« Bundesrepublik heißen soll, lassen wir bewusst offen. Die Remigranten (und erst recht die sojourners, also diejenigen, die nur teilweise ihren Wohnsitz in der Bundesrepublik nahmen), kommunizierten ja nach wie vor in ihren bisherigen Kreisen: Sie schrieben Briefe an ihre bisherigen Arbeitgeber, Kollegen und Freunde und brachten die Kunde vom Verlauf des Auf baus der Demokratie in dem Teil Deutschlands, in dem sie sich aufhielten, ebenso 1 | Dazu Isabella Löhr, Fluchthilfe für Wissenschaftler?, Zwangsmigration und die Internationalisierung akademischer Arbeitsmärkte, VHD Journal 5 (2016), S. 2124; dies., Solidarity and the Academic Community: The Support Networks for Refugee Scholars in the 1930s, in: Daniel Laqua/Charlotte Alston (Hg.), Histories of Transnational Humanitarianism: Between Solidarity and Self-Interest, Journal of Modern European History 12 (2014), S. 231-246.
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Johannes Plat z/Margrit Seckelmann
wie Nachrichten über die Weiterentwicklung ihrer Methoden in die Vereinigten Staaten, wo sie ihrerseits aufgegriffen wurden. Der Begriff der »cross-fertilization« ist also selten angebrachter als hier.2 Natürlich gibt es auch Beispiele bewusster Nicht-Remigration (wie im in diesem Band vorgestellten Beispiel von Hans Kelsen), die ebenfalls (und gerade) zu einer »cross-fertilization« beigetragen haben. Dieses Buch ist ein Versuch. Der Versuch besteht darin, ganz verschiedene Ansätze zur Remigrationsforschung zusammenzuführen, die sich bislang nicht näher ausgetauscht haben, also Historiker, Juristen, Soziologen und Politikwissenschaftler, Vertreter individueller Ansätze und solche struktureller Ansätze, Biographen, Prosopographen und Netzwerkforscher. Erneut ist eine »cross-fertilization« beabsichtigt, an die die Leser dieses Buchs weiter anknüpfen können und sollen. Die Herausgeber möchten mit diesem Sammelband zugleich zur methodologischen Weiteentwicklung beitragen. Bislang ist der biographisch-werkgeschichtlich/doxographische Zugang einer der Königswege in der Emigrations- und Remigrationsgeschichte, der in den vergangenen Jahren aber auch durch kollektivbiographische Ansätze ergänzt wurde. Diese Anregungen stellen keinen methodologischen Masterplan dar, sondern entwerfen Perspektiven, wie man die Remigrationsgeschichte fortschreiben kann und die die diversen Studien des vorliegenden Bandes miteinander vermitteln kann, um zu einer Wirkungs-, Diskurs- oder Ideengeschichte der Remigration zu gelangen. Wir gehen davon aus, dass in der jungen Bundesrepublik ein Wandlungsprozess stattgefunden hat, der sich mit den Thesen der »Modernisierung im Wiederauf bau« und der »Westernisierung« umschreiben lässt. Westernisierung stellt anders als der Begriff der Amerikanisierung auf einen Aneignungsprozess im Kulturtransfer dar. Er ist geeignet, Prozesse zu beschreiben, zu denen Remigranten beigetragen haben. Er ist entschieden akteursanalytisch angelegt. Deshalb stellt die Untersuchung dieses Wandlungsprozess auf Promotoren ab, die von den westlichen Alliierten, namentlich den USA, bewusst unterstützt wurden. Anselm Doering-Manteuffel und seine Tübinger Forschungsgruppe, zu der Julia 2 | Dazu (für die nach Großbritannien emigrierten Rechtswissenschaftler, die ihre Methoden mit dem Common Law verbanden) Jack Beatson/Reinhard Zimmermann (Hg.), Jurists Uprooted. German-speaking Émigré Lawyers in Twentieth-century Britain, Oxford 2004.
Ansät ze zu einer erneuer ten Ideengeschichte der Remigration: Zur Einleitung
Angster, Michael Hochgeschwender und andere gehörten, haben diesen Prozess am antikommunistisch orientierten Kongress für kulturelle Freiheit, der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften untersucht, und sind dabei immer auf das Wirken namhafter Remigranten gestoßen, die zum kulturellen Import aus ihren Exilländern beitrugen und ihre Erfahrungen für die westdeutsche Arbeit fruchtbar machten. Am Beispiel der Sozialdemokratie hat Angster einen Prozess beschrieben, in dessen Rahmen die vormals von Deutungsmustern des Klassenkampfs durchdrungenen Gesellschaftsanalysen der Sozialdemokratie sich zu einer Anerkennung von Konsenskapitalismus und -liberalismus in SPD und Gewerkschaften rangen.3 Bei diesen Promotoren handelte es u.a. um demokratische, zumeist jüdische, Staatsdenker und Demokratieexperten, die nach 1933 Deutschland (bzw. die an dieses »angeschlossenen« oder von ihm besetzten Gebiete) verlassen hatten und im Rahmen der »Westernisierung« 4 die Demokratisierung der Bundesrepublik unterstützten. Dieses taten sie teilweise als (oftmals vergessene) Väter des Grundgesetzes und/oder als Remigranten im Rahmen des Auf baus eines demokratischen westdeutschen Universitätssystems und der Fächer Politikwissenschaften, einer politikwissenschaftlichen Friedensforschung und Futurologie oder der Verwaltungswissenschaften. Methodenpluralismus kann man auch im Hinblick auf die Diskursanalyse fruchtbar machen. Der von Peter Wagner geprägte Begriff der »Diskurskoalitionen« erscheint uns besonders fruchtbar, weil er diskursanalytische Herangehensweisen mit akteursanalytischen Herangehensweisen verknüpft – und sozusagen Michel Foucault ›gegen den Strich gelesen‹ mit Pierre Bourdieu versöhnt. Mit dem Begriff der Diskursko3 | Julia Angster, Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie. Die Westernisierung von SPD und DGB, München 2003. 4 | Zum Konzept der »Westernisierung« vgl. statt vieler Anselm Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert. Göttingen 1999; Ulrich Herbert (Hg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung, 1945 bis 1980, Göttingen 2002; Michael J. Hogan, The Marshall Plan. America, Britain and the Reconstruction of Europe, 1947-1952, Cambridge 1987; und Heinrich A. Winkler, Der lange Weg nach Westen, Bd. 2 (Deutsche Geschichte vom »Dritten Reich« bis zur Wiedervereinigung), München 2000.
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Johannes Plat z/Margrit Seckelmann
alitionen hat Wagner ein analytisches Konzept zur Vermittlung von Diskursanalyse und Handlungsinterpretation vorgelegt, das konkrete Akteurskonstellationen in das Zentrum des Interesses rückt.5 Die Analyse von Diskurskoalitionen lässt sich einordnen in das Feld der wissenssoziologischen Diskursanalyse.6 Er geht davon aus, dass die Analyse historischer Diskursformationen, etwa der kognitiven Strukturen der Sozialwissenschaften, also spezifischer begrifflicher Elemente, die jeweils spezifisch verknüpf bar sind, wodurch bestimmte Möglichkeiten der Aussage eingeschränkt und andere ermöglicht werden, ergänzt werden muss durch eine Analyse der konkreten Durchsetzungsbedingungen sowie der Strategien und Einsätze der Akteure, die sie vertreten haben und im Handlungsfeld der Macht durchsetzten.7 In Phasen besonders aktiver Interaktion zwischen Akteuren aus dem wissenschaftlichen und solchen aus dem politischen Feld etablieren sich besondere Interaktionsformen, die Wagner als Diskurskoalitionen bezeichnet. Er versteht darunter, dass Akteure »[…]Gesellschaftsinterpretationen […] schaffen, die die Projekte bestimmter politischer Akteure argumentativ stützen und damit deren Position stärken. Umgekehrt kann die direkte (›wissenschaftspolitische‹) Förderung durch Politiker bestimmten sozialwissenschaftlichen Diskursen zu einer stärkeren Stellung im wissenschaftlichen Feld verhelfen, ebenso wie eine indirektere, eher über 5 | Peter Wagner, Sozialwissenschaften und Staat. Frankreich, Italien, Deutschland 1870-1980, Frankfurt a.M. 1990; vgl. aber auch Otto Singer, Policy Communities und Diskurs-Koalitionen: Experten und Expertise in der Wirtschaftspolitik, in: Adrienne Héritier (Hg.), Policy-Analyse. Kritik und Neuorientierung, Opladen 1993, S. 149 – 174 sowie Paul A. Sabatier, Advocacy-Koalitionen, Policy-Wandel und Policy-Lernen: Eine Alternative zur Phasenheuristik, in: ebd., S. 116 – 148 sowie Hugh Heclo, Issue networks and the executive establishment, in: Anthony King (Hg.), The New American Political System, Washington 1978, S. 87 – 124. 6 | Reiner Keller, Wissenssoziologische Diskursanalyse. Grundlegung eines Forschungsprogramms, Wiesbaden 2005. 7 | Vgl. hierzu die Kontroverse zwischen Graf und Priemel sowie Dietz und Neuheiser, vgl. Rüdiger Graf/Kim Christian Priemel, Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften, VfZ (59) 2011, S. 479-508; Bernhard Dietz/Christopher Neumaier, Vom Nutzen der Sozialwissenschaften für die Geschichte, VfZ 60 (2012), S. 293-304.
Ansät ze zu einer erneuer ten Ideengeschichte der Remigration: Zur Einleitung
die gesellschaftliche Legitimität eines Diskurses vermittelte ›externe‹ Abstützung.«8 Die Bildung solcher Allianzen und deren Wirksamkeit auf beide Felder »ist dabei von der kognitiven Struktur des wissenschaftlichen Projektes, dessen Affinität zu dem politischen Projekt und den Bedingungen der Vermittlung durch die wissenschaftlichen Institutionen abhängig.«9 Der Begriff der Diskurskoalition trägt dazu bei, den doppelten Charakter des Phänomens – nämlich das Zusammenwirken von Akteuren über Handlungsfeldgrenzen hinweg und die diskursive und diskursverändernde Natur dieser Interaktion – genauer zu benennen. In solchen Diskurskoalitionen – alternative Begriffe, die Verwendung finden können, sind zum Beispiel Netzwerke oder im Anschluss an Thomas S. Kuhn und dessen Vordenker Ludwik Fleck Denkkollektive, trugen sie zu einem Leitbildwandel bei, der die Bundesrepublik veränderte.10 Sie trugen damit auch zur »intellektuellen Gründung« bei, die in der Ideengeschichte der vergangenen Jahre Beachtung fanden. Allerdings ist dieser Ansatz auch kritisch zu reflektieren, denn am Fallbeispiel Theodor W. Adornos und Max Horkheimers kann man die Reichweite dieses Ansatzes gut überprüfen, und zwar anhand der Widerstände, die etablierte Experten deren demokratiewissenschaftlicher Expertise entgegensetzten. In der Engführung auf die Frankfurter Schule trifft dieser Begriff von Clemens Albrecht nicht in jedem Fall zu – ohne eine genaue Analyse der konfliktorischen Struktur des intellektuellen Feldes der Bundesrepublik bleibt der Ansatz defizitär. Deswegen unser Hinweis auf Kontroversen, Konkurrenzen und Konflikte. Fasst man die These der intellektuellen Gründung der Bundesrepublik allerdings feldanalytisch, dann lässt sie sich fruchtbar anwenden. Unser Buch möchte explorativ einige der angesprochenen Aspekte dieses großen Themenkomplexes der Demokratiegeschichte nach 1945 untersuchen. Ausgehend von der These der »Verwissenschaftlichung des Sozialen« (Lutz Raphael) fragt sie nach ausgesuchten Staats- und Verwaltungstheoretikern bzw. -praktikern, nach Sozialphilosophen und Politik8 | Vgl. Wagner, Sozialwissenschaften und Staat, (Fn. 4) S. 55. 9 | Ebd. 10 | Zum Konzept der Diskurskoalitionen, das strategische Bündnisse zwischen wissenschaftlichen Experten und politischen Akteuren beschreibt, vgl. Wagner, Sozialwissenschaften und Staat (Fn. 5); Sabatier, Advocacy-Koalitionen (Fn. 6); Singer, Policy Communities (Fn. 6) sowie – ähnlich – Heclo, Issue networks (Fn. 6).
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wissenschaftlern als »Experten der Demokratie«. 11 Dabei geht es auch um die Geschichte vergangener Zukünfte, um Zukunftsvorstellungen und die Geschichte von Konzepten, die diese theoretischen Praktiker und praxisorientierten Theoretiker entwarfen. Die ausgesuchten Fallbeispiele verknüpfen transatlantische und atlantische Erfahrungsräume der Akteure mit ihren konkreten Erwartungshorizonten in der Nachkriegszeit (Reinhart Koselleck). Die von den remigrierten Experten angestoßenen und begleiteten Wandlungsprozesse waren ein wichtiger Beitrag zur »Modernisierung im Wiederauf bau« (Axel Schildt/Arnold Sywottek).12 Die angesprochenen Theoretiker, Experten und Praktiker stehen dabei exemplarisch, aber keinesfalls abschließend für dieses Kapitel deutscher Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts. Der Blick auf die praktische Verwendung und Anwendung wissenschaftlicher Expertise trägt den Ansätzen einer neuen Ideengeschichte Rechnung, die die oben geschilderten diskursanalytischen aber auch klassisch biographischen Herangehensweisen mit praxeologischen Untersuchungsansätzen verknüpft, um die Wirkungsräume akademischer oder wissenschaftlicher Ideen zu vermessen. In diesem Band wird daher zunächst von Uta Gerhardt am prominentesten Beispiel der Theorie Max Webers der atlantische Transfer verwaltungswissenschaftlicher Konzepte untersucht. Sodann werden die 11 | Lutz Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, GG 22 (1996), S. 165-193, vgl. auch Margit Szöllösi-Janze, Wissensgesellschaft in Deutschland: Überlegungen zur Neubestimmung der deutschen Zeitgeschichte über Verwissenschaftlichungsprozesse, GG 30 (2004), S. 277-313; vgl. auch die Einleitung von Wilfried Rudloff, Politikberatung als Gegenstand historischer Forschung. Forschungsstand, neue Befunde, übergreifende Fragestellungen, in: Stefan Fisch/ ders. (Hg.), Experten und Politik: Wissenschaftliche Politikberatung in geschichtlicher Perspektive, Berlin 2004, S. 13-57; Anja Kruke/Meik Woyke, Editorial [zum Rahmenthema »Verwissenschaftlichung der Politik nach 1945«], Archiv für Sozialgeschichte 50 (2010), S. 3-10, sowie den gesamten dortigen Band. 12 | Vgl. die Beiträge in Axel Schildt/Arnold Sywottek (Hg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993, Studienausgabe 1998. Zur Liberalisierung vgl. Ulrich Herbert, Liberalisierung als Lernprozess, Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte, eine Skizze, in: ders. (Hg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland, Belastung, Integration, Liberalisierung 1945-1980, Göttingen 2002, S. 7-49.
Ansät ze zu einer erneuer ten Ideengeschichte der Remigration: Zur Einleitung
Rahmenbedingungen dieses Transfers analysiert: Die Emigration von Rechtswissenschaftlern (Leonie Breunung) und die Reintegration von Remigranten in die deutschen Universitäten im Systemvergleich, wofür sich das Beispiel der Berliner Universitäten in besonderer Weise anbietet (Katrin Krehan). Sodann untersucht Frieder Günther Phasen der Aufnahme US-amerikanischer Reformideen in der westdeutschen Politik. An dieses institutionelle Kapitel schließen sich einzelne Fallstudien an, und zwar zu Ernst Fraenkel (Alfons Söllner), Arnold Brecht (Corinna Unger), Hans Simons (Philipp Heß) und – vielleicht auf den ersten Blick überraschend – Theodor W. Adorno (Johannes Platz). Aber es soll nicht die Geschichte von Remigration im Sinne eines ›Ende gut, alles gut‹ erzählt werden. Daher sollen auch diejenigen zu Wort kommen, die bei den Flüchtlingsorganisationen aufgrund fehlender Voraussetzungen, für die sie nichts konnten (im Fall von Siegfried Landshut: wegen eines aus antisemitischen Gründen von Seiten der Universität nicht weiter betriebenen Habilitationsverfahrens), gleichsam ›durch das Raster fielen‹ und unter schwierigsten Bedingungen andernorts überlebten (dazu Rainer Nicolaysen). Zudem gab es – neben den sojourners wie Arnold Brecht – auch solche, die bewusst nicht remigierten und gleichwohl – etwa im Zeichen einer kleinen »Renaissance« ihrer Ideen – wirkungsmächtig für die demokratische staatsrechtliche Rezeption im wiedervereinigten Deutschland wurden (Hans Kelsen, zu ihm Matthias Jestaedt). Und schließlich sollen auch diejenigen als drittes »Alternativmodell« zu dem hier vorwiegend analysierten Modell des transatlantischen Ideentransfers untersucht werden, die sich nach 1933 in die »innere Emigration« zurückzogen. Wie verlief bei diesen drei Wissenschaftlern die Fortentwicklung ihrer Ideen? Im Falle von Siegfried Landshut beispielsweise wurden – wie Rainer Nicolaysen zeigt – diese nicht mit anderen (und vor allem nicht US-amerikanischen) Ansätzen amalgamiert, was von uns keinesfalls als weniger wertvoll angesehen wird als die Modelle transatlantischer »cross-fertilization«. Am Ende des Bandes nimmt Marita Krauss einen Ausblick auf künftige Forschungsperspektiven (»von der Remigration zur Transnationalisierung«) vor. In diesem Band muss die Auswahl notwendigerweise exemplarisch sein. Sie konzentriert sich auf Denker und Praktiker sowie (im wahrsten Sinne des Wortes) Grenzgänger zwischen den Systemen der Theorie und der Praxis sowie der verschiedenen politischen und Rechtssysteme. Die Auswahl der Themen und der behandelten Personen ist insofern ebenso notwendigerweise explorativ und lückenhaft. Warum Siegfried Landshut
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und nicht Eric Voegelin, warum Hans Simon und nicht Franz Neumann? Dazu ist zu sagen, dass wir bei den Autoren des vorliegenden Bandes bewusst Vertreter aktueller methodischer Zugänge ausgewählt haben, die uns beschäftigt haben und die wir miteinander ins Gespräch bringen wollten. Insoweit kann und soll dieses Buch nur ein Anfang sein. Dafür, dass man uns die Gelegenheit gegeben hat, miteinander (und hoffentlich auch mit unseren Lesern) ins Gespräch zu kommen, danken wir der Friedrich-Ebert-Stiftung, namentlich Dr. Anja Kruke, sowie Eva Váry für die gute Unterstützung bei der Tagungsorganisation. Für die großzügige Übernahme der Druckkosten dieses Bandes danken wir der Herbert und Elsbeth Weichmann-Stiftung. Die Herausgeber im Juni 2017
I. Atlantischer Transfer verwaltungswissenschaftlicher Konzepte
» Max Weber im Exil« Talcott Parsons und die US- amerikanische Weberrezeption Uta Gerhardt Die Geschichte von Demokratie und Remigration in den Sozialwissenschaften wird meistens am Lebensweg der Denker rekonstruiert, deren Vertreibung aus Deutschland für sie den Verlust der akademischen Kultur bedeutete, zu der sie gehörten. Ihre Theorien, die nicht in das völkische Weltbild passten, wurden durch öffentliche Bücherverbrennungen aus dem nationalsozialistischen Gedankengut ausgeschlossen oder durch Schmähung oder Beschweigen zuweilen auf immer dem Vergessen preisgegeben: Vielen war nicht nur ihre Existenz zerstört, sondern es ging auch ihre Nachwirkung verloren. Dass dieses Schicksal den 1920 verstorbenen und unter Zeitgenossen umstrittenen Max Weber nicht ereilte, obwohl sein Denken in Deutschland nach 1933 verfälscht oder verkürzt wahrgenommen wurde, ist einem glücklichen Zufall zu verdanken: Der seinerzeit gänzlich unbekannte Talcott Parsons aus Cambridge/Mass. in den USA hatte in Heidelberg studiert und Max Weber zu seinem Dissertationsthema gewählt – er »rettete« Webers Theorie vor der Vereinnahmung bzw. Verballhornung durch den Nationalsozialismus. Mein Thema ist Emigration und Remigration des Werkes Webers im und durch das Werk Parsons’ in der Zeit der dreißiger bis sechziger Jahre – beiden ging es um Demokratie als Hauptanliegen der soziologischen Theorie: Der werkgetreu verstandene Weber wird durch Parsons sozusagen in die Emigration gerettet, und Mitte der sechziger Jahre gelingt die Remigration des textadäquat rezipierten Weber nach Deutschland wiederum durch die Mithilfe Parsons’ anlässlich des Heidelberger Soziologentages.
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Uta Gerhardt
Diese Story sei in ihren entscheidenden zwei Abschnitten wissenschaftsgeschichtlich nachgezeichnet.
I. W eber als »recent E uropean writer « Als im Jahr 1937 der Assistant Professor Parsons durch seine 750-SeitenStudie The Structure of Social Action den in den USA weitgehend unbekannten Weber zum Höhepunkt zeitgenössischer soziologischer Theorie erklärte1, erntete er dafür Hohn und Spott oder erfuhr Unverständnis und Ablehnung. Sein früherer Student Robert Bierstedt, nun Kollege an der Columbia University, gab seiner Rezension den süffisanten Titel Is Man Sapient? – dem Sinn nach: »Ist so ein Mensch noch bei Trost?«. Parsons’ Harvard-Kollege Crane Brinton kanzelte die Soziologie ab, letztlich habe sie wahrlich wenig historisch fundierte Analyse zu bieten, und Louis Wirth, der renommierte Professor an der Universität Chicago, lehnte insgesamt Parsons’ Ansatz ab, denn eine eigenständige Soziologie neben der Politischen Wissenschaft und der Nationalökonomie könne es überhaupt nicht geben.2 Die Ablehnung Webers in den USA ist allerdings älter als die Kritik an Parsons’ angeblich blauäugiger Exegese. Der Chairman des HarvardDepartment of Sociology and Ethics, Parsons’ intellektueller Intimfeind Pitirim Sorokin, hatte bereits 1928 in seinem umfassenden Überblickswerk Contemporary Sociological Theories nachgewiesen, dass Max Webers Protestantismusthese widersprüchlich sei, und daher geurteilt, sie sei soziologisch nutzlos. Denn eine klare Kausalität zwischen Religion und Wirtschaft bzw. Wirtschaftsethik sei nicht zu erkennen. »Wenn man
1 | Talcott Parsons, The Structure of Social Action. A Study in Social Theory with Special Reference to a Group of Recent European Writers, New York 1937; 3. Aufl. New York 1968. 2 | Is Man Sapient? THE STRUCTURE OF SOCIAL ACTION: By Talcott Parsons. Reviewed by Robert Bierstedt, in: The Saturday Review of Literature, 12. März 1938, S. 18-20; Crane Brinton, What’s the Matter with Sociology? in: Saturday Review of Literature, 6. Mai 1939, S. 3-7; The Structure of Social Action. Review by Louis Wirth, in: American Sociological Review, 4 (1939), S. 400-404.
»Max Weber im Exil«
dieses Werk Webers ausgelesen hat, ist man kein bisschen schlauer«3, so Sorokin: »Webers Theorie ist … keineswegs vollendet, was uns indessen einige seiner Anhänger einzureden versuchen«4 Als 1929 Theodore Abel in Systematic Sociology in Germany Webers Theorie kritisch darstellte, kommentierte Wirth in seiner Rezension, man müsse doch endlich wahrhaben, dass Weber längst »dead« sei, also geistig tot, denn sein Denken wäre nicht systematisch und zudem das Werk ein Torso geblieben.5 Der Stab war also längst gebrochen, als Parsons im Jahr 1930 die englische Übersetzung der Protestantismusstudie vorlegte.6 Sie wurde in keiner Fachzeitschrift rezensiert und blieb bis nach dem Zweiten Weltkrieg praktisch unbekannt – erst die zweite, dritte und vierte Auflage, die in rascher Folge in den späten vierziger und fünfziger Jahren erschienen, machten das Werk schließlich zum unbestrittenen Klassiker. Heute – fast achtzig Jahre später – ist The Structure of Social Action ein Klassiker. Für die Weber-Rezeption in den USA kann man heute feststellen, dass in der Zeit, als der Nationalsozialismus in Deutschland das eigenständige Denken der Sozialwissenschaften zum Erliegen gebracht hatte, Parsons mit seiner Exegese ein Zeichen setzte und die Amerikaner sich mit dieser bahnbrechenden Theorie, die in Europa entstanden war, vertraut machen konnten. In Deutschland war ein textadäquates Verstehen 1937 längst nicht mehr möglich. So hatte Hans Freyer sich noch 1930 in Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft zur vermeintlich bei We3 | Pitirim A. Sorokin, Contemporary Sociological Theories, New York und London 1928, S. 691: »Thus, after Mr. Weber’s work we are as ignorant about the degree of efficiency of the religious factor as we were before.« 4 | Ebd., S. 696: »Weber’s theory … is far from being unquestionable and perfect as we are told by some of Weber’s followers.« 5 | Theodore Abel, Systematic Sociology in Germany: A Critical Analysis of Some Attempts to Establish Sociology as an Independent Science, New York 1929; Louis Wirth, Book review Systematic Sociology in Germany, in: American Journal of Sociology 36, (1930/1931), S. 664. 6 | Max Weber, The Protestant Ethic and the Spirit of Capitalism, Translated by Talcott Parsons with an introduction by R. Tawney, London und New York 1930; siehe auch: Uta Gerhardt, Much More Than a Mere Translation – Talcott Parsons’s Translation into English of Max Weber’s Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus: An Essay in Intellectual History, in: The Canadian Journal of Sociology 32-1 (2007), S. 41-62.
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ber dargelegten Ethoswissenschaft bekannt und sie der vermeintlichen Logoswissenschaft des Juden Georg Simmel gegenübergestellt, aber 1937 distanzierte er sich in seiner knappen Schrift Geschichte und Gesellschaft auch von Weber, dessen Geschichtsbegriff nunmehr angeblich die schicksalhafte Dynamik der nationalen Erneuerung leugne, weshalb angesichts Deutschlands Größe dieser Denker nicht mehr wichtig wäre.7 Der Heidelberger Soziologe Carl Brinkmann, der beiläufig sogar Parsons’ Studie erwähnte, schrieb 1939 eine Ehrenrettung für Weber, in der das Heroische zu dessen eigentlichem Lebensthema erklärt und im charismatischen Staat dessen Erkenntnisziel gesehen wurde (gedruckt 1942).8 Aber selbst dieser Appell an die Sozialwissenschaften, Webers Bedeutung nicht zu verkennen, blieb ein Lippenbekenntnis – auf Objektivität und Wertfreiheit gegründete Soziologie, die mit idealtypischen Begriffen arbeitete, war im Regime der staatlich geförderten Volkssoziologie längst nicht mehr möglich. Auf Freiheit des Denkens beruhende Sozialwissenschaften passten im Großdeutschen Reich nicht mehr zur staatlich erwünschten Lehre, die an den Universitäten vorgeschrieben war, was die Partei und zumal die Gestapo überwachten.9 The Structure of Social Action wies durch Exegese klassischer Texte europäischer Denker nach, dass sich eine eigene Handlungsstruktur aus Gewalt und Betrug, Anomie sowie Charisma und Ritual abzeichnete, die sich von der Handlungsstruktur der Demokratie unterschied, ihres Gegentyps – deren Hauptanliegen waren wiederum Legalität, Sicherheit und Rationalität, wie sie in einer freiheitlichen Gesellschaft herrschten. Die zentrale Einsicht war, dass in den autoritären Gesellschaften (etwa im Faschismus) gerade die Sozialstruktur fehlte, die erst eigentlich das Moderne ausmachte.10 Die vier europäischen Denker – unter anderem 7 | Hans Freyer, Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft – Grundlegung des Systems der Soziologie, Leipzig und Berlin 1930; ders., Gesellschaft und Geschichte, Leipzig/Berlin 1937. 8 | Carl Brinkmann, Die Bedeutung Max Webers für die heutigen Sozialwissenschaften, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, N. F. 67 (1942), S. 129-135. 9 | Dazu Edward Y. Hartshorne, The German Universities and National Socialism, London und Cambridge MA. 1937. 10 | Uta Gerhardt, National Socialism and the Politics of The Structure of Social Action, in: Bernard Barber/Uta Gerhardt (Hg.), Agenda for Sociology. Classic Sources and Current Uses of Talcott Parsons’s Work, Baden-Baden 1999,
»Max Weber im Exil«
Weber – konnten (und sollten) durch ihre Theorien veranschaulichen, so Parsons, wie man sich ein Handeln und Handlungssystem vorzustellen hat, das in zwei diametral entgegen gesetzte Formen zerfällt, die jeweils einen eigenen Regimetypus darstellen. Es ging dabei um eine empirische (allerdings keine empiristische) Theorie: Gefragt war das erklärende Denken, das die zeitgenössischen Gesellschaften durch eine soziologische Theorie erklärte, um begreiflich zu machen, dass der in Europa weithin herrschende Faschismus begrifflich und faktisch nicht mit der in den USA bestehenden Demokratie gleichzusetzen war, auch wenn sich dort in den dreißiger Jahren eine Tendenz zu populistischen Bewegungen nicht übersehen ließ. Das Theorem der nicht-demokratischen Handlungsstruktur wurde in The Structure of Social Action nicht direkt auf Nazideutschland angewandt, sondern die Beweisführung, dass der Faschismus als anomische und demgegenüber die USA als integrierte Gesellschaft anzusehen war, blieb im Buch eher implizit. Aber vier Vorträge zwischen Februar und Mai 1938 – drei bis sechs Monate nach Erscheinen des Werkes – klärten nachträglich das Thema ab: Sie lieferten den Beweis, dass die begriffliche Analyse in The Structure of Social Action dazu diente, die soziologischen Parameter für ein empirisch adäquates Verständnis der nationalsozialistischen Diktatur zu erarbeiten.11 In den Vorträgen war unmissverständlich die Rede von Gewalt, Betrug und Anomie als soziologischen Begriffen, mit denen sich Nazideutschland charakterisieren ließ: Es handelte sich, so konnte man nunmehr The Structure of Social Action verstehen, um ein Regime der Irrationalität höchsten Ausmaßes – im Weber’schen Sinne war hier in der Gegenwart zeitgenössisch kein rational-legaler, sondern ein traditional-charismatischer Herrschaftstyp zu erkennen.12
S. 87-164; Uta Gerhardt, Talcott Parsons – An Intellectual Biography, Cambridge 2002/2010: Chapter I »Understanding The Structure of Social Action«. 11 | Die handschriftlichen Notizen für Vorträge zur Anwendung des begrifflichen Ansatzes aus Structure auf Nazideutschland trugen die Hinweise »Shop Club Feb. 16th 1938«, »New Haven, March 1938«, »Gov. 16, May 3 1938« und »Soc A May 3rd 1938«. Sie befinden sich im Parsons-Nachlass, Archiv der Harvard-Universität, Signatur HUG(FP) – 42.45.4, box 1. 12 | Parsons in The Structure of Social Action hatte zwei konträre Herrschaftstypen einander gegenüber gestellt, die charismatisch-traditionale und die rational-legale.
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Kaum drei Jahre später, als der European War mit der Kriegserklärung der USA an Japan und derjenigen Nazideutschlands an die USA zum Zweiten Weltkrieg geworden war und Großdeutschland vom Nordkap bis Nordafrika und vom Atlantik bis fast Moskau reichte, während seit Oktober 1941 die Massenvernichtung von Menschen wütete, veröffentlichte Parsons Anfang 1942 den Aufsatz »Max Weber and the Contemporary Political Crisis«13: Mit Weber’schen Begriffen wollte seine soziologische Analyse den nationalsozialistischen Imperialismus und Rassismus erfassen, dessen Gefährlichkeit und Unmenschlichkeit fraglos feststand und der wegen der Zerstörung der Gewaltenteilung, des Rechtsstaates und der Menschenwürde zu kaum vorstellbaren Zuständen geführt hatte – eine zur Weltanschauungsdiktatur gewordene charismatische Herrschaft. Parsons war indessen nicht der einzige Denker in den USA, der Weber wahrnahm, aber er war der einzige Amerikaner, der sich an der Rettung Webers aus dem Dunstkreis der NS-Ideologie beteiligte. Die meisten Soziologen, die in den USA damals zu Weber arbeiteten, waren Emigranten, die für ihr Wissen nun neue Adressaten suchten und auch fanden. Albert Salomon, der nun zur University in Exile der New School for Social Research in New York gehörte, schrieb 1934 und 1935 drei Aufsätze zu Methodologie, Soziologie und Politik bei Weber, die in der Zeitschrift Social Research erschienen, die die Emigranten aus Deutschland gegründet hatten.14 Auch Paul Honigsheim, der an der Michigan State University eine Anstellung gefunden hatte, und Karl Löwenstein, der nun an der University of Massachusetts lehrte, machten Weber zum festen Repertoire ihrer Lehrveranstaltungen – wegen ihrer anfänglichen Sprachschwierigkeiten, denn Weber musste auf Englisch erläutert werden, blieben Pu-
13 | Parsons, Max Weber and the Contemporary Political Crisis, in: Journal of Politics 1 (1942), S. 61-76 und S. 156-172; abgedruckt in Talcott Parsons on National Socialism, ed. and with an introduction by Uta Gerhardt, New York 1993, S. 159-188. 14 | Albert Salomon, Max Weber’s Methodology, in: Social Research 1 (1934), S. 147-168; ders. Max Weber’s Sociology, in: Social Research 1 (1934), S. 147168; ders., Max Weber’s Sociology, in: Social Research 2 (1935), S. 62-83; ders., Max Weber’s Political Ideas, in: Social Research 2 (1935), S. 368-384; die Zeitschrift Social Research erscheint bis heute.
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blikationen dieser Emigranten bis nach Kriegsende eher selten.15 Hans Gerth, ehemaliger Doktorand Karl Mannheims, der nun an der University of Wisconsin in Madison eine Professur innehatte, konnte seine auf Weber rekurrierende Studie zur NSDAP im American Journal of Sociology veröffentlichen, da ihm hinsichtlich Englisch der Chicagoer Soziologe Edward Shils geholfen hatte, und etwa zu dieser Zeit begann die Zusammenarbeit zwischen Gerth und dem jüngeren C. Wright Mills, aus der im Jahr 1946 From Max Weber hervorging, der Sammelband übersetzter Exzerpte und Textstücke, der bis heute das weltweit am weitesten verbreitete englischsprachige Weberbuch geblieben ist.16 Parsons brachte durch seine Interessen seit den zwanziger Jahren zwei Voraussetzungen für eine adäquate Textkenntnis mit – erstens hatte er mit einer im Original deutschsprachigen Arbeit zum Thema Kapitalismusbegriff bei Sombart und Max Weber in Heidelberg promoviert, und so kannte und verwendete er Webers Schriften lebenslang auf Deutsch, und stets griff er, wie man heute weiß, wenn er ein einschlägiges Thema zu bearbeiten hatte, auf Weber im Original zurück17; zweitens hatte er zwischen 1927 und 1930 die Protestantismusstudie übersetzt (mit ausdrücklicher Erlaubnis durch Marianne Weber) und nahm 1938 eine Übersetzung der ersten vier Kapitel aus Wirtschaft und Gesellschaft in Angriff, der »lehrbuchhaften« Manuskriptfassung, die durch Webers vorzeitigen Tod unvollendet blieb und den fünf Auflagen des Werks zwischen 1922 und 1972 als dessen Erster Teil zugrunde gelegen hat.18 Diese unter dem Titel Theory of Social and Economic Organization erschienene Weber-Über15 | Dazu aufschlussreich: Lawrence A. Scaff, Max Weber in America, Princeton and Oxford 2011. 16 | Hans Gerth, The Nazi Party: Its Leadership and Composition (1940), abgedruckt in: Uta Gerhardt, Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Georg Simmel, Max Weber, and Others, New York 1998, S. 49-66; Max Weber, Essays in Sociology, Edited with an introduction by H. H. Gerth and C. Wright Mills, New York 1946 und spätere Auflagen. Gerth und Mills arbeiteten bis in die fünfziger Jahre zusammen, ihr gemeinsames Werk Character and Social Structure erschien in London 1954. 17 | Für 2018 ist vorgesehen, die deutschsprachige Dissertation zusammen mit einem Bericht über Parsons’ Studien zu Weber und »Geist« des Kapitalismus aus den dreißiger bis siebziger Jahren zu veröffentlichen. 18 | Ein Verlag, der die Übersetzung druckte, war während des Krieges nicht zu finden; schließlich erschien im Jahr 1947 die auf ausdrücklichen Wunsch des Ver-
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setzung lebt bis heute in Economy and Society fort, der englischsprachigen Gesamtausgabe der Herausgeber Günther Roth und Claus Wittich: Bekanntlich enthält diese Übersetzung Texte aus der Feder zehn verschiedener Übersetzer (darunter Parsons).19 Jedenfalls fand seit den fünfziger Jahren ein regelrechter Run auf Weber statt: Aus Wirtschaft und Gesellschaft wurden zumal die Kapitel zur Rechtssoziologie und Religionssoziologie sowie nach und nach auch die drei Bände der Gesammelten Abhandlungen zur Religionssoziologie auf Englisch vorgelegt.20 Als die Soziologie der Nachkriegszeit in den USA ihre Lehr- und Forschungskapazitäten rasant zu erweitern vermochte, war Weber ein Teil des allgemeinen Booms. Die methodologischen Schriften lagen bereits seit 1949 in allerdings unbefriedigender Übersetzung durch Shils vor, und erst im einundzwanzigsten Jahrhundert gelang eine autoritative Version der Weber’schen Methodologie, was allemal deren textadäquate Rezeption im angelsächsischen Sprachraum jahrzehntelang erschwert hat – erst die Neuübersetzung durch Henrik Bruun in Zusammenarbeit mit Sam Whimster ermöglicht (seit 2012) ein angemessenes Verständnis der Methodological Writings.21 Parsons hat bis an sein Lebensende an Weber festgehalten – er sah in ihm den Vorkämpfer einer begrifflich ausgearbeiteten und dabei empirisch gesättigten soziologischen Theorie und auch den Vorreiter einer
lages durchgeführte Überarbeitung einer Übersetzung des britischen Autor Stuart Henderson durch Parsons. 19 | Die Übersetzung der vier Kapitel aus Wirtschaft und Gesellschaft: Max Weber, The Theory of Social and Economic Organization, New York 1947; die englischsprachige Übersetzung des gesamten Werkes durch Günther Roth und Claus Wittich übernimmt den Parsonstext mit gewissen Änderungen, ohne allerdings die Eingriffe kenntlich zu machen – dazu: Uta Gerhardt, Max Weber auf Englisch. Zu Text und Werk bei Übertragungen ins Englische, in: Zyklos 2 (2015), S. 31-71. 20 | Max Weber on Law in Economy and Society. Translated by Max Rheinstein and Edward A. Shils, Cambridge MA 1954; Max Weber, The Sociology of Religion. Translated by Ephraim Fischoff, Boston 1963. 21 | Max Weber, The Methodology of the Social Sciences. Translated and Edited by Edward A. Shils and Henry A. Finch, New York 1949; Max Weber, Collected Methodological Writings. Edited by Henrik H. Bruun and Sam Whimster, translated by H. H. Bruun, London 2012.
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»wertfreien« und »objektiven« sozialwissenschaftlichen Erkenntnis, die sich der aktuellen Weltlage nicht verschließt. Sein Verdienst ist allemal, dass er in den dreißiger Jahren ungewollt oder jedenfalls ohne ausdrückliche Absicht Webers Denken vor der offenkundigen Verflachung oder Verfälschung durch die Deutschen bewahrte, was andererseits unausweichlich geschehen wäre, wenn Weber nur in Deutschland wahrgenommen worden wäre. So ging Weber gewissermaßen mit den Emigranten ins Exil, die in New York, Madison und Chicago eine neue intellektuelle Heimat fanden. Aber erst Parsons, der kein Emigrant war, doch durch Heidelberg mit dem Werk vertraut war, machte Weber zu dem nicht-positivistischen Denker des modernen Kapitalismus, der für die USA wegweisend wurde. Zwar würde es noch Jahrzehnte dauern, bis Webers Werk zum führenden Paradigma wurde. Aber Parsons war dafür Vorreiter, der junge Dozent, der bis 1939 keine gesicherte Position an der Harvard-Universität hatte. An dieser renommierten Institution dachte seinerzeit jedenfalls kaum jemand daran, die europäische Sozialwissenschaft könne Antworten auf die drängenden Fragen der Gegenwart bereithalten – vielleicht wäre diese Rolle am ehesten Joseph Schumpeter und Carl J. Friedrich zugebilligt worden. Parsons bekannte sich nun offen zu Weber, jenem europäischen Denker, den sein Chairman of the Department Sorokin bereits in den zwanziger Jahren Weber als irrelevant abgetan hatte – dieser Jüngere, dessen einziger akademischer Grad ein Dr. phil. war, schien ein Stümper und naiv zu sein.22 Hinter dem Konflikt zwischen Parsons und Sorokin – den jahrelangen Querelen und Schikanen – stand letztlich ein weltanschaulicher Dissens. Dieser sei kurz beleuchtet, denn dadurch erscheint The Structure of Social Action in einem besonderen Licht. Parsons erklärte Weber zum Höhepunkt der für die USA maßgeblichen soziologischen Theorie, aber seinerzeit standen sich zwei Lager der sozialwissenschaftlichen Lehrmeinungen unversöhnlich gegenüber – auf der einen Seite stand eine auf die Demokratie des New Deal setzende Soziologie, die allerdings wenige Anhänger hatte (sie gehörten zur jungen Generation wie Robert Merton oder Paul Lazarsfeld, oder waren Ältere wie Robert Lynd oder Robert McIver), und auf der anderen Seite standen außer Sorokin so bekannte Namen wie 22 | Die Briefe Sorokins als Head of the Department an Parsons dürften heutzutage als mobbing gelten können.
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William Graham Sumner, Albion Small oder Edward A. Ross, die die Tradition der Herbert Spencer folgenden Sozialwissenschaft verkörperten: Sie bekannten sich zum Sozialdarwinismus und hielten die biologische Natur der Gesellschaft für eine hinreichend begründete Tatsache. Dass Parsons diese aus dem Sozialdarwinismus begründete Theorie verwarf und ihr in The Structure of Social Action die vier recent Europeans entgegen setzte, war ein Meilenstein für »Max Weber im Exil«. Die Vorgeschichte begann bekanntlich bereits 1910 mit dem Ersten Soziologentag in Frankfurt a.M., als Max Weber als Vorstandsmitglied der neu gegründeten Deutschen Gesellschaft für Soziologie die Einladung des Rassentheoretikers Alfred Ploetz anregte, eines Arztes, der die Zeitschrift »Rassenhygiene und Gesellschaftsbiologie« herausgab und eine auf Auslese und Ausmerze abzielende Gesellschaftslehre verkündete, deren Maximen »Kampf ums Dasein« und »Überleben des Stärkeren« waren.23 Weber war der einzige Diskussionsredner, der in seiner brillanten Stegreifrede in der Diskussion nach dem Vortrag Plötz’ verkündete, dessen Darlegungen könnten keinerlei wissenschaftliche Brauchbarkeit für sich beanspruchen.24 Dass Parsons während seines Studienaufenthaltes in Heidelberg auch diese Philippika25 gegen die rassistische Gesellschaftslehre zur Kenntnis nahm, ist wahrscheinlich – im Jahr 1924 war der Band der Gesammelten Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik erschienen, in dem der Beitrag Webers noch einmal abgedruckt wurde. Mit anderen Worten: In den USA war seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts die Lehre Spencers allgemein anerkannt, die für »Survival 23 | Alfred Ploetz, Die Begriffe Rasse und Gesellschaft und einige damit zusammenhängende Probleme, in: Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages in Frankfurt a.M., Tübingen 1911, S. 113-139; Alfred Ploetz, Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen. Ein Versuch über Rassenhygiene und ihr Verhältnis zu den humanen Idealen, besonders zum Sozialismus. Berlin 1895. 24 | Max Weber, Diskussionsrede dortselbst zu dem Vortrag von A. Ploetz über »Die Begriffe Rasse und Gesellschaft«, in: Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik von Max Weber, Tübingen 1924, S. 456-462. 25 | Dazu auch: Uta Gerhardt, Darwinismus und Soziologie – Zur Frühgeschichte eines langen Abschieds, in: Vererbung und Milieu. Heidelberger Jahrbücher, Bd. XLV, herausgegeben von der Heidelberger Universitätsgesellschaft (hg. v. Michael Wink), Heidelberg 2001, S. 183-215.
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of the Fittest« und »Struggle for Survival« plädierte und »Selection« zum Prinzip gesellschaftlicher Evolution und kulturellen Fortschritts machte – aber nun setzte The Structure of Social Action das Gesellschaftsdenken der four recent European writers dagegen. Das Buch begann mit dem bedeutungsschweren Satz: »Spencer ist tot«.26 Dieses vorweggenommene Fazit des Buchs begründete der erste Absatz folgendermaßen: »[Spencers] Gott ist das Prinzip der Evolution. Sein Gott hat ihn verraten. Wir sind längst über Spencer hinaus gelangt.« Der Clou dieser Aussage war, dass es sich um ein Zitat aus dem 1933 erschienenen Werk Brintons über das britische politische Denkens des neunzehnten Jahrhunderts handelte27 – Spencer gehörte wie Jeremy Bentham oder John Stuart Mill zur politischen Theorie, die ein obsoletes Gesellschaftsbild entwarf. Parsons nahm Brintons Analyse zum Anlass, um dem Sozialdarwinismus Spencers mit beißendem Spott zu begegnen, und daraus ergab sich unschwer, dass eine bewusst oder unbewusst rassistische Politik in der Theorie des sozialen Handelns keinen Platz hatte. Sorokin hatte sich in Contemporary Sociological Theories zur biologischen Begründung der soziologischen Theorie bekannt, wofür deren Hauptbegriffe Kampf (siehe »Struggle for Survival«) und physische Stärke (siehe »Survival of the Fittest«) standen. Parsons gab mit dem Brinton-Zitat am Anfang seines Werkes zu verstehen, dass sein Widersacher Sorokin eine fragwürdige Gesellschaftsauffassung hatte. Der eigentlich moderne Theoretiker war Weber, der den Sozialdarwinismus weit hinter sich ließ: Durch The Structure of Social Action wurde »Max Weber im Exil« zum wichtigsten Denker einer Handlungs- und Gesellschaftstheorie, die sich mit der Demokratie identifizierte und als systematisch verstehen26 | Parsons, The Structure of Social Action (Fn. 1), S. 3; ebd. die nächste Zitatstelle. Der Absatz im Wortlaut: »›Who now reads Spencer? … He was the intimate confidant of a strange and rather unsatisfactory God, whom he called the principle of Evolution. His God has betrayed him. We have evolved beyond Spencer.‹ Professor Brinton’s verdict may be paraphrased as that of the coroner, ›Dead by suicide or at the hand of person or persons unknown.‹ We must agree with the verdict. Spencer is dead. But who killed him and how? This is the problem.« Zu »Spencer is dead« gehört als Anmerkung: »It is his social theory as a total structure that is dead.« 27 | Crane Brinton, English Political Thought in the Nineteenth Century, London 1933, S. 226-227.
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de Soziologie gelten konnte. Politisch sollte eine auf den Darwinismus rekurrierende Sozialwissenschaft in den USA – längst war man ja über Spencer hinaus gelangt – keine Heimstatt mehr haben.
II. W eber als Titan von H eidelberg Dreißig Jahre später stand das Thema der Weberrezeption noch einmal zur Debatte. Wiederum wurde diese Theorie zur falschen Theorie der modernen Gesellschaft erklärt, und wiederum musste Parsons sich unmissverständlich zu Wort melden, um dem werkgetreu verstandenen Weber ein weiteres Mal zum Durchbruch zu verhelfen. Als es im Jahr 1959 galt, den 15. Deutschen Soziologentag zu Ehren der hundertsten Wiederkehr des Geburtstags Webers vorzubereiten, der zum Anlass einer Rückschau und Würdigung werden sollte, die dem Werk Webers angemessen war, zeigte sich, dass zwei unversöhnliche Lager einander gegenüberstanden. Auf der einen Seite standen die Gelehrten des wieder erstandenen Frankfurter Instituts für Sozialforschung, die entschlossen waren, einer unpolitischen oder gar affirmativen Rezeption der Soziologie Webers mit gut begründeten Argumenten entgegenzutreten – die »Frankfurter Schule« war mit zwei bzw. drei Stimmen im sechsköpfigen Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Soziologie vertreten, und Theodor W. Adorno ließ sich zum Vorsitzenden der Gesellschaft für die Amtszeit von 1963 bis 1967 wählen. Auf der anderen Seite standen angesehene Soziologieprofessoren wie René König oder Otto Stammer, die entschlossen waren, nur werkadäquate Würdigung anlässlich des Soziologentages zuzulassen, auch wenn es bedeutete, dass Theorie und Methodologie Webers vor aller Öffentlichkeit diskutiert werden mussten. Parsons wurde durch Stammer zum Bundesgenossen derjenigen, die nichts unversucht lassen wollten, gegen das geschichtsphilosophisch begründete gesellschaftskritische Pathos der »Kritischen Theorie« eine werkadäquate Position zu stellen – wer wäre besser zum Hauptredner geeignet gewesen als Parsons, der damals weltweit führende Soziologe und Gralhüter der herrschenden Systemtheorie, der zumal ein Kenner der in Deutschland noch weithin kritisch beurteilten Soziologie Webers war? So wurde der Heidelberger Soziologentag zum eigentlichen Schlusspunkt des über dreißigjährigen Exils des in den USA längst »angekommenen« Weber.
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Die beiden Lager auf deutscher Seite waren durch Schicksal und Schriften als würdige Vertreter einer Soziologie ausgewiesen, die sich um die Überwindung des Nationalsozialismus und Begründung einer an der westdeutschen Demokratie orientierten Sozialwissenschaft bemühten. Der Berliner Ordinarius Stammer, Vorsitzender der DGS in den Jahren 1959 bis 1963, war in dieser Funktion auch Vorsitzender des Vorbereitungskomitees: Dieser durch seine innere Emigration während des Nationalsozialismus geprägte Sozialdemokrat versuchte bewusst, auch indem er Weber für die politische Soziologie erschloss, das Demokratieverständnis der Weimarer Republik wiederzubeleben.28 Unter den Vertretern der »Frankfurter Schule« leitete Adorno seine kritischen Vorbehalte gegen Weber aus der Philosophie Max Horkheimers her, seines verehrten Mentors: Fast zwanzig Jahre vorher – im Exil in den USA – hatte Horkheimers Schrift Eclipse of Reason vor Webers idealtypischer Begrifflichkeit gewarnt: Sie setze einer faschistischen Herrschaft letztlich nichts entgegen, weil in ihr die Begriffe am Erkenntnisinteresse ausgerichtet wären, was bedeute, dass jederzeit etwa idealtypische Konstrukte unter den Gesichtspunkt gestellt würden, den etwaige Herrschende diktierten oder gar oktroyierten. Adorno hatte sich in seiner Abhandlung »Soziologie und Psychologie« aus dem Jahr 1955, die er für die Gedenkschrift zu Horkheimers sechzigstem Geburtstag verfasst hatte, zunächst gegen die Parsons’sche Systemtheorie gewandt, die er hermetisch nannte, da sie letztlich geeignet wäre, selbst eine Herrschaft zu rechtfertigen, die sich der Konzentrationslager bediene; letztlich sei wegen derartiger Unfähigkeit, sich gegen Zumutungen einer Diktatur zur Wehr zu setzen, auch Webers Soziologie abzulehnen, zumal deren Begriffe willkürlich nach den Vorgaben einer herrschenden Klasse oder eines Regimes gebildet würden. Der junge Heidelberger Philosoph Jürgen Habermas, der sich eng an Adornos Philosophie anlehnte, hatte 1962 in einem Vortrag an der FU Berlin dargelegt, zwischen kritischen und konservativen Aufgaben der Soziologie sei scharf zu unterscheiden, denn eine marxistisch gerechtfertigte Gesellschaftskritik, die an humanen Verhältnissen orientiert wäre, erwachse erst daraus, dass sie sich der bloßen Verdopplung
28 | Die wichtigsten Arbeiten enthält Otto Stammer, Politische Soziologie und Demokratieforschung. Gesammelte Aufsätze, Berlin 1965.
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einer schlechten Wirklichkeit verweigere, die ansonsten durch bewusste oder unbewusste Bejahung des status quo entstehe.29 Der vierte Denker der »Frankfurter Schule«, den der Vorstand der DGS zunächst für den ersten Hauptvortrag in Heidelberg in Aussicht zu nehmen hoffte, war der nicht remigrierte Emigrant Herbert Marcuse, der in Kalifornien lehrte. Er war im Deutschland der frühen sechziger Jahre zum Vordenker und Mentor der studentischen Jugend geworden: Seine Studie Eros and Civilization, die mittels einer hedonistischen Interpretation der Psychoanalyse Sigmund Freuds die spielerische Selbstverwirklichung des Individuums in einer herrschaftsfreien Gesellschaft zur machbaren Utopie erklärte, war in den frühen sechziger Jahren das Kultbuch der jungen Generation in den Sozialwissenschaften – Marcuse sollte die Aufgabe zufallen, Webers Kapitalismus- und Bürokratieverständnis gesellschaftskritisch zu analysieren, um daran das Herrschaftsinstrument zu veranschaulichen, dessen sich eine für den Faschismus anfällige Moderne bediente.30 Beide Seiten waren also für oder gegen Weber längst positioniert. Die Debatten, die bereits in der Vorbereitungszeit liefen, suchten die Planung für den Soziologentag möglichst im Voraus in eine bestimmte Richtung zu lenken – was letztlich dazu beigetragen haben dürfte, dass der Kongress in der amerikanischen Aufarbeitung, die auf die Vorträge und deren Argumente Bezug nahm, zu einem denkwürdigen Medienereignis wurde. Dass daraus ein Wendepunkt der Weberrezeption in Deutschland wurde, lag wohl nicht allein daran, dass die gegensätzlichen Standpunk29 | Max Horkheimer, Eclipse of Reason, New York 1947; Theodor W. Adorno, Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie, in: Sociologica I: Aufsätze Max Horkheimeer zum sechzigsten Geburtstag gewidmet, Frankfurt 1955, S. 11-54; Jürgen Habermas, Kritische und konservative Aufgaben der Soziologie, in: ders., Theorie und Praxis, Frankfurt a.M. 1963, S. 290-306 (Ausarbeitung des Vortrags anlässlich der Berliner Universitätstage vom Januar 1962). 30 | Herbert Marcuse, Eros and Civilization. A Philosophical Inquiry into Freud, Boston 1955, übersetzt: Triebstruktur und Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1965. Ein Vorabdruck des letzten Kapitels des Buches noch unter dem Arbeitstitel »Philosophy of Psychoanalysis: Toward Civilization Without Repression« erschien 1955 im Band »Sociologica I«, den Max Horkheimer zum sechzigsten Geburtstag gewidmeten Aufsätzen in deutscher Übersetzung unter dem Titel »Trieblehre und Gesellschaft«, dort S. 47-66.
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te der beiden Lager aufeinander prallten. Sondern die Tatsache, dass es zweimal zu einem Eklat kam, dürfte offensichtlich gemacht haben, wie tief die Gräben zwischen den beiden Richtungen waren: Jedenfalls war wohl für die Nachgeschichte ausschlaggebend, die ihrerseits erst die langfristige Bedeutung des Heidelberger Kongresses erklärt, wie leidenschaftlich die Debatten in Heidelberg geführt wurden. Die Geschehnisse sind anderwärts bereits ausführlich geschildert worden31, hier sei die Story kurz erzählt: Es geht vor allem um die Rolle Parsons’ als »Retter« Webers vor der Kritik der »Kritischen Theorie«. Im Vorfeld der Vorplanung sorgte er dafür, dass Stammer – als Vorsitzender des Vorbereitungskomitees – im September 1962 zum 5. Weltkongress für Soziologie in Washington eingeladen wurde. So ergab sich eine Möglichkeit, dass die beiden im kleinen Kreis über den Heidelberger Soziologentag sprechen konnten, als sie sich im Hotel trafen. Eingeladen war auch der bis dato einzige amerikanische Weberbiograph, der seit 1938 in den USA lebende Reinhard Bendix, der Parsons’ besorgter Mitstreiter in Heidelberg wurde und als Kenner auch der deutschen Weberliteratur eine werkgetreue Analyse verbürgte.32 Die Gesprächsteilnehmer in Washington verabredeten, Stammer werde dafür sorgen, dass das Hauptreferat des ersten Tages an Parsons – nicht Marcuse – vergeben wurde. Marcuses Referat zum Thema »Kapitalismus« wurde für den dritten Tag vorgesehen, während der zweite Hauptreferent Raymond Aron das Verhältnis Webers zu Politik und
31 | Zur Vorgeschichte, den Ereignissen in Heidelberg und der Nachgeschichte in den USA siehe: Uta Gerhardt, Die Rolle der Remigranten auf dem Heidelberger Soziologentag 1964, und ihre Interpretation des Werkes Webers, in: Claus-Dieter Krohn/Axel Schildt (Hg.), Zwischen den Stühlen? Remigranten und Remigration in der deutschen Medienöffentlichkeit der Nachkriegszeit, Hamburg 2002, S. 216-243; Uta Gerhardt, Der Heidelberger Soziologentag 1964 als Wendepunkt der Rezeptionsgeschichte Max Webers, in: dies. (Hg.), Zeitperspektiven. Studien zu Kultur und Gesellschaft. Beiträge aus der Geschichte, Soziologie, Philosophie und Literaturwissenschaft, Stuttgart 2003, S. 232-266, sowie dies., The Social Thought of Talcott Parsons: Methodology and American Ethos, Farnham, Surrey 2011, S. 173-187. 32 | Reinhard Bendix, Max Weber: An Intellectual Portrait, Garden City NY 1959; Parsons rezensierte das Buch zustimmend in der American Sociological Review.
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Macht beleuchten sollte, das zeitgenössisch kontrovers diskutiert wurde.33 Um Gegenstimmen und abweichenden Meinungen genug Forum zu geben, sollte jeder Hauptvortrag durch fünf Diskussionsbeiträge kommentiert werden – nach Parsons’ Vortrag sollten nicht nur Diskussionsredner der »Kritischen Theorie« sprechen, und nach Marcuses Vortrag sollten auf jeden Fall auch Diskussionsredner zu Wort kommen, die die »amerikanische Perspektive« vertraten. Parsons’ Hauptvortrag hatte englischsprachig den Titel »Evaluation and Objectivity in Social Science: An Interpretation of Max Weber«.34 Das Referat machte das Gesamtwerk Webers zum Entwurf moderner Soziologie unter dem Gesichtspunkt der Methodologie: Sie stelle das eigentlich wissenschaftliche Vermächtnis dar und reiche bis weit in die Theorie Webers – auch und zumal die Rechtssoziologie umfassend – hinein. Unter den fünf Diskussionsbeiträgen, die dazu Stellung nahmen, monierte Habermas, man könne als Deutscher nicht umhin, bei Weber auch die Anklänge an Carl Schmitt wahrzunehmen, was gerade wegen der Gefahr, dass der Faschismus allzu leicht verharmlost werde und infolgedessen jederzeit wiederkehren könne, unbedingt zu bedenken wäre. Daraufhin erwiderte Parsons in einem Schlusswort, dass im Programm nicht vorgesehen war, man dürfe in Deutschland nicht verkennen, selbst wenn die Furcht vor der Wiederkehr des Faschismus sicherlich nicht unbegründet wäre, dass dieser verdiente Klassiker des soziologischen Denkens es wert wäre, gerade als Vorkämpfer demokratischer Vorstellungen zu gelten, anstatt dass ihm unbegründet antidemokratisches Gedankengut unterstellt werde. Dass Habermas sehr wohl verstand, an wen sich diese Kritik richtete, mag ihn dazu bewogen haben, der gedruckten Fassung im Konfe33 | Wolfgang Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik, 1890-1920, Tübingen 1959, hatte weithin für Aufsehen gesorgt, da Mommsen anhand von Archivquellen, die bisher nicht zugänglich gewesen waren, die These zu belegen unternommen hatte, Weber sei als Apologet der Führerdemokratie ein Befürworter charismatischer Herrschaft und zumal Monarchist gewesen. 34 | Der Vortrag wurde auf Deutsch im Konferenzband abgedruckt und außerdem zwei weitere Male auf Englisch veröffentlicht, zusätzlich zur englischen Übersetzung im Konferenzband der Heidelberger Tagung aus dem Jahr 1971. Talcott Parsons, Wertgebundenheit und Objektivität in den Sozialwissenschaften, in: Otto Stammer (Hg.), Max Weber und die Soziologie heute. Verhandlungen des 15. Deutschen Soziologentages, Tübingen 1965, S. 49-64.
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renzband als Anmerkung hinzuzufügen, seine Formulierung sei wohl missverständlich gewesen.35 Marcuses Vortrag »Industrialisierung und Kapitalismus« begann mit einer Würdigung des Weber’schen Grundsatzes, Seinsollendes mit Seiendem nicht gleichzusetzen, was für Webers Rationalitätsbegriff – zumal qua Rationalität des industriellen Kapitalismus – die Vernunft ins Spiel bringe, wodurch er sich zugleich veranlasst sehe, vor der Gefahr universeller Bürokratisierung zu warnen. Kapitalistische Rationalität, so Marcuse, erweise indessen die Irrationalität der Vernunft im Zeitalter der Massenvernichtungswaffen, dem Spätkapitalismus, in dem »der Existenzkampf sich verschärft innerhalb der Nationalstaaten sowohl wie international, und die aufgestaute Aggression sich entlädt in der Legitimierung mittelalterlicher Grausamkeit (Folter) und in der wissenschaftlich betriebenen Menschenvernichtung«.36 Man müsse bei Weber sehen, dass der »rationale bürokratische Verwaltungsapparat, kraft seiner eigenen Rationalität, einer fremden Herrschaftsspitze unterstellt«37 werde, ihrerseits also denaturiert »technischer Vernunft«38 – erst wenn sie eines Tages zur »Technik der Befreiung« werde, werde die Utopie möglich sein. Als Diskussionsredner waren Bendix und der dritte Amerikaner vorgesehen, der nach Heidelberg gereist war – Benjamin Nelson, ein Kulturtheoretiker, der seinerzeit eine vollständige Übersetzung von Wirtschaft und Gesellschaft plante und mit Webers Werken auf Deutsch vertraut war: Er sah Weber als Verfechter des Rechtsstaats und Vorkämpfer der Weimarer Demokratie. Bendix hatte im Vorfeld des Heidelberger Soziologentages in einem Brief an Parsons seine Besorgnis geäußert, es werde zu Verunglimpfungen und Fehlbeurteilungen durch die »Kritische Theorie« kommen: »Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Krethi und Plethi die Hun35 | Der Text der Anmerkung: »Einen freundlichen Ratschlag aufnehmend, halte ich nachträglich eine andere Formulierung, wenn man sie in ihrer Ambivalenz belässt, für zutreffender: Carl Schmitt war ein ›natürlicher Sohn‹ Max Webers«, Jürgen Habermas, Diskussion über »Wertfreiheit und Objektivität«, in: Stammer (Hrsg.) Max Weber und die Soziologie heute (Fn. 34), S. 81. 36 | Marcuse, Industrialisierung und Kapitalismus, in: Stammer (Hrsg.) Max Weber und die Soziologie heute (Fn. 34), S. 161-180, 166. 37 | Ebd., S. 176; Kursivschreibung im Original. 38 | Ebd., S. 180.
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dertjahrfeier zum Anlass nehmen werden, um Weber zum Prügelknaben der ungelösten geistigen Auseinandersetzungen des letzten halben Jahrhunderts in Deutschland zu machen.«39 Bendix war mit gemischten Gefühlen nach Heidelberg gekommen: Sein Diskussionsbeitrag – ohne namentliche Hinweise – verwies auf Anklänge zwischen Marcuse und Autoren der Nazizeit, die den starken Staat bejahten, aber Marcuse habe Webers Bürokratiebegriff allzu nahe an das Irrationale herangerückt und dadurch die charismatische Herrschaft betont, während doch die Bürokratie gerade für Rationalität und allemal den Rechtsstaat stehe. Nelson wurde deutlicher, als er in seinem Diskussionsbeitrag dreierlei monierte: Dass Marcuse verkenne, dass Wissenschaft stets eine gewisse formal-abstrakte Rationalität verkörpere, wäre angesichts der Geschichte des Denkens letztlich naiv; dass Marcuse nicht wahrnehme, wie sehr Weber die Tatsache des ›ehernen Gehäuses der Hörigkeit‹ beunruhigt habe, sei unverständlich; und unverzeihlich sei auch, Weber letztlich zum Vordenker für 1933 und »den Albtraum Auschwitz« zu machen – er habe der Menschheit gerade als der »sich quälende Titan und Prophet unserer schicksalsschweren Epoche« einen unwiederbringlichen Dienst erwiesen.40 Da Marcuse die Anwürfe nicht auf sich sitzen lassen wollte, hielt er ein Schlusswort, für das er sich während Nelsons Vortrag Notizen gemacht hatte. Am Ende seiner Darlegung verlas er einen Passus aus Nelsons Diskussionsbeitrag wörtlich, um daran die Bemerkung anzuschließen: Er bekenne sich bereitwillig zu jenem »tragischen Widerwillen« gegen die »heutige sozial-kulturelle Wirklichkeit«, den ihm Nelson nachsage und der allerdings bei Nelson offenbar gänzlich fehle. Doch wer das Gegebene kritiklos als unvermeidlich (inevitable) ansehe, sei überhaupt kein Den-
39 | »I have the distinct impression that the occasion of the centenary is being used by all and sundry to make Weber a whipping-boy of the unresolved intellectual legacies of Germany for the last half century.« Brief, Bendix an Parsons, 9. April 1964, Parsons papers, HUG (FP) 15.4, box 4. 40 | Benjamin Nelson, Diskussion über »Industrialisierung und Kapitalismus«, in: Max Weber und die Soziologie heute«, S. 201; dort auch die nächste Zitatstelle. Die Rede ist von »the nightmare of Auschwitz« und »a tormented Titan and a prophet of our distraught era«; der Satz lautet: »To hold him responsible for the advent of 1933 or the nightmare of Auschwitz, as a number of his aroused countrymen are now doing, is to commit error and wrong at one and the same time.«
»Max Weber im Exil«
ker: »Denn ein Denken, das sich von vornherein damit abfindet, dass das Gegebene unvermeidlich ist, ist nun wirklich kein Denken mehr.«41 Den Schlussakt und zugleich das bis heute denkwürdige Ende der fast dreißig Jahre »Max Weber im Exil« bildeten die Nachbetrachtungen zum Heidelberger Soziologentag, die zwischen August 1964 und Februar 1965 in der englischen bzw. amerikanischen Presse erschienen – aus heutiger Sicht waren sie entscheidend für die endgültige Rückkehr werkgetreuer Rezeption nach Deutschland. Den Auftakt bildete ein Artikel der Zeitschrift Encounter – unter Pseudonym – über den Kongress: Dort hätten die Landsleute Webers, gemeint sind wohl die Denker der »Frankfurter Schule«, den »Titanen von Heidelberg« regelrecht verunglimpft; dass dies gar im Namen einer Gesellschaftsphilosophie geschehen sei, die sich zur Humanität bekenne, wäre unverständlich und auch unverantwortlich.42 Nelson, der der anonyme Autor dieses Artikel gewesen sein dürfte, schickte im Dezember 1964 an Parsons eine Entwurfsfassung eines »Letter to the Editor« an die New York Times Review of Books, in dem nunmehr vor einem Millionenpublikum noch einmal klargestellt werden sollte, wie unangebracht die Kritik an Weber durch Deutsche in Heidelberg gewesen war, während die Amerikaner, allen voran Parsons, erst für angemessene Würdigung Webers hätten sorgen müssen.43 Der Leserbrief »Storm Over Weber«, gezeichnet Benjamin Nelson, Stony Brook L.I., erschien am 3. Januar in der New York Times Review of Books.44 Noch einmal wurde dagegen protestiert, dass Marcuse anlässlich des Heidelberger Soziologentages den Vorwurf erhoben habe, Weber sei 41 | Herbert Marcuse, Schlusswort, in: Stammer (Hrsg.), Max Weber und die Soziologie heute (Fn. 34), S. 218. 42 | Carl Cerny, Storm Over Max Weber, in: Encounter, August 1964, S. 57-59. 43 | Brief von Nelson an Parsons vom 3. Dezember 1964, Parsons-Nachlass HUG(FP) – 15.4, box 12. Später – im Januar 1965 – sandte Nelson an Parsons weitere Materialien zu Marcuse, nämlich eine Übersetzung des Heidelberger Vortrags durch Nelsons Mitarbeiter Günther Roth sowie eine Rezension des gerade erschienenen Werks The One Dimensional Man, überschrieben »Dialectics of Despair«. Parsons-Nachlass HUG(FP) – 15.4, box 9. 44 | Siehe The New York Times Review of Books, 3. Januar 1965, S. 23: »Letters to the Editor«, Storm Over Weber, signed Benjamin Nelson, Stony Brook L.I«. Der Brief ist im Parsons-Nachlass unter HUG(FP) – 15.4, box 9 archiviert. Im Marcuse Nachlass gehört er zur Signatur 273, einem fünf Blätter umfasst.
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indirekt für die Endlösung verantwortlich zu machen. Die darauf anspielende rhetorische Frage Nelsons lautete: »Waren nicht die Konzentrationslager folgerichtig die Frucht des Weber’schen Plädoyers für ›Wertfreiheit der Wissenschaft‹ und bürokratische Rationalität?«45 Die Kritiker Webers in Heidelberg, die sich für progressiv und demokratisch hielten, so Nelson, hätten einen durch nichts zu rechtfertigenden »Sturm über Weber« entfacht, während doch gerade die Tatsache noch einmal ins allgemeine Bewusstsein zu heben sei, »dass es amerikanische Gelehrte waren, allen voran Talcott Parsons, die alles dafür getan haben, in Weber – zusammen mit dem französischen Denker Émile Durkheim – den entscheidenden Wegbereiter der Soziologie des zwanzigsten Jahrhunderts zu erkennen.«46 Marcuse konnte diese Kritik nicht auf sich sitzen lassen: Seine Replik vom 28. Februar – erschienen als »Letters to the Editor. Comment« ebenfalls in der New York Times Review of Books – führte gegen Nelson zweierlei ins Feld: Erstens sei Weber lebenslang Monarchist gewesen und habe selbst noch am Ende des desaströsen Ersten Weltkriegs die Erhaltung der Hohenzollern-Dynastie gefordert; zweitens habe er, Marcuse, nie behauptet, auch nicht in Gestalt einer rhetorischen Frage, dass Webers Wertfreiheit und Bürokratiekonzeption letztlich die Konzentrationslager möglich gemacht hätten: Er habe Webers Soziologie nicht grundsätzlich abgelehnt, er habe Weber nicht im Zusammenhang mit 1933 und den nachfolgenden Verbrechen gesehen, er habe Weber nicht für die »Endlösung« der Nationalsozialisten verantwortlich gemacht, und er habe die Konzentrationsla-
45 | Die Textstelle: »[T]here took place a scapegoating of Weber by a highly vocal faction of the self-styled ›progressive‹ democratic ›anti-Nazis‹, committed to the so-called ›critical, dialectical (read existentialist neo-Marxist) philosophy.‹ … In the very midst of the ceremonies set aside to commemorate his birth, the anguished Titan of Heidelberg was even denounced as a main inspiration of the ›Hitler event of 1933‹ and its aftermath. Insisted his enraged detractors: Weber was the bridge to Hitler! … Were not the concentration camps the ultimate fruit of Weber’s endorsement of ›scientific value neutrality‹ and bureaucratic-legal rationality?” 46 | »… that it has been American scholars, especially Talcott Parsons, who have done so much to establish Weber – along with the French thinker, Emile Durkheim – as a principal pathfinder of the 20th-century sociological analysis.«
»Max Weber im Exil«
ger nicht mit Webers Forderung nach Wertfreiheit der Wissenschaft und bürokratisch-legaler Rationalität in Verbindung gebracht.47 Aber Nelson erhielt Gelegenheit, seinerseits unmittelbar anschließend an Marcuses Gegenrede seine Replik zu veröffentlichen. Sein »Letters to the Editor. A Reply« führte aus: »Auf was sonst hat sich Professor Marcuse denn in Heidelberg bezogen, als er über die ›Abfuhr aufgestauter Aggression in Gestalt mittelalterlicher Grausamkeit (Folter) und wissenschaftlich gelenkter Vernichtung menschlichen Lebens‹ spricht? Nicht auf Auschwitz, wie mein Leserbrief vermutet? Auf Hiroshima? Auf beides? Auf keines von beiden? … Auf etwas das noch gar nicht geschehen ist, aber sich in Planung befindet, und zwar im ›im Überfluss lebenden‹ Amerika?«48 Zum Beleg diente Nelson ein Zitat aus Marcuses Heidelberger Vortrag, nämlich dass Weber »das anscheinend Unvermeidliche akzeptiert und dadurch zum Apologeten wird – schlimmer noch, [seine vorschnell beendete Kritik am Kapitalismus] wird zur Denunziation einer möglichen Alternative: einer qualitativ verschiedenen historischen Rationalität«. Mit anderen Worten: Nelson verteidigte vor der amerikanischen Öffentlichkeit den Weber, der Demokrat und Befürworter des Rechtsstaats war, gegen die »Frankfurter Schule«, die diesen verdienten Klassiker soziologischen Denkens mit bodenlosen Behauptungen zu verunglimpfen suche. Dass Parsons im Hintergrund dieser Auseinandersetzung stand, die vor den Augen der amerikanischen Öffentlichkeit stattfand, steht fest. Seine diesbezügliche, teilweise rege Korrespondenz mit Nelson – und teilweise Bendix – in diesen Monaten ist im Archiv der Harvard-Universität zugänglich. Als der Nestor der amerikanischen Weberrezeption, der er bis an sein Lebensende blieb, empfand er eine besondere Verantwortung dafür, dass Weber angemessen gewürdigt wurde. Jeder Versuch – zumal 47 | Dieser Leserbrief ist sowohl im Parsons-Nachlass als auch im Herbert-Marcuse-Archiv der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt a. M. erhalten geblieben und zugänglich – dort trägt das Dokument die Nummer 273. 48 | »To what was [Professor Marcuse] referring when he spoke of capitalist society’s ›release of pent-up aggression in the form of the legitimation of medieval cruelty (torture) and the scientifically managed annihilation of human lives‹? Not to Auschwitz, as I had implied in my letter? To Hiroshima? To both? To neither? … To something which had indeed not yet happened but which was now on the drawing board, above all in ›affluent‹ America?«
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durch deutschsprachige Autoren – einer verkürzten Wahrnehmung oder gar Herabwürdigung musste scheitern: Es ging darum, den Begründer der modernen Soziologie davor zu bewahren, in die Grabenkämpfe hineingezogen zu werden, in denen er einer unhaltbaren Kritik ausgesetzt war oder seine überragende Bedeutung geschmälert werden sollte.49 Parsons hatte bereits vor dem Heidelberger Soziologentag engen Kontakt zu Johannes Winckelmann, dem langjährigen Herausgeber des Weber’schen Werkes, der an der Münchner Universität das Max-WeberArchiv eingerichtet hatte. Als es Winckelmann gelang, an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften eine Arbeitsstelle anzusiedeln, die das Vermächtnis Webers nun angemessen verwaltete, war dies auch der Unterstützung durch Parsons zu danken, der dem Vorhaben als Gutachter zur Seite gestanden hatte. Aus dieser Max-Weber-Arbeitsstelle ist heute der Hort der seit den achtziger Jahren erscheinenden Max-WeberGesamtausgabe geworden. Letztlich verdankt sich die werkgetreue Rezeption Webers, die seit dem Heidelberger Soziologentag (bzw. seiner Nachgeschichte in den USA) nicht mehr strittig ist, dem Engagement der Amerikaner und zumal Parsons, der in den sechziger Jahren eng mit Winckelmann kooperierte.
III. S chlussbemerkung Bei der Weberrezeption – mein Thema – muss man wohl drei Epochen unterscheiden – frühe Exegese, Emigration und Spätphase ab der Remigration. In allen dreien spielte Parsons eine Rolle – indessen dürfte »Max Weber im Exil« einschließlich dem Heidelberger Soziologentag wohl am interessantesten sein. 49 | Noch in den siebziger Jahren verwahrte sich Parsons vehement gegen eine verkürzte Interpretation durch junge Soziologen, die meinten, bei ihm, Parsons, eine unzureichende Rezeption Webers monieren zu sollen, aber dabei ein geradezu hermetisches Verständnis dieses Denkers hatten. Siehe Jere Cohen/Lawrence E. Hazelrigg/Whitney Pope, De-Parsonizing Weber: A Critique of Parsons’ Interpretation of Weber’s Sociology, in: American Journal of Sociology 40 (1976), S. 229-241, und die Replik: Parsons, Comment on De-Parsonizing Weber, in: American Journal of Sociology 40 (1976), S. 666-670.
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Ausschlaggebend ist, dass Webers Werk im Exil, da es ungewollt davor geschützt war, in der oktroyierten Volkssoziologie missbraucht oder gänzlich ignoriert zu werden, zum klassischen Denken der Moderne werden konnte. So blieb Weber eine ähnlich verspätete und zumal verzerrte Rezeption erspart, wie sie dem Juden und Philosophen Georg Simmel widerfahren ist. Wissenschaftlich war die Rettung Webers vor dem nazideutschen Obskurantismus besiegelt, als Parsons mit dem Satz »Spencer is dead« seine Absage an den Sozialdarwinismus besiegelte. Dieser könnte als Leitsatz über The Structure of Social Action stehen, obwohl dessen Motto bekanntlich ein Zitat aus Webers Objektivitätsaufsatz ist.50 Wissenschaftsgeschichtlich steckt in der Absage an den Sozialdarwinisten Spencer das Verdikt gegen die zeitgenössisch in den USA tonangebende soziologische Theorie – Parsons desavouierte Sorokin, dessen Kulturpessimismus zeitgenössisch en vogue war. Das Szenario wiederholte sich dreißig Jahre später. Noch einmal musste Parsons zum Verteidiger einer weltanschaulich unbelasteten Weberlektüre werden. Seine zusammen mit Kollegen geführte Auseinandersetzung mit der kritischen Theorie auf dem Heidelberger Soziologentag und danach in den USA ist ein wenig bekanntes Kapitel der Soziologiegeschichte: Das Erkenntnisinteresse heißt dabei Demokratie, gespiegelt im Denken des Klassikers Weber. Überhaupt wird das Politische dieser Auseinandersetzung selten gewürdigt. Weberianer in den USA bejahten damals den New Deal und lehnten – mit einem heutigen Begriff – den neoliberalen Kapitalismus ab, der die Finanz- und Gesellschaftskrise der dreißiger Jahre verschuldet hatte. Die Gegenspieler waren Gegner des New Deal, denn dieser beschneide die uneingeschränkte Freiheit des Individuums, welche Spencer forderte – man weiß heute, dass gewisse Sympathien für den Nationalsozialismus bei damals führenden amerikanischen Soziologen keineswegs selten waren.
50 | »Jede denkende Besinnung auf die letzten Element sinnvollen menschlichen Handelns ist zunächst gebunden an die Kategorien ›Zweck‹ und ›Mittel‹. Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, p. 149.« Parsons, The Structure of Social Action (Fn. 1), S. 1.
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II. Rahmenbedingungen
Die Emigration von Rechtswissenschaftlern nach 1933 Leonie Breunung
Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Emigration von Rechtswissenschaftlern nach 1933. Er stützt sich auf die Ergebnisse eines Forschungsprojekts zum Prozess der Emigration und Remigration deutschsprachiger Rechtswissenschaftler und damit auch der von ihnen vertretenen und gelehrten Wissenschaft ab 1933, auf das ich mich im Folgenden beziehen möchte. Der genannte Emigrations- und Remigrationsprozess nahm bekanntlich seinen Ausgang in der Vertreibung jüdischer (oder in der NS-Ideologie zu solchen erklärter) und ideologisch bzw. politisch unerwünschter Fachvertreter aus ihren Ämtern. Die in nur wenigen Jahren und aus wissenschaftsfremden Beweggründen vollzogene Vertreibung ging in vielen Fällen in Verfolgung über, die spätestens dann den Schritt in die Emigration erzwang. Im Einzelnen erstreckt sich die Untersuchung auf die individuellen wissenschaftsbezogenen Verläufe des Emigrationsund Remigrationsprozesses sowie die wissenschaftsspezifischen Randbedingungen, unter denen sich diese Prozesse vollzogen. Des Weiteren sind möglichen Spuren erfasst, die die »exportierte« Wissenschaft in der Wissenschaft des Aufnahmelands hinterlassen hat und welchen Einfluss die Wissenschaft des Aufnahmelands auf die wissenschaftliche Ausrichtung der Emigrierten genommen hat. Es geht also um mögliche Transferprozesse in die eine und/oder die andere Richtung zwischen den beteiligten Wissenschaften. Dazu gehört auch die Frage, ob bzw. in welchem Maße zurückgekehrte Exilierte auf die Entwicklung der Rechtswissenschaft im Nachkriegsdeutschland eingewirkt haben. Auslöser des hier vorzustellenden Projekts war der seinerzeit gegebene unklare und in sich widersprüchliche Forschungsstand, der im
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Rahmen eines Vorprojekts ermittelt worden war.1 Allein schon zum Umfang der ab 1933 von den Hochschulen vertriebenen Juristen lagen voneinander stark abweichende Angaben vor, die in absoluten Zahlen beispielsweise zwischen 132 entlassenen Hochschullehrern und Assistenten (Limperg)2 und 210 Betroffenen (Rüthers)3 reichten. Auch die angegebenen Anteile der Vertriebenen am Gesamtbestand des juristischen Lehrkörpers schwankten erheblich, etwa zwischen einem Drittel (Müller)4 und 45 % (Rüthers)5, also nahezu der Hälfte des gesamten Lehrpersonals (unter Einschluss der Assistenten). Beide Werte liegen deutlich über dem im vorliegenden Projekt ermittelten Anteil von 26,4 % bzw. 131 absolut6 (unter Ausschluss der Assistenten). Limperg hat ihre fast identische Angabe von 132 vertriebenen Hochschullehrer und Assistenten der bereits 1937 abgeschlossenen Studie des US-amerikanischen Soziologen Hartshorne 7 entnommen, der diesen auf den zwischen April 1933 und April 1936 begrenzten Zeitraum ermittelten (absoluten) Wert des vertriebenen Hochschulpersonals auf der Grundlage des alle Universitäten und Hochschulen umfassenden wissenschaftlichen Personals gewonnen hatte. Da Hartshorne aber lediglich die Gesamtheit des vertriebenen, nicht aber auch des verbliebenen Lehrpersonals erhoben hat, hat er den Anteil vertriebenen Personen im Verhältnis zum Gesamtpersonalbestand nicht berechnen können. Allein für die juristischen Fakultäten der Universi1 | Die Ergebnisse dieses von der Ernst-Strassmann-Stiftung in der FriedrichEbert-Stiftung geförderten Vorprojekts sind in Stefan Höpel, Die ›Säuberung‹ der deutsche Rechtswissenschaft – Ausmaß und Dimensionen der Vertreibung nach 1933, in: K J 26, S. 438-459 niedergelegt. Sie bilden die Grundlage für die nachfolgenden Ausführungen, insbesondere S. 441-444 mit den zugehörigen literarischen Nachweisen. 2 | Bettina Limperg, Personelle Veränderungen in der Staatsrechtslehre und ihre neue Situation nach der Machtergreifung, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde (Hg.), Staatsrecht und Staatsrechtslehre im Dritten Reich, Heidelberg 1985, S. 44-56. 3 | Bernd Rüthers, Entartetes Recht. Rechtslehren und Kronjuristen im Dritten Reich, 2., verb. Aufl., München 1989, S. 130. 4 | Ingo Müller, Furchtbare Juristen, München 1987, S. 76. 5 | S. Fn. 3. 6 | S. dazu unten Ziff. II. Zum Ausschluss der Assistenten s. unten Ziff. I 7 | Edward Yarnall Hartshorne Jr., The German Universities and National Socialism (1937, New York 1982 (Reprint).
Die Emigration von Rechtswissenschaf tlern nach 1933
täten, also ohne Berücksichtigung anderer Hochschulen, konnte er eine entsprechende Relation erstellen, die sich auf 21,2 % belief.8 Die beiden Quellen, die Hartshorne für seine Analyse zur Verfügung standen, waren jedoch lückenhaft. So verzeichneten die seinerzeit halbjährlich erschienenen deutschen Universitätskalender zwar in der so bezeichneten Rubrik den stattgehabten Personalwechsel im Lehrkörper (unter Ausschluss der Assistenten) bis zum WS 1932/33 weitgehend vollständig, ab dem nachfolgenden Sommersemester erschien jedoch eine Reihe von Lehrbeauftragten überhaupt nicht mehr in der besagten Rubrik. Zudem waren die ausgeschiedenen Personen als Vertriebene nur in den Fällen erkennbar, in denen ausdrücklich auf das seit Anfang April 1933 in Kraft getretene Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums ausdrücklich verwiesen war. Die von Hartshorne als zweite Quelle benutzten Listen der von den Hochschulen entlassenen Juristen, die der damalige Londoner Academic Assistance Council erstellt hatte, litten an der unvollständigen Erfassung dieser Personengruppe. Auf der Basis seiner beiden Quellen kam Hartshorne auf den erwähnten (und sich später als zu niedrig erweisenden) Wert von 21,2 % aus ihren Hochschulämtern vertriebenen Rechtswissenschaftlern.9 Der hier knapp/gekürzt nachgezeichnete Forschungsstand ließ es zwingend erscheinen, das Projekt über die Emigration der deutschsprachigen Rechtswissenschaftler ab 1933 auf eine gesicherte Grundlage des vertriebenen rechtswissenschaftlichen Hochschulpersonals zu stützen, was eine Neuerhebung des entsprechenden Datenmaterials erforderlich machte. Die Ergebnisse finden sich nachfolgend unter Ziff. II umrissen. Zudem ließ sich aus dem gegebenen Forschungsstand die Notwendigkeit ableiten, die Zugehörigkeit zur Gruppe der vertriebenen und in der Folge emigrierten Rechtswissenschaftler durch methodologisch begründete und empirisch eindeutig ermittelbare Kriterien präzise zu bestimmen. Die entsprechenden Überlegungen dazu sind unter nachfolgender Ziff. I dargelegt. Das Projekt selbst hat eine eigene, längere Geschichte, es ist gewissermaßen ein Langstreckenläufer. Es wurde von Manfred Walther Ende der 1980er Jahre initiiert und mit Unterstützung der Fakultätskollegen Joachim Rückert und Hinrich Rüping an der Juristischen Fakultät der 8 | Ebd. S. 95, dort Fn. 1. 9 | Höpel, Säuberung (Fn. 1), S. 442f.
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Universität Hannover 1990 unter Förderung der DFG auf den Weg gebracht. 2012 sind die Bio-Bibliographien der Gruppe der nicht in die USA emigrierten Rechtswissenschaftler als erster Band eines bio-bibliographischen Handbuchs erschienen.10 Der zweite Band, der den in die USA emigrierten Rechtswissenschaftlern gilt, harrt noch der Fertigstellung. Vor allem fehlt es an den finanziellen Mitteln, um die in den USA archivierten einschlägigen Dokumente einschließlich Nachlässen zu erschließen und einzuarbeiten. Einen Überblick über die bereits vorliegenden Ergebnisse zur Konstellation der US-Emigranten gibt die nachfolgende Ziff. III. Abschließend unter Ziff. IV folgt eine emigrationsbiographische Skizze zu den in der Gesamtheit rechtswissenschaftlichen Emigranten vertretenen vier Staatsund Verwaltungsrechtlern, von denen je zwei in den USA bzw. im europäischen Ausland Zuflucht gefunden haben.
I. K onzep tionelle G rundentscheidungen Zur Durchführung des Projekts waren zwei konzeptionelle Grundentscheidungen zu treffen. (1) Die erste betrifft die Frage, welcher Personenkreis als Rechtswissenschaftler und damit als Angehöriger der rechtswissenschaftlichen Disziplin zu betrachten ist. Die Kriterien, die man dieser Entscheidung zugrunde legt, wirken zwangsläufig selektiv. Ein möglicher Weg der Bestimmung von Wissenschaft bzw. einer wissenschaftlichen Disziplin ist die spezifisch wissenschaftliche Kommunikation, anhand derer sich Wissenschaft gegenüber ihrer nichtwissenschaftlichen Umwelt als eigenen Regeln folgende soziale Systeme abgrenzen (Luhmann).11 In der Forschungspraxis ist das 10 | Leonie Breunung/Manfred Walther, Die Emigration deutschsprachiger Rechtwissenschaftler ab 1933. Ein bio-bibliographisches Handbuch. Bd. 1: Westeuropäische Staaten, Türkei, Palästina/Israel, Lateinamerikanische Staaten, Südafrikanische Union, Berlin/Boston 2012. 11 | Nach diesem Ansatz besteht das Wissenschaftssystem aus Kommunikation, die von der jeweiligen Fachgemeinschaft als Gegenstand wissenschaftlicher Kommunikation anerkannt wird. Dieses selbstbezügliche, reflexive Kriterium ist inso-
Die Emigration von Rechtswissenschaf tlern nach 1933
Kriterium der Kommunikation zur Identifikation der rechtswissenschaftlichen Systemzugehörigkeit jedoch kaum brauchbar. Es empfiehlt sich daher ein anderer Weg, der an die rechtswissenschaftliche Trägerschicht anknüpft. Diese lässt sich an Hand des Kriteriums der rein formellen institutionellen Zugehörigkeit zum Lehrkörper von Universitäten und diesen gleichgestellten Hochschulen zu einem bestimmten Zeitpunkt verlässlich identifizieren. Im vorliegenden Fall war der maßgebliche Zeitpunkt das Ende des WS 1932/33 als das letzte vornationalsozialistische Semester. Das Kriterium der institutionellen Trägerschicht greift zurück auf die den Hochschullehrern exklusiv zukommende Funktion, kontinuierlich wissenschaftliches Wissen zu erzeugen, an den wissenschaftlichen Nachwuchs weiterzugeben und der Fachöffentlichkeit (aber auch der Rechtspraxis) zugänglich zu machen. Als zum Lehrkörper gehörend wurden die Statusgruppen vom Ordinarius bis hin zum nebenamtlichen Honorarprofessor sowie die Statusgruppe der in der Rechtspraxis erfahrenen Lehrbeauftragten gerechnet. Die Gruppe der nichthabilitierten, aber bereits promovierten Assistenten sowie darunter rangierende Statusgruppen wurden nicht mehr berücksichtigt, ebenso wie die Studenten, obwohl ohne sie eine Hochschule keine solche mehr wäre. Unter dem Bezugspunkt der wissenschaftlichen Kommunikation lässt sich wohl behaupten, dass die Universitäten und Hochschulen über ihr inkorporiertes wissenschaftliches Personal die auf Dauer gestellten Drehpunkte des wissenschaftlichen Austauschs und der Vernetzung abgeben. Die institutionell begründete Bestimmung des Wissenschaftssystems impliziert aber insofern einen selektiven Zugriff, als sie diejenigen in der Rechtspraxis tätigen und zugleich am wissenschaftlichen Diskurs fern rein formaler Natur, als es an keine inhaltlich-qualitative Voraussetzung der fraglichen Kommunikation gebunden ist. Einem so definierten Wissenschaftssystem wäre etwa – um ein Beispiel zu geben – der auf das Arbeitsrecht spezialisierte Rechtsanwalt Ernst Fraenkel, ein Schüler Sinzheimers, zuzurechnen gewesen. Fraenkel, der nicht zuletzt mit seiner 1927 erschienenen Schrift »Zur Soziologie der Klassenjustiz« publizistisch hervorgetreten ist, emigrierte 1938 in die USA, verfasste dort seine 1941 veröffentlichte Analyse des NS-Staates unter dem Titel »The Dual State« und nahm nach seiner Rückkehr nach Deutschland eine Professur für Politikwissenschaft an der Freien Universität (FU) Berlin ein. Zu Fraenkel s. näher den Beitrag von Alfons Söllner in diesem Band.
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der Disziplin teilhabenden Juristen ausblendet, die erst im Exil oder auch erst nach ihrer Rückkehr ins Nachkriegsdeutschland den Weg in die institutionalisierte Wissenschaft beschritten haben, zum Beispiel Fritz Morstein Marx12 oder Herbert Simons13. (2) Die zweite konzeptionelle Grundentscheidung betrifft das Kriterium, nach dem die emigrierten Wissenschaftler der Trägerschicht von Wissenschaftsemigration zuzurechnen sind. Wie zuvor wurde auch hier rein formal verfahren, das heißt, es wurden nur diejenigen Personen der rechtswissenschaftlichen Emigration zugerechnet, die im Aufnahmeland Eingang in das dortige Wissenschaftssystem gefunden haben. Dabei muss es sich nicht notwendig um die rechtswissenschaftliche Herkunftsdisziplin gehandelt haben, der Fachwechsel war also einbezogen. Vor allem die in die USA und nach Großbritannien emigrierten Wissenschaftler sahen sich nämlich mit einer Rechtskultur konfrontiert, die dem Fallrecht verpflichtet ist, einer Rechtskultur, die zur deutschen und insgesamt kontinentaleuropäischen Tradition des kodifizierten Gesetzesrechts mindestens ebenso viele Unterschiede aufweist, wie sie Gemeinsamkeiten teilt.14 Aber auch unabhängig davon hätte der Ausschluss von Emigrierten auf Grund eines – möglicherweise auch notgedrungenen – gewählten Fachwechsels bedeutet, ihnen die weitere Zugehörigkeit zum Wissenschaftssystem abzusprechen, eine Konsequenz, die der grundsätzlichen Offenheit wissenschaftlicher Systeme widerspräche. Entsprechend setzte auch die Zurechnung der in den deutschen Sprachraum remigrierten Wissenschaftler zur Wissenschaftsremigration nicht die Rückkehr in die Herkunftsdisziplin voraus, ließ also einen abermaligen Disziplinwechsel zu.
12 | Zu ihm s. den Beitrag von Margrit Seckelmann in diesem Band. 13 | Zu ihm s. den Beitrag von Philipp Heß in diesem Band. 14 | S. hierzu die Beispiele in Leonie Breunung, Rechtswissenschaften, in ClausDieter Krohn/Patrick zur Mühlen/Gerhard Paul/Lutz Winkler (Hg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933-1945, Darmstadt 1998, Sp. 869-884, 879ff.
Die Emigration von Rechtswissenschaf tlern nach 1933
II. A llgemeine B efunde Die skizzierten beiden Grundentscheidungen führten in Zahlen zu folgendem Ergebnis.15 Von dem knapp 500 Personen umfassenden Gesamtbestand des rechtswissenschaftlichen Lehrkörpers zum Ende des WS 1932/33 wurde(n) gut ein Viertel bzw. 131 Wissenschaftler aus dem Amt vertrieben, 89 wegen ihrer jüdischen Herkunft, also aus rassistischen Gründen, die übrigen 42 aus rein politischen Gründen. Der Anteil, der sich zur Emigration entschloss bzw. sich in diese noch rechtzeitig retten konnte, beläuft sich auf 69 Personen, also gut die Hälfte der 131 Amtsvertriebenen. 62 von ihnen erreichten das Zielland, fünf überlebten die Strapazen der Flucht nicht, bei zweien blieb das weitere Schicksal ungeklärt. Von den 62 Angekommenen fanden mit insgesamt 40 zwei Drittel Eingang in das Wissenschaftssystem des jeweiligen Aufnahmelands. Für 18 von ihnen waren dies die USA, für die übrigen 22 sonstige Länder, wobei Großbritannien mit 12 Personen einen Schwerpunkt bildete. Von den 40 in die Untersuchung aufgenommenen Personen ist wiederum nur ein kleiner Teil von 10 Emigrierten in das europäisch-deutschsprachige Wissenschaftssystem der Nachkriegszeit zurückgekehrt, 9 nach Deutschland, einer davon nach Ostdeutschland, und einer in die Schweiz. Die hier gewählte Forschungsperspektive vom Anfang des vom NSRegime ausgelösten rechtswissenschaftlichen Emigrationsprozesses führt in der Konsequenz zu einer anderen Gruppe von Emigrierten wie auch späteren Remigrierten, als wenn man vom Ende des Prozesses ausgeht und unabhängig vom jeweiligen vorherigen wissenschaftlichen Status die Gruppe rückgekehrter Emigranten in den Blick nimmt, die sich erst im Aufnahmeland oder im bundesrepublikanischen Nachkriegsdeutschland in der institutionalisierten Wissenschaft etabliert haben. Ein Beispiel für die erste Konstellation ist Franz Neumann, für die zweite Ernst Fraenkel16.
15 | S. hierzu ausführlich Höpel, Säuberung (Fn. 1), S. 444-453, ferner, mit gegenüber Höpel durch den Fortgang des Forschungsprojekts aktualisiertem Zahlenmaterial, das Schaubild in Breunung/Walther, Emigration (Fn. 10), S. 7f. Die dort als noch zweifelhaft ausgewiesenen sechs Fälle konnten inzwischen hinsichtlich ihrer Zurechnung zur Gruppe der US-Emigranten geklärt werden. 16 | S. Fn. 11.
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Sowohl der Erfolg der Emigrierten bei der Integration in das Wissenschaftssystem des Aufnahmelands als auch eine erfolgreiche Re-Integration rückkehrender Emigranten in das (deutschsprachige) Wissenschaftssystem der Nachkriegszeit hingen nur bedingt von den eigenen Anstrengungen der Betroffenen ab. Hinzu treten mussten für die gelingende Emigration günstige wissenschaftsbezogene Randbedingungen (wozu auch das Lebensalter der Emigrierten zählte) und vielfach die Unterstützung von dritter Seite, etwa bei der Stellenvermittlung, und nicht zuletzt durch akademische Fluchthilfenetzwerke.17 Auch die Option der Remigration setzte Akzeptanz und Unterstützung durch die entsprechenden Institutionen im Nachkriegsdeutschland voraus. Solcherart begünstigende Umstände waren nicht unbedingt gegeben. Im Einzelfall war die Rückkehr auf den früheren Lehrstuhl geradezu unerwünscht, waren doch die Emigrierten stumme Ankläger der NS-Verbrechen und erinnerten den einen oder anderen, der in den 1930er Jahren die verwaisten Lehrstühle übernommen und Karriere gemacht hat, an eigene Verstrickungen in das NS-System. Auch erfolgte die Rezeption der von den Emigrierten vor wie auch nach der Emigration veröffentlichen wissenschaftlichen Werke vielfach erst verzögert ab den 1960er Jahren.
III. P rosopogr aphische E inteilung 1. Konstellation der Gruppe der US-Emigranten 18 Die Zahl der im WS 1932/33 zum rechtswissenschaftlichen Lehrkörper reichsdeutscher Universitäten und Hochschulen gehörenden und aus ihren Ämtern vertriebenen US-Emigranten, die während ihres Exils weiter bzw. wieder im Institutionalisierten Wissenschaftsbetrieb tätig geworden sind, beläuft sich auf 18 Personen.19 Dieser Gruppe sind mit 17 | Zu den Fluchthilfenetzwerken s. Isabella Löhr, Fluchthilfe für Wissenschaftler? Zwangsmigration und die Internationalisierung akademischer Arbeitsmärkte, in: VHD Journal 5 (2016), S. 21-24. 18 | S. hierzu die Übersicht über die akademischen Biographien der US-Emigranten am Ende des Beitrags. 19 | Zwei weitere US-Emigranten, Magdalene Schoch und Eugen Kulischer, wurden letztlich nicht dieser Gruppe zugerechnet, da sie nicht alle oben dargelegten Aus-
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Arthur Lenhoff (urspr. Löwy) und Robert Neuner zwei weitere rechtswissenschaftliche Hochschullehrer zuzurechnen, die nach dem sog. Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich von der Universität Wien bzw. des Einmarschs deutscher Truppen in Prag von der dortigen Deutschen Universität vertrieben worden waren. Die Gesamtzahl der rechtswissenschaftlichen US-Emigranten erhöht sich damit auf 20. Zwei der US-Emigranten sind aus rassistischen Gründen aus ihren akademischen Ämtern vertrieben worden, der strafrechtliche Ordinarius Hans von Hentig und der Privatdozent für Vertrags- und Handelsrecht Friedrich Keßler. Beide wurden wegen jüdischer Verwandter (von Hentig) bzw. ihrer jüdischer Ehefrau (Keßler) ihres Postens enthoben. Bei der Mehrheit der US-Emigranten waren die USA, sieht man von der Durchreise dienenden Aufenthalten in europäischen Nachbarstaaten ab, das erste und einzige Niederlassungs- und Exilland. Für fünf Emigranten war es bereits das zweite. Der Strafrechtler Richard Honig hatte über die Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland erst eine Professur für Verfassungsrecht in Istanbul vermittel bekommen. Da er auf diesem Gebiet (wie auch auf seinem ureigenen strafrechtlichen Gebiet) in Konkurrenz zu seinen türkischen Kollegen nicht reüssierte und auf rechtsphilosowahlkriterien formal erfüllten. Im Unterschied zu anderen Vertriebenen und in der Folge in die USA Emigrierten, für die das ebenfalls galt und die deshalb ausgeschieden sind, stellen sie Grenzfälle dar. Die nicht aus ihrer Position als Privatdozentin vertriebene und auch keinen sonstigen Repressalien ausgesetzte Schoch entschied sich gleichwohl 1937 dafür, das nationalsozialistische Deutschland zu verlassen und ohne konkrete Aussicht auf eine Stellenzusage in den USA die Unsicherheit der Emigration dorthin auf sich zu nehmen (zu Schoch s. Rainer Nicolaysen, Für Recht und Gerechtigkeit. Über das couragierte Leben der Juristin Magdalene Schoch [1897-1987], in: ZHG 92 (2006), S. 113-143). Kulischer wiederum hatte als in St. Petersburg habilitierter Jurist und nachfolgend ab 1918 als in Kiew lehrender Ordinarius wegen der dortigen Unruhen im Nachgang zur russischen Oktoberrevolution 1920 die Flucht nach Deutschland ergriffen und am Institut für Auslandsrecht der Universität Berlin eine Beschäftigung in der formalen Position einer weit unter seiner nachweislichen wissenschaftlichen Kompetenz rangierenden bloßen wissenschaftliche Hilfskraft gefunden, von der er 1934 vertrieben wurde. Über Dänemark, Paris, wo er am Centre National Scientifique tätig war, und weiter über Spanien und Portugal kam er schließlich 1941 in den USA an, wo er als versierter Migrationsforscher eine Dozentur für europäische Bevölkerungsprobleme innehatte.
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phische und rechtsgeschichtliche Einführungsvorlesungen verwiesen war, gab er die Position nach sechs Jahren und somit vier Jahre vor dem regulären Vertragsende auf, um 1939 in die USA zu emigrieren. Der Staatsrechtler Hans Kelsen war nach seiner 1933 erfolgten Entlassung aus seiner Kölner Professur dem Ruf auf eine Professur am Genfer Institut Universitaire de Hautes Etudes Internationales sowie parallel dazu auch dem weiteren Ruf auf eine Professur an der Deutschen Universität Prag gefolgt, bevor er sich zur Emigration in die USA entschloss. Der Finanzrechtler Herbert Dorn hatte sich über die Schweiz vorerst bis ins Jahr 1943 nach Kuba gerettet, der Privatrechtler Heinrich Rheinstrom hatte zunächst als Dozent für Internationales Privatrecht (IPR) an der Freien Deutschen Universität in Paris bis 1939 Unterschlupf gefunden, und der Handelsrechtler August Saenger war über Estland nach Litauen geflüchtet und hatte dort, allerdings nur für kurze Zeit, an der Universität Kaunas eine Professur für Versicherungsrecht erhalten, um Ende 1939 in den USA Zuflucht zu suchen.
2. Fachrichtung der US-Emigranten bis zur Vertreibung aus der Hochschule Die fachlichen Schwerpunkte, die die US-Emigranten bis zu ihrer Vertreibung vertreten hatten, verteilen sich auf die juristischen Hauptgebiete der drei dogmatischen Disziplinen des Privatrechts, des Strafrechts und des Öffentlichen Rechts, im Einzelfall ergänzt um nichtdogmatische Materien wie namentlich die Rechtsphilosophie und die Rechtsgeschichte, wie folgt: Das klassische öffentliche Recht in Gestalt des Staats- und Verwaltungsrechts findet sich mit nur zwei Vertretern repräsentiert, Hans Kelsen mit der venia für Staatsrecht in Verbindung mit Rechtsphilosophie und Karl Loewenstein mit der venia für Staatsrecht, allgemeine Staatslehre und Völkerrecht. Darüber hinaus gehört dem Bereich des öffentlichen Rechts auch das Finanz- und Steuerrecht zu, das von Herbert Dorn, hier in Verbindung mit dem öffentlichen Wirtschaftsrecht, und Heinrich Rheinstrom vertreten wurde. So gesehen erhöht sich die Zahl der Fachvertreter des Öffentlichen Rechts unter den US-Emigranten auf insgesamt vier Personen. Die ebenfalls »staatsnahe« (der staatlichen Hoheitsgewalt unterliegende) dogmatische Disziplin des Strafrechts bildet mit lediglich zwei US-Emigranten, von Hentig (in Verbindung mit Kriminologie) und Honig (in Verbindung mit Rechtsphilosophie) die geringste Repräsentanz unter den drei dogmatischen Disziplinen.
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Die übrigen 14 US-Emigranten und damit die große Mehrheit hatte(n) sich bis zur ihrer Vertreibung privatrechtlichen Fächern in ihren verschiedenen Ausdifferenzierungen gewidmet. Allein fünf von ihnen hatten dabei ihren Schwerpunkt auf das römische Recht gelegt. Dies waren im einzelnen Eberhard Bruck, Gerhart Husserl, der Sohn von Edmund Husserl, Ernst Levy, Neuner und Ernst Rabel. Einen Schwerpunkt im Handelsrecht hatten Henrich Hoeniger, Keßler, Arthur Nußbaum, Eugen Rosenstock-Huessy in Verbindung mit Arbeitsrecht und August Saenger in Verbindung mit Privatversicherungsrecht gesetzt, mit Lenhoff kommt ein weiterer Arbeitsrechtler hinzu. Als weitere Spezialgebiete waren die deutsche Rechtsgeschichte durch Kisch, einen Vetter 2. Grades des Journalisten und Reporters Egon Erwin Kisch, die (nichtdogmatische) Rechtstatsachenforschung durch Nußbaum, die Rechtsvergleichung durch Ernst Rabel, durch Hans Kirchberger das Urheberrecht und der gewerbliche Rechtsschutz und schließlich durch Saenger auch das Privatversicherungsrecht in der Gruppe der US-Emigranten repräsentiert. Der noch im Status des Privatdozenten vertriebene Max Rheinstein verfügte über eine auf deutsches und ausländisches Privatrecht beschränkte venia.
3. Akademischer Status bei der Emigration Elf der insgesamt 20 US-Emigranten und damit gut die Hälfte bekleidete(n) zum Zeitpunkt ihrer Vertreibung die Position eines Ordinarius, hatte(n) also die Höchststufe der akademischen Karriere erklommen. Vier weitere hatten es zu einer außerordentlichen Professur gebracht (Lenhoff, Nußbaum, Kirchberger und Saenger), und weitere zwei übten eine Honorarprofessur aus (Dorn und Rheinstrom). Die übrigen drei befanden sich als Privatdozenten (Keßler, Loewenstein und Rheinstein) noch am Anfang ihrer Hochschullehrerlauf bahn.
4. Lebensalter bei der Emigration Bei ihrem Weg in die Emigration waren von den 20 US-Emigranten 12 und damit mehr als die Hälfte unter 50 Jahren. 10 von ihnen, davon 6 Ordinarien, 2 Honorarprofessoren und 2 außerordentliche Professoren, bewegten sich in der Alterspanne zwischen 41 und 49 Jahren, die übrigen zwei, die beiden Privatdozenten Keßler und Rheinstein, waren 32 Jahre bzw. 35 Jahre jung. Der andere, kleinere Teil von 8 Personen hatte mithin
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das Alter von 50 Jahren bereits erreicht oder überschritten, zwei von ihnen, die beiden Ordinarien Bruck und Rabel standen mit ihren 62 Jahren bzw. 65 Jahren schon im siebten Lebensjahrzehnt.
5. Fachliche Schwerpunkte im E xil 20 Im US-amerikanischen Exil, das, wie erwähnt, den Wechsel vom kodifizierten Gesetzesrecht zum durch das angelsächsische Fallrecht geprägten Rechtssystem bedeutete, konnten die Emigranten in der Mehrheit nur bedingt an ihre bisherigen fachlichen Schwerpunktsetzungen anknüpfen. Sie mussten zumindest [in jedem Fall] ihre dogmatisch geprägte fachliche Ausrichtung um eine diese übergreifende Perspektive der betroffenen Rechtsmaterie erweitern (und zudem die sprachliche Umstellung bewältigen). Für die Mehrheit der gelernten Privatrechtler hatte sich da offenbar vor allem die Hinwendung zum Internationalen Privatrecht (conflict of laws) angeboten. Diesen Schwenk haben die drei römischrechtlichen Spezialisten Neuner, Rabel und Husserl vollzogen, letzerer unter Fortführung des römischen Rechts und zusätzlicher Erweiterung um die Rechtsvergleichung. Das Gleiche gilt für die vormals mit dem Handels- bzw. Arbeitsrecht verbundenen Privatrechtler Lenhoff, Nußbaum (in Verbindung mit International Commercial Arbitration) sowie den fachlich noch nicht weiter spezialisierten Privatrechtler Rheinstein in Verbindung mit Rechtsvergleichung. Der bislang auf das deutsche Privatrecht und die deutsche Rechtgeschichte konzentrierte Privatrechtler Kisch wechselte zum Kirchenrecht und der Rechtsvergleichung. Die größte Nähe zu ihrer bisherigen fachlichen Ausrichtung konnten die beiden Römischrechtler Bruck und Levy wahren, die von der primär dogmatischen zur historischen Betrachtung des römischen Rechts wechselten. Nur drei Ausnahmen unter den Privatrechtlern, nämlich der Arbeitsrechtler Hoeniger, der Handelsund Vertragsrechtler Keßler und der Handels- und Privatversicherungsrechtler Saenger, konnten an ihren jeweiligen bisherigen Fachgebieten festhalten, Keßler mit Ergänzung um die Rechtsphilosophie. Weitgehend 20 | Die vielfältigen Anpassungsleistungen, die den Emigrierten im Aufnahmeland abgefordert wurden, sind mit zunehmendem Alter schwerer zu erbringen als in jüngerem Lebensalter. Darüber hinaus verschlechtern sich in der Regel auch die Aussichten, im Wissenschaftsbetrieb des Exillands Aufnahme zu finden oder gar eine feste Anstellung.
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neu orientieren mussten sich dagegen der Handels- und Arbeitsrechtler Rosenstock-Huessy und der bisher das Urheberrecht und den gewerblichen Rechtsschutz vertretende Kirchberger. Rosenstock-Huessy wechselte zur Rechtsvergleichung und zur Sozialphilosophie. Sein wissenschaftliches Interesse war allerdings schon vor seiner Emigration über die rein juristische Dimension der ihn beschäftigenden Rechtsmaterien hinausgegangen und um gesellschaftliche Bezüge erweitert worden. Kirchberger musste seine beiden Spezialgebiete aufgeben und wandte sich der allgemeinen Lehre über das deutsche Rechts- und Verwaltungssystem zu. Von den vier Öffentlichrechtlern unter den US-Emigranten konnten die beiden Staatsrechtler, nämlich Kelsen und Loewenstein, die bisherige dogmatische Dimension ihrer Rechtsmaterie mit ihren neu gesetzten Schwerpunkten Political Science und Jurisprudence vergleichsweise bruchlos um die politische Perspektive erweitern. Der Finanzrechtler und Spezialist für öffentliches Wirtschaftsrecht Dorn konnte beide Spezialdisziplinen weitgehend fortführen. Dagegen wechselte der andere Finanzrechtler und Steuerrechtler Rheinstrom an der Pariser Freien Deutschen Universität zum IPR und betätigte sich in den USA als Wirtschaftsjurist.21 Wieweit er dort auch eine Anbindung an eine wissenschaftliche Institution fand, steht noch zur Klärung an. Schließlich konnte mit von Hentig auch einer der beiden Strafrechtler seine bisher schon um die kriminologische Dimension erweiterte strafrechtliche Kompetenz anknüpfen und noch um eine weitere Facette, der Viktimologie, ausweiten. Sein strafrechtlicher Kollege Honig gab dagegen das Strafrecht gänzlich auf und wandte sich der jüdischen Geschichte zu.
6. Akademischer Status im US-amerikanischen E xil In ihrem US-amerikanischen Exil erreichten mit den vormaligen Ordinarien Husserl, Kelsen und Levy als sowie den vormaligen Privatdozenten Keßler, Loewenstein und Rheinstein 6 Emigranten den dem deutschen Ordinarius gleichkommenden Status des full professor. Auf die darunter rangierende Hierarchiestufe des associate professor gelangten mit den früheren Ordinarien Hoeniger, Kisch, Neuner, Rabel und RosenstockHuessy, den ehemaligen außerordentlichen Professoren Lenhoff und 21 | Wieweit er dort auch eine Anbindung an eine wissenschaftliche Institution fand, steht noch zur Klärung an.
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Nußbaum sowie dem ehemaligen Honorarprofessor Dorn weitere 8 Emigranten. Die beiden ehemaligen Ordinarien Bruck und von Hentig sowie der ehemalige außerordentlich Professor Kirchberger kamen über eine Dozentur nicht hinaus, der ehemalige Ordinarius Honig verharrte im Status des Lehrbeauftragten. Der frühere Honorarprofessor Rheinstrom betätigte sich nachweislich als Wirtschaftjurist in der Privatwirtschaft. Ob er darüber hinaus auch im US-amerikanischen institutionalisierten Wissenschaftsbetrieb Fuß fasste, ist noch offen. Dasselbe gilt für den ehemaligen außerordentlichen Professor Saenger.
7. Lebensdauer Von den 20 US-Emigranten erreichten 15 ein Alter von mindestens 80 Jahren, darunter 4 sogar ein Alter von über 90 Jahren (Honig, Kelsen, Keßler und Kisch). Weitere drei starben in ihrem achten Lebensjahrzehnt (Dorn, Rheinstein und Rheinstrom). Saenger wurde mindestens 64 Jahre alt (das genaue Todesdatum ist noch ungeklärt), und Neuner starb bereits 1946 im Alter von 47 Jahren an Lymphdrüsenkrebs.
8. Remigration Insgesamt 7 und damit ein knappes Drittel der US-Emigranten remigrierte(n) nach dem Krieg in den deutschen Sprachraum. Die Mehrheit von ihnen begab sich mit den vormaligen Ordinarien von Hentig, Hoeniger, Honig, Husserl und Rabel in die westdeutsche Bundesrepublik, die anderen beiden, ebenfalls vormalige Ordinarien, nämlich der gebürtige Prager Kisch sowie der gebürtige Berliner Levy, ließen sich im schweizerischen Basel nieder. Dabei erfolgte die Entscheidung zur Rückkehr bereits zu Beginn der 1950er (1951 bzw. 1952), mit Ausnahme von Honig, der sich dazu erst 1973 und somit im schon weit fortgeschrittenen Lebensalter von 83 Jahren dazu entschließen konnte. Die Mehrheit von 4 Remigranten, nämlich Honig, Husserl, Levy und Kisch, war im Besitz der US-amerikanischen Staatsbürgerschaft. Mit Ausnahme des Strafrechtlers von Hentigs ist keiner der Rückkehrer in seine alten akademischen Rechte eingesetzt worden.22 Demnach 22 | Selbst rein formale Wiedereinsetzungen als Professor emeritus im Rahmen von Wiedergutmachungsverfahren sind die Ausnahme geblieben.
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waren sie in ihrer akademischen Betätigung mehrheitlich auf die Wahrnehmung von Gastprofessuren verwiesen, mit einer Honorarprofessur wurden zudem die drei gelernten Römischrechtler Husserl, Levy und Rabel geehrt, und der Privatrechtler Kisch erhielt an der Universität Basel eine Ehrendozentur. Von den 13 dauerhaft in den USA gebliebenen US-Emigranten kehrten nach Kriegsende Husserl, Loewenstein, und Rheinstein für kurze Zeit als rechtliche Berater bzw. Mitglieder der US-Militärregierung in das westdeutsche Nachkriegsdeutschland zurück. Bereits gegen Kriegsende hatten Neuner und Honig amerikanische Behörden unterstützt, Neuner als juristischer Berater des US-amerikanischen Justizsystems und Honig als Betreuer deutscher Kriegsgefangener.
IV. E migr ation von S taats - und V erwaltungsrechtlern nach 1933 Unter dem Gesichtspunkt der rechtswissenschaftlichen Disziplin weist der Gegenstand der Staats- und Verwaltungsrechtler am ehesten inhaltliche Bezüge zum vorliegenden Tagungsthema auf. Unter die Emigrierten unserer Untersuchung fallen, wie eingangs erwähnt, insgesamt vier dieser Fachvertreter. Von ihnen sind zwei in die USA emigriert, Hans Kelsen und Karl Loewenstein, einer nach Großbritannien, Gerhard Leibholz, und einer in die Schweiz, Hans Nawiasky. (1) Zu Kelsen sei auf den Beitrag von Matthias Jestaedt in diesem Band verwiesen. (2) Nawiasky23 fand nach seiner Vertreibung aus dem Amt eines außerordentlichen Professors und Titelordinarius der Universität München im Schweizer Hochschulsystem, an der Handelshochschule St. Gallen, bereits 1933 Unterschlupf und lehrte dort bis über das Kriegsende hinaus öffentliches Recht, insbesondere Verwaltungsrecht. 1946 wurde er außerdem an seiner ehemaligen Münchner Wirkungsstätte zum Ordinarius ernannt und zwar unter von ihm ausbedungener gleichzeitiger Beurlaubung, um seinen St. Gallener Verpflichtungen nachkommen zu 23 | Zu ihm s. näher die Bio-Bibliographie in Breunung/Walther, Emigration (Fn. 10), S. 369-395.
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können. Er erklärte sich aber zu gelegentlichen Gastvorträgen in München bereit, wo er sich anlässlich der Ausarbeitung der Ende 1946 in Kraft getretenen Bayerischen Verfassung in seiner Eigenschaft als beratendes Mitglied des vorbereitenden Ausschusses des öfteren aufhielt.24 Seiner Beratungstätigkeit wird ein maßgeblicher Einfluss auf Auf bau und Inhalt des vom Ausschuss beschlossenen Verfassungsentwurfs zugeschrieben. Unter rein wissenschaftsbezogenen Gesichtspunkten ist Nawiaskys demokratietheoretische Position, die er sich schon vor seinem schweizerischen Exil zu eigen gemacht hatte, durch die späteren Erfahrungen mit dem ebenfalls kontinentaleuropäisch geprägten Rechtssystem des Gastlandes weitgehend unberührt geblieben. Vor diesem Hintergrund mag doch folgende Begebenheit überraschen: Während der kommissarischen Vertretung seines ehemaligen Münchener Lehrstuhls im Sommersemester 1952 setzte Nawiasky über ein Sondervotum die Berufung seines früheren Doktoranden und Habilitanden Theodor Maunz durch. Die Fakultät hatte sich gegen den seit 1937 in Freiburg lehrenden Ordinarius ausgesprochen, was nach Nawiaskys Mutmaßung in der »Erinnerung an 1933 und [… der] ungeschickten Fürsprache für Maunz von politischer Seite« gründete. (3) Leibholz25 konnte sich auf Grund einer Ausnahmevorschrift noch bis 1935 als Ordinarius an der Universität Göttingen im Amt halten, entschloss sich aber erst 1938, gewissermaßen im letzten Moment, zur Emigration. Als Research Fellow am Oxforder Magdalen College fand er bis in das Jahr 1946 hinein eine wissenschaftliche Bleibe, die er maßgeblich der Fürsprache des Bischofs von Chichester, George Kennedy Allen Bell, zu verdanken hatte. Nach dem Krieg, 1948, wurde er als Professor emeritus der Universität Göttingen in seiner Zugehörigkeit zu deren Lehrköper förmlich bestätigt und zunächst mit einer ständigen Gastprofessur betraut, von der er 10 Jahre später auf eine neugeschaffene ordentliche Professur für Politische Wissenschaft und Allgemeine Staatslehre übergeleitet wurde. Leibholz’ Forschungsschwerpunkt lag in der allgemeinen Staats- und Verfassungslehre, was sich richtungsweisend schon in seiner 1928 vorgelegten Habilitationsschrift über das Wesen der Repräsentation konkretisiert hatte. In dieser Schrift diagnostizierte er die Transformation des 24 | Ebd., S. 381. 25 | Zu ihm s. näher die Bio-Bibliographie in Breunung/Walther, Emigration (Fn. 10), S. 247-274.
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liberalen Rechtsstaats mit direkter Mehrheitsentscheidung durch den Souverän in einen Parteienstaat. Daraus leitete er nach dem Krieg seine sog. »Parteienstaatsdoktrin« ab, der er dann in seiner insgesamt 20-jährigen (1951-1971) Tätigkeit als Bundesverfassungsrichter des Zweiten Senats zur praktischen Durchsetzung verhelfen konnte. Im britischen Exil hatte er seine Publizistik von Verfassungsfragen auf theologische und politische Themen verlagert, deren Großteil er später (1965) in einem Buch unter dem allgemein gehaltenen Titel »Politics and Law« vereinigte. Prägende wissenschaftliche Neupositionierungen, die auch nur annähernd mit der Wirkung seiner Parteienstaatslehre vergleichbar gewesen wären, sind diesen Schriften allerdings nicht zugeschrieben worden. Eine Gelegenheit zum transnationalen wissenschaftlichen Austausch erhielt Leibholz 1953 mit dem Angebot der New School for Social Research an der New Yorker Columbia University (zu der ab 1933 auch die University in Exile gehört hatte), die Nachfolge der politikwissenschaftlichen Professur von Arnold Brecht 26 anzutreten. Er schlug sie zu Gunsten der Fortsetzung seiner richterlichen Tätigkeit am Bundesverfassungsgericht aus. (4) Zu Loewenstein sei vorweg bemerkt, dass zu ihm, wie eingangs erwähnt, die Auswertung der US-amerikanischen Archive noch aussteht, um verbliebene biographische Lücken zu schließen bzw. vorliegende Befunde von dritter Seite quellenmäßig abzusichern und nicht zuletzt die inzwischen erschienene einschlägige Literatur einzuarbeiten. Loewensteins wissenschaftliche Prägung durch die Wissenschaftslehre Max Webers reicht bis in seine Studienzeit zurück, in der er während seines 1-semestrigen Studienaufenthalts in Heidelberg an den Sonntags-Jours teilnahm, die Marianne und Max Weber 14-täglich abhielten. Nach seiner Promotion über ein staatstheoretisches Thema war er über 10 Jahre lang als Rechtsanwalt tätig und beschäftigte sich nebenher mit der Geschichte und Organisation des britischen Parlaments. Seine Habilitation 1931 bestritt er mit einer Schrift über Erscheinungsformen der Verfassungsänderungen. Fragen der Ausgestaltung von Verfassungen und der vergleichenden Verfassungs- und Parlamentarismusforschung bildeten lebenslang den Kern seiner wissenschaftlichen Arbeit. Nach seiner Entlassung aus dem bayerischen Staatsdienst (von einem Nicht-Arier könne keine Staatslehre und kein Staatsrecht gelehrt werden, so wurde ihm beschieden) im Oktober 1933 emigrierte er zwei Monate 26 | Zu ihm s. den Beitrag von Corinna Unger in diesem Band.
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später in die USA. Dort bekleidete er von 1934 bis 1936 eine außerordentliche Professur an der Yale University in New Haven, die zur Hälfte vom Emergency Committee for Displaced Scholars finanziert wurde. Im Herbst 1936 wurde er zum ordentlichen (full) Professor für Political Science and Jurisprudence am Amherst College in Massachusetts berufen, wo er bis zu seiner Emeritierung 1961 blieb. Während des Krieges fungierte er in den Jahren von 1942 bis 1944 wiederholt als Berater des US-amerikanischen Generalstaatsanwalts in Fragen der Staatsschutzgesetzgebung, nach Kriegsende kehrte er für kurze Zeit nach Deutschland als Mitglied der US-amerikanischen Delegation im Alliierten Kontrollrat zurück. Während dieser Zeit veranlasste er unter anderem die Verhaftung Carl Schmitts und die Beschlagnahmung von dessen Bibliothek. Im Zuge der Wiedergutmachung für seine Vertreibung wurde Loewenstein an der Münchener Universität die Position eines professor emeritus zugesprochen. Die Professur wurde jedoch der tierärztlichen Fakultät zugewiesen, an der gerade eine Stelle frei war. Sie konnte demnach von Loewenstein gar nicht ausgeübt werden. Das Manöver sorgte aber immerhin dafür, ihm eine zusätzliche Pension zu sichern. Eine dauerhafte Rückkehr nach Deutschland hat Loewenstein zu keiner Zeit angestrebt, ein Angebot zur Übernahme einer Professur war ihm eben auch ernsthaft nicht unterbreitet worden. Einladungen zu Gastprofessuren hat es in großer Zahl vor allem von ausländischen Universitäten gegeben, vereinzelt auch von bundesrepublikanischen Universitäten wie etwa 1954 von der Universität Marburg, im WS 1965/66 vom Otto-SuhrInstitut der FU Berlin und im SS 1966 von der Universität Freiburg, die beiden letzteren also in der Zeit der aufkommenden Studentenbewegung. Loewensteins an Max Webers Idealtypenbildung orientierte Klassifizierung verschiedener (historischer) Verfassungs- bzw. Parlamentarismus- wie auch präsidentieller Systeme nicht zuletzt unter dem strukturellen Gesichtspunkt einer »Balance of Power«, seine grundsätzliche Unterscheidung politischer Systeme nach Autokratien und konstitutionellen Demokratien und seine funktionale Interpretation der Montesquieuschen Gewaltenteilung sind Ansätze, die in der bundesrepublikanischen politikwissenschaftlichen Debatte der Nachkriegszeit ihren Niederschlag gefunden haben.
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Übersicht über die akademischen Biographien der US-Emigranten Vor der Emigration
Im US-Exil
Name
Fachgebiete
Fachgebiete
Bruck, Eberhard Dorn, Herbert
röm.R, PrivatR FinanzR, öff. WirtschaftsR
Hentig, Hans von Hoeniger, Heinrich Honig, Richard Husserl, Gerhart Kelsen, Hans Keßler, Friedrich Kirchberger, Hans
StrafR, Kriminologie HandelsR, PrivatR StrafR, RPhil. röm.R, PrivatR StaatsR, RPhil. VertragsR, HandelsR, PrivatR UrheberR, R-Schutz
ordentl.P.
Kisch, Guido
dt. PrivatR, dt. R-Geschichte
ordentl.P.
Lenhoff, Arthur Levy, Ernst Loewenstein, Karl Neuner, Robert
ArbeitsR, PrivatR röm.R, PrivatR StaatsR, VölkerR röm.R, PrivatR
außerordl.P. conflict of laws associate P. entfällt
Nußbaum, Arthur Rabel, Ernst Rheinstein Max Rheinstrom, Heinrich RosenstockHuessy, Eugen Saenger, August
PrivatR, R-Tatsach.Forsch. röm.R, PrivatR PrivatR: dt. u. ausl.Recht FinanzR, SteuerR Handels-u. Arb.R, PrivatR
außerordl.P. conflict of laws associate P. entfällt
Akad. Status ordentl.P. HonorarP.
ordentl.P. ordentl.P. ordentl.P.
Geschichte d. Röm.R. FinanzR, öff. WirtschaftsR StrafR, Kriminologie HandelsR, PrivatR R-Vergleichung Kirchrecht conflict of laws
ordentl.P.
In der Remigration Akad. Status Dozent
ordentl.P. Privatdoz. ordentl.P.
ordentl.P. Privatdoz. HonorarP. ordentl.P.
entfällt
associate P. entfällt Dozent
Kriminalwissenschaft associate P. HandelsR, ArbR,PrivatR Lehrbeauft. amerik. u. dt. StrafR full prof. amerikan.R, R-Vergl. full prof. entfällt
political sc., jurisprudence Privatdoz. VertragsR, full prof. HandelsR außerordl.P. dt. Rechts- u. Dozent Verwalt.System jüdische Geschichte
Fachgebiete
entfällt entfällt
associate P. Rechtsgeschichte
europ. Gesch. full prof. röm.R röm.R Political sc., full prof. entfällt jurisprudence conflict of laws associate P. entfällt
conflict of laws associate P. ausl. u. inter nat. PrivatR conflict of laws full prof. Entfällt noch unklar R-Vergl. RPhil.
HandelsR, Priv.- außerordl.P. noch Versich.R,PrivatR unklar
noch entfällt unklar associate P. entfällt
noch unklar
entfällt
Akad. Status nicht remigriert nicht remigriert Ordentl.P. Gastprof. Gastprof. HonorarP. nicht remigriert nicht remigriert nicht remigriert Ehrendoz. nicht remigriert HonorarP. nicht remigriert Sept. 1946 gestorben nicht remigriert HonorarP. nicht remigriert nicht remigriert nicht remigriert nicht remigriert
Formen der Reintegration in das west- wie ostdeutsche Universitätssystem am Beispiel der Berliner Universitäten Katrin Krehan Der Beitrag behandelt die Reintegration von Wissenschaftlern an der Freien Universität Berlin und der Humboldt-Universität zu Berlin nach 1945 und möchte somit auch eine Eingliederung in die unterschiedlichen Systeme aufzeigen sowie auf einzelne Remigranten eingehen, wobei es sich dabei hauptsächlich um Rechtswissenschaftler handelt.
I. D ie R eintegr ation im ostdeutschen S ystem am B eispiel der H umboldt-U niversität Bei Kriegsende war die Lage in Berlin desolat, neben einem Grossteil der Gebäude war auch die gesamte Infrastruktur weitestgehend zerstört. Die ebenfalls durch die Bombardierung schwer in Mitleidenschaft gezogene Friedrich-Wilhelms-Universität befand sich in der sowjetischen Besatzungszone und unterstand somit komplett der sowjetischen Besatzungsmacht.1 1 | Eigentlich sollte Berlin von einer aus Vertretern der Alliierten bestehenden Kommandantur regiert werden, da die ehemalige Hauptstadt keiner der vier Besatzungszonen unterlag. Damit hätte die im sowjetischen Sektor gelegene Universität von Anfang an unter deren Leitung fallen müssen. Nach einer Übergangszeit unter Magistratsverwaltung war jedoch schließlich alleinig die von den Sowjets in ihrer Zone gegründete Zentralverwaltung für Volksbildung für den Universitätsbetrieb zuständig, vgl. Siegward Lönnendonker, Freie Universität Berlin – Gründung einer politischen Universität, Berlin 1988, S. 105ff.; Georg Kotowski, Freiheit – Die
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Der Wiederauf bau der Universität erfolgte langsam, nach der Eröffnung 1946 erfolgte 1948 die Umbenennung in Humboldt-Universität, auch angetrieben von demokratisch gesinnten Studierenden, die eine Umbenennung in Lenin-Universität bzw. Marx-Universität verhindern wollten. Die kommunistische Indoktrinierung sowie der Einfluss der SED waren spürbar, der Hochschulzugang wurde immer mehr vom »richtigen« Parteibuch abhängig.2 Der Friedrich-Wilhelms-Universität gehörten vor dem Dritten Reich viele renommierte Juristen an, die nach 1933 aufgrund des NS-Rassenantisemitismus oder aufgrund ihrer politischen Einstellung verfolgt und zum Verlassen der Hochschule gezwungen wurden. Diese ehemaligen Professoren kehrten nur vereinzelt an die Humboldt-Universität zurück. Zu den Rückkehrern gehörte Hermann Dersch, der nach Kriegsende im Alter von 62 Jahren erneut an der wieder eröffneten Berliner Universität lehrte. Nach dem Verlust seiner Professur unter dem NS-Regime war der Jurist, der in der NS-Ideologie als Vierteljude galt, nicht emigriert, sondern in Berlin untergetaucht, wo er sich auch noch bei Kriegsende befand. Er bemühte sich direkt in den ersten beiden Nachkriegsmonaten um seine Wiedereinstellung, als der Wiederauf bau der Hochschulen noch hinter der primären Versorgung der zerstörten Stadt mit essentiellen Gütern, wie Lebensmitteln und Kleidung, zurückstand. Hier erlangte er später die Position des Dekans an der Juristischen Fakultät und nahm bereits 1947 die Position des Rektors ein.3 Um sich an der Humboldt-Universität zu integrieren und vielmehr auch zu etablieren, bedurfte es einer nicht zu unterschätzenden Anpassungsfähigkeit an die von der sowjetischen Besatzungsmacht vorgegebene institutionelle politische Ausrichtung. Ein schneller akademischer Aufstieg war somit möglich, doch forderte das Erlangen einer höheren Position im Verwaltungsapparat gleichzeitig seinen Tribut: So war Hermann Dersch derjenige Rektor, der die demokratische Strukturen forGründung der Freien Universität Berlin 1948, in: Uwe Prell/Lothar Winkler (Hg.), Die Freie Universität Berlin 1948-1968-1988 – Ansichten und Einsichten, Berlin 1989, S. 16-28, 16ff. 2 | Carlo Jordan, Kaderschmiede Humboldt-Universität zu Berlin – Aufbegehren, Säuberung und Militarisierung 1945-1989, Berlin 2001, S. 25, 28f., 30ff. 3 | Katrin Krehan, Die Reintegration von Juristen jüdischer Herkunft an den Berliner Universitäten nach 1945, Berlin 2007, S. 140ff.
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dernden Herausgeber der Studentenzeitung »Colloquium« relegierte. Damit ordnete er sich einem System unter, das Presse- und Meinungsfreiheit nicht zuließ. Wer sich den neuen politischen Gegebenheiten nicht anzupassen vermochte, hatte somit kaum eine Chance, sich innerhalb der Ostberliner Universität zu positionieren.4 Ende der vierziger Jahre sollte es allerdings auch zu Unstimmigkeiten zwischen Dersch und den sowjetischen Machthabern kommen, die ferner seinen in ihren Augen »zu westlichen Lebensstil« kritisierten.5 Eine dauerhafte Reintegration des Juristen an der Ostberliner Universität war, trotz seiner dort erlangten Positionen als Rektor und Dekan der Juristischen Fakultät, nicht erfolgt, da er sich politisch nicht komplett anpasste. Der Fall Dersch zeigt, dass für eine Eingliederung im Hochschulsystem der sowjetischen Besatzungszone eine dem politischen System entsprechende Grundhaltung nicht nur nützlich, sondern unabdingbar war. Daneben bestand in der sowjetischen Besatzungszone eine kategoriale Unterscheidung zwischen den »Kämpfern gegen den Faschismus«, wie politisch aktiven NS-Widerstandskämpfern aus den Reihen der KPD, und den »Opfern des Faschismus«, wie den als Juden Verfolgten, während sich in den westlichen Besatzungsgebieten die Einteilung in rassisch, religiös und politisch Verfolgte etablierte. Demnach standen die Kommunisten und die vom Krieg besonders betroffene Sowjetbevölkerung in der Sowjetzone und auch später in der DDR als politische Opfer des NS-Regimes im Vordergrund.6 Für eine Reintegration förderlich erwiesen sich die vergleichsweise guten Einstiegs- bzw. Aufstiegschancen. Eine privilegierte akademische Karrieremöglichkeit wurde dadurch geschaffen, dass promovierte Juristen nach einer hausinternen Habilitierung direkt eine Professur erhalten 4 | Krehan, Reintegration (Fn. 3), S. 349f. 5 | Hierbei wurde der Kauf eines Kfz der Marke Opel kritisiert, s. Aktennotiz der Abteilung Wissenschaft des Ministeriums für Volksbildung (MfV) vom 22.03.1949, in: UA HUB, PA H. Dersch, Bd. IV, Bl. 32. Möglicherweise hätte der Besuch der SEDAbenduniversität zur »politischen Weiterbildung« das Verhältnis wieder harmonisieren können, vgl. Krehan, Reintegration (Fn. 3), S. 349. 6 | Ebd., S. 381; siehe auch Constantin Goscher, Die Bedeutung der Entschädigungs- und Rückerstattungsfragen für das Verhältnis von Juden und deutscher Nachkriegsgesellschaft, in: Julius H. Schoeps (Hg.), Leben im Land der Täter. Juden im Nachkriegsdeutschland (1945-1952), Berlin 2001, S. 219-235, 223f.
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konnten. Dieses Vorgehen entsprach nicht der Berufungstradition deutscher Hochschulen, doch kam den Rückkehrern auch im universitären Bereich der Personalmangel nach dem Zweiten Weltkrieg und speziell die geringe Anzahl von Akademikern im sowjetischen Besatzungssektor zugute.7 Grundvoraussetzung für eine solche Integration blieb allerdings, dass man sich mit dem politischen System, wenn nicht identifizieren, so doch zumindest arrangieren konnte. Soweit dies nicht zutraf, ergaben sich für den Remigranten kaum überwindbare Hindernisse, die von Seiten der Hochschulverwaltung nur aufgrund des Akademikermangels zu einem Festhalten an einem für den Lehr- und Forschungsauf bau wichtigen Wissenschaftler führten. Hier profitierten die Rückkehrer von der Personalknappheit an geeigneten systemkonformen Professoren und konnten dadurch ihre feste Anstellungen innerhalb des von der sowjetischen Besatzungsmacht gesteuerten Universitätsbetriebs halten.8 Die Reintegration wurde grösstenteils auch von politischen Gründen getragen, sollte doch der Auf bau eines »neuen anderen antifaschistischen Deutschlands« mit sozialistischer Ausrichtung durch eine dementsprechende Erziehung der Studierenden erfolgen. Die Rückkehr war somit von politischen Motiven und Idealismus geprägt, was sich insbesondere bei Friedrich Karl Kaul zeigte. Der Jurist war aufgrund seiner jüdischen Herkunft zunächst nach Südamerika geflohen, wo aber nach dem Kriegseintritt der Amerikaner von Nicaragua an der USA ausgeliefert wurde. Die letzten Jahre des Exils verbrachte er dort in verschiedenen Internierungslagern. Seine Rückkehr verlief nicht unproblematisch, da er, in Deutschland zunächst von den US-Streitkräften als »feindlicher Ausländer« eingestuft, wiederum sechs Monate in einem amerikanischen Internierungslager bei Ludwigsburg verbringen musste. Danach ging er direkt nach Ostberlin, wo er als Anwalt und beim Rundfunk tätig war. Bekanntheit erlangte er auch in der Bundesrepublik als DDR-Nebenklagevertreter bei den Auschwitzprozessen 1963 in Frankfurt a.M.. An der HumboldtUniversität nahm er ab 1965 neben einer Professur auch die Position als Direktor des Instituts für Zeitgenössische Rechtsgeschichte ein.9 7 | Krehan, Reintegration (Fn. 3), S. 347ff. 8 | Ebd., S. 347ff., insbesondere 349f. 9 | Annette Rosskopf, Friedrich Karl Kaul, Anwalt im geteilten Deutschland (1906-1981), Berlin 2002, S. 30ff., 188f., 295ff., 305f.; Walter Tetzlaff, 2000
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Bereits im Exil in Süd- und Nordamerika stand für Friedrich Karl Kaul fest, dass er nach dem Ende des NS-Regimes nach Deutschland und hier nach Berlin zurückkehren würde, um am Auf bau eines neuen sozialistischen Staates mitzuwirken. Daneben herrschte bei ihm geradezu die Angst vor einer möglichen Re-Faschisierung in der Bundesrepublik vor. Mit Enthusiasmus engagierte sich neben der Universität auch für eine marxistisch-sozialistische Ausbildung Jugendlicher; später bestritt er ausserdem eine allgemeine Rechtsberatungssendung im Fernsehen.10 Doch selbst bei einem engagierten »West«-Emigranten wie Friedrich Karl Kaul konnte für eine Reintegration an der Ostberliner Universität der Emigrantenstatus nicht vernachlässigt werden. Im aufkommenden Kalten Krieg betrachtete die sowjetische Besatzungsmacht die in den Westen emigrierten NS-Flüchtlingen mit grösster Vorsicht, da sie unter diesen Spione der Westmächte vermutete. »Ost«-Emigranten sowie verfolgte Kommunisten wurden bei der Einstellung generell bevorzugt, weswegen Kaul auch teilweise aus den eigenen Reihen mit Misstrauen begegnet wurde.11 Durch sein Wirken bei den westdeutschen NS-Verfahren und den damit verbundenen Aufenthalten in der Bundesrepublik sowie den Kontakten zu dortigen Unterhändlern und Politikern wurde er zu einem Pendler zwischen den beiden deutschen Teilstaaten.12 Es kehrten wenige emigrierte Wissenschaftler als Gastdozenten an die Ostberliner Universität zurück. Dafür war auch die politische Gesamtlage verantwortlich, denn der Beginn des Kalten Krieges erschwerte – neben der noch beeinträchtigten Infrastruktur – einen Wissenschaftstransfer zwischen dem Osten und dem Westen. Spätestens nach dem Mauerbau war die Einreise in den Ostteil der Stadt mit nicht unerheblichen Strapazen verbunden. Ferner bestand weder bei den emigrierten Kurzbiographien bedeutender deutscher Juden des 20. Jahrhunderts, Lindthorst 1982, S. 170. 10 | Krehan, Reintegration (Fn. 3), S. 151, 157ff, 161. Seine Frau, von der er sich pro forma im Dritten Reich hatte scheiden lassen, erwartete ihn auch wieder in Berlin, wo die beiden direkt nach seiner Rückkehr erneut heirateten. 11 | Ebd., S. 155 f. und 348. 12 | Friedrich Karl Kaul verstarb 1981 und erlebte nicht mehr die Wende und den Zusammenbruch der DDR. Aufgrund seines Werdegangs hätte er der Wiedervereinigung der beiden deutschen Teilstaaten zur Bunderepublik wahrscheinlich kritisch gegenübergestanden.
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Juristen noch bei der Leitung der Humboldt-Universität das Bedürfnis an einer Zusammenarbeit. Für die ehemaligen Gelehrten der FriedrichWilhelms-Universität existierte ihre einstige Hochschule nicht mehr in der Form, wie sie diese vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten erlebt hatten. Eine zeitlich begrenzte Rückkehr zogen sie nur für Gastvorlesungen an der neugegründeten Freien Universität in Betracht. Für die neue Hochschulleitung im sowjetischen Sektor galten die ehemaligen Professoren der Friedrich-Wilhelms-Universität als Vertreter des »alten und feudalen« Systems, die in der DDR nicht erwünscht waren.13 Gleichzeitig hatte sich die Ostberliner Universität mit ihren »internationalen« Kontakten in Richtung der Mitgliedstaaten des Warschauer Pakts orientiert14, sodass vermehrt Gastprofessoren aus den osteuropäischen Staaten in Ostberlin lehrten. Wie wenig die Humboldt-Universität für »westliche« Dozenten zugänglich war, zeigte sich daran, dass sie selbst ihre emeritierten Professoren aus den ersten Nachkriegsjahren, die im Westteil Berlins beheimatet waren, nicht mehr für Gastvorlesungen einsetzte. So wurde das Angebot des ehemaligen Rektors Hermann Dersch bezüglich weitere Veranstaltungen nach seiner Emeritierung von Seiten der Hochschulleitung nicht angenommen.15 Es galt das Alles-oder-Nichts-Prinzip, wonach entweder eine komplette Eingliederung im sozialistisch geprägten Hochschulsystem oder gar keine möglich war.
II. D ie R eintegr ation im westdeutschen S ystem am B eispiel der F reien U niversität 1. Dauerhafte Rückkehr Gegenüber der sozialistisch geprägten Universität im Ostsektor konnten die westlichen Besatzungsmächte zunächst kein eigenes Hochschulkonzept anbieten. Doch um der Verbreitung der kommunistischen Ideologie entgegenzuwirken, strebten die amerikanischen Besatzer eine Universi13 | Krehan, Reintegration (Fn 3), S. 352f. 14 | Hans Nathan, Die Entwicklung der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität, in: Neue Justiz, Berlin (Ost) 1960, S. 779-786, 784. 15 | Krehan, Reintegration (Fn. 3), S. 353.
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tätsgründung mit hinreichend finanzieller Unterstützung in ihrem Sektor an. Dies führte 1948 zur Neugründung der Freien Universität Berlin im US-Sektor, was neben der Förderung durch die Amerikaner auch dem grossen Engagement von Ernst Reuter, dem von der sowjetischen Besatzungsmacht nicht akzeptierten Oberbürgermeister von Berlin, zu verdanken war.16 Die Freie Universität erhielt eine demokratische Verfassung, nach der eine »Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden« geschaffen werden sollte, die der Studentenschaft weitgehende Mitspracherechte und eine stimmberechtigte Vertretung in den Universitätsgremien einräumte. Freiheit bedeutete dabei 1948 nicht nur die Lossagung von politischer Reglementierung durch die sowjetischen Besatzer, sondern auch die Überwindung traditioneller Strukturen innerhalb der Universität. Die neue Organisationsform der Freien Universität hatte allerdings Widerstände unter den westdeutschen Hochschulen hervorgerufen, die durch Androhung der Nichtanerkennung der Examina die in ihren Augen zu umfangreichen Mitbestimmungsregelungen der Studierenden wieder zurückdrängten. Ein Bekenntnis zur Freien Universität wäre einer politischen Stellungnahme gleichgekommen, zu der die westdeutschen Professoren in den ersten Nachkriegsjahren in ihrer Mehrheit nicht bereit waren. Die emigrierten Wissenschaftler standen der Neugründung der Freien Universität offener und engagierter gegenüber als ihre westdeutschen Hochschulkollegen, die dem akademischen Vorhaben in Westberlin mit Skepsis und Zurückhaltung begegneten. Die Westberliner Universität blieb eine politische Gründung, die nur aufgrund der amerikanischen Unterstützung verwirklicht werden konnte und noch Jahre nach ihrer Etablierung von Seiten der DDR und der Humboldt-Universität angegriffen werden sollte.17 Für viele Rückkehrer an die Freie Universität standen ideologische Gründe im Vordergrund, denn mit dem Auf bau einer demokratischen Universität im Westteil Berlins, an der jeder Berechtigte ohne Zugehörigkeit zu einer bestimmten Glaubensrichtung oder einer vorgegebenen politischen Grundhaltung frei studieren konnte, sollte gleichzeitig der Demokratieauf bau in Deutschlands unterstützt werden. Die nach West16 | James F. Tent, Die Freie Universität Berlin: 1948-1988. Eine deutsche Hochschule im Zeitgeschehen, Berlin 1988, S. 199ff. 17 | Krehan, Reintegration (Fn. 3), S. 38ff. und 361 mit weiteren Verweisen.
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berlin zurückkehrenden Juristen hätten einen Lehrstuhl an der von der sowjetischen Besatzungsmacht gelenkten Humboldt-Universität nicht in Betracht gezogen, vielmehr sahen sie ihre Zukunft an der Freien Universität, wo sie keiner politischen Reglementierung unterworfen waren. Von den Rechtsgelehrten jüdischer Herkunft, die nach dem Krieg eine Professur an der Ostberliner Universität einnahmen, wechselte keiner an die neu gegründete Juristische Fakultät in Westberlin, was auch mit deren politischer Gesinnung zusammenhing.18 Im Unterschied dazu gab es aus dem bürgerlichen Lager der Juraprofessoren der Humboldt-Universität einige Wechsler an die neugegründete Hochschule im US-Sektor.19 Die Rückkehr konnte auch durch die Fremde im Exil und Sprachprobleme im Aufnahmeland motiviert sein. Gerade die Rechtswissenschaften waren weitestgehend national ausgerichtet, weswegen im Exilland teilweise eine Hinwendung zu den Politikwissenschaften stattfand, wie bei Ossip K. Flechtheim und John H. Herz. Die Exilsprache Englisch beherrschten die wenigsten Emigranten auf wissenschaftlichem Niveau.20 Förderlich für eine Rückkehr waren Sonderbewilligungen von Urlaubssemestern wie auch die Anstellung in einem »beamtenähnlichen« Arbeitsverhältnis, damit die Remigranten die US-Staatsbürgerschaft beibehalten konnten, was mit der Zeit allerdings komplizierter wurde.21 Nicht zu unterschätzen waren ferner das Entgegenkommen der Freien Universität und der Stadt Berlin, die mit vereinfachten Berufungsverfahren ohne Habilitation oder auch der Beteiligung an der finanziellen Absicherung eine Remigration der Wissenschaftler erst ermöglichten.22 18 | Ebd., S. 358ff. 19 | Kristin Kleibert, Die Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin im Umbruch – Die Jahre 1948 bis 1951, Berlin 2010, 268ff. 20 | Lili Faktor-Flechtheim übersetzte die Veröffentlichungen ihres Mannes ins Englische, s. Lili Faktor-Flechtheim, Emigration und Remigration, in: Christa Dericum/Philipp Wambolt (Hg.), Heimat und Heimatlosigkeit, S. 31-40, 36; nach ihrer Remigration kümmerte sie sich um die Übersetzung der Werke von John H. Herz vom Englischen ins Deutsche, s. Lili Faktor-Flechtheim, Dankeswort der Übersetzerin, in: Andreas W. Mytze (Hg.), Europäische Ideen: John H. Herz zum 70. Geburtstag, Heft 41, 1978, S. 18. 21 | Auf den McCarran Act und seine Folgen wird weiter unten detaillierter eingegangen. 22 | Krehan, Reintegration (Fn. 3), S. 365ff.
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Wer als »Weltbürger« vor dem Exil bereits mehrere Ortswechsel erlebt hatte, empfand weder die Emigration noch die darauffolgende Rückkehr als örtliche Umorientierung und somit auch nicht als Bruch der eigenen Biographie. So war Ossip K. Flechtheim in Russland geboren und in Deutschland aufgewachsen, bevor er zunächst in die Schweiz und schließlich nach Amerika floh. Nach dem er in Genf Politikwissenschaften studiert hatte, konnte er in den USA als Hochschullehrer für Politik wirken. An der Freien Universität nahm er 1952 einen Lehrstuhl für Politische Wissenschaften ein, wobei ihm ein vereinfachtes Habilitationsverfahren mit Einzelschriften sowie eine spezielle Empfehlung durch Hans Kelsen, seinen ehemaligen Lehrer am Genfer Institut Universitaire de Hautes Etudes Internationales, halfen. Für die Studentenproteste 1968 empfand der Politikwissenschaftler grosses Verständnis, wenn nicht sogar Zustimmung, allerdings verabscheute er deren Gewaltexzesse. Neben der Universität engagierte er sich für Menschenrechte, später verfolgte er auch aktiv die Umweltdebatten der frühen 1980er Jahre.23 Politisch engagierte Rückkehrer wie Ossip K. Flechtheim hatten bereits im Exil darauf hingearbeitet und sich intensiv vorbereitet, in einem postnazistischen Staat am Neuauf bau eines demokratischen, »anderen« Deutschlands mitzuwirken.24 Der Remigrant ging explizit nach Berlin, um auch eine Brücke zwischen den Grossmächten Ost und West zu bilden, den er im »dritten Weg« eines demokratisch-liberalen Sozialismus sah. Zur Rückkehr bewegten ihn neben dem Wissenschaftsinteresse ein ideologiefreies Studium an der Freien Universität im Gegensatz zur Humboldt-Universität sowie die Etablierung eines politikwissenschaftlichen Studiums mit der dazugehörigen Vermittlung eines Demokratieverständnisses.25
23 | Zu Leben und Wirken von Ossip K. Flechtheim gibt es unzählige Veröffentlichungen, einen guten Überblick dazu bei Mario Keßler, Ossip K. Flechtheim. Politischer Wissenschaftler und Zukunftsdenker (1909-1998), Köln 2007, S. 262ff.; siehe auch Krehan, Reintegration (Fn. 3), S. 184ff. 24 | Cordula Lissner, »…gab es jetzt die Möglichkeit der Rückkehr«. Entscheidungen nach 1945, in: Kurt Düwell/Angela Genger/Kerstin Griese/Falk Wiesemann (Hg.), Vertreibung jüdischer Künstler und Wissenschaftler aus Düsseldorf 19331945, S. 227-224, 228; Krehan, Reintegration (Fn. 3), S. 359f. 25 | Krehan, Reintegration (Fn. 3), S. 365ff.
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2. Partielle Rückkehr Die partiellen Rückkehrer umfassen die Hochschullehrer, die zeitlich begrenzt, wie bspw. im Rahmen einer Gastprofessur, an der Freien Universität lehrten (sog. »sojourners«). Die US-Regierung und zahlreiche amerikanische Stiftungen wie die Rockefeller Foundation unterstützten mit Stipendien die Gastaufenthalte von emigrierten Wissenschaftlern und ermöglichten somit eine partielle Reintegration dieser in Westberlin.26 Ausschlaggebend für eine solche zeitlich begrenzte Rückkehr waren zumeist persönliche Beziehungen zu Professoren an der Freien Universität, was sich am Beispiel der privaten und beruflichen Verbundenheit von Ossip K. Flechtheim und John H. Herz zeigen lässt: Die beiden waren Freunde seit der Schulzeit in Düsseldorf und hatten gemeinsam Rechtswissenschaften in Köln studiert. Beide waren zunächst nach Genf und dann in die USA geflohen, wo sie sich den Politikwissenschaften zugewandt hatten. Herz lehrte an verschiedenen US-Colleges, bevor er full professor an der Howards University und am City College New York wurde. Deutschland besuchte er erstmals wieder im Rahmen der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse, um im Stab des US-Anklägers mitzuwirken27; zu diesem Zeitpunkt waren die USA bereits zu seiner neuen Heimat geworden. Aufgrund seiner persönlichen Verbindung zu Flechtheim kehrte er immer wieder für Lehraufträge an die Freie Universität nach Berlin
26 | Die Gastprofessuren von John H. Herz und Franz L. Neumann wurden hauptsächlich über solche Stipendien finanziert, vgl. Krehan, Reintegration (Fn. 3), S. 278ff., 293ff. 27 | Die US-Regierung förderte im Rahmen der amerikanischen Besatzungspolitik in Deutschland eine aktive Mitarbeit der emigrierten Juristen, die eine entscheidende Rolle bei der Formulierung und Umsetzung des Konzepts vom »übergesetzlichen Recht« nach 1945, wie bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen, einnahmen, s. Ulrike Jordan, Die Remigration von Juristen und der Aufbau der Justiz in der britischen und amerikanischen Besatzungszone, in: Claus-Dieter Krohn/Patrik von zur Mühlen (Hg.), Rückkehr und Aufbau nach 1945. Deutsche Remigranten im öffentlichen Leben Nachkriegsdeutschlands, Marburg 1997, S. 305-320, 312 u. 320.
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zurück und engagierte sich auch als Vermittler zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den USA.28 Einer dauerhaften Rückkehr nach Deutschland stand die Integration im Emigrationsland unter anderem durch die gesicherte berufliche Position entgegen. Soweit die Emigranten nach ihrer Flucht nicht nur Aufnahme in ihrem Exilland gefunden, sondern auch zusätzlich mit der Verleihung der Bürgerrechte die amerikanische Staatsangehörigkeit erlangt hatten, liess diese enge Verbindung die Gedanken an eine Remigration in den Hintergrund treten.29 Daneben existierte seit 1952 der McCarran Act, der einen drohenden Verlust der US-Bürgerschaft bei dauerhafter Rückkehr vorsah und somit grundlegend die Emigrations- und Einbürgerungspolitik der Vereinigten Staaten regelte. Pat McCarran, Senator des US-Bundesstaates Nevada, hatte die nach ihm benannte Gesetzesinitiative Anfang der fünfziger Jahre im Senat eingebracht, um die Einflussnahme durch kommunistische Immigranten in den Vereinigten Staaten zu verhindern. Neben neuen Einwanderungsquoten für Asiaten und Europäer sah der McCarran Act vor, dass eingebürgerte Auswanderer ihre amerikanische Staatsangehörigkeit verlieren sollten, sobald sie wieder mehr als drei Jahre in ihrem Herkunftsland lebten. Um dies zu verhindern und ihren amerikanischen Pass nicht zu verlieren, mussten sie in die USA zurückkehren und sich dort mindestens ein Jahr aufhalten. In den sechziger Jahren wurden diese Regelungen wieder gelockert, doch war es dann für eine dauerhafte Rückkehr nach Deutschland zu spät.30
28 | Zu Leben und Wirken von John H. Herz vgl. Jana Puglierin, John H. Herz: Leben und Denken zwischen Idealismus und Realismus, Deutschland und Amerika, Berlin 2011; siehe auch Krehan, Reintegration (Fn. 3), S. 278ff. mit weiteren Verweisen. 29 | Axel Schildt, Reise zurück aus der Zukunft. Beiträge von intellektuellen USRemigranten zur atlantischen Allianz, zum westdeutschen Amerikabild und zur »Amerikanisierung« in den fünfziger Jahren, in: Claus-Dieter Krohn/Erwin Rotermund/Lutz Winckler/Wulf Koepke (Hg.), Exil und Remigration. Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, Bd. 9, München 1991, S. 25-45, 25ff. Für diejenigen Remigranten, die auch die US-Staatsbürgerschaft erlangt hatten, blieb in ähnlicher Weise nach ihrer Rückkehr »Amerika« ein zentraler Bezugspunkt ihres gesellschaftstheoretischen und politischen Denkens. 30 | Krehan, Reintegration (Fn. 3), S. 374f.
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Gegen eine dauerhafte Rückkehr sprachen teilweise auch eine fehlende wissenschaftliche Qualifikation in Deutschland und der damit verbundene geringe Bekanntheitsgrad, während man im Exilland etabliert war. Die Situation konnte sich mit der Emeritierung ändern, da die Altersvorsorge im Aufnahmeland nicht mit der in Deutschland vergleichbar war; zu diesem Zeitpunkt dienten die Gastprofessuren an der Freien Universität nicht nur dem wissenschaftlichen Interesse, sondern dank der konzilianten Vergütungsregelungen auch der Auf besserung der persönlichen finanziellen Situation.31
III. F a zit Ein allgemeiner Rückruf von Seiten der beiden Berliner Universitäten fand nicht statt – weder in den Nachkriegsjahren noch nach der Umgestaltung bzw. Neugründung. Es erfolgten lediglich Einzelanfragen an Wissenschaftler, wobei dafür persönliche Beziehungen, wie Kontaktaufnahme mit ehemaligen Kollegen, im Vordergrund standen In der Ostzone waren sozialistische Rückkehrer bevorzugt erwünscht, allerdings blieb eine komplette Reintegration nur durch Anpassung an das neue sozialistische System möglich. Während die Rückkehrer an der Freie Universität Berlin am demokratischen Wiederauf bau der Hochschulen mitwirken und somit bei der juristischen und politikwissenschaftlichen Ausbildung mit ein Fundament für eine funktionierende Demokratie legen konnten, hatten ihren zurückkehrenden Kollegen an der bereits sozialistisch ausgerichteten Humboldt-Universität keinen umfangreichen demokratischen Gestaltungsspielraum. Das Engagement der Remigranten – sowohl in Ost und West – war von einem Idealismus geprägt, der bei jeglichem Existenzauf bau in einer größtenteils noch zerstörten Stadt unabdinglich vorhanden sein musste.32 Durch die Rückkehrer aus dem Exil erfuhr der deutsche Hochschulbetrieb – insbesondere an der Westberliner Universität – eine nicht zu 31 | Ebd., S. 375ff. 32 | Krehan, Reintegration (Fn. 3), S. 361 und 389. In späteren Jahren engagierten sich die Remigranten weiterhin in dem Bewusstsein einer moralischen Verpflichtung für gesellschaftliche und soziale Belange.
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unterschätzende Internationalisierung. Diese intensivierte sich auch in den darauffolgenden Jahrzehnten durch die partiellen Rückkehrer, die für Gastprofessuren immer wieder zurückkehrten und als »Pendler zwischen den Welten« zu Pionieren der globalisierten Wissensgesellschaft wurden.33
33 | Keßler, Flechtheim (Fn. 23), S. 97; Krehan, Reintegration (Fn. 3), S. 387f.
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Von der Kooperation zur Abgrenzung Der Einfluss US-amerikanischer Reformideen auf die westdeutsche Politik 1945-1960 Frieder Günther Als die deutsche Wehrmacht am 8. Mai 1945 kapitulierte und die vier alliierten Mächte wenig später die oberste Regierungsgewalt in Deutschland übernahmen, hatten sie alle Macht in Händen, um das besetzte Land von Grund auf zu verändern. Auf der Potsdamer Konferenz einigten sich die USA, Großbritannien und die Sowjetunion auf vier gemeinsame Grundsätze, die ihre Besatzungspolitik in Zukunft bestimmen sollten. Durch eine Politik der Entnazifizierung, Entmilitarisierung, Demokratisierung und Dezentralisierung sollte Deutschland soweit verändert werden, dass es »niemals mehr seine Nachbarn oder die Erhaltung des Friedens in der ganzen Welt bedrohen kann«. Zudem sollte das deutsche Volk mittelfristig die Möglichkeit erhalten, »sein Leben auf einer demokratischen und friedlichen Grundlage von Neuem wiederaufzubauen.«1 Speziell die USA entwickelten auf dieser Grundlage für ihre Besatzungszone weit reichende Reforminitiativen, um nicht nur traditionelle Institutionen, sondern darüber hinaus auch politische Ideen und Grundüberzeugungen der deutschen Bevölkerung zu verändern. Blicken wir hingegen auf die Bundesrepublik der 1950er Jahre und messen die institutionellen Rahmenbedingungen und die politischen Grundüberzeugungen der Menschen an den alliierten Reformimpulsen der Besatzungszeit, so müssen wir konstatieren, dass diese in ihrer Mehrzahl gescheitert sind. Die 1950er Jahre waren ein Jahrzehnt nicht der 1 | Potsdamer Protokoll, 02.08.1945, in: Dietrich Rauschning (Hg.), Rechtsstellung Deutschlands. Völkerrechtliche Verträge und andere rechtsgestaltende Akte, 2. Aufl., München 1989, S. 21-34, Zitate S. 24.
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Ausrichtung auf neue Ideen von außen, sondern der konservativen Rückbesinnung auf die eigenen nationalen Traditionen. Es waren schließlich die 1950er Jahre, in denen frühere Nationalsozialisten wieder an ihre angestammten Positionen zurückkehrten und das politische Geschehen bestimmt wurde von der autoritären Fixierung auf die »großen alten Männer«, die noch im Kaiserreich geboren waren und schon die Weimarer Zeit geprägt hatten. An dieser Stelle wollen wir die alliierten Reforminitiativen der Besatzungszeit und die Gründe für das Zurückdrängen dieser Ideen seit Beginn der 1950er Jahre genauer in den Blick nehmen. Dabei sollen entsprechend dem Thema dieses Bandes die Reformideen speziell der USamerikanischen Besatzungsmacht zur Verwaltungspolitik und zu einer Neuordnung des öffentlichen Dienstes im Mittelpunkt stehen. Es gilt im Einzelnen herauszuarbeiten, welche Ideen die Alliierten hierbei vertraten und warum sich diese nicht durchsetzen konnten, als die Deutschen ihr Schicksal wieder selbst in die Hand nehmen durften. In einem weiteren Schritt soll überprüft werden, inwieweit die hierbei gewonnenen Erkenntnisse mit dem allgemeinen politischen Klima der 1950er Jahre im Zusammenhang stehen und welche Entwicklungen sich in den 1960er Jahren anschlossen.
I. R eformansät ze der USA Die ersten Vereinbarungen der Kriegsalliierten nach dem Zweiten Weltkrieg sollten, wie wir gesehen haben, vor allem Sicherheit vor dem Kriegsgegner und eine konsequente Bestrafung der Nationalsozialisten gewährleisten. Deutsche sollten erst allmählich, nach einer gewissen Interimszeit wieder in die Regierung ihres Landes miteinbezogen werden. Doch je mehr sich der Ost-West-Konflikt verschärfte und sich folglich die Zusammenarbeit der alliierten Besatzungsmächte in Deutschland als schwierig erwies, desto weniger wurden die Deutschen als Feind und Kriegsgegner angesehen, sondern rückten in die für sie vorteilhafte Rolle des künftigen Partners, dessen Mitarbeit im jeweiligen Lager unbedingt benötigt wurde. In den westlichen Besatzungszonen führte diese Entwicklung dazu, dass sich zunächst Großbritannien und die USA für eine engere Kooperation in der Wirtschaftspolitik entscheiden, im Herbst 1946 ihre jeweiligen Zonen zum Vereinigten Wirtschaftsgebiet, der sogenannten Bizone,
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zusammenschlossen und Deutsche konsequent in die Verwaltung dieser zonenübergreifenden Institution miteinbezogen. Während die Verwaltungsorgane der Bizone zunächst dezentral angesiedelt waren, wurde im Juni 1947 der Wirtschaftsrat des Vereinigten Wirtschaftsgebietes als neue zentrale Institution geschaffen.2 Die US-amerikanische Besatzungsmacht nutzte die Chance konsequent, um ihre Reformideen zum Auf bau und zur Personalstruktur der künftigen Verwaltung in die neue Institution einzubringen.3 Sie machte das traditionelle deutsche Beamtensystem mitverantwortlich für die NSHerrschaft und betrachtete dieses folglich als entscheidenden Hemmschuh für den angestrebten demokratischen Neuanfang. Somit war für die Verwaltung des Vereinigten Wirtschaftsgebiets vorgesehen, das Berufsbeamtentum von Grund auf zu reformieren und seine Privilegien gegenüber den Angestellten zu beseitigen. Einstellungen und Beförderungen sollten allein aufgrund des Leistungsprinzips, nicht primär aufgrund der juristischen Ausbildung oder der Dienstjahre erfolgen. Zudem sollte ein einheitliches Pensionssystem geschaffen, der Kündigungsschutz aufgehoben und es Angehörigen des öffentlichen Dienstes untersagt werden, sich politisch zu betätigen. Ein Personalamt bekam als neue selbständige Behörde die Aufgabe, Grundsätze für die Beschäftigung von Personen in den Verwaltungsdienst zu erarbeiten, das bestehende Einstufungssystem zu überarbeiten sowie künftig über konkrete Einstellungen 2 | Zur Entwicklung allgemein vgl. z.B. Rudolf Morsey, Die Bundesrepublik Deutschland. Entstehung und Entwicklung bis 1969, 3. Aufl., München 1995, S. 1-14; Manfred Görtemaker, Die Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart, München 1999, S. 15-44, 119-159. 3 | Vgl. allgemein Wolfgang Benz, Versuche zur Reform des öffentlichen Dienstes in Deutschland 1945-1952, in: VfZ 29 (1981), S. 216-245, hier S. 225-235; Rudolf Morsey: Personal- und Beamtenpolitik von der Bizonen- zur Bundesverwaltung (1947-1950), in: ders. (Hg.), Verwaltungsgeschichte. Aufgaben, Zielsetzungen, Beispiele. Vorträge und Diskussionsbeiträge der verwaltungsgeschichtlichen Arbeitstagung 1976 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Berlin 1977, S. 191-238, hier S. 192-206; Udo Wengst, Beamtentum zwischen Reform und Tradition. Beamtengesetzgebung in der Gründungsphase der Bundesrepublik Deutschland 1948-1953, Düsseldorf 1988, S. 21-34; ders., Staatsaufbau und Regierungspraxis 1948-1953. Zur Geschichte der Verfassungsorgane der Bundesrepublik Deutschland, Düsseldorf 1984, S. 26-32.
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in den Verwaltungsdienst des Vereinigten Wirtschaftsgebiets, unabhängig vom jeweiligen Fachressort, zu entscheiden und dabei die Rückkehr von NS-belastetem Personal zu verhindern. Diese Ziele waren Teil eines umfassenden Reorientation-Programms der USA, das Denkweisen und Institutionen der Deutschen von obrigkeitlichen Traditionen wegführen und in Richtung eines westlich-pluralistischen Demokratieverständnisses verändern sollte. Diese Politik bezog sich auf so unterschiedliche Institutionen wie Medien, Schulen, Universitäten, Gewerkschaften und Kultureinrichtungen. Überall wollte die USBesatzungsmacht autoritäre Strukturen beseitigen und stattdessen ein offenes und diskussionsfreudiges Klima schaffen sowie die Vermittlung von Inhalten fördern, bei der die Demokratie nicht als eine rein formale Institution, sondern als »Lebensform« verstanden wurde.4 Bei der Formulierung dieser Ziele spielten Emigranten – darunter Arnold Brecht, Hans Simons und Ernst Fraenkel –, die vor den Nationalsozialisten in die USA geflohen und für die US-Army als Deutschland-Experten tätig waren, eine entscheidende Rolle, da sie die deutschen Verhältnisse genau kannten und – nachdem sie selbst Opfer der NS-Herrschaft geworden waren – genauso wie ihr Arbeitgeber die deutsche Bevölkerung von ihren scheinbar verhängnisvollen Traditionen wegführen wollten.5 Ihr Einfluss ging so weit, dass in das Reformprogramm sogar Ideen Eingang fanden, die mit einem amerikanischen Grundverständnis an sich unvereinbar sind. So lässt sich beispielsweise das Verbot parteipolitischer Betätigung von Beamten mit dem grundsätzlich politischen Selbstverständnis des Fe4 | Vgl. allgemein Hermann-Josef Rupieper, Die Wurzeln der westdeutschen Nachkriegsdemokratie. Der amerikanischen Beitrag 1945-1952, Opladen 1993; Felicitas Hentschke, Demokratisierung als Ziel amerikanischer Besatzungspolitik in Deutschland und Japan, 1943-1947, Hamburg 2001; Henry Kellermann, Von Re-education zu Re-orientation. Das amerikanische Re-educationprogramm im Nachkriegsdeutschland, in: Manfred Heinemann (Hg.), Umerziehung und Wiederaufbau. Bildungspolitik der Besatzungsmächte in Deutschland und Österreich, Stuttgart 1981, S. 86-102; Anselm Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999, S. 44-70. 5 | Vgl. die Beiträge von Alfons Söllner, Corinna Unger und Philipp Heß in diesem Band; zudem Udi Greenberg, The Weimar Century. German Émigrés and the Ideological Foundations of the Cold War, Princeton/Oxford 2014.
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deral Civil Service nicht vereinbaren und beruhte viel eher auf negativen Weimarer Erfahrungen mit einer übermäßig politisierten Staatsdienerschaft. Auch wenn die alliierten Reforminitiativen zunächst bei den Deutschen im Allgemeinen auf eine breite Aufnahmebereitschaft stießen – schließlich war das Entsetzen über Kriegsniederlage, Zerstörung und Verbrechen weitverbreitet, waren frühere Nationalsozialisten aufgrund der konsequenten alliierten Entnazifierungspolitik ausgeschaltet und legten die Machtverhältnisse ein wohlwollendes Verhalten gegenüber den Alliierten nahe6 –, wurden speziell die US-amerikanischen Vorstellungen zu einer Reform des öffentlichen Dienstes im Wirtschaftsrat der Bizone von Anfang an eher mit Argwohn betrachtet. Zu groß war in unionsnahen und bürgerlich-liberalen Kreisen die Verwurzelung in eigenen Traditionen, als dass man auf den herausgehobenen, privilegierten Status des Berufsbeamtentums verzichten wollte. Als somit der Wirtschaftsrat von den Alliierten aufgefordert wurde, ein eigenes Personalgesetz zu verabschieden, spielte er auf Zeit, so dass sich die amerikanische und britische Besatzungsmacht gezwungen sahen, selbst das Militärregierungsgesetz Nr. 15 im Februar 1949 in Kraft zu setzen, das ihre Reformvorstellungen auf Dauer fixieren sollte. Da sich der Kalte Kriege allmählich zuspitzte und die Blockbildung in Ost und West voranbrachte, sah sich wenig später Frankreich gezwungen, die eigene Zone dem Vereinigten Wirtschaftsgebiet anzuschließen, so dass die Bizone zur sogenannten Trizone erweitert wurde. Als Beispiel für das Zusammenspiel von Deutschen, die zunehmend selbstbewusst auftraten, und Westalliierten, die noch die entscheidenden Fäden in den Händen hielten, ist die Verfassungsgebung des Grundgesetzes zwischen Herbst 1948 und Frühling 1949 zu nennen. Es entstand im Parlamentarischen Rat geradezu eine »Mischverfassung«. Diese enthält einerseits Elemente, die besonders dem US-amerikanischen Verfassungsdenken auf mustergültige Weise entsprechen, wie die Aufnah6 | Zur intellektuellen Atmosphäre zwischen 1945 und 1949 vgl. Sean A. Forner, German Intellectuals and the Challenge of Democratic Renewal. Culture and Politics after 1945, Cambridge 2014, S. 1-237; Friedrich Kießling, Die undeutschen Deutschen. Eine ideengeschichtliche Archäologie der alten Bundesrepublik, Paderborn 2012, S. 31-224; Görtemaker, Bundesrepublik Deutschland (Fn. 2), S. 199-249.
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me eines klassisch-liberalen Grundrechtskatalogs, die Verankerung des Föderalismus, die Festschreibung einer parlamentarischen Regierung, die von der Mehrheit im Parlament abhängig ist, die herausgehobene Stellung von politischen Parteien in Art. 21 GG und die Schaffung einer Verfassungsgerichtsbarkeit mit umfassenden Kompetenzen. Andererseits sind im Grundgesetz Bestimmungen enthalten, die allein aus der deutschen politischen Tradition herzuleiten sind, wie die Festschreibung des Sozialstaatsprinzips in Art. 20 Abs. 1 und Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG oder die Schaffung eines Bundesrats, in den entgegen dem US-Senatsprinzip keine direkt gewählten Vertreter der Bundesländer, sondern Mitglieder der Landesregierungen entsandt werden. Als entscheidende Weichenstellung für den öffentlichen Dienst legte der Parlamentarische Rat in Art. 33 Abs. 5 GG die Fortgeltung »der hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums« fest und wich damit bewusst von den amerikanischen Reforminitiativen ab. In diese Richtung wies auch § 5 Abs. 2 des vom Parlamentarischen Rat verabschiedeten Wahlgesetzes zum ersten Bundestag und zur ersten Bundesversammlung, der nicht, wie von den Westalliierten gewünscht, den Verlust des Beamtenstatus bei der Wahl von Bundesbeamten in den Bundestag, sondern nur deren Versetzung in den Wartestand unter Aufrechterhaltung des Anspruchs auf Wiedereinstellung vorschrieb. An allen diesen Bestimmungen wird deutlich, dass der Parlamentarische Rat in einer Zeit tätig wurde, in der die Interessengegensätze zwischen deutscher und westalliierter Seite zwar immer klarere Konturen gewannen, die Einsicht in die Notwendigkeit eines Zusammenwirkens bei der Entstehung des westdeutschen Staates aber noch so ausgeprägt war, dass Kompromisse gefunden werden konnten. Bei einer Gesamtbewertung der Bestimmungen des Grundgesetzes halten sich also westliche Einflüsse und Elemente, die aus der der deutschen Tradition hergleitet wurden, in etwa die Waage.7 7 | Vgl. Michael F. Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948-1949. Die Entstehung des Grundgesetzes, Göttingen 1998; Karlheinz Niclauß, Der Weg zum Grundgesetz. Demokratiegründung in Westdeutschland 1945-1949, Paderborn 1998; Edmund Spevack, Allied Control and German Freedom. American Political and Ideological Influences on the Framing of the West German Basic Law (Grundgesetz), Münster 2001; Görtemaker, Bundesrepublik Deutschland (Fn. 2), S. 44-83; Frieder Günther, Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949-1970, München 2004, S. 77-81.
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II. D ie 1950 er J ahre als ein J ahrzehnt der R ückbesinnung Als nach der Gründung der Bundesrepublik die Besatzungsherrschaft immer weiter zurückgenommen wurde, trat das Bedürfnis nach einem vollständigen Zurückdrängen der Einflüsse von außen und einer Rückbesinnung auf die eigenen nationalen Traditionen bei der deutschen Bevölkerung immer stärker in Erscheinung. Anstelle des konfliktträchtigen Konzepts einer »Demokratie als Lebensform«, wie es dem ReeducationProgramm der USA entsprochen hatte, suchte man lieber Zuflucht in einem sozialharmonischen Ideal, bei dem divergierende Interessen und soziale Klassengegensätze in den Hintergrund gerückt wurden. Für dieses Bedürfnis nach Harmonie und Normalität steht in erster Linie die Kanzlerdemokratie in der Ära Adenauer mit ihrer autoritären und patriarchalischen Fixierung auf eine die »Niederungen der Parteipolitik überragende« Kanzlerpersönlichkeit.8 Die Menschen reagierten auf diese Weise auf den rasanten Wandel von Wirtschaft, Gesellschaft und Technik während der 1950er Jahre, den viele von ihnen als verunsichernd oder beängstigend wahrnahmen. Sie beriefen sich stattdessen auf scheinbar bewährte Institutionen wie Nation, Staat, Kirche und Kultur, auf Begriffe wie Autorität, Stabilität, Anstand und Sittlichkeit, die Schutz vor den als bedrohlich wahrgenommenen Lebensbedingungen der Wiederauf baugesellschaft bieten sollten. Technikskepsis, Kritik an der »Vermassung« und Entfremdungsängste waren zeittypische Grundhaltungen. In konservativen Kreisen wurde zudem das Abendland beschworen, das unter Bezugnahme auf eine christlich geprägte, bürgerliche »Hochkultur« die Menschen vor dem oberflächlichen »Konsumismus« und »Materialismus« der Amerikaner und vor dem »Kollektivismus« und »Totalitarismus« der Sowjetunion bewahren sollte.9 Durch den Wahlkampfslogan der CDU von 1957, »Keine Experimente! Konrad Adenauer«, wurde das 8 | Vgl. vor allem Anselm Doering-Manteuffel, Strukturmerkmale der Kanzlerdemokratie, in: Der Staat 30 (1991), S. 1-18. 9 | Vgl. hierzu Axel Schildt, Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der fünfziger Jahre, München 1999; zudem Ulrich Herbert, Liberalisierung als Lernprozeß. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte – eine Skizze, in: ders. (Hg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945-1980, Göttingen 2002, S. 7-49.
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hier zum Ausdruck kommende rückwärtsgewandte Bedürfnis nach Sicherheit und Stabilität in politischer und ideeller Hinsicht noch einmal auf sinnfällige Weise zum Ausdruck gebracht. Im Hinblick auf die Bundesverwaltung machten vor allem zwei Gesetze die westalliierten Reformanstrengungen zunichte. Dies geschah zum einen durch das Ausführungsgesetz zu Art. 131 GG. Das sogenannte »131er Gesetz« sollte die Versorgung von Personen regeln, die 1945 aufgrund des Kriegsendes gegen ihren Willen aus dem öffentlichen Dienst ausgeschieden waren. Damit waren an erster Stelle Flüchtlinge und Vertriebene aus der SBZ bzw. DDR und den Ostgebieten gemeint. Zugleich fand das Gesetz aber auch Anwendung auf ehemalige Nationalsozialisten, die aufgrund von Entnazifizierungsverfahren aus dem öffentlichen Dienst entlassen worden waren. Da die große Mehrzahl von ihnen, soweit sie nicht freiwillig der Waffen-SS, der Gestapo oder dem Forschungsamt der Luftwaffe angehört hatten, durch das Gesetz einen Anspruch auf Wiedereinstellung erhielten, konnten sie sich in der folgenden Zeit freie Beamtenstellen sichern, die ihrer früheren Stellung im öffentlichen Dienst entsprachen.10 Zum anderen restituierte das Bundesbeamtengesetz von 1953 das traditionelle Berufsbeamtentum und setzte damit den Weg fort, der bereits in Art. 33 Abs. 5 GG vom Parlamentarischen Rat beschritten worden war. Schon zuvor hatte die Alliierte Hohe Kommission nach einigem Hin und Her ihren Widerstand gegen eine Rücknahme ihrer Reformvorstellungen aufgegeben und das Militärregierungsgesetz Nr. 15 aufgehoben. Durch das Bundesbeamtengesetz erhielten Beamte gegenüber Angestellten und Arbeitern ihren sozialen Sonderstatus zurück. Auch ein Personalamt, das als unabhängige Institution über Einstellung in den Verwaltungsdienst zu entscheiden hatte, war nun nicht länger vorgesehen. Außerdem wurden formale Bildungsqualifikationen als entscheidende Kriterien für Be10 | Vgl. Curt Garner, Der öffentliche Dienst in den 50er Jahren: Politische Weichenstellungen und ihre sozialgeschichtlichen Folgen, in: Axel Schildt/Arnold Sywottek (Hg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1998, S. 759-790, hier 769-778; Wengst, Beamtentum (Fn. 3), S. 253-301; Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996, S. 69-100; Manfred Görtemaker/ Christoph Safferling, Die Akte Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit, München 2016, S. 154-166.
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schäftigung und Aufstieg im öffentlichen Dienst erneut festgeschrieben, so dass sich das Juristenmonopol in der Verwaltung bald wieder durchsetzte. Ein Rechtsstellungsgesetz legte wenig später fest, was sich bereits im erwähnten Wahlgesetz von 1949 angedeutet hatte, dass zwar zwischen Amt und Mandat eine Inkompatibilität bestand, Beamte aber mit der Annahme der Wahl in den Bundestag in den bezahlten Ruhestand traten und nach Ablauf des Mandats einen Anspruch auf Wiedereinstellung hatten.11 Beide Gesetze vollzogen also das, was die Alliierten unbedingt verhindern wollten, da sie mit dem Ziel angetreten waren, die Beamten für ihr Verhalten im Nationalsozialismus als kooperierende Funktionselite zu bestrafen und künftig als Staatselite auszuschalten. Die deutsche Politik entschied sich stattdessen für ihre vollständige Integration und für die Wiederherstellung ihres herausgehobenen sozialen Status. Damit entsprach die Politik dem oben beschriebenen Trend der 1950er Jahre, in Bahnen zurückzukehren, die sich scheinbar in der Vergangenheit bewährt hatten. Zentraler Orientierungspunkt war hierbei nicht die jüngste Vergangenheit, sondern in erster Linie das wilhelminische Kaiserreich, als sich Deutschland zu einer führenden Industrienation und einer Großmacht in der internationalen Politik entwickelt hatte. In dieser Zeit hatte sich das Reichsbeamtentum herausgebildet, dessen Expertise es aus Sicht der Nachkriegszeit zu verdanken war, dass das Deutsche Reich die Herausforderungen der Industriegesellschaft gemeistert hatte und nicht zwischen den konkurrierenden Interessen der neuen Massendemokratie zerrieben worden war. Es hatte sich im Kaiserreich scheinbar bewährt, dass die Reichsbeamten in Abgrenzung vom engeren politischen System mit Parteien und Verbänden im Sinne von »echten Staatsdienern« ein übergeordnetes und idealisiertes, auf Nation und Reich bezogenes Gemeinwohlverständnis vertreten hatten, auf dessen Grundlage sie im Sinne des wilhelminischen Obrigkeitsstaates für »Sicherheit und Ordnung« sorgten. Nur durch die Arbeit »der Reichsbeamten als staatstragender Stand« (Ernst Rudolf Huber) konnte sich das Reich aus dieser Sicht zu einer führenden europäischen Großmacht entwickeln.12 11 | Vgl. Wengst, Beamtentum (Fn. 3), S. 152-252; Garner, Der öffentliche Dienst (Fn. 10), S. 760-764. 12 | Vgl. z.B. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: Von der »Deutschen Doppelrevolution« bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs 1849-
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Dass in den 1950er Jahren solche Sichtweisen reaktiviert wurden, ist damit zu erklären, dass die Politiker, die solche Entscheidungen maßgeblich bestimmten, selbst noch das wilhelminische Kaiserreich erlebt hatten und in dieser Zeit politisch sozialisiert worden waren. Die 1950er Jahre wurden vielfach von »alten Männern« dominiert, die, wie der Bundeskanzler Konrad Adenauer (1876-1967), der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher (1895-1952) oder der Bundespräsident Theodor Heuss (1884-1963), den Brückenschlag zur Vergangenheit auf überzeugende Weise zu verkörpern schienen – populäre Politikerbezeichnungen wie »der Alte aus Rhöndorf« oder »Papa Heuss« bringen dies auf sinnfällige Weise zum Ausdruck. Sie hatten die Politik der Weimarer Republik schon mitbestimmt und waren 1933 alt genug, um – wenn sie als »Systempolitiker« nicht verfolgt wurden – gegenüber dem Nationalsozialismus als mehrheitlich junger Bewegung zumindest eine gewisse Distanz zu wahren. Dasselbe trifft beispielsweise auch auf die beiden Staatsekretäre im Bundesinnenministerium, Hans Ritter von Lex (1893-1970) und Georg Anders (1895-1972), zu, die beide auf das Gesetzgebungsverfahren zum »131er Gesetz« und zum Bundesbeamtengesetz einen maßgeblichen Einfluss ausübten. Aus dem Rückblick der Nachkriegszeit erschien vielen Politikern und Ministerialbeamten dieser älteren Generation das wilhelminische Kaiserreich als eine »goldene Zeit«, die sich positiv abhob vom anschließenden politischen Chaos und dem eingeschlagenen Weg in die »deutsche Katastrophe« (Friedrich Meinecke). Als es galt, der jungen Bundesrepublik einen Weg in die Zukunft zu weisen, griffen sie folglich in erster Linie auf ihre positiven Erfahrungen und Ideen zurück, die sie als Jugendliche und junge Erwachsene gesammelt hatten.13 Solche politische Orientierung verband sich indes mit handfesten politischen Interessen, denn es galt in den 1950er Jahren einen Staat zu schaffen, dem eine effektiv agierende Staatsdienerschaft auf loyale Weise zuarbeitete. Diese Loyalität war nicht selbstverständlich, da konservativ1914, München 1995, S. 857-864, 1020-1034; Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 3: Bismarck und das Reich, Stuttgart 1963, insb. S. 965-969. 13 | Vgl. Frank R. Pfetsch, Die Gründergeneration der Bundesrepublik. Sozialprofil und politische Orientierung, in: PVS 27 (1986), S. 237-251; Christina von Hodenberg, Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit 1945-1973, Göttingen 2006, insb. S. 36-41.
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bürgerliche Kreise, aus denen sich die alte, aus der Zeit des Nationalsozialismus stammende Beamtenschaft mehrheitlich rekrutierte, die Gründung der Bundesrepublik und die Verfassungsgebung anfangs häufig mit Skepsis und Ablehnung betrachteten. Aufgrund ihres ausgeprägten Nationalismus konnten sie sich mit der deutschen Teilung nur schwer abfinden. Außerdem favorisierten sie autoritärere Lösungen, als sie im Grundgesetz realisiert worden waren.14 Indem Adenauer und die Regierungskoalition die Rückkehr der Beamten auf ihre alten Stellen und ihre sozialen Wiederaufstieg zuließen, erreichten sie drei politische Ziele: Erstens kamen sie den starken Interessengruppen der Beamtenschaft entgegen und sicherten sich deren grundsätzliche Kooperationsbereitschaft. Zweitens brachten sie die Beamten als Wählergruppe auf ihre Seite, die nun in ihrer großen Mehrheit nicht mehr rechtsradikale Parteien, sondern die Regierungskoalition unterstützten. Und drittens machten sie die Bundesbeamten zu treuen Staatsdienern, die dem Regierungskurs bei ihrer Arbeit loyal folgten, da sie wussten, wem sie ihren sozialen Wiederaufstieg zu verdanken hatten. Einen größeren Personalwechsel, wie es in der Bizonenverwaltung von Großbritannien und den USA versucht worden war, erschien Adenauer als ein zu großes Wagnis, da er die politischen Herausforderungen im Kontext des Kalten Krieges als so groß ansah, dass er auf eine erfahrene Verwaltung, die in jeder Situation effektiv zu entscheiden wusste, hätte verzichten wollen. Es ging ihm bei der Reintegration früherer Nationalsozialisten in den öffentlichen Dienst also nicht primär um Fragen der Moral, sondern darum, in möglichst kurzer Zeit Leistungsfähigkeit zu erreichen.15
14 | Vgl. hierzu Hans Mommsen, Der lange Schatten der untergehenden Republik. Zur Kontinuität politischer Denkhaltungen von der späten Weimarer zur frühen Bundesrepublik, in: Karl Dietrich Bracher/Manfred Funke/Hans-Adolf Jacobsen (Hg.), Die Weimarer Republik 1918-1933. Politik – Wirtschaft – Gesellschaft, 3. Aufl., Bonn 1998, S. 552-586. 15 | So auch die Argumentation von Magnus Brechtken, Mehr als Historikergeplänkel. Die Debatte um »Das Amt und die Vergangenheit«, in: VfZ 63 (2015), S. 59-91, hier S. 65f; zudem Görtemaker/Safferling, Die Akte Rosenburg (Fn. 10), S. 163f.
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III. A usblick Das bislang gezeichnete Bild von den 1950er Jahren als einer Zeit der konservativen und harmonieorientierten Rückbesinnung muss allerdings ergänzt werden. Jenseits der Mehrheitsgesellschaft existierten Kreise, die sich den äußeren Zwängen nicht unterordnen wollten. Eine Gruppe von Jugendlichen, die sich den Ansprüchen der Wirtschaftswundergesellschaft offen widersetzte, waren beispielsweise die sogenannten Halbstarken, die durch ihre unangepasste Kleidung, ihr provokatives Verhalten und durch regelrechte Krawalle ihre Ablehnung der gesellschaftlichen Ideale unmissverständlich zum Ausdruck brachten. Auf politischer Ebene führte der Plan der Bundesregierung einer westdeutschen Wiederbewaffnung zu Beginn der 1950er Jahre zu einer ungemeinen politischen Mobilisierung größerer Bevölkerungsteile und zu Massendemonstrationen. Ähnliches wiederholte sich 1957 und 1958 bei der »Kampf dem Atomtod«-Kampagne, die die Ausrüstung der Bundeswehr mit Atomraketen verhindern wollte.16 Zudem vollzogen sich in den 1950er Jahren wichtige Wandlungsprozesse, die die weitere Entwicklung der Bundesrepublik maßgeblich beeinflussen sollten. Beispielsweise wandelte sich die SPD während der 1950er Jahre von einer klassenkämpferischen Arbeiterpartei zu einer reformorientierten Volkspartei und passte sich zugleich der von der Bundesregierung betriebenen Politik der Westintegration an, was im Godesberger Parteiprogramm von 1959 endgültig verankert wurde.17 Zugleich entstand in den 1950er Jahren die Politikwissenschaft als neues Universitätsfach. Sie verstand sich in diesen Jahren in erster Linien als Demokratiewissenschaft und wollte dazu beitragen, die westlich-pluralistische Demokratie als Staatsform im Denken der Bevölkerung zu verankern.18 Und nicht zuletzt erwiesen sich die Bundesrepublik und ihre Verfassungsordnung 16 | Vgl. z.B. Anselm Doering-Manteuffel, Die Bundesrepublik Deutschland in der Ära Adenauer. Außenpolitik und innere Entwicklung 1949-1963, 2. Aufl., Darmstadt 1988, S. 73-77; Görtemaker, Bundesrepublik Deutschland (Fn. 2), S. 186-193. 17 | Vgl. Julia Angster, Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie. Die Westernisierung von SPD und DGB, München 2003. 18 | Vgl. Wilhelm Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland, München 2001, S. 265-307.
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als überlebensfähiger, als dies besonders bürgerlich-konservative Kreise nach den Erfahrungen mit dem Untergang der Weimarer Republik für möglich gehalten hätten, so dass sich allmählich ein breiter Konsens herausbildete, der die parlamentarisch-rechtsstaatliche Verfassungsordnung, die soziale Marktwirtschaft und die Grundpfeiler der Adenauerschen Außenpolitik stützte. Unter der Oberfläche der 1950er Jahre deuteten sich also Entwicklungen an, die dann vor allem in den 1960er Jahren zum Tragen kamen,19 als etwa die SPD auf Bundesebene erstmals in einer Großen Koalition Regierungsverantwortung übernahm und die Politikwissenschaft an den Universitäten eine immer wichtigere Rolle spielte. Als Symbol des Durchbruchs eines pluralistischen Demokratieverständnisses und der Zurückdrängung obrigkeitlicher Traditionen kann die »Spiegel-Affäre« im Jahr 1962 gedeutet werden, als eine bundesweite Protestwelle sich gegen das rechtswidrige Verhalten der Bundesregierung gegenüber dem Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« zur Wehr setzte.20 Selbst auf dem Gebiet der Verwaltungspolitik kam allmählich ein Reformdenken zum Durchbruch, das eine Modernisierung und Rationalisierung des Verwaltungshandelns erreichen wollte.21 Die von den USA während der Besatzungszeit in Umlauf gebrachten Reformideen mussten also gleichsam die 1950er Jahre überwintern, bevor sie unter veränderten politischen Rahmenbedingungen von zumeist jüngeren Trägergruppen wieder aufgegriffen wurden. Die 1950er Jahre erscheinen vor diesem Hintergrund als eine Übergangszeit, unter deren Oberfläche sich bei genauerem Hinsehen manches andeutet, was dann in den 1960er Jahren zum Durchbruch kam.
19 | Zu den 1960er Jahren allgemein vgl. z.B. Axel Schildt/Detlef Siegfried/Karl Christian Lammers (Hg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000. 20 | Vgl. z.B. Hans-Peter Schwarz, Adenauer. Der Staatsmann: 1952-1967, Stuttgart 1991, S. 769-810; Görtemaker, Bundesrepublik Deutschland (Fn. 2), S. 381-386. 21 | Vgl. Gabriele Metzler, Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt. Politische Planung in der pluralistischen Gesellschaft, Paderborn 2005, S. 335-346; zudem den Beitrag von Margrit Seckelmann in diesem Band.
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III. Theorie und Praxis: Remigranten und sojourners
Ernst Fraenkel und die Verwestlichung der politischen Kultur in der Bundesrepublik Deutschland Alfons Söllner*
I. D ie B edeutung der R emigr anten für die G ründung der P olitik wissenschaf t Würde man den Reigen der akademischen Fächer auf einer Skala anordnen, die den Einfluss der Remigranten auf die Nachkriegsentwicklung zu messen versucht, dann würde die Politikwissenschaft zweifelsfrei am positiven Extrempunkt zu stehen kommen. Die Politikwissenschaft kann zwar in Deutschland auf eine lange und beeindruckende Tradition zurückblicken, doch ist sie in ihrer heutigen Gestalt eine sehr junge Disziplin.1 Sie hat es, nach zaghaften Anfängen in der Weimarer Republik und deren Unterbrechung im Nationalsozialismus, überhaupt erst in der Bundesrepublik zu der komfortablen Position eines Universitätsfachs gebracht. Und es waren engagierte Emigranten und besonders akademische Remigranten, die diesen Akt der Existenzgründung in den 1950er Jahren in die Wege geleitet oder maßgeblich gefördert haben; ja einige von ihnen haben bis tief in die 1960er Jahre hinein – als Gründungsprofessoren, als Institutsleiter oder als eckige Fachautoritäten – die inhaltliche und * Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine geringfügig umgearbeitete Version meines gleichnamigen Aufsatzes in: Alfons Söllner, Fluchtpunkte. Studien zur politischen Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Baden-Baden 2006, S. 181200. Ich danke dem Nomos-Verlag für die Genehmigung des Wiederabdrucks. 1 | Eine umfassende und ausgewogene Darstellung bietet Wilhelm Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland, München 2001.
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methodische Ausgestaltung des Faches selber energisch in die Hand genommen.2 Entscheidend für das Tempo und die Ausrichtung des Gründungsprozesses war – zumal man in einer politisch und wirtschaftlich instabilen, doch zugleich dynamischen Übergangsphase operierte – die glaubwürdige Präsentation des Autonomieanspruches des neuen Faches. Gerade in diesem Punkt nahmen die Emigranten und Remigranten, selbst wenn man ihre quantitative Präsenz in der Bundesrepublik für gering erachten möchte, den qualitativ ausschlaggebenden Einfluss: Sie waren maßgeblich dafür verantwortlich, dass die Politikwissenschaft – gegen erhebliche Widerstände, die sich vor allem in der Jurisprudenz und der Geschichtswissenschaft regten – an den Universitäten verankert wurde; und sie konnten die akademische Institutionalisierung durchsetzen – nicht so sehr weil sie kulturpolitische Agenten der Re-education und »Protektionsgeschöpfe« der Militärregierung3 waren, sondern weil sie sich in den 1930er und 1940er Jahren, vor allem in der US-amerikanischen Emigration als professionelle Lehrer und Forscher der political science bereits qualifiziert hatten.4 Gleichwohl ist nicht zu verkennen, dass ihre fachliche Autorität außen- wie innenpolitisch konditioniert war: Die Einrichtung der Politikwissenschaft gehört in das praktische Kraftfeld eines demokratischen Wiederauf baus, der von den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs misstrauisch beobachtet, von den USA auch politisch gefördert und finanziell subventioniert wurde.5 Die spezielle Entwicklung der Berliner Politikwissenschaft, auf die ich mich im Folgenden konzentrieren werde, ist ein guter Beweis für die2 | Vgl. dazu meinen Aufsatz: Die Gründung der westdeutschen Politikwissenschaft – ein Reimport aus der Emigration?, in: Claus-Dieter Krohn/Patrick von zur Mühlen (Hg.), Rückkehr und Aufbau nach 1945. Deutsche Remigranten im öffentlichen Leben Nachkriegsdeutschlands, Marburg 1997, S. 253-274. 3 | So Hans Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1982, S. 354. 4 | Zum größeren historischen Zusammenhang vgl. mein Buch: Deutsche Politikwissenschaftler in der Emigration. Studien zu ihrer Akkulturation und Wirkungsgeschichte, Opladen 1996. 5 | Zum zeitgeschichtlichen Kontext vgl. Hermann-Josef Rupieper, Die Wurzeln der westdeutschen Nachkriegsdemokratie. Der amerikanische Beitrag 19451952, Opladen 1993.
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se These: Mit einiger Pointierung, doch ohne grobe Vereinfachung kann man behaupten, dass von der Wiedereröffnung der »Deutschen Hochschule für Politik« in der Zeit der Berliner Blockade über die zusätzliche Gründung des forschungsorientierten »Instituts für politische Wissenschaft« im Jahr 1950 bis zur Eingliederung beider Institute in die Freie Universität gegen Ende der 50er Jahre nicht nur ein quantitatives und institutionelles Wachstums zu beobachten ist; vielmehr wurde Schritt für Schritt ein Prozess in Gang gesetzt, der folgerichtig auf die innere wissenschaftliche Ausdifferenzierung und die äußere Stabilisierung der »Wissenschaft von der Politik« hinauslief.6 Dieser Erfolg, der bald auch gegenüber den eher zögerlichen Verhältnissen an den westdeutschen Universitäten als Zugpferd zu wirken begann, ging – unter der Ägide sozialdemokratischer Hochschulpolitiker – auf die Initiativen des Kreises um Otto Suhr zurück; aber ebenso wichtig waren die konzeptuellen und finanziellen Interventionen eines Franz L. Neumann und die theoriestrategische und pädagogische Präsenz von Ernst Fraenkel und Ossip K. Flechtheim. So ergab sich ein glückliches Zusammenwirken autochthoner Traditionen mit jenen neuen Wissenschaftsideen, die in der amerikanischen political science ihr mehr oder weniger klares Vorbild hatten und für die es keine besseren Paten geben konnte als eben die Remigranten. Bei allen Ungewissheiten, die unter den politisch instabilen Verhältnissen Berlins zu überwinden waren, erwies sich Ernst Fraenkel an der Freien Universität rasch als eine der Leitfiguren der jungen Politikwissenschaft, seit er im Jahr 1951 an der Deutschen Hochschule für Politik zu lehren begann. So verfehlt es wäre, ihm bereits in den 50er Jahren eine Führungsrolle für die konzeptuelle Ausrichtung der Berliner Politikwissenschaft zuzusprechen – sicher ist, dass die »Neopluralismustheorie«, wie Fraenkel sein zentrales Konzept titulierte, seit Anfang der 1960er
6 | Die Gründung der Berliner Politikwissenschaft wird kenntnisreich dargestellt von Gerhard Göhler, Die Wiederbegründung der Deutschen Hochschule für Politik. Traditionspflege oder wissenschaftlicher Neubeginn?, in: ders./Bodo Zeuner (Hg.), Kontinuitäten und Brüche in der deutschen Politikwissenschaft, BadenBaden 1991, S. 144ff. und Gerhard Göhler/Hubertus Buchstein, Von der »Deutschen Hochschule für Politik« zum »Otto-Suhr-Institut«, in: Leviathan 17 (1989), S. 127-139.
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Jahre zu einem Paradigma der Politikwissenschaft insgesamt avancierte.7 Auch wenn auf Fraenkel die Intention der Schulenbildung weniger erklärt zutrifft als man sie am gleichzeitigen Wirken Arnold Bergstraessers in Freiburg oder an dem Wolfgang Abendroths in Marburg beobachten kann8 – das Konzept des Parteien- und Gruppenpluralismus und die dazugehörende Version der repräsentativen Demokratie eigneten sich vortrefflich für die öffentliche Präsentation der neuen Wissenschaftsdisziplin und zugleich für die Popularisierung ihrer Ergebnisse. Sie fungierte schließlich in Westdeutschland als das positive Gegenstück zur »Totalitarismustheorie«, deren scharfe Abgrenzung gegenüber dem kommunistischen Ostblock die weltpolitische Konstellation des Kalten Krieges so passend widerspiegelte. Die politische Kultur der Adenauer-Ära wurde häufig durch die sozialen Kontinuitäten mit der Epoche des Nationalsozialismus und zugleich durch deren Tabuisierung charakterisiert9, also durch Verhältnisse, die die Bedeutung der Remigranten eher als gering erscheinen lassen. Die Anfänge der Politikwissenschaft sind geeignet, diesem Bild einige Differenzierungen hinzuzufügen, sofern man eine dreifache Verallgemeinerung riskieren will: Erstens entstand mit der Politikwissenschaft eine Wissenschaftsdisziplin, in der der Einfluss der Remigranten groß, wenn nicht prägend war; zweitens hatte die Berliner Initiative, zumal im Kontext der neugegründeten Freien Universität, eine Sogwirkung für die eher zögerliche Entfaltung des Fachs an den westdeutschen Universitäten, die sich von den antidemokratischen Traditionen meist nicht so schnell freimachen konnten; und drittens erscheint dadurch Ernst Fraenkel als eine Art von Symbol- oder Portalfigur, an der sich politische wie wissenschaftliche Tendenzen der Nachkriegszeit, vor allem ihr typisches Zusammenspiel exemplarisch studieren lassen.
7 | Die komplexe Situation in Berlin, die für eine Schulenbildung eher ungünstig war, wird herausgestellt von Hubertus Buchstein, Politikwissenschaft und Demokratie. Wissenschaftskonzeption und Demokratietheorie sozialdemokratischer Nachkriegspolitologen, Baden-Baden 1992. 8 | Vgl. dazu Wilhelm Bleek/Hans J. Lietzmann (Hg.), Schulen der deutschen Politikwissenschaft, Opladen 1999. 9 | In ausgefeilter Form z.B. von Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, 2. Aufl., München 1997.
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Freilich muss man sich davor hüten, diese akademische Nische der Nachkriegskultur zu überschätzen. Die Gründung der Politikwissenschaft zur reinen Erfolgsstory oder gar zum »happy end« der Wissenschaftsemigration zu stilisieren, käme einer groben Verfälschung gleich, zumal eine ausgesprochen prekäre Kehrseite unterschlagen würde, die für die Remigranten von existentieller Bedeutung war: ihre Wiedereingliederung in die Bundesrepublik blieb auch im Erfolgsfall ein Zustand fortgesetzter Ungleichzeitigkeit, ein Nachspiel menschlicher Einsamkeit und sozialer Unsicherheit, das sich vor allem bei den jüdischen Remigranten vermittels der unauslöschlichen Erinnerung an den Holocaust zum schmerzlichen Gefühl der Bedrohung steigern konnte. So sehr diese traumatische Seite – bei den prominenten Gründern der Politikwissenschaft nicht als anders als bei den Vertretern der »Frankfurter Schule« – in der Regel abgedunkelt blieb, ja in der Öffentlichkeit heroisch verborgen wurde, so deutlich tritt hier ein untergründiger Aspekt der Remigration hervor, der noch wenig ausgeleuchtet ist. Ich kann hier nur auf die Existenz dieses Zwiespaltes hinweisen und seine Dramatik etwas erläutern, indem ich private Äußerungen fortgesetzter Irritation konfrontiere mit den stupenden Erfolgsmeldungen und Loyalitätsbekundungen gegenüber der bundesrepublikanischen Politik und Gesellschaft. Im Falle Ernst Fraenkels muss man eine glanzvolle Karriere als deutscher Universitätsprofessor und die damit verbundene (wenngleich späte) soziale Anerkennung in Beziehung setzen zu Formulierungen, wie er sie z.B. noch im Jahre 1959 an den nach England emigrierten Arbeitsjuristen Otto Kahn-Freund schreibt, um einem in der Emigration verbliebenen Freund die Brüchigkeit seiner Zugehörigkeit zur westdeutschen Gesellschaft zu verdeutlichen: »Das Wort ›wir‹ kommt mir nicht über die Lippen«.10 Was auf der Oberfläche der erfolgreichen Rückkehr Fraenkels direkt widersprach, zeigt doch auch eine subkutane seelische Kontinuität gegenüber jenem Vorsatzes aus dem Jahre 1946, als Fraenkel der Familie Suhr nach Berlin schrieb, angesichts der Gaskammern von Auschwitz habe er »bewusst und im vollen Gefühl der Bedeutung des Schritts das Band zwischen Deutschland und mir zerschnitten und beschlossen, nie wieder nach Deutschland zurückzugehen. Es wäre mir völlig unmöglich, die Unbefangenheit aufzubringen, die nötig ist, 10 | Zitiert bei Hubertus Buchstein, Ernst Fraenkel als Klassiker?, in: Leviathan 26 (1998), S. 458-481, 461.
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um in jenem Land zu leben und wirken. In dem Verhältnis zwischen Deutschen und Juden fühle ich mich, zumal nachdem 5000000 Juden ermordet worden sind, mit den Juden – und nur mit ihnen – solidarisch. Ich glaube, dass es keinem Juden zugemutet werden kann, in Zukunft in Deutschland zu leben, und ich wehre mich mit aller Entschiedenheit dagegen, dass emigrierte Juden nach Deutschland zurückzugehen versuchen… Das mag sehr bitter klingen, ich fühle sehr bitter in dieser Frage. Ich glaube, dass diese Wunde nicht geheilt werden kann.«11 Wie nachhaltig sich dieses schroffe Bekenntnis in die Jahre der Remigration hinein fortsetzte, ist bislang nicht bekannt. Doch lassen sich Schlussfolgerungen aus der Art und Weise ziehen, wie Fraenkel mit dem für Emigranten notorischen Problem der Staatsangehörigkeit umging, nachdem er sich 1951 zur Rückkehr durchgerungen hatte. Fraenkel war, ebenso wie seine nicht-jüdische Frau, 1940 von den deutschen Behörden ausgebürgert worden und hatte bald darauf die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen. Nach seiner Rückkehr weigerte er sich dann beharrlich, die deutsche Staatsbürgerschaft wieder anzunehmen und d.h. vor allem: die amerikanische Staatsbürgerschaft aufzugeben, obschon diese Entscheidung mit erheblichen Unbequemlichkeiten für ihn und seine Frau verbunden war, ja dieser Status eine besondere juristische Konstruktion verlangte, die schließlich gar eine eigene »lex Fraenkel« im amerikanischen Kongress notwendig machte. Erst im Jahr 1971, nach seiner Emeritierung und offenbar aus rententechnischen Gründen, hat Fraenkel dann die deutsche Staatsbürgerschaft doch noch akzeptiert. Die frühen 1960er Jahre stehen für eine Zeit, in der Ernst Fraenkel die Ernte seines Nachkriegsengagement einzufahren begann: 1959 war die Berliner »Hochschule für Politik« in die Freie Universität integriert worden, und es war gerade die Doppelausstattung des »Otto-Suhr-Instituts« als interfakultative und dennoch autonome Einrichtung, in die Fraenkel die größten Hoffnungen setzte. Als er im Jahre 1960, mittlerweile Dekan der Philosophischen Fakultät, eine historische wie aktuelle Bilanz der Freien Universität zog, schien er seinen ganzen Stolz darein zu setzen, dass die Politikwissenschaft in Berlin nicht nur wohl etabliert und gut ausgestattet, sondern zum Modell einer politisch reflektierten Wissen11 | Brief vom 23. März 1946 an die Familie Suhr, in: Ernst Fraenkel, Gesammelte Schriften, Bd. 3 (Neuaufbau der Demokratie in Deutschland und Korea), BadenBaden 1999, S. 391/2.
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schaft geworden sei und damit auf die deutsche Universität insgesamt ausstrahle. Über das Otto-Suhr-Institut sagte er mit großer Genugtuung, es sei »die einzige Stelle in Deutschland, an der die Wissenschaft von der Politik systematisch auf breiter Basis unter Berücksichtigung ihrer verschiedenen Aspekte studiert werden kann.«12 Und was die Freie Universität betrifft, so ließ Fraenkel keinen Zweifel daran, dass ihre Gründungsidee wie ihre aktuelle Gestalt dezidiert einem politischen Auftrag entspringe, durch den die Idee der Wissenschaftsfreiheit untrennbar mit der westlichen Demokratie – konkret mit der internationalen Führungsmacht der USA – verbunden sei: »Sie ist stärker als jede andere deutsche Universität mit außerdeutschen, und insbesondere amerikanischen, Institutionen und Ideen innerlich verbunden. Sie fühlt sich in der Verpflichtung, an der gefährdetsten Stelle der westlichen Welt der Idee Geltung zu verschaffen, dass die Pflege einer freien Wissenschaft und Lehre eine staatliche Organisation voraussetzt, in der das Recht geschützt, der Volkswille geachtet und der ungehinderte freie Wettbewerb einer Vielzahl von Ideen gewährleistet ist.«13 Die Formulierung ist typisch für Fraenkel, stellt sie doch einen Zusammenhang her zwischen politiktheoretischer Position und wissenschaftspolitischer Überzeugung und verweist damit auf einen durchgehenden Strang in Fraenkels Nachkriegswirken: auf den ganz besonderen Stellenwert der Vereinigten Staaten im Denken und Handeln dieser Gründerfigur der westdeutschen Politikwissenschaft. Hier sei nur auf einige weitere Daten und ihre institutionellen Konsequenzen verwiesen: Schon seit Mitte der 1950er Jahre hatte sich Fraenkel mit der Idee getragen, ein eigenes Zentrum für die wissenschaftliche Beschäftigung mit den USA zu schaffen. 1961 wurde er vom Rektor der Freien Universität um die Erarbeitung eines entsprechenden Memorandums gebeten, dessen offizielle Anerkennung durch den Universitätssenat dann im Auftrag an Fraenkel resultierte, nicht nur ein spezielles Institut zu konzipieren, sondern auch den Realisierungsprozess selbst in die Hand zu nehmen, d.h. zunächst einmal den zentralen Lehrstuhl für amerikanische Politik mitzuvertreten. Seitdem fungierte Fraenkel als kommissarischer Direktor 12 | Ernst Fraenkel, Freie Universität [1961], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 6 (Internationale Politik und Völkerrecht, Politikwissenschaft und Hochschulpolitik), Baden-Baden 2011, S. 414-425, 421. 13 | Ebd., S. 424.
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und unterzog sich einer Menge organisatorischer und personalpolitischer Anstrengungen, die schließlich im Januar 1967 zur feierlichen Eröffnung des »John F. Kennedy-Instituts für Nordamerikastudien« führten. Dies war ohne Zweifel der krönende Abschluss der Universitätskarriere eines erfolgreichen Remigranten; denn mit dem Ende des laufenden Wintersemesters stand Fraenkels Emeritierung an.14
II. P olitische K ultur als F okus einer vergleichenden I deengeschichte Während in einer Gründungsgeschichte wie der vorliegenden die organisatorischen und institutionellen Aspekte zwangsläufig in den Vordergrund treten, sind die genuin wissenschaftlichen Leistungen der Remigranten keineswegs so leicht identifizierbar. Die Frage nach dem Gehalt von Fraenkels Nachkriegsschriften führt in schwieriges Gelände, wenn man sich nicht mit der Konvention bescheiden will, die sich seit den 1960er Jahren an seinen Namen geheftet hat und die immerhin so stark war, dass sein Werk in gewisser Weise kanonisiert wurde: demnach ist Fraenkel der Erfinder der »Neopluralismustheorie« und damit der Vertreter einer bestimmten Version der modernen Demokratietheorie, die die intermediäre Rolle der Parteien und Verbände für den Willensbildungsprozess ins Zentrum stellt und, unter Anerkennung der rechts- und sozialstaatlichen Verfahrensregeln, den Legitimationsglauben der Bevölkerung an das Vertrauen bindet, dass auf diese Weise ein gerechter Interessensausgleich erreichbar und das »Gemeinwohl« zumindest imaginierbar sei. Diese Theorie war dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland nicht nur angemessen, sondern bot sich auch zur politischen Legitimationsbeschaffung des Bonner Regierungssystems an. Teils deswegen, teils auch aus theoretischen Gründen wurde die Pluralismustheorie bald mit erheblichen Zweifeln konfrontiert; sie bezogen sich sowohl auf die empirische Haltbarkeit ihrer Grundaussagen als auch auf den ungeklärten Schwebezustand ihrer Prämissen und Zielvorstellungen; um 1968 kehrte dann unter linken Vorzeichen – im Vorwurf einer unkritisch14 | Detaillierter dazu jetzt die Einleitung von Hubertus Buchstein und Rainer Kühn zu Band 4 von Ernst Fraenkel, Gesammelte Schriften, Bd. 4 (Amerikastudien), Baden-Baden 2000, S. 7-48, 15f.
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affirmativen »Demokratiewissenschaft« – sogar das negative Urteil der Anfangphase wieder, als die Politikwissenschaft wegen ihrer Nähe zur Re-education unter dem generellen Verdacht der Unwissenschaftlichkeit gestanden hatte.15 Dieses Bild beginnt sich erheblich zu verändern, seit durch die verdienstvolle Herausgabe der Gesammelten Schriften nicht nur die Hintergründe der politischen Biographie sichtbar werden, sondern auch erkennbar wird, wie konsequent Fraenkel in seinem Werk selber die wissenschaftlichen Schlussfolgerungen aus einem exemplarischen Emigrantenschicksal gezogen hat. So finden sich Spuren des Pluralismuskonzepts bereits in den eher juristischen Schriften der Weimarer Periode16, und Fraenkels Nationalsozialismus-Buch von 1941 beeindruckt nicht nur wegen seiner exponierten zeitgeschichtlichen Stellung, sondern auch durch die anspruchsvolle Analyse der naturrechtlichen und staatstheoretischen Voraussetzungen einer Kritik des nationalsozialistischen »Doppelstaats«.17 Der ganze Reichtum von Fraenkels wissenschaftlichem Schaffen aber zeigt sich erst, wenn man des breiten historischen und zeitgeschichtlichen Materials ansichtig wird, das Fraenkel in seinen Berliner Nachkriegsschriften zusammengeführt hat. In unserem Zusammenhang gilt es besonders zu beachten, welche intellektuellen Mittel er dabei investiert und welche theoretischen Absichten er verfolgt hat. Aus einem Provisorium des Wiederauf baus, an dem Fraenkel in den späten 1940er Jahren nicht in Deutschland, sondern im Krisenzentrum des Fernen Ostens, in 15 | Zur zeitgenössischen Debatte vgl. Franz Nuscheler/Winfried Steffani (Hg.), Pluralismus. Konzeptionen und Kontroversen, München 1972; Rainer Eisfeld, Pluralismus zwischen Liberalismus und Sozialismus, Stuttgart 1972. 16 | Die Kontinuität wird überbetont von Gerhard Göhler, Vom Sozialismus zum Pluralismus. Politiktheorie und Emigrationserfahrung bei Ernst Fraenkel, in: PVS 27 (1986), S. 6-27. Differenzierter jetzt die Einleitung von Hubertus Buchstein und Rainer Kühn zu Bd. 1 der Gesammelten Schriften: Recht und Politik in der Weimarer Republik, Baden-Baden 1999. 17 | Besonders interessant dafür ist der Vergleich des noch in Deutschland verfassten »Urdoppelstaats« (1938) mit der amerikanischen Bearbeitung von 1941, wie er von Alexander von Brünneck angeregt wird in seinem Vorwort zu Ernst Fraenkel, Gesammelte Schriften, Bd. 2 (Nationalsozialismus und Widerstand), BadenBaden 1999, S. 7-32, 13ff.
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Korea mitgewirkt hatte18, entstand im Berlin der 1950er Jahren ein kontinuierliches wissenschaftliches Unternehmen, das sich immer mehr ausweitete und schließlich eine so komplexe wie absichtsreiche Gestalt annahm. Wo liegt der Schlüssel, der die Eigenart von Fraenkels Nachkriegspublikationen aufschließt und gleichzeitig das innere Muster und das äußere Wirkungsfeld seiner Gedanken eröffnet? Die Frage muss, wenn sie bezüglich der typischen Merkmale der politikwissenschaftlichen Remigration fündig werden will, tatsächlich nach Entsprechungen zwischen einem methodischem Prinzip und einer politischen Strategie suchen. Wo zeigen sich solche Entsprechungen bei Ernst Fraenkel und wie schlüssig sind sie nachweisbar? Eine bedenkenswerte Spur hat vor einiger Zeit Hubertus Buchstein, einer der Herausgeber von Fraenkels Gesammelten Schriften gefunden. Er schlägt eine »kulturalistische Fraenkel-Interpretation« vor und meint damit, dass das Problem der »politischen Kultur« in Fraenkels Nachkriegsschriften nicht nur durchgehend präsent war, sondern dass Fraenkels Wissenschaftsverständnis insgesamt auf diesen Aspekt bezogen blieb, woraus sich auch seine primär »historisch-hermeneutische« Ausprägung erkläre. Tatsächlich gewinnt in dieser Interpretation der ansonsten reichlich amorphe Begriff der »Integrations-Wissenschaft« deutlichere Konturen, den Fraenkel zur Kennzeichnung der Politikwissenschaft immer wieder benutzte.19 Ich möchte noch einen Schritt weitergehen und behaupten, dass Fraenkels kulturalistische Ausrichtung ein methodisches und parallel dazu ein politisches Prinzip zur Wirkung brachte, in deren Synthese schließlich auch sein Erfolgsgeheimnis steckte. Die eigentliche »Gestalt« seines Wirkens in der Bundesrepublik kann man vielleicht mit dem Begriff des »politikwissenschaftlichen Kulturalismus« charakterisieren. Diese These möchte ich zunächst durch einige Hinweise auf die verstreuten Studien zum modernen Parlamentarismus erläutern, die Fraenkel dann in dem bekannten Band »Deutschland und die westlichen
18 | Aber auch hier ist das Material überbordend, wie der von Gerhard Göhler und Dirk Schumann herausgegebene Band 3 der Gesammelten Schriften dokumentiert: Ernst Fraenkel, Gesammelte Schriften, Bd. 3 (Fn. 11). 19 | Buchstein, Ernst Fraenkel (Fn. 10), insbes. S. 467-472.
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Demokratien« versammelt hat.20 Zusammen mit den Amerika-Studien (die im nächsten Kapitel behandelt werden) bieten sie ein überreiches Demonstrationsfeld für einen Denkprozess in statu nascendi. Der Lehrstuhl, den Fraenkel an der »Hochschule für Politik« und später am OttoSuhr-Institut innehatte, war der vergleichenden Regierungslehre gewidmet. Dementsprechend war die Mehrzahl seiner Lehrveranstaltungen und auch der Publikationen auf Themen ausgerichtet, die man in der gerade erst gängig werdenden, d.h. in der amerikanischen Kasuistik des Faches dem »political system« bzw. »comparative government« zuschlug. Sieht man sich Fraenkels Publikationen jedoch genauer auf Material und methodische Behandlung an, dann verfestigt sich der Eindruck, dass es sich in Wahrheit um ideengeschichtliche Studien handelt, die mit Geschick und Kunstsinn zwar auf zentrale Grundbegriffe des politisches Systems bezogen sind – vor allem auf Demokratie, Parlamentarismus, Rechtsstaat und Öffentlichkeit. Sehr viel wichtiger aber als die institutionellen Strukturen des politischen Systems wird für Fraenkel regelmäßig das, was er mit wechselnden Begriffen als dessen »psychologische Grundlagen«, als »politische Traditionen«, als die »das gesamte Gemeinschaftsleben durchziehende Grundhaltung«, mit einem Wort: als den »Geist« des politisch-kulturellen Lebens bezeichnet.21 So undeutlich diese Begriffe bei Fraenkel bisweilen auch ausfallen – offensichtlich wird hier auf eine Dimension rekurriert, die wir heute mit dem catch-word »politische Kultur« belegen. Der Begriff der Kultur ist bekanntlich durch nichts mehr definiert als durch seine Undefinierbarkeit, und diese Tücke des Objekts hat sich auch an der »politischen Kultur« insofern gerächt, als sich das Thema bis auf den heutigen Tag gegen seine »Verwissenschaftlichung« zu sperren scheint. Fraenkels Nachkriegswerk 20 | Dieses in vielen Auflagen erschienene und wohl einflussreichste Nachkriegswerk von Fraenkel (»Deutschland und die westlichen Demokratien«) enthält historische und ideengeschichtliche Aufsätze, die erst im Nachhinein über den Leisten der Neopluralismustheorie geschlagen wurden. Es wird hier zitiert nach der 5. Aufl., Stuttgart, Berlin u.a. 1973. 21 | Diese Formulierungen stammen sämtlich aus Fraenkels Deutschland und die westlichen Demokratien, in: ders., Deutschland und die westlichen Demokratien (Fn. 20), S. 32-37, lassen sich aber beliebig verlängern. Wie zu zeigen sein wird, sind Fraenkels Amerika-Studien insgesamt von der kulturalistischen Perspektive dominiert.
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steht zwar ganz am Anfang dieses Prozesses, der auch der westdeutschen Politologie den Entwicklungspfad vorgezeichnet hat – es entsteht ungefähr zeitgleich mit Almonds und Verbas epochemachender Studie über die »Civic Culture« 22 –, aber seine Intentionen liegen offensichtlich noch jenseits der Schwelle der modernen Kulturforschung und ihrer empirischen Methoden. Statt darin jedoch nur einen Rückstand zu vermuten, sollte man die umgekehrte Fragestellung verfolgen, ob nicht gerade in Fraenkels unverkennbar traditionellem Verständnis der politischen Kultur ein Potential steckte, das den Bedingungen der deutschen Nachkriegsdemokratie besonders angemessen war. So offensichtlich in der Rekonstruktion einer demokratischen Kultur ein zentrales und gemeinsames Ziel der politikwissenschaftlichen Remigration greif bar wird, so unklar war – und ist es möglicherweise nach wie vor –, welche Kultur auf welche Weise, ja ob Kultur überhaupt als ein ausschlaggebender Faktor für die Errichtung demokratischer Verhältnisse anzusehen war und ist. Es ist diese elementare Frage, vor die sich die zeitgeschichtliche Forschung auch heute gestellt sieht, und Fraenkels Schriften sind, ebenso wie die anderer Remigranten, ein ideales Untersuchungsfeld, um sie zu beantworten.23 Während in der frühen Bundesrepublik viele Repräsentanten der Bildungselite, ob mit oder ohne nachträgliche Prätention einer »inneren Emigration«, beinahe reflexhaft zum alteuropäischen Bildungsglauben zurückkehren wollten – typisch dafür ist Friedrich Meineckes Vorschlag, der »deutschen Katastrophe« mit der Einrichtung von Goethe-Häusern entgegenzutreten24 –, arbeitete Ernst Fraenkel mit großer Entschiedenheit auf eine alternative und doch wieder ähnliche Strategie hin. Sie setzte ebenfalls auf den Bildungsimpuls, glaubte ihn aber erst in einem aufwendigen Verfahren politischer Erziehung erzeugen zu müssen. Nach seiner Auffassung waren es langwierige und voraussetzungsreiche Men22 | Gabriel A. Almond/Sidney Verba, The Civic Culture. Political Attitudes and Democracy in Five Nations, Princeton 1963. 23 | Dazu mein Aufsatz: Normative Verwestlichung. Der Einfluss der Remigranten auf die politische Kultur der frühen Bundesrepublik, in: Heinz Bude/Bernd Greiner (Hg.), Westbindungen. Amerika in der Bundesrepublik, Hamburg 1999, S. 72-92. 24 | Dies war die pädagogische Schlussfolgerung des bekanntesten deutschen Historikers in seinem vielgelesenen Buch: Die deutsche Katastrophe, 3. Aufl., Wiesbaden 1947.
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talitätsveränderungen, also Bildungsprozesse im vollen Sinne des Wortes, durch die alleine die Voraussetzungen dafür geschaffen wurden, dass die Demokratie als Lebensform wieder Fuß fassen konnte. Ein Weg dahin bestand für Fraenkel – zumindest was die Wissenschaft und das Universitätsstudium betraf – in der Rekonstruktion der geistesgeschichtlichen Traditionen, konkret im Aufweis des intellektuellen »Sinns« der demokratischen »Systems«, das eben nicht nur ein technisches Ensemble von Institutionen, sondern eine kulturell vermittelte Lebensform sei. Es ist kein Zufall, dass Fraenkel in diesem Zusammenhang von der Notwendigkeit einer »Art sozial- und politikwissenschaftlicher Psychoanalyse«25 sprach, eine sonst für ihn völlig untypische Assoziation. »Politische Bildung ist Erziehung zur Demokratie!« – das ist einer der Gemeinplätze, den die Politikwissenschaft der Nachkriegszeit mit den Programmen der Amerika-Häuser, der Evangelischen Akademien und des Öffentlichen Rundfunks teilt.26 Fraenkel geht einen entschiedenen Schritt weiter und macht aus seiner kulturalistischen Deutung des »demokratischen Systems« ein regelrechtes Forschungsprogramm, das den Namen des »politischen Kulturalismus« wirklich verdient. Und dies wiederum hängt zusammen mit der international vergleichenden Ausrichtung des Programms und, nicht zu vergessen, mit seiner ideengeschichtlichen Implementierung – heute würde man von »interkulturell« sprechen. Tatsächlich kann man mühelos zeigen, dass in den allermeisten Publikationen Fraenkels nicht nur ein versteckter oder beiläufiger Primat der politischen Ideengeschichte herrscht; vielmehr gibt es so etwas wie einen inneren, ja einen methodischen Zusammenhang zwischen diesem Primat und der vergleichenden Ausrichtung der Regierungslehre, die per definitionem vor der doppelten Aufgabe steht, das jeweilige politische System sowohl im nationalen Kontext als auch in internationaler Perspektive zu sehen. Nur unter dieser »interkulturalistischen« Voraussetzung ist Fraenkel in die Lage versetzt, im Zentrum seiner Untersuchungen stets von neuem die eine Frage zu platzieren, wie die »Symbiose von Entwicklungstendenzen« möglich, wie die »Vermischung« bzw. die »Amalgamie25 | Ernst Fraenkel, Amerika im Spiegel des deutschen politischen Bewusstseins [1959], in Gesammelte Schriften, Bd. 4 (Fn. 14), S. 333-373, 334. 26 | Die schulpolitischen Dokumente finden sich gesammelt in Heinrich Schneider (Hg.), Politische Bildung in der Schule, 2 Bände, Darmstadt 1975.
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rung«27 der politischen Ideen vorstellbar ist und wie das Amalgam für die Einwurzelung der demokratischen Lebensform im Nachkriegsdeutschland nutzbar gemacht werden kann. Es ist also die Leitidee der kulturellen Synthese und ihre Nutzanwendung für die Rekonstruktion einer demokratischen Kultur, die Fraenkel in vielfacher Variation ins Zentrum seiner Überlegungen stellt. An dieser Stelle ist es notwendig, die zeitgeschichtliche Diagnose der deutschen Nachkriegsdemokratie wenigstens anzudeuten, von der Fraenkel in seinen Schriften ausgeht. Man kann sie zusammenlaufen lassen in einem Punkt, auf den sich seine professionellen Interessen konzentrierten: auf eine Art Mängelanalyse des westdeutschen Parlamentarismus. Typische Titel in diesem Zusammenhang lauten »Historische Vorbelastungen des deutschen Parlamentarismus« (1959), »Strukturdefekte der Demokratie und deren Überwindung« (1964) oder »Ursprung und politische Bedeutung der Parlamentsverdrossenheit« (1966). Wenn Fraenkel diese Arbeiten im ersten Teil von »Deutschland und die westlichen Demokratien« systematisch zusammenstellte, so fällt abermals auf, dass es weniger um die konkreten institutionellen Mängel des parlamentarischen Regierens geht; eher interessieren ihn die mentalen Prozesse, die Fehleinschätzungen und Missverständnisse z.B. der öffentlichen Rolle des Parlaments, die ihrerseits mehr mit historischen Vorurteilen als mit bloßer Unkenntnis seiner praktischen Arbeitsweise zu tun haben. Dementsprechend wird Fraenkel nicht müde, in seinen historisch-hermeneutischen Analysen darauf hinzuweisen, dass es in der deutschen Politikauffassung, bedingt durch ihre antidemokratische und bürokratische Schlagseite, schwerwiegende Hindernisse gibt, um das Funktionieren der modernen Parteiendemokratie überhaupt zu verstehen. Seit Ende der 1960er Jahre ergänzte er diese These gegen Rechts auch nach der andern Seite, indem er zunehmend den »linken Rätemythos« und dessen antiparlamentarische Stoßrichtung aufs Korn nahm.28 Welche Rolle spielte in diesem Kontext die »Regierungslehre« und welche Absichten verband Fraenkel speziell mit ihrer vergleichenden und 27 | Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien (Fn. 21), S. 37. 28 | Der wichtigste Text, mit dem Fraenkel auf die Herausforderung der Studentenbewegung reagiert, ist Fraenkels »Rätemythos und soziale Selbstbestimmung« [1971], den er absichtsvoll in die 5. Aufl. von Deutschland und die westlichen Demokratien (Stuttgart, Berlin u.a. 1973, vgl. Fn. 20) aufnimmt.
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ideengeschichtlichen Ausrichtung? In der Tat lässt sich zeigen, dass sein zentrales Ziel darin bestand, die Behinderungen des Parlamentarismus zu beseitigen und »einen Beitrag zu seiner endgültigen Etablierung in Deutschland zu leisten«.29 Und dafür wiederum erschien als das geeignetste Mittel eine vergleichenden Analyse, die sich einerseits der unvermeidlichen Eigenlogik der nationalen Tradition bewusst blieb und sich andererseits für die Eröffnung neuer Horizonte stark machte bzw. an der Stabilisierung bereits bestehender Sinnzusammenhänge mitwirkte. Im Falle der parlamentarischen Demokratie konnte Fraenkel herausstellen, dass die europäische Entwicklung schon im 19. Jahrhundert durch vielfältige Differenzen, aber auch durch Überschneidungen und im Ergebnis durch ein komplexes Netz gegenseitiger Rezeptionslinien zwischen England, Frankreich und Deutschland bestimmt war. Analog dazu bestand die aktuelle Aufgabe nicht so sehr darin, den »Sinn« des Parlamentarismus verfassungsdogmatisch zu behaupten oder aus den gegebenen institutionellen Regelungen zu deduzieren, vielmehr galt es, die verschiedenen Entwicklungspfade zu rekonstruieren und in ihrer gegenseitigen Vernetzung zu erläutern. Es ging also um eine politische Wirkungsgeschichte in ihrer ganzen Komplexität, um eine Hermeneutik, die geistesgeschichtlich diffizil und dennoch politisch eindeutig sein musste. Für eine solche geistesgeschichtliche »Übersetzungsarbeit« zwischen ganzen politischen Kulturen fielen theoretische Mittel und praktische Ziele zusammen, weil politische Einrichtungen eben nur über rekonstruierendes Sinnverstehen und dessen organische Einschmelzung in die praktische Lebenswelt stabilisierbar schienen. Um genauer zu erläutern, was das bedeutet – dafür ist das geeignete Dokument der mittlerweile klassische Aufsatz »Deutschland und die westlichen Demokratien« von 1960, der dem späteren Sammelband den Titel gab. Wieder interessiert uns hier weniger Fraenkels Beitrag zur neopluralistischen Demokratietheorie, auch nicht das ideengeschichtliche Materials als solches, sondern die Methode, das »Wie« von Fraenkels Argumentation. So offen in dem Text die Absicht ausgesprochen wird, es gelte Argumente für die Eingliederung der Bundesrepublik in den Kreis der westlichen Demokratien aufzubieten, so komplex und herme29 | Ernst Fraenkel, Historische Vorbelastungen des deutschen Parlamentarismus [1959], in: ders., Deutschland und die westlichen Demokratien (Fn. 20), S. 13-31.
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neutisch gebrochen ist das Tableau, auf dem die Argumente vorgetragen werden. Angekündigt wird eine aufwendige Reflexionsübung: »Zu den praktisch bedeutsamsten Aufgaben einer jeden politischen Wissenschaft gehört es, den politischen Gehalt der Worte aufzudecken, die im Alltag des politischen Lebens verwandt werden.«30 Sodann wird materialreich herausgestellt, dass nicht nur die westeuropäischen Länder, sondern auch Deutschland seinen historischen Beitrag zur Formung der modernen Demokratie geleistet habe – Fraenkel entdeckt diesen Beitrag vor allem im »Gedanken der sozialen Geborgenheit«, der seit den Tagen Bismarcks zum System des Sozialstaates ausgebaut wurde.31 Schließlich wird noch eine transatlantische Denkspur ausgelegt und in den komparatistischen Balanceakt einbezogen, wenn es wenig später heißt: auch die Amerikaner hätten »die Pressure Groups nicht erfunden, sondern nur entdeckt«, während die so starken deutschen Gewerkschaften umgekehrt als die »pluralistischen Sozialgebilde par excellence« erscheinen – sofern sie der totalitären Zurichtung widerstünden und sich in den demokratischen Gesamtprozess einfügten.32 Am folgenreichsten für die Anlage des Aufsatzes aber erweisen sich die gemeinsamen europäischen Wurzeln der modernen Demokratie. Fraenkel rekurriert dazu auf einen aufsehenerregenden Vortrag zur Geschichte des Naturrechts, den der Theologe Ernst Troeltsch zu Anfang der 1920er Jahren an der Deutschen Hochschule für Politik gehalten hatte; er tut dies nicht ohne Hintersinn, denn in dem Vortrag hatte dieser typische »German Mandarin« (Fritz Ringer) – analog zur bekannten »Konversion« von Thomas Mann in der Weimarer Republik – seine Wandlung vom antiwestlichen Nationalisten zum »Vernunftrepublikaner« eingestanden. Das moderne Naturrecht wird somit bei Fraenkel, eingebettet in die gesamteuropäische Denkbewegung, zum Ausgangspunkt eines gerichteten Reflexionsprozesses – nicht so sehr um eine eindeutige Definition der »westlichen Demokratie« zu finden, einen Idealtypus im Sinne Max Webers, sondern um umgekehrt die institutionalistische und gleichzeitig die nationalistische Blickverengung der Politikwissenschaft in Frage zu stellen. Fraenkels zentrales und eigentliches Erklärungsziel ist also die Demonstration der kulturellen Lernprozesse, die nur langfristig wirken: 30 | Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien (Fn. 21), S. 32. 31 | Ebd., S. 32f. 32 | Ebd., S. 38.
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»Eines der wesentlichen Merkmale des amorphen Begriffs »westliche Demokratie« ist darin zu erblicken, dass die Staats- und Gesellschaftsordnungen der Länder, die zu diesem Staatentypus gehören, aus einer Symbiose der Entwicklungstendenzen entstanden sind, die unabhängig voneinander, aber doch in einem ständigen Prozess der Anziehung und Abstoßung im Verlauf der Jahrhunderte in ihnen in Erscheinung getreten sind.« All dies müsse man rekonstruieren, um »die gemein-europäischen Wurzeln des Staatsdenkens der westlichen Demokratien« freizulegen.33 Es habe in dieser ideellen Wirkungsgeschichte keine einfache »Übernahme fremder Rechtssysteme« gegeben, wohl aber einen »doppelten Abstraktions- und Umformungsprozess«, wie dies an Montesquieus Lehre von der Gewaltenteilung oder an der folgenreichen Umdeutung der Parlamentsfunktionen in der gegenseitigen Rezeption zwischen England und Frankreich demonstriert werden könne.34 Die westliche Demokratie, so könnte man Fraenkels ebenso strategische wie anspruchsvolle geistesgeschichtliche Rundschau resumieren, ist zwar durch ein set politischer Institutionen und sozialer Strukturen definiert, aber ihre Legitimität und ihre Stabilität hängen in letzter Instanz an der Verbindlichkeit eines gemeinsamen ideellen Horizontes: »Die generelle Anerkennung eines Minimums allgemeingültiger Prinzipien ist unerlässlich, damit die öffentliche Meinung die Grundlagen der Existenz der Interessenverbände und diese selber die Grenzen ihrer Betätigungsmöglichkeiten zu erkennen vermögen. Für eine funktionierende westliche Demokratie ist die Existenz von Interessengruppen und die Geltung eines Naturrechts gleich unentbehrlich. Sie bilden korrespondierende Bestandteile einer jeden modernen Staats- und Gesellschaftsordnung, die nicht vom totalitären Bazillus infiziert ist«35. Fraenkels Gedankengang läuft zwar im Ergebnis auf die Fixierung des neopluralistischen Politikmodells hinaus, aber in gewisser Weise interessanter sind die vergleichenden Wege und die ideengeschichtlichen Umwege, die er für seine Beweisführung einschlägt.
33 | Ebd., S. 43f (Kursivsatz im Original). 34 | Ebd., S. 37f. 35 | Ebd., S. 46.
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III. D ie hermeneutische A usrichtung der A merika -S tudien Wenn die These richtig ist, dass der Kern von Fraenkels Werk in der Nachkriegszeit in einem politikwissenschaftlichen Kulturalismus besteht, dann werden seine USA-Studien zum zentralen Testfeld für die Frage, was aus dem Primat der ideengeschichtlichen und kulturvergleichenden Methoden resultiert. Schon vom puren Umfang her sind die Amerika-Studien, wie der vierte Band der Gesammelten Schriften eindrucksvoll dokumentiert, dasjenige Gebiet, in das Fraenkel die meiste Arbeitsenergie, seine größte methodische Sorgfalt und andauernden Publikationseifer investiert hat: Die USA-Studien beginnen bereits in den frühen 1950er Jahren, sie schlagen sich an der Wende zu den 1960er Jahren in zwei großen Monographien nieder und liefern noch Anfang der 1970er Jahre Zündstoff für heftige Differenzen mit den Wortführern der deutschen Studentenbewegung. Fraenkels extensive wie intensive Auseinandersetzung mit den USA, mit ihrer Geschichte, Kultur und Politik, ist indes weder ein biographischer Zufall, noch die bloße pädagogische Reaktion eines Remigranten auf die westdeutschen Nachkriegsverhältnisse, sie ist vielmehr das geballte Resultat der Lebensgeschichte eines politischen Emigranten, das in die Tiefe der Existenz und die Breite eines ganzen Bildungsgangs zurückreicht Dieser komplexe Zusammenhang wird an vielen Stellen der Amerika-Studien greif bar; häufig erweist sich das persönliche Erleben vor allem der ersten Emigrationsjahre als Schlüssel nicht nur für die Wahl des Themas, sondern auch für die spezifische Perspektive, aus der er auf Geschichte und Kultur seines Gastlandes zu sprechen kommt. Rührend liest sich etwa, wie in einer (ungedruckten) Ansprache von 1953 das historische Bild des »Achtundvierzigers« Carl Schurz, der es unter Präsident Lincoln bis zum Innenminister brachte, zunächst unterlegt wird mit den eigenen Heldenträumen des ebenfalls im Rheinland aufgewachsenen Gymnasiasten, um dann die atemberaubende Karriere eines großen Reformers und Staatsmanns des 19. Jahrhunderts zu schildern, die Fraenkel selber offenbar nicht vergönnt war; was dennoch bleibt und emphatisch unterstrichen wird, ist die positive Erfahrung der Aufnahme im Gastland, vermittelt über die »Autonomie der nationalen, religiösen und ethnischen Gruppen als einem maßgeblichen Integrationsfaktor der ameri-
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kanischen Gesellschaft.«36 Eine ähnliche Konstellation von Identifikation und historischer Würdigung, in der sich die durchaus ambivalenten Erfahrungen des deutschen Juristen mit dem amerikanischen Rechtswesen spiegeln, liegt auch dem Portrait des demokratischen Verfassungsrichters Louis Brandeis zugrunde.37 Und offensichtlich ist Fraenkel auf Gestalt und Bedeutung des Präsidenten Franklin D. Roosevelt nicht zuletzt deswegen immer wieder zurückgekommen, weil es dessen reformatorische Regierungszeit, sein Programm des »New Deal« und nicht zuletzt sein persönliches Charisma waren, die eine »andere« Überwindung der Weltwirtschaftskrise (im Vergleich zum nationalsozialistischen Deutschland) möglich gemacht hatten – nicht nur für Fraenkel eine der Bedingungen der glücklichen Rettung vor Verfolgung und Vernichtung, sondern eine communis opinio der ansonsten politisch meist zerstrittenen Emigrantengemeinde.38 Ganz deutlich aber wird Fraenkel im Jahr 1960, als er in einem Brief an seinen Verleger sein soeben fertiggestelltes Buch über »Das amerikanische Regierungssystem« die »Konfession meines Lebens« nennt und dazu ausführt: »Ich habe sie seit langem als ein Politikum angesehen. Als einen ehrlichen Versuch des geistigen Brückenbaus und aus dem Bestreben, die eigene Erfahrung, die aus dem Gruppenschicksal erwachsen ist, auch denen zugute kommen zu lassen, die die Jahre nach 1933 unter anderen Bedingungen erlebt haben.«39 Was hier in versöhnlichen Worten ausgedrückt wird, bezeichnet tatsächlich so etwas wie ein Programm, das für Fraenkel seit seiner Rückkehr nach Berlin verbindlich geworden war und dessen beinahe strategische Ausführung einige Ecken und Kanten gegenüber der hermetischen politischen Kultur der Adenauer-Ära hervorkehren sollte. Was waren die Ziele dieses Programms und welches die zu ihrer Erreichung geeigneten Mittel? 36 | Ernst Fraenkel, Leben und Werk von Carl Schurz [1953], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4 (Fn. 14), S. 142-149, 144f. 37 | Ernst Fraenkel, Louis Brandeis – Reformator der Demokratie [1957], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4 (Fn. 14), S. 260-268. 38 | Fraenkel hat Roosevelt drei eigene Aufsätze gewidmet und ist in den übrigen Schriften immer wieder auf ihn zurückgekommen. 39 | Brief Ernst Fraenkels an Friedrich Midelhauve vom 31. Dezember 1959, zitiert nach Hubertus Buchstein/Rainer Kühn, Einleitung, in: Ernst Fraenkel, Gesammelte Schriften, Bd. 4 (Fn. 14), S. 7-48, 23f.
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Liest man Fraenkels Aufsätze aus den 1950er Jahren, in denen vor allem die in den USA angeeigneten juristischen Kompetenzen zur Anwendung kommen, so fällt zunächst auf, dass sie sich auf die Fragen konzentrieren, die im gerade eingeführten Bonner Grundgesetz zu den größten Novitäten zählen, d.h. noch im Stadium der Erprobung sind. Dazu gehören z.B. die Institution der Verfassungsgerichts, mit der die umfängliche Erörterung des »richterlichen Prüfungsrechts in den Vereinigten Staaten von Amerika« (1953) korrespondiert, aber auch die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse, deren Praxis Fraenkel vom brandaktuellen Fall des »McCarthyismus« her aufrollt und in eine Grundsatzfrage der Demokratietheorie wendet (übrigens ohne die berüchtigten »investigation committees« eindeutig zu verurteilen, wie Hannah Arendt oder Hans Morgenthau dies getan haben).40 Fraenkel konzentriert sich also auf Themen des parlamentarischen Regierens, die in der jungen westdeutschen Demokratie Anlass zur Skepsis geben oder Abwehr aus Unerfahrenheit auslösen können, und er setzt seine aus den USA mitgebrachten, aber auch regelmäßig aufgefrischten Erfahrungen dafür ein, dem deutschen akademischen Publikum die Funktionsweise der demokratischen Institutionen der USA so vor Augen zu führen, dass dabei das Verständnis der eigenen Demokratie gefördert wird. Doch damit nicht genug. Von Anfang an sind diese sachlichen Bemühungen begleitet von einem Arsenal von Überlegungen methodischer Art, die man wegen ihres gezielten und reflexiven Gestus nur als die Explikation einer politischen Hermeneutik bezeichnen kann. In der frühen Abhandlung zum richterlichen Prüfungsrecht etwa wird sie mittels eines eigenen Paragraphen unter dem Titel »Terminologisches« eingeführt: Fraenkel geht hier von der Irritation der Unübersetzbarkeit einiger Schlüsselbegriffe der politischen und juristischen Praxis (wie etwa »due process of law« oder »intra state commerce«) aus und erläutert dann die Übersetzungsprobleme auf einem durchaus politikfremden Gebiete, nämlich dem der Musik: »Man kann eine Melodie nicht transponieren, indem man sie in ihre Bestandteile auflöst; eine Melodie muss als Gan40 | Ernst Fraenkel, Das richterliche Prüfungsrecht in den Vereinigten Staaten. Eine Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung des Arbeitsrechts [1953], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4 (Fn. 14), S. 49-141; ders., Diktatur des Parlaments? Parlamentarische Untersuchungsausschüsse, öffentliche Meinung und Schutz der Freiheitsrechte [1954], ebd., S. 189-224.
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zes aufgenommen und kann daher nur als Einheit transponiert werden«. Schließlich spielt er sogar auf die sog. Gestalttheorie an und insistiert darauf, dass auch die nüchternen Phänomene des politischen Lebens nur richtig verstanden werden können, wenn sie in ihrem kulturell bedingten Gesamtzusammenhang gesehen werden. Für den anstehenden Vergleich politischer und juristischer Praktiken bedeutet dies, dass diese Aufgabe nur unter behutsamer Berücksichtigung der verschiedenen kulturellen Horizonte gelöst werden kann, oder negativ ausgedrückt, dass sich jede einfache Übertragung oder gar die direkte Kopie von institutionellen Regelungen verbietet.41 Ohne auf die Einzelthemen der Fraenkelschen Publikationen einzugehen (sie reichen vom Arbeits- über das Beamtenrecht bis hin zu verfassungstechnischen Spezialfragen, bleiben aber immer schon auf das große Thema der Politikwissenschaft, die moderne Demokratie bezogen) – hier ist ein typischer Vertreter der politikwissenschaftlichen Remigration bereits auf dem Weg zu seinem »opus magnum«, das dann als erste moderne Gesamtdarstellung des amerikanischen Regierungssystems in Deutschland Epoche machen sollte. Ganz unvollständig aber müsste dieses Urteil bleiben, wenn vergessen würde, dass Fraenkel seinem 1960 erschienenen »Amerikanischen Regierungssystem« eine weitere Monographie vorausschickte, die keineswegs nur ein Nebenprodukt war. Gemeint ist das Buch »Amerika im Spiegel des deutschen politischen Denkens«42, in dem Amerika-Texte mehr oder weniger prominenter deutscher Schriftsteller und Wissenschaftler vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart präsentiert wurden. Der ausgeklügelte Zusammenhang mit Fraenkels politischer Hermeneutik bestand darin, dass dieses Buch gleichzeitig eine geistesgeschichtliche Antologie der immer wiederkehrenden Fehlurteile deutscher Autoren über ein Land war, das die meisten von ihnen weder kannten noch kennenlernen wollten, weil ihre individuellen Vorurteile sich zu einer kollektiven Wahrnehmungsblockade verdichtet hatten. Dahinter steckt der bekannte Topos von der wertenden Gegenüberstellung, genauer: der radikalen Abwertung der (amerikanischen) »Zivilisation« gegenüber der (deutschen) »Kultur«.
41 | Fraenkel, Das richterliche Prüfungsrecht (Fn. 35), hier S. 62-64. 42 | Ernst Fraenkel, Amerika im Spiegel des deutschen politischen Denkens, Opladen 1959.
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Wenn Fraenkel nach den wichtigsten Vorurteilen und Denkblockaden fragt, die die Wahrnehmung Amerikas in der deutschen Geschichte geprägt haben, dann deshalb, weil sie sich bis in seine Gegenwart fortsetzen und als hintergründige Missverständnisse weiterhin spürbar sind. Sie können in dieser Gestalt die gegenseitige Wahrnehmung beinahe noch mehr blockieren als manifeste Differenzen, wie Fraenkel besonders an den Verzerrungen herausstellt, die den Präsidenten Wilson und Roosevelt, den beiden Schlüsselfiguren für den Eintritt Amerikas in die Weltpolitik, zuteil wurden.43 Fraenkel nennt drei solcher Denkblockaden, die äußerst wirksam sind, weil sich in ihnen erfahrungsresistente Halbwahrheiten und Unwahrheiten vermischen und zu einem vagen kulturellen Gesamthorizont ausformen. Das erste dieser »kulturell tiefsitzenden« Vorurteile besteht in der Annahme, dass die USA ein Land ohne Tradition seien, eine geschichts- und damit nach alteuropäischem Verständnis auch kulturlose Nation. Das zweite Vorurteil, eng damit verknüpft, besagt, der höchste Wert, an dem sich in den USA das ganze Leben auszurichten habe, sei das Prinzip der »efficiency«, die Forderung, wie Fraenkel salopp übersetzt, »dass alles einwandfrei klappt, dass alles wie am Schnürchen funktioniert«. Das dritte Vorurteil schließlich ist das tiefste und zäheste – nicht zuletzt, weil es mit einer kollektiven Angstreaktion zusammenhängt, die zumal in Deutschland wegen seiner Verwicklung in die Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts immer neue Nahrung erhalten hat. Gemeint ist Überzeugung, dass Deutschland und Europa einem unaufhaltsamen Prozess der »Amerikanisierung« ausgeliefert seien, der gleichbedeutend sei mit dem Ende der europäischen Kultur.44 Fraenkels Amerika-Studien, so zeigt sich im Rückblick, sind ein weitverzweigtes Wissenschaftsprojekt der 1950er und 1960er Jahre. Sie folgen einer eigenen »politikwissenschaftlichen« Logik, die vom kulturellen Kraftfeld Amerika zehrt und zugleich einen eigenständigen Pfeiler in den Baugrund der westdeutschen Politikwissenschaft einrammt. Mag 43 | Ernst Fraenkel, Das deutsche Wilsonbild [1960], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4 (Fn. 14), S. 374-440; ders., Wilson und Roosevelt [1963], in: ebd., S. 874-878. 44 | Diese Zusammenfassung gibt Fraenkel in dem Aufsatz: Das Bild Amerikas im deutschen Bewusstsein [1959], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4 (Fn. 14), S. 307-332, 308ff.
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diese Politikwissenschaft auch konventionell erscheinen, wenn man sie z.B. mit dem systemtheoretischen bzw. dem empirisch-quantitativen »government-approach« vergleicht, wie er in den USA im Zuge der »behavioral revolution« dominant wurde, so stellt sie für den deutschen Kontext unzweifelhaft eine forscherische Novität dar. Auch wenn ihr sachlicher Beitrag zum Genre der modernen Regierungslehre hier nicht zur Bewertung ansteht, trifft es den Kern von Fraenkels Intentionen, wenn man bei ihm eine »interkulturalistische« Absicht am Werke sieht, die darauf gerichtet ist, die genannten Vorurteile wenn nicht zu beseitigen, so doch zurechtzurücken. »Das amerikanische Regierungssystem« geht insoweit konform mit den Anfängen der westdeutschen Amerikanistik insgesamt. Ein erster Beleg dafür zeigt sich, wenn Fraenkel seine Einleitung direkt an »die deutschen Leser« adressiert: seine Darstellung komme einer »Übersetzungsaufgabe« im doppelten Sinne gleich, da politische Begriffe und Phänomene nur über einen kulturellen Gesamthorizont »transponiert« werden könnten, so dass die Regierungslehre sich als Teil einer »politischen Semantik« erweise.45 Es ist interessant, dass diese methodisch-hermeneutische Exposition an den Anfang gestellt wird, bevor Fraenkel dann im zweiten Schritt zu seinen bekannten wissenschaftstheoretischen Leitideen kommt, die hier nur erwähnt seien: zur disziplinären Abgrenzung der Politikwissenschaft von Jurisprudenz und Soziologie, zur gezielten Kombination empirischer und normativer Betrachtungsweisen und zur Definition der Politikwissenschaft als einer »Integrationswissenschaft«, die die verschiedenen Aspekte des politischen, sozialen und kulturellen Lebens als Einheit begreifen müsse. Im vorliegenden Fall meint dies »die Aufgabe, die »Gestalt« eines Regierungssystems in ihrer spezifischen Eigenart als Produkt der geschichtlichen Entwicklung, als Rechtsordnung und als soziale Realität zu erfassen und die Wertvorstellungen und Sozialanschauungen aufzudecken, durch die das Handeln der Träger politischer Machtausübung motiviert wird.«46 Wie sehr die interkulturelle Hermeneutik auch in die materiale Darstellung selber hineinreicht, zeigt sich zweitens an der Gesamtarchitektonik des Buches: Obschon Fraenkel, wie es der Aufgabe einer modernen Regierungslehre entspricht, die praktische Arbeitsweise des amerikani45 | Ernst Fraenkel, Das amerikanische Regierungssystem [1960], zitiert wird im Folgenden nach Bd. 4 seiner Gesammelten Schriften (Fn. 14), S. 441-834, 447ff. 46 | Ebd., S. 450f.
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schen Regierungssystems verständlich machen, seinen institutionellen Auf bau und sein »Funktionieren« demonstrieren will, besteht das Buch über weite Strecken aus der historischen Herleitung der Prinzipien und Ideen, die in diese Praxis einfließen oder einfließen sollen. Sein Autor ist prima facie ideengeschichtlich und erst in zweiter Instanz institutionalistisch und funktionalistisch orientiert; der »Regierungsprozess« selber wird erst im letzten Kapitel zum Thema. In dieselbe Richtung deutet auch, dass die Darstellung der Bauelemente des amerikanischen Regierungssystems – Fraenkel unterscheidet die demokratische, die bundesstaatliche und die rechtsstaatliche Komponente – wiederum nicht nur je für sich stark ideengeschichtlich imprägniert ist, sondern gleichsam umrankt wird von der »traditionellen Komponente des amerikanischen Regierungssystems« – so die Überschrift des ersten Kapitels. Darin steckt mehr als die übliche historische Einstimmung ins Thema; es handelt sich um eine materiale These oder besser um eine Gegenthese, die direkt auf die Entkräftung der Annahme von der Geschichtsund Traditionslosigkeit des amerikanischen Politik gemünzt ist; sie lautet nicht zufällig, dass die amerikanische Verfassung »die älteste heute noch in Kraft befindliche Verfassung eines souveränen Staates« ist.47 Wie die amerikanische Konstitution von den »founding fathers« als ein »bewusst konservatives Dokument«48 auf den Weg gebracht wurde, ebenso sind sämtliche Einzelfaktoren, die die lange, 150 Jahre währende Verfassungsentwicklung mitgestaltet haben – das common law, das Erbe der Aufklärung und eben die Prinzipien der demokratischen Willensbildung, des föderativen und rechtsstaatlichen Staatsauf baus – durch nichts mehr definiert als durch ihren »traditionsbildenden« Charakter. Kurz (und benahe tautologisch), die älteste gültige Verfassung der Welt ist auch diejenige, die das größte Potential an Traditionsstiftung an den Tag legt. Diese Konstellation setzt sich fort in der Behandlung der positiven Komponenten der amerikanischen Verfassung: Wie das Hauptanliegen des demokratischen Prinzips für Fraenkel »nicht die Herrschaft der Mehrheit, sondern der Schutz der Minderheiten« war,49 ebenso zielte das föderative, bundesstaatliche Element, dem Fraenkel durch alle Bereiche der Legislative, der Judikative und des Partei- und Verbandswesens nach47 | Ebd., S. 455. 48 | Ebd., S. 642. 49 | Ebd., S. 480.
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geht, auf eine »vertikale« Gewaltentrennung und damit auf die Abschirmung der Gesellschaft vor dem überstarken Zentralstaat. Staatliche Gewaltendifferenzierung und gesellschaftlicher Pluralismus gehören eng zusammen und stehen für eine Entwicklung, die zum Gegenmodell der europäischen, zumal der deutschen Geschichte stilisiert wird: »Errichtet, um die Koexistenz von Sekten zu ermöglichen, erstarkt durch die Bereitschaft, verschiedenartigsten ethnischen Gruppen eine freie Entfaltungsmöglichkeit zu gewähren, ideologisch an das Dogma der freien Konkurrenz einer Vielzahl autonomer Wirtschaftseinheiten gebunden, ist das amerikanische Regierungssystem in seinem Kern durch seinen pluralistischen Charakter gekennzeichnet.«50 Derselbe hermeneutische Schlüssel wird schließlich auch an der rechtsstaatlichen Komponente erprobt, deren Darstellung Fraenkel von vorneherein unter das Stichwort vom »anti-totalitären Charakter« stellt, offensichtlich der Höhepunkt der dichotomisierenden und zugleich aktualisierenden Interpretation des amerikanischen Regierungssystems. Wenn in der Vergangenheit wichtige Elemente der amerikanischen rule of law – wie das (unübersetzbare) due process-Prinzip oder die Normenkontrolle durch den Supreme Court – zu einer »nicht abreißenden Kette von Mißverständnissen« geführt haben, weil die Gedankenwelt des amerikanischen Liberalismus und Pluralismus in diametralem Gegensatz zur obrigkeitsstaatlichen Rechtsauffassung besonders der Deutschen stand, so hebt Fraenkel umgekehrt auch die »anderen«, die konvergenzfördernden Tatsachen hervor, die sich freilich erst im 20. Jahrhundert durchgesetzt haben: Während es in den USA erst im Gefolge des New Deal zu einer progressiven Sozialgesetzgebung und endlich auch zur Rationalisierung und Verrechtlichung der Staatsverwaltung kam, d.h. zur Übernahme europäischer Errungenschaften in den amerikanischen Staatsauf bau, hat die europäische Erfahrung der letzten Jahrzehnte, konkret die Bedrohung durch totalitäre Bewegungen und Regime dazu geführt, »dass die Verwandtschaft zwischen Rechtsstaat und rule of law stärker empfunden wird, als dies in der Vergangenheit der Fall war«51. Mit der Akzentuierung der Totalitarismuserfahrung in Europa einerseits, der sozialstaatlichen Differenzierung und Abfederung des amerikanischen Wirtschaftsliberalismus andererseits sind die Eckpunkte ge50 | Ebd., S. 645. 51 | Ebd., S. 677.
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nannt, über die Fraenkels hermeneutische Rekonstruktion läuft und die er auf einen harmonischen Fluchtpunkt ausrichtet, um das zweite (in seiner Reihenfolge das dritte) der genannten Vorurteile zu entkräften. Und tatsächlich hebt er, nicht ohne eine paradoxe Umkehrung des Verhältnisses von »Kultur« und »Zivilisation« anzumerken, auf einen folgenreichen Wandel des kulturellen Gesamthorizontes ab, wenn er in Anspielung auf den Doyen der europäischen Kulturgeschichte, auf Jakob Burckhardt resumiert: »Die Möglichkeit, dass die Reste der christlichen Kultur ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod von Amerika – und nur von Amerika – vor dem Untergang bewahrt werden sollten, lag außerhalb seines Vorstellungsvermögens. Ein reeuropäisiertes Amerika hat Europa gerettet; dank seiner Rettung durch Amerika wurde Europa amerikanisiert«.52 Hier ist nicht der Ort, um die institutionellen und funktionellen Details der Regierungspraxis zu erörtern, die Fraenkel im letzten Kapitel seiner Darstellung des amerikanischen Systems ausführlich untersucht. Es muss genügen, den synthetischen Gedanken zu erfassen, der ihr zugrunde liegt. Nichts bietet sich dafür mehr an als das Prinzip der Gewaltenteilung, das nicht nur zu den traditionsreichsten Topoi der politischen Ideengeschichte zählt, sondern auch sachlich darauf abzielt, das funktionelle Zusammenwirken der einzelnen Gewalten als einen Vorgang der gegenseitigen Kontrolle und Beschränkung vorzustellen. Der angelsächsische terminus technicus dafür lautet »checks and balances«, und es ist präzise die historische und funktionale Ausbuchstabierung dieses Prinzips, die Fraenkel ins Feld führt, um Argumente gegen das letzte der genannten Vorurteile aufzubieten, die Vorstellung nämlich, dass die höchste Wertvorstellung der amerikanischen politischen Kultur in der »efficiency« liege. Wenn irgendwo »efficiency« zum alleinigen Steuerungsfaktor des politischen Lebens geworden sei, dann in den politischen Ideologien des Faschismus und des Nationalsozialismus, also in Europa. Das politische System der USA dagegen sei insgesamt dadurch charakterisiert, dass das Lebensrecht der staatlichen Teilgewalten nur in ihrer gegenseitigen Differenzierung und Kontrolle liege. In diesem Sinne wird die starke Stellung des amerikanischen Präsidenten als Spitze der Exekutive keineswegs abgeleugnet, doch als seine Gegenspieler treten die gesetzgebenden Körperschaften, Kongress und Senat prägnant hervor, die ihrerseits in einem gegenseitigen Kontroll52 | Ebd., S. 699.
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verhältnis stehen, ebenso wie der Judikative eine unabhängige Rolle im Geschäft der Machtdifferenzierung zufällt, nicht zu vergessen die »vierte Gewalt«, die öffentlichen Meinung, die für Fraenkel der organische, wenngleich immer wieder bedrohte Hort für das Fortwirken der genuin ideellen Faktoren im politischen Leben Amerikas war und ist. Hier hebt Fraenkel, analog zur Vorstellung von den »gemein-europäischen Wurzeln der westlichen Demokratie«, vor allem zwei hervor: »die Stärke der spezifisch amerikanischen politischen Tradition und die generelle Anerkennung der Grundprinzipien eines rationalen Naturrechts«.53 Es ist vielleicht eine idiosynkratische, sicherlich aber konsequente Pointe, wenn Fraenkel seine Darstellung des amerikanischen Regierungssystems mit der These beendet, dass dessen bemerkenswertester Charakterzug seine »Kompliziertheit« sei und dass gerade darin das stärkste Unterpfand gegen die falsche und übertriebene Sehnsucht nach dem »starken Staat« liege, die in Europa so großes Unheil angerichtet habe.
IV. A merika als I dol? N ormative V erwestlichung der politischen K ultur Fraenkels Sinnen und Trachten in der Bundesrepublik, sein Reden, Lehren und Schreiben war kein innerakademisches Unterfangen, es war offensichtlich Teil eines politischen Aufklärungsprojektes, das auf die Transformation der politischen Kultur gerichtet war. Sein erklärtes Ziel bestand darin, die antidemokratischen Überzeugungen und Traditionen, die das Desaster des Nationalsozialismus überdauert hatten, abzubauen und durch Wertvorstellungen und Wissensbestände zu ersetzen, die der neu installierten Demokratie eine verlässliche kulturelle Grundlage zu geben versprachen. Damit gehört Fraenkel und die von ihm vertretene Auffassung von Politikwissenschaft in einen größeren zeitgeschichtlichen Zusammenhang, der von der neueren Forschung unter Leitbegriffe wie »Verwestlichung« oder »Amerikanisierung« gestellt wird.54 53 | Ebd., S. 832. 54 | Vgl. z.B. Anselm Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999; Heinz Bude/Bernd Greiner (Hg.), Westbindungen. Amerika in der Bundesrepublik, Hamburg 1999.
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Deren Problematik liegt, wie so oft bei der Eröffnung neuer und großer Forschungsperspektiven, in terminologischen Unschärfen; sie ergeben sich daraus, dass globale Prozesse und spezifische Entwicklungspfade zu kurzsichtig übereinanderprojiziert oder gar gleichgesetzt werden. Ein Indikator dieser Problematik ist regelmäßig die irritierende Erfahrung, dass das historische Belegmaterial gleichsam durch die Poren der zu groben Begriffsfilter hindurchfällt. Fraenkels Nachkriegswirken hat dagegen den entschiedenen Vorteil einer vergleichsweise präzisen Sprechweise. Sein politikwissenschaftliches Werk erhält durch die vergleichende Ausrichtung in Richtung Westeuropa und Amerika sowie durch seine Zentrierung auf den Typus der westlichen Demokratie ein eindeutiges Profil; und es stellt einen absichtsvollen Zusammenhang zwischen wissenschaftlichen Methoden und politischer Zielsetzung her und macht dadurch anschaulich, was man unter einem »politikwissenschaftlichen Kulturalismus« oder auch einer »interkulturellen Hermeneutik« zu verstehen hat: eine intellektuelle Praxis, die auf die Veränderung der politischen Kultur zielt. Eben dies ist auch die Denkrichtung, die sich in der Debatte der Zeithistoriker darüber herausschält, wie die Leitbegriffe beschaffen sein müssen, um den dramatischen Wandel der westdeutschen Nachkriegsgeschichte zu verstehen. So sehr dieser Wandel als ein vielfach konditionierter Gesamtprozess erscheint, an dem die weltpolitische Kräftekonstellation ebenso mitwirkte wie die vielen Agenten der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Modernisierung – als ausschlaggebend für die Formierung der politischen Kultur könnten sich die gezielten Impulse einer wissenschaftlich-kulturellen Elite erweisen, der es gelang, das politische Empfinden der westdeutschen Bevölkerung an den Stromkreis des westlichen Denkens anzuschließen und damit den ideellen Horizont insgesamt zu verändern. Diesen Vorgang, der so spezifisch wie folgenreich war, mag man neudeutsch als »politisch-ideelle Westernisierung« bezeichnen und vom allgemeineren Begriff der »Amerikanisierung« abgrenzen.55 Ich möchte eher vorschlagen, von der »normativen Verwestlichung der politischen 55 | So Anselm Doering-Manteuffel, Westernisierung. Politisch-ideeller und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik bis zum Ende der 60er Jahre, in: Axel Schildt/Detlef Siegfried/Karl Christian Lammers (Hg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, S. 311-341.
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Kultur« zu sprechen, nicht zuletzt weil dadurch eine Kehrseite in den Blick gerät, die unabdingbar für jeden wirklichen Kulturwandel ist.56 Ich meine die Tatsache, dass diese Verwestlichung ohne normative Prämissen nicht zu haben war, dass sie nicht wirklich ausbalanciert, sondern im amerikanischen Sinne »biased« war, also einer Tendenz ausgesetzt, die sich trotz aller hermeneutischen Reflexion, vielleicht sogar mittels ihrer durchgesetzt hat. Mit anderen Worten: War ein Stück kruder »Amerikanisierung« selbst in den sublimen Formen der neuen Politikwissenschaft, also auch bei Fraenkel am Werke? Die USA nicht nur als politisches Ideal, sondern eben auch als wissenschaftlich vermitteltes »Idol«? In der Tat finden sich Anhaltspunkte für diese Vermutung! Fraenkels Amerika-Studien sind von idealisierenden und verklärenden Tendenzen keineswegs frei. Das beginnt mit der Stilisierung der historischen Kontinuität des amerikanischen Verfassungslebens, wodurch die »founding fathers« als politische Heroen noch der Gegenwart erscheinen und jede ideologiekritische Frage nach dem Verhältnis von Verfassungsidee und Verfassungswirklichkeit zum Sakrileg zu werden droht. Das setzt sich fort in der mehr oder weniger distanzlosen Einstellung gegenüber der obersten Rechtssprechung, deren außerordentliche Machtfülle – Verrechtlichung politischer Entscheidungen nennt man es heute – ein demokratisch höchst zweideutiges Phänomen ist. Es ist auch kein Zufall, dass Fraenkel das »American Dilemma«, wie Gunnar Myrdal es genannt hat, d.h. die Fortsetzung der Rassendiskriminierung unter den Bedingungen der rechtlichen Gleichheit ausgesprochen beiläufig abtut, wenn nicht beschönigt. Vor allem aber wird an Fraenkels verschiedenen Analysen zur amerikanischen Außenpolitik offensichtlich, dass er es bei der verständlichen Abwehr des Antiamerikanismus nicht bewenden ließ, sondern dass er über weite Strecken dem weltpolitischen credo des Kalten Krieges huldigte, d.h. die konkreten Erscheinungsformen der »pax Americana« sehr viel kritikloser hinnahm als z.B. die Vertreter des »political realism« (Hans J. Morgenthau) in den USA selbst.57 Der Konflikt mit der Berliner Studentenbewegung zu Ende der 60er Jahre war also, angesichts der Eskalation des Vietnam-Krieges, geradezu vorprogrammiert. 56 | Vgl. dazu meinen Aufsatz: Normative Verwestlichung (Fn. 23). 57 | Zu nennen sind die Aufsätze Ernst Fraenkel, USA – Weltmacht wider Willen [1957], in: ders., Gesammelte Schriften Bd. 4 (Fn. 14), S. 225-259 sowie ders., Grundzüge amerikanischer Außenpolitik [1966], ebd., S. 932-944.
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Der britische Politikwissenschaftler Bernard Crick, dem wir eine der besten Darstellungen der amerikanischen Politikwissenschaft verdanken, hat anlässlich einer kritischen Besprechung von Hannah Arendts Amerika-Buch, ihrem 1963 publizierten »On Revolution« die süffisante Bemerkung gemacht, dass jeder prominente Hitler-Flüchtling, der den USA seine Rettung verdanke, seinem Gastland wenigstens einmal im Leben eine große Huldigung schuldig sei: »Every German American does it once in gratitude«.58 Eine ähnliche psychologische Dynamik war offensichtlich auch bei Fraenkel wirksam, wie die Schlussapotheose seines Amerika-Buches beweist, die vielleicht als kritisches Gegenstück zum berühmten Eingangskapitel: »Der Staat als Kunstwerk« in Jakob Burckhardts »Kultur der Renaissance« gedacht war, aber zu seiner problematischen Nachahmung geriet: »Wenn bei dem Studium des amerikanischen Regierungssystems der Eindruck entstanden sein mag, dass es allzu künstlich, wenn nicht gar gekünstelt sei, sollte darüber nicht verkannt werden, dass ihm eine geniale künstlerische Vision zugrunde liegt. Das großartigste Kunstwerk, das die westliche Hemisphäre hervorgebracht hat, sind die Vereinigten Staaten von Amerika«59. Crick wollte die heroisierenden Züge an Hannah Arendts AmerikaBild erklären, nicht entschuldigen. Vielleicht heißt es, eine ähnliche Differenzierung in die historische Perspektive zu bringen, wenn man sich fragt, ob es unter den spezifischen Bedingungen der frühen Bundesrepublik nicht einer gewisser Idealisierung Amerikas bedurfte, weil nur auf diese Weise der immer noch spürbare antidemokratische Trend in der deutschen Geschichte zu brechen war.
58 | Bernard Crick, Revolution vs. Freedom, in: London Observer, 23. Februar 1964. 59 | Fraenkel, Das Amerikanische Regierungssytem (Fn. 45), S. 834.
Postheroische Verwaltung: Fritz Morstein Marx Margrit Seckelmann
I. F rit z M orstein M ar x als W issensmakler der V erwaltungswissenschaf t (en) Verwaltungswissenschaft – was ist das eigentlich? Und gibt es das überhaupt im Singular? Während im angloamerikanischen Sprachraum, vor allem in den USA, »Public Administration« eine sehr angesehene Disziplin ist, die beispielsweise an der John F. Kennedy School of Government der Harvard University angeboten wird, herrschen im deutschen Sprachraum immer noch große Unsicherheiten darüber, ob es »die« Verwaltungswissenschaft gibt oder ob man nur von mehreren »Verwaltungswissenschaften« sprechen kann.1 Einer der Gründerväter einer modernen Verwaltungswissenschaft, der die-
1 | Dazu statt vieler Klaus König, Moderne öffentliche Verwaltung. Studium der Verwaltungswissenschaft, Berlin 2008, S. 37ff. sowie die Beiträge in Jan Ziekow (Hg.) Verwaltungswissenschaften und Verwaltungswissenschaft. Forschungssymposium anlässlich der Emeritierung von Univ.-Prof. Dr. Dr. Klaus König, Berlin 2003.
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se auch ein wenig von dem vorwiegend praxeologischen Zugang der »Verwaltungslehre« befreite,2 war Fritz Morstein Marx.3 Verwaltungswissenschaft könnte mit ihm als die Frage danach definieren, wie der Staat und seine Verwaltung arbeitsfähig werden und bleiben. Wilhelm Hennis, der Fritz Morstein Marx über dessen gemeinsames Heidelberger Seminar4 mit Carl Joachim Friedrich5 begegnet war,6 hat im Jahr 1965 das Programm einer Regierungs- und Verwaltungslehre einmal so formuliert: »Wie gewinnt ein Staat Handlungsfähigkeit, wie organisiert er seine Arbeit, welches sind die optimalen Instrumente zur Erfüllung seiner Aufgaben?«7 An der Formulierung dieses Forschungsprogramms hatte Fritz Morstein Marx erheblichen Anteil. Nach dem heutigen Urteil der beiden Verwaltungswissenschaftler Jörg Bogumil und Werner Jann war der von Fritz 2 | Dazu Margrit Seckelmann, Die Geburt der Verwaltungswissenschaft aus dem Geiste der Demokratie: Fritz Morstein Marx (1900-1969), in: Carsten Kremer (Hg.), Die Verwaltungsrechtswissenschaft der frühen Bundesrepublik (1949-1977), Bd. 1: Personen, S. 89-106. Der Begriff der »Verwaltungslehre« wird allerdings oftmals auch wissenschaftlich verstanden, so eigentlich schon von Lorenz von Stein, spätestens aber von Werner Thieme, vgl. ders., Verwaltungslehre, 1. Aufl., Köln 1969. Ebenso soll nicht bestritten werden, dass Morstein Marx’ Ansatz auch und gerade praxeologische Teile enthält – aber eben nicht nur. 3 | Dazu Margrit Seckelmann, »Mit Feuereifer für die öffentliche Verwaltung«: Fritz Morstein Marx – Die frühen Jahre (1900-1933), DÖV 66 (2013), S. 401-415; dies., »Mit seltener Objektivität«: Fritz Morstein Marx – Die mittleren Jahre (1934-1961), DÖV 67 (2014), S. 1029-1048. 4 | Die Hochschule für Verwaltungswissenschaften (HfV) Speyer hatte zu diesem Zeitpunkt noch kein Promotionsrecht, sie kooperierte insoweit mit der Universität Heidelberg, an der Morstein Marx auch seit Juli 1967 Honorarprofessor war. 5 | Zu diesem Stephan Kirste, Carl Joachim Friedrich (1901-1984), in: Peter Häberle/Michael Kilian/Heinrich Amadeus Wolff (Hg.), Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts: Deutschland – Österreich – Schweiz, Berlin 2015, S. 555. 6 | Diese Information verdanke ich Prof. Dr. Dr. Klaus König, Speyer; vgl. auch ders., Morstein Marx, Fritz, in: NDB 18 (1997), S. 159-160. 7 | Wilhelm Hennis, Aufgaben einer modernen Regierungslehre, in: Politische Vierteljahresschrift 6 (1965), S. 422-431, 429; dazu Jörg Bogumil/Werner Jann, Verwaltung und Verwaltungswissenschaft in Deutschland, 1. Aufl., Wiesbaden 2005, S. 26.
Postheroische Ver waltung: Frit z Morstein Mar x
Morstein Marx im Jahr 1965 herausgegebene Band »Verwaltung. Eine einführende Darstellung« wohl der erste, der das Konzept eines »arbeitenden Staates« (ein Ausdruck, der eigentlich von Lorenz von Stein stammt,8) für die Bundesrepublik Deutschland operationalisierte.9 Er konnte dabei an sein in den USA herausgegebenes, ähnlich aufgebautes Lehrbuch10 anknüpfen. Der deutschsprachige Sammelband enthielt im Urteil der Nachwelt »eine empirisch abgesicherte Darstellung der Strukturen und Funktionen moderner Verwaltungen, einschließlich normativer und präskriptiver Handlungsanleitungen«. 11 Morstein Marx’ Buch machte ernst mit dem Programm einer Public Administration als »progressive[r] Reformwissenschaft«, die (um erneut Jörg Bogumil und Werner Jann zu zitieren) zumindest bis Ende der 1930er Jahre in den USA als »Königin der Politikwissenschaft« gegolten habe. Hierzu trug die Trennung zwischen Regierung und Verwaltung bei, wie sie Woodrow Wilson in seinem Aufsatz »The Study of Administration« 1887 formuliert hatte12 und wie sie sich in den 1920er Jahren mit der »Scientific Management«-Bewegung Frederick Taylors und Henri Fayols verband.13 Genau in dieser systematische Analyse und Weiterentwicklung moderner administrativer Instrumente und Konzepte wie »Stab- und Linienorganisation« und anderer Versuche, eine effiziente Arbeitsteilung mit »Spezialisierung und gleichzeitig Koordination und Hierarchie«14 bestmöglich zu vereinen, bestand Morstein Marx’ besondere Expertise, die ihn zu Beginn der 1960er Jahre auch für die Bundesrepublik Deutschland interessant machte und zu einem Agenten des Wissenstransfers im
8 | Der Begriff des »arbeitenden organischen Staats« findet sich zunächst bei Lorenz von Stein, Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Gesetzgebung und der Literatur von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen, 1. Aufl., Stuttgart 1870, S. 44. 9 | Bogumil/Jann, Verwaltungswissenschaft (Fn. 7), S. 27. 10 | Fritz Morstein Marx (Hg.), Elements of Public Administration, Prentice Hall 1946. 11 | Bogumil/Jann, Verwaltungswissenschaft (Fn. 7), S. 27. 12 | Woodrow Wilson, The Study of Administration, in: Political Science Quarterly 2 (1887), S. 197-222. 13 | Bogumil/Jann, Verwaltungswissenschaft (Fn. 7), S. 29. 14 | Ebd.
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Sinne von Marita Krauss15 beziehungsweise zu einem »Wissensmakler« im Sinne von Christian Fleck16 werden ließ. Wie immer würzte Morstein Marx auch in seinem Band von 1965 analytische Beschreibungen mit Humor und einem Verständnis für die Verwaltungsmitarbeiter.17 So lautet der vierte Teil seines Abschnitts über »Bürokratisierung und Leistungsordnung«: »Wie läßt sich der Amtsschimmel zügeln?« mit den Zwischenüberschriften »Gewöhnung an frische Luft«, »Würdigung des Verwaltungsprodukts« und »Verantwortlichkeit der beruflichen Leitungskräfte«. Letzteres, also die verstärkte Kompetenzausstattung der Entscheidenden ›vor Ort‹ wird später, nämlich im Rahmen der New Public Management-Bewegung der 1990er und 2000er Jahre,18 eine Rolle spielen. Morstein Marx’ ebenso pragmatische wie wissenschaftsgestützte Verbindung moderner Managementlehren mit einem spezifischen Verständnis der Verwaltung als Organisation stellte den eigentlichen Bruch mit der im Nationalsozialismus herrschenden Auffassung von Verwaltung als Befehlsempfängerin und als ausführendem Organ der Regierung dar.19
15 | Marita Krauss, Heimkehr in ein fremdes Land. Geschichte der Remigration nach 1945, München 2001, S. 155. 16 | Christian Fleck, Etablierung in der Fremde – Vertriebene Wissenschaftler in den USA nach 1933, Frankfurt/New York 2015, S. 336 (dort vor allem bezogen auf solche Intellektuelle, die anderen bei der »Etablierung in der Fremde« behilflich waren). 17 | Dazu Margrit Seckelmann, »Mit Verständnis für den Verwaltungsmann«: Fritz Morstein Marx – Die späten Jahre (1962-1969), in: Die Öffentliche Verwaltung 2017, S. 649-668. 18 | Hierzu grundlegend Veith Mehde, Neues Steuerungsmodell und Demokratieprinzip, Berlin 2000. 19 | Näheres differenzierter hierzu bei Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Band 3 (Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur 1914 – 1945), München 1999, S. 362f. Die Notwendigkeit der Rückbindung der Verwaltungsentscheidungen an den Willen des Volks und den das repräsentierenden Parlaments soll hier natürlich nicht bestritten werden, dazu grundlegend Horst Dreier, Hierarchische Verwaltung im demokratischen Staat: Genese, aktuelle Bedeutung und funktionelle Grenzen eines Bauprinzips der Exekutive, Tübingen 2001.
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Mit Carl Joachim Friedrich gehörte er zum sog. »neuen Realismus«20 der Administrative Sciences. Dieser war es gelungen, die sich auch in den USA gegen Ende der 1930er Jahre stellende Frage, ob sich Politik und Verwaltung in der Praxis immer ganz trennscharf unterscheiden ließen,21 dahingehend aufzulösen, dass auf allgemeine Prinzipien des Verwaltungshandelns zugunsten der Analyse politikfeldspezifischer Regeln und Institutionen verzichtet wurde.22 Hieraus habe sich – so Bogumil und Jann – die »Public-Policy-Bewegung« entwickelt, die zum einen »die Dominanz der klassischen Public Administration Programme« beendet habe und zum anderen zum »Hauptinspirator der sich in dieser Zeit entwickelnden deutschen Verwaltungswissenschaft« geworden sei.23 In seiner zugespitzt-ironischen Art des Schreibens, der Entdeckung von Paradoxien (bzw. von »Zauberformeln der Bürokratie«, wie er es nennt) und in seiner Ernstnahme der Verwaltung und ihrer Routinen erinnert Morstein Marx übrigens an einen anderen Speyerer, Niklas Luhmann.24 Morstein Marx und den Ule-Schüler25 verband aber eher ein respektvolles Nichtverhältnis, auch wenn manche der frühen LuhmannWerke wie »Lob der Routine«26 gelegentlich Bilder aufweisen, die an Morstein Marx erinnern27 und – möglicherweise über Luhmann – Parsons
20 | Bogumil/Jann, Verwaltungswissenschaft (Fn. 7), S. 31. 21 | Herbert A. Simon, Administrative Behavior: a Study of Decision-Making Processes in Administrative Organization [New York 1947], 3. Aufl. London 1976. 22 | Bogumil/Jann, Verwaltungswissenschaft (Fn. 7), S. 31. 23 | Ebd., S. 31. 24 | Zum Verhältnis von Luhmann und Morstein Marx auch Seckelmann, Geburt (Fn. 2). 25 | Zu Ule vgl. Jakob Nolte, Carl Hermann Ule: Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit im demokratischen Rechtsstaat, in: Carsten Kremer (Hg.), Die Verwaltungsrechtswissenschaft der frühen Bundesrepublik (Fn. 2), Bd. 1, S. 203-230. 26 | Niklas Luhmann, Lob der Routine, in: Verwaltungsarchiv 55 (1964), S. 1-33. 27 | So werden Morstein Marx’ Ausführungen über den »Amtsschimmel« oftmals Luhmann zugeschrieben, wie die Verfasserin in zahlreichen Gesprächen feststellen durfte.
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und dessen Systemtheorie vorsichtig rezipierte.28 Was Morstein Marx hingegen definitiv ablehnte, waren Großtheorien.29 Ihm ging es vielmehr um etwas, was später der Luhmann-Schüler Dirk Baecker als »postheroisches Management«30 bezeichnen sollte, nämlich um Führung jenseits der Illusion totaler Kontrolle. In dem bereits erwähnten Band »Verwaltung« von 1965 schrieb Morstein Marx hierzu: »Aus der Erfassung seiner eigenen Aufgabe im Rahmen der allgemeinen Bürokratisierungstendenzen muß der leitende Beamte sich selbst von den Einwirkungen der Interessenfragmentierung in der Großorganisation freizuhalten wissen. […] Er muß sich bemühen, in seinem Denken und Handeln von den offenen Fragen der industriellen Gesellschaft auszugehen, die eigene Behörde als Frontabschnitt des gesamten Verwaltungssystems zu verstehen und ihre Wirksamkeit als Beitrag nach außen zu würdigen, mit den Augen des Abnehmers ihrer Erzeugnisse. Aus seiner intimen Kenntnis der Zauberformeln der Bürokratie kann der leitende Beamte am ehesten den Verzerrungen des bürokratischen Wesens entgegen wirken.« 31
Wogegen Morstein Marx also kämpfte, waren die »Verzerrungen des bürokratischen Wesens«32 , nicht die Bürokratie selbst, die er in seiner »Einführung in die Bürokratie« einmal folgendermaßen rechtfertigte: »Es ist kaum überraschend, dass es [das französische, eigentlich pejorative Wort »bureaucratie«, M.S.] im 19. Jahrhundert auch in Deutschland in Mode kam, wo sich ein hochentwickeltes, aber dem Geist der Autorität unterworfenes Beamtentum dem Geist liberaler Ideen ausgesetzt sah. Ja, die Deutschen griffen das fran-
28 | Fritz Morstein Marx, Stand der Verwaltungswissenschaft, in: ders. in Verbindung mit Erich Becker und Carl Hermann Ule (Hg.), Verwaltung. Eine einführende Darstellung, Berlin 1965, S. 34-51, 50. 29 | So schrieb er etwa das Wort »System« immer in Anführungsstrichen, vgl. Morstein Marx, Das Dilemma des Verwaltungsmannes, Berlin 1965, S. 67. 30 | Dirk Baecker, Postheroisches Management. Ein Vademecum, Berlin 1994. 31 | Fritz Morstein Marx, Bürokratisierung und Leistungsordnung, in: ders. in Verbindung mit Erich Becker und Carl Hermann Ule (Hg.), Verwaltung (Fn. 29), S. 6984, 84. 32 | Ebd., Hervorhebung durch die Verfasserin.
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zösische Wort so freudig auf, dass es nicht lange dauerte, bis sie ihm teutonische Zöpfe geflochten hatten und es ›Bürokratie‹ buchstabierten«. 33
Und, nach einer Bezugnahme auf Max Weber heißt es dann etwas später: »›Schreibtischregierung‹ ist so [verstanden] zweifellos ein Wort ohne Schrecken. Es deutet auf Überlegung und Planung hin, auf Sichtung von Sachverhalten, auf wohlerwogene Entscheidungen, auf rationell eingestellte Leitung und Zusammenfassung von ineinandergreifenden Handlungen, auf voraussehbare Leistungen und auf Gewißheit von Ergebnissen.« 34
Hier ist man nahe an der Bürokratietheorie Max Webers, der bekanntlich – aber mit immer wieder distanzierenden Untertönen gegenüber dem Beamtenapparat eine bürokratisch arbeitende Verwaltung als Mittel einer rationalen Legitimation von Herrschaft kennzeichnete.35 Ebenso sehr klingen in der Forderung, danach, »die eigene Behörde als Frontabschnitt des gesamten Verwaltungssystems zu verstehen«,36 sowohl das an, was das New Public Management heute unter dem »front office« versteht,37 wie auch Vannevar Bushs Vorstellung von der »science« als »endless frontier«38 – und letztlich auch das, was man in Anlehnung an Renate Mayntz als
33 | Morstein Marx, Einführung in die Bürokratie. Eine vergleichende Untersuchung über das Beamtentum, Neuwied 1959 (eigenhändige Übersetzung der englischsprachigen Originalausgabe The Administrative State. An Introduction to Bureaucracy, Chicago 1957), S. 30. 34 | Ebd., S. 32. 35 | Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, [Tübingen 1922], 5. Aufl., Studienausgabe, Tübingen 1980, § 2; dazu Abschnitt 5 dieses Beitrags. 36 | Morstein Marx Einführung in die Bürokratie (Fn. 33), S. 30. 37 | Gerhard Banner, Von der Behörde zum Dienstleistungsunternehmen – ein neues Steuerungsmodell für die Kommunen, in: Verwaltung, Organisation, Personal 14 (1991), S. 3-7. 38 | Science, the endless frontier. A Report to the President by Vannevar Bush, Director of the Office of Scientific Research and Development, July 1945.
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»Interdependenzmanagement«39 bezeichnen kann, nämlich den um die Eigengesetzlichkeiten der Verwaltung wissenden Versuchs ihrer Leiter, die Fäden noch irgendwie in der Hand zu behalten.40
II. Z u seiner B iogr aphie 1. Die Jugend, Studienzeit und erste berufliche Erfolge (1900 – 1933) Wie kam Fritz Morstein Marx nun zu seiner Rolle als »transatlantischer Mittler« 41 oder als »Wissensmakler« der Administrative Science[s]? Morstein Marx war als ältestes von drei Geschwistern im idyllischen Hamburger Vorort Alsterdorf42 aufgewachsen.43 Er hatte dort von seinen reformpädagogisch (aber zugleich politisch konservativ44) eingestellten Eltern eine recht unkonventionelle Erziehung genossen, an deren Ende er sich selbst auf einem neu eingerichteten Realgymnasium eingeschult und dort das (Not-)Abitur abgelegt hatte, bevor er als Kriegsfreiwilliger 1918 eingezogen wurde. Aus verstörenden Erlebnissen beim sog. »Hamburger Wachensturm« nach dem Ende des ersten Weltkriegs, an dem er (noch) als Mitglied eines Freikorps (der sog. »Bahrenfelder«) teilgenom-
39 | Renate Mayntz, Politische Steuerung: Aufstieg, Niedergang und Transformation einer Theorie, in: Klaus von Beyme/Claus Offe (Hg.) Politische Theorien in der Ära der Transformation (= PVS Sonderheft 26), Opladen 1996, 148-168, 159. 40 | Insofern auch nicht ganz unähnlich dem Ansatz von Hellmut Willke, Ironie des Staates. Grundlinien einer Staatstheorie polyzentrischer Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1992, jedoch stärker steuerungstheoretisch, vgl. Seckelmann, Die Geburt der Verwaltungswissenschaft (Fn. 2). 41 | Begriff nach Konrad H. Jarausch, Amerikanische Einflüsse und deutsche Einsichten. Kulturelle Aspekte der Demokratisierung Westdeutschlands, in: Arnd Bauerkämper/ders./Markus M. Payk (Hg.), Demokratiewunder. Transatlantische Mittler und die kulturelle Öffnung Westdeutschlands 1945 – 1970, Göttingen 2005, S. 57 (71), sowie Seckelmann, Objektivität (Fn. 3), S. 1029f. m.w.N. 42 | Später zu Hamburg gehörig. 43 | Geboren war er allerdings (noch) in Hamburg. 44 | Das galt zumindest für den Vater, der der DNVP zuneigte.
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men hatte, hatte Fritz ein Leben lang Angst vor politischen Unruhen zurückbehalten.45 Nach einem Jurastudium in Hamburg, Freiburg, München und wieder Hamburg, das er unter anderem dadurch finanzieren konnte, dass ein Freund der Familie deren Silberbesteck in Zahlung genommen hatte, promovierte er im Jahr 1923 bei Kurt Perels in Hamburg. Nach seinem Zweiten Staatsexamen entschied sich Fritz im Jahr 1925 für eine Karriere in der Verwaltung, obwohl ihm auch eine solche in der Wissenschaft offen gestanden hätte. Denn er hatte nicht nur eine glänzende Promotion zum Parlamentsrecht46 vorgelegt, sondern auch vielbeachtete Aufsätze zum richterlichen Prüfungsrecht,47 aber auch zu ganz praktischen Problemen aus dem (Hamburgischen) Verwaltungsrecht geschrieben.48 Vor allem aber gehörte er zum Beschäftigtenkreis des Instituts für Auswärtige Politik von Albrecht Mendelssohn Bartholdy,49 den er über Magdalene (Maria Magdalena) Schoch50 kennengelernt hatte und mit der er zu dieser Zeit eine Beziehung führte. Morstein Marx machte eine rasante Karriere in der hamburgischen Verwaltung und hatte, wie es sein anderer Förderer, der damalige Erste Bürgermeister Hamburgs, Carl Petersen, bemerkte, »das Zeug dazu, einmal Bürgermeister von Hamburg zu werden«, nur werde Fritz »das Zeug dazu nie anziehen«51 (eine Bemerkung, die auf Fritz’ eher informellen Kleidungsstil gemünzt war). Für das Studienjahr 1930/31 erhielt Fritz
45 | Weiteres dazu bei Seckelmann, Objektivität (Fn. 3), S. 1045f. 46 | Fritz Morstein Marx, Beiträge zum Problem des parlamentarischen Minderheitenschutzes, Hamburg 1924. 47 | Bspw. Fritz Morstein Marx, Art. 13 Abs. 2 der Reichsverfassung und der Streit um die richterliche Prüfungszuständigkeit, AöR N. F. 6 (1924), S. 218-225; ders., Rechtswirklichkeit und freies Mandat, AöR N. F. 11 (1926), S. 430-450. 48 | Näheres dazu bei Seckelmann, Feuereifer (Fn. 3), S. 412. 49 | Zu diesem Gisela Gantzel-Kress, Mendelssohn Bartholdy, Albrecht, in: NDB 17 (1994), S. 62-63; Manfred Löwisch, Mendelssohn Bartholdy, Albrecht, in: Badische Biographien, N.F., Band 3, Stuttgart 1990, S. 184-186; Rainer Nicolaysen, Albrecht Mendelssohn Bartholdy (1874 – 1936), RabelsZ 75 (2011), S. 1-31. 50 | Zu ihr Rainer Nicolaysen, Für Recht und Gerechtigkeit. Über das couragierte Leben der Juristin Magdalene Schoch (1897-1987), ZHG 92 (2006), S. 113-143. 51 | Seckelmann, Feuereifer (Fn. 3), S. 404f. m. w. N.
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dann auf Vermittlung von Mendelssohn Bartholdy ein Stipendium des Laura Spelman Rockefeller Memorial Funds. Zurückgekehrt, setzte Fritz seine Karriere in der hamburgischen Verwaltung fort, die jäh dadurch unterbrochen wurde, dass er am 30. März 1933, also noch vor dem euphemistisch so bezeichneten Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, in den einstweiligen Ruhestand versetzt wurde, weil man ihn verdächtigte, Sozialdemokrat oder sonst »politisch unzuverlässig« zu sein. Er war wohl durch den Mann einer Sekretärin von Mendelssohn Bartholdy aufgrund seiner offenen Reden denunziert worden, die er im Institut für Auswärtige Politik geführt hatte.52 Obwohl er am 18. Oktober 1933 ein Schreiben der hamburgischen Senatsverwaltung erhielt, dass diese Vorwürfe gegen ihn nicht aufrechterhalten würden, entschloss sich Fritz dazu, zum 31. Oktober 1933 die Entlassung aus dem hamburgischen Verwaltungsdienst zu beantragen53 und zu emigrieren.54 Mit einer Einladung der American Political Science Association zu deren Jahrestagung am Bryn Mawr College, Pennsylvania, und einem Empfehlungsschreiben von Albrecht Mendelssohn Bartholdy in der Hand begab sich Fritz mit seiner kleinen Familie am 1. Dezember 1933 an Bord der S.S. City of Hamburg in eine ungewisse Zukunft.
2. Die Emigration 1933 Fritz Morstein Marx war, wenn man Christian Flecks Arbeiten zugrunde legt und zudem Max Webers Wort55 hierfür entlehnen darf, gleichsam der Idealtypus, der der Rockefeller Foundation mit ihren Stipendien in der Zwischenkriegszeit vorgeschwebt hatte. Er war ein aufstrebender junger deutscher, dezidiert demokratischer Verwaltungsmitarbeiter, der sich in 52 | Näheres dazu ebd., S. 414. 53 | Genauer gesagt, die Zusage zur der Dienstreise nach Chicago zu beantragen und, wenn diese nicht erfolgen solle, die Entlassung aus dem Verwaltungsdienst (vgl. Seckelmann, Feuereifer [Fn. 3], S. 414). Morstein Marx wusste oder ahnte zumindest, was er mit seinem Antrag auslösen würde – oder er nahm diesen sogar als Test dafür, wie offen bzw. wie autoritär das neue Regime war. 54 | Näheres dazu ebd. S. 414f. 55 | Zum Begriff des Idealtypus bei Max Weber vgl. grundlegend Uta Gerhardt, Idealtypus – Zur methodologischen Begründung der modernen Soziologie, Frankfurt a.M. 2001.
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den USA mit dem Konzept des Behavioralismus von Charles Merriam und anderen vertraut machte und dieses in der deutschen Verwaltungspraxis implementieren wollte.56 Fritz Morstein Marx hatte dabei sogar das Kunststück vollbracht, sich während seines Studienjahre vorwiegend bei Charles Merriam in Chicago aufzuhalten, sondern auch Merriams damalige Assistentin, Barbara Spencer Spackman, für sich zu gewinnen.57 Barbara folgte Fritz nach dessen Rückkehr nach Hamburg und heiratete ihn im Frühjahr 1932. Im selben Jahr kam ihre erste Tochter zur Welt, die ebenfalls Barbara genannt wurde.58 Insgesamt sollte er fünf Kinder mit ihr bekommen.59 Seine Abreise in den USA trat Fritz mit widerstreitenden Gefühlen an, da er sich nach langen Diskussionen von seiner Ehefrau hatte überzeugen lassen, dass im Hinblick auf seine kleine Familie (der Sohn Peter war bereits unterwegs) der Gang in die Emigration dem Widerstand zumindest in der aktuellen Situation vorzuziehen sei. Denn Barbara hatte sich beharrlich geweigert, ohne Fritz in die USA zurückzukehren, er befürchtete aber zu Recht, sie beide würden in Deutschland eher früher als später Ärger bekommen. Fritz scheint aus dieser Zeit jedoch ein schlechtes Gewissen mitgenommen zu haben, welches erklären könnte, dass er später seine vielversprechende Universitätskarriere in den USA (zumindest übergangsweise) mit dem Ziel beendete, an der Front in Europa als Soldat der US Army Deutschland zu befreien. Doch dazu später mehr.
56 | Die Offenheit der zukünftigen Stipendiaten für den sog sozialwissenschaftlichen »realistic approach« betont Christian Fleck, Transatlantische Bereicherungen. Zur Erfindung der empirischen Sozialforschung, Frankfurt a.M. 2007, S. 121, vgl. auch ebd., S. 493; zur Rolle Charles Merriam im Auswahlkomitee des Social Science Research Council vgl. ebd., S. 86. Zur Rolle des Behavioralismus allgemein vgl. Tim B. Müller, Krieger und Gelehrte. Herbert Marcuse und die Denksysteme im Kalten Krieg, Hamburg 2010, S. 214. 57 | Näheres dazu bei Seckelmann, Objektivität (Fn. 3), S. 1031 und 1042ff. 58 | Seckelmann, Objektivität (Fn. 3), S. 1031. 59 | Barbara (*1933), Peter (*1934), Maria Magdalena (*1935), Claire (*1938) und Ann (*1948).
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3. Die Etablierung in den USA (1933 – 1960) Kommt man nochmals zurück zu dem, was ich scherzhaft damit bezeichnet habe, dass Morstein Marx gleichsam der Idealtypus des Rockefeller Scholar war, so verwundert es nicht, dass er nach seiner Emigration im Dezember 1933 relativ schnell Karriere an US-amerikanischen Universitäten machte. Hierbei war er nicht direkt auf eines der sich bildenden Fluchthilfenetzwerke für Akademiker angewiesen, bei denen er als NichtHabilitierter wohl ohnehin keinen Anspruch auf Unterstützung gehabt hätte.60 Ihm kamen einige Faktoren zugute, die Christian Fleck als zentrale »Faktoren« für einen »Etablierungserfolg« definiert hat:61 Flexibilität, Sprachkenntnisse, ein gutes Netzwerk sowie eine gewisse Unterstützung durch die Ehefrau (die in Fritz’ Fall zudem die US-amerikanische Staatsbürgerschaft innehatte). »FMM«, wie er gerne genannt wurde, sprach nicht nur selbst sehr gut Englisch (er hatte – wie gesagt – als Stipendiat des Spelman Memorial Funds nicht nur ein Jahr lang 1930/31 die USA besucht und zuvor einen Studienaufenthalt in Großbritannien62 verbracht). Er wurde zudem unterstützt durch seine Frau Barbara, die ihm bei der Redaktion seiner Texte half, die – ebenso wie die deutschen – durch einen brillianten Sprachstil gekennzeichnet waren. Barbara war aber vor allem für die nächsten beiden Faktoren ausschlaggebend: Sie hatte nicht nur ihre Familie in den USA, die zwischenzeitlich auch eine Wohnmöglichkeit zunächst in Barbaras Geburtsort in der Nähe des Bryn Mawr Colleges und später bei dem ersten kleinen beruflichen Engagement von Fritz in einer collegevorbereitenden Out-of-Door-Academy in Sarasota, Florida, anbieten konnte.63 60 | Dazu Fleck, Etablierung (Fn. 16), S. 90. 61 | Dazu Fleck, Etablierung (Fn. 16), S. 401ff. 62 | In der Rede auf der Speyerer Gedenkfeier für Morstein Marx von Franz Knöpfle, abgedruckt in: Verwaltungsarchiv 61 (1970), S. 105-113, S. 108) war davon die Rede, Morstein Marx habe sich im Herbst 1928 zu Studienzwecken in England aufgehalten, was vom Reichsjustizministerium finanziert worden sei (ihm folgend Seckelmann, Feuereifer, S. 190). Allerdings zahlte auch die Rockefeller Foundation in den ersten Jahren den von ihr für einen USA-Aufenthalt ausgewählten Stipendiaten einen (vorwiegend sprachlichen) Vorbereitungskurs in London, vgl. Fleck (Etablierung [Fn. 56], S. 80). 63 | Seckelmann, Objektivität (Fn. 3), S. 1032.
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Barbara verfügte als ehemalige Assistentin von Charles Merriam über ein gutes Netzwerk, das für ihren Mann sich später noch gleichsam als lebensrettend herausstellen sollte, aber dazu später mehr. Zudem konnte sie, obwohl hochschwanger, wohl auch in eingeschränktem Umfang noch zur Lebenshaltung beitragen und gehörte damit zu den von Marita Krauss beschriebenen Frauen, die ihre Karriere (zunächst64) zugunsten der Etablierung ihres Mannes im neuen Land und der Versorgung der Kinder zurückgestellt hatten.65 All diese Umstände halfen Fritz bei der »Etablierung in der Fremde«66 – und mussten es auch, da Fritz – wie gesagt – als Nicht-Habilitierter nicht bei der Rockefeller-Stiftung und anderen »Mediator«organisationen67 antragsberechtigt war. Aufgrund seiner vor 1933 geknüpften Netzwerke, die sich mit denen seiner Frau verbanden, war die Etablierungszeit für Fritz mühsam, aber vergleichsweise kurz. Wie die meisten der Remigranten, die vorher juristische Berufe innegehabt hatten, fand er im Bereich der Political Science eine Aufnahme. Nachdem er im Sommer 1934 (nach der Zeit in Florida) für Luther Gulick, den er über Merriam kannte, für die Commission of Inquiry on Public Service Personnel eine Untersuchung angefertigt hatte, wechselte Morstein Marx in die Wissenschaft und begann mit einer Stelle als Instructor am Department for Political Science in Princeton.68 Er arbeitete sich schnell auf interessantere Positionen vor und war, nachdem er im Jahr 1939 US-amerikanischer Staatsbürger geworden war, im akademischen Jahr 1941/42 an der Columbia University tätig. Was ihn aber von dieser glänzenden wissenschaftlichen Karriere abbrachte, die sich ihm aufzutun schien, waren erneut seine eigenen Überzeugungen. Nach dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg wollte Fritz gegen den Rat seiner Freunde und seiner Frau an der Front Deutsch64 | Barbara Morstein Marx hatte in den 1940er Jahren ein Amt beim einflussreichen Committee of Women Voters inne, dazu Seckelmann, Objektivität (Fn. 3), S. 1031. 65 | Marita Krauss, Heimkehr in ein fremdes Land. Geschichte der Remigration nach 1945, München 2001, S. 111ff. 66 | Begriff nach Fleck, Etablierung (Fn. 16). 67 | Begriff nach ebd., S. 488 (Das Wort »Mediator« wird dort für die Mitarbeiter der Stiftungen gebraucht). 68 | Weiteres dazu bei Seckelmann, Objektivität (Fn. 3), S. 1035.
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land befreien. Er verlängerte daher seinen Arbeitsvertrag nicht, sondern versuchte, in die US Army aufgenommen zu werden. Als dieses zunächst daran scheiterte, dass Morstein Marx mit 42 Jahren zunächst als zu alt dafür galt, nahm er dankbar das Angebot des Leiters der Abteilung »Administrative Management« im Bureau of the Budget des US-Präsidenten an, für ihn zu arbeiten. Dieser Abteilungsleiter, Don Stone, rettete Fritz dann ein Jahr später wieder größten Nöten, in die Fritz sich selbst begeben hatte, weil er unbedingt an der Front Deutschland befreien wollte, obwohl das für Soldaten wie ihn, die selbst noch Verwandte in Deutschland hatten, nicht zulässig war. Auf die Details kann ich hier nicht eingehen,69 es handelte sich um eine haltlose Denunziation, die dafür sorgte, dass Fritz, der gerade mit glänzenden Vornoten das Offiziersexamen ablegte, mehr oder weniger direkt aus dem Prüfungssaal in ein Straflager überstellt wurde – das Examen war damit natürlich erfolglos beendet. Im September 1949 wurde das Verfahren gegen ihn eingestellt und er ehrenvoll aus der US Army entlassen, auch wenn er selbst sofort versuchte, wieder in diese aufgenommen zu werden.70 Es half ihm nichts, er musste froh sein, wieder einen (gut bezahlten) Posten im Bureau of the Budget antreten zu können. Dort arbeitete er bis ins Jahr 1959, auch wenn es ihm nach dem Wechsel von Roosevelt über Truman (ab 1945) zu Eisenhower (ab 1953) wohl etwas schwerer fiel, zumal er bei der Denunziation 1943 mit dem sog. »Dies Committee« in Berührung gekommen war, das man als Vorläufer der McCarty-Ära bezeichnen kann.71 In der US-Verwaltung lernte Morstein Marx auch seine zweite Frau, Virginia, kennen, mit der er zwei Söhne (Thomas und Robert) bekam (die Ehe mit Barbara war nach all den Belastungen, denen beide ausgesetzt waren, in die Brüche gegangen). Teilweise wohnte auch die Tochter Ann aus erster Ehe bei Fritz und Virginia. Da Morstein Marx stets auch Lehrtätigkeiten an US-amerikanischen Universitäten wahrgenommen hatte, war es ihm im Herbst 1959 möglich, erneut einen Karrierewechsel vorzunehmen, und zwar zurück in die Wissenschaft. Er bekam von der Ford Foundation eine Stiftungsprofessur finanziert, die auf seinen Wunsch hin an der Princeton University angesiedelt wurde. Diese verließ er nach einem Jahr wieder, um Dean des Hunter 69 | Dazu aber Seckelmann, Objektivität (Fn. 3), S. 1039f. 70 | Ebd., S. 1046. 71 | Näheres dazu ebd., S. 1041ff.
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College in New York City zu werden, eines angesehenen College, das ursprünglich ein Frauencollege gewesen war, aber seit den 1950er Jahren auch Männer aufnahm.
4. Die Remigration 1961/62 Im Jahr 1958 betrat Fritz – anlässlich des Todes seines Vaters und einer Vortragsreise durch Deutschland und die Niederlande72 – wohl erstmals wieder deutschen Boden. Er trug unter anderem an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer vor, natürlich über »Regierung und Verwaltung in den USA«,73 über die er auch gerade ein deutschsprachigen Aufsatz publiziert hatte.74 Dorthin wurde er dann auch im Frühjahr 1962 berufen, nachdem er zuvor ein Forschungssemester dort verbracht hatte. Er bezog mit Virginia, Ann, Thomas und Robert ein Haus in Heidelberg, da er bewusst Distanz zu den Speyerer Professoren suchte (und Anschluss an das oben erwähnte Heidelberger Seminar von Carl Joachim Friedrich). Was Fritz Morstein Marx gleichsam im Gepäck mitbrachte, war eine an den Grundsätzen des Behaviorismus und moderner Büroorganisation orientierte, demokratische Verwaltungsführung. War er als junger Hamburger City Manager 75 für die Rockefeller Foundation, die University of Chicago und das Brownlow Committee interessant gewesen, so war jetzt das in den USA erworbene, theoretische wie praktische Wissen das Kapital, das ihm den Ruf nach Speyer bescherte. Dort setzte er bis zu seiner Emeritierung im Frühjahr 1968 bzw. dem danach noch als eine Art »Lehrstuhlvertretung« verbrachten Sommersemester 1968 seine Forschungen über
72 | Näheres dazu ebd., S. 1046f. 73 | Vgl. die privaten Aufzeichnungen FMMs, ich danke Prof. Dr. Robert MorsteinMarx, Santa Barbara, für die Möglichkeit der Einsichtnahme. 74 | Fritz Morstein Marx, Amerikanisches Schrifttum zur öffentlichen Verwaltung, in: Verwaltungsarchiv 49 (1958), S. 48-72. 75 | Dieser Begriff bezeichnete zu der Zeit eigentlich so etwas wie den Oberstadtdirektor im Sinne der früheren nordrhein-westfälischen Kommunalverfassung, hier ist er im weiteren Sinne für Leiter wichtiger städtischer Behörden und Abteilungen gemeint.
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effiziente Verwaltungsführung, über Linien- und Stabsorganisation 76 und andere seinerzeit hochmoderne verwaltungswissenschaftliche Themen fort, bis er im Herbst 1969 bei einem Kletterunfall am Alten Schloss in Baden-Baden vor den Augen seiner Familie in eine Felsspalte stürzte und kurz darauf verstarb. Er hinterließ in Speyer nicht nur die Erkenntnisse über ein wahrhaft »wissenschaftsgestütztes Verwalten« (»scientific management«) im Sinne Taylors und Fayols, sondern auch den – seinerzeit ersten deutschen – Lehrstuhl für »Vergleichende Verwaltungswissenschaft« (und Öffentliches Recht), dabei wurde – seinem Vorschlag folgend 77 – der Begriff »Verwaltungswissenschaft« ganz selbstbewusst im Singular geschrieben.
5. Fritz Morstein Marx und Max Weber Um auf die Leitfrage dieses Sammelbandes zurückzukommen, inwieweit Max Webers Bürokratiekonzept über die Remigranten und von diesen vor den NS-Verfälschungen bewahrt den Weg in die Bundesrepublik Deutschland gefunden hat,78 so ist dazu zu sagen, dass hier natürlich keine unkritische »Erfolgsgeschichte« erzählt werden soll, die im Sinne eines ›Ende gut, alles gut‹ die vorhergehenden Ereignisse relativiert. Ebensowenig soll sie gleichsam von einem intellektuellen Paket handeln, das aus dem Deutschen Reich in die Vereinigten Staaten geschickt von dort aus ungeöffnet nach dem Zweiten Weltkrieg in die Bundesrepublik Deutschland weitergeleitet wurde (womit die DDR noch gar nicht betrachtet wäre). Auch müsste man tiefer, als es in diesem Rahmen möglich ist, in das Verhältnis zwischen den Remigranten, also zwischen dem jün76 | Vgl. exemplarisch Fritz Morstein Marx, Stabspraxis im Ausland: Gemeinsame Erfahrungen, in: Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer (Hg.), Die Staatskanzlei: Aufgaben, Organisation und Arbeitsweise auf vergleichender Grundlage, Berlin 1967, S. 117-142; ders., Intersections between Management Thinking and Political Thinking, in: Management International Review 7 (1967), S. 111-126; ders., Zum Ursprung des Stabsbegriffs in den Vereinigten Staaten: Zuwanderung und Anpassung, Köln 1968. 77 | Vgl. den Syllabus, den Fritz Morstein Marx zu den Berufungsverhandlungen mitbrachte. Ich danke ebenfalls Prof. Dr. Robert Morstein-Marx für die Möglichkeit der Einsichtnahme. 78 | Vgl. dazu den Beitrag von Uta Gerhardt in diesem Band.
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geren Morstein Marx und seinem ›väterlichen Freund‹ Arnold Brecht 79 sowie dem zwei Jahre älteren Ernst Fraenkel einsteigen, zu dessen Leben und Werk es tatsächlich zahlreiche Parallelen gibt.80 Hierauf (und auf das Verhältnis zu Carl Joachim Friedrich) soll an anderer Stelle näher eingegangen werden.81 Nachfolgend soll es in erster Linie um die Auseinandersetzung mit Max Weber gehen. Morstein Marx’ Lebensthema war die Rolle des Menschen in der Organisation »Verwaltung«, die er gegen Vorwürfe des »Bürokratismus« in Schutz nahm. Wie zuvor ausgeführt, war für Morstein Marx, der sich insoweit auch als Aufklärer empfand, »Bürokratie« ein Wort ohne »Schrecken«. 82 Vielmehr bildete ein (stets demokratisch eingebundener) Verwaltungsapparat für Morstein Marx das Rückgrat des demokratischen Rechtsstaats. Die Verwaltung ist für ihn, wie er in seinem mit »Einführung« überschriebenen Vorwort zu Niklas Luhmanns in Speyer entstandener Schrift »Formen und Folgen formaler Organisation« schrieb, »ihrem Wesen nach ›Apparat‹, ein durch Verantwortlichkeit verpflichtetes Mittel, das seine Zwecke nicht selbst bestimmt«, zugleich aber in ihrer konsultativen Funktion »sachkundiger Berater der Organe des politischen Willens«. 83 Morstein Marx’ zentrale Frage war stets diejenige, wie »der Mann der Verwaltung« (wohl eine Übersetzung von Herbert A. Simons »administrative man« 84 , angereichert mit den demokratischen Überzeugungen John Deweys85) nicht zu einem »Opfer der Einspannung in den Apparat« wird, sondern sich durch ihm zugestandene Entscheidungsfreiräume einerseits und ein hohes Beamtenethos andererseits« trotz aller wünschenswerden Routine »fortdauernde[] unabhängige[] Beobachtungen und frische[] Überlegungen« erhalten kann.86 Mit großem Einfühlungsver79 | Zu diesem vgl. den Beitrag von Corinna R. Unger in diesem Band. 80 | Vgl. dazu den Beitrag von Alfons Söllner in diesem Band. 81 | Etwa in Seckelmann, Verständnis (Fn. 17). 82 | Morstein Marx, Einführung, in: Niklas Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation, Berlin 1964, S. 32. 83 | Ebd., S. 8. 84 | Simon, Administrative Behavior (Fn. 21), S. 241. 85 | John Dewey, Human Nature and Conduct. An Introduction to Social Psychology, New York 1922. 86 | Morstein Marx, Einführung (Fn. 82), S. 9.
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mögen beschreibt Morstein Marx die Gebundenheiten der Verwaltungsmitarbeiter, die er zur Not auch gegen Max Weber selbst in Schutz nimmt. Die teilweise schneidigen Ausführungen Webers von 1917/18, seinerzeit als militärisches Mitglied an die Reserve-Lazarettkommission Heidelberg mit dem Auf bau des dortigen Lazarettwesens betraut, über den Kaiser als »Fatzke« 87 und die »unkontrollierte[] Beamtenschaft« 88 kommentierte Morstein Marx in dem kurz von seinem Tode erschienenen, von ihm herausgegebenen Sammelband »Gegenwartsaufgaben der öffentlichen Verwaltung« folgendermaßen: »Es entbehrt nicht des Tragikomischen, wenn man sich vor Augen ruft, mit welcher Vehemenz der Herr Hauptmann Weber, der mit langem Degen in einer Lazarettverwaltung in Heidelberg Kriegsdienst leistete, mit dem schwelenden Gesichtsausdruck eines biblischen Propheten über den Deutschen Kaiser als einen ›Fatzke‹ herzog und den Segen der parlamentarischen Regierungsform als Triumph über die Bürokratie proklamierte. Auch er stellte sich Reform an Haupt und Gliedern zu einfach vor.« 89
Ein wenig scheint aus diesen Ausführungen bei aller Parteinahme für die Bürokratie natürlich auch der Hochmut des »gedienten« jungen Soldaten gegenüber dem in der Lazarettverwaltung tätigen Offizier hervor, auch wenn – wie wir gesehen haben – Morstein Marx’ Versuche, an der Front eingesetzt zu werden, letztlich alle scheiterten (auch schon im Ersten Weltkrieg). Zudem tat er Weber natürlich Unrecht, denn dieser war 87 | Joachim Radkau, Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens, München/Wien 2005, S. 745. Diese Aussage wurde wohl ursprünglich überliefert von Berta Lask, zu dieser Andreas Anter, Männer mit Eigenschaften: Max Weber, Emil Lask und Georg Simmel als literarische Figuren in Berta Lasks Roman »Stille und Sturm«, in: Martin Lüdke (Hg.): Siegreiche Niederlagen: Scheitern: die Signatur der Moderne, Reinbek bei Hamburg 1992, S. 156-169. 88 | Max Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland. Zur politischen Kritik des Beamtentums und Parteiwesens, in: Johannes Winckelmann (Hg.), Gesammelte politische Schriften, Tübingen 1971, S. 306-253, 306-308 u. 320-368. 89 | Fritz Morstein Marx, Verwaltung im öffentlichen Bewußtsein, in: ders. (Hg.), Gegenwartsaufgaben der öffentlichen Verwaltung, Köln/Berlin/Bonn/München 1968, S. 411-423, 417.
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in seiner Auseinandersetzung mit dem von ihm »so verabscheuten kaiserlichen Maulhelden- und Dilettantentum[]«90 hin- und hergerissen zwischen seiner Vorstellung, dass das kämpfende Heer im Krieg von einem charismatischen Führer geleitet werden solle – und dem konkreten Kaiser Wilhelm II., der ihm sehr weit von seinem Idealtypus eines charismatischen Führers entfernt schien.91 Weber begründete seine spätere Hinwendung zur Demokratie dann auch damit, dass diese das bestmögliche Mittel »der Verbesserung der Führerauslese durch den parlamentarischen Kampf um die Macht« sei.92 Und natürlich resultierte sein vehementes Eintreten 1917 für eine Parlamentarisierung des Deutschen Reiches93 aus seiner Erkenntnis in die Notwendigkeit politischer Verantwortungsübernahme und Verantwortlichkeit durch die Regierung. Weber differenzierte insoweit – und an dieser Stelle verkürzte ihn Morstein Marx in dem oben genannten Zitat etwas – zwischen zwei verschiedenen Verantwortungstypen, derjenigen des (Berufs-)Politikers und derjenigen des Beamten, wie Weber dann auch 1919 in seiner berühmten Rede »Politik als Beruf« ausführte: »Der echte Beamte – das ist für die Beurteilung unseres früheren Regimes entscheidend – soll seinem eigentlichen Beruf nach nicht Politik treiben, sondern: ›verwalten‹, unparteiisch vor allem, – auch für die sogenannten ›politischen‹ Verwaltungsbeamten gilt das, offiziell wenigstens, soweit nicht die ›Staatsräson‹, d.h. die Lebensinteressen der herrschenden Ordnung, in Frage stehen. Sine ira et studio, ›ohne Zorn und Eingenommenheit‹ soll er seines Amtes walten. Er soll also gerade das nicht tun, was der Politiker, der Führer sowohl wie seine Gefolgschaft, immer und notwendig tun muß: kämpfen. Denn Parteinahme, Kampf, Leidenschaft – ira et studium – sind das Element des Politikers. Und vor allem: des politischen Führers. Dessen Handeln steht unter einem ganz anderen, gerade entgegengesetzten Prinzip der Verantwortung, als die des Beamten ist. Ehre des Beamten ist die Fähigkeit, wenn – trotz seiner Vorstellungen – die ihm vorgesetzte Behörde auf 90 | Radkau, Max Weber (Fn. 88), S. 711. 91 | Ebd., S. 711. 92 | Ebd., S. 761. 93 | Max Weber, Deutschlands Parlamentarismus in Vergangenheit und Zukunft, wieder abgedruckt in: Johannes Winckelmann (Hg.), Gesammelte politische Schriften, Tübingen 1971, S. 420; vgl. auch Wolfgang Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik, 3. Aufl, Tübingen 2004, S. 189.
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einem ihm falsch erscheinenden Befehl beharrt, ihn auf Verantwortung des Befehlenden gewissenhaft und genau so auszuführen, als ob er seiner eigenen Überzeugung entspräche: ohne diese im höchsten Sinn sittliche Disziplin und Selbstverleugnung zerfiele der ganze Apparat. Ehre des politischen Führers, also: des leitenden Staatsmannes, ist dagegen gerade die ausschließliche Eigenverantwortung für das, was er tut, die er nicht ablehnen oder abwälzen kann und darf.« 94
Letztlich machte Weber zwischen 1914-1918 eine ähnliche Entwicklung durch wie der jüngere Morstein Marx um 1919, der sich erst nach dem »Hamburger Wachensturm« und unter dem Einfluss der Hamburgischen Professoren und Förderer95 von seinem konservativen Vater löste und zu einem überzeugten Demokraten wurde (einem der wenigen, die die Weimarer Republik hatte). Anders als Weber, den Morstein Marx durchaus als »hervorragende[n] Vertreter des Geistes« bezeichnete,96 versprach sich dieser spätestens seit dem Regierungsende Roosevelts immer weniger von der politischen Führung als von deren bestmöglicher Unterstützung durch einen aufgeklärten und gut ausgebildeten Verwaltungsstab, der mit den neuesten organisationswissenschaftlichen Methoden arbeitet und zugleich über seinen Beamtenethos dem Gemeinwohl verbunden ist. Der Titel des Gedächtnissymposiums für Hans-Ulrich Derlien hätte sicherlich auch Morstein Marx gefallen: »Die öffentliche Verwaltung im Dickicht der Politik«.97 Und so betonte er 1968, kurz vor Ende seines Lebens und zugleich kurz vor der Kanzlerschaft Willy Brandts (und dessen programmatischer Aussage »Mehr Demokratie wagen!«98) einmal mehr die Rolle des »Be-
94 | Max Weber, Zweiter Vortrag im Rahmen einer Vortragsreihe »Geistige Arbeit als Beruf«, gehalten im Revolutionswinter 1918/19 vor dem Freistudententischen Bund in München, wieder abgedruckt in: Johannes Winckelmann (Hg.), Gesammelte politische Schriften, 2. Aufl., Tübingen 1958, S. 505-560, S. 512. 95 | Genaueres bei Seckelmann, Feuereifer (Fn. 3), S. 405ff. 96 | Morstein Marx, Bewußtsein (Fn. 89), S. 417. 97 | Dieser Titel drehte bewusst den bekannten Buchtitel eines von Hellmut Wollmann herausgegebenen Bandes um, vgl. ders. (Hg.) 1980, Politik im Dickicht der Bürokratie, Opladen 1980. 98 | Regierungserklärung von Bundeskanzler Willy Brandt vor dem Deutschen Bundestag in Bonn am 28. Oktober 1969.
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rufsbewußtseins der öffentlichen Verwaltung«, die sich nun aber einer verstärkten Kontrolle durch die Öffentlichkeit stellen solle: »Die Schaffung einer ausreichenden Informationsgrundlage ist ein unerläßlicher Schritt, um den Einzelnen in den Bereich der wohlüberlegten staatsbürgerlichen Teilnehmerschaft zurückzuführen. Nur so gelangt die Öffentlichkeit zu einer sachlich-kritischen Einschätzung der Sozialergebnisse des Verwaltens. Hier bedarf es einer gemeinsamen Initiative sowohl aus politischer Sicht wie aus dem Berufsbewußtsein der öffentlichen Verwaltung. Die Demokratie unserer Tage kann nicht umhin, sich mit den Grundlagen für die Förderung des Allgemeininteresses stets aufs neue vertraut zu machen.« 99
III. B il anz Wenn dieser Aufsatz mit »postheroische Verwaltung« überschrieben ist, so meint dies eine möglichst effiziente Aufgabenerledigung einer ebenso gut ausgebildeten wie um ihre eigenen Grenzen wissenden Verwaltung, die der politischen Führung zuarbeitet und dieser so erst politische Reformprogramme wie die Durchführung des »New Deal« ermöglicht. Um diesen Eigenwert der Verwaltung ging es Morstein Marx.100 Gleichwohl soll natürlich nicht der eigentliche Held verschwiegen werden, den Morstein Marx immer wieder in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen stellt: der »Verwaltungsmann«, dessen Handlungsmöglichkeiten und -beschränkungen101 er in seinen Werken ebenso wie dessen konsultative Funktion bei der Politikvorbereitung102 herausarbeitet. Morstein Marx legte seinen Finger damit letztlich genau auf die Stelle, die ab den 1970er Jahren die Verwaltungswissenschaft beschäftigte: warum nämlich politische Programme umgesetzt werden – oder eben auch nicht, wenn die Verwaltung als eigentständiger Akteur nicht ernst genommen wird, wie das Scheitern zahlreicher Großprojekte in den 1960er Jahren
99 | Morstein Marx, Bewußtsein (Fn. 89), S. 423 (sic!). 100 | Morstein Marx, Einführung, S. 8. 101 | Morstein Marx, Bewußtsein (Fn. 89). 102 | Morstein Marx, Bewußtsein (Fn. 89), S. 423 (sic!).
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zeigte.103 Mit seinem genauen Blick auf die Verwaltung »vor Ort«104 , in die er im Rahmen seiner verwaltungsvergleichenden Studien auch immer mehr ihren konkreten kulturellen Kontext einband, setze er einen entscheidenden Impuls für die Implementationsforschung.
103 | Programmatisch insoweit Jeffrey L. Pressman/Aaron B. Wildavsky: Implementation: How Great Expectations in Washington Are Dashed in Oakland; Or, Why It’s Amazing that Federal Programs Work at All, This Being a Saga of the Economic Development Administration as Told by Two Sympathetic Observers Who Seek to Build Morals on a Foundation of Ruined Hopes, Berkeley et al. 1973. 104 | Begriff nach Joachim Eibach, Der Staat vor Ort. Amtmänner und Bürger im 19. Jahrhundert am Beispiel Badens, Frankfurt a.M. 1994.
Arnold Brechts Vorschläge zur westdeutschen Verwaltung und Verfassung im Spannungsfeld von Expertise und Erfahrung Corinna R. Unger
I. E inleitung Dieser Beitrag beschäftigt sich mit den Beiträgen, die Arnold Brecht während seiner Zeit im Exil und nach 1945 bezüglich der Neuordnung der westdeutschen Verwaltung und Verfassung formulierte. Der Schwerpunkt liegt auf seinen Vorschlägen zur Reform des Beamtentums, die er in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren machte.1 Um seine Ideen einordnen zu können, ist es erforderlich, sich mit den Weimarer Erfahrungen zu befassen, die sein Staats- und Politikverständnis prägten und zur Grundlage seiner Reformvorschläge wurden, und sein Verhältnis zu Deutschland während des Exils zu betrachten. Übergeordnet geht der 1 | Die folgenden Ausführungen basieren auf Corinna R. Unger, Vom Beamtenrecht zur politischen Kultur. Die Vorschläge Arnold Brechts zur Reform des öffentlichen Dienstes der Bundesrepublik, in: K J 36 (2003), S. 82-94; dies., Wissenschaftlicher und politischer Berater der US-Regierung im und nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Claus-Dieter Krohn/Corinna R. Unger (Hg.), Arnold Brecht, 18841977. Demokratischer Beamter und politischer Wissenschaftler in Berlin und New York, Stuttgart 2006, S. 129-150. Siehe auch den Überblick von Michael Ruck, Arnold Brecht und die Verfassungsentwicklung in Westdeutschland, in: ClausDieter Krohn/Martin Schumacher (Hg.), Exil und Neuordnung. Beiträge zur verfassungspolitischen Entwicklung in Deutschland nach 1945, Düsseldorf 2000, S. 207-229.
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Beitrag der Frage nach, inwiefern die Erfahrung der Vertreibung und des Exils Brechts Empfehlungen prägten und welchen Einfluss sie auf deren Umsetzung nach 1945 hatten. Arnold Brecht war einer der profiliertesten Verwaltungs- und Verfassungsexperten der Weimarer Republik, erlangte in den USA in akademischen und politischen Kreisen hohes Ansehen und publizierte noch während des Krieges Analysen zum Scheitern der Weimarer Republik, aus denen er nach dem Krieg Empfehlungen zur Neuordnung Deutschlands ableitete. Doch wurden seine Vorschläge zur Neugestaltung der westdeutschen Verwaltung und Verfassung nur in begrenztem Umfang und zum Teil in sehr abgeschwächter Form realisiert; auch in der heutigen Forschung zur Weimarer Republik und zur Verwaltungsgeschichte spielt er nur eine nachgeordnete Rolle. Wie lässt sich erklären, dass eine so prominente Persönlichkeit wie Arnold Brecht so sehr in den Hintergrund geriet? Diese Frage will der Beitrag einerseits mit Blick auf Brechts persönliche Erfahrungen, andererseits mit Blick auf das DeutschlandWissen beleuchten, das Brecht in die USA mitnahm und nach dem Krieg auf die Bundesrepublik anzuwenden versuchte.
II. W eimarer E rfahrungen Arnold Brecht wurde 1884 in Lübeck geboren.2 Er studierte Rechtswissenschaften und durchlief die juristische Ausbildung, bis er eine Stelle als Hilfsarbeiter im Reichsjustizamt übernahm und rasch innerhalb der Reichsverwaltung aufstieg. 1918 arbeitete er kurzzeitig im Reichswirtschaftsamt, bevor er im Oktober desselben Jahres in die Reichskanzlei wechselte, von wo aus er die Revolution miterlebte. Im Rückblick schrieb er diesen Erfahrungen seine eigene Politisierung zu. Zwar hatte er schon im Kaiserreich die SPD gewählt, doch sich nicht als politisch im engeren Sinne betrachtet. Dies änderte sich, wie er rückblickend beschrieb, als er während des Krieges und der Revolution verstand, dass die etablierten politischen und gesellschaftlichen Strukturen nicht mehr zeitgemäß wa-
2 | Zu Kindheit und Jugend Brechts siehe Barbara Burmeister, Von Lübeck nach Berlin. Brechts Kindheit und Jugend, in: Krohn/Unger, Arnold Brecht (Fn. 1), S. 45-53.
Arnold Brechts Vorschläge zur westdeutschen Ver waltung und Ver fassung
ren.3 Anfangs ein Vernunftrepublikaner, entwickelte sich Brecht bald zu einem aktiven Verfechter der Demokratie. 1921 wurde er zum Ministerialdirektor im Reichsministerium des Innern ernannt, wo er Abteilung I (Verfassung und Verwaltung) vorstand. Von dieser Position aus bemühte er sich, die Institutionen der Weimarer Republik zu stärken.4 Dazu versuchte er zum einen die Demokratie vor ihren Gegnern zu schützen, indem er etwa nach der Ermordung Walther Rathenaus 1922 das sogenannte Republikschutzgesetz zu formulieren half.5 Zum anderen setzte er sich dafür ein, die öffentliche Wahrnehmung der Weimarer Republik innerhalb der deutschen Gesellschaft zu verbessern. So war er eine der treibenden Kräfte hinter der Einführung des Deutschlandliedes von 1848 als Nationalhymne. Die Bedeutung von Symbolen für die öffentliche Wahrnehmung des Staates war ihm überaus bewusst.6 Während des Kapp-Putsches 1920 schaffte er alle Stempel aus der Reichskanzlei, damit sie nicht den Putschisten in die Hände fielen und diese ihre ansonsten nackten Schreiben mit Hoheitssymbolen aufwerten konnten.7 Brecht wusste um das Vertrauen, das viele Deutsche (auch er selbst) in die Autorität von Behörden besaßen, und genau dieses Vertrauen versuchte er im Interesse der Weimarer Republik zu nutzen. Dazu gehörte, dass er sich für die Modernisierung der Verwaltung einsetzte.8 Er war es, der in der Geschäftsordnung der Reichsregierung von 1926 die nach Hierarchieebenen definierte Farbgebung einführte, der zufolge bis heute 3 | Vgl. Arnold Brecht, Aus nächster Nähe. Lebenserinnerungen, 1884-1927, Stuttgart 1966, S. 101-105, sowie die Unterkapitel zur »politischen Erziehung « durch Krieg und Revolution. Siehe dazu Volker Depkat, Arnold Brecht als Autobiograph, in: Krohn/Unger, Arnold Brecht (Fn. 1), S. 15-44, 26-34. 4 | Siehe dazu ausführlich Heiko Holste, Zwischen Reichsreform und »Preußenschlag «. Ministerialbeamter im Dienst der Republik, in: Krohn/Unger, Arnold Brecht (Fn. 1), S. 56-82, 62, 82. 5 | Vgl. Brecht, Aus nächster Nähe (Fn. 3), S. 389-394. 6 | Vgl. ebd., S. 360-364, 394-397, 399-401, 439-443. 7 | Vgl. ebd., S. 302-303. 8 | Siehe dazu u.a. Michael Ruck, Patriotischer Institutionalismus und bürokratische Modernisierung. Arnold Brecht als Verwaltungsreformer in der Weimarer Republik, in: Eberhard Laux/Karl Teppe (Hg.), Der neuzeitliche Staat und seine Verwaltung, Stuttgart 1998, S. 177-202.
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die Minister mit grünem Stift, die Staatssekretäre mit rotem Stift und die Abteilungsleiter mit blauem Stift Schriftstücke kommentieren und unterschreiben.9 Verwaltungswissenschaft im engeren Sinne war das nicht, und auch kein Versuch, die Verwaltung demokratischer zu gestalten. Vielmehr handelte es sich um das Bemühen, die Ministerialverwaltung zu professionalisieren, um den komplexen Anforderungen gerecht werden zu können, die ›moderne Gesellschaften‹ bewältigen mussten. Max Weber hatte in diesem Zusammenhang die Bedeutung der Objektivität und Rationalität von Verwaltungsabläufen betont, die den ›vormodernen‹ Klientelismus ersetzten, so dass nicht der soziale Status einer Person, sondern die Sache entschied. In diesem Konzept war ein grundsätzlicher Gleichheitsgedanke enthalten ebenso wie ein elitärer Blick auf die ›Massen‹, die vom Staat gelenkt und gesteuert werden müssten. Dazu dienten aus Brechts Perspektive sowohl die Verfassung als auch die Verwaltung, die zu gestalten und zu verbessern er als politische Aufgabe im Dienste des Staates wahrnahm. Er lässt sich in diesem Sinne vielleicht als konservativer Demokrat bezeichnen, wenn er auch politisch liberal eingestellt war. Mit Blick auf das föderative System der Weimarer Republik setzte sich Brecht dafür ein, den Dualismus zwischen Ländern und Reich zu überwinden, der aus seiner Sicht die Konsensbildung innerhalb des Reiches erschwerte und damit das Reich insgesamt schwächte. In diesem Zusammenhang warb er zum einen für eine Reform der Verwaltungsbezirke und wollte die Überschneidungen der Zuständigkeitsbereiche von Behörden auf den verschiedenen Ebenen verringert sehen. Zum anderen ging es ihm darum, die Übermacht Preußens im Reich zu verringern und durch Fusionen kleinerer Länder ein politisches wie finanzielles Gleichgewicht herzustellen. Diese Vorschläge brachte Brecht als Ministerialdirektor im Preußischen Staatsministerium (seit 1928) in den Verfassungsausschuss ein, der sich mit einer möglichen Reichsreform befasste.10 Die Reformvorlagen wurden letztlich nicht realisiert, doch die Ende der 1920er Jahre und Anfang der 1930er Jahre geführten Debatten um 9 | Vgl. Brigitte Zypries, Vergessene Juristen. Arnold Brecht. Über Beamtenethos, politische Visionen und den Nutzen farbiger Buntstifte, in: Politik und Recht 43 (2007), S. 111-113, 113. 10 | Siehe dazu ausführlich Holste, Zwischen Reichsreform und »Preußenschlag « (Fn. 4), S. 62-72.
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eine Neuordnung der föderalen Struktur des Deutschen Reiches gingen direkt in Brechts Empfehlungen an die US-Besatzungsbehörden für die Gestaltung des deutschen Föderalismus nach 1945 ein.11 So sehr Brecht seine Arbeit als politische Aufgabe im Sinne des Staates verstand, so vehement warnte er vor der Gefahr, die ihm zufolge von einer parteipolitischen Betätigung der Beamten ausging. Sich selbst verstand er als außenstehenden, beratenden Experten, nicht als politischen Akteur.12 Er war der Überzeugung, dass der Beamte jemand sein müsse, der verstehe, »dass er eine Funktion im Leben der Gemeinschaft zu erfüllen hat, der seine Pflicht verlässlich und treu bei jedem Wetter tut, für den sein Pflichtbewusstsein das ist, hinter dem alles andere zurückstehen muss, zu dessen Pflichten auch Initiative und Mut gehören, beides aber nicht im eigenen Interesse, sondern in dem der Gemeinschaft«.13 Eintreten für die Grundsätze des Staates, überparteiliche Loyalität statt individueller Parteinahme war sein Primat, das er auch von anderen verlangte. Selbst Adolf Hitler erinnerte er an diesen Grundsatz, als dieser im Februar 1933 seinen Antrittsbesuch im Reichsrat absolvierte, dem Brecht als stellvertretender Bevollmächtigter Preußens angehörte. Brecht ermahnte den neuen Reichskanzler, »Ihre Kraft für das Wohl des ganzen Volkes einzusetzen, die Verfassung und die Gesetze des Reiches zu wahren, die Ihnen danach obliegenden Pflichten gewissenhaft zu erfüllen und Ihre Geschäfte ›unparteiisch und gerecht gegen jedermann‹ zu führen.«14 Kurze Zeit später wurde er verhaftet und verhört, ihm und seiner Frau Clara wurden die Pässe entzogen.15 Brecht war bereits im Jahr zuvor als Verfechter der Demokratie und Gegner der Präsidialregierung Franz von Papens be11 | Siehe dazu Arnold Brecht, Federalism and Regionalism in Germany. The Division of Prussia, New York 1945. 12 | Vgl. Arnold Brecht an Alvin Johnson, 5. Januar 1936. Arnold Brecht Papers (ABP), German and European Intellectual Émigré Collection, M. E. Grenander Department of Special Collections and Archives, University Libraries, University at Albany, State University of New York, Box 1/A-19. 13 | Brecht, Aus nächster Nähe (Fn. 3), S. 433. Siehe auch Arnold Brecht an Hermann Göring, 12. August 1933, ABP, Box 1/A-38. 14 | Zitiert in Arnold Brecht, Mit der Kraft des Geistes. Lebenserinnerungen. Zweite Hälfte, 1927-1967, Stuttgart 1967, S. 278. Hervorhebungen i. O. Siehe dazu auch Holste, Zwischen Reichsreform und »Preußenschlag« (Fn. 4), S. 79-81. 15 | Vgl. Brecht, Mit der Kraft des Geistes (Fn. 14), S. 321-324.
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kannt geworden, als er nach dem sogenannten Preußenschlag vor dem Staatsgerichtshof in Leipzig die Interessen Preußens vertreten hatte.16 Rückblickend scheint es unzweifelhaft, dass er unter Hitler seine Ämter nicht weiter hätte ausüben können, aber wie viele andere Juristen konnte oder wollte er nicht akzeptieren, wie leichthin die Nationalsozialisten alle etablierten Grundsätze missachteten, und setzte lange Zeit Hoffnungen in die Instrumente des Rechtstaates.17
III. I m E xil Zunehmend unter Druck, gelang es Brecht und seiner Frau mit Hilfe von Alvin Johnson, Ende 1933 in die USA zu reisen. Brecht, der regelmäßig an der von der Rockefeller Foundation finanzierten Deutschen Hochschule für Politik vorgetragen hatte, begann an der New School eine neue Karriere als Staats-, Finanz- und Verwaltungswissenschaftler. Er beriet amerikanische Behörden in Fragen der Verwaltungsreform und öffentlichen Verwaltung, führte vergleichende Studien zur kommunalen Finanzierung durch und beschäftigte sich mit Problemen des amerikanischen Föderalismus.18 Später erwarb er sich mit politiktheoretischen Arbeiten breite Anerkennung in den USA.19 Insofern lässt sich von einer raschen und erfolgreichen Integration in das amerikanische Berufsleben sprechen. Doch innerlich war Brecht von der Erfahrung der Vertreibung tief erschüttert und wollte lange nicht wahrhaben, dass es sich um mehr als ein 16 | Vgl. ebd., S. 177-201. Siehe dazu Holste, Zwischen Reichsreform und »Preußenschlag « (Fn. 4), S. 72-79. 17 | Vgl. Holste, Zwischen Reichsreform und »Preußenschlag « (Fn. 4), S. 84. 18 | Siehe dazu Claus-Dieter Krohn, »Refugee Scholar« an der New School for Social Research in New York nach 1933, in: Krohn/Unger, Arnold Brecht (Fn. 1), S. 107-127. 19 | Arnold Brecht, Political Theory. The Foundation of Twentieth-Century Political Thought, Princeton 1959. Siehe dazu Alfons Söllner, Zwischen Wissen und Glauben? Ein Versuch über Arnold Brechts »Politische Theorie «, in: Krohn/Unger, Arnold Brecht (Fn. 1), S. 197-212; Hannah Bethke, Das politische Denken Arnold Brechts. Eine transatlantische Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Berlin 2013. Ein vollständiges Verzeichnis der Publikationen Brechts findet sich in Krohn/Unger, Arnold Brecht (Fn. 1), S. 213-222.
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kurzfristiges Exil handelte. Bis zu seinem Tod lebten er und seine Frau in Hotelzimmern, nie mehr in einer eigenen Wohnung.20 Seine Autobiographie markiert den Bruch, den das Exil für ihn darstellte, sehr deutlich. Während er in der Beschreibung seiner Erfahrungen im Kaiserreich und in der Weimarer Zeit viel von seinen persönlichen Eindrücken, Gedanken und Hoffnungen preisgab, beschränkt sich die Darstellung seines Lebens in den Vereinigten Staaten weitgehend auf oberflächliche Informationen, die kaum Einblick in seine innere Verfassung zulassen. Was er über die USA-Kapitel seiner Autobiographie festhielt, galt vielleicht für seine Wahrnehmung des Exils insgesamt: es waren »›bloße Nachworte‹« eines Lebens, das sein Zentrum und seine Berechtigung in Deutschland gehabt hatte.21 Brechts Identität war von der deutschen Hochkultur und von seinem politischen Selbstverständnis und Wirken in der Weimarer Zeit geprägt.22 Seinen Einsatz im Zusammenhang mit dem Prozess um den sogenannten Preußenschlag hatte er selbst mit seinem persönlichen Schicksal verknüpft. »Ich war mir klar darüber, dass die Antwort [auf die Anfrage, die Verteidigung Preußens zu übernehmen; CRU] über meinen Lebensweg entschied, aber ich sagte ohne Zögern ja.«23 Zwar entschied der Staatsgerichtshof überwiegend im Sinne Preußens, doch faktisch änderte das Urteil nichts am Angriff auf die Demokratie. In dem Moment, in dem die Weimarer Republik 1933 zu existieren aufhörte, stand auch Brechts Selbstverständnis zur Disposition. Vor diesem Hintergrund sind auch die Urlaubs- und Besuchsreisen nach Deutschland zu lesen, die Brecht und seine Frau von den USA aus unternahmen.24 Sie brachten ihm heftige Kritik in Exilantenkreisen ein und gefährdete mehrfach seine berufliche Position.25 Noch im November 1940, als wegen des Krieges keine Besuche in Deutschland mehr möglich waren, schrieb er an den preußischen 20 | Vgl. Brecht, Mit der Kraft des Geistes (Fn. 14), S. 383. 21 | Vgl. Depkat, Arnold Brecht als Autobiograph (Fn. 3), S. 42-43. Zitat ebd., S. 42. 22 | Vgl. Brecht, Aus nächster Nähe (Fn. 3), Teil I. Siehe auch Depkat, Arnold Brecht als Autobiograph (Fn. 3), S. 18-19. 23 | Brecht, Aus nächster Nähe (Fn. 3), Aus nächster Nähe, S. 177. Siehe dazu Depkat, Arnold Brecht als Autobiograph (Fn. 3), S. 39. 24 | Vgl. Brecht, Aus nächster Nähe (Fn. 3), S. 339-349. 25 | Vgl. Krohn, »Refugee Scholar« (Fn. 18), S. 124-126.
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Oberfinanzpräsidenten: »Wir sind bisher in jedem Jahre – zuletzt im Sommer 1939 – im Sommer nach Deutschland in unsere Wohnung zurückgekehrt, von dort stets nur mit Reisegepäck (Kleidung und Büchern) fortgefahren und haben unsere Einrichtung zu Hause gelassen. Wir haben in jedem Jahre Rückfahrkarten von Deutschland nach den Vereinigten Staaten genommen und zu allen Fahrten die deutschen Schiffahrtslinien benutzt.«26 Nun hatte diese Beteuerung in erster Linie finanzielle Gründe, denn Brecht wollte seine Pensionsbezüge nicht verlieren, doch zugleich macht es den Eindruck, dass er, indem er an seiner Loyalität zu Deutschland festhielt, sein persönliches und professionelles Selbstverständnis und seine Würde über die Erschütterung hinwegzuretten versuchte, die Verfolgung, Flucht und Exil bedeuteten. Ähnlich betonte er 1948, als er einen ersten Antrag auf Wiedergutmachung als politisch Verfolgter stellte, dass es allein die physische Bedrohung durch die Nationalsozialisten gewesen sei, die ihn ins Exil gezwungen habe: »Unter diesen Umständen konnte ich von einer Fortsetzung meiner Tätigkeit in Deutschland nur erneute Verhaftung und Konzentrationslager erwarten. Nur das veranlasste mich, Deutschland zu verlassen.« 27 Aus seinem einerseits kritischen, andererseits unbedingten Patriotismus, der eine beinahe existentielle Dimension annahm, ergab sich für Brecht das dringende Bedürfnis, von den USA aus dazu beizutragen, jene politischen und gesellschaftlichen Strukturen zu überwinden, von denen er und andere annahmen, dass sie zum Scheitern der Weimarer Republik beigetragen oder sie ermöglicht hätten. 1944 veröffentlichte er eine Studie über das Ende der ersten deutschen Demokratie, in der er viele jener Aspekte diskutierte, die nach dem Krieg seine Empfehlungen zur Reform der Verwaltung und Verfassung prägten.28
26 | Arnold Brecht an den Oberfinanzpräsidenten, betr. Genehmigung einer Wohnsitzverlegung, 26. November 1940, Landesarchiv Berlin (LAB), B Rep. 042, Nr. 7271. 27 | Arnold Brecht an das Zentralmeldeamt Berlin, betr. Anmeldung von Rechten nach dem Gesetz No. 59 der Militärregierung, 26. November 1948, LAB, B Rep. 025-06, Nr. 1680/50. Herv. CRU. 28 | Arnold Brecht, Prelude to Silence. The End of the German Republic, New York 1944.
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IV. S tat t R emigr ation : B recht als B er ater in der N achkriegszeit 1946 nahmen Arnold und Clara Brecht die amerikanische Staatsbürgerschaft an. Auch deshalb kam eine Rückkehr nach Deutschland kam für sie nicht mehr in Frage. 1953 wurde Brecht mit rückwirkender Kraft zum 1. April 1933 zum Staatssekretär a.D. ernannt, was durch seine Entlassung aus dem Beamtendienst durch die Nationalsozialisten verhindert worden war.29 Der für ihn symbolisch bedeutsame Schritt erklärt sich vermutlich auch damit, dass Brecht aufgrund seiner Weimarer Tätigkeit eine prominente Persönlichkeit und mit westdeutschen Politikern wie Konrad Adenauer, Paul Löbe, Theodor Heuss und Kurt Schumacher ebenso wie mit zahlreichen leitenden Beamten bekannt war, die er nach dem Krieg wiedertraf.30 1948 kehrte Brecht erstmals nach Deutschland zurück, und zwar als Expert to the Secretary of the U.S. Army. Er gab Seminare an den Universitäten Heidelberg und München, engagierte sich für die Etablierung der Politikwissenschaft, befasste sich mit der Entnazifizierung und beriet die US-Besatzungsbehörden in Fragen der politischen Ordnung und Verfassungsgebung. Was die Struktur eines zukünftigen Deutschland anging, hatte sich Brechts Perspektive seit Weimarer Zeiten gewandelt. In den späten 1920er und frühen 1930er Jahren hatte er sich für einen Einheitsstaat eingesetzt, um auf diese Weise die Weimarer Republik zu festigen. Nachdem er sich während des Exils mit dem amerikanischen Föderalismus beschäftigt hatte, war er zu der Überzeugung gekommen, dass eine föderale Ordnung für Deutschland besser geeignet sei, weil sie eine ausgeglichene Machtverteilung erlaube.31 Hintergrund dieser Idee war die unter deutschen Exilanten und internationalen Beobachtern verbreitete Annahme, dass die Übermacht Preußens wesentlichen Anteil am Scheitern Weimars gehabt habe. Zugleich plädierte Brecht dafür, die sehr kleinen Länder zu größeren Einheiten zusammenzufügen, um das
29 | Brecht, Mit der Kraft des Geistes (Fn. 14), S. 368. 30 | Vgl. ebd., S. 357-363. 31 | Vgl. Holste, Zwischen Reichsreform und »Preußenschlag « (Fn. 4), S. 67.
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Problem der Zersplitterung, das ebenfalls als Grund für die Weimarer Probleme galt, zu überwinden.32 Diese Vorschläge ebenso wie die Forderung, das Verhältniswahlrecht durch das Mehrheitswahlrecht zu ersetzen, brachte Brecht 1948 erfolgreich in den Verfassungskonvent des Parlamentarischen Rates ein, an dem er teilnahm. Er betonte wiederholt, wie wichtig es sei, »safeguards« in die Verfassung einzubauen, um zu verhindern, dass antidemokratische Kräfte an die Macht kämen – eine eindeutige Reaktion auf die Erfahrung des Scheiterns der Weimarer Republik. Aufgrund der Bedeutung, die das Ende der Demokratie für Brecht politisch und persönlich besessen hatte, lässt sich verstehen, dass er in diesem Zusammenhang in besonderem Maße auf Absicherung bedacht war. Die Mechanismen, die schließlich im Grundgesetz verankert wurden, um die Demokratie zu schützen, kritisierte er explizit als unzureichend. In den USA hatte er sich intensiv mit Standards von Menschenrechten beschäftigt und gehofft, dass zumindest eine Minimalversion Eingang in die neue deutsche Verfassung finden würde. In der letztlich verabschiedeten Fassung des Grundgesetzes waren aus seiner Sicht die individuellen Grundrechte nur solange gesichert, wie das Parlament mehrheitsfähig war; werde das Parlament durch eine einfache Mehrheit ausgehebelt, stünden auch individuelle Rechte zur Disposition. Dennoch hielt Brecht 1949 fest, dass sich das Grundgesetz zu einer soliden Basis der westdeutschen Demokratie entwickeln könne, solange die antidemokratischen Kräfte nicht überhandnähmen.33 Da ihn die Erfahrung gelehrt hatte, dass man die Sicherung der Demokratie nicht der Verfassung überlassen durfte, setzte Brecht sich dafür ein, das politische Bewusstsein der gesellschaftlichen Eliten in eine demokratische Richtung zu lenken. Konkret beteiligte er sich an den Bemühungen, die Politikwissenschaft sozialwissenschaftlicher Prägung, wie er sie in den USA kennengelernt und selbst mitgeformt hatte, an deutschen Universitäten zu etablieren. Er beteiligte sich an der Gründung der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft und schrieb die Satzung für den German Political Science Research Fund, der Gelder für 32 | Vgl. Arnold Brecht, Memorandum on the Structure of Postwar Germany, August 1944. ABP, Box 8/4-2. 33 | Vgl. Arnold Brecht, The New German Constitution, in: Social Research 16 (1949), S. 425-473, 433. Siehe auch Unger, Vom Beamtenrecht zur politischen Kultur (Fn. 1), S. 132-133, 140-142.
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politikwissenschaftliche Projekte vergab, die dazu beitragen sollten, die ›moderne‹ Politikwissenschaft in Westdeutschland populär zu machen.34 Ähnlich wie er in der Weimarer Zeit versucht hatte, demokratische Institutionen zu stärken, wollte er auch nun über strukturelle Änderungen die Bedingungen verbessern, unter denen die Demokratie wachsen konnten. Seiner Überzeugung nach musste dies ein von oben gelenkter Eingriff sein; auf die Eigeninitiative oder die Vernunft der deutschen Bevölkerung zu vertrauen, schien nicht nur unrealistisch, sondern auch unverantwortlich. Mit dieser Haltung war er keineswegs allein: Die Annahme, die Deutschen seien von Hitler ›verführt‹ worden und müssten nun mit Mitteln der Erziehung und Aufklärung ›aus dem Dunkel‹ an die Demokratie herangeführt werden, teilten viele Exilanten ebenso wie die amerikanischen Behörden, die für die »reeducation« zuständig waren.35 In Bezug auf die Entnazifizierung beschäftigte sich Brecht vor allem mit den deutschen Beamten. Mit vielen politischen Beobachtern teilte er die Auffassung, dass die Nationalsozialisten nicht zuletzt deshalb leichtes Spiel gehabt hätten, weil der überwiegende Teil der leitenden Beamtenschaft autoritätshörig und zu sehr am Erhalt des eigenen, privilegierten Status beschäftigt gewesen sei, als dass sie bereit gewesen wären, sich gegen Hitler zu stellen. Daher müsse nun, nach dem Krieg, ein grundsätzlicher Wandel stattfinden, indem die Beamten ihre autoritären Denkmuster durch demokratische ersetzten. Dazu hielt Brecht es für erforderlich, jene Beamten, die explizit antidemokratisch eingestellt waren, aus dem Dienst zu entlassen. Zwar müsse die Demokratie undemokratische Haltungen ertragen können, doch dazu müsse es erst einmal eine stabile Demokratie geben.36 Konkret empfahl er den Amerikanern: »During a short transitional period the democratic government should therefore have the right to remove such employees, in the general interest, for political or 34 | Vgl. Unger, Vom Beamtenrecht zur politischen Kultur (Fn. 1), S. 147-149. 35 | Siehe dazu u.a. Katharina Gerund/Heike Paul (Hg.), Die amerikanische Reeducation-Politik nach 1945. Interdisziplinäre Perspektiven auf »America’s Germany «, Bielefeld 2015. 36 | Vgl. Arnold Brecht, Requirements that should be fulfilled before Military Government withdraws from interference with the general treatment of personnel problems in Germany. Anlage zum Bericht als Expert to the Secretary of the U.S. Army, 13. September 1948, ABP, Box 14/A-40.
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administrative reasons, without necessarily branding them as offenders, and to consider undemocratic opinions also in the selection of new employees«. 37
Er plädierte außerdem dafür, die Ernennung zum Beamten auf Lebenszeit und die Gewährung von Sonderrechten aufzugeben, um den Beamtendienst weniger attraktiv für jene zu machen, die mehr an den Privilegien denn an der Dienstpflicht interessiert waren. Dies waren Vorschläge, die Brecht in ähnlicher Form schon zu Weimarer Zeiten gemacht hatte, um das aus dem Kaiserreich stammende Beamtentum zu modernisieren und an die Erfordernisse der Demokratie anzupassen.38 Anfang 1949 unternahmen die Amerikaner einen konkreten Vorstoß zur Demokratisierung der Beamtenschaft und griffen dazu auf Brechts Expertise zurück, die in Teilen direkt in Military Law No. 15 einging. Zugrunde lag Brechts Vorschlägen das Prinzip der Meritokratie: Die Ernennung und Beförderung von Beamten sollte nur von erfolgter Leistung abhängen, nicht von Dienstjahren; der Eintritt in den Beamtendienst sollte über Prüfungen erfolgen, und unabhängige Gremien sollten die Einhaltung des Gleichheitsgrundsatzes und der Qualifikation bei Bewerbungen und Einstellungen sichern; das Juristenmonopol sollte überwunden werden, indem die Kandidaten selbst aus verschiedenen Prüfungsschwerpunkten wählen könnten; die Pensionen sollten im Vergleich zu den Gehältern gesenkt werden, um zu verhindern, dass Beamte nur im Dienst blieben, um ihre Rentenansprüche zu sichern; und Beamte sollten Angestellten gleichgestellt werden, um interne Hierarchien zu verringern.39 Wie nicht anders zu erwarten, war der Widerstand gegen diese weitreichenden Eingriffe in die Privilegien der deutschen Beamten groß. Der westdeutsche Bundestag beschloss im Mai 1950 ein vorläufiges Beamtengesetz, das im Wesentlichen eine entnazifizierte Version des Gesetzes von 1937 darstellte (wenn es auch konzeptionell auf seine Vorschläge aus den 1920er Jahren zurückgriff, wie Brecht in seiner Autobiographie betonte).40 37 | Brecht, Memorandum (Fn. 32). 38 | Vgl. Brecht, Aus nächster Nähe (Fn. 3), S. 433-436. 39 | Vgl. Brecht, Requirements (Fn. 36). 40 | Vgl. Curt Garner, Public Service Personnel in West Germany in the 1950s. Controversial Policy Decisions and Their Effects on Social Composition, Gender Structures, and the Role of Former Nazis, in: Robert G. Moeller (Hg.), West Germany under Construction. Politics, Society and Culture in the Adenauer Era, Ann Arbor
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Auch das von ihm geforderte Verbot der aktiven politischen Betätigung von Beamten setzte sich nicht durch, denn die Parteien waren auf die Stimmen der zahlenmäßig einflussreichen Beamtenschaft angewiesen.41 Zwar hätten die Amerikaner intervenieren können, um eine weitreichendere Reform des Beamtentums durchzusetzen, doch im beginnenden Kalten Krieg waren sie vor allem daran interessiert, die Bundesrepublik zu stabilisieren, selbst wenn es bedeutete, die ursprünglichen Grundsätze der Entnazifizierung noch weiter aufzuweichen, bis der Großteil der ›Belasteten‹ in ihre alten Positionen zurückgekehrt waren. Vorläufig blieb Brecht nur, auf den Positivismus der deutschen Beamten zu setzen, die sich an ein Gesetz wie das Verbot antidemokratischer Organisationen hielten, eben weil es ein Gesetz war – in seinen Worten: »German civil servants are legalistic; they are even so in their behavior pattern.«42 Das im Jahr 1953 verabschiedete Gesetz zum öffentlichen Dienst in der Bundesrepublik markierte endgültig, dass auf dem Gebiet des Beamtentums das Interesse an Kontinuität über die Chance zur Reform gesiegt hatte. Zwar sollten Beamten nun unabhängig von politischen oder sonstigen Merkmalen eingestellt werden, konnten bei Nichtbewährung entlassen werden und waren aufgefordert, sich zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu bekennen.43 Doch der Sonderstatus der Beamten blieb erhalten und wurde sogar in der Verfassung verankert. Damit werde den Beamten ein Freifahrtschein ausgestellt, kritisierte Brecht: »However good or bad they behave could never affect their constitutionally privileged
1997, S. 135-198, 146; Lutz Niethammer, Zum Verhältnis von Reform und Rekonstruktion in der US-Zone am Beispiel der Neuordnung des öffentlichen Dienstes, in: Wolf-Dieter Narr/Dietrich Thränhardt (Hg.), Die Bundesrepublik Deutschland. Entstehung – Entwicklung – Struktur, Königstein 1979, S. 47-59, 53-54; Brecht, Aus nächster Nähe (Fn. 3), S. 436. 41 | Vgl. Michaela Richter, From State Culture to Citizen Culture. Political Parties and the Postwar Transformation of Political Culture in Germany, in: John S. Brady/ Beverly Crawford/Sarah Elise Wiliarty (Hg.), The Postwar Transformation of Germany. Democracy, Prosperity, and Nationhood, Ann Arbor 1999, S. 122-159, 130. 42 | Arnold Brecht, Memorandum on German Civil Service Today, 12. Dezember 1950, ABP, Box 8/4-2. 43 | Siehe Unger, Vom Beamtenrecht zur politischen Kultur (Fn. 1), S. 90-91.
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positions.«44 Unter solchen Bedingungen schien es Brecht unmöglich, eine demokratischere Haltung im öffentlichen Dienst durchzusetzen. Es ist in diesem Zusammenhang interessant, dass er 1953 betonte, dass er weniger die »Nazifizierung« als die »Bürokratisierung« des Beamtentums fürchte: »There is a danger of sympathy, not with totalitarian principle, but with tendencies toward bureaucratic authority and bureaucratic privilege.«45 Aus seiner Sicht setzte sich damit in der Bundesrepublik ein Phänomen fort, das bereits in der Weimarer Republik existiert und deren Demokratie geschwächt hatte.
V. S chluss In Brechts Empfehlungen zur Reform des Beamtentums und zur Verfassungsgebung der Bundesrepublik sprachen stets zwei Stimmen: die des Verwaltungswissenschaftlers und die des Ministerialdirektors a.D. Brecht wusste »aus nächster Nähe« (so der Titel des ersten Teils seiner Autobiographie) um die Probleme der deutschen politischen Kultur, des Föderalismus und des Beamtentums. Seine Lebensgeschichte war die eines Staatsdieners, der mit seiner persönlichen Auffassung von der Aufgabe des Beamten in der Demokratie mit eben dieser Demokratie zu Fall gekommen war. Er hatte sich in entscheidenden Momenten (1918/19, 1932, 1933) an den Schaltstellen der Macht aufgehalten und meinte aus praktischer Anschauung, fachlicher Qualifikation und eigenem Erleben zu wissen, warum die Weimarer Republik jenen Lauf genommen hatte, der zu ihrem Ende geführt hatte. Er war im wahrsten Sinne des Wortes ein Insider des politischen Lebens in Deutschland, bis er gewaltvoll aus ihm verdrängt wurde. Das Scheitern der Weimarer Republik war zugleich sein persönliches Scheitern. Diese grundlegende Erfahrung bestimmte sein weiteres Leben und seine Tätigkeit als Berater nach dem Krieg. Brecht ging naturgemäß davon aus, die ›wahren‹ Probleme Deutschlands zu kennen und darauf basierend Lösungen anbieten zu können, und tatsächlich war er einer der besten Kenner der deutschen Verwaltung 44 | Arnold Brecht an die Civil Affairs Division, 23. Januar 1949, ABP, Box 14/A-40. 45 | Arnold Brecht, Personnel Management, in: Edward H. Litchfield (Hg.), Governing Postwar Germany, Ithaca 1953, S. 263-293, S. 271.
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und Verfassung. Doch die Übersetzung seines Deutschland-Wissens in politische Realitäten gelang ihm nicht wie erhofft. Möglicherweise erwies sich hier seine berufliche Prägung mit Bezug auf seine politische Wirksamkeit als Ballast. Sein Verständnis der deutschen Probleme und die davon abgeleiteten Änderungsvorschläge stammten aus seiner Zeit als Beamter in der Weimarer Republik, und sie blieben im Exil weitgehend unangetastet. Brechts Identität war so stark mit diesem Bild verknüpft, dass er sich selbst hätte in Frage stellen müssen, wenn sich das Bild grundlegend verändert hätte. Entsprechend hielt er an seiner Weimarer Innenansicht fest und machte sie zur Grundlage seiner Empfehlungen für Deutschlands Zukunft. Ihm war völlig klar, dass es Widerstand gegen seine Reformvorschläge (vor allem jene zum öffentlichen Dienst) geben würde, wie er an seinen Kollegen und Freund Hans Simons schrieb: »It will be very hard to avoid Germany’s becoming thoroughly beaurocratized [sic!], and I wonder to what extent the suave methods of persuasion and of seeking support for a healthy reform will be able to overcome the inherent tendencies and the pressure exercised by the officials themselves. I’ll try, but I’m not hopeful.« 46
Trotz dieser Skepsis setzte Brecht auf die »Kraft des Geistes« (der Titel des zweiten Teils seiner Autobiographie). Doch unter den politischen Bedingungen der Nachkriegszeit, der deutschen Teilung und des Kalten Krieges hatten seine vernunftgeleiteten Vorschläge, die zudem mit erheblichen moralischen Erwartungen verflochten waren, nur geringe Aussichten, in die Praxis übersetzt zu werden. Das heißt keineswegs, dass Brecht ohne politischen oder ideellen Einfluss geblieben wäre. Es wäre jedoch ebenfalls einseitig, ihn allein als aufrechten Mahner zu charakterisieren, der an den opportunistischen Interessen seiner Zeitgenossen scheiterte. Die Verfolgung und das Exil hatten eine Distanz zwischen Brecht und Deutschland entstehen lassen, die sich letztlich weder lebensweltlich noch intellektuell überwinden ließ. Diese unfreiwillig entstandene Distanz erklärt zumindest in Teilen, warum Arnold Brecht, der einer der aktivsten und sichtbarsten Vertreter der Weimarer Verwaltung gewesen war, nach dem Krieg in Deutschland an Sichtbarkeit und Wirksamkeit verlor.
46 | Arnold Brecht an Hans Simons, 16. Juni 1950, ABP, Box 3/C-135.
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Hans Simons: (Fast) Vergessener Aufbauhelfer der westdeutschen Demokratie Philipp Heß Die demokratische Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik ist in vielerlei Hinsicht Menschen zu verdanken, die in den zwölf Jahren nationalsozialistischer Herrschaft gezwungen waren, aus »rassischen« oder politischen Gründen ihre Heimat zu verlassen. Die wenigsten dieser Aufbauhelfer der westdeutschen demokratischen Verwaltung sind einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Dieser Umstand trifft auch auf den Verwaltungsjuristen, Hochschullehrer und Bildungsmanager Hans Simons (1893-1972) zu.1 Weder in der deutschen noch in der amerikanischen Erinnerung nimmt Simons eine besondere Stellung ein. Nur vereinzelt begegnet man ihm in Arbeiten zur Geschichte der Deutschen Hochschule für Politik 2 oder bei der Auseinandersetzung mit der politischen Emigra1 | Die folgenden Ausführungen basieren auf meiner Dissertationsschrift zur Lebensgeschichte von Hans Simons: Philipp Heß, Ein deutscher Amerikaner. Der kosmopolitische Demokrat Hans Simons 1893-1972, (= Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts (hg. von Norbert Frei), Bd. 24), Göttingen 2017 (i. D.). 2 | Erich Nickel, Politik und Politikwissenschaft in der Weimarer Republik, Berlin 2004, S. 30-91; Wilhelm Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland, München 2001, S. 198-228; Detlef Lehnert, »Schule der Demokratie« oder »politische Fachhochschule«? Anspruch und Wirklichkeit einer praxisorientierten Ausbildung der Deutschen Hochschule für Politik 1920-1933, in: Gerhard Göhler/Bodo Zeuner (Hg.), Kontinuitäten und Brüche in der deutschen Politikwissenschaft, Baden-Baden 1991, S. 65-93; Antonio Missiroli, Die Deutsche Hochschule für Politik, Königswinter 1988; Hans Kastendiek, Die Entwicklung der deutschen Politikwissenschaft, Frankfurt a. M. 1977.
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tion aus Deutschland in die USA während des Nationalsozialismus.3Dank Edmund Spevack wissen wir um Simons’ Beteiligung an der Entstehung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschlands.4
I. R epublikaner in W eimar Simons’ Leben war ungewöhnlich und von den Krisen, Brüchen und Euphorien der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt. Dem Sohn des konservativen Reichsgerichtspräsidenten und Reichsaußenministers Walter Simons schien eine erfolgreiche Karriere im wilhelminischen Deutschen Reich vorgezeichnet. Für die liberal-bürgerliche Familie Simons war das Excellieren von Hause aus Programm. Das überdurchschnittlich erfolgreiche Studium der Rechtswissenschaften war für Simons jr. obligatorisch.5 Im Strudel des »Augusterlebnisses« zog Hans Simons 1914 als studentischer Patriot in den Ersten Weltkrieg. Nach einschneidenden Fronterfahrungen und einer schweren Verwundung kehrte er als Sozialdemokrat und Pazifist zurück. Orientierung in den Wirren der unmittelbaren Nachkriegsmonate gab ihm eine leitende Tätigkeit in der Deutschen Liga für den Völkerbund.6 Nachdem Hans Simons seinen Vater 3 | In der einschlägigen Literatur zur deutschsprachigen Emigration wird Simons nur am Rande erwähnt, vgl. Claus-Dieter Krohn et al. (Hg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933-1945, Darmstadt 1998; Institut für Zeitgeschichte unter der Gesamtleitung von Werner Röder et al. (Hg.), Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Bd. 1: Politik, Wirtschaft, öffentliches Leben, München/New York/Paris 1980; Werner Link, Mit dem Gesicht nach Deutschland. Eine Dokumentation über die sozialdemokratische Emigration, Düsseldorf 1968. 4 | Edmund Spevack, Hans Simons. Ein Emigrant in amerikanischen Diensten, in: Claus-Dieter Krohn/Patrik von zur Mühlen (Hg.), Rückkehr und Aufbau nach 1945. Deutsche Remigranten im öffentlichen Leben Nachkriegsdeutschlands, Marburg 1997, S. 321-339; ders., Allied Control and German Freedom. American Political and Ideological Influences on the Framing of the West German Basic Law (Grundgesetz), Münster 2001. 5 | Zur Lebensgeschichte von Walter Simons vgl. Horst Gründer, Walter Simons als Staatsmann, Jurist und Kirchenpolitiker, Neustadt 1975. 6 | Zur Geschichte der Deutschen Liga für den Völkerbund vgl. Jost Dülffer, Vom Internationalismus zum Expansionismus. Die Deutsche Liga für den Völkerbund,
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als persönlicher Sekretär zu den Friedensverhandlungen nach Versailles begleitet hatte, erwuchs in ihm der Wunsch nach einer akademischen Auseinandersetzung mit völkerrechtlichen Fragestellungen, die 1921 in seiner Promotion an der Universität Königsberg kulminierte.7 Von Beginn ihres Bestehens an engagierte sich Simons für die Republik. Allerdings scheiterte der Versuch, zusammen mit Carl von Ossietzky sowie einigen DDP-Mitgliedern eine republikanische Partei zu gründen.8 Dafür gelang es Simons, die administrative Triebkraft der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin zu werden, die versuchte, Beamte und Funktionäre durch professionelle politische Bildung für den neuen Staat zu gewinnen.9 Daneben lernte er als persönlicher Referent sozialdemoin: Wolfgang Elz/Sönke Neitzel (Hg.), Internationale Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Winfried Baumgart zum 65. Geburtstag, Paderborn et al. 2003, S. 251-267; Günter Höhne, Deutsche Liga für den Völkerbund (DLfV) 1918-April 1933, in: Dieter Fricke (Hg.), Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände 1789-1945, Bd. 2, Leipzig 1984, S. 9-17; Detlev Acker, Deutsche Liga für den Völkerbund, in: Vereinte Nationen 19 (1971), S. 74-78; die umfangreichste Auseinandersetzung findet sich bei: Joachim Wintzer, Deutschland und der Völkerbund 1918-1926, Paderborn 2006, hier S. 47-54 sowie S. 185-375. 7 | Hans Simons, Die Präambel der Pariser Völkerbundsatzung und das Völkerrecht, Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der hohen juristischen Fakultät, Universität Königsberg 1921. 8 | Zusammen mit den Redakteuren der Berliner Volkszeitung Karl Vetter, Carl von Ossietzky, Berthold Jacob, Henning Duderstadt und Heinrich Heppenheimer sowie den DDP-Mitgliedern Wilhelm Westphal und Martin Venedey gründete Simons am 6. Januar 1924 die Republikanische Partei Deutschlands (RPD). Den Vorsitz der Partei übernahmen Vetter, Westphal, Sperling und Simons; vgl. Werner Fritsch, Republikanische Partei Deutschlands, in: Fricke, Lexikon zur Parteiengeschichte (Fn. 6), S. 94-97, hier S. 94. 9 | Die Gründung der Deutschen Hochschule für Politik war die Umsetzung der verfassungsmäßigen Forderung nach staatsbürgerkundlicher Bildung und Gesinnung, sie sollte eine Institution sein, die demokratisches Bewusstsein lehrte; Siegfried Mielke, Einleitung. Die Deutsche Hochschule für Politik. Gründung, Ziele, Struktur, in: ders. (Hg.), Einzigartig. Dozenten, Studierende und Repräsentanten der Deutschen Hochschule für Politik (1920-1933) im Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Berlin 2008, S. 9-29, hier S. 9.
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kratischer Minister den Regierungsapparat Preußens und des Reichs kennen. 1930 wurde er der jüngste Regierungspräsident Preußens, zuerst kommissarisch in Stettin, dann vollamtlich in Niederschlesien.10 Mit dem »Preußenschlag« 1932 endete diese steile Karriere.11 Zwar schloss sich Simons nun seinem Freund und Kollegen Arnold Brecht an, der von den abgesetzten Ministern beauftragt worden war, Klage beim Staatsgerichtshof wegen Verfassungsbruchs durch den Reichskanzler einzureichen12, die »stille Kapitulation und kampflose Freigabe der Demokratie« konnten er und seine Mitstreiter freilich nicht mehr aufhalten.13 Nach Machtüber10 | Nachdem Simons zunächst ein Jahr kommissarisch das Amt des Regierungspräsidenten von Stettin ausgeübt hatte, wurde er auf Betreiben des sozialdemokratischen preußischen Innenministers Carl Severing im August 1931 nach Liegnitz in die Provinz Niederschlesien versetzt und zum Regierungspräsidenten ernannt; Bestallung von Hans Simons zum Präsidenten der Regierung in Liegnitz vom 18. August 1931; University of Albany (künftig UA), Hans Simons Papers (künftig HSP), Box 1, Folder 3. 11 | Franz von Papen hatte gewissermaßen im Handstreich die gesamte preußische Regierung abgesetzt, indem er alle sechs Minister beurlaubte und nach und nach alle unliebsamen Demokraten aus der preußischen Verwaltung entfernen ließ. Hans Simons gehörte zu den ersten Beamten, die ihre Entlassungspapiere zugestellt bekamen; Preußisches Staatsministerium an Simons, 20. Juli 1932; UA, HSP, Box 1, Folder 3. 12 | Brecht und Simons durchliefen in der Weimarer Republik viele gemeinsame Stationen in der Preußischen Ministerialbürokratie, zudem waren sie Kollegen an der Deutschen Hochschule für Politik. Ein dichter Briefwechsel dokumentiert die enge Freundschaft der beiden, die bis an ihr Lebensende bestand. Die einzelnen Schritte zur Vorbereitung der Klage vor dem Staatsgerichtshof hat Arnold Brecht in seinen Memoiren anschaulich dargestellt, vgl. Arnold Brecht, Mit der Kraft des Geistes. Lebenserinnerungen 1927-1967, Stuttgart 1967, S. 171-181; zur Lebensgeschichte von Brecht vgl. Claus Dieter Krohn/Corinna Unger (Hg.), Arnold Brecht 1884-1977. Demokratischer Beamter und politischer Wissenschaftler in Berlin und New York, Stuttgart 2006; Hannah Bethke, Das politische Denken Arnold Brechts. Eine transatlantische Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Berlin 2013 sowie den Beitrag von Corinna Unger im vorliegenden Band. 13 | Heiko Holste, Zwischen Reichsreform und »Preußenschlag«. Ministerialbeamter im Dienst der Republik, in: Krohn/Unger, Arnold Brecht (Fn. 12), S. 55-82, hier S. 74; für einen ausführlichen Überblick zur Selbstauflösung der Demokra-
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nahme der Nationalsozialisten und dem Gesetz zur »Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« von 1933 war für Simons eine Rückkehr in den Staatsdienst dauerhaft ausgeschlossen. Politisch machte er – im Gegensatz zu seinem Vater und den Rest seiner Familie, die sich sehr schnell mit der NS-Bewegung arrangierte – keine Kompromisse, sondern versuchte, im Ausland vergleichbare Wirkungsmöglichkeiten zu erlangen.
II. N euanfang in den USA Wegen der beruflichen Perspektivlosigkeit und um der Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu entgehen, emigrierte Hans Simons 1934 in die Schweiz, wenige Monate später fand er in den USA seine neue Heimat. Er folgte einem Ruf an die New School for Social Research in New York, die das Zentrum des intellektuellen Exils in den Vereinigten Staaten war und ab 1933 die zahlenmäßig größte Gruppe vertriebener Hochschullehrer aufnahm.14 Neben Arnold Brecht und Hans Staudinger war Hans Simons einer von drei ehemaligen preußischen Verwaltungsbeamten, die an der Graduate Faculty for Political and Social Science ihre universitäre Karriere in den USA begannen. Der Präsident der New School, Alvin Johnson, hatte diese drei ausgesucht, weil er sich »von deren administrativen Erfahrungen […] einiges versprach, um seine Institution als ›think tank‹ für den New Deal zu positionieren«.15 Obwohl alle drei nur an der Deutschen Hochschule für Politik den akademischen Bereich gestreift hatten, erhielten sie ein »Non-Quota-Visum«, das eigentlich Wissenschaftlern vorbehalten war.16 tie vgl. Karl Dietrich Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie, Düsseldorf 19847; auch Brecht hat sich zur Frage des gewaltlosen Widerstands ausführlich geäußert, vgl. Arnold Brecht, Die Auflösung der Weimarer Republik und die politische Wissenschaft, in: Zeitschrift für Politik, NF, 2. Jg., Heft 4, (Dezember 1955), S. 291-308. 14 | Claus-Dieter Krohn, Wissenschaft im Exil. Deutsche Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler in den USA und die New School for Social Research, Frankfurt a.M./New York 1987, S. 11. 15 | Claus-Dieter Krohn, »Refugee scholar« an der New School for Social Research in New York nach 1933, in: ders./Unger, Arnold Brecht (Fn. 13), S. 107129, hier S. 116. 16 | Ebd., S. 117.
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Neben seiner Expertise in der deutschen Verwaltung und seiner politisch-akademischen Führungsbegabung profitierte Hans Simons beim Neuanfang in den USA von seinem bildungspolitischen Engagement in der nach Abraham Lincoln benannten amerikanisch-deutschen Studienstiftung.17 Anders als den meisten Emigranten gelang es ihm schnell, sich in die neue Gesellschaft zu integrieren. Dies erreichte er in erster Linie durch die entschlossene Vervollkommnung seiner Sprachfertigkeit im amerikanischen Englisch, die sich auch darin ausdrückte, dass er seiner deutschen Familie bald nur noch auf Englisch schrieb. Seine sprachlichen Fortschritte ermöglichten Simons schnell die Publikation von Aufsätzen, die sein gefragtes Wissen über Deutschland karrieregerecht vorwiesen.18 Von großem Vorteil war dabei, dass die New School mit Social Research seit 1934 ihre eigene Zeitschrift herausgab. Das Journal war »Sprachrohr« der Graduate Faculty und kann als »Fortsetzung des 1933 eingestellten Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik (AfSS) sowie auch des Weltwirtschaftlichen Archivs aus Kiel« angesehen werden.19 Seine ausgesprochene Begabung im Bildungs- und Forschungsmanagement verhalf Hans Simons innerhalb der New School zum Aufstieg. Ende 1941 übernahm er von Max Ascoli das Dekanat der Graduate Faculty und das Amt des Fakultätsratsvorsitzenden.20 Unter dem Dekanat von Si17 | Als Direktor der Abraham-Lincoln-Stiftung lernte Simons bereits in der Weimarer Republik zahlreiche amerikanische Philanthropen kennen, die nach 1933 bei der Finanzierung vieler Stellen für emigrierte Wissenschaftler eine wichtige Rolle spielen sollten. Zur Geschichte dieser wenig beachteten Brücke zwischen Weimar und den USA vgl. Malcolm Richardson/Jürgen Reulecke/Frank Trommler (Hg.), Weimars Transatlantischer Mäzen. Die Lincoln-Stiftung 1927 bis 1934. Ein Versuch demokratischer Elitenförderung in der Weimarer Republik, Essen 2008. 18 | Vgl. u.a. Hans Simons, Some European Aspects of International Law, in: Social Research, Vol. 2, Nb. 4 (1935), S. 461-481; ders., Parliamentarism, in: Max Ascoli/Fritz Lehmann (Hg.), Political and Economic Democracy, New York 1937, S. 192-205, ders., Balance or Predominance in Europe?, in: Social Research, Vol. 5, Nb. 3 (1938), S. 283-303. 19 | Social Research erscheint bis heute in der Herausgeberschaft der New School; zur Geschichte des Journals vgl. Claus-Dieter Krohn, Social Research. Zeitschriftenporträt, in: Geschichte und Gesellschaft 12 (1986), S 274-281, Zitat S. 274. 20 | Max Ascoli hatte von 1939 bis 1941 das Amt des Dekans der Graduate Faculty inne. Im Oktober 1941 verließ er die New School und wirkte als Assistent von
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mons wurde das Curriculum der New School auf die Themen Zivilverteidigung, Konfliktstudien, Nachkriegsplanung, industrielle Beziehungen und internationale sowie inter-amerikanische Beziehungen ausgerichtet.21 Im Sog des Kriegs, der mit dem Angriff auf Pearl Harbour auch die Vereinigten Staaten erreicht hatte, wurde die Bedeutung der Graduate Faculty nicht nur durch das offenkundige Interesse von Behörden und Regierung sichtbar; auch die amerikanische scientific community musste die Arbeiten des »bedeutendsten deutschen Außenpostens freier, unabhängiger Wissenschaft«22 als wichtige Beiträge anerkennen.
III. »F eindwahrnehmung « Der Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg veränderte auch die Struktur ihres ersten Nachrichtendienstes, des Office of Strategic Services. Mit der Einrichtung der Central European Section (CES) war eine vermehrte Rekrutierung emigrierter deutscher Wissenschaftler verbunden.23 Neben der Wissenschaftsförderung durch philanthropische Stiftungen wurde das OSS damit zu einer weiteren »Grundkonstante der intellektuellen Produktionsbedingungen«.24 Simons nutzte das. Für ihn war die Mitarbeit im OSS die erhoffte Möglichkeit zur praktischen Mitgestaltung der amerikanischen Europapolitik. Im Juli 1943, nachdem die UntersuNelson A. Rockefeller im Office of the Coordinator of Inter-American Affairs. Von 1949 bis 1968 gab er das kritische Politikmagazin »The Reporter« heraus; vgl. Biography Max Ascoli, Howard Gotlieb Archival Research Center, Boston University, Max Ascoli Collection, Series 2, Folder 1. 21 | Hans Simons, To the Members of the Faculty Council, 15. April 1942; YIVO-Institute for Jewish Research, Horace M. Kallen Papers (künftig HMKP), Record Group (künftig RG) 317, Microfilm Number 499, Folder 551. 22 | So bezeichnete die Journalistin Dorothy Thomson die Graduate Faculty bereits 1938; zitiert nach Wolfram Hoppenstedt, Gerhard Colm. Leben und Werk (1897-1968), Stuttgart 1997, S. 148. 23 | Petra Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen über Deutschland 1942-1949, München 1995, S. 73. 24 | Tim B. Müller, Die Gelehrten-Krieger und die Rockefeller-Revolution. Intellektuelle zwischen Geheimdienst, Neuer Linken und dem Entwurf einer neuen Ideengeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 33 (2007), S. 198-227, hier S. 204.
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chungsabteilung des OSS ihn überprüft hatte, unterzeichnete Simons die nötigen Papiere, leistete seinen Treueschwur und wurde Berater der R&A Branch in dessen Europe-African und Central European Division.25 Damit gehörte Simons zu jener intellektuellen Elite historisch-politischer Deutschlandkenner, die sich mit der zentralen Auswertung von Feindinformationen beschäftigte. Zentrum dieses Kreises war Franz L. Neumann, der mit der neomarxistischen Interpretation des Nationalsozialismus in seinem Werk »Behemoth« wesentlich das Deutschlandbild der intellektuellen Beraterstäbe der Roosevelt-Regierung geprägt hat.26 Ende November 1943 formulierte Simons eine pointierte Bestimmung seiner Position zur amerikanischen Kriegs- und Nachkriegspolitik in einem Artikel in Social Research. Unter dem Titel »Bedingungen der Bedingungslosen Kapitulation« stellte er detaillierte Überlegungen zu den Voraussetzungen für die Gestaltung einer post-faschistischen Gesellschaft in Europa an.27 Diese Publikation stellte im Wesentlichen Überlegungen vor, die Simons während seiner Beratertätigkeit für das OSS entwickelt hatte.28 Danach würde den USA nach Kriegsende eine besondere Rolle bei der Gestaltung der politischen Rahmenbedingungen zukommen. Simons forderte, die Lehren aus den amerikanischen Versäumnissen nach dem Ersten Weltkrieg zu ziehen, als sich die USA nicht stark genug im Völkerbund engagiert hatten. In der internationalen Staatengemeinschaft sah Simons auch den Schlüssel für die zukünftige Weltordnung: »Fort25 | Oath of Office, Affidavit and Declaration of Appointee. Office of Strategic Services, 22. Juli 1943; National Archives and Records Administration Washington D.C. (künftig NARA), RG 226, EntRG y 92, Box 420, Folder 9. 26 | Lutz Niethammer, Einleitung, in: ders. (Hg.), Walter L. Dorn. Inspektionsreisen in der US-Zone. Notizen, Denkschriften und Erinnerungen aus dem Nachlaß, Stuttgart 1973, S. 8-17, hier S. 11. 27 | Hans Simons, The Conditions of Unconditional Surrender, in: Social Research 10 (1943), S. 399-416. 28 | Einige der formulierten Positionen von Simons decken sich mit Erörterungen, die er als unabhängiger Berater für die Foreign Nationalities Branch gemacht hat; zur Auslandsabteilung des OSS vgl. Siegfried Beer, Exil und Emigration als Information. Zur Tätigkeit der Foreign Nationalities Branch innerhalb des amerikanischen Kriegsgeheimdienstes COI bzw. OSS, 1941-1945, in: Jahrbuch des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstandes, Wien 1989, S. 132-143.
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unately the war is not an Anglo-Saxon affair, and the surrender, so we hope, will be made to the United Nations.«29 Hans Simons’ Engagement für den amerikanischen Geheimdienst dauerte nur ein Jahr. Im Oktober 1944 quittierte er seinen Dienst als Berater des OSS.30 Hintergrund war der Entschluss von Alvin Johnson, in Vorbereitung auf seinen Ruhestand die Leitung der New School neu zu organisieren. Dazu teilte er die Graduate Faculty in eine School of Philosophy unter der Leitung von Clara Mayer und eine School of Political Science unter der Leitung von Hans Simons auf. Die neuen Teilbereiche der New School wurden seit dem Sommer 1944 von ihren jeweils verantwortlichen Vorsitzenden mit freier Hand geführt. Die eigentlichen Aufgaben für sich selbst sah Johnson ohnedem schon seit Anfang der vierziger Jahre vor allem im Bereich der Public Relations für die Hochschule.31 Alvin Johnson hatte 1945 Hans Simons als seinen Nachfolger im Amt des Präsidenten im Sinn. Jedoch scheiterte er mit diesem Vorschlag an Louis D. Weiss, dem Vorsitzenden des Kuratoriums der New School. Dessen Begründung war simpel und unmissverständlich: »No German«.32 Auch wenn Simons 1940 amerikanischer Staatsbürger geworden war und seine Loyalität durch die Mitarbeit im OSS unter Beweis gestellt hatte – die Vorstellung, dass eine New Yorker Hochschule einen Deutschen zum Präsidenten haben sollte, war im Jahr 1945 undenkbar.
IV. V erbindungsoffizier zum Parl amentarischen R at Mitten im laufenden Sommersemester des Jahres 1947 erreichte Hans Simons die Nachricht, dass er für die amerikanische Militärregierung in Deutschland, das Office of Military Government for Germany, United States (OMGUS), als ziviler Mitarbeiter ausgewählt worden war.33 Die Civil 29 | Simons, Conditions (Fn. 27), S. 403. 30 | Office of Strategic Services, CSC Report Nb. 11666c, 31. Oktober 1944; NARA, RG 226, Office of Strategic Services, Personal Files, Entry 92, Box 420, Folder 9. 31 | Alvin Johnson, Pioneers Progress, New York 1952, S. 403. 32 | Ebd., S. 404. 33 | Christoph Weisz (Hg.), OMGUS-Handbuch. Die amerikanische Militärregierung in Deutschland 1945-1949, München 1994, S. 50.
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Administration Division von OMGUS, die im Frühjahr 1947 neu strukturiert wurde, benötigte für die Vorbereitung einer künftigen deutschen Regierungsverwaltung erfahrene Deutschlandexperten, die neben ihrer fachlichen Reputation auch über persönliche Erfahrungen und Kontakte in Deutschland verfügen sollten. Unter der Leitung von Edward H. Litchfield34 wurde die Civil Administration Division deshalb um zwei Berater erweitert: um Carl Joachim Friedrich, den renommierten deutschstämmigen Politikwissenschaftler an der Harvard University,35 und Hans Simons. Simons war zunächst damit beauftragt, die Londoner Außenministerkonferenz vom Herbst 1947 für die amerikanischen Vertreter vorzubereiten. Dazu legte er auf Basis einer diffusen Sammlung aus wissenschaftlichen Veröffentlichungen, den Direktiven und Proklamationen der Militärgouverneure, den Gesetzesvorlagen des Alliierten Kontrollrates, von öffentlichen Bekanntmachungen sowie unter Einbeziehung der Ausführungen von George C. Marshall36 zum European Recovery Program, zusammenfassende Entwürfe für eine künftige provisorische Regierungsverwaltung Deutschlands vor.37 Eine wichtige Grundlage für Simons Überlegungen zur Frage der deutschen Regierungsverwaltung war dabei der »Special Report – Land and Local Government in Germany in the U.S. Zone of Germany«, den Simons innerhalb der verschiedenen
34 | Der Politikwissenschaftler Edward Harold Litchfield (1914-1968) wurde in den fünfziger Jahren Kanzler der University of Pittsburgh. Seine Erfahrungen bei der Militärverwaltung des besetzten Deutschlands legte er 1953 mit einer Monographie vor, vgl. Edward H. Litchfield, Governing postwar Germany, Ithaca 1953. 35 | Der deutsch-amerikanische Politikwissenschaftler Carl Joachim Friedrich (1901-1984) lehrte seit 1926 an der Harvard University; zu Friedrich vgl. Hans J. Lietzmann, Carl Joachim Friedrich (1901-1984). Leben – Werk – Wirkung, in: Wilhelm Bleek/Hans J. Lietzmann (Hg.), Klassiker der Politikwissenschaft, München 2005, S 179-191. 36 | Über den »Vater des Marshallplans« sind eine Reihe von biografischen Arbeiten vorgelegt worden; zuletzt Charles F. Brower, George C. Marshall. Servant of the American nation, New York 2011; vgl. insbesondere Mary Sutton Skutt, George C. Marshall. Man Behind the Plan, Lexington 2004. 37 | Litchfield an Simons, 16. Juli 1947; NARA, RG 260, OMGUS, CAD, The Office of the Director, Miscellaneous Files 1946-49, Box 72.
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Stäbe bei OMGUS verteilte.38 Der Report fasste den »Testlauf« der Amerikaner zusammen, den sie mit der Errichtung der Länderverfassungen 1946 in Hessen, Bayern, Württemberg-Baden und Anfang 1947 in Bremen durchgeführt hatten. Aus amerikanischer Sicht bildeten die Verfassungen der Länder die föderale Grundlage einer möglichen zukünftigen deutschen Verfassung; für ihre relativ schnelle Formulierung gewährten die Amerikaner den deutschen Vertretern ein hohes Maß an Mitbestimmung. Diese Vorgehensweise sollte später auch bei der Ausarbeitung des Grundgesetzes gelten.39 Simons’ Überlegungen zur Gestaltung einer demokratischen deutschen Verfassung legten den Fokus auf die Dezentralisierung der deutschen Regierungsgewalt. Die Macht der Zentralregierung sollte durch einen Länderrat begrenzt werden, der auch im Bereich der Legislative ein hohes Maß an Mitbestimmungsrecht erhalten sollte.40 Daneben nahm Simons die Unabhängigkeit der Judikative in den Blick. Gemäß der amerikanischen Direktive Nummer 49 der Moskauer Konferenz der Außenminister von 1947 forderte er ein Verfassungsgericht, das die Kompetenz haben sollte, Streitigkeiten zwischen den Ländern und der Staatsregierung zu regeln. Angesichts der Erfahrungen, die Simons 1932 im Prozess »Preußen contra Reich« vor dem Staatsgerichtshof in Leipzig gemacht hatte, empfahl er außerdem: »the court should protect local government against infringements both by the federal and land governments. It should also deal with willful violation of the constitution by any official, regardless of whether or not individual rights are concerned«.41
Das zentrale Ansinnen war deutlich: Ein Staatsstreich, wie ihn von Papen vollzogen hatte, sollte nie wieder möglich sein. 38 | Simons to all Branch Chiefs, Distribution of Special Report – Land and Local Government in the U.S. Zone of Germany, 26. September 1947; NARA, RG 260, OMGUS, CAD, The Office of the Director, Miscellaneous Files 1946-49, Box 72. 39 | Edmund Spevack, Allied Control and German Freedom. American Political and Ideological Influences on the Framing of the West German Basic Law (Grundgesetz), Münster 2001, S. 81-112. 40 | Hans Simons, Memorandum, 27. September 1947; NARA, RG 260, OMGUS, CAD, The Executive Branch, Central Files 1945-49, Box 91, S. 1. 41 | Ebd., S. 7.
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Als Simons im Sommer 1947 zur Civil Administration Division kam, war die einstige Anti-Hitler-Koalition bereits unwiederbringlich gespalten und vor dem Hintergrund der im Juni 1947 gescheiterten Ministerpräsidentenkonferenz in München muss auch Simons bewusst gewesen sein, dass eine zonenübergreifende Klärung der Deutschlandfrage zur Utopie geworden war.42 Die Arbeit bei OMGUS konzentrierte sich längst auf eine westdeutsche Lösung. Diese Lösung wurde auf der Londoner Sechsmächtekonferenz ratifiziert und am 1. Juli 1948 durch die Militärgouverneure der drei westlichen Besatzungszonen als »Frankfurter Dokumente« an die westdeutschen Ministerpräsidenten übergeben.43 Im Anhang des dritten Dokumentes hieß es: »Beauftragte der Militärgouverneure werden bereit sein, die Ministerpräsidenten und die verfassungsgebende Versammlung in allen Angelegenheiten, die diese hervorzubringen wünschen, zu beraten und zu unterstützen«. Diese »Liaison Officers« sollten als Verbindung zwischen dem Parlamentarischen Rat in Bonn und dem Sitz der Militärgouverneure in Frankfurt dienen.44 Auf amerikanischer Seite war Hans Simons für den Posten des »Liaison Officers« prädestiniert. Als solcher traf er mit Theodor Heuss (inzwischen FDP-Gründungsmitglied) und Walter Menzel (SPD) auf ehemalige Kollegen von der Deutschen Hochschule für Politik und aus der preußischen Ministerialbürokratie.45 Simons bezog ein Büro in der Bonner Joachimstraße 12, das sich in unmittelbarer Nähe zur Pädagogischen Hochschule befand, die als Tagungsort für den Parlamentarischen Rat diente. Die Arbeit an der westdeutschen Konstitution wurde mit dem Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee vom 10. bis zum 23. August 1948, 42 | Zur Münchener Ministerpräsidentenkonferenz vgl. Elmar Krautkrämer, Der innerdeutsche Konflikt um die Ministerpräsidentenkonferenz in München 1947, in: VfZ 20 (1972), S. 154-174. 43 | Michael F. Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948-1949. Die Entstehung des Grundgesetzes, Göttingen 1998, S. 30f. 44 | Zitiert nach: Rupert Schick/Friedrich Kahlenberg (Hg.), Der Parlamentarische Rat. Akten und Protokolle, Bd. 8, Die Beziehungen des Parlamentarischen Rates zu den Militärregierungen, bearbeitet von Michael F. Feldkamp, Boppard 1995, S. XVI. 45 | Eine Liste mit den 65 Mitgliedern des Parlamentarischen Rats ist abgedruckt bei Feldkamp, Der Parlamentarische Rat (Fn. 43), S. 207-227.
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einem Ausschuss von Sachverständigen begonnen. Zwar konnten sich die Vertreter dort noch nicht auf einen gemeinsamen Entwurf zum Grundgesetz einigen, die Ministerpräsidenten lieferten allerdings dem Parlamentarischen Rat »wertvolle Vorarbeiten« für die westdeutsche Verfassung.46 Simons bewertete das Ergebnis des Konvents positiv; er schrieb dem Entwurf zu, eine »ziemlich vollständige und richtige Zusammenfassung der verfassungsrechtlichen Vorstellungen in Westdeutschland« zu sein. »Als Arbeitsgrundlage habe er das Denken der Abgeordneten des Parlamentarischen Rates beträchtlich beeinflußt«.47 Nach kurzer, aber intensiver und turbulenter Vorbereitungszeit nahm der Parlamentarische Rat am 1. September 1948 seine Arbeit auf. In den folgenden Monaten wurde die Ausformung des Grundgesetzes von den kontroversen Ansichten geprägt, die innerhalb der politischen Lager der Ratsmitglieder, aber auch zwischen dem Rat und den Alliierten, über die Struktur der zukünftigen westdeutschen Verfassung herrschten. Die alliierten »Liaison Officers« in Bonn hatten die Arbeit des Parlamentarischen Rats zu überwachen und zu begleiten. Dabei bekam Simons bald den Eindruck, dass sich die deutschen Parlamentarier ihrer historischen Verantwortung zu wenig bewusst seien. Nach den ersten Sitzungen machte er deutlich, dass er von den Abgeordneten des Parlamentarischen Rats mehr praktische Arbeit erwarte und »weniger Deklamation parteipolitischer Grundsätze«.48 Aus Simons Perspektive schienen sich die Mitglieder des Parlamentarischen Rats über die weltpolitische Bedeutung der Deutschlandfrage nicht immer im Klaren gewesen zu sein. Er brachte deshalb wenig Verständnis dafür auf, dass »das Schicksal des deutschen Volkes bei den maßgeblichen Politikern in ihren Entscheidungen von parteipolitischen 46 | Ebd., S. 45; zum Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee vgl. Angela BauerKirsch, Herrenchiemsee. Der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee – Wegbereiter des Parlamentarischen Rates, Univ.-Diss., Bonn 2005. 47 | Aufzeichnung von Walter Lippmann bezüglich Schreiben von Hans Simons vom 29. November 1948; Bundesarchiv (Hg.), Der Parlamentarische Rat 19481949. Akten und Protokolle, Bd. 3, Ausschuß für Zuständigkeitsabgrenzungen, bearbeitet von Wolfram Werner, Boppard a. R. 1986, S. XVII. 48 | Dieses und folgende Zitate aus: Besprechung von Leisewitz mit alliierten Vertretern in Bonn 10. September 1948; zitiert nach: Schick/Kahlenberg (Hg.), Der Parlamentarische Rat (Fn. 43), Bd. 8, S. 4.
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Prestigegesichtspunkten abhängig gemacht« werde.49 Die fast schon logische Konsequenz aus dieser Schieflage war der nicht immer freundliche Ton gegenüber dem stark national auftretenden Carlo Schmidt und dem stets selbstbewussten Konrad Adenauer. Die Vielzahl an Interventionen, die Simons in informellen Gesprächen und in offiziellen Eingaben und Expertisen bis zur Verabschiedung des Grundgesetzes im Mai 1949 vorgenommen hat, lässt sich in der hier gebotenen Kürze nicht darstellen. Es waren langwierige und aufreibende Monate für den deutschen Amerikaner, der den Föderalismus zur conditio sine qua non der Verfassungsgebung ausrief, während seine deutschen Verhandlungspartner eine eher zentralstaatliche Auffassung von Demokratie hatten.50 In einem Vortrag an der University of Chicago blickte Hans Simons im Juni 1950 mit dem Abstand eines Jahres auf die Formung des Grundgesetzes zurück und bewertete diese als »consequence of the conflict between the United States and the other Western powers, on the one side, and the Soviet Union, on the other, and not primarily in order to please the Germans«.51 Diese Einschätzung prägte auch seine Arbeit in Deutschland. Er sah sich stets als Vertreter der Interessen der Außenpolitik der Vereinigten Staaten. Daher galt es in erster Linie, Westdeutschland als Teil einer amerikanisch dominierten Föderation zu etablieren. Demzufolge waren zwei Fragen maßgeblich: »Does it serve our purposes?« und »Does it serve purposes of German internal policies and German recovery?«52 Historisch räumte Simons dem Grundgesetz einen einzigartigen Platz in der Verfassungsgeschichte ein, da es, wie auch die ostdeutsche Verfassung, als ein Instrument internationaler Interessen anzusehen sei.
49 | Dieses und das folgende Zitat aus: Bericht über die Presseerklärung eines alliierten Vertreters nach Übergabe der Mitteilung der Außenminister, 5. April 1949; Der Parlamentarische Rat (Fn. 43), Bd. 8, S. 221. 50 | Für eine ausführliche Darstellung vgl. Heß, Ein deutscher Amerikaner (Fn. 1), Kapitel VII. 51 | Hans Simons, The Bonn Constitution and its Government, in: Hans J. Morgenthau (Hg.), Germany and the Future of Europe, Chicago 1951, S. 114-130, hier S. 114. 52 | Ebd., S. 115.
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Inhaltlich waren für Simons im Grundgesetz die wesentlichen Merkmale einer demokratischen Staatsordnung enthalten: »all political power is recognized as origination with the people and subject to their control; second, the people have the opportunity to exercise that control through popular elections held at frequent intervals; third, elections are conducted under conditions in which freely competing parties submit their programs and candidates to the vote of the people at frequent intervals; fifth, the basic rights of the individual, including free speech, freedom of religion, of assembly, and of association, and other basic rights of men, are recognized and guaranteed; and, sixth, individuals are protected from arbitrary arrest, search, and are guaranteed equality under the law«. 53
Dennoch blieb für Simons die Bundesrepublik auf unbestimmte Zeit ein unkontrollierbarer Verbündeter. Daher sprach er sich für eine dauerhafte Kontrolle Deutschlands durch die Siegermächte aus und warnte eindringlich vor der Wiederbewaffnung Deutschlands.
V. P r äsident der N e w S chool Nach seiner Rückkehr in die USA übernahm Hans Simons das Amt des Präsidenten der New School, das seinem administrativen Talent zur Gänze entsprach. Die Bundesrepublik bereiste er in den fünfziger Jahren im Auftrag des State Departments zur Evaluierung der neu- bzw. wiedergegründeten Politikwissenschaft. Dabei beobachtete er, dass »political science does not have the academic home without which it cannot be successful at German universities«.54 In der Tat hatte die Politikwissenschaft in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst »sehr mühsam gegen den Widerstand der konservativen und traditionalistischen Kräfte an den Universitäten« anzukämpfen.55 Nach zehn insgesamt erfolgreichen Jahren im Amt des Präsidenten der New School wurde Hans Simons bildungspolitischer Berater der Ford 53 | Ebd. 54 | Simons, Political Science in German Universities, A Report by Dr. Hans Simons; UA, HSP, Box 1, Folder 6.
55 | Bleek, Geschichte (Fn. 2), S. 300.
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Foundation für Indien und Lateinamerika.56 Aber auch die Bundesrepublik behielt er privatim wie offiziell im Blick. Im Auftrag der Ford Foundation evaluierte Simons ab Mitte der sechziger Jahre mehrmals die Freie Universität in West-Berlin hinsichtlich ihrer akademischen Profilierung. Die dabei beobachteten Aktivitäten der Studierenden hat Simons als Teil eines globalen Jugendprotests verstanden.57 Hans Simons war einer jener Promotoren, die die Demokratisierung der Bundesrepublik aktiv mitgestalteten, wenn auch stets aus dem Hintergrund heraus. Er kehrte nie dauerhaft in das Land zurück, das er ein knappes Jahr nach der Machtübernahme der Nazis verlassen musste. Er wurde ein deutscher Amerikaner. Bis an sein Lebensende im Jahr 1972 bewahrte er gegenüber den Deutschen eine gehörige Skepsis hinsichtlich ihrer tatsächlichen demokratischen Durchdringung.
56 | Zum bildungspolitischen Engagement der Ford-Foundation auf dem indischen Subkontinent vgl. Nicole Sackley, Foundation in the Field. The Ford Foundation’s New Delhi Office and the Construction of Development Knowledge 1950-1970; in: John Krige/Helke Rausch (Hg.), American Foundations and the coproduction of world order in the twentieth century, Göttingen 2012. 57 | Hans Simons, Berlin Report, 20. Januar 1967; RAC, FF, Grant Files, Grant Nb. 63-348, Reel 1292.
Theodor W. Adornos Demokratieexpertise beim Aufbau der Bundeswehr: Authoritarian Personality, Charakterologie oder Psychotechnik? Die Konflikte um Einrichtung und Ausrichtung des Psychologischen Dienstes der Bundeswehr Johannes Platz Im Jahr 1954 berief das Amt Blank eine Psychologische Studienkommission, an der ein illusterer Kreis von Wissenschaftlern teilnahm. Die Studienkommission sollte psychologische und sozialwissenschaftliche Methoden zur Personalselektion beim Auf bau einer bundesdeutschen Streitkraft zusammentragen. Für diese Studienkommission unterzog das Psychologische Institut der Universität Freiburg unter Leitung von Robert Heiss, einem psycholgischen Ordinarius, eine deutsche Version der f-scale aus der Authoritarian Personality an Freiburger Psychologen und Studenten einem Pre-test. Die f-scale war ein sozialwissenschaftliches Instrument zur Messung autoritärer Charakteranteile. Die f-scale sollte zur Negativauslese ungeeigneter Bewerber beim Wiederauf bau deutscher Streitkräfte Verwendung finden. Zu Beginn des Tests wurde darauf hingewiesen, dass es sich um die Erprobung eines neuen Verfahrens handele, das den amerikanischen Personality Inventories bzw. Attitude Tests ähnele.1 Im Verlauf des Tests entstand Unruhe. »Die Versuchspersonen waren im Gegensatz zu sonstigen psychologischen Untersuchungen auf1 | Vgl. Institut für Psychologie und Charakterologie Universität Freiburg, Prof. Dr. Robert Heiss, Bericht über Durchführung und Ergebnisse der F-Scale-Vorversuche, Freiburg 14.8.1954, Institut für Sozialforschung Frankfurt a.M. (IfSA), A 20, Projekt »P 14«, Vorarbeiten, S. 2.
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fallend unruhig. Kurz nach Beginn der Versuche fielen bereits spontane Bemerkungen und Ausrufe, die dann mehr und mehr zunahmen und die ganze Versuchszeit über andauerten.« Abwehrende Äußerungen fielen: »So was machen noch nicht mal die Russen! Entnazifizierung, was da los ist! Das interessiert mich doch nicht! Unglaublich! Pfui! Zum Schreien!«2 In der anschließenden Befragungen bemerkten die Probanden: »Die Fragen haben wir schon so oft gehört, sie wecken unangenehme Erinnerungen! Das ganze ist ja eine Zumutung! Wir sind schon wieder so weit!«3 Auch in der quantitativen Auswertung ergab sich kein positives Bild.4 Der Bericht kommt zu dem Schluß, dass der Fragebogen nicht verwendet werden könne, da er keinen diagnostischen Wert besitze, weil die Mehrzahl der Teilnehmer die Fragen stark affektbesetzt beantworte. Mit dem Freiburger Institut kooperierte damals das Frankfurter Institut für Sozialforschung. Die Frankfurter teilten die Schlußfolgerungen aus dem Pre-Test nicht. Die Schaffung eines Instruments zur Personalselektion, das auf der F-Scale basiert, sie aber für die Zwecke der Auswahl völlig umformt, sei durch den Pre-Test in Freiburg nicht vom Tisch:5 »Die Empfindlichkeit, mit der auf die Fragen reagiert wurde, zeigt die Schwierigkeit der Aufgabe, antidemokratische Tendenzen festzustellen. Diese
2 | Vgl. ebd., S. 3. 3 | Vgl. ebd., S. 4. Die letzte Äußerung weckte allgemeinen Beifall. Die Ablehnung des Fragebogens korrespondiert mit einer verbreiteten Haltung unter den Militärs. Vgl. z.B. der Kommentar Kaminskis, die besorgte Frage in und außerhalb der Dienststelle laute, ob mit den Prüfgruppen »etwa psychologische Spruchkammern entstehen sollen«, vgl. Protokoll der Sitzung der Psychologischen Studienkommission am 5.7.1954 im Institut für Sozialforschung an der Johann Wolfgang von Goethe Universität, IfSA, A 20, Projekt »P 14«, Vorarbeiten., S. 10. 4 | Die Streuung der Stellungnahmen zwischen den Extrempolen war bei den einzelnen Fragen stark unterschiedlich. Eine ganze Reihe der Antworten wies extrem nach einem Pol verschobene Werte auf. Des weiteren blieben ein Drittel der Sätze von ca. 25 % der Teilnehmer unbeantwortet, ein Satz wurde gar von 44 % der Teilnehmer nicht beantwortet, vgl. Bericht über Durchführung und Ergebnisse der F-Scale-Vorversuche, Freiburg 14.8.1954, IfS Archiv, A 20, Projekt »P 14«, Vorarbeiten, S. 5; vgl. ebd. S. 9f. 5 | Vgl. [IfS] Stichworte für den Tätigkeitsbericht [ohne Datum, nach Heiss-Bericht], IfS Archiv, A 20, Projekt »P 14«, Vorarbeiten.
Theodor W. Adornos Demokratieexper tise beim Aufbau der Bundeswehr
Reaktionen scheinen symptomatisch für die Vorzeichen, unter denen der personelle Auf bau der neuen Streitkräfte steht. Fragebogen beibehalten!«6 Der vorliegende Beitrag untersucht die Rolle von kooperierenden und konkurrierenden wissenschaftlichen Experten als Politik- und Personalberater bei der Gründung der Bundeswehr. Dabei stehen die gegensätzlichen Konzeptionen, die sie anboten, im Mittelpunkt. Im Kontext der aktuellen Diskussion über das hohe Potential an ideologisch motivierter Gewaltbereitschaft innerhalb der Wehrmacht ist ein Blick auf die gesellschaftspolitischen Bemühungen bei der Gründung einer bundesdeutschen Streitkraft, aus dieser autoritär-destruktiv, aggressiv und antisemitisch-rassistisch eingestellte Bewerber fernzuhalten, von besonderem Interesse. Die leitende Fragestellung richtet sich auf die Akteure, die die verschiedenen Konzepte nachgefragt bzw. vertreten haben und welche Ordnungsmuster sich damit verbanden. Die dargestellte Fallstudie ist Bestand der Untersuchung über »[die] Praxis der kritischen Theorie. Angewandte Sozialwissenschaften und Demokratie in der frühen Bundesrepublik«. Warum richtet sich das Interesse auf die Frankfurter Schule? Sie gilt als theorielastig und anwendungsfern, ihr Ziel bestand darin, eine Theorie der Gesellschaft zu formulieren. Wie lässt sich da von angewandter Sozialwissenschaft sprechen? Die Quellen zur Institutsgeschichte im Archiv des Instituts für Sozialforschung bestehen zu ihrem übergroßen Teil aus Projektakten. Es handelt sich in erster Linie um Akten klassischer Drittmittel- und zum Teil Auftragsforschung, die von einem starken Praxisbezug zeugen. Um falsche falschen Wirkungsvermutungen zu vermeiden, wurde die Gegenüberlieferung öffentlicher und privater Archive herangezogen. Allerdings bleiben die bestehenden wissenschaftshistorischen Rekonstruktionen Alex Demirovics, Clemens Albrechts und Monika Bolls zum vorliegenden Thema defizitär, weil diese zwar die Geschichte des Frankfurter Instituts intensiv untersuchen und auch auf den militärischen Anwendungsfall knapp aufgreifen, jedoch versäumen, die militärhistorische Gegenüberlieferung im Bundesarchiv-Militärarchiv zu prü-
6 | Vgl. ebd.; die Themenkreise der Fragen wurden als richtig eingeschätzt und sollten nach Ansicht des IfS als Diskussionsgrundlage in den Auswahlübungen beibehalten werden.
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fen, ja überhaupt nur heranzuziehen.7 Insbesondere Albrecht kommt zu weitreichenden Annahmen über die »expertive Beratung und Autorität« Adornos, die einem Blick in die Quellen der Militärgeschichte und ihre Akten nur begrenzt standhalten. Deshalb widerspricht der vorliegende Beitrag der These von der »intellektuellen Gründung der Bundesrepublik«, da sie einer wirkungsgeschichtlichen Überprüfung, jedenfalls anhand der vorliegenden Fallstudien nicht standhalten.8 Die vorliegende 7 | Alex Demirovic, Der nonkormistische Intellektuelle. Die Entwicklung der Kritischen Theorie zur Frankfurter Schule, Frankfurt a.M. 1999, S. 367-372, geht vor allem auf die abwägenden Überlegungen zum strategischen Vorgehen des Instituts, zur kollegialen und politischen Bündnisbildung und den weitergehenden institutspolitischen Überlegungen des Instituts ein; Clemens Albrecht, Vom Konsens zur Lagerbildung der 60er Jahre: Horkheimers Institutspolitik, in: ders./Günter C. Behrmannn/Michael Bock/Harald Homann/Friedrich H. Tenbruck, Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt a.M., New York 1999, S. 145-153, sowie ders., Expertive versus demonstrative Politikberatung. Adorno bei der Bundeswehr, in: Stefan Fisch/ Wilfried Rudloff (Hg.), Experten und Politik. Wissenschaftliche Politikberatung in geschichtlicher Perspektive, Berlin 2004, S. 297-308. Auch Monika Boll, die die behutsamste Einordnung vornimmt, versäumt es die militärhistorische Parallelüberlieferung zu analysieren, vgl. dies., Kalte Krieger oder Militärreformer? Das Institut und die Bundeswehr, in: dies./Raphael Gross (Hg.), Die Frankfurter Schule und Frankfurt. Eine Rückkehr nach Deutschland, Göttingen 2009, S. 54-63. Die militärhistorische Forschung ignoriert umgekehrt die wissenschaftsgeschichtliche Quellenüberlieferung vollständig, vgl. hierzu Georg Meyer, Zur inneren Entwicklung der Bundeswehr bis 1960/61, in: Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hg.), Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik 1945-1956, Bd. 3 (Die NATOOption), München/Wien 1993, S. 851-1162, aber auch die jüngeren Studien von Frank Pauli, Wehrmachtsoffiziere in der Bundeswehr. Das kriegsgediente Offizierskorps der Bundeswehr und die Innere Führung, Paderborn 2010; Frank Nägler, Der gewollte Soldat und sein Wandel. Personelle Rüstung und Innere Führung in den Aufbaujahren der Bundeswehr 1956 bis 1964/65, München 2010. 8 | Die vorliegende Fallstudie wurde einer umfassenden Analyse unterzogen in Johannes Platz, Die Praxis der kritischen Theorie. Angewandte Sozialwissenschaft und Demokratie in der frühen Bundesrepublik 1950-1960, Trier 2012 (http://ubt. opus.hbz-nrw.de/volltexte/2012/780/pdf/Die_Praxis_der_kritischen_Theorie. pdf), S. 132-235. In den übrigen Fallstudien werden die Rezeption des Gruppenex-
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Fallstudie versteht sich als punktuelle Bohrung zu Rezeptionsweisen von Theorien, Methoden und Modellen der kritischen Theorie. Daran lassen sich andere Wirkungsmodelle der Handlungsweisen von Remigranten, die Anselm Doering-Manteuffel, Michael Hochgeschwender und Julia Angster als Westernisierung der Bundesrepublik beschrieben haben, überprüfen. Dieses gilt auch für die wissenschaftsgeschichtlich bemühte Erklärung der Amerikanisierung, der »Modernisierung im Wiederaufbau«, und für die Frage, ob Verwissenschaftlichung des Sozialen auch ein Merkmal der von Herbert beschriebenen Fundamentalliberalisierung der Bundesrepublik war.9 periments und der Authoritarian Personality, die Anwendung des Gruppendiskussionsverfahrens in der Mannesmannstudie zum Betriebsklima, der Heimkehrerstudie für die Bundeszentrale für Heimatdienst und eine Führungsstiluntersuchung im deutschen Steinkohlebergbau im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung untersucht. In allen Fällen ist zwar die Auftragslage klar und spricht für eine Rezeption der Ansätze, Methoden und Theorien des Frankfurter Instituts für Sozialforschung innerhalb der administrativen Apparate und wirtschaftlichen Bürokratien der jungen Bundesrepublik. Es kam aber nicht nur bloß zu Reibereien, die im Rahmen der Verwissenschaftlichung des Sozialen häufig zu beobachten sind, sondern zu so tiefgreifenden Konflikten, dass regelmäßig die Publikation der empirischen Forschungsergebnisse und der elaborierten theoretischen Analysen des Instituts verhindert oder zumindest erheblich abgeschwächt wurden, vgl. ebd. passim. Zum analytischen Konzept der Verwissenschaftlichung des Sozialen vgl. Lutz Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: GG 22 (1996), S. 165-193, vgl. auch Margit Szöllösi-Janze, Wissensgesellschaft in Deutschland: Überlegungen zur Neubestimmung der deutschen Zeitgeschichte über Verwissenschaftlichungsprozesse, in: GG 30 (2004), S. 277-313. 9 | Zum Konzept der »Westernisierung« vgl. statt vieler Anselm Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999; Ulrich Herbert (Hg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung, 1945 bis 1980, Göttingen 2002; Michael J. Hogan, The Marshall Plan. America, Britain and the Reconstruction of Europe. 1947-1952, Cambridge 1987; und Heinrich A. Winkler, Der lange Weg nach Westen, Bd. 2: Deutsche Geschichte vom »Dritten Reich« bis zur Wiedervereinigung, München 2000, sowie – zu Teilaspekten – Julia Angster, Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie. Die Westernisierung von SPD und
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Das Frankfurter Institut, geleitet von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno remigrierte institutionell 1950 in die noch junge Bundesrepublik. Das Institut und seine Wissenschaftler repräsentierten ein Netzwerk hocheinflussreicher Sozialwissenschaftler, Philosophen, Ökonomen, Politikwissenschaftler, die zum Teil in den USA eine große Nähe zur amerikanischen Administration aufwiesen. Horkheimer und Adorno konnten auf dieser Grundlage gute Beziehungen zum amerikanischen Hochkommissariat HICOG auf bauen. Das Institut war vor allem in der Emigration Stütze und intellektueller Anlaufpunkt für das oben beschriebene Netzwerk. Es war emigriert, als Hitler an die Macht kam und hatte Standorte zunächst in Paris, Genf und London, bevor es nach New York übersiedelte. Es entwickelte sich im Exil, auch unter Einfluss neuhinzugekommener Sozialwissenschaftler und Psychologen zu einer führenden Kraft in der empirischen Sozialforschung, deren Methoden es nach der Remigration in die junge Bundesrepublik importierte.10 DGB. München 2003; vgl. auch die Beiträge in Axel Schildt/Arnold Sywottek (Hg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993, Studienausgabe 1998. Zur Liberalisierung vgl. Ulrich Herbert, Liberalisierung als Lernprozess, Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte, eine Skizze, in: ders. (Hg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland, Belastung, Integration, Liberalisierung 1945-1980, Göttingen 2002, S. 7-49. Eine jüngere Untersuchung Thomas Mergels zu intellektuellen Einflüssen »von draußen« in der Ideengeschichte der Bundesrepublik, die sich der Rezeptionsgeschichte der usamerikanischen empirischen Sozialforschung annimmt, klammert leider den besonders spannenden Fall der »Praxis der kritischen Theorie« [Johannes Platz] aus, vgl. Thomas Mergel, Zählbarkeit, Stabilität und die Gesellschaft als solche. Zur Rezeption der US-Sozialforschung als solche nach 1945, in: Axel Schildt (Hg.), Von draußen. Ausländische intellektuelle Einflüsse in der Bundesrepublik bis 1990, Göttingen 2016, S. 105-127. 10 | Wolfgang Bonß, Die Einübung des Tatsachenblicks. Zur Struktur und Veränderung empirischer Sozialforschung, Frankfurt a.M. 1982; Hans-Joachim Dahms, Positivismusstreit. Die Auseinandersetzungen der Frankfurter Schule mit dem logischen Positivismus, dem amerikanischen Pragmatismus und dem kritischen Rationalismus, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1998; Stefan Müller-Dohm, Die Soziologie Theodor W. Adornos. Eine Einführung, Frankfurt a.M. 1996; Christoph Weischer, Das Unternehmen empirische Sozialforschung. Strukturen, Praktiken und Leitbilder der Sozialforschung in der Bundesrepublik Deutschland, München 2004;
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Die Zukunft im nationalsozialistischen Deutschland antizipierte die kritische Theorie bereits in den frühen dreißiger Jahren aufgrund einer Pionierstudie der empirischen Sozialforschung, mittels derer sie das politische Bewusstsein und die Einstellungen von »Arbeitern und Angestellten am Vorabend des Dritten Reiches« in den Blick nahm.11 Diese empirische Studie beruhte auf einer Verbindung von psychoananaltischen Grundannahmen, sozialpychologischer Theoriebildung und Fragebogengestützter empirischer Sozialforschung. Die Auswertung dieser Studie lag bei Erich Fromm. Ediert wurde der Forschungsbericht erst in den 1980er Jahren durch Wolfgang Bonß. Diese Pionierstudie kam zu dem Schluss, dass auch die Arbeiterschaft autoritären Einstellungen nicht abgeneigt ist und in vielen Fragen, die von expliziten politischen Entscheidungen weiter entfernt waren, anfällig für autoritäre Deutungsmuster und Diskurse sein würde. Die Frankfurter Theoretiker schlossen daraus eine Anfälligkeit auch der Arbeiterschaft für faschistische Mobilisierungen.12 In den 1930er Jahren vertiefte das Institute for Social Research seine Forschungen zum Zusammenhang zwischen autoritären Einstellungen Helmut Dubiel, Wissenschaftsorganisation und politische Erfahrung. Studien zur frühen kritischen Theorie, Frankfurt a.M. 1978; Christian Fleck, Transatlantische Bereicherungen. Zur Erfindung der empirischen Sozialforschung, Frankfurt a.M. 2007; Martin Jay, Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung, Frankfurt a.M. 1976; Emil Walter-Busch, Geschichte der Frankurter Schule. Kritische Theorie und Politik, München 2010; Thomas Wheatland, The Frankfurt School in Exile. Minneapolis, London 2009; Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte, Theoretische Entwicklung, Politische Bedeutung, 3. Aufl., Frankfurt a.M. 1991; Monika Boll, Nachtprogramm. Intellektuelle Gründungsdebatten in der frühen Bundesrepublik, Münster 2004. 11 | Erich Fromm, Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches. Eine sozialpsychologische Untersuchung. Bearbeitet und herausgegeben von Wolfgang Bonß, Stuttgart 1980. 12 | Carsten Schmidt hat die Beiträge Fromms zur Autoritarismusforschung jüngst untersucht, vgl. ders., Der autoritäre Charakter. Erich Fromms Beitrag zu einer politischen Psychologie des Nationalsozialismus, Münster 2009, zur analytischen Sozialpsychologie, vgl. ebd., S. 29-39; Wolfgang Bonß, Kritische Theorie und empirische Sozialforschung: Anmerkungen zu einem Fallbeispiel, in: Erich Fromm, Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches. Eine sozialpsychologische Untersuchung, Stuttgart 1980, S. 7-46.
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und Erziehungsstilen. Doch erst in den 1940er Jahren griff es die Grundlegungen in diesem ersten empirischen Forschungsprojekt auf und untersuchte gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern in den Studien, die später unter dem Titel Studies in Prejudice erschienen, den Antisemitismus in seiner ganzen Bandbreite.13 Die untersuchten Gruppen waren vielfältig. Im Hauptwerk, der Authoritarian Personality 14, waren die untersuchten Probanden vorwiegend Mittelschichtsangehörige gewesen.15 Doch auch die die Untersuchung von Arbeitern machte Fortschritte.16 In der Studie Antisemitism among American Workers wurde, was die untersuchte Gruppe betraf, an die frühen Studien angeknüpft, der Fokus jetzt allerdings auf das Problem des Antisemitismus verschoben.17 Als Horkheimer im Exil Pläne entwickelte, mit dem Institut nach Deutschland zurückzukehren und zu diesem Zweck Deutschland und insbesondere Frankfurt bereiste, um die Modalitäten zu klären, entwickelte er eine rege Korrespondenztätigkeit mit ehemaligen Weggenossen, Mitarbeitern der Studies in Prejudice und Theodor W. Adorno, in der er eine Fortsetzung des mit der Authoritarian Personality und den Studies in Prejudices entwickelten Forschungsweges reflektierte.18 Mit der Remi13 | Institut für Sozialforschung, Studien zu Autorität und Familie, Paris 1936. 14 | Theodor W. Adorno/Else Frenkel-Brunswick/Daniel J. Levinson/R. Nevitt Sanford, The Authoritarian Personality New York 1950, (Studies in Prejudice, 1); Theodor W. Adorno, Studien zum autoritären Charakter, 3. Aufl., Frankfurt a.M. 1999. 15 | Ingrid Gilcher-Holtey, Plädoyer für eine dynamische Mentalitätsgeschichte, GG 24 (1998), S. 276-297. 16 | Mitchell G. Ash, Learning from Persecution. Emigre Jewish Social Scientists’ Studies of Authoritarism and Antisemitism after 1933, in: Marion Caplan/Beate Meyer (Hg.), Jüdische Welten. Juden in Deutschland vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Göttingen 2005, S. 271-294 17 | Institute for Social Research, Antisemitism Among American Labor 19441945. Report on a research project conducted by the Institute for Social Research, ms. Typoskript, 4 Bde. [1946], IfS Bibliothek, Signatur 122 858, 1-4; Antidemocratic Beliefs Among American Workers. A Qualitative Survey Analysis. A Study by the Institute of Social Research. With a Methodological Introduction by Paul F. Lazarsfeld and Allen H. Barton, IfS Bibliothek. 18 | Vgl. Platz, Praxis der kritischen Theorie (Fn. 8), S. 37-131, insbesondere S. 62-69; vgl. auch Emil Walter-Busch, Faktor Mensch. Formen angewandter So-
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gration brachten Horkheimer, Adorno und Friedrich Pollock das Institut zurück nach Frankfurt. Die Frankfurter Sozialforscher etablierten eine intervenierende, praktische Form von Sozialforschung, die Horkheimer an verschiedener Stelle als »action research« bezeichnete.19 Das Institut für Sozialforschung nahm von Beginn an die Public Opinion Polls, die im Auftrag des amerikanischen Hochkommissariats (HICOG) in der semisouveränen Bundesrepublik durchgeführt wurden, wahr.20 Im Institutsarchiv sind die Boxen mit den hektographierten Surzialforschung der Wirtschaft in Europa und den USA, 1890-1950, Konstanz 2006; die Frankfurter Schule setzte sich intensiv mit der Shoah auseinander, wie Tim B. Müller gezeigt hat, vgl. ders., Herbert Marcuse, die Frankfurter Schule und der Holocaust. Ein Beitrag zur zeitgenössischen Wahrnehmung der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik, Magisterarbeit, Heidelberg 2004, www.marcuse.org/ herbert/booksabout/00s/04TBMuellerMagister.htm. Über Marcuse in umfassender intellektuellengeschichtlicher Perspektive ders., Krieger und Gelehrte. Krieger und Gelehrte. Herbert Marcuse und die Denksysteme im Kalten Krieg, Hamburg 2010. Über das Verhältnis der Gelehrten der Frankfurter Schule zu ihrem Judentum vgl. Jack Jacobs, The Frankfurt School, Jewish Lives, and Antisemitismus. New York 2015. 19 | Ulrich Brochhagen, Nach Nürnberg. Vergangenheitsbewältigung und Westintegration in der Ära Adenauer, Hamburg 1994; Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996; Jeffrey Herff, Zweierlei Erinnerung. Die NS-Vergangenheit im geteilten Deutschland, Berlin 1998; Kristina Meyer, Die SPD und die NS-Vergangenheit, Göttingen 2015. 20 | Anna J. Merritt, Public Opinion in Semisoevereign Germany. The HICOG Surveys 1949-1955, Urbana 1980. Zu den frühen Surveys und dem Kontext der Reeducation vgl. Uta Gerhardt, Re-Demokratisierung nach 1945 im Spiegel der zeitgenössischen Sozialforschung und sozialwissenschaftlichen Literatur, in: dies./Ekkehard Mochmann (Hg.), Gesellschaftlicher Umbruch 1945-1990, ReDemokratisierung der Lebensverhältnisse, München 1992, S. 27-57; dies., A Hidden Agenda of Recovery: The Psychiatric Conceptualization of Re-Education for Germany in the United States during World War II, in: German History 14 (1996), S. 297-324; dies., Die Wiederanfänge der Soziologie nach 1945 und die Besatzungsherrschaft in Westdeutschland, in: dies., Denken der Demokratie. Die Soziologie im transatlantischen Transfer des Besatzungs-Regimes. Vier Abhandlungen, Stuttgart 2007, S. 99-165.
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veys erhalten. In diesen Surveys wurde wie zuvor für OMGUS das Nachleben des Nationalsozialismus in Deutschland intensiv untersucht. Als es 1953 zu einer öffentlichen Kontroverse um die Befunde dieser diskret behandelten Papers kam, weil ein Korrespondent der New York Times die für die deutsche Bevölkerung ausgesprochen unangenehmen Surveyergebnisse, denen zufolge sich ein hoher Bevölkerungsanteil eine Führerherrschaft wünschte, publizierte,21 wurde – aufmerksam geworden durch die semiöffentliche Veranstaltungen des Instituts für Sozialforschung, auf dem es seine jüngsten Forschungsergebnisse vorstellte, erstmals die Gruppendiskussionsmethode ( focus groups) einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt.22 Das Institut hatte im Auftrag von HICOG im Winter 1950 die Erforschung der »nichtöffentlichen« Einstellungen der deutschen Bevölkerung zur Demokratie, zu den westlichen Alliierten, zu den Juden, DPs und ähnlichen Fragekomplexen mehr in Angriff genommen. In Diskussionsgruppen wurde ein wohlausgewogener Grundreiz in weitgehend homogen zusammengesetzten Gruppen erörtert. Das Frankfurter Institut führte über 120 solcher Gruppendiskussionen mit über 1500 Teilnehmerinnen und Teilnehmern im gesamten Bundesgebiet durch.23 Das Ergebnis war vernichtend, weniger was die Akzeptanz demokratischer Institutionen, dafür aber umso mehr, was das Nachleben des Nationalsozialismus betraf. Adorno steuerte zu dem 1955 erschienen Forschungsbericht, dem eine ganze Reihe unpubliziert gebliebener Monografien von fortgeschrittenen Studierenden und Abschlusskandidaten zugrunde lag,24 eine weg21 | Hans Schuster, Das Meßbare und das Unmeßbare an Herrn X, in: Süddeutsche Zeitung vom 27.1.1953, S. 3; vgl. Platz, Praxis der kritischen Theorie (Fn. 8), S. 88f. 22 | Vgl. Platz, Praxis der kritischen Theorie (Fn. 8), S. 89-102. 23 | Ein frühes Manual zur Focus Gruppen-Methode ist Richard K. Merton/Marjorie Fiske/Patricia L. Kendall, The Focused Interview. A Manual of Problems and Procedures, New York 1956. 24 | Friedrich Pollock, Gruppenexperiment. Ein Studienbericht bearbeitet von F. Pollock, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1955; Diedrich Osmer, Ein neuer Weg zur Meinungsforschung. Das Gruppenexperiment des Instituts für Sozialforschung, in: Institut für Sozialforschung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M. (Hg.), Ein Bericht über die Feier seiner Wiedereröffnung, seine Geschichte und seine Arbeiten, Frankfurt a.M. 1952, S. 33-42; ders., Das Gruppenexperi-
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weisende Monografie über das Verhältnis von »Schuld und Abwehr« bei.25 Ergebnis war, dass die Diskutanten in ihrer weitüberwiegenden Mehrheit das Unrecht, das den Juden widerfahren war, abwehrten, indem sie dessen Bedeutung durch Aufrechnung mit angeblichem Unrecht, das den Deutschen widerfahren war, relativierten. Sie wiesen den Juden und anderen Opfer Gruppen Verantwortung für deren eigene Verfolgung zu und wehrten beinahe jegliche Verantwortungsübernahme ab.26 Das Gruppendiskussionsverfahren wurde in den Folgestudien, der im Bereich des Mannesmann-Konzern vorgenommenen »Betriebsklimastudie« 1954/55 und der Studie mit Wehrmachtsveteranen 1956/57 in der sogenannten »Heimkehrerstudie«, vertieft. In der Betriebsklimastudie ging es dem Auftrag zufolge um die Akzeptanz der Institutionen der Unternehmensmitbestimmung, Horkheimer selbst betonte aber die Bedeutung der Ergebnisse der Anerkennung industrieller Demokratie und demokratischer Institutionen im Allgemeinen für Krisensituationen, die er in der Hochkonjunktur des Wirtschaftswunders zwar nicht erwartete, aber eben für die Zukunft nicht ausschloss.27 Das Institut war darment des Instituts für Sozialforschung, in: Institut zur Förderung öffentlicher Anagelegenheiten (Hg.), Empirische Sozialforschung, Meinungs- und Marktforschung, Methoden und Probleme, Frankfurt a.M. 1952, S. 162-171. 25 | Theodor W. Adorno, Schuld und Abwehr, in: Friedrich Pollock (Hg.), Gruppenexperiment, S. 275-428, ebenfalls abgedruckt in: Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 9.2, Frankfurt a.M. 1975, ND 2003, S. 121-324. 26 | Zur Theorie des Vorurteils, die im Institut entwickelt, gelehrt und diskutiert wurde, vgl. Theodor W. Adorno/Max Horkheimer, Vorurteil, in: Institut für Sozialforschung (Hg.), Soziologische Exkurse. Nach Vorträgen und Diskussionen, Hamburg [1956] 1991, S. 151-161. Die empirische Sozialforschung, die den Antisemitismus beforschte, wurde von Werner Bergmann und Rainer Erb analysiert, vgl. dies., Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland. Ergebnisse der empirischen Sozialforschung, Opladen 1991, für den Beitrag der Frankfurter Schule vgl. ebd., S. 231, S. 236ff. 27 | Institut für Sozialforschung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M., Betriebsklima – Eine industriesoziologische Untersuchung im Mannesmann-Bereich, Frankfurt a.M. 1955, Mannesmann Archiv, M 30.082; Institut für Sozialforschung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M., Betriebsuntersuchung in ausgewählten Werken der Mannesmann AG Sommer 1954, Rohbericht, Frankfurt a.M. 1954, Mannesmann Archiv, M 30.082a, vgl.
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an interessiert – auch vor dem Hintergrund der Studien aus den 1930er und 1940er Jahren –, wie der industrielle Arbeiter zur Demokratie stand. Offensichtlicher war der Zusammenhang noch in einer Studie, die 1956 und 1957 für Zwecke der politischen Bildung durchgeführt wurde. Da die Bundeszentrale für Heimatdienst die politische Bildungsarbeit unter den Mitgliedern des Verbandes der Heimkehrer förderte, interessierte sie als Auftraggeber natürlich besonders, wie die demokratischen Einstellungen bzw. die rückwärtsgewandten, nationalsozialistisch beeinflussten Einstellungen von Wehrmachtsveteranen Mitte der 1950er Jahre beschaffen waren.28 Die Befunde waren auch in diesem Fall niederschmetternd, konnte das Institut doch das differenzierte Fortleben des Nationalsozialismus in der Demokratie belegen, wiederum verbreitete Phänomene der Schuldabwehr und der Leugnung der Judenvernichtung. Auch die Aufrechnung des selbst erfahrenen Leids in der bedeutendsten Untersuchungsgruppe der sogenannten Spätheimkehrer aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft gegen das Leid der Juden war weit verbreitet.29
Platz, Praxis der kritischen Theorie (Fn. 8), S. 310-372; vgl. auch ders., »Überlegt Euch das mal ganz gut: wir bestimmen mit. Schon das Wort allein.« Entstehungsbedingungen und Wirkungen der Betriebsklimastudie des Frankfurter Instituts für Sozialforschung in Werken der Mannesmann AG 1954/1955, in: Christian Kleinschmidt/Jan-Otmar Hesse/Karl Lauschke (Hg.), Kulturalismus, Neue Institutionenökonomik oder Theorienvielfalt. Eine Zwischenbilanz der Unternehmensgeschichte, Essen 2002, S. 199-224; Horst A. Wessel, Soziologische Forschung und Alltagserfahrung in einem Industrieunternehmen, Ein Forschungsprojekt des Frankfurter Instituts für Sozialforschung in den 1950er Jahren, in: Geschichte im Westen 17 (2002), S. 76-94. 28 | Vgl. Platz, Praxis der kritischen Theorie (Fn. 8), S. 373-440. 29 | Institut für Sozialforschung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M., Zum politischen Bewusstsein ehemaliger Kriegsgefangener. Eine soziologische Untersuchung im Verband der Heimkehrer. Forschungsbericht, Frankfurt a.M. 1957; eine prägende Untersuchung an Veteranen im Rahmen der Studies in Prejudice war Bruno Bettelheim/Morris Janowitz, Dynamics of Prejudice. A Psychological and Sociological Study of Veterans, New York 1950.
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I. D er institutionelle R ahmen und die V orstellungen der militärischen A k teure 1. Institutioneller Rahmen Die Planungen für eine neue Streitkraft nahmen im Herbst 1950 unter der Leitung des CDU-Politikers und Gewerkschafters Theodor Blank ihren Anfang. Seine dem Bundeskanzler Adenauer direkt unterstellte Dienststelle nannte man bald nur noch kurz und bündig: Amt Blank.30 Obwohl als zivile Behörde konzipiert, differenzierte sich ihre Struktur in einen zivilen Bereich der Verwaltung unter Ministerialrat Ernst Wirmer und in einen militärischen Bereich unter den beiden Generalleutnants a.D. Heusinger und Speidel heraus.31 In den militärischen Organisationseinheiten arbeiteten in der Regel die ehemalige Berufssoldaten, in der zivilen Laufbahnbeamte. Der sich daraus ergebende zivilmilitärische Konflikt prägte die Arbeit im Amt Blank. Von Anfang an waren die personellen Planungsarbeiten ein Politikum. Mit den personalpolitischen Leitlinien befassten sich zwei Unterabteilungen: Erstens die Gruppe Innere Führung, die dem Major im Generalstab a.D. Wolf Graf Baudissin unterstand. Zweitens das sogenannte StudienBureau, das für die Kontakte mit Wissenschaftlern an Hochschulen und Instituten sowie bestimmte Auslandskontakte zuständig war. Sein Leiter war der frühere OMGUS- und HICOG-Mitarbeiter Joseph Pfister – ein Zivilist und direkter Vertrauter Ernst Wirmers. In der militärischen Abteilung waren Innere Führung und Studien-Bureau auf Unterabteilungsebene zunächst gleichgeordnet, dann aber später Generalleutnant a.D. Adolf Heusinger direkt unterstellt. Für die praktische Ausgestaltung des Auf baus berief der Bundestag 1955 den Personalgutachterausschuss und das Verteidigungsministerium gründete die Annahmeorganisation. Zentrale wissenschaftliche Akteure waren das Institut für Sozialforschung Frankfurt a.M. (Adorno), das Psychologische Institut Hamburg (Bondy), das Psychologische Institut Freiburg (Heiss), das Psychologische Institut München (Lersch), das FORFA-Institut Braunschweig (Herwig), das Pädagogische Institut Hamburg (Geissler) sowie die Einzelgutachter Krenn 30 | Um es der parlamentarischen Kontrolle zu entziehen. 31 | So Dieter Krüger, Das Amt Blank. Die schwierige Gründung des Bundesministeriums für Verteidigung, Freiburg 1993, passim.
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und Flik. Als wissenschaftspolitische Akteure sind die Verbände Deutsche Gesellschaft für Psychologie als akademische Standesorganisation und der Berufsverband Deutscher Psychologen als praktische berufliche Standesvertretung zu nennen.
2. Die Vorstellungen der militärischen Planer Auf einer Tagung im Eifelkloster Himmerod trafen sich im Oktober 1950 fünfzehn ehemalige Offiziere der Wehrmacht,32 um die Leitlinien für einen Auf bau einer bundesdeutschen Streitmacht auszuarbeiten. Sie hielten ihr Beratungsergebnis in der »Himmeroder Denkschrift« fest. Allgemein ist die Himmeroder Denkschrift ein von militärischem (strategischem wie taktischem) Traditionalismus geprägtes Dokument. Die personalpolitischen Leitlinien unter der Überschrift »Innere Führung« arbeitete Wolf Graf Baudissin aus. In der frühen Ausarbeitung changiert das Dokument zwischen reformerischen und traditionellen Ansätzen. Das Konzept der »Inneren Führung« umfaßt als Kernpunkte: Die deutsche Armee sollte den Primat der Politik anerkennen und keinen »Staat im Staate« mehr darstellen. Sie sollte die demokratischen Institutionen bejahen33 und die Grundrechte des Soldaten entsprechend dem Leitbild vom Staatsbürger in Uniform innerhalb der militärischen Organisation wahren. Besonderen Wert legten die militärischen Reformer der Inneren Führung auf Auswahl, Ausbildung und Erziehung.34 Unter der Überschrift »Ethisches« legte Baudissin die Vorstellungen für die zukünftige Disziplinar- und Beschwerdeordnung dar. Die Ordnungsvorstellungen reichten aber über diesen Bereich hinaus. Vertrauensausschüsse für Disziplinarangelegenheiten in den Verbänden sollten »als Organe der Reinigung«35 wirken. Ähnliche Ausschüsse sah die 32 | Von den Teilnehmern machten übrigens neun in der späteren Bundeswehr Karriere. Zum Teilnehmerkreis vgl. Hans-Jürgen Rautenberg/Norbert Wiggershaus, Die Himmeroder Denkschrift vom Oktober 1950. Politische und militärische Überlegungen für einen Beitrag zur westeuropäischen Verteidigung, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 21 (1977), S. 135-206, hier S. 150ff., und die Liste S. 189f. 33 | Vgl. ebd., S. 185. 34 | Vgl. ebd. 35 | Vgl. ebd.
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Denkschrift »[b]ei der Einstellung der Offiziere« vor. Sie sollten die »[…] Überprüfung des persönlichen Verhaltens in der Vergangenheit« vornehmen. Deren Arbeit verstanden die militärischen Planer als einen Akt der »Selbstreinigung«, der »aus psychologischen Gründen der Öffentlichkeit des In- und Auslandes gegenüber wie im Interesse des inneren Zusammenhalts der Truppe« notwendig sei. Allerdings: »Ein allgemeines ›Spruchkammersystem‹ ist dagegen abzulehnen.« 36 Die Assoziation von »Selbstreinigung« mit der dieser ausdrücklichen Zurückweisung ist von enormer Bedeutung. »Spruchkammern« kann hier auch als Synomym für das verstanden werden, was sich die Militärs verbaten, nämlich Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten, Fragen zur Vergangenheit und die Unterwerfung unter das Urteil derjenigen, die nicht zu ihrem Kreis gehörten. Von besonderer Bedeutung ist die Anspielung auf das Entnazifizierungsverfahren! Die gesamte vergangenheitspolitische Intention wird in anderen Teilen der Himmeroder Denkschrift noch deutlicher, die auf die Rehabilitierung der ehemaligen Wehrmachtssoldaten abzielten. Damit hatten die militärischen Experten unter grundsätzlicher Anerkennung des Primates der Politik Ansprüche auf weitreichende Mitsprache bei der Rekrutierung angemeldet, von denen sie sich nur unter Konflikten abbringen lassen sollten. Die konkretisierenden Entwürfe der militärischen Planer zum Prüfverfahren folgten dem Entwurf dieser Konferenz. Als Kriterien sollten herangezogen werden: der Lebenslauf, die Bewährung im Krieg und im bürgerlichen Leben. Die Übertragung des Begriffs der »Bewährung im Felde« auf das zivile Leben ist aussagekräftig, weil die Kriterien, an denen diese Bewährung ihr Maß finden sollte, soldatische blieben.37 Die Planungen für das Annahmeverfahren sahen für die freiwilligen Bewerber der verschiedenen Dienstränge unterschiedliche Bewerbungsund Annahmeverfahren vor. Die höherrangigen Bewerber sollte der 36 | Vgl. ebd. [Hervorhebung im Original] 37 | In ihnen spielten »Halt« und »Festigkeit«, »Beharrung« und »Kampfgeist« eine Rolle. Erfolg im zivilen Beruf galt den Militärs als Indikator für Bewährung, eine unstete zivile Laufbahn als »Haltlosigkeit«. Das Ergebnis des Entnazifizierungsverfahrens sollte keine Beachtung finden. In den Prüfgesprächen sollten die Erkenntnisse über den »Charakter« des Bewerbers, seine »geistigen Anlagen«, die »geistige, seelische und körperliche Spannkraft«, die »Befähigung zur Menschenführung« sowie über seine »Stellung zum demokratischen Staat« gewonnen werden, vgl. ebd.
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Personalgutachterausschuß prüfen, während für die restlichen Bewerbungen in einem Massenverfahren die Annahmeorganisation zuständig war.38
3. Die Konzepte der wissenschaftlichen E xperten Psychologische und soziologische Methoden zur Lenkung und Kontrolle der Personalpolitik anzuwenden, hatten die Planer frühzeitig ins Auge gefasst. Die Initiative dazu ging vom zivilen Teil der Verwaltung aus. Als die Dienststelle Blank im Mai 1952 eine Tagung mit Soziologen, Umfrageforschern und Psychologen durchführte,39 zeigten sich Gegensätze zwi38 | Zur Vorgeschichte des Personalgutachterausschuß und dessen Nähe zur »Inneren Führung« Georg Meyer, Zur inneren Entwicklung der Bundeswehr bis 1960/61, in: MGFA (Hg.), Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik 1945-1956. Bd. 3: Die NATO-Option, München Wien 1993, S. 851-1162. Die Mitglieder des Personalgutachterausschusses wurden intern zwar durch die Parteien und das Amt Blank vorgeschlagen. Offiziell allerdings handelte es sich um ein von der Bundesregierung vorgeschlagenes, vom Parlament namentlich bestätigtes Gremium. Dennoch darf der Einfluß der Parlaments nicht dazu verführen, diesen Ausschuß für einen Parlamentsausschuß zu halten, vgl. ebd. 39 | Am 12. Mai 1952 fand eine Besprechung über diese Themen statt, an dem vom Amt Blank der mittlerweile zum Ministerialdirigent aufgestiegene Wirmer und der in der Unterabteilung Militärisches Personal arbeitende Oberst i. G. a.D. Ernst Ferber, die Leiter des Instituts für Demoskopie, der Demoskop Erich Peter Neumann und dessen Frau Elisabeth Noelle-Neumann, der ehemalige Wehrpsychologe und zu dieser Zeit leitende Referent beim Landesprüfungsamt Berlin, Dr. Erich Wohlfahrt, Arnold Gehlen, sowie eine Reihe jüngerer Sozialforscher, unter ihnen Ludwig von Friedeburg, teilnahmen. Das Institut hatte, möglicherweise im Auftrag des Amtes Blank, im März 1952 eine Umfrage über Interessen, Neigungen und Verhalten junger Männer durchgeführt. Notizen zur Besprechung im Institut für Demoskopie, Allensbach, über die Auswahl des Stammpersonals für die geplanten Streitkräfte, sowie über die Organisation der Annahmestellen, Allensbach 12.13.5.1952, zit.n. Gotthilf Flik, Zur Geschichte der Wehrmachtspychologie 19341943/Aufbau der Bundeswehrpsychologie 1951-1966, Bonn 1989, S. 102-105, hier S. 102. Das Institut hatte, möglicherweise im Auftrag des Amtes Blank, im März 1952 eine Umfrage über Interessen, Neigungen und Verhalten junger Männer durchgeführt, vgl. Institut für Demoskopie, Die jungen Männer. Interessen – Nei-
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schen empirischen Sozialforschern und Umfragenforschern einerseits und den Psychologen, die im NS bereits einmal viele Planstellen in der Wehrmacht besetzt hatten andererseits.40 Hier trafen sich Vertreter des Instituts für Demoskopie Allensbach, des Instituts für Sozialforschung und Gehlen. Institutionelle Kontakte der militärischen Planer bestanden zu der akademischen Deutschen Gesellschaft für Psychologie und dem jungen Berufsverband deutscher Psychologen seit 1953. Parallel dazu plante das das Studien-Bureau Joseph Pfisters seit Ende 1952 gemeinsame Forschungsprojekte mit dem Frankfurter Institut für Sozialforschung. Das Institut hatte sich kurz nach seiner Wiedergründung durch eine Auftragsstudie für HICOG – das berühmte Gruppenexperiment – bereits vor dessen Veröffentlichung einen Namen gemacht. Die Gruppenstudie mit ehemaligen Wehrmachtsoffizieren kam allerdings nicht zustande, sondern im Frühjahr 1953 wurden die verschiedenen Bemühungen der Inneren Führung, der militärischen Experten des Personalwesens und Pfisters Aktivitäten in der Psychologischen Studienkommission zusammengeführt.
4. Die Psychologische Studienkommission Die Psychologische Studienkommission konstituierte sich am 31. März 1954.41 Ihr gehörten als Vertreter des Instituts für Sozialforschung und Vorsitzender der Kommission Theodor Adorno, für das Psychologische gungen – Verhalten. Rohergebnisse einer Umfrage, [Allensbach] März 1952, als vertraulich auf Studie des Institut im Druck ausgewiesen, Bundesarchiv Militärarchiv Freiburg (BA-MA) BW 9/3631. Für die umfangreiche Studie wurden 535 Personen über die BRD verteilt der Geburtsjahrgänge 1927-1934, mit vorsätzlicher Massierung in den Geburtsjahrgängen 1929-1933, konfessionell gemischt, befragt u.a. zu ihrer Einstellung zu einem möglichen Militärbeitrag. 40 | Während erstere sich auf die politisch-soziologischen Fragen der Rekrutierung und der scharfen Auslese einlassen wollten und die militärischen Experten einen Mittelweg wählten, signalisierten die Psychologen eine deutliche Reserviertheit gegenüber einer politischen Inanspruchnahme ihrer Expertise. 41 | Als Teilnehmer von wissenschaftlicher Seite nahmen die Soziologen Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, der Demoskop Erich Peter Neumann, die Psychologen Curt Bondy (Hamburg), Adolf Däumling (München, Vertretung für Philipp Lersch), Gotthilf Flik (Niederschönenfeld), Karl Graf Hoyos (Hamburg), Stephanie Krenn, Edwin Rausch, der Pädagoge Georg Geissler (Hamburg) und der Psychiater
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Institut der Universität München Philipp Lersch, für den BDP Bernhard Herwig, als Vertreter des Psychologischen Instituts der Universität Hamburg Curt Bondy, der Pädagoge Geissler und für das Psychologische Instituts der Universität Freiburg Robert Heiss an. Darüber hinaus wurde der Charakterologe und frühere Nazi-Wehrpsychologe Gotthilf Flik und die Psychologin Stephanie Krenn in die Kommission gewählt. Später kam noch der remigrierte Politologe Arnold Bergstraesser hinzu. Die Kommission prüfte die verschiedenen Entwürfe der beteiligten Institute auf ihre Kombinierbarkeit. Die Vorschläge aus München und Frankfurt waren an den Forschungsrichtungen der jeweiligen Institute orientiert, während Flik ein Gutachten über die deutsche Wehrmachtspsychologie vorlegte. Flik schlug ein psychotechnisches Programm vor, dass Apparatetests, Funktionsprüfungen und Spezialistentests in der Tradition der psychotechnischen Tests bei der Wehrmacht vorsah. Lersch schlug sein traditionelles charakterologisches Programm für die Offiziersdienstgrade vor, das ebenfalls auf die Wehrmachtstradition zurückgriff.42 Methodische Ansatzpunkte für das Ausleseverfahren sollten die Lebenslaufanalyse, auf militärische Probleme bezogene Situationstests und die Aufstellung ausdruckspsychologischer und physiognomischer Kategorien zur Erfassung verborgener Charakterzüge sein. Die Prüfoffiziere sollten diese Methoden zunächst in einem Lehrgang durch Information, Falldemonstrationen, Gruppenarbeit (Ausdrucksbeobachtung) und schließlich in einem nach dem »Prinzip der Selbstauslese« durchgeführten Ausleseverfahren erlernen.43 Gleichzeitig sollte für die praktische Durchführung ein umfangreicher psychologischer Expertenstab bis auf die Wehrersatzbereiche absteigend aufgebaut werden. Die psychologische Expertenrolle sollte subordiniert gegenüber der militärischen Hierarchie sein und in diese nicht eingreifen, die Psychologen sollten als Zivilbeamte eingestellt werden und das ganze Verfahren sollte eher der technoFriedrich Freiherr von Gagern teil, vgl. (Studienbureau), Teilnehmerliste Frankfurt 30.3.1954, Bonn 26.3.1954, IfSA, A 20, Projekt »P 14«, Vorarbeiten. 42 | Vgl. zur nationalsozialistischen Affizierung der Charakterologie Per Leo, Der Wille zum Wesen. Weltanschauungskultur, charakterologisches Denken und Judenfeindschaft in Deutschland 1890-1940, Berlin 2013. 43 | Vgl. Projekt 14, Beitrag des Psychologischen Institut [!] der Universität München zum Arbeitsplan der Studienkommission, 6.4.54, IfS Archiv, A 20, Projekt »P 14«, Vorarbeiten.
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kratischen Steuerung denn der politischen Kontrolle des Militärs dienen. Das ganze sollte zu einem späteren Zeitpunkt statistisch auf bereitet und wissenschaftlich ausgewertet werden. Adorno unterbreitete einen Vorschlag, der eine andere Reihenfolge vorsah. Die Auswahlinstrumente sollten forschend entwickelt werden, indem man Material mit Methoden der empirischen Sozialforschung (hier meinte er Gruppendiskussionen mit ehemaligen Offizieren und Unteroffizieren) als Grundlage für die Ausarbeitung der Fragebögen und Testmethoden sammelt. Am Ende sollte die Entwicklung von InterviewSchedules und Fragebögen für die Offiziere, ein zuverlässiger Grundreiz für das Gruppendiskussionsverfahren und ein auch Laien leicht vermittelbare Auswertungsverfahren stehen. Dieses Grundlagenmaterial sollte die Frage beantworten, »welche psychologischen und ideologischen Momente […] geprüft werden [können,] um anschließend in einer Reihe von Pre-Tests auf seine Anwendbarkeit geprüft zu werden.«44 Eine zentrale Rolle spielten für Adorno und Pfister die Anwendung der f-scale aus der Authoritarian Personality. In den USA hatte die Studie von Adorno, Frenkel-Brunswik, Levinsohn und Nevitt-Sanford über die Authoritarian Personality bereits in den 1950er Jahren eine breite und kontroverse Rezeption erfahren – auch im militärischen Bereich.45 Dagegen 44 | Vgl. Vorschlag Institut für Sozialforschung, Frankfurt, für einen Arbeitsplan der Studien-Kommission, 7.4.54, IfS Archiv, A 20, Projekt »P 14«, Vorarbeiten. 45 | E. P. Hollanders, Authoritarianism and Leadership Choice in a Military Setting, in: Journal of Abnormal and Social Psychology 49 (1954), S. 365-370, und Richard Christie, Changes in Authoritarianism as related to situational factors, in: American Psychologist 7 (1952) S. 307-308, vor allem aber Donald T. Campbell/Thelma M. Cormack, Military experiences and attitudes towards authority, in: American Journal of Sociology 62 (1957), S. 482-490, vgl. hierzu auch Morris Janowitz, Militär und Gesellschaft. Boppard 1966, S. 24f. Erst in den 1960er Jahren setzte sich die Wehrsoziologische Forschungsgruppe um René König intensiv mit Autoritarismus und Führungsstilen in der Bundesrepublik auseinander . Diese akademischen Schriften erschienenen auch in popularisierten Kurzfassungen in der Schriftenreihe für Innere Führung, im Rahmen einer Unterreihe „Wehrsoziologische Studien“ vgl. hierzu etwa: Klaus Roghmann, Dogmatismus und Autoritarismus. Kritik der theoretischen Ansätze und Ergebnisse dreier westdeutscher Untersuchungen, Meisenheim am Glan 1966 und Wolfgang Sodeur, Führungsprobleme in der allgemeinen Grundausbildung, [Bonn] 1969 sowie ders., Wirkung des
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wurde das Konzept der Authoritarian Personality in Deutschland bis dahin wesentlich zurückhaltender rezipiert.46 Als zentrale Merkmale der autoritären Persönlichkeit galten: 1. Konventionalismus, 2. Autoritäre Unterwerfung, 3. Autoritäre Aggression, 4. Anti-Intrazeption, 5. Aberglaube und Stereotypie und 6. Machtdenken und Rowdytum, Destruktivität und Zynismus, 7. Projektivität, 8. Überbetonung der Sexualität.47
Führungsverhaltens in kleinen Formalgruppen, Meisenheim am Glan 1972; vgl. zu allem auch Johannes Platz, Die Krise der Autorität in der Bundeswehr in wissenschaftlicher Expertise und Broschürenliteratur der deutschen Armee vom Aufstellungsbeginn bis zur Bildungsreform, in: Till van Raden/Oliver Königs (Hg.), Krise der Autorität, Paderborn 2016, S. 127-149. 46 | Zur Geschichte der Authoritarian Personality vgl. Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte, Theoretische Entwicklung, Politische Bedeutung, 5. Aufl., München 1997, S. 390-423, 454-478, sowie Martin Jay, Dialektische Phantasie, Frankfurt a.M. 1976, S. 261-296; Eva-Maria Ziege, Antisemitismus und Gesellschaftstheorie. Die Frankfurter Schule im amerikanischen Exil, Frankfurt a.M. 2009. Die Rezeption in Deutschland lief nur äußerst zögerlich an. Eine der wenigen Rezensionen stammte von dem Soziologen Leopold von Wiese, der eine Sammelrezension der gesamten Studies in Prejudice und eine Rezension der Authoritarian Personality in der KZfSS veröffentlichte, vgl. Leopold von Wiese, Studien über das Vorurteil, in: KZfSS 3 (1950), S. 214-221 und Leopold von Wiese, Studies in Prejudice, New York 1950, Bd. II-V, KZfSS 3 (1950), S. 470-478; vgl. dazu Michael Neumann, Leopold von Wiese über Theodor W. Adornos »Authoritarian Personality«, in: Christian Cobet (Hg.), Einführung in Fragen an die Soziologie in Deutschland nach Hitler 1945-1950, Frankfurt a.M. 1988, S. 115-122. Vgl. hierzu Platz, Praxis der kritischen Theorie (Fn. 8), S. 115-118. In Amerika war die Rezeption ungleich umfangreicher und intensiver, wie die Sammelrezension von Richard Christie und Peggy Cook belegt, vgl. dies., A guide to pubished literature relating to the Authorarian Personality through 1956, in: The Journal of Psychology (1958), S. 171-199. Vgl. auch Michael Werz, Untrennbarkeit von Material und Methode. Zur wechselvollen Rezeption der Authoritarian Personality, in: Hannoversche Schriften, Bd. 4: Philosophie und Empirie, Hannover 2001, S. 40-68. 47 | Nevitt Sanford/Else Frenkel-Brunswik/Daniel Levinson/Theodor W. Adorno, The Measurement of Antidemocratic Trends, in: dies., The Authoritarian Personality, New York 1950, S. 222-288, hier S. 228; [dt. S. 45].
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Die zivilen Planer aus dem Amt Blank präsentierten ein Anforderungsprofil an die »Führer zukünftiger Streitkräfte«.48 Die auszuschließenden Eigenschaften tragen die Handschrift Pfisters und der Frankfurter: übersteigertes Geltungsbedürfnis, Machtstreben, Minderwertigkeitsgefühl, Vorurteilshaftigkeit, Intoleranz, Sadismus, Apolitizität, aggressiver Nationalismus, Feindseligkeit gegen Staat und Demokratie. Die positiven Anforderungen, die dagegen die einzelnen militärischen Praktiker-Referate formuliert hatten, bestanden in traditionellen Offiziersanforderungen: Allgemeinbildung, bürgerliche Unbescholtenheit, Bewährung vor, im und nach dem Krieg, untadeliges Benehmen in der Gefangenschaft, Schuldenfreiheit und geordnete Familienverhältnisse. Sie wurden durch pathetisch formulierte normativ-moralische Werte ergänzt: Die Bewerber sollten »moralische Integrität durch Bindung an absolute Werte« beweisen, »Freude am Risiko«, ein »sauberes und achtendes Verhältnis zum Mitmenschen«, Gerechtigkeitsgefühl, Einordnungsbereitschaft, Selbstdisziplin, Aufrichtigkeit, Verschwiegenheit, Entschiedenheit und Ausdauer des Willens mitbringen. Den Abschluß dieses Tugendkanons bildete eine »bejahende, überwiegend sittliche Einstellung zum soldatischen Auftrag«.49 Die Applizierung der f-scale auf das Annahmeverfahren stellte den zentralen Punkt der Auseinandersetzung innerhalb der Kommission dar. In der Kommission wurde dieses Bestreben, einen Fragebogen zur Auslese heranzuziehen, von den Psychologen kritisiert und von den Militärs skeptisch beäugt. Meines Ermessens war dieser Konflikt jedoch nicht methodologisch, sondern fachpolitisch und institutionenpolitisch motiviert. Die Kommission verzichtete nach dem Pre-Test auf den Fragebogen, wohingegen Krenn und Pfister am Deutungskonzept der autoritären Persön48 | Vgl. Auswahl der Führer und Unterführer für die zukünftigen Streitkräfte, o. O., o. D., IfS Archiv, A 20, Projekt »P 14«, Vorarbeiten. Eines der Exemplare trägt das handschriftliche Datum 30.3.1954. Da Teile des Textes mit den Entwürfen, die nach der Sitzung vom 16.3.1954 erstellt wurden, identisch sind, handelt es sich zweifelsfrei um die Tischvorlage. 49 | Vgl. ebd. [S. 3]. Im Tonfall sind die Ausführungen zu den Anforderungen an Charakter, Geist und Bildung der Soldaten oft pathetisch gehalten, so zum Beispiel in den »Richtlinien für die Prüfung der persönlichen Eignung der Soldaten vom Oberstleutnant – einschließlich – abwärts«, vgl. Deutscher Bundestag, 3. Wahlperiode, Drs. 109, Tätigkeitsbericht des Personalgutachterausschusses für die Streitkräfte, Anlage 3, S. 24-26.
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lichkeit festhielten und dies auch in das Annahmeverfahren vermittelten. Im Kompromiss einigte man sich in der Kommission auf ein Verfahren, das die verschiedenen Richtungen und Disziplinen integrierte. So konnten letztlich alle akademischen Vertreter ihre Standpunkte in einem praktikablen Verfahren unterbringen. Federführend für diese Integration war die als Gutachterin beim Amt Blank angestellte Psychologin Stephanie Krenn. Bedeutend an diesem Verfahren, das auf einer Kombination aus Lebenslaufanalyse und einer Exploration in Form eines qualitativen Interview bestehen sollte, war dass es die Merkmale »autoritärer Charaktere« zugrunde legte.
5. Der Konflikt in der Aufbauphase In der konkreten Auf bauphase der Bundeswehr wurde der fachpolitische Konflikt, der sich zwischen den Vertretern der Deutschen Gesellschaft für Psychologie und des Berufsverbandes Deutscher Psychologen einerseits und den Frankfurtern andererseits in der Kommissionsarbeit andeutete, durch die psycholgischen Fachverbände DgfP und BDP in die Öffentlichkeit getragen, freilich ohne Roß und Reiter zu nennen. Währenddessen wandten sich parallel im Verteidigungsministerium die militärischen Planer in einer konzertierten Aktion gemeinsam mit dem Personalgutachteraussschuss gegen ihre zivilen Kontrahenten. Die Akteure in der Bundeswehr waren einerseits die Mitarbeiter der Inneren Führung und der Personalgutachterausschuss und das StudienBureau Joseph Pfisters andererseits. Dem Personalgutachterausschuß war die Richtlinienkompetenz für die Freiwilligenannahmeorganisation (also der Dienstgrade ab dem Oberstleutnant abwärts)50 erteilt worden. Der Ausschuß machte von seiner Richtlinienkompetenz, die Anwendung psychologischer Verfahren zu regulieren, regen Gebrauch. Zwar ließen die Richtlinien in einer Kann-Bestimmung zu, »Psychologen […] zur Beratung innerhalb der Annahmeorganisation« anzustellen, schlossen aber gleichzeitig bei »Bewerbern, die sich im Wehrdienst bewährt haben, psychologische Eignungsprüfungen« aus.51 Der Personalgutachterausschuss setzte einen Unterausschuss ein, dem neben einer Reihe von älteren Militärs der 50 | Vgl. Richtlinien für die Prüfung der persönlichen Eignung der Soldaten vom Oberstleutnant abwärts, Tätigkeitsbericht, S. 24-26, S. 10-13 (Darstellung). 51 | Vgl. ebd. S. 26.
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frühere NS-Militärpädagoge Erich Weniger angehörte. Dieser Unterausschuss nannte sich bezeichnenderweise Anti-Testausschuss. Diesem AntiTestauschuss gelang es, nach einer Reihe von Sitzungen, das mittlerweile in der Annahmeorganisation praktizierte Verfahren zu attackieren. Zwischen dem Anti-Testausschuss und den Fachverbänden der Psychologen läßt sich eine rege Korrespondenz belegen. Schützenhilfe erhielten die militärischen Planer durch die Vertreter der fachpolitischen Verbände, die gezielt gegen den Kompromiss des »qualitativen Interviews« vorgingen. Ihre Argumente waren in erster Linie zwei: erstens kritisierten die Fachvertreter »die Unwissenschaftlichkeit« des Verfahrens, die sie zweitens – wahrheitswidrig – auf die angebliche Nichtbeteiligung der Fachverbände zurückführten. Das berufsverbandliche Interesse richtete sich auf die Einrichtung von Planstellen. Dafür war man andererseits gerne bereit von den politisch-materialen Implikationen und der eigenen Gestaltungsmöglichkeit abzusehen und den militärischen Planern Zugeständnisse zu machen. Damit war der militärischen Bewährung der Vorrang vor der Bewertung der antidemokratischen Gesinnung eingeräumt worden. Hier zeigt sich, dass die personalpolitischen Vorstellungen sich in der Regel nach militärischen Zweckmässigkeitsvorstellungen richteten. Im Ergebnis wurden die Vertreter der alten Wehrmachtspsychologie wieder eingestellt, während die alternativen Entwürfe aus Reihen der Remigranten abgeschmettert wurden. Damit war ein innovatives Konzept, das von den zivilen Planern zur Kontrolle der Personalpolitik konzipiert worden war, gescheitert und die Weichen gestellt für eine Rekrutierungspolitik unter traditionellen Vorzeichen: Anstelle der »Nervenpunkte antidemokratischer Gesinnung« – wie Adorno sie in einem Vortrag bezeichnet hatte, ich erinnere an die Merkmale des autoritären Charakters – wurde als Ausschlussgrund die Übereinstimmung mit militärischen Leitbildern und »soldatischen Tugenden«, verbunden mit einer stärkeren Beachtung der »soldatische[n] Bewährung im Felde«, in den Mittelpunkt des Einstellungsverfahrens gerückt. Alternative Konzepte der Auswahl und Ausbildung begannen sich erst ab der zweiten Hälfte der 1960er Jahre Jahre durchzusetzen, mit verstärkter Tendenz Anfang der 1970er Jahre.
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II. S chluss »Wer bestimmt, was eine ›autoritäre Persönlichkeit‹ ist? Stimmen Sie, Herr Adorno darin mit der Dienststelle überein? Von den Bewerbern werden doch später autoritäre Züge verlangt«, fragte der remigrierte Psychologe Curt Bondy anläßlich der Tagung des Psychologischen Studienkommission am 5. Juli 1954.52 Bondy benannte eine paradoxe Situation. Vieles spricht dafür, dass die Welten der deutschen Militärs, der Wehrpsychologen, der deutschen akademischen Psychologie und der remigrierten Soziologen des Frankfurter Instituts für Sozialforschung einander fremd waren. 1. Einem deutschen Soldaten einen Fragebogen zur Messung autoritärer Charakterzüge vorzulegen, erschien diesem Mitte der fünfziger Jahre als »Zumutung«. Dass die f-scale in Amerika im Zuge ihrer breiten Rezeption auch im militärischen Sektor anwendbar war, konnte auf die deutschen Verhältnisse nicht übertragen werden. Ablehnung brachten ihr aber nicht nur (ehemalige) Soldaten entgegen, sondern auch Mitglieder der jüngeren Generation. Vom Standpunkt der Frankfurter aus hat das die Notwendigkeit, das Instrument verfeinert anzuwenden, nur verstärkt. Was die Militärs gegen die Anwendung von Fragebögen – sobald sie nicht mehr dem militärischen Zweck der Informationsbeschaffung über Dienstlauf bahnen etc. dienten – einnahm, war die Assoziation mit dem Fragebogen im Entnazifizierungsverfahren. In Verbindung mit modernen Verfahren der Psychologie äußerten sich hier irrationale Ängste vor Kontrolle und dem Blick in das Innerste. Die aversive Haltung gegenüber einer »peinlichen Befragung« zeigt sich in einer Vielzahl von Äußerungen. Das Interview, in dem persönliche Äußerungen gefragt waren, wurde als »Verhör«, »Test« und »Prüfung« bezeichnet, ganz entgegen der Intention seiner Autorin Stephanie Krenn. Unnötig zu betonen, dass als Argument gegen das qualitative Interview explizit ins Feld geführt wurde, dass es von einer Frau entworfen wurde. Bezeichnenderweise wurde das Verfahren mit »Unehrlichkeit« in Verbindung gebracht, indem die Fragen als »Trickfragen« denunziert wurden. Dem »unehrlichen« formalisierten Verfahren stellten die Militärs das Ideal eines offenen und ehrlichen Gesprächs unter erfahrenen Kameraden entgegen.
52 | Protokoll der Sitzung der Psychologischen Studienkommission am 5.7.1954, IfS Archiv, A 20, Projekt »A 14« Vorarbeiten, S. 24.
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2. Als zentral haben sich im Laufe der Untersuchung die Konkurrenzen innerhalb der sich bildenden Verteidigungsadministration und insbesondere zwischen einzelnen Akteuren erwiesen. Für bestimmte Zwecke galt psychologisches Expertenwissen als funktional. Deshalb wurde nach der Kappung des Interviewverfahrens mit Gotthilf Flik ein Vertreter der psychotechnischen, apparateorientierten Richtung in der deutschen Wehrmachtspsychologie eingestellt. Damit setzte die militärische Seite ihre Vorstellung von einer technokratischfunktionalen Lösung durch und schrieb gleichzeitig die Position des Psychologen in subordinierter Stellung fest. Die politische Dimension betreffend, nämlich die Einstellung von Antidemokraten zu verhindern, kam nur das totalitarismustheoretische Konzept in einer den Belangen der Militärs angepassten Weise zum Einsatz. Die Vorstellung von »Objektivität« bei Pfister und Krenn einerseits und den Militärs andererseits unterschieden sich zu sehr. Dass es Dispositionen und Einstellungen sein könnten, die das Handeln leiten, ist eine Vorstellung, die den Militärs zutiefst fremd war. Als eine zentrale Person hat sich im Verlauf der Untersuchung der Leiter des Studien-Bureaus, Joseph Pfister, erwiesen. Mit ihm stand und fiel das ganze Verfahren psychologischer Negativauslese bei der Aufstellung der Bundeswehr. Seine Einstellung zu wissenschaftlichen Verfahren erweckt mitunter den Anschein naiver Wissenschaftsgläubigkeit. In der Überschätzung dessen, was Psychologie und Soziologie zu leisten vermögen, gleicht Pfisters Einschätzung der seiner militärischen Kollegen – nur unter umgekehrten Vorzeichen. Pfister war ein umtriebiger und origineller Wissenschaftsadministrator, bis seine Kollegen ihn kaltzustellen begannen. Er beherrschte den Umgang mit Wissenschaftlern und setzte in der Auswahl seiner Kooperationspartner deutliche Akzente. Seine konzeptionellen Vorstellungen über eine neue Militärpsychologie konnten sich sehen lassen und waren im Gegensatz zu denen der Wehrpsychologen nicht vergangenheitsorientiert. Pfisters Konzeption sah eine ausdifferenzierte Aufgabenstruktur des Psychologischen Dienstes vor, die von einem kleinen Team in Angriff genommen werden sollte. Mit den übrigen Aufgaben sollten zivile Institutionen beauftragt werden. Heute würde man das Outsourcing nennen. Der Versuch, die alte Wehrpsychologie auszuschließen, ist die wahrscheinliche Ursache für die massive Intervention der Berufsverbän-
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de gegen das in der Annahmeorganisation praktizierte Verfahren durch den BDP und die DGfP. Pfisters Scheitern innerhalb des Amtes Blank ist auf seine Stellung als Fremder in der militärischen Abteilung zurückzuführen. Weder besaß er eine abgeschlossene akademische Ausbildung, noch war sein beruflicher Lebenslauf stetig verlaufen, zudem hatte er bis auf einen zweijährigen Militärdienst ausschließlich zivile Tätigkeiten ausgeübt. Sein militärischer Rang im Krieg war zu niedrig, um im sozial-elitären Umfeld der militärischen Abteilung des Amtes Blank anerkannt zu werden. Dass er Katholik war, schürte in der konfessionell unausgewogenen, protestantisch dominierten militärischen Abteilung Mißtrauen. Bei ihren Recherchen über Pfisters Vergangenheit hatten die Vertreter des Konzepts vom »Staatsbürger in Uniform« ihren unterschwelligen antiintellektuellen, antiamerikanischen und antizivilistischen Ressentiments freien Lauf gelassen: Sein langes Studium kommentierten sie hämisch, Pfisters Beschäftigung in dem Münchener Filminstitut in der Nachkriegszeit habe darin bestanden, »dauernde Vermerke über Gespräche und Aufträge« zu machen, »aber nichts wirkliches zu leisten«, noch schlimmer, er sei damals »als überzeugter Pazifist, Soldatenhasser und Anhänger der reeducation aufgetreten«.53 Nach dem Krieg »beim Ami« beschäftigt und für die Reeducation gewesen zu sein, verstärkte das Mißtrauen seiner Kollegen. Diese von seinen Kollegen nicht geschätzte Tätigkeit zu perpetuieren, indem Pfister mit Stephanie Krenn eine Psychologin als Gutachterin verpflichtete, die ebenfalls bei OMGUS und HICOG gearbeitet hatte, verschärfte die Vorurteile seiner Kollegen nur noch. Schließlich erfreute sich Pfister allem Anschein nach guter Verbindungen zu den zivilen Teilen der Verwaltung, sowohl im Amt Blank, als auch außerhalb. 3. Schließlich ist noch die Frage der Auswirkungen auf das Feld der Wissenschaft zu klären. Pfisters Versuch, in einem zentralen Bereich, in dem sich seit den zwanziger Jahren mit der Psychologie eine wissenschaftliche Disziplin etabliert hatte, eine weitere Disziplin, nämlich die Soziologie, zu etablieren scheiterte an der Attacke der organisierten Scientific Community. Die Motivation zur Intervention von BDP und DGfP bildete deren berufständisches Interesse an der Einrichtung von Stellen.
53 | Vermerk Will/Pollmann 17.11.1955 BA-MA N 717/5, zit.n. Meyer, Zur inneren Entwicklung (Fn. 38), S. 908.
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Die innere Entwicklung in der Studienkommission läßt Rückschlüsse auf die Stellung der Remigranten in der Nachkriegswissenschaftslandschaft zu. Adorno konnte seine Vorschläge nicht mit der gleichen Autorität vortragen wie seine Kollegen. Die Kritik setzte frühzeitiger an und war von Ressentiments nicht ganz frei. Die Vertrautheit mit den Verfahren der Kollegen durch eine gemeinsame Vergangenheit und gemeinsam angewandte Verfahren erzeugten ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das bewirkte, dass Lersch und Heiss z.B. noch nicht mal daran dachten, sich gegenseitig kritische Fragen bezüglich Graphologie und Charakterologie zu stellen, wohl aber, wenn Adorno mit einem Fragebogen zu Einstellungsmustern ein Instrument vorlegte, das den Psychologen noch methodisch fremd war. Die Kritik, die daran geäußert wurde, gab sich vordergründig als kritische Nachfrage zur Methode. Es zeigte sich jedoch spätestens bei der Intervention der Fachverbände gegen die »unwissenschaftlichen Gesinnungsfragen« im Interview-Schema, wie tief die Vorbehalte, die sich auch gegen den Inhalt der Fragen richteten, saßen. Die Intervention der Fachverbände und der militärischen Experten führte dazu, dass eine überkommene wissenschaftliche Schule wieder Einzug erhielt, obwohl die Fachdebatte mit dem beginnenden Methodenstreit der Psychologie bereits eine andere Richtung einzuschlagen begann.54 Die bis dahin dominanten Charakterologen und Ganzheitspsychologen gerieten in die Defensive. Allerdings kehrten auch die Wehrpsychologen nicht alle zurück. Mit der Verpflichtung des eher psychotechnisch orientierten Experten für die Spezialistenuntersuchungen, Gotthilf Flik, zum Auf bau des Psychologischen Dienstes der Bundeswehr war die Orientierung auf das modernere Feld der Testdiagnostik nicht verbaut. Unter diesen Vorzeichen erfolgte eine Modernisierung beim Wiederauf bau der Wehrpsychologie, deren signifikantes, auch institutionelles Zeichen die Ausdifferenzierung der Anwendungsfelder in den 1960ern ist, so dass sich die Modernisierungskonzepte Pfisters unter Ausblendung der politisch-soziologischen Elemente letztlich doch durchgesetzt haben. 4. Fasst man abschließend die Ergebnisse unter der eingangs skizzierten Fragestellung nach der Bedeutung von Diskurskoalitionen zu54 | Vgl. Alexandre Métraux, Der Methodenstreit und die Amerikanisierung der Psychologie in der Bundesrepublik 1950-1970, in: Mitchell G. Ash/Ulfried Geuter (Hg.), Geschichte der deutschen Psychologie im 20. Jahrhundert, Opladen 1985, S. 225-251.
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sammen, so lässt sich feststellen, dass es zwei Diskurskoalitionen gab. Die eine Diskurskoalition umfasste die zivilen PlanerInnen innerhalb des Amtes Blank, Krenn, Pfister und die Frankfurter. Ihnen war die »amerikanische Erfahrung« gemeinsam, auf der Seite der Wissenschaftler handelte es sich um die Emigrationserfahrung, auf der Seite von Krenn und Pfister ist es die Erfahrung der Nachkriegszeit, als beide »beim Ami« gearbeitet haben. Diese Erfahrungen ließen Synchronisierungseffekte zu, die zu einem schnellen und praktisch wirksamen Einverständnis führten. Ihre gemeinsamen Bemühungen richteten sich darauf, Deutungsangebote der amerikanisierten empirischen Sozialforschung und der Sozialpsychologie in einem begrenzten aber bedeutungsreichen Fall durchzusetzen. Die andere Diskurskoalition umfasste die militärischen Praktiker, die militärischen Reformer um Baudissin (den Personalgutachterausschuss einbegriffen) und die etablierten Psychologen, die ihre Karriere bereits unter dem Nationalsozialismus mit der Wehrmacht verwoben hatten. Hier herrschte Einverständnis, was die militärischen Kategorien betrifft und Vertrautheit, was die Verfahren betrifft. Außerdem war das hierarchische Verhältnis zwischen Militärs und psychologischen Experten eingespielt und eingeübt. Konflikte wurden so minimiert. Diese beiden Diskurskoalitionen trafen aufeinander. Die Kräfteverhältnisse waren so, dass sich die militärisch-psychologische Diskurskoalition durchgesetzt hat, mit weitreichenden Folgen für die Institutionalisierung. Die Wehrpsychologen konnten sich unmittelbar nach dem Aufbaubeginn der Bundeswehr etablieren, während die Militärsoziologie erst nach einer wechselvollen Geschichte in den 1960ern sich mit dem Sozialforschungsinstitut der Bundeswehr Anfang der 1970er Jahre etablieren konnte.55 Das Fallbeispiel zeigt, dass den Prozessen, die von Anselm DoeringManteuffel mit »Westernisierung«, von Ulrich Herbert mit »Fundamentalliberalisierung« und von Axel Schildt und Arnold Sywottek als »Modernisierung im Wiederauf bau« umschrieben werden, im Feld militärischer Elitenreproduktion enge Grenzen gesetzt waren. Der militärische Traditionalismus schloss nicht aus, dass man Experten mit einer zweiten wissenschaftlichen Sozialisation in der amerikanischen Sozialwissenschaft befragte, der Anwendung der von ihnen vertreten Konzepte waren jedoch enge Grenzen gesetzt. Deswegen ist auch der These von Clemens Alb55 | Vgl. Platz, Krise der Autorität (Fn. 44), passim.
Theodor W. Adornos Demokratieexper tise beim Aufbau der Bundeswehr
recht, die Frankfurter hätten bereits in den 1950er Jahren zur »intellektuellen Gründung der Bundesrepublik« beitragen können – so schön das gewesen wäre – dezidiert mit Blick auf die mikropolitische Fallrekonstruktion wie auch auf die diskursanalytische Einordnung zu widersprechen. Interessanterweise konnten andere WissenschaftlerInnen in den 1960er Jahren im Rahmen der von René König betreuten Wehrsoziologischen Forschungsgruppe sozialpsychologische und organisationssoziologische Instrumente in der Bundeswehr zur Anwendung bringen, unter anderem auch eine abgewandelte Autoritarismusskala und kleingruppenpsychologische Modelle in Anlehnung an Kurt Lewin. Aber zu diesem Zeitpunkt war die Bundeswehr wenigstens zum Teil aus ihrer traditionalistischen Erstarrung erwacht.56
56 | Vgl. ebd.
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IV. Alternative Verläufe: Exil in Palästina, bewusste Nicht-Remigration und »Innere Emigration«
Ein (Wieder-)Begründer der Politikwissenschaft: Siegfried Landshut Rainer Nicolaysen
I. K ontinuitäten und E xileinflüsse – R emigr anten in der westdeutschen P olitik wissenschaf t Unter den Wissenschaftsdisziplinen im Nachkriegsdeutschland nahm die Politikwissenschaft eine Sonderstellung ein.1 Seit dem 19. Jahrhundert hatte es in Deutschland keine Lehrstühle für Politik mehr gegeben; erst im Rahmen der re-education nach 1945 sollte das vielen jetzt neu und importiert erscheinende Fach als »Demokratiewissenschaft« an westdeutschen Universitäten und in West-Berlin etabliert werden. Diese politisch-pädagogisch motivierten Pläne wurden in erster Linie von US-amerikanischen Militärbehörden und ihren Beratern, aber auch von deutschen – vornehmlich sozialdemokratischen – Politikern getragen. An den Universitäten selbst musste die Errichtung politikwissenschaftlicher Lehrstühle ab 1950/51 mit politischem Druck durchgesetzt werden. Nicht selten wurde dem Fach unterstellt, »neumodisch, undeutsch und über-
1 | Zur Geschichte des Faches vgl. Arno Mohr, Politikwissenschaft als Alternative. Stationen einer wissenschaftlichen Disziplin auf dem Wege zu ihrer Selbständigkeit in der Bundesrepublik Deutschland 1945-1965, Bochum 1988; Wilhelm Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland, München 2001; zusammenfassend Herfried Münkler, Geschichte und Selbstverständnis der Politikwissenschaft in Deutschland, in: ders., (Hg.), Politikwissenschaft. Ein Grundkurs, 2. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2006, S. 13-54.
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flüssig«, eben ein Fremdkörper im deutschen Wissenschaftssystem zu sein.2 Im mühevollen Etablierungsprozess der Politischen Wissenschaft spielte das Engagement der ersten Lehrstuhlinhaber eine zentrale Rolle. Dabei stellte die Politikwissenschaft in der Bundesrepublik auch hinsichtlich der personellen Zusammensetzung gegenüber anderen Fächern einen Sonderfall dar. In großer Mehrheit waren die Politik-Professoren entweder Remigranten wie Ernst Wilhelm Meyer, Siegfried Landshut, Ernst Fraenkel, Carl Joachim Friedrich, Ossip K. Flechtheim sowie etwas später Arnold Bergstraesser und Eric Voegelin, oder es handelte sich um Wissenschaftler, die das »Dritte Reich« als dessen Gegner erlebt und überlebt hatten wie Wolfgang Abendroth, Eugen Kogon, Otto Suhr, Dolf Sternberger und Carlo Schmid.3 Auch wenn nicht alle Emigranten automatisch – und seit jeher – überzeugte Demokraten waren, schien in den 1950er Jahren keine Wissenschaftsdisziplin in der Bundesrepublik personell so demokratisch geprägt zu sein wie die Politikwissenschaft. Mit welchen Vorstellungen die Politikwissenschaftler in der jungen Demokratie akademisch und im weiteren Sinne öffentlich wirken wollten, wie sie die NS-Zeit persönlich und wissenschaftlich verarbeiteten, inwieweit sie an Konzepte aus der Weimarer Republik anknüpften und wie sich die etwaigen Exil-Erfahrungen niederschlugen, ist durchaus umstritten.4 Lange Zeit galt die westdeutsche Politikwissenschaft als Pa2 | Mit diesem Vorwurf etwa musste sich im Jahre 1952 Alexander Rüstow, der Vorsitzende der im Jahr zuvor gegründeten Deutschen Vereinigung für die Wissenschaft von der Politik, auseinandersetzen; Alexander Rüstow, Weshalb Wissenschaft von der Politik? [Rede auf der Berliner Eröffnungstagung der Vereinigung für die Wissenschaft von der Politik vom 2. Mai 1952], in: Zeitschrift für Politik N.F. 1 (1954), S. 131-138, 131. 3 | Als erste umfassende Sammlung von Kurzbiographien einzelner »Gründerväter« und Vertreter der nachfolgenden Generation: Hans Karl Rupp/Thomas Noetzel, Macht, Freiheit, Demokratie, Bd. 1: Anfänge der westdeutschen Politikwissenschaft. Biographische Annäherungen, Marburg 1991; dies., Macht, Freiheit, Demokratie, Bd. 2: Die zweite Generation der westdeutschen Politikwissenschaft. Biographische Annäherungen, Marburg 1994; jetzt vor allem Eckhard Jesse/Sebastian Liebold (Hg.), Deutsche Politikwissenschaftler – Werk und Wirkung. Von Abendroth bis Zellentin, Baden-Baden 2014. 4 | Vgl. knapp zusammenfassend Bleek, Politikwissenschaft (Fn. 1), S. 282f.
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radebeispiel für den Exileinfluss »auf das Bewußtsein ganzer Fächer«.5 Dementsprechend hat seit Mitte der 1980er Jahre insbesondere Alfons Söllner in zahlreichen Studien die Bedeutung der Exilanten und Remigranten für die Etablierung und Entwicklung der Politikwissenschaft in der Bundesrepublik hervorgehoben.6 Vor allem die Erfahrungen in den USA, wohin 54 der 64 im Nachhinein als Politikwissenschaftler klassifizierten Emigranten gegangen waren, hätten den Auf bau der Politischen Wissenschaft in West-Deutschland nach 1945 entscheidend geprägt. Die Gegenthese dazu vertritt seit 1989 in erster Linie Hubertus Buchstein, der dem Einflussfaktor Exil geringe Bedeutung beimisst und stattdessen Kontinuitäten in den intellektuellen Biographien der »Gründungsväter« der westdeutschen Politikwissenschaft betont: Konzeptionell viel stärker als die Einflüsse der US-amerikanischen Political Science hätten Elemente der spezifisch deutschen Fachtradition von der ersten zur zweiten deutschen Demokratie fortgewirkt.7 Als formative Kraft für das Nachkriegswerk auch der remigrierten Politikwissenschaftler seien hauptsächlich
5 | Wolfgang Frühwald, Die Vertreibung der Wissenschaften aus Deutschland. Aufgaben und Perspektiven. Vorschlag zu einem Forschungsprogramm, in: Jahrbuch der historischen Forschung in der Bundesrepublik Deutschland, hg. von der Arbeitsgemeinschaft außeruniversitärer historischer Forschungseinrichtungen in der Bundesrepublik Deutschland, Berichtsjahr 1986, München u.a. 1987, S. 47-56, 55. 6 | Alfons Söllner, Deutsche Politikwissenschaftler in der Emigration. Studien zu ihrer Akkulturation und Wirkungsgeschichte. Mit einer Bibliographie, Opladen 1996; ders., Fluchtpunkte. Studien zur politischen Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Baden-Baden 2006, zusammenfassend: ders., Politikwissenschaften, in: ClausDieter Krohn/Patrik von zur Mühlen/Gerhard Paul/Lutz Winckler (Hg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933-1945, Darmstadt 1998, Sp. 836-845. 7 | Vgl. Hubertus Buchstein, Wissenschaft von der Politik, Auslandswissenschaft, Political Science, Politologie. Die Berliner Tradition der Politikwissenschaft von der Weimarer Republik bis zur Bundesrepublik, in: Wilhelm Bleek/Hans J. Lietzmann (Hg.), Schulen der deutschen Politikwissenschaft, Opladen 1999, S. 183211, insbes. 202-205, sowie schon: Hubertus Buchstein/Peter Th. Walther, Politikwissenschaft in der Emigrationsforschung, in: PVS 30 (1989), S. 342-352, vgl. auch Gerhard Göhler/Bodo Zeuner (Hg.), Kontinuitäten und Brüche in der deutschen Politikwissenschaft, Baden-Baden 1991.
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jene Ansätze zu werten, die sich bereits in der Weimarer Republik entwickelt hätten.8 Der frühen westdeutschen Politikwissenschaft soll eine starke personelle Prägung durch Emigranten und Remigranten keineswegs abgesprochen werden; zu diskutieren bleibt aber die Frage, inwieweit das Fach auch inhaltlich-konzeptionell auf Exileinflüssen und -erfahrungen gründete. Entsprechende Einzelfallstudien würden in einer Gesamtschau wohl viele unterschiedliche Gewichtungen von Einflüssen aus der Weimarer Republik einerseits und dem Exil andererseits aufzeigen. Eindeutig in die erste Richtung schlägt das Pendel im Falle von Siegfried Landshut aus. Auch er zählt zur »Gründungsgeneration« der westdeutschen Politikwissenschaft; als Remigrant trug er zur Profilierung des Faches maßgeblich bei. Allerdings war Landshut nicht ins US-amerikanische, sondern untypischerweise ins nahöstliche Exil, nach Ägypten und Palästina, geflohen.9 Als er 1951 auf den ersten Hamburger Lehrstuhl für die »Wissenschaft von der Politik« berufen wurde, brachte er also keine Erfahrungen mit der Political Science in den USA mit; vielmehr setzte er in bemerkenswerter Kontinuität ein politikwissenschaftliches Programm um, das er vor seiner Vertreibung im Jahre 1933 bereits formuliert hatte.10 Für Siegfried Landshut war Politikwissenschaft keine neue, aus den USA ins Nachkriegsdeutschland importierte Wissenschaft, sondern eine
8 | Vgl. zu den damaligen Ansätzen Manfred Gangl (Hg.), Das Politische. Zur Entstehung der Politikwissenschaft während der Weimarer Republik, Frankfurt a.M. u.a. 2008; zu den beiden außeruniversitären Institutionen einer Politikwissenschaft in der Weimarer Republik, der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin und dem Institut für Auswärtige Politik in Hamburg, vgl. Erich Nickel, Politik und Politikwissenschaft in der Weimarer Republik, Berlin 2004. 9 | Ausführlich zu Leben und Werk mit allen Einzelnachweisen Rainer Nicolaysen, Siegfried Landshut. Die Wiederentdeckung der Politik. Eine Biographie. Frankfurt a.M. 1997; zuletzt zusammenfassend ders., Siegfried Landshut (1897-1968), in: Jesse/Liebold (Hg.), Politikwissenschaftler (Fn. 3), S. 463-476. 10 | Vgl. Rainer Nicolaysen, Zur Kontinuität politischen Denkens. Siegfried Landshuts Beitrag zur Etablierung westdeutscher Politikwissenschaft als Einlösung seines Programms aus Weimarer Zeit, in: Alexander Gallus/Axel Schildt (Hg.), Rückblickend in die Zukunft. Politische Öffentlichkeit und intellektuelle Positionen in Deutschland um 1950 und um 1930, Göttingen 2011, S. 275-293.
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der ältesten Disziplinen überhaupt.11 »Der Begriff Politik«, schrieb Landshut, »ist ja nicht von gestern. Er ist neben Physik, Metaphysik und Ethik einer der ältesten Begriffe einer Wissenschaft, der Wissenschaft von der Polis, der politischen Gemeinschaft, der res publica.«12 Wohl so konsequent wie kein anderer deutscher Gelehrter hatte Landshut bereits Ende der 1920er Jahre versucht, die Politische Wissenschaft aus ihrer eigenen, mehr als zweitausendjährigen Tradition heraus – auch universitär – wieder zu begründen. Daran knüpfte er nach seiner Rückkehr aus dem Exil 1951 konsequent an. Dabei war Politik für Landshut nicht nur eine der ältesten Wissenschaften, sie war für ihn auch die im aristotelischen Sinne königliche Disziplin, diejenige, die die bestimmenden Fragen des menschlichen Miteinanderlebens zum Thema hat und die sich als praktische Wissenschaft an einem Zweck orientiert: am Gemeinwohl, am guten Leben. Landshuts gesamtes Werk zielt darauf, den Verlust eines solchen Politikverständnisses durch rückwärts aufklärende Untersuchungen kenntlich zu machen und es damit wieder stärker ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Wilhelm Hennis hat Landshut aus dem Rückblick des Jahres 1998 als den wohl Unbekanntesten unter den »Gründervätern« bezeichnet, zugleich aber als den »bedeutendste[n] Kopf« der ersten Generation der Politikwissenschaft nach 1945.13 Im Folgenden soll dieser noch immer eher unbekannte Denker in einer biographischen Skizze vorgestellt werden, um anschließend Landshuts Demokratie-Verständnis und sein Engagement in der politischen Bildung zumindest in Umrissen anzudeuten.
11 | Ein Großteil seines politikwissenschaftlichen Werks findet sich zusammengeführt in Siegfried Landshut, Politik. Grundbegriffe und Analysen. Eine Auswahl aus dem Gesamtwerk in zwei Bänden, hg. von Rainer Nicolaysen, Berlin 2004 [im Folgenden zitiert als »Werkausgabe«]. 12 | Siegfried Landshut, Politik, in: Heinz Brunotte/Otto Weber (Hg.), Evangelisches Kirchenlexikon. Kirchlich-theologisches Handwörterbuch, Bd. 3, Göttingen 1959, S. 248-250, 248; wieder abgedruckt in: Landshut, Werkausgabe (Fn. 11), Bd. 1, S. 293-296, 293f. 13 | Politikwissenschaft als Disziplin. Zum Weg der politischen Wissenschaft nach 1945. Wilhelm Hennis im Gespräch mit Gangolf Hübinger [vom 11.11.1998], in: NPL 44 (1999), S. 365-379, 370.
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II. E ine W issenschaf tlerbiogr aphie im 20. J ahrhundert Siegfried Landshut wurde am 7. August 1897 in Straßburg im Elsaß in eine weitgehend assimilierte deutsch-jüdische Familie hineingeboren; sein Vater war Architekt. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, in dessen Anfangstagen sich der knapp 17-Jährige als Kriegsfreiwilliger gemeldet hatte, begann Landshut im März 1919 zunächst mit dem juristischen, dann mit dem nationalökonomischen Studium. Vor allem studierte er bei Robert Liefmann in Freiburg i.Br., wo er bereits 1921, nach fünf Semestern, mit einer Arbeit über den »Homo oeconomicus« zum Dr. rer. pol. promoviert wurde.14 Nach der Promotion folgten von 1921 bis 1925 philosophische und sozialwissenschaftliche Studien bei Edmund Husserl und Martin Heidegger in Freiburg, bei Max Scheler in Köln, bei Alfred Weber und Karl Jaspers in Heidelberg, wiederum bei Heidegger – nun in Marburg –, schließlich erneut bei Alfred Weber in Heidelberg. Gerade die »Phänomenologischen Übungen« Martin Heideggers wie auch dessen Aristoteles- und Descartes-Interpretationen beeindruckten und beeinflussten Landshut stark. Allerdings ließ er sich nicht von dem Philosophen und seiner »diktatorischen Macht über junge Gemüter«15 vereinnahmen. Auch während der Studienzeit bei Heidegger widmete sich Landshut eigenen Untersuchungen; insbesondere beschäftigte er sich intensiv mit dem Werk Max Webers. Habilitieren wollte er sich bei dessen Bruder Alfred. Im Sommer 1924 zum zweiten Mal nach Heidelberg gekommen, beteiligte sich Landshut an Alfred Webers staatssoziologischen Seminaren und arbeitete an eigenen »historischen Studien über den Bedeutungswandel der politischen Begriffe und der ihnen entsprechenden Sachzusammen-
14 | Siegfried Landshut, Betrachtungen über eine abstrakte und formale Auffassung des Wirtschaftlichen und seine Beziehung zum Gesellschaftlichen, Inaugural-Dissertation zur Erlangung der staatswissenschaftlichen Doktorwürde, Freiburg i.Br. 1921, unveröffentlichtes Typoskript, 118 Seiten [eine Kopie befindet sich in der Universität Hamburg, Arbeitsstelle für Universitätsgeschichte]. 15 | Karl Löwith, Curriculum Vitae (1959), in: ders., Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht, Frankfurt a.M. 1990, S. 146-157, 147.
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hänge«. 16 Erstes publiziertes Ergebnis dieser Studien ist der 1925 erschienene Aufsatz »Über einige Grundbegriffe der Politik«, 17 nach Wilhelm Hennis »der eigentliche Neubeginn einer wissenschaftlichen Politik in Deutschland«. 18 Den Plan, sich bei Alfred Weber mit einer politikwissenschaftlichen Arbeit zu habilitieren, musste Landshut indes aufgeben, erwies sich doch auch in der vergleichsweise liberalen Heidelberger Fakultät die zweite Habilitation eines jüdischen Kandidaten binnen kurzer Zeit als aussichtslos. Der vor Landshut auf der Warteliste stehende Aspirant war Karl Mannheim.19 Auf Empfehlung Alfred Webers wechselte Landshut 1925 nach Hamburg, an Albrecht Mendelssohn Bartholdys Institut für Auswärtige Politik, eines der ersten Forschungsinstitute in der Welt zur Untersuchung von internationalen Beziehungen und Friedensbedingungen.20 Zwei Jahre später wurde Landshut Assistent des Sozialökonomen und Sozialdemokraten Eduard Heimann an der 1919 gegründeten Hamburgischen
16 | Siegfried Landshut in einem Lebenslauf 1928; zitiert nach Nicolaysen, Wiederentdeckung (Fn. 9), S. 64. 17 | Siegfried Landshut, Über einige Grundbegriffe der Politik, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 54 (1925), S. 36-86; wieder abgedruckt in: ders., Werkausgabe (Fn. 11), Bd. 1, S. 327-386. 18 | Wilhelm Hennis, Zu Siegfried Landshuts wissenschaftlichem Werk, in: Zeitschrift für Politik N.F. 17 (1970), S. 1-14, 4. 19 | Vgl. Nicolaysen, Wiederentdeckung (Fn. 9), S. 65-67. Landshut und Mannheim blieben dauerhaft, auch noch während des Exils, wissenschaftliche Kontrahenten; dazu zahlreiche Hinweise in: ebd. 20 | Zum »Mendelssohn-Institut« Klaus-Jürgen Gantzel (Hg.), Kolonialrechtswissenschaft, Kriegsursachenforschung, Internationale Angelegenheiten. Materialien und Interpretationen zur Geschichte des Instituts für Internationale Angelegenheiten der Universität Hamburg 1923-1983 im Widerstreit der Interessen, hg. aus Anlaß des 60. Jahrestages der Gründung des Instituts für Auswärtige Politik, Baden-Baden 1983; zum Institutsleiter Gisela Gantzel-Kress, Albrecht Mendelssohn Bartholdy. Ein Bürgerhumanist und Versöhnungsdiplomat im Aufbruch der Demokratie in Deutschland, in: ZHG 71 (1985), S. 127-143; Rainer Nicolaysen, Albrecht Mendelssohn Bartholdy (1874-1936). Jurist – Friedensforscher – Künstler, in: RabelsZ 75 (2011), S. 1-31.
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Universität.21 Dort bat er 1928 als erster deutscher Wissenschaftler im 20. Jahrhundert um Zulassung zur Habilitation für das der Universitätsbürokratie unbekannte »Fach der Politik«: ein Fach, das es zu jenem Zeitpunkt an keiner Universität in Deutschland gab.22 Insofern handelte es sich bei Landshuts Antrag um einen ebenso programmatischen wie hinsichtlich seiner akademischen Karriere auch mutigen Akt. Seine Habilitationsschrift »Untersuchungen über die ursprüngliche Fragestellung zur sozialen und politischen Problematik«, deren Annahme am Veto des Soziologen und späteren Nationalsozialisten Andreas Walther scheiterte und die im Jahre 1929 unter dem unglücklichen Verlagstitel »Kritik der Soziologie« erschien,23 avancierte zu einem der meistdiskutierten sozialwissenschaftlichen Beiträge in der Endphase der Weimarer Republik.24 Korrekter hätte das Buch, so Wilhelm Hennis, den Titel »Revindikation« oder »Apologie der Politik« tragen sollen.25 Es müsse, urteilte Michael Th. Greven im Jahre 2004, »als Gründungsdokument des politikwissen-
21 | Vgl. Heinz Rieter, Eduard Heimann – Sozialökonom und religiöser Sozialist, in: Rainer Nicolaysen (Hg.), Das Hauptgebäude der Universität Hamburg als Gedächtnisort. Mit sieben Porträts in der NS-Zeit vertriebener Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Hamburg 2011, S. 229-259; zum universitären Kontext Rainer Nicolaysen, Glanzvoll und gefährdet. Über die Hamburger Universität in der Weimarer Republik, in: Andocken. Hamburgs Kulturgeschichte 1848 bis 1933, hg. von Dirk Hempel und Ingrid Schröder unter Mitarbeit von Norbert Fischer, AnnaMaria Götz, Johanna Meyer-Lenz, Mirko Nottscheid, Myriam Richter und Bastian Weeke, Hamburg 2012, S. 114-131. 22 | Landshuts Zulassungsantrag findet sich faksimiliert abgedruckt in: Rainer Nicolaysen (Hg.), Polis und Moderne. Siegfried Landshut in heutiger Sicht. Mit ausgewählten Dokumenten zur Biographie, Berlin/Hamburg 2000, S. 179. 23 | Siegfried Landshut, Kritik der Soziologie. Freiheit und Gleichheit als Ursprungsproblem der Soziologie, München/Leipzig 1929; wieder abgedruckt in: ders., Werkausgabe (Fn. 11), Bd. 1, S. 43-188; zum Scheitern des ersten Habilitationsversuchs vgl. Nicolaysen, Wiederentdeckung (Fn. 9), S. 94-103. 24 | Vgl. Jürgen Habermas, Soziologie in der Weimarer Republik, in: Wissenschaftsgeschichte seit 1900. 75 Jahre Universität Frankfurt. Mit Beiträgen von Helmut Coing, Lothar Gall, Jürgen Habermas, Notker Hammerstein, Hubert Markl, Wolfgang J. Mommsen, Frankfurt a.M. 1992, S. 29-53. 25 | Hennis, Politikwissenschaft als Disziplin (Fn. 13), S. 367.
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schaftlichen Neo-Aristotelismus gelesen und Landshut selbst zeitlebens als einer seiner tiefgründigsten Vertreter anerkannt werden«.26 Regelrecht Aufsehen erregte Siegfried Landshut dann 1932 mit der von ihm – unter Mitwirkung von Jacob Peter Mayer – vorgelegten Ausgabe der Frühschriften von Karl Marx, durch die erstmals dessen philosophische Texte ins Zentrum des Werkes gerückt wurden.27 Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten aber brach die Marx-Rezeption abrupt ab; abgebrochen wurde 1933 auch Landshuts zweiter Versuch, sich an der Hamburgischen Universität zu habilitieren. Nachdem seine nun im Fach Nationalökonomie eingereichte zweite Habilitationsschrift »Historischsystematische Analyse des Begriffs des Ökonomischen«28 schon angenommen worden war, teilte ihm die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät im Mai 1933 mit, dass »mit Rücksicht auf die veränderten Verhältnisse« von der Weiterverfolgung seines Habilitationsverfahrens abzusehen sei.29 Kurz darauf verlor er als Jude auch seine Assistentenstelle.30 26 | Michael Th. Greven, Siegfried Landshut. Ein Gründungsvater des politikwissenschaftlichen Neo-Aristotelismus, in: NPL 49 (2004), S. 216-219, 217. 27 | Karl Marx, Der historische Materialismus. Die Frühschriften, 2 Bde., hg. von Siegfried Landshut und Jacob Peter Mayer, unter Mitwirkung von Friedrich Salomon, Leipzig 1932. 28 | Siegfried Landshut, Historisch-systematische Analyse des Begriffs des Ökonomischen; erstmals vollständig abgedruckt in: ders., Werkausgabe (Fn. 11), Bd. 1, S. 189-290. 29 | Das Schreiben des Dekans Curt Eisfeld ist faksimiliert abgedruckt in: Nicolaysen (Hg.), Polis und Moderne (Fn. 22), S. 180. 30 | Zur Hamburger Universität in der NS-Zeit zusammenfassend Rainer Nicolaysen, Geistige Elite im Dienste des »Führers«. Die Universität zwischen Selbstgleichschaltung und Selbstbehauptung, in: Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (Hg.), Hamburg im »Dritten Reich«, Göttingen 2005, S. 336-356; zu den Entlassungen aus rassistischen und anderen politischen Gründen, von denen in der NS-Zeit in Hamburg etwa ein Fünftel des Lehrkörpers betroffen war, Rainer Nicolaysen, Das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« vom 7. April 1933 und seine Umsetzung an der Hamburger Universität, in: ders. (Hg.), Auch an der Universität – Über den Beginn von Entrechtung und Vertreibung vor 80 Jahren. Reden der zentralen Gedenkveranstaltung der Universität Hamburg im Rahmen der Reihe »Hamburg erinnert sich 2013« am 8. April 2013, Hamburg 2014, S. 27-51.
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Für Siegfried Landshut bedeutete die Vertreibung den Abbruch menschlicher Beziehungen und wissenschaftlicher Arbeitsprozesse, wie er radikaler nicht sein konnte. Im Exil gelangte er – und mit ihm seine Frau und seine drei Kinder – an die Grenze des psychisch und physisch Aushaltbaren. In mehr als siebzehn Jahren wurde aus diesem Exil keine Emigration. Ob in Ägypten (1933-1936), Palästina (1936-1945), wiederum Ägypten (1945-1948) oder Großbritannien (1948-1950/51): Bestimmendes Moment für die gesamte Zeit des Exils blieb die Entwurzelung. Nachdem sich 1933 eine ihm versprochene Anstellung in Kairo nicht realisiert hatte, geriet der dortige Aufenthalt mehr und mehr zum Alptraum.31 Über seinen täglichen Existenzkampf berichtete Landshut etwa dem im New Yorker Exil lebenden Eduard Heimann im Oktober 1934:
»Ich selbst habe eine sehr, sehr schlimme Zeit hinter mir, und was uns noch beschieden ist, ist bedrohlich ungewiß. […] Meine Familie ist hier, die Beziehungen zu Europa und den Anschluß an die allgemeine Hilfsaktion habe ich versäumt, und hier haben sich alle Versprechungen als leerer Wahn erwiesen. Ich muß darauf verzichten, all die demütigenden Details und entsetzlichen Situationen zu verzeichnen, durch die ich schon hindurch bin. Ich werde mich aber nicht mehr lange aufrecht halten können. Die seelische Spannkraft und auch die körperliche Leistungsfähigkeit gehen allmählich zur Neige.« 32
Nur dem unablässigen Engagement Eduard Heimanns und dem Zusammenwirken mehrerer akademischer Institutionen und Hilfsorganisationen war es zu danken, dass »ein unausdenkbares Unheil«33 vermieden werden konnte. Nach drei zermürbenden Jahren in Kairo, in denen wissenschaftliche Arbeit kaum möglich gewesen war, erhielt Landshut im Sommer 1936 eine vornehmlich von der Rockefeller Foundation finanzierte, auf zwei Jahre befristete Stelle als Research Fellow an der Hebräischen Universität in Jerusalem, wo er in engerer Verbindung insbeson-
31 | Zu Landshuts Exil insgesamt Nicolaysen, Wiederentdeckung (Fn. 9), S. 196-334. 32 | Undatiertes Schreiben von Siegfried Landshut an Eduard Heimann, auszugsweise abgedruckt in: Nicolaysen (Hg.), Polis und Moderne (Fn. 22), S. 189. 33 | Aus einem Brief Siegfried Landshuts an Theodor Plaut vom 30.7.1934, abgedruckt in: ebd., S. 190.
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dere zu Martin Buber und Ernst Simon stand.34 In dieser Zeit begann Landshut mit seiner Kibbuz-Forschung und lernte so intensiv hebräisch, dass er schließlich Vorlesungen über Max Weber in dieser Sprache zu halten vermochte. Nach Ablauf der zwei Jahre aber stand die Familie wiederum vor dem Nichts. Auch in Palästina begann nun ein Leben am Rande des Existenzminimums. Mit mäßig dotierten Forschungsaufträgen und kleineren Gelegenheitsarbeiten vermochte sich Landshut gerade über Wasser zu halten. Die größte materielle Not war erst überstanden, als Siegfried Landshut 1942 Leiter der deutschsprachigen Abteilung des Britischen Mittelmeersenders in Jerusalem wurde. Im Jahre 1944 konnte dann als Hauptwerk der Exilzeit seine zwischen 1936 und 1941 entstandene Kibbuz-Studie »Die Gemeinschafts-Siedlung in Palästina« in hebräischer Sprache erscheinen.35 Von 1945 bis 1948 zeichnete er schließlich für die Re-education von etwa 100.000 deutschen Kriegsgefangenen in Ägypten verantwortlich. Nach Beendigung dieser Aufgabe siedelte Landshut nach London über, wo er von der Anglo Jewish Association einen befristeten Forschungsauftrag zum Thema »Jewish Communities in the Muslim Countries of the Middle East« erhalten hatte.36 Trotz starker Zweifel kehrte Landshut schließlich nach Deutschland zurück, und zwar an jene Universität, von der er vertrieben worden war. Nach Überwindung etlicher Schwierigkeiten37 erhielt er 1951 den neu eingerichteten Hamburger Lehrstuhl für die »Wissenschaft von der Politik«, einen der ersten seiner Art in der Bundesrepublik. Vierzehn Jahre lang vertrat Landshut die Politikwissenschaft in Hamburg, über zehn Jahre lang als einziger Professor in diesem Fach. In der ohnehin kleinen Gruppe der Remigranten an der Hamburger Universität zählte er zu den we34 | Zu Landshuts Exil in Palästina Nicolaysen, Wiederentdeckung (Fn. 9), S. 227-310. 35 | Siegfried Landshut, Die Kwuza [hebr.] (Zionistische Bibliothek, Bd. 4), Jerusalem 1944. Die deutschsprachige Originalfassung erschien vollständig erstmals 2004 in: ders., Werkausgabe (Fn. 11), Bd. 2, S. 770-977. 36 | Siegfried Landshut, Jewish Communities in the Muslim Countries of the Middle East. A Survey. For the American-Jewish Committee and The Anglo Jewish Association published by the Jewish Chronicle. London o.J. [1950]. 37 | Zu den Umständen der Rückkehr Nicolaysen, Wiederentdeckung (Fn. 9), S. 335-361.
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nigen, die hier noch langjährig als Ordinarius wirkten.38 Zusätzlich zu seiner Professur nahm Landshut von 1952 bis 1959 einen Lehrauftrag an der Akademie für Gemeinwirtschaft, der späteren Hochschule für Wirtschaft und Politik, wahr. Als langjähriges Vorstandsmitglied der »Vereinigung für die Wissenschaft von der Politik« ab 1952 und schließlich als deren Vorsitzender engagierte er sich auch in besonderer Weise für die Anerkennung und Profilierung des Faches im In- und Ausland. Wissenschaftlich trat er in den 1950er Jahren insbesondere als Marx- und Tocqueville-Forscher sowie als Interpret politischer Grundbegriffe hervor. An der Universität Hamburg lehrte er bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1965, in beschränktem Umfang auch noch darüber hinaus. Am 8. Dezember 1968 starb Siegfried Landshut im Alter von 71 Jahren in Hamburg.
III. A nmerkungen zu L andshuts P olitik- und D emokr atie -V erständnis Siegfried Landshuts Ansatz in der Politikwissenschaft wie in der politischen Bildung ist vor dem Hintergrund seines Politik-Begriffs und seiner daraus resultierenden Gesellschafts-Analyse zu beleuchten. Im Mittelpunkt der Politik stand für Landshut die politische Gemeinschaft, und er wurde nicht müde, daran zu erinnern, dass diese durch die Existenz eines Allgemeinen und Gemeinsamen gekennzeichnet sei und dass dieses Verbindliche, d.h. alle Verbindende, gerade nicht Macht und Wohlstand seine könne, sondern nur etwas Geistiges – in Landshuts Worten: »eine konkrete, bestimmte Idee der Lebensführung, ein sittlicher Imperativ des Verhaltens, der für alle, die die Gemeinschaft bilden, im wörtlichsten Sinne ›verbindlich‹ ist, weil allein in einer solchen Idee, in einem solchen Imperativ die Einheit einer Gemeinschaft begründet sein kann«.39 Die Moderne hatte laut Landshut jedoch eine entgegengesetzte Richtung genommen und die Vereinzelung mit allen Konsequenzen immer wei38 | Rainer Nicolaysen, Die Frage der Rückkehr. Zur Remigration Hamburger Hochschullehrer nach 1945, in: ZHG 94 (2008), S. 117-152. 39 | Siegfried Landshut, Empirische Forschung und Grundlagenforschung in der Politischen Wissenschaft. Vortrag, gehalten auf der wissenschaftlichen Tagung der »Vereinigung für die Wissenschaft von der Politik« in Tutzing, 2. bis 4. Mai 1958, in: ders., Werkausgabe (Fn. 11), S. 297-319, 314.
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ter getrieben: Im Zuge der neuzeitlichen, keineswegs abgeschlossenen, politischen und industriell-technischen Revolution sei der Mensch seiner Umgebung, seinen Mitmenschen und schließlich sich selbst zunehmend fremd geworden. Die moderne Gesellschaft drohe so immer mehr zu einer sinnentleerten, bloß noch ökonomische Ziele verfolgenden Einheitsgesellschaft zu werden. In dieser Analyse der Grundproblematik wusste Landshut sich vor allem drei Denkern verwandt, die auf jeweils eigene Weise die Gefahren moderner Zivilisation beschrieben hatten: Alexis de Tocqueville, der im »Zeitalter der Gleichheit« einen Despotismus neuer Art hatte heraufziehen sehen; Karl Marx, der die »Selbstentfremdung des Menschen« in aller Schärfe beschrieben hatte; und Max Weber, der den Kapitalismus unter dem Gesichtspunkt einer universellen und unentrinnbaren »Rationalisierung« interpretiert hatte. Vor allem mit diesen drei Interpreten der Moderne hat sich Landshut in seinen Forschungen immer wieder auseinandergesetzt, auch Verbindungen zwischen ihren Denkansätzen hergestellt und wichtige Texte von Tocqueville und Marx durch seine Ausgaben erst zugänglich gemacht.40 Landshuts Denken stand quer zum Fortschrittsglauben der Moderne. Allerdings zählte er keineswegs zu den Kulturpessimisten, die den »Untergang des Abendlandes« heraufbeschwören wollten. Resignation und Verbitterung lagen Landshut fern; sein streng gegenwartsbezogenes Denken ließ keine Flucht in eine vermeintlich schönere Vergangenheit zu, aber auch keine Vision einer sicher zu erwartenden besseren Zukunft. Was aus Landshuts Analyse für ihn selbst folgte, war der Impuls zur Aufklärung. Politische Bildung erachtete er gerade für eine demokratische Ordnung als unerlässlich.41 Schon in der Weimarer Republik hatte 40 | Karl Marx, Die Frühschriften, hg. von Siegfried Landshut, Stuttgart 1953 [zuletzt: 7. Aufl., Stuttgart 2004]; Alexis de Tocqueville, Das Zeitalter der Gleichheit. Eine Auswahl aus dem Gesamtwerk, hg. von Siegfried Landshut, Stuttgart 1954. Auch Landshuts Beschäftigung mit Max Weber durchzieht sein gesamtes Werk; vgl. vor allem die Weber-Bezüge in: Landshut, Kritik der Soziologie (Fn. 23) sowie ders., Max Webers geistesgeschichtliche Bedeutung (1931), in: Werkausgabe (Fn. 11), Bd. 2, S. 539-555; ders., Das Wesen der modernen Gesellschaft nach Karl Marx und Max Weber (hebr. 1945), dt. in: ebd., S. 608-653. 41 | Vgl. Heinz-Hermann Schepp, Über den Zusammenhang von Politik und Pädagogik bei Siegfried Landshut, in: Nicolaysen (Hg.), Polis und Moderne (Fn. 22),
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er etwa mit einer intensiven Tätigkeit in der Erwachsenenbildung entsprechend zu wirken versucht. Charakteristisch für Landshut waren seine Veranstaltungen an der Hamburger Volkshochschule und im Freien Bildungswesen Altona, wo er nicht nur Kurse über Rousseau und Marx abhielt, sondern auch zu Themen wie »Gesellschaft und Staat«, »Demokratische Wirklichkeit« oder »Politik und persönliches Leben«. Im Winterhalbjahr 1930/31 leitete Landshut eine Arbeitsgemeinschaft zum Thema »Praktische Anleitung zum selbständigen Arbeiten«, deren Untertitel »Wie lese ich?« lautete. In einer »Arbeitsgemeinschaft zur Klärung alltäglicher Begriffe und Redensarten« behandelte er 1929/30 die Frage: »Was heißt unpolitisch, überparteilich, reaktionär, radikal, konservativ?« 42 Beschäftige man sich in der Erwachsenenbildung etwa mit dem Thema »Presse«, schrieb Landshut 1929, so dürfe es nicht vornehmlich darum gehen, den Auf bau des Pressewesens nachzuvollziehen, sondern darum, sich selbst als Zeitungslesenden zu verstehen: »Der Weg der Gewinnung der eigenen Wirklichkeit, der Möglichkeit, mit sich selbst etwas anzufangen aus eigener Aktivität«, müsse die Richtschnur der Bildungsbestrebungen sein.43 In einer spannungsgeladenen Krisenzeit, in der sich die Gegner der Weimarer Demokratie zunehmend durchsetzten, versuchte Landshut, die Grundlage für selbstständige Orientierung, bewusste Informationsauswahl und wohlüberlegte Meinungsbildung zu vermitteln. Ähnlich grundsätzlich ging es nach 1945 auch bei Landshuts Tätigkeit in den Kriegsgefangenenlagern in Ägypten zu. Dort organisierte er ein Programm, das teilweise Universitätsniveau erreichte und die deutschen Kriegsgefangenen zugleich auf eine demokratische Ordnung vorbereitete. Zu seinen Schriften aus dieser Zeit zählt ein 1947 zuerst veröffentlichtes »Politisches ABC«, in dem er etwa die Begriffe Demokratie, Gewaltenteilung, Macht und Recht, Parlament, Parteien, Staat, Verfassung
S. 95-106, sowie jetzt das Landshut-Kapitel bei Joachim Detjen, Politische Erziehung als Wissenschaftsaufgabe. Das Verhältnis der Gründergeneration der deutschen Politikwissenschaft zur politischen Bildung, Baden-Baden 2016, S. 349-365. 42 | Vgl. Nicolaysen, Wiederentdeckung (Fn. 9), S. 157-165. 43 | Siegfried Landshut, Zur Bildungsfrage des berufstätigen Menschen, in: ders., Zur Bildungsfrage des berufstätigen Menschen/Hilmar Trede, Volksmusikpflege und Volkshochschule, Berlin/Itzehoe 1929, S. 5-26, 24.
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und Wahlen erläuterte – problemorientiert und vor breitem historischen Hintergrund.44 Auch nach der Remigration betätigte sich Landshut als akademischer Lehrer, der die aktuelle Realität des Politischen streng im Lichte ihrer Genese zu analysieren und seine Ergebnisse pädagogisch-aufklärend zu vermitteln suchte. Das betraf nicht nur seine Lehre an der Universität Hamburg und an der Akademie für Gemeinwirtschaft, sondern auch Vortrags- und Diskussionszusammenhänge in Jugendorganisationen, Studentenwohnheimen, Bildungsstätten und Gewerkschaften sowie mitunter auch in Sendungen des Rundfunks und des jungen Fernsehens. Landshuts erzieherisches Credo galt in den 1950er Jahren wie schon am Ende der Weimarer Republik: Nach eigener Aussage kam es ihm darauf an, über bestehende Widersprüche nicht »ein Tuch des Stillschweigens« auszubreiten, um die bestehende Ordnung »wie ein Paradies« darzustellen: »Wenn der Lehrer sich keinen Illusionen hingibt«, schrieb Landshut 1957, »dann wird auch der Heranwachsende das allergrößte Vertrauen fassen, weil er sieht, daß er in eine Realität eingeführt wird. Das ist, wie ich aus eigener Erfahrung gesehen habe, das Zugkräftigste, was es überhaupt gibt. Alles andere kann nur falsches Pathos sein.«45 In Landshuts Forschung und Vermittlung standen immer wieder akribische Untersuchungen zu zentralen politischen Begriffen im Vordergrund, die seiner Meinung nach im alltäglichen Sprachgebrauch – häufig aber auch in der Politikwissenschaft selbst – unreflektiert und ahistorisch verwendet wurden. In größeren Aufsätzen befasste er sich in den 1950er und 1960er Jahren ausführlich mit den Themen »Volkssouveränität und öffentliche Meinung« (1953),46 »Formen und Funktionen der parlamentarischen Opposition« (1955),47 »Wandlungen der parlamentarischen Demo-
44 | Siegfried Landshut, Politisches ABC, o.O. [erschienen im Kriegsgefangenenlager in Ägypten] 1947 [ein Exemplar befindet sich in der Universität Hamburg, Arbeitsstelle für Universitätsgeschichte]. 45 | Siegfried Landshut, Die Schwierigkeiten der Erziehung in der egalitären Massengesellschaft, in: ders. Werkausgabe (Fn. 11), Bd. 2, S. 736-744, 744. 46 | Siegfried Landshut, Volkssouveränität und öffentliche Meinung, in: ebd., Bd. 1, S. 409-420. 47 | Siegfried Landshut, Formen und Funktionen der parlamentarischen Opposition, in: ebd., S. 458-471.
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kratie« (1959)48 und »Der politische Begriff der Repräsentation« (1964).49 Landshut wies auf die fundamentalen Probleme hin, die das formal fast in der gesamten Welt geltende Prinzip der Volkssouveränität mit sich bringe, die Frage nämlich, wie überhaupt der alles entscheidende »Wille des Volkes« zu ermitteln sei. Er machte auf Widersprüche auch des Bonner Grundgesetzes aufmerksam, etwa wenn er die prinzipielle Unvereinbarkeit einer repräsentativen Versammlung, die selbstständige Entscheidungen treffe, mit dem Grundsatz der Volkssouveränität betonte. Und beim Vergleich des Grundgesetzes mit der Weimarer Verfassung akzentuierte Landshut nicht, dass man aus der Erfahrung gelernt und die richtigen Schlüsse gezogen habe, sondern er wies darauf hin, dass nun der Einfluss des Souveräns zurückgedrängt worden sei zugunsten von Parteien, denen ungeheure Verantwortung zukomme, worin wiederum eine neue Gefahrenquelle bestehe. Eine parteipolitische Heimat fand Landshut offenbar nicht. Zeitweise stand er der SPD nahe, der er im Jahre 1930 – damals für einen Hochschullehrer ganz ungewöhnlich – für einige Monate angehört hatte. In SPD-Nähe bewegte er sich Anfang der 1930er Jahre auch weiterhin: als Assistent Eduard Heimanns, als Volkshochschuldozent, als Marx-Forscher. Für die Bundesrepublik weisen dann etwa seine Lehrtätigkeit an der Akademie für Gemeinwirtschaft und seine Vorträge im Rahmen gewerkschaftlicher Veranstaltungen auf eine gewisse Nähe zur Sozialdemokratie hin. Bei einem Seminar der Friedrich-Ebert-Stiftung hielt Landshut im Februar 1966 das einleitende Referat über »Die Bedeutung der politischen Parteien und des Parlaments für eine freiheitliche Demokratie«.50 Doch parteipolitisch eindeutig verorten lässt Landshut sich 48 | Siegfried Landshut, Wandlungen der parlamentarischen Demokratie, in: ebd., S. 438-457. 49 | Siegfried Landshut, Der politische Begriff der Repräsentation, in: ebd., S. 421-437. 50 | Siegfried Landshut, Die Bedeutung der politischen Parteien und des Parlaments für eine freiheitliche Demokratie, in: Beiträge zur politischen Bildung [hg. von der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn], 2 (1966) H. 1, S. 8-11 [Abdruck eines am 24. Februar 1966 in der Heimvolkshochschule Bergneustadt gehaltenen Vortrags]; vgl. auch ders., Aufgabe und Stellung der politischen Parteien in der parlamentarischen Demokratie, in: Politisch Bilden – Politisch Handeln. Konzepte der politischen Bildung im Selbstverständnis der Parteien und der Bildungsstätten.
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nicht. Überhaupt verweigert sich sein politisches Denken, auch retrospektiv, gängigen Zuordnungen von »fortschrittlich« bis »konservativ«, von »links« bis »rechts«. Siegfried Landshut ging es darum, die politische Gegenwart vor dem breitesten historischen Hintergrund zu verstehen, dabei immer wieder alltäglich verwendete Begriffe auf ihren ursprünglichen Gehalt hin zu untersuchen und auch die freiheitliche Demokratie nicht als selbstverständlichen Schlusspunkt einer notwendigen Entwicklung hinzustellen, sondern auf deren Problematik und permanente Gefährdung zu verweisen, stets prinzipiell insistierend, bisweilen unbequem, vermeintlich unmodern, doch durchweg substanziell. In der Bundesrepublik war Landshut ein schließlich respektierter Außenseiter der Zunft,51 vor allem aber ein konstruktiver Kritiker und Anreger, wie er für die politische Kultur eines demokratischen Gemeinwesens unverzichtbar ist. Der Einfluss von Remigranten auf die Etablierung und Entwicklung der Politikwissenschaft in der Bundesrepublik lässt sich am Beispiel Siegfried Landshuts dezidiert bestätigen; allerdings ist er kein Beispiel dafür, dass mit den Rückkehrern auch Ideen, Theorien und Methoden aus den wissenschaftlichen Kontexten des Exillandes ins Nachkriegsdeutschland transferiert wurden. Das Exil bedeutete für Landshut eine dramatische biographische Zäsur, nicht jedoch einen Wandel seines politischen Denkens. Was er nach der Remigration zum Wesen des Politischen, zur Analyse der modernen Gesellschaft und zur Grundproblematik von Demokratien schrieb und wie er dieses in Hamburg lehrte, erscheint als geradezu direkte Anknüpfung an seine früheren wissenschaftlichen Arbeiten, die 1933 weitgehend unterbrochen worden waren. Insofern steht der Remigrant Siegfried Landshut nicht für den ansonsten oft betonten – vor allem transatlantischen – Wissenschaftstransfer, sondern ausdrücklich für die Wiederbelebung wissenschaftlicher Ansätze, Konzepte und Pläne aus der Weimarer Republik.
Bericht über die Jahrestagung des Arbeitskreises deutscher Bildungsstätten e.V., Bonn, vom 26. bis 29. Mai 1965 in Berlin, o.O. o.J., S. 9-31. 51 | Vgl. etwa die besonders würdigende Charakterisierung von Dolf Sternberger, Siegfried Landshut sechzig jährig, in: Zeitschrift für Politik N.F. 4 (1957), S. 201.
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I. W arum ich nicht nach D eutschl and zurückgehe »Nun muß es mich ja freuen, daß Deutschland mich wieder haben will – nicht nur meine Bücher, sondern mich selbst als Mensch und Person. Aber etwas Beunruhigendes, Bedrückendes haben diese Appelle doch auch für mich, und etwas Unlogisches, sogar Ungerechtes, nicht Wohlüberlegtes spricht mich daraus an. […] Sind diese zwölf Jahre und ihre Ergebnisse denn von der Tafel zu wischen und kann man tun, als seien sie nicht gewesen? Schwer genug, atembeklemmend genug war, Anno dreiunddreißig, der Schock des Verlustes der gewohnten Lebensbasis, von Haus und Land, Büchern, Andenken und Vermögen, begleitet von kläglichen Aktionen daheim, Ausbootungen, Absagen. […] Schwer genug war, was dann folgte, das Wanderleben von Land zu Land, die Paßsorgen, das Hoteldasein, während die Ohren klangen von den Schandgeschichten, die täglich aus dem verlorenen, verwilderten, wildfremd gewordenen Lande herüberdrangen. […] Ich vergesse nicht, dass Sie später viel Schlimmeres durchgemacht haben, dem ich entging; aber das haben Sie nicht gekannt: das Herzasthma des Exils, die Entwurzelung, die nervösen Schrecken der Heimatlosigkeit. […] Heute bin ich amerikanischer Bürger, und lange vor Deutschlands schrecklicher Niederlage habe ich öffentlich und privat erklärt, daß ich nicht die Absicht hätte, Amerika je wieder den Rücken zu kehren. […] Geradeheraus: ich sehe nicht, warum ich die Vorteile meines seltsamen Loses nicht genießen sollte, nachdem ich seine Nachteile bis zur Hefe gekostet. […] Daß alles kam, wie es gekommen ist, ist nicht meine Veranstaltung. […] Es ist ein Ergebnis des Charakters und Schicksals des deutschen Volkes – eines Volkes, merkwürdig genug, tragisch-inter-
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essant genug, daß man manches von ihm hinnimmt, sich manches von ihm gefallen läßt. Aber dann soll man die Resultate auch anerkennen und nicht das Ganze in ein banales ›Kehre zurück, alles ist vergeben!‹ ausgehen lassen wollen.« Diese Zitatversatzstücke entstammen einem am 28. September 1945 publizierten offenen Brief unter dem Titel »Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe«. Der Brief selbst erschien in der in New York verlegten Wochenzeitschrift »Auf bau. Reconstruction«, die gleichsam das Zentralorgan der aus Nazi-Deutschland in die USA emigrierten – namentlich jüdischen – Intellektuellen bildete.1 Die Zeilen führen, so scheint es, eindringlich und in sprachlicher Meisterschaft vor Augen, was Hans Kelsen (1881-1973) von deutscher Seite widerfahren war und wie er in den USA Zuflucht und neue Heimat gefunden hatte. Der jüdischstämmige Kelsen, eine der Galionsfiguren der Weimarer Staatsrechtslehre mit schon damals großer, über die juridischen Fach- wie deutschen Sprachgrenzen hinausweisender Bekanntheit und Strahlkraft,2 war buchstäblich unter den Ersten, die auf der Grundlage des euphemistisch »zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« genannten NS-Gesetzes vom 7. April 1933 mit sofortiger Wirkung von ihrem Amt als Hochschullehrer – im Falle Kelsens: der Universität zu Köln – be-
1 | Dazu näher Elke-Vera Kotowski (Hg.), Aufbau: Sprachrohr. Heimat. Mythos. Geschichte(n) einer deutsch-jüdischen Zeitung aus New York 1934 bis heute, Berlin 2011. 2 | Vgl. auch Raphael Gross, Hans Kelsen: Rückkehr unerwünscht, in: Monika Boll/Raphael Gross (Hg.), »Ich staune, dass Sie in dieser Luft atmen können«. Jüdische Intellektuelle in Deutschland nach 1945, Frankfurt a.M. 2013, S. 299-316. – Um nur Weniges in Erinnerung zu rufen: 1926 und 1932 hielt Kelsen, der bereits zu seinen Wiener Zeiten eine große Anzahl ausländischer (u.a. italienischer, französischer, spanischer, dänischer, guatemaltekischer, japanischer) Schüler besaß, die äußerst prestigeträchtigen (Völkerrechts-)Vorlesungen an der Académie de droit international im Haag; 1927 avancierte er zum »membre de la direction« des Institut international de droit public, Paris; anno 1936 erhielt er sowohl von der Rijksuniversiteit Utrecht als auch von der Harvard University den Ehrendoktor verliehen; die Erstauflage der »Reinen Rechtslehre« (dt. 1934) erschien vollständig oder teilweise im Jahre 1933 auf Italienisch, Spanisch, Schwedisch, Tschechisch und 1934 auf Englisch, Französisch und Polnisch.
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urlaubt wurden.3 In Kelsens »Reiner Rechtslehre« sah etwa Karl Larenz (1903-1993) einen »auf die Spitze getriebenen juristischen Nominalismus [am Werke], der jede sittlich-geistige Substanz des Rechts und des Staates leugnet und mit seinem rücksichtslosen Formalismus alle tieferen Bindungen des Einzelnen an überpersönliche Werte zerstört, die Gemeinschaft auflöst«;4 Carl Hermann Ule (1907-1999) assistierte mit der offen antisemitischen Charakterisierung der Reinen Rechtslehre als »Ausgeburt eines fremdrassigen, wurzellosen Intellektualismus«.5 Nach einem kurzen, nur wenige Monate dauernden Aufenthalt in seiner Heimatstadt Wien, in der ihm keine berufliche Perspektive eröffnet ward, einem, soweit das möglich ist: gastlichen Zwischen-Exil in Genf – immerhin von Ende 1933 bis Mai 1940 – und einem wegen der nazistischen Ausfälle sehr schnell beendeten Intermezzo in seiner Geburtsstadt Prag in den Jahren 1936 bis 1938 hatte sich Kelsen nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs entschlossen, die aus seiner Sicht überfallgefährdete Schweiz zu verlassen und mit seiner Familie in die Vereinigten Staaten zu gehen. Nach mehreren kurzen, zumindest nicht zukunftsträchtigen Engagements an der Ostküste6 wechselte er schließlich im Jahre 1942 nach Berkeley. Im Sommer des Jahres 1945 erhielt Kelsen sowohl die US-amerikanische Staatsbürgerschaft als auch die Stellung als Full Professor am Political Science Department der Universität Berkeley verliehen. Ihm hätte man daher abnehmen können, dass er ein »Schwamm drüber« aus der alten 3 | Der Kelsen betreffende Bescheid trägt das Datum des 13. April 1933 (Gründonnerstag). Von der ersten Suspendierungswelle betroffen waren neben Kelsen etwa auch Hermann Heller (1891-1933), Hermann Ullrich Kantorowicz (18771940), Hugo Sinzheimer (1875-1945), Max Horkheimer (1895-1973) und Karl Mannheim (1893-1947). Dazu Oliver Lepsius, Hans Kelsen und der Nationalsozialismus, in: Robert Walter/Werner Ogris/Thomas Olechowski (Hg.), Hans Kelsen: Leben – Werk – Wirksamkeit, Wien 2009, S. 271-287. 4 | Karl Larenz, Rechts‑ und Staatsphilosophie der Gegenwart, 2. Aufl., Berlin 1935, S. 49f. (diese Passage hatte in der 1. Aufl., Berlin 1931, noch gefehlt). 5 | Carl Hermann Ule, Herrschaft und Führung im nationalsozialistischen Reich, in: Verwaltungsarchiv 45 (1940), S. 193-260, 201. 6 | Dazu näher Johannes Feichtinger, Transatlantische Vernetzungen. Der Weg Hans Kelsens und seines Kreises in die Emigration, in: Robert Walter/Werner Ogris/Thomas Olechowski (Hg.), Hans Kelsen: Leben – Werk – Wirksamkeit, Wien 2009, S. 321-338, 327ff.
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Heimat nicht gelten lassen wollte und eine Rückkehr ablehnte. Doch die Zitate stammen, so sehr sie mit dem »Juristen des Jahrhunderts«7 und dessen Schicksal in der »Tausendjährigen« Zeit in Verbindung gebracht werden könnten, nicht aus Kelsens Feder. Kelsen hat sich niemals in derartiger, schuldzuweisender Weise über Deutschland oder auch sein Geburtsland Österreich geäußert. Der große Gestus war ihm für seine eigene Person fremd. Wessen Stimme uns darüber aufgeklärt hat, warum eine Remigration ins Nachkriegsdeutschland nicht in Betracht komme, ist niemand Geringeres als Thomas Mann (1875-1955), der in seinem – in des Wortes mehrfacher Bedeutung: – offenen Brief auf die an die deutschen Exilschriftsteller gerichtete Aufforderung des vormaligen Vorsitzenden der Sektion Dichtung innerhalb der Preußischen Akademie der Künste, Walter von Molo (1880-1958), antwortete.8 Kelsen war nicht der Mann theatralischer, der eigenen, nobelpreisgekrönten Bedeutung nur allzu bewussten Selbsteinschätzung. Die Rolle als öffentliches Gewissen in eigener Sache lag ihm nicht. Er war aber, um einen zweiten Vergleich zu bemühen, auch nicht der Mann narzisstischer Selbstviktimisierung, wie er uns in Carl Schmitts (1888-1985) »Ex captivitate salus«9 entgegentritt; ein trotziges »Ex exilo salus«-Traktat mit einer »Nie wieder Deutschland«-Pointe hätte weder zur Denke noch zur Schreibe Kelsens gepasst. Was aber bewog Kelsen dann, nicht wieder nach Deutschland oder, was ja wohl näher gelegen hätte, nach Österreich zurückzukehren? Weil ich Ihnen darauf keine einfache Antwort geben will und kann, versuche ich es mit einer mehrfachen Antwort, die unterschiedliche Aspekte des mutmaßlichen Motivbündels für Kelsens Nichtremigration fokussiert. 7 | Vgl. Norbert Leser, Hans Kelsen (1881-1973), in: Neue Österreichische Biographie, Bd. 20, Wien 1979, S. 29-39, 29. Ähnlich bereits zuvor Roscoe Pound, Law and the Science of Law in Recent Theories, Yale Law Journal XLIII (1933/34) 525-536, 532: »unquestionably the leading jurist of the time«. 8 | Thomas Mann, Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe, in: Aufbau, Bd. XI, Nr. 39 vom 28. September 1945, S. 5f. (hier zitiert nach: Neue Schweizer Rundschau, Oktober 1945, Heft Nr. 6, S. 358– 365; die Zitate entstammen den S. 358, 359, 360 und 361). Näher zu den Umständen: Rolf-Bernhard Essig, Der offene Brief: Geschichte und Funktion einer publizistischen Form von Isokrates bis Günter Grass, Würzburg 2000, S. 260ff. 9 | Carl Schmitt, Ex Captivitate Salus. Erfahrungen der Zeit 1945/47, Berlin 1950.
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Drei davon gelten unmittelbar der Nichtremigration (II.–IV.), zwei letzte Aspekte (V.–VI.) weisen indes darüber hinaus.
II. D er H öllen -G ehilfe des H ieronymus B osch Jenseits der Gründe, die Thomas Mann in seinem Offenen Brief anspricht und die für das Gros der Intellektuellen, die aus Nazi-Deutschland in die Emigration gedrängt worden waren, in der einen oder anderen Weise gegolten haben dürften, gab es für Kelsen spezifische Gründe, sich in Deutschland – mit gewissen Vorbehalten gilt dies auch für Österreich – in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht gebraucht oder gar nicht willkommen, sich in der deutsch(sprachig)en Rechtswissenschaft der späten Vierziger und Fünfziger Jahre deplatziert und unerwünscht zu fühlen: hors du discours. Seine eigenwillige juridische Weltanschauung, sein erkenntniskritischer normativistischer Rechtspositivismus,10 der bereits im Weimarer Richtungs- und Methodenstreit die Phalanx der Antipositivisten auf den Plan gerufen hatte,11 galt unmittelbar nach dem militärischen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und moralischen Zusammenbruch des 10 | Zu einer kompakten Kennzeichnung von Hans Kelsens juridischer Weltanschauung: Matthias Jestaedt, Hans Kelsens Reine Rechtslehre. Eine Einführung, in: Hans Kelsen, Reine Rechtslehre. Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik, Studienausgabe der 1. Aufl. 1934, hg. von Matthias Jestaedt, Tübingen 2008, S. XI–LXVI, XXVff. und XXXff. 11 | Eingehend dazu Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. III: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur 1914-1945, München 1999, S. 153ff. (zu Kelsen: 163ff., zu den »Antipositivisten« S. 171ff., darunter zu Smend S. 174f., zu Schmitt S. 178ff. und zu Heller S. 183ff.); die Rolle Kelsens besonders fokussierend Martin Schulte, Hans Kelsens Beitrag zum Methodenstreit der Weimarer Staatsrechtslehre, in: Stanley L. Paulson/Michael Stolleis (Hg.), Hans Kelsen. Staatsrechtslehrer und Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts, Tübingen 2005, S. 248ff. – »Kelsens Kritiker« entstammten freilich nicht nur diesem Lager; dazu monographisch Axel-Johannes Korb, Kelsens Kritiker. Ein Beitrag zur Geschichte der Rechts- und Staatstheorie (1911-1934), Tübingen 2010: neben Smend, Schmitt und Heller behandelt Korb auch Erich Kaufmann (1880-1972) sowie Kelsens Wiener Fakultätskollegen Ernst
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NS-Regimes als Anathema, als diskreditiert.12 Waren es denn nicht gerade der Positivismus und der Relativismus in ihren unterschiedlichen Spielarten gewesen, die ihr zersetzendes Gift in der Weimarer Republik freigesetzt hatten? Der hochangesehene vormalige Reichsjustizminister Gustav Radbruch (1878-1949), der 1946 dem Rechtsstaat in Kinderschuhen mit seiner berühmten Radbruchschen These vom »gesetzlichen Unrecht«13 einen (wie erst später immer deutlicher wurde: nur scheinbaren14) Ausweg aus dem Dilemma eines rassistisch verseuchten Rechtserbes wies, sprach mit der Autorität des altersweisen Rechtsphilosophen das Verdikt über den Rechtspositivismus, weil dieser mit der Formel »Gesetz ist Gesetz« den deutschen Juristenstand wehrlos gegenüber dem Nationalsozialismus gemacht habe.15 Der glänzendste und prominenteste Vertreter dieses »NS-promovierenden« Rechtspositivismus aber war niemand Geringeres als Kelsen; das Groteske und Ungeheuerliche dieser These und ihrer Wirkmacht im Rechtsdenken der Nachkriegszeit lassen
Schwind (1865-1932), Alexander Hold-Ferneck (1875-1955) und Fritz Sander (1889-1939). 12 | Dazu Lena Foljanty, Recht oder Gesetz. Juristische Identität und Autorität in den Naturrechtsdebatten der Nachkriegszeit, Tübingen 2013, S. 19ff. 13 | Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, in: SJZ 1946, S. 105-108 (= Gustav Radbruch Gesamtausgabe, Bd. 3: Rechtsphilosophie III, hrsgg. von Winfried Hassemer, Heidelberg 1990, S. 83-93). 14 | Dazu Horst Dreier, Die Radbruchsche Formel – Erkenntnis oder Bekenntnis?, in: Festschrift für Robert Walter, Wien 1991, S. 117-135. 15 | Radbruch, Gesetzliches Unrecht (Fn. 13), S. 107: »Der Positivismus hat in der Tat mit seiner Überzeugung ›Gesetz ist Gesetz‹ den deutschen Juristenstand wehrlos gemacht gegen Gesetze ›willkürlichen und verbrecherischen Inhalts.‹« – Dazu, dass die sog. Wehrlosigkeitsthese keineswegs exklusiv oder erstmalig von Radbruch vertreten wurde, sowie zu den in der Nachkriegszeit virulenten »Imaginationen« eines Weges vom Positivismus zum Nationalsozialismus: Foljanty, Recht (Fn. 12), S. 19ff., bes. 25ff., 27ff., und 29ff., 51ff., die treffend vom »›Strohmann‹- Positivismus« (S. 35f.) spricht. Vgl. ergänzend Oliver Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung. Methodenentwicklungen in der Weimarer Republik und ihr Verhältnis zur Ideologisierung der Rechtswissenschaft unter dem Nationalsozialismus, München 1994; Fabian Wittreck, Nationalsozialistische Rechtslehre und Naturrecht, Affinität und Aversion, Tübingen 2008.
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sich wohl nur mit Rücksicht auf die nur allzumenschlichen Sündenbockund Selbstrechtfertigungsbedürfnisse der Zeit erklären.16 Und als hätte es noch eines weiteren Beweises für den »auf die Spitze getriebenen Nominalismus« und den »wurzellosen Intellektualismus« Kelsens bedurft, lieferte dieser ihn selbst mit seinen Beiträgen im »American Journal of International Law«, in welchen er die sogenannte Debellatio-These entfaltete:17 die These also, dass das Deutsche Reich infolge vollständiger Besetzung und Besatzung durch die Alliierten als Staat aufgehört habe zu existieren. Indem Kelsen der von allen relevanten politischen Parteiungen vertretenen Fortbestandsthese juristisch den Boden entzog, vergriff, ja versündigte er sich an einem der Basisideologeme des aus den Trümmern sich erhebenden, guten Deutschland. Carl Schmitts Notiz aus dem Jahre 1948 mag in ihrer maliziösen Intellektualität und denunziatorischen Diktion gewiss nicht jedermanns Geschmack getroffen, in der Tendenz dürfte sie die in der Heimat vorherrschende Entrüstung über Kelsens Deutschland-These aber angemessen widergespiegelt haben: »Kelsen’s Ressentiment, um zu beweisen, daß Deutschland ein völkerrechtliches Nichts, aber wirklich nichts als Nichts ist, und daß nur durch die Alliierten ex nihilio ein völlig anderes Deutschland geschaffen werden könnte, das nichts, aber auch nichts mit dem früheren zu tun hat — der Anblick dieses eifrigen Veranstalters von juristischen Vernichtungsmitteln erinnert mich an die kleinen Gehilfen in den Höllen des Hieronymus Bosch. Da wir aber noch ganz andere Vernichter, Ausrotter,
16 | Vgl. Foljanty, Recht (Fn. 12), S. 37ff. 17 | Vgl. Hans Kelsen, The International Legal Status of Germany to be Established Immediately upon Termination of the War, in: The American Journal of International Law 38 (1944), S. 689-694; ders., The Legal Status of Germany according to the Declaration of Berlin, in: The American Journal of International Law 39 (1945), S. 518-526. Dazu: Thomas Olechowski, Kelsens Debellatio-These. Rechtshistorische und rechtstheoretische Überlegungen zur Kontinuität von Staaten, in: Clemens Jabloner/Dieter Kolonovits/Gabriele Kucsko-Stadlmayer/ Hans René Laurer/Heinz Mayer/Rudolf Thienel (Hg.), Gedenkschrift Robert Walter, Wien 2013, S. 531-552.
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Ausradierer und Zertreter erlebt und überlebt haben, wollen wir ihn sich selbst überlassen.«18
Hier war wirklich alles auf den Kopf gestellt. So mutierte Kelsen, der zu den ganz wenigen der Weimarer Staatsrechtslehrer zählte, die sich politisch offensiv zur liberal-parteienstaatlichen Demokratie bekannten,19 der mit seiner pluralistischen, den Kompromiss ins Zentrum rückenden Demokratietheorie20 sowie seinem demokratieverträglichen Konzept von Verfassungsgerichtsbarkeit 21 bereits zu Weimarer Zeiten richtungweisende Vorarbeiten für eine moderne verfassungsstaatliche Demokratie geleistet hatte und der für sein Eintreten zugunsten des – wie es im NSSchrifttum hieß – »liberal-demokratischen Systems«22 und des »Partei-
18 | Carl Schmitt, Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947-1951, hrsgg. von Eberhard Frhr. von Medem, Berlin 1991, S. 162 (Eintrag vom 11. Juni 1948). Und Schmitt fährt a.a.O. fort: »Im 17. Jahrhundert hat Spinoza dem Vernichtungskampf der Spinnen und Fliegen mit großem Genuß zugesehen; das war seine einzige Erholung von seinem Denken. Sie als großer Ento[mo]loge werden heute ebenfalls geneigt sein, das kleine Schauspiel zu genießen. Mich macht es tief melancholisch, und ich sehe lieber weg.« – Mit ähnlicher Stoßrichtung, wenngleich ohne antisemitische Invektive, äußerte sich, wie Ernst Fraenkel (1898-1975) berichtete, Gustav Radbruch über Kelsens kompromisslose Denkungsart: »Wo der denkt, wächst kein Gras mehr« (zitiert nach Simone Ladwig-Winters, Ernst Fraenkel. Ein politisches Leben, Frankfurt a.M. 2009, S. 197). 19 | Besonders eindringlich unmittelbar vor der »Machtergreifung« der NSDAP: Hans Kelsen, Verteidigung der Demokratie, in: Blätter der Staatspartei 2 (1932), S. 90-98. 20 | Klassikerstatus besitzt: Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl., Tübingen 1929. Kelsens bedeutsamste demokratietheoretische Schriften sind zusammengestellt in: Hans Kelsen, Verteidigung der Demokratie. Abhandlungen zur Demokratietheorie, hg. von Matthias Jestaedt und Oliver Lepsius, Tübingen 2006. 21 | Vgl. namentlich Hans Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, in: VVDStRL 5 (1929), S. 30-88; ders., Wer soll der Hüter der Verfassung sein?, in: Die Justiz 6 (1931), S. 576-628. 22 | Richtungweisend Carl Schmitt, Staat, Bewegung, Volk. Die Dreigliederung der politischen Einheit, Hamburg 1933, passim.
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enbundesstaates«23 mit dem Verlust der Heimat bezahlen musste, groteskerweise zum Paria der Staatsrechtslehre in den Gründerjahren der Bundesrepublik.24 Bis in die Siebziger Jahre hinein orientierte und organisierte sich die deutsche Staatsrechtslehre an den und um die beiden anderen Überlebenden des Weimarer Quartetts, die Antipositivisten Rudolf Smend (1882-1975) und Carl Schmitt.25 Dass die von den Nationalsozialisten ins Werk gesetzte Vertreibung Kelsens aus Deutschland in fachlicher Sicht weit über das Jahr 1945 hinaus ihre Wirkung entfalten sollte, gehört zu den beschämenden Erkenntnissen der Nachkriegsgeschichte der deutschen Rechtswissenschaft. Wie hätte Kelsen angesichts dessen ernsthaft erwägen sollen, nach Deutschland zu remigrieren?
III. E in österreichisches S chicksal Kelsens Emigrationsgeschichte (und Nicht-Remigrationsgeschichte) nur aus deutscher Sicht zu betrachten, ist freilich, gelinde gesagt, stark verkürzend. Kelsen ist nach Herkunft, Idiom und Wesen vor allem anderen eines, nämlich Wiener. Er ist dort aufgewachsen, zur Schule und zur Universität gegangen, akademisch groß und berühmt geworden, hat dort seine, die »Wiener« oder auch »Jungösterreichische Schule der Rechtstheorie« aufgebaut, war dort Kanzlerberater, Verfassungsrichter,26 Haupt einer der zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Wissenschaftliche Moderne ganz 23 | Repräsentativ Ernst Rudolf Huber, Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches, 2. Aufl., Hamburg 1939, S. 20, 23, 78, 318ff., 324 (einen von Karl Bilfinger, Exekution, Diktatur und Föderalismus, in: DJZ 37 [1932], Sp. 1017-1021, 1018 geprägten Begriff aufnehmend). 24 | Vgl. Frieder Günter, »Jemand, der sich schon vor fünfzig Jahren selbst überholt hatte«. Die Nicht-Rezeption Hans Kelsens in der bundesdeutschen Staatsrechtslehre der 1950er und 1960er Jahre, in: Matthias Jestaedt (Hg.), Hans Kelsen und die deutsche Staatsrechtslehre. Stationen eines wechselvollen Verhältnisses, Tübingen 2013, S. 67-83. 25 | Einfühlsam und quellengesättigt analysiert bei Frieder Günter, Denken vom Staat her: Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949-1970, München 2004. 26 | Dazu eingehend Robert Walter, Hans Kelsen als Verfassungsrichter, Wien 2005.
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wesentlich mitprägenden Wiener Schulen, public intellectual. Der »Wiener Professor« oder auch »el gran maestro de Viena« wurde und wird er genannt27 – und das, obwohl er 1930, sprich: mehr als vierzig Jahre vor seinem Ableben seiner Heimatstadt Wien den Rücken kehren musste. Im Jahre 1968 wurde in Österreich eine mehr als zweitausendseitige Anthologie der Werke Kelsens, Merkls und Verdroß’ ganz selbstverständlich unter dem Titel »Die Wiener rechtstheoretische Schule« veranstaltet,28 wenngleich daran zu erinnern ist, dass nicht nur die in Berkeley verfasste Zweitauflage der »Reinen Rechtslehre« aus dem Jahre 1960, sondern bereits die 1934 erschienene Erstauflage streng genommen Exilliteratur ist.29 Hinter der ersten, sozusagen deutschen Geschichte von Kelsens NichtRemigration tut sich also eine zweite, eine österreichische Emigrationsund Nicht-Remigrations-Geschichte auf, die ich hier nur grob skizzieren kann, die hier aber zur Rundung des Bildes nicht fehlen darf. Diese ältere Schicht von Emigration und Nicht-Remigration Kelsens ist namentlich durch zweierlei geprägt: Zum einen durch den – sagen wir es einmal völlig neutral: – »Abschied« Kelsens von Wien im Jahre 1930, zum anderen durch die Zerschlagung oder auch Auflösung seines Wiener Schülerkreises in den Jahren 1933 bis 1939. Kelsen nahm 1930 den Ruf an die Universität zu Köln an, die sich bereits ein halbes Jahrzehnt zuvor ergebnislos um ihn bemüht hatte.30 Er tat dies, enttäuscht und verbittert, in Sorge um seine Familie und ohne hinreichende Perspektive in Österreich, nachdem ihm von politisch konservativer Seite – und unter massiver Beteiligung der konservativen Presse – seine Haltung als Berichterstatter des Verfassungsgerichtshofs in den Verfahren um die sogenannten Dispens- oder auch Sever-Ehen vorgeworfen und nicht zuletzt deswegen in der großen 27 | Vgl. nur Josef L. Kunz, Was ist die Reine Rechtslehre?, in: ÖZöR 1 (1948), S. 271-290, 290. 28 | Hans R. Klecatsky/René Marcic/Herbert Schambeck (Hg.), Die Wiener rechtstheoretische Schule. Schriften von Hans Kelsen, Adolf Merkl, Alfred Verdross, 2 Bde., Wien u.a. 1968 (2. Aufl., Wien 2010). 29 | Hans Kelsen, Reine Rechtslehre. Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik, 1. Aufl., Wien 1934; ders., Reine Rechtslehre. Mit einem Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit, 2. Aufl., Wien 1960. Wiewohl nicht unwesentliche Teile der Erstauflage noch zu Kölner Zeiten verfasst sein dürften, ist die Abfassung des Vorworts mit »Genf, im Mai 1934« datiert und lokalisiert. 30 | Dazu Lepsius, Nationalsozialismus (Fn. 3), S. 275ff.
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Verfassungsreform von 1929 der Bestellungsmodus für die Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs absichtsvoll umgestaltet worden war – euphemistisch als »Entpolitisierung des VfGH« bezeichnet.31 Aus dem Zentrum des Diskurses und der Macht in der zunächst sozialdemokratisch bestimmten Ersten Republik sah sich Kelsen an den Rand gedrängt. In dieser Situation kamen die Kölner, vom Vorsitzenden des Universitätskuratoriums, Oberbürgermeister Konrad Adenauer (1876-1967), unterstützten Avancen wie gerufen. Kelsen konnte im Jahre 1930 noch nicht ahnen, dass er mit diesem persönlichen »Befreiungs«-Schritt ins Deutsche Reich den Teufel mit Beelzebub austrieb. Mit Kelsens Weggang, der in der Sache nichts anderes war als eine – erste – Emigration,32 erodierte der rund 30 Personen umfassende, äußerst kreative und produktive Kreis wissenschaftlicher Parteigänger der Reinen Rechtslehre, hörte die »Jungösterreichische Schule« als Forscherformation und innere Diskursgemeinschaft auf zu bestehen, verlor der Wissenschaftsmagnet Wien für ausländische Rechtstheoretiker von jetzt auf gleich seine Anziehungskraft. Das lag keineswegs nur daran, dass der Bewegung das Haupt und die Mitte abhandengekommen waren. Vielmehr waren es auch und gerade die Veränderungen im geistig-politischen Klima Österreichs, die im Wesentlichen in zwei Phasen dazu führten, dass sämtliche, ganz überwiegend jüdischstämmige Mitglieder der »Wiener Schule der Rechtstheorie« bis auf die beiden ältesten, bemerkenswerter Weise nichtjüdischen Schüler Kelsens – Adolf Julius Merkl (1890-1970), der freilich nach dem Anschluss kaltgestellt wurde,33 und Alfred Verdroß (1890-1980), der sich mit den neuen Verhältnissen zunächst zu arrangieren versuchte und darü-
31 | Näher erläutert bei Christian Neschwara, Hans Kelsen und das Problem der Dispensehen, in: Robert Walter/Werner Ogris/Thomas Olechowski (Hg.), Hans Kelsen: Leben – Werk – Wirksamkeit, Wien 2009, S. 249-267, 251ff. und 255ff. 32 | Ebenso bereits Robert Walter, Hans Kelsens Emigration aus Österreich, in: Friedrich Stadler (Hg.), Vertriebene Vernunft II. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft, Wien und München 1988, S. 463-472. 33 | Zu Merkl in der Zeit vom »Anschluss« bis zu seiner Rückkehr nach Wien im Jahre 1950: Wolf-Dietrich Grussmann, Adolf Julius Merkl. Leben und Werk, Wien 1989, S. 39ff., 41f.
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ber mit Kelsen brach34 – das Land verließen:35 Die erste Phase begann mit der Hinwendung zum autoritären Regime 1934, die zweite, drastischere mit dem sogenannten »Anschluss« der »Ostmark« an das Reich im März 1938. »Anschluss«-bedingt kehrte allein 1938 mehr als ein Dutzend junger jüdischstämmiger Rechtswissenschaftlerinnen und Rechtswissenschaftler Österreich dauerhaft den Rücken und suchte Exil überwiegend in den USA oder aber in Großbritannien, unter ihnen Felix Kaufmann (1895-1949), Fritz Schreier (1897-1981), Eric Voegelin (1901-1985).36 Der Schaden erwies sich in wissenschaftlicher Hinsicht als irreparabel: Die in Deutschland heute noch verbreitete Fehlvorstellung, österreichische Rechtswissenschaftler seien geborene oder doch sozialisierte Kelsenianer und Österreich das Paradies für normativistische Rechtspositivisten, galt im Nachkriegsösterreich bis hinein in die Sechziger Jahre weniger als jemals zuvor und auch weniger als jemals später.37 Die Zeitläufte hatten die »Jungösterreichische Schule« unwiederbringlich in alle Winde zerstreut und ihr das sozio-kulturelle Habitat entzogen.38 Auch die österreichische Rechtswissenschaft rekrutierte sich aus den Trümmern 34 | Dazu Jürgen Busch, Alfred Verdross – ein Mann des Widerspruchs? Teil 1: Verdross im Gefüge der Wiener Völkerrechtswissenschaft vor und nach 1938, in: Franz Stefan Meissel/Thomas Olechowski/Ilse Reiter-Zatloukal/Stefan Schima (Hg.), Vertriebenes Recht – Vertreibendes Recht. Zur Geschichte der Wiener Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät zwischen 1938 und 1945, Wien 2012, S. 139-169, bes. 163. 35 | Näher dazu Matthias Jestaedt, »Kelsens Zeitschrift«. Die Reine Rechtslehre im Spiegel der Zeitschrift für öffentliches Recht, in: ZöR 69 (2014), S. 655-683, 670ff., bes. 674-679. 36 | Zu den dreien vgl. Hans Kristoferitsch/Andreas Orator, Felix Kaufmann, in: Robert Walter/Clemens Jabloner/Klaus Zeleny (Hg.), Der Kreis um Hans Kelsen. Die Anfangsjahre der Reinen Rechtslehre, Wien 2008, S. 153-174; Meinhard Lukas, Fritz Schreier, ebd., S. 471-485; Eckhart Arnold, Eric Voegelin, ebd., S. 513-552. 37 | Dazu Ewald Wiederin, Die Neue Wiener Schule und die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, in: Matthias Jestaedt (Hg.), Hans Kelsen und die deutsche Staatsrechtslehre. Stationen eines wechselvollen Verhältnisses, Tübingen 2013, S. 85-97, 86ff. 38 | Dazu, anhand der einzelnen Biographien der Zugehörigen der »Jungösterreichischen Schule«: Robert Walter/Clemens Jabloner/Klaus Zeleny (Hg.), Der Kreis
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des NS-Regimes überwiegend aus den Dagebliebenen, die – nicht anders als in Deutschland – wenig Neigung hatten, einen grundstürzenden Neuauf bau unter maßgeblicher Einbeziehung der vormals »vertriebenen Vernunft«39 zu wagen, deren bloße Gegenwart ja doch, nolens volens, eine stumme Anklage erhoben hätte. Noch 1960 sah sich Robert Walter (19312010), der letzte Schüler des mittlerweile 70-jährigen Merkl, in seinem Habilitationsverfahren vor der Wiener Rechtsfakultät wegen seiner uneingeschränkten Parteinahme für die »Reine Rechtslehre« erheblichen Widerständen ausgesetzt; nicht wenige hatten gehofft, mit Merkl, der 1960 aus dem aktiven Dienst ausschied, die Episode »Reine Rechtslehre« an der Wiener Rechtsfakultät endgültig zu beenden.40 Diese wenigen Andeutungen mögen genügen, um zu plausibilisieren, dass – ebenso wie in Deutschland41 – in Österreich keinerlei ernsthafte Bemühungen unternommen wurden, den weltberühmten »Wiener Professor« aus dem Exil in die Heimat zu holen. Dies hätte, um überhaupt noch rechtzeitig zu kommen, mit Rücksicht auf Kelsens Alter – im Jahre 1945 vollendete er sein 64. Lebensjahr – auch unmittelbar nach der Kapitulation erfolgen müssen. Dass man ihn als den vormaligen Platzhirsch der Wiener Jurisprudenz nicht in den eigenen Reihen haben wollte, verhinderte aber auf der anderen Seite nicht, dass sich die Zweite Republik in Politik und Wissenschaft nach Kräften um ihren großen Sohn bemühte, ihn mit Ehrungen überhäufte und ernsthafte Aussöhnungsversuche zu verzeichnen waren. Bereits 1947 wurde Kelsen zum korrespondierenden Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften gewählt und zum Honorarprofessor seiner Alma mater Rudolphina Vindobonensis erhoben, anno 1953 ehrte ihn die Stadt Wien mit dem Dr.-Karl-Renner-Preis, zum 80. Geum Hans Kelsen. Die Anfangsjahre der Reinen Rechtslehre, Wien 2008; vgl. ergänzend Feichtinger, Transatlantische Vernetzungen (Fn. 6), S. 329ff. 39 | Vgl. Friedrich Stadler (Hg.), Vertriebene Vernunft. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft, Wien 1987 und 1988. 40 | Dazu Robert Walter, Autobiographie, in: Clemens Jabloner/Dieter Kolonovits/Gabriele Kucsko-Stadlmayer/Hans René Laurer/Heinz Mayer/Rudolf Thienel (Hg.), Gedenkschrift Robert Walter, Wien 2013, S. XXIII–XXXVI, XXVIII. 41 | Eine Ausnahme bildet die Universität zu Köln, an die Kelsen auf britische Initiative hin aufgefordert wurde, zurückzukehren, was dieser indes ablehnte; dazu m. Nachw.: Günther, Nicht-Rezeption (Fn. 24), S. 76 m. Fn. 28.
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burtstag 1961 folgte das staatswissenschaftliche Ehrendoktorat, 1965 erhielt er gemeinsam mit Heimito von Doderer (1896-1966) den Ehrenring der Stadt Wien, im Jahre 1967 folgten das Große Silberne Ehrenzeichen mit dem Stern für Verdienste um die Republik Österreich sowie das philosophische Ehrendoktorat der Paris-Lodron-Universität Salzburg, bevor die Bundesregierung 1971 aus Anlass des 90. Geburtstages von Kelsen in Gestalt einer Bundesstiftung das »Hans Kelsen-Institut« schuf, dem die Pflege und Verbreitung des Kelsenschen Werkes und Gedankengutes anvertraut ist.42 Im 3. Wiener Bezirk wurde 1981 die vormalige »Marx-Meidlinger-Straße« in »Kelsenstraße« umbenannt. Im Jahre 1984 schließlich enthüllte der damalige Wissenschaftsminister und nachmalige Bundespräsident Heinz Fischer (*1938) in den Arkaden der Universität Wien eine Büste Kelsens,43 deren Replik seit 2007 im sogenannten »Hans KelsenZimmer« im Leopoldinischen Trakt der Alten Hof burg, den Amtsräumen des österreichischen Bundespräsidenten, steht.44 42 | Das Hans Kelsen-Institut (HKI), welches Inhaber der Verwertungsrechte an den Schriften Kelsens ist, hält nicht nur die weltweit wohl umfassendste Bibliothek zur Hans Kelsen (sowie Adolf Julius Merkl und Alfred Verdroß) betreffenden Primär- und Sekundärliteratur vor, sondern ist auch im Besitze des umfangreichen, zwar vollständig erfassten, aber bislang nur zu Teilen ausgewerteten wissenschaftlichen Nachlasses von Kelsen. Die zur Pflege und Verbreitung der Lehre Kelsens unternommenen wissenschaftlichen Anstrengungen lassen sich gut an der Schriftenreihe des HKI ablesen, die 1974 begonnen wurde und mittlerweile 38 Bände umfasst (Verzeichnis der Bände: https://www.univie.ac.at/staats recht-kelsen/schriftenreihe.php [Abrufdatum 12.09.2017]). Näheres auf der Homepage des HKI: https://www.univie.ac.at/staatsrecht-kelsen/ (Abrufdatum 12.09.2017). 43 | Geschaffen wurde die Büste vom Bildhauer Ferdinand Welz (1915-2008). 44 | Auch in der Bundesrepublik Deutschland hat es nicht Ehrungen und an Wiedergutmachung gefehlt; um nur die drei wichtigsten Daten zu nennen: Im Jahre seines 80. Geburtstags – 1961 – verlieh ihm sowohl die FU Berlin die Ehrendoktorwürde als auch die Bundesrepublik das Große Verdienstkreuz mit Stern. Und ab dem 1. April 1953 erhielt Kelsen rückwirkend zum 1. April 1950 auf der Grundlage des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts für die im Ausland lebenden Angehörigen des öffentlichen Dienstes vom 18.03.1952, BGBl. I S. 137, die Ruhestandsbezüge als entpflichteter nordrheinwestfälischer Professor (er war ja 1936 als Kölner Ordinarius aus preußischen
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Sein früherer Assistent, Freund und Biograph Rudolf Aladár Métall (1903-1975) hat Kelsens Schicksal einmal als ein »typisch österreichisches« bezeichnet: ein – nicht einmal dort geborener – Wiener aus eher bescheidenen Verhältnissen, der, »ohne offizielle Förderung oder Unterstützung zu genießen«, »in Kunst oder Wissenschaft Bedeutendes geleistet, das ihm vor allem im Ausland Anerkennung, Ruhm und Ehren eingetragen hat«, der indes – deswegen? – »in Österreich angefeindet und angegeifert« wurde, aber trotz seines erzwungenen Exils »mit Österreich zutiefst verwurzelt« blieb und der »im Alter die Saat, die er in seiner Jugend gesät hat[te], in der Welt und schließlich sogar in Österreich aufgehen und blühen« sah. Typisch für das österreichische Schicksal sei es, »daß es, über den enggezogenen Rahmen des Provinzialismus und des deutschen Kulturkreises hinaus, eine weltweite Wirkung« hervorbringe: »Was die Wiener Schule heißt, sei es auf dem Gebiet der Nationalökonomie, dem der Philosophie, der Psychoanalyse, der Rechtstheorie, ist dann in Amerika und Japan ebenso, wenn nicht mehr beheimatet als in Wien.«45
IV. D es W andermüden le t z te R uhestät te Lässt man Kelsens Emigrationsgeschichte nicht mit Österreich beginnen und Deutschland enden, so wird eine weitere, dritte Dimension sichtbar: Kelsens Biographie liest sich wie eine Geschichte des Nicht-zur-Ruheund des Nicht-Ankommens, der fortgesetzten Emigration und Anpassung, man wäre fast geneigt, mit Joseph Roth von einer »Flucht ohne Ende« 46 zu sprechen: 1930 sieht sich Kelsen aus seiner Heimatstadt Wien Diensten unter Verlust seiner Ruhegehaltsberechtigung ausgeschieden); dieser Wiedergutmachungsakt war für das Ehepaar Kelsen umso wichtiger, als die in Berkeley erworbene Pension äußerst bescheiden war (dazu näher Thomas Olechowski, Hans Kelsen in Berkeley. »Des Wandermüden letzte Ruhestätte«, in: Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs [BRGÖ] 2016, S. 58-73, 68f.). 45 | Rudolf Aladár Métall, Staat als Recht, in: Philosophie huldigt dem Recht: Hans Kelsen, Adolf Merkl, Alfred Verdross Ehrendoktoren der Universität Salzburg, Salzburg 1968, S. 55-63, 55. 46 | Joseph Roth, Die Flucht ohne Ende. Ein Bericht (1927), in: Fritz Hackert (Hg.), Joseph Roth Werke 4: Romane und Erzählungen 1916-1929, Frankfurt a.M. 1994, S. 389-496.
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gedrängt, 1933 muss er vor den Nationalsozialisten aus Köln fliehen, 1938 verleiden ihm nationalsozialistische Studenten seinen Verbleib an der Deutschen Universität seiner Geburtsstadt Prag, 1940 verlässt er sein liebgewonnenes Genfer Refugium aus Sorge vor einem deutschen Überfall, 1942 kann sein Engagement in Harvard, Cambridge nicht verlängert werden, seine Anschlussverwendung in Berkeley ist auch nur zunächst die eines Lecturer auf Zeit. Auch sein Bekenntnis- wie Nationalitätenwechsel ist Teil der Heimat- und Zufluchtslosigkeit und des nur relativ, man könnte auch formulieren: des nur funktional Wichtigen: 1881 als Jude geboren, konvertiert er knapp 24-jährig – wie nicht wenige Wiener Juden, die sich ihre akademische Karriere nicht verbauen wollten47 – zum Katholizismus, in der Woche vor seiner Hochzeit im Jahre 1912 gemeinsam mit seiner jüdischen Braut zum Augsburger Bekenntnis, um schließlich in seinem Immigrationsantrag 1940 bei Konfession »Hebrew« anzugeben. Das Licht der Welt erblickt Kelsen im cisleithanischen Prag als Österreicher; mit seiner Berufung zum Kölner Ordinarius erhält er zusätzlich die preußische Staatsangehörigkeit und, über diese vermittelt, die Reichsangehörigkeit; der 1936 ergehende Prager Ruf hat nicht nur den Erwerb der tschechoslowakischen Staatsangehörigkeit zur Folge, sondern auch den Verlust der damit nicht kompatiblen österreichischen (preußischen und) deutschen. 1945 schließlich tauscht Kelsen die tschechoslowakische Nationalität gegen die U.S. citizenship ein. Sechs Wirkungsstätten (Wien, Köln, Genf, Prag, Cambridge/Mass., Berkeley), dreieinhalb Konfessionen und vier respektive fünf Staatsangehörigkeiten: Kelsens vita dokumentiert die äußere Wurzellosigkeit seiner Existenz. In ihr kann in vielem die Blaupause des Schicksals eines dem deutschen Kulturkreis zugehörigen, vollständig assimilierten, regelmäßig religiös unmusikalischen, nicht selten aus Karrieregründen zum Christentum konvertierten, liberalen Juden der letzten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gesehen werden, der mit seinen Arbeiten zu den Protagonisten der Wissenschaftlichen, d.h. metaphysikskep47 | Vgl. die Zusammenstellung von Wiener Professoren und Privatdozenten jüdischer Herkunft und deren »Austritt« aus dem Judentum und/oder deren Übertritt zu einer der christlichen Konfessionen: Kamila Staudigl-Ciechowicz, Exkurs: Akademischer Antisemitismus, in: Thomas Olechowski/Tamara Ehs/Kamila Staudigl-Ciechowicz, Die Wiener Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät 19181938, Wien 2014, S. 67-77, 73f. sowie 75ff.
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tischen Moderne avanciert. Sigmund Freud (1856-1939), Albert Einstein (1879-1955), Ludwig Wittgenstein (1889-1951) und Kelsens Klassenkamerad Ludwig von Mises (1881-1973) sind weitere Beispiele. Keiner von ihnen ist in seine ursprüngliche Heimat remigriert.48 Es dürfte dieser Kontext sein, in dem Kelsens – relativ spärliche – Äußerungen zur Frage einer Rückkehr nach Deutschland oder Österreich zu lesen und zu deuten sind. In einem 1958 mit Radio Bremen unter dem Titel »Auszug des Geistes« geführten Interview49 bestätigte Kelsen, dass auch er nicht den Wunsch habe, dauerhaft zurückzugehen (wenngleich er sowohl Deutschland als auch Österreich mehrfach besucht hat).50 Doch die Begründung fällt so ganz anders aus als bei Thomas Mann (der im Übrigen später sehr wohl, nämlich 1952 den USA den Rücken gekehrt hat). Bei Kelsen geht es nicht um Gerechtigkeit, Verantwortlichkeit und Kollektivschuld und auch nicht um Verlustschmerz, Nichtloslassenkönnen und Sehnsucht. Die extremen Gefühlslagen, das Pathos und das Ressentiment fehlen gänzlich: Er habe sich in Berkeley eingelebt und »besonders günstige Bedingungen« vorgefunden, habe ein »eigenes kleines Häuschen […] mit einem sehr schönen Garten [erworben], in dem das ganze Jahr Rosen blühen, ein wunderbares Klima und, last but not least, eine ganz hervorragende Universitätsbibliothek«. Seine, wie er sich ausdrückt, »wissenschaftlichen Bedürfnisse« seien »hier in idealer Weise befriedigt«.51 Außerdem lebe seine Familie in den USA und die meisten seiner Freunde in der alten Heimat seien entweder von den Nazis ermordet worden oder anderweitig verstorben, so dass ihn »eigentlich kein
48 | Freud starb 1939 in London, Wittgenstein 1951 in Cambridge (UK), Einstein 1955 in Princeton und von Mises 1973 in New York. 49 | Transkription des Interviews mit Hans Kelsen in Berkeley 1958 (unter dem Titel »Auszug des Geistes« ausgestrahlt von Radio Bremen am 23. April 1959), abgedruckt in deutscher Sprache und spanischer Übersetzung als Teil IV in dem Beitrag: Fernando Israel Espinosa Olivera, Testimonio radiofónico de Hans Kelsen (en el 30 aniversario de su fallecimiento), in: Revista de investigaciones jurídicas 27 (2003), S. 111-142, 123-142 – im Folgenden zitiert: Kelsen, Interview 1958. 50 | Kelsen, Interview 1958 (Fn. 49), S. 139. – Kelsen besuchte Österreich in den Fünfziger und Sechziger Jahren wenigstens vier Male, Deutschland, und zwar die Universität zu Köln und die Freie Universität Berlin, mindestens zwei Male. 51 | Kelsen, Interview 1958 (Fn. 49), S. 139.
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menschliches Band mehr mit Deutschland und Österreich verbindet«.52 Um dann aber doch hinzuzusetzen: »Ich meine, ich bin mir vollkommen bewußt, daß sich die Verhältnisse in Deutschland und Österreich […] gegenüber der Nazizeit so vollkommen geändert haben, daß das Leben drüben für mich durchaus möglich und auch angenehm wäre, aber in meinem hohen Alter [Kelsen begeht 1958 seinen 77. Geburtstag] habe ich keine besondere Veranlassung, […] meine gegenwärtige Lage zu ändern, mit der ich in jeder Beziehung zufrieden bin.«53 Wie schon in seiner, lange verschollen geglaubten Autobiographie aus dem Oktober 194754 betont Kelsen, der in seiner Wissenschaft kompromisslos, unermüdlich und perfektionistisch ist, seine persönliche Zufriedenheit, er könne sich »in keiner Weise beklagen«.55 Endlich, so mutet es an, hat Kelsen, dem es immer und immer wieder verwehrt war, sich dauerhaft niederzulassen, einen Platz gefunden, der ihm von niemandem mehr streitig gemacht wird und an dem er seiner geliebten Wissenschaft ungehindert nachgehen kann. Wohl nicht zufällig wählt Kelsen im letzten Satz seiner Autobiographie eine Wendung aus einem Gedicht des jüdischstämmigen Emigranten Heinrich Heine (1797-1856), dass hier – gemeint ist Berkeley, rund 10.000 Kilometer Luftlinie von Prag und Wien entfernt – »wohl des ›Wandermueden letzte Ruhestaette‹ sein« werde.56 Seinem Wunsche entsprechend wird Kelsens Leiche nach seinem Tode 1973 eingeäschert und die Asche im Pazifik ausgestreut.
52 | Kelsen, Interview 1958 (Fn. 49), S. 140. 53 | Kelsen, Interview 1958 (Fn. 49), S. 140. 54 | Hans Kelsen, Autobiographie (1947), in: Matthias Jestaedt (Hg.), Hans Kelsen Werke I, Tübingen 2006, S. 29-91 (dazu erläuternd Matthias Jestaedt, Editorischer Bericht zu: Autobiographie [1947], ebd., S. 589-596). 55 | Kelsen, Interview 1958 (Fn. 49), S. 140. 56 | Kelsen, Autobiographie (Fn. 54), S. 91, bezieht sich auf Heinrich Heines (1797-1856) Gedicht »Wo?« (dessen Entstehungszeit ist ungewiss, vielleicht im Winter 1839/40): »Wo wird einst des Wandermüden/Letzte Ruhestätte sein?/ Unter Palmen in dem Süden?/Unter Linden an dem Rhein?//Werd ich wo in einer Wüste/Eingescharrt von fremder Hand?/Oder ruh ich an der Küste/Eines Meeres in dem Sand?//Immerhin! Mich wird umgeben/Gotteshimmel, dort wie hier,/Und als Totenlampen schweben/Nachts die Sterne über mir.« Das Gedicht steht auf Heines Grabstein auf dem Friedhof Montmartre in Paris.
»Des Wandermüden let zte Ruhestätte« – Die Nicht-Remigration Hans Kelsens
V. U bi scientia , ibi patria Lassen Sie mich mit zwei Gedankensplittern schließen, die Kelsen Nichtremigrations-Geschichte in einem etwas milderen, weicheren Licht erscheinen lassen. Das bereits genannte Interview aus dem Jahre 1958 schließt Kelsen mit einer bemerkenswerten Aussage darüber, dass er das Vaterland an seinem eigenen Leibe »als einen relativen Wert zu erkennen gezwungen war. Ich habe ursprünglich Österreich für mein Vaterland gehalten, dann mußte ich nach Deutschland gehen und war bereit, auch Deutschland für mein Vaterland anzuerkennen, aber dann wurde ich gezwungen, nach der Schweiz und von der Schweiz nach Amerika zu gehen, und so ist schließlich Amerika mein Vaterland geworden. Und ist mein wirkliches und wahres Vaterland, obgleich es weder mein erstes Vaterland war noch mein einziges Vaterland.«57 Setzt man diese Passage in Bezug zu Kelsens Aussage, dass er nicht zuletzt mit Rücksicht darauf, dass in Berkeley seine wissenschaftlichen Bedürfnisse »in idealer Weise befriedigt« würden,58 keinen Anlass gehabt habe, nach Deutschland oder Österreich zurückzukehren, so drängt sich der Gedanke auf, dass für Kelsen letztlich Heimat dort ist, wo er – neben seinem Familienleben – seiner Wissenschaft ungestört und frei nachgehen kann: ubi scientia, ibi patria.59 57 | Kelsen, Interview 1958 (Fn. 49), S. 142. 58 | Vgl. oben Text zu Fn. 51. 59 | Auch Kelsens Gerechtigkeitsverständnis – und darin eingeschlossen seine Präferenz für die demokratische Staatsform – darf als wissenschaftsinduziert bezeichnet werden. Eindringlich dazu Hans Kelsen, Was ist Gerechtigkeit, Wien 1953, S. 42f. (Hervorhebung nicht im Original): »Da Demokratie ihrer innersten Natur nach Freiheit, und Freiheit Toleranz bedeutet, ist keine andere Staatsform der Wissenschaft so günstig wie gerade die Demokratie. Denn Wissenschaft kann nur gedeihen, wenn sie frei ist; und sie ist frei nicht nur, wenn sie es nach außen, d.h. wenn sie von politischen Einflüssen unabhängig, ist, sondern wenn sie auch im Innern frei ist, wenn völlige Freiheit herrscht in dem Spiel von Argument und Gegenargument. Keine Lehre kann im Namen der Wissenschaft unterdrückt werden; denn die Seele der Wissenschaft ist Toleranz. […] Ich habe diese Abhandlung mit der Frage begonnen: Was ist Gerechtigkeit? Nun, an ihrem Ende, bin ich mir wohl bewußt, diese Frage nicht beantwortet zu haben. […] ich weiß nicht und kann nicht sagen, was Gerechtigkeit ist, die absolute Gerechtigkeit, dieser schöne
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Dies korreliert auch der Ambivalenz, dass Kelsen zwar schnellstmöglich US-amerikanischer Staatsbürger geworden ist und damit einen klaren Schnitt vollzogen hat, dass er aber doch niemals zu einem USamerikanischen Rechtswissenschaftler mutiert ist.60 Vielmehr hat er nie aufgehört, ein nach Sprache und Denke, nach Habitus und Fundus dem deutschen Kulturraum ganz und gar zugehöriger Rechtswissenschaftler zu sein – was der Rezeption seines Werkes in der Anglosphere bis heute schwer überwindbare Hürden setzt.61 Seine universale Grammatik moTraum der Menschheit. Ich muß mich mit einer relativen Gerechtigkeit begnügen und kann nur sagen, was Gerechtigkeit für mich ist. Da Wissenschaft mein Beruf und sohin das wichtigste in meinem Leben, ist es jene Gerechtigkeit, unter deren Schutz Wissenschaft, und mit Wissenschaft Wahrheit und Aufrichtigkeit gedeihen können. Es ist die Gerechtigkeit der Freiheit, die Gerechtigkeit des Friedens, und die Gerechtigkeit der Demokratie, die Gerechtigkeit der Toleranz.« – Auch hier zeigt sich: Kelsen war zeitlebens ein völlig unabhängiger Kopf, der sich nicht von Parteien und Mächtigen vereinnahmen, nicht durch den wissenschaftlichen Mainstream einschüchtern und nicht durch die Verlockungen des Amtes, des Prestiges oder sonstiger gesellschaftlicher Anerkennung korrumpieren ließ. 60 | Vgl. nur die Charakterisierung Kelsens durch den an der Harvard Law School lehrenden Thomas Reed Powell (1880-1955) in seinem Empfehlungsschreiben vom 9. Januar 1942 an den Dean of the Summer Sessions an der Universität Berkeley, Raymond Garfield Gettell (1881-1949): »Kelsen is not at all a lawyer from our American standpoint, but he is a philosopher and a sociologist« (zitiert nach Lepsius, Nationalsozialismus [Fn. 3], S. 282 mit Fn. 68). Kelsen hat in seinem Gastland sozusagen eine »disziplinäre Emigration« vollzogen (Begriff bei Lepsius, Nationalsozialismus [Fn. 3], S. 283). Ganz zu schweigen davon, dass Kelsen neben seiner Schwierigkeit, einen fachlich-disziplinären Resonanzboden für seine Art der Jurisprudenz zu finden, in den USA nicht nur lange Zeit mit finanziellen Problemen, sondern in der McCarthy-Ära auch mit politischen Unannehmlichkeiten zu kämpfen hatte; dazu Olechowski, Kelsen in Berkeley (Fn. 44), S. 58ff. 61 | Vgl. dazu Stanley L. Paulson, Die Rezeption Kelsens in Amerika, in: Ota Weinberger/Werner Krawietz (Hg.), Die Reine Rechtslehre im Spiegel ihrer Fortsetzer und Kritiker, Wien 1988, S. 179-202; Otto Pfersmann, Hans Kelsens Rolle in der gegenwärtigen Rechtswissenschaft, in: Robert Walter/Werner Ogris/Thomas Olechowski (Hg.), Hans Kelsen: Leben – Werk – Wirksamkeit, Wien 2009, S. 367-387, 372ff.; Christoph Kletzer, The Role and Reception of the Work of Hans Kelsen in the United Kingdom, in: Robert Walter/Clemens Jabloner/Klaus Zeleny (Hg.), Hans Kel-
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dernen Rechts, sprich: seine Rechts- und Normentheorie, hat Kelsen in seinen bedeutendsten Nachkriegspublikationen weiterhin auf Deutsch vorgetragen; so sind seine beiden rechts- und allgemein normtheoretischen Alterswerke – die Zweitauflage der »Reinen Rechtslehre« im Jahre 1960 und die 1979 aus seinem Nachlass herausgegebene »Allgemeine Theorie der Normen«62 – in seiner Muttersprache abgefasst.
VI. E r ist wieder da Und schließlich: Die Erzählung von Kelsens Nichtremigration wäre nicht vollständig, würde man nicht auch ein letztes, noch unabgeschlossenes Kapitel hinzufügen. Dieses Kapitel könnte den Titel tragen »Kelsen-Renaissance« oder auch »Posthume Remigration« – und beschriebe die Rückkehr Kelsens in den rechtswissenschaftlichen Diskurs namentlich in Deutschland. Im gegebenen Rahmen muss ich darauf verzichten, diesen Teil der Geschichte eingehender zu schildern.63 Ich begnüge mich stattdessen mit einigen wenigen Sätzen: sen anderswo. Hans Kelsen abroad, Wien 2010, S. 133-165; D.A. Jeremy Telman, A Path Not Taken: Hans Kelsen’s Pure Theory of Law in the Land of the Legal Realists, ebd., S. 353-376; ders. (Hg.), Hans Kelsen in America – Selective Affinities and the Mysteries of Academic Influence, Cham/CH 2016. – Besonders plastisch und drastisch liest sich das Kelsen in den USA entgegengebrachte Unverständnis bei Oliver Wendell Holmes, Jr. (1841-1935); von Harold J. Laski (1893-1950) auf Kelsens Habilitationsschrift, die »Hauptprobleme der Staatsrechtslehre«, 1. Aufl., Tübingen 1911, aufmerksam gemacht, verleiht Holmes in einem Brief an Laski vom 28.10.1929 seinen Leseerfahrungen wie folgt Ausdruck: »I looked at your Kelsen’s Hauptprobleme der Staatslehre [sic] but it was too solid a lump of raw German for me and it looked to me as if he was somewhat like the German comic papers that take you by both ears and shove your nose into a joke. I didn’t read half a page but it smelt as if he brought the German touch to impalpables« (zitiert nach: Mark DeWolfe Howe (Hg.), Holmes-Laski Letters – the Correspondence of Mr. Justice Holmes and Harold J. Laski 1916-1935, Bd. II, Cambridge/Mass. 1953, S. 1193). 62 | Hans Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, hg. von Kurt Ringhofer/Robert Walter, Wien 1979. 63 | Dazu näher: Matthias Jestaedt (Hg.), Hans Kelsen und die deutsche Staatsrechtslehre. Stationen eines wechselvollen Verhältnisses, Tübingen 2013, dort ins-
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Es mutet wie eine gerechtigkeitsinduzierte Koinzidenz an, dass Kelsen just mit jenem Zeitpunkt in der deutschen Staatsrechtslehre wieder diskursfähig wird, in dem mit Carl Schmitt der letzte aus dem Weimarer Quartett von der Bühne abtritt. 1985 stirbt der selbsternannte Katechon fast 97-jährig, im selben Jahr wird Horst Dreier (*1954) mit der – Kelsen für die deutsche Rechtswissenschaft wiederentdeckenden, ja aufschlüsselnden – Dissertation »Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen«64 promoviert.65 Seither hat die Diskurspräsenz Kelsens in steigendem Maße zugenommen, findet im Land der Vertreiber gerade unter den Jüngeren eine Art Wiederaneignung des »gran maestro de Viena« statt.66 In der heutigen Generation der Staatsrechtslehre dürften seine Thesen die mit Abstand meisttraktierten aus dem großen Weimarer Erbe sein – was kaum verwundert, weil nicht nur seine Rechts- und Normentheorie Klassikerstatus besitzt, sondern etwa auch seine pluralistische Demokratietheorie und seine weitsichtige Theorie der Verfassungsgerichtsbarkeit aus der Spätzeit der Weimarer Republik noch heute Wegweisendes enthalten. Alle, die in den Traditionsbahnen der deutschen Staatsrechtslehre geglaubt oder gehofft hatten, dass der von diesem »Zeloten eines blinden
bes. die Beiträge von Helmuth Schulze-Fielitz, S. 147ff., Horst Dreier, S. 175ff., Christoph Schönberger, S. 207ff., Ulrike Lembke, S. 223ff., sowie Oliver Lepsius, S. 241ff. 64 | Horst Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, Baden-Baden 1986 (2.Aufl. 1990). 65 | Vgl. dazu Horst Dreier, Die (Wieder-)Entdeckung Kelsens in den 1980er Jahren – Ein Rückblick (auch in eigener Sache), in: Matthias Jestaedt (Hg.), Hans Kelsen und die deutsche Staatsrechtslehre. Stationen eines wechselvollen Verhältnisses, Tübingen 2013, S. 175ff.; ergänzend Gross, Rückkehr unerwünscht (Fn. 2), S. 301, 303f., 321f. 66 | Vgl. einerseits Christoph Schönberger, Kelsen-Renaissance? Ein Versuch über die Bedingungen ihrer Möglichkeit im deutschen öffentlichen Recht der Gegenwart, in: Matthias Jestaedt (Hg.), Hans Kelsen und die deutsche Staatsrechtslehre. Stationen eines wechselvollen Verhältnisses, Tübingen 2013, S. 207ff. und andererseits Ulrike Lembke, Weltrecht – Demokratie – Dogmatik. Kelsens Projekte und die Nachwuchswissenschaft, ebd., S. 223ff.
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Normativismus«67 veranstaltete Spuk einer »Rechtslehre ohne Recht«68 und einer »Staatslehre ohne Staat«69 mit Kelsens Flucht über den Atlantik endgültig gebannt sei, wird man angesichts der rezentesten Entwicklungen bitterlich enttäuschen müssen. Denn: Er ist wieder da.
67 | Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung, Tübingen 1931, S. 30 (wenngleich Schmitt hier Kelsen nicht ausdrücklich nennt; Kelsen selbst versteht die Anspielung sehr wohl, vgl. Hans Kelsen, Wer soll der Hüter der Verfassung sein?, in: Die Justiz 6 [1930/31], S. 576 [596 Anm. 1]). 68 | Hermann Heller, Die Krisis der Staatslehre, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 55 (1926), S. 289 (309). 69 | Heller, Krisis (Fn. 68), S. 308 und 309; ders., Souveränität. Ein Beitrag zur Theorie des Staats‑ und Völkerrechts, Tübingen 1927, S. 7 (Vorwort); ders., Staatslehre, Leiden 1934, S. 52, 96 und 198.
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I. E inleitung : Z ielse t zung und M e thode An Hans Peters wird – nahezu einzigartig unter den Staatsrechtslehrern seiner Generation – weniger wegen seiner wissenschaftlichen Aktivitäten denn wegen seiner Lebensgeschichte und konkret aufgrund seiner bedeutsamen Rolle im Widerstand gegen den Nationalsozialismus erinnert. Das ist einerseits mehr als verständlich und verdeutlicht, daß »innere Emigration« nicht mit bloßer Passivität und einen Rückzug in den Bereich des nur Persönlichen assoziiert werden muß. Peters hat den Nationalsozialismus nicht nur nicht unterstützt, sondern ihn im Gegenteil als Teil des Widerstands aktiv bekämpft. Dies verleiht ihm eine nicht nur binnenjuristische, sondern zeitgeschichtliche Bedeutung und hebt ihn »weit und bis heute sichtbar aus der Menge anpassungsfähiger Staatsrechtslehrer heraus.«1 Andererseits droht diese Fokussierung das Interesse an der genuin wissenschaftlichen Leistung Hans Peters’ in den Hintergrund 1 | Jens Kersten, Hans Peters (1896-1966): Methodenwandel durch Unrechtserfahrung, in: Steffen Augsberg/Andreas Funke (Hg.), Kölner Juristen im 20. Jahrhundert: Beiträge zu einer Ringvorlesung an der Universität zu Köln, Sommersemester 2010 und Wintersemester 2010/2011, Tübingen 2013, S. 211-224, 224; ähnlich schon Klaus Joachim Grigoleit/Jens Kersten, Hans Peters (1896-1966), DV 30 (1997), 365-395, 394f.; siehe auch Klaus Joachim Grigoleit, Hans Peters (1896-1966), in: Stefan Grundmann u.a. (Hg.), Festschrift 200 Jahre Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Geschichte, Gegenwart und Zukunft, Berlin 2010, S. 755-771, 764ff.
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zu drängen. Nachfolgend werden deshalb die historisch-politischen – bereits gut erforschten2 – Aspekte nicht um ihrer selbst willen thematisiert. Vielmehr konzentrieren sich die hier vorgestellten Überlegungen auf die Wechselwirkungen zwischen den persönlichen Erlebnissen und Einstellungen Peters’ und seiner Forschungstätigkeit, namentlich die Entwicklung seines (Verwaltungs-)Rechtsdenkens.3 Methodisch geht es damit weniger um Rechtsgeschichte im engeren Sinne denn um eine historisch informierte, systematische Textanalyse. Zu diesem Zweck erfolgt zunächst eine knappe Darstellung wichtiger biographischer Eckpunkte (dazu II.). In einem zweiten Schritt ist sodann näher auf das Verhältnis dieser Lebenserfahrungen zu Peters’ Werk und insbesondere seinem Methodenverständnis einzugehen (dazu III.). Ein abschließendes Fazit skizziert in einem eher abstrakten Zugriff Sinn und Grenzen derartiger kontextualisierender (Re-)Lektüren (dazu IV.).
II. K urze Z wischenbemerkung zur B iogr aphie Hans Peters wurde am 5. September 1896 in Berlin in eine preußische, aber katholische Beamtenfamilie hineingeboren.4 Nach dem Abitur studierte er – unterbrochen von der Weltkriegsteilnahme – zunächst Physik 2 | Siehe v.a. Levin von Trott zu Solz, Hans Peters und der Kreisauer Kreis. Staatslehre im Widerstand, Paderborn 1997. 3 | Für einen entsprechenden Konnex schon Klaus Stern, In Memoriam Hans Peters, Krefeld 1967, S. 10. 4 | Vgl. zum folgenden etwa Wilfried Berg, Hans Peters (1896-1966), in: Peter Häberle/Michael Kilian/Heinrich-Amadeus Wolff (Hg.), Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts Deutschland – Österreich – Schweiz, Berlin 2014, S. 471-483; Ernst Friesenhahn, Nachruf auf Hans Peters, in: Hermann Conrad u.a. (Hg.), Gedächtnisschrift Hans Peters, Berlin 1967, S. 1-7; Grigoleit, Hans Peters (Fn. 1), S. 755ff.; Ulrich Karpen, Hans Peters (1896-1966), DÖV 1996, 776f.; Kersten, Hans Peters (Fn. 1), S. 211ff.; Kristin Kleibert, Die Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin im Umbruch – Die Jahre 1948 bis 1951, Berlin 2010, S. 21ff.; Stern, In Memoriam Hans Peters (Fn. 3), S. 7ff.; Ulrich Scheuner, Prof. Dr. Dr. h.c. Hans Peters, NJW 1966, 440f.; Matthias Wiemers, Das Bild der öffentlichen Verwaltung bei Hans Peters (1896-1966): Kontinuität unter vier Herrschaftssystemen, Bonn 2010, S. 2ff., jeweils m.w.N.
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und Mathematik, später Rechts- und Staatswissenschaften in Münster, Wien und Berlin. Die nach dem Referendariat 1921 in Münster abgeschlossene Promotion betraf das Thema »Verwaltungswidrigkeit und Polizeiwidrigkeit und ihre Beziehungen zur Rechtswidrigkeit«; die Habilitation erfolgte 1925 an der Universität Breslau mit einer Schrift zu den »Grenzen der kommunalen Selbstverwaltung in Preußen«. Anschließend lehrte er zunächst bis 1928 in Breslau als Privatdozent und dann als beamteter außerordentlicher (ab 1946: ordentlicher) Professor an der Universität Berlin. Parallel zu dieser akademischen erfolgte eine Karriere in der preußischen Verwaltung – eine »Gleichzeitigkeit von Wissenschaft und Praxis, die sein gesamtes Berufsleben kennzeichnet«5 und die sich auch auf sein Verständnis vom Verwaltungsrechts und der einschlägigen Methodik nachhaltig auswirkt. Entscheidend für den weiteren Lebensweg ist schließlich die »dritte Grundlage seines weitgespannten Arbeitsfeldes«6, nämlich sein politisches Engagement.7 In der Weimarer Republik agierte Peters nicht nur öffentlich als Verteidiger der jungen Demokratie (etwa als Vertreter der Zentrumsfraktion im Preußischen Landtag im Prozeß um den sog. »Preußenschlag« 8), sondern er engagierte sich auch selbst politisch in der Zentrumspartei. Für einen kurzen Zeitraum (nämlich vom März 1933 bis zu dessen Zwangsauflösung im Oktober 1933) war 5 | Berg, Hans Peters (Fn. 4), S. 471f. Zu den einzelnen Stationen näher Kleibert, Die Juristische Fakultät (Fn. 4), S. 22f. 6 | So Stern, In Memoriam Hans Peters (Fn. 3), S. 8f.; zustimmend zitiert von Berg, Hans Peters (Fn. 4), S. 471 (472 mit Fn. 3). 7 | Vgl. zum Folgenden etwa v. Trott zu Solz, Hans Peters und der Kreisauer Kreis (Fn. 2), S. 24ff.; Ulrich Karpen, Hans Peters (1896-1966), in: DÖV 1996, S. 776782, 777; Grigoleit/Kersten, Hans Peters (1896-1966) (Fn. 1), 372f.; Grigoleit, Hans Peters (Fn. 1), S. 762ff.; Anna-Maria v. Lösch, Der nackte Geist. Die Juristische Fakultät der Berliner Universität im Umbruch von 1933, Tübingen 1999, S. 302ff.; Volker Ullrich, Der Kreisauer Kreis, Reinbek 2008, S. 53f. 8 | Dazu statt vieler etwa Dirk Blasius, Carl Schmitt: Preußischer Staatsrat in Hitlers Reich, Göttingen 2001, S. 32ff., 40ff.; Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Dritter Band: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur 1914-1949, München 1999, S. 121ff. Vgl. in diesem Kontext auch Dirk Pleger, Die Idee des Föderalismus im Denken von Hans Peters: der Föderalismus als das leitende soziologische Prinzip für die sozialen, staatlichen und internationalen Organisationen, Würzburg 1997.
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er sogar Mitglied des Preußischen Landtags. Diese politische Grundhaltung wird in Verbindung mit seinem katholischen Glauben9 gemeinhin als Basis seiner entschiedenen Gegnerschaft zum Nationalsozialismus verstanden. Ohne an dieser Stelle weiter in die Ursachenforschung einzusteigen,10 ist festzustellen, daß Peters sich nicht nur in seinen Vorlesungen gegen die neuen Lehren stellte.11 Er unterhielt auch Kontakte zu unterschiedlichen Widerstands- und Oppositionsgruppen und engagierte sich namentlich für rassisch und politisch Verfolgte sowie im »Kreisauer Kreis«12 , innerhalb dessen er an den dort ausgearbeiteten Positionen zum postnationalsozialistischen Staatswesen mitwirkte. Peters wurde durch die Machthaber zwar »politische Unzuverlässigkeit« attestiert;13 seine Aktivitäten im Widerstand blieben allerdings glücklicherweise unentdeckt. Nach Kriegsende war er intensiv am (Neu-)Auf bau eines demokratischen Gemeinwesens beteiligt: Er wirkte nicht nur an der Erarbeitung von Verfassungsentwürfen mit, sondern setzte auch sein politisches Engagement – v.a. auf der kommunalen Ebene (in Berlin und später in Köln) – fort; ferner war er u.a. Mitbegründer der CDU in Hamburg.14
9 | Vgl. zum Katholizismus als Grundlage der Gegnerschaft zum NS-Regime auch Hans F. Zacher, Zur »Konstitutionalisierung« des Verwaltungsrechts in der frühen Bundesrepublik, in: Carsten Kremer (Hg.), Das Verwaltungsrecht der frühen Bundesrepublik, Tübingen 2017, S. 387-398. 10 | Zum problematischen Verhältnis von Religion und NS-Staat siehe etwa Claus-Ekkehard Bärsch, Die politische Religion des Nationalsozialismus. Die religiöse Dimension der NS-Ideologie in den Schriften von Dietrich Eckart, Joseph Goebbels, Alfred Rosenberg und Adolf Hitler, 2. Aufl., München 2002. 11 | Vgl. v. Lösch, Der nackte Geist (Fn. 7), S. 306; Wiemers, Das Bild der öffentlichen Verwaltung (Fn. 4), S. 24ff. 12 | Dazu umfassend etwa Andreas Schott, Adam von Trott zu Solz: Jurist im Widerstand. Verfassungsrechtliche und staatspolitische Auffassungen im Kreisauer Kreis, Paderborn 2001; Ullrich, Der Kreisauer Kreis (Fn. 7), sowie die Beiträge in: Ulrich Karpen/Andreas Schott (Hg.), Der Kreisauer Kreis. Zu den verfassungspolitischen Vorstellungen von Männern des Widerstandes um Helmuth James Graf von Moltke, Heidelberg 1996. 13 | Vgl. Ullrich, Der Kreisauer Kreis (Fn. 7), S. 54. 14 | Vgl. Kleibert, Die Juristische Fakultät (Fn. 4), S. 27ff.; Wiemers, Das Bild der öffentlichen Verwaltung (Fn. 4), S. 32ff., jeweils m.w.N.
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III. P e ters ’ M e thodik : »K ontinuität unter vier H errschaf tssystemen « oder »M e thodenwandel durch U nrechtserfahrung «? Verknüpft man nun diese biographischen Basisdaten mit dem wissenschaftlichen Oeuvre, dann stellt sich die Frage, welche grundlegenden Positionen für das Verwaltungs- und Verwaltungsrechtsdenken Hans Peters’ typisch sind und inwieweit diese sich durch die biographischen Erfahrungen verändert haben. Mit Blick auf zwei jüngere Veröffentlichungen kann man dies dahingehend zuspitzen, ob bei Peters ein grundsätzlicher »Methodenwandel durch Unrechtserfahrung«15 zu beobachten oder umgekehrt gerade eine »Kontinuität unter vier Herrschaftssystemen«16 zu erkennen ist. Letztlich lassen sich für beide Seiten valide Argumente vortragen, ohne daß damit im Ergebnis eine eindeutige Festlegung möglich (oder sinnvoll) erscheint. Den unzweifelhaft vorhandenen Weiterentwicklungen stehen bestimmte Basisannahmen gegenüber, die sich weitgehend unverändert in den frühen wie den späteren Schriften finden. Kennzeichnend für sein (Verwaltungs-)Rechtsdenken ist demnach die Verwurzelung in einem christlich fundierten Naturrechtsdenken und ein hiermit in engster Verbindung stehendes materielles, nämlich funktional auf einen vorausgesetzten Gemeinwohlgedanken ausgerichtetes Rechtsverständnis. An drei eng miteinander verbundenen Punkten läßt sich dies näher veranschaulichen: Erstens an Peters’ methodischem Zugang zum Verwaltungsrecht (dazu 1.), zweitens an seiner Einordnung der Selbstverwaltung, insbesondere in ihrem Verhältnis zur Demokratie (dazu 2.) sowie schließlich drittens an seinem Verständnis der Verwaltung und ihres Selbstands gegenüber anderen Staatsgewalten (dazu 3.).
15 | Vgl. Kersten, Hans Peters (Fn. 1), S. 211ff. 16 | So der Untertitel von Wiemers, Das Bild der öffentlichen Verwaltung (Fn. 4).
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1. Ver waltungsrechtswissenschaft als postpositivistische Integrationswissenschaft Bereits die Habilitationsschrift kennzeichnen für das spätere Werk relevante (wenn auch nicht unverändert beibehaltene) Grundcharakteristika:17 Deutlich wird, zunächst und v.a., der methodische Anspruch, (Verfassungs- und) Verwaltungsrecht gleichsam holistisch und integrativ, jedenfalls eben nicht nur aus dem »Elfenbeinturm« oder rein positivistisch, sondern unter bewußter Einbeziehung praktischer Kenntnisse und Erfahrungen zu begreifen.18 Von klassisch-rechtspositivistisch arbeitenden Juristen unterscheidet sich Peters nicht allein durch die sowohl im Staats- wie im Verwaltungsrecht betonte, letztlich wohl in seinem christlichen Glauben wurzelnde Wertschätzung des Naturrechts,19 sondern zumal durch die bewußte Perspektiverweiterung hinsichtlich politischer Aspekte und nachbarwissenschaftlicher Erkenntnisse – wobei allerdings die Analyse dem Selbstverständnis nach stets eine rechtliche bleibt.20 Schon in der Habilitation wird der politische Gehalt des gewählten Themas ganz offen thematisiert und als Teil des avisierten Untersuchungsgegenstands benannt. In den späteren Schriften, insbesondere in 17 | Siehe zum folgenden schon Kersten, Hans Peters (Fn. 1), S. 211 (212ff.); Grigoleit/ders. Hans Peters (1896-1966) (Fn. 1), S. 366ff.; ähnlich Friesenhahn, Nachruf auf Hans Peters (Fn. 4), S. 1 (2f.). 18 | Vgl. etwa explizit Hans Peters, Grenzen der Kommunalen Selbstverwaltung in Preußen. Ein Beitrag zur Lehre vom Verhältnis der Gemeinden zu Staat und Reich, Berlin 1926, S. 2. Zu dem im Grundansatz durchaus vergleichbaren, in der konkreten Umsetzung aber doch stark abweichenden Konzept einer »nachpositivistischen Verwaltungsrechtswissenschaft« bei Ernst Forsthoff vgl. Florian Meinel, Der Jurist in der industriellen Gesellschaft: Ernst Forsthoff und seine Zeit, Berlin 2011, S. 119ff. 19 | Vgl. etwa Hans Peters, Geschichtliche Entwicklung und Grundfragen der Verfassung, Berlin 1969, S. 12f., 52f. Dementsprechend wirft er etwa Ernst Forsthoff vor, dieser habe in seinem Lehrbuch »kein inneres Verhältnis zu den naturrechtlichen Grundlagen des Verwaltungsrechts gefunden«; vgl. Peters, Buchbesprechung, Schmollers Jahrbuch 71 (1951), S. 126; siehe dazu Meinel, Der Jurist in der industriellen Gesellschaft (Fn. 18), S. 106, zum Naturrechtsverständnis näher dort, S. 243f. 20 | Vgl. etwa Peters, Geschichtliche Entwicklung (Fn. 19), S. 9.
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dem 1947 erschienenen »Lehrbuch der Verwaltung« und in seiner Eigenschaft als Herausgeber des dreibändigen »Handbuchs der kommunalen Wissenschaft und Praxis« (1956), spiegelt sich diese grundsätzliche Haltung wider; sie wird ergänzt durch eine (zusätzliche) Einbeziehung v.a. verwaltungswissenschaftlicher Erkenntnisse.21 Entsprechend wendet er sich auch in dem 1969 posthum erschienenen Buch »Geschichtliche Entwicklung und Grundfragen der Verfassung« gegen eine »isolierte Betrachtung« des Staatsrechts und listet – ausdrücklich nicht abschließend – eine Reihe »Wissenschaften, die als Hilfsmittel für das Staatsrecht benötigt werden«.22 Dort erfolgt ferner ein ausdrücklicher Hinweis auf die Problematik einer »politisierten« Rechtswissenschaft: »unbewußte Vorurteile und Ressentiments vermischen sich bei mangelnder Selbstkritik nicht selten mit subjektiven politischen Argumenten. Dieser Gefahr gilt es durch Bewußtmachung bei sich selbst entgegenzutreten.«23 Obwohl Peters wie gesehen ideologisch klar in Gegnerschaft zum Nationalsozialismus steht, folgt aus dieser Positionierung mit Blick auf das Verwaltungsrechtsdenken eine jedenfalls potentiell nicht zu vernachlässigende methodische Schnittmenge. Sein Postulat einer eigenständigen, gerade nicht nur klassisch rechtsgebundenen Verwaltung besitzt Berührungspunkte zur NS-Rechtslehre.24 Allerdings grenzt er sich gleichzeitig von dieser klar ab. Denn Peters’ Kritik an einer auf das Verwaltungsrecht
21 | Siehe schon Hans Peters, Verwaltungslehre und Verwaltungspraxis, in: Der deutsche Länderbeamte, 1934, S. 178ff.; ders., Der Stand der deutschen Verwaltungswissenschaft. Eine Entgegnung, Beamten-Jahrbuch 1939, S. 144ff. Deutlich Hans Peters, Kommunalwissenschaften und Kommunalpolitik, in: ders. (Hg.), Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, Erster Band: Kommunalverfassung, Berlin 1956, S. 1: »Um möglichst viele abstrakte, allgemeingültige Aussagen über ein wissenschaftlicher Untersuchung unterworfenes Objekt wie die Gemeinde zu finden, bedarf es der Anwendung verschiedener Methoden, die nach dem Standpunkt des Betrachters sich gegenseitig zu ergänzen haben.« Vgl. hierzu auch Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland III (Fn. 8), S. 376ff. 22 | Peters, Geschichtliche Entwicklung (Fn. 19), S. 24ff., die Zitate auf S. 34. 23 | Peters, Geschichtliche Entwicklung (Fn. 19), S. 21, siehe auch dort, S. 22, 27ff. 24 | Vgl. hierauf hinweisend schon Friedrich Schack, Buchbesprechung, DVBl. 1950, S. 62-63, 62f.
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verengten Perspektive25 geht nicht so weit, daß er die Rechtsbindung der Verwaltung als irrelevant beiseite schiebt. Deutlich wird dies etwa in einem 1939 erschienenen Aufsatz, in dem er gegenüber der nationalsozialistischen Vorstellung einer nicht primär rechtlich zu betrachtenden Verwaltung auf der bleibenden Bedeutung der rechtlichen Perspektive beharrte und Bedenken gegenüber einer (nur) verwaltungspolitischen Analyse vortrug.26 Peters gehörte insoweit zu einer (politisch stark divergierenden) Gruppe von Verwaltungsrechtlern, die zwar »eine weitgehend autonom agierende Verwaltung« als den »verläßlichste[n] Ort von rechtlicher Ordnung und funktionierender Staatlichkeit« betrachteten, die aber »schon während der Zeit des Nationalsozialismus als Juristen tätig gewesen waren und damals versucht hatten, die Verwaltung möglichst von Einflüssen der Partei freizuhalten.«27 Dementsprechend leuchtet es ein, anzunehmen, daß die Machtergreifung der Nationalsozialisten auch Peters publizistische Tätigkeit beeinflußt und namentlich die Veröffentlichung eines geplanten Lehrbuchs zu Verwaltungslehre verhindert hat.28 Das 1949 erschienene, programmatisch betitelte29 »Lehrbuch der Verwaltung« läßt sich vor diesem Hintergrund gewissermaßen als Kondensat seiner vor und während der nationalsozialistischen Herrschaft gewonnenen Überzeugungen zu Verwaltung, Verwaltungsrecht und Verwaltungsrechtswissenschaft verstehen.30 Zwar entstand es in großen Teilen während der Herrschaft des 25 | Deutlich etwa Peters, Buchbesprechung, (Fn. 19), S. 126ff. 26 | Vgl. Peters, Der Stand der deutschen Verwaltungswissenschaft (Fn. 21), S. 144ff. Auch insoweit ist eine Kontinuität zu erkennen; siehe etwa schon früher ders., Die Polizeiwidrigkeit und ihre Beziehungen zur Rechtswidrigkeit, VerwArch 29 (1922), 369-403, sowie später ders., Lehrbuch der Verwaltung, Berlin 1949, S. 68ff. 27 | Frieder Günther, Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949-1970, München 2004, S. 260. 28 | Vgl. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland III (Fn. 8), S. 377. 29 | Vgl. Friesenhahn, Nachruf auf Hans Peters (Fn. 4), S. 1f.; Klaus Stern, Verwaltungslehre – Notwendigkeit und Aufgabe im heutigen Sozialstaat, in: Conrad u.a. (Hg.), Gedächtnisschrift Hans Peters (Fn. 4), S. 219-247, 221. 30 | Vgl. hierzu bereits Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Vierter Band: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in West
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Nationalsozialismus, doch legt Peters Wert auf die Feststellung, er habe es bereits »für die Zeit nach der Beseitigung dieses Diktatursystems niedergeschrieben«31 .
2. Funktionale und demokratische Verständnisse von (Selbst-)Ver waltung Eine besonders enge Verbindung der rechtlichen und politischen Grundannahmen zeigt sich in Peters Verständnis von Staats- und Selbstverwaltung. Erneut lassen sich wichtige Kernkomponenten schon früh ausmachen: Die kommunale Selbstverwaltung wird in der Habilitationsschrift funktional, nämlich zweckbezogen begründet. Sie stellt keinen Selbstzweck und kein natürliches Recht der Gemeinden dar, sondern dient vielmehr der effektiven Durchsetzung des Allgemeinwohls.32 »Fasst man Peters Position in der Habilitationsschrift zusammen, so bleibt von der Selbstverwaltung kaum mehr als eine organisatorisch und räumlich dezentralisierte Verwaltung übrig, die sich mehr dem Republik-, denn dem Demokratieprinzip verpflichtet sieht.«33 Diese vor dem Hintergrund der Weimarer Verhältnisse formulierte Konstruktion wird allerdings schon wenig später deutlich eingeschränkt bzw. ergänzt, soweit er in der 1928 erschienenen Schrift »Zentralisation und Dezentralisation« den demokratischen Gehalt der Selbstverwaltung als Mittel politischer Dezentralisation betont.34 Zumindest hochplausibel ist es, anzunehmen, daß sich diese Tendenz durch die politischen Erfahrungen, insbesondere die Beund Ost 1945-1990, München 2012, S. 176ff.; näher hierzu jetzt Steffen Augsberg, Hans Peters – Lehrer der Verwaltung, in: Kremer (Hg.), Das Verwaltungsrecht der frühen Bundesrepublik (Fn. 9) S. 31-48. 31 | Peters, Lehrbuch der Verwaltung (Fn. 26), S. IVf. 32 | Vgl. Peters, Grenzen der Kommunalen Selbstverwaltung in Preußen (Fn. 18), S. 23, 44. Siehe hierzu – zustimmend – Kurt G. Jeserich, Kommunalverwaltung und Kommunalpolitik, in: ders./Hans Pohl/Georg Christoph von Unruh (Hg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Band 4: Das Reich als Republik und in der Zeit des Nationalsozialismus, Stuttgart 1985, S. 487-524, 490. 33 | Kersten, Hans Peters (Fn. 1), S. 213. 34 | Vgl. Hans Peters, Zentralisation und Dezentralisation. Zugleich ein Beitrag zur Kommunalpolitik im Rahmen der Staats- und Verwaltungslehre, Berlin 1928, S. 28ff.; siehe schon Grigoleit/Kersten, Hans Peters (1896-1966) (Fn. 1), S. 370.
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gegnungen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus und ganz konkret durch die Diskussionen im »Kreisauer Kreis«, weiter verstärkt hat.35 Denn die für letzteren elementaren Überlegungen, als Kontrapunkt zum »totalen Staat« das Individuum in den Mittelpunkt aller (politischen) Organisation zu stellen und kleinere (Selbstverwaltungs-)Einheiten sowohl auf gesellschaftlicher wie auf staatlicher Ebene zu präferieren,36 weist nicht nur – bewußt oder unbewußt – Bezüge sowohl zur preußischen Verwaltungsrechtslehre als auch zum klassischen US-amerikanischen Verfassungsrecht auf. Sie entsprechen auch weitestgehend Peters’ eigener Auffassung: So benennt er als die Basis seiner verfassungsrechtlichen Überlegungen eine »Staatsauffassung, die die gemeinschaftsgebundene Persönlichkeit mit ihren Eigeninteressen anerkennt und die um zahlreiche natürliche oder von Menschen künstlich geschaffene Zwischenglieder zwischen der ›Person‹ und dem Staate weiß.«37 »Der Mensch als das Primäre bedarf der Ergänzung durch die Familie, die freiwilligen Gemeinschaften und schließlich durch den Staat. Letzterer hat danach nur subsidiär in Funktion zu treten […].«38 Diese Vorstellung einer zwar gemeinschaftsgebundenen, aber zugleich in möglichst kleinteiligen Einheiten organisierten Persönlichkeit schließt ersichtlich sowohl an Peters’ eigene ältere Arbeiten zur Selbstverwaltung an als auch an die im Widerstand formulierten Gesellschaftskonzeptionen an.39 Die Gemeinden als Organe der kommunalen Selbstverwaltung verwirklichen für Peters nicht nur (relative, vom politischen Kontext abhängige) politische Ziele, sondern auch ein (absolutes) ethisches Ziel: »Die ethische Bedeutung der Selbstverwaltung liegt darin, daß sie das Verantwortungsgefühl für die Gemeinschaft, zunächst freilich für die natürliche örtliche, 35 | Das ist eine zentrale These von Kersten, Hans Peters (Fn. 1), S. 213ff.; Grigoleit/Kersten, Hans Peters (1896-1966) (Fn. 1), S. 376. 36 | Vgl. dazu nur Ulrich Karpen, Deutschland und Europa. Das Staatsrecht in den Plänen des Kreisauer Kreises, Historisch-Politische Mitteilungen 14 (2013), 4565, 51ff. 37 | Peters, Geschichtliche Entwicklung (Fn. 19), S. 23; siehe auch dort, S. 9. 38 | Peters, Geschichtliche Entwicklung (Fn. 19), S. 213. Siehe hierzu auch Berg, Hans Peters (Fn. 4), S. 477f. 39 | Vgl. Hans Peters, Verfassungs- und Verwaltungsreformbestrebungen innerhalb der Widerstandsbewegung gegen Hitler, Münster 1961, S. 10.
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weckt und stärkt und daß sie die Erkenntnis fördert, daß jede Gemeinschaft im Staate zunächst in ihre eigenen Angelegenheiten sich selbst helfen soll.« 40
»Damit wird […] deutlich, wie sehr sich Peters Vorstellungen über Selbstverwaltung unter dem Einfluss des Nationalsozialismus gewandelt hatten. Die Gemeinde stellte für ihn jetzt nicht mehr eine rein funktionale Organisationseinheit dar, die sich durch eine effektive Verwaltung zu legitimieren hatte. Sondern die Selbstverwaltung bildet nun das ›natürliche‹ Basiselement im politischen Staatsauf bau, also in politischer Hinsicht die ›Urzelle des Staats‹ überhaupt.«41
3. Zur Eigenständigkeit der Ver waltung Allerdings führten die vorgenannten Modifikationen nicht zu einer umfassenden »Demokratisierung« des Peters’schen Verwaltungsdenkens. Ungeachtet der Tatsache, daß er das Grundgesetz als eine dualistisch legitimierte, sowohl auf dem demokratischen »Legitimitätsprinzip« als auch das »personalistische Menschenbild der Grundrechte« gegründete Verfassung begrüßte und als Fortschritt gegenüber der Weimarer Reichsverfassung einstufte,42 betonte er vielmehr zeitlebens die Notwendigkeit einer Eigenständigkeit der Verwaltung und warnte davor, dieser durch Gesetzgebung und Rechtsprechung zu enge Grenzen zu setzen.43 Peters 40 | Vgl. Peters, Lehrbuch der Verwaltung (Fn. 26), S. 290. 41 | Kersten, Hans Peters (Fn. 1), S. 217, mit Verweis auf Peters, Lehrbuch der Verwaltung (Fn. 26), S. 282, 290, 292. 42 | Vgl. Peters, Geschichtliche Entwicklung und Grundfragen der Verfassung (Fn. 19), S. 39, 164ff., 183ff.; näher hierzu Kersten, Hans Peters (Fn. 1), S. 220ff. 43 | Vgl. Hans Peters, Die Verwaltung als eigenständige Staatsgewalt, Krefeld 1965, S. 12ff., 29ff.; siehe auch etwa schon ders., Die Polizeiwidrigkeit und ihre Beziehungen zur Rechtswidrigkeit, in: Verwaltungsarchiv 29 (1922), S. 369-403, 402; ders., Verwaltung ohne gesetzliche Ermächtigung, in: Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit. Festschrift für Hans Huber, Bern 1961, S. 206-221, 207ff., 219f.; zum Ganzen ausführlich Jürgen Salzwedel, Die Verwaltung als eigenständige Staatsgewalt: zur Bedeutung des Lebenswerkes von Hans Peters heute, in: Jahres- und Tagungsbericht der Görres-Gesellschaft, Köln 1996, S. 23ff. Vgl. auch etwa Hans Heinrich Rupp, Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre. Verwaltungsnorm und Verwaltungsrechtsverhältnis, 2. Aufl. Tübingen 1991,
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definierte die Verwaltung nicht allein negativ in Abgrenzung zu den anderen Staatsgewalten, sondern von ihrer Aufgabe her, nämlich der »Verwirklichung der Staatszwecke für den Einzelfall«. 44 Begrenzungen folgen insoweit weniger aus strikten gesetzlichen Vorfestlegungen; vielmehr kommt es für Peters auf die Staatsidee45 und in deren Verfolgung »in erster Linie auf die Persönlichkeit der höheren Verwaltungsbeamten und ihre innere weltanschauliche Einstellung« an.46 Die Konsequenzen dieser Auffassung lassen sich exemplarisch veranschaulichen anhand einer späteren Kontroverse zwischen Peters und Hans Heinrich Rupp47 über die rechtliche Beurteilung Technischer Überwachungsvereine (TÜV):48 Während Rupp i.S. der von ihm und anderen (v.a. Dietrich Jesch 49) postulierten stärkeren demokratischen Einhegung, ergo gesetzlichen Vorstrukturierung, der Verwaltungstätigkeit ein strenge(re)s Vorgehen gegenüber den als quasi-staatliche Monopolisten agierenden, dabei aber (auch) Eigeninteressen bedienenden Vereinen verlangt und etwa Aufgabenrückübertragungen entschädigungsfrei für zulässig hält,50 handelt es sich für Peters bei der Übernahme einer im Allgemeininteresse stehenden Überwachungsaufgabe durch einen privaten Verein um die Wahrnehmung legitimer gesellschaftlicher (grundrechtlich S. 124, der Peters’ Konzept als Verteidigung einer »in einer ganz anderen Verfassungsepoche geborene[n] Vorbehaltssystematik« kritisiert. 44 | Peters, Lehrbuch der Verwaltung (Fn. 26), S. 5 (Hervorhebung i.O.). 45 | Vgl. Peters, Lehrbuch der Verwaltung (Fn. 26), S. 28f. 46 | Peters, Lehrbuch der Verwaltung (Fn. 26), S. 26; vgl. auch dort, S. 425ff.; siehe hierzu auch Berg, Hans Peters (Fn. 4), S. 471 (479). 47 | Vgl. dazu Andreas Funke, Ein Außenseiter, mittendrin. Zur Erfolgsbilanz des neo-kelsenianischen Verwaltungsrechts von Hans Heinrich Rupp, in: Kremer (Hg.), Das Verwaltungsrecht der frühen Bundesrepublik (Fn. 9), S. 305-329. 48 | Vgl. zum folgenden auch Christoph Möllers, Der vermisste Leviathan. Staatstheorie in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a.M. 2008, S. 51. 49 | Vgl. zu diesem Ino Augsberg, Demokratische Aufklärung. Dietrich Jeschs Neubestimmung der Verwaltungsrechtsdogmatik unter dem Grundgesetz, in: Kremer (Hg.), Das Verwaltungsrecht der frühen Bundesrepublik (Fn. 9), S. 287-304. Siehe auch Günther, Denken vom Staat her (Fn. 26), S. 258ff. 50 | Vgl. Hans-Heinrich Rupp, Privateigentum an Staatsfunktionen? Eine kritische Untersuchung am Beispiel der Technischen Überwachungsvereine, Tübingen 1963.
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geschützter) Freiheit und zugleich um ein Anwendungsbeispiel für das für ihn zentrale Subsidiaritätsprinzip.51 Kurz: Wo Rupp auf das (formale) Erfordernis demokratischer Legitimation verweist, ist für Peters die (materielle) Gemeinwohlorientierung und der Subsidiaritätsgedanke entscheidend.
IV. F a zit : S inn und G renzen einer K onte x tualisierung rechtlicher Te x te Der letztgenannte Punkt führt uns bereits zu einem abschließenden Gedanken: Der Literaturwissenschaft verdanken wir die Einsicht in die reduzierte Bedeutung subjektiver Leseverständnisse, und in der Tat müssen wir uns davor hüten, Wissenschaftsgeschichte nur als Ansammlung der »Biographie[n] großer Männer« zu konzipieren und damit zu verkürzten Lesarten, Überinterpretation und Fehlzuweisungen beizutragen. Gleichwohl kann es sinnvoll sein, verknappte Bezugnahmen auf bestimmte Personen bzw. die von diesen angestoßenen Diskurse vorzunehmen. Anstatt den Autor schlicht totzusagen, kann er mithin als wichtige Chiffre erkannt und verwendet werden.52 Läßt sich aber eine entsprechende, die eigene Lebenswelt und -zeit transzendierende Bedeutung auch mit Hans Peters verbinden? Hier hilft ein kurzer Blick auf die Weiterentwicklung und die Rezeption des Werkes, und das Ergebnis ist eher ernüchternd. Wie gesehen lassen sich die Grenzlinien zwischen Leben und Oeuvre gerade bei Peters nicht trennscharf ziehen. Die Erfahrungen unterschiedlichster Herrschaftssysteme prägen und bewegen ersichtlich die Biographie und Bibliographie. So sehr allerdings die Faszination der Person und der persönlichen Lebensleistung einleuchtet, so bedauerlich wäre 51 | Vgl. Hans Peters, Öffentliche und staatliche Aufgaben, in: Rolf Dietz/Heinz Hübner (Hg.), Festschrift für Hans Carl Nipperdey, Bd. II, München 1965, S. 877896, 884ff. 52 | Michel Foucault, Was ist ein Autor? (1969), in: ders., Schriften zur Literatur, Frankfurt a.M. 2003, S. 234-270, 244: »Folglich könnte man sagen, daß es in einer Kultur wie der unseren eine bestimmte Anzahl von Diskursen gibt, die die Funktion ›Autor‹ haben, während andere sie nicht haben. Die Funktion Autor ist also charakteristisch für Existenz-, Verbreitungs- und Funktionsweise bestimmter Diskurse in einer Gesellschaft.«
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es doch, wenn darüber die genuin wissenschaftliche Relevanz litte.53 Namentlich das »Lehrbuch der Verwaltung« enthält so originelle, innovative und für aktuelle Diskussionen anschlußfähige Überlegungen,54 daß eine (Re-)Lektüre dieses (im positiven Sinne!) »etwas eigenwillige[n]«55 Werkes auch heute (wieder) lohnt.
53 | Vgl. etwa das Fazit bei Grigoleit, Hans Peters (Fn. 1), S. 771. 54 | Vgl. hierzu und zu möglichen Erklärungen für die unzureichende Rezeption näher Augsberg, Hans Peters – Lehrer der Verwaltung (Fn. 30), S. 44ff. 55 | So die Charakterisierung des »Lehrbuchs der Verwaltung« bei Meinel, Der Jurist in der industriellen Gesellschaft (Fn. 18), S. 106.
V. Bilanz und Perspektiven
Wissenstransfer aus dem Exil in Politik, Verwaltung, Wissenschaft Eine Spurensuche Marita Krauss Die Frage, inwiefern Emigranten oder Remigranten das öffentliche Leben, die Politik, die Universitäten oder die Kultur der Nachkriegsjahre prägten, wird von der Exilforschung immer wieder aus anderen Blickwinkeln gestellt. Galt das Interesse anfangs dem Exil, so folgten bald Überlegungen zur Remigration. Zunächst ging es um den Einfluss von Remigranten in der Politik, später um Journalisten, Künstler und Wissenschaftler.1 Die tatsächlichen Spielräume und Gestaltungsmöglichkeiten 1 | Nach wie vor wichtig: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration, hg. vom Institut für Zeitgeschichte München/Research Foundation for Jewish Immigration, New York, unter Leitung von Werner Röder u. Herbert A. Strauss, Bd. I, München u.a. 1980, Bd. II,1 und II,2 München u.a. 1983; ClausDieter Krohn u.a. (Hg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933-1945, Darmstadt 1998; Horst Möller, Exodus der Kultur: Schriftsteller, Wissenschaftler und Künstler in der Emigration nach 1933, München 1984; Friedrich Stadler (Hg.), Vertriebene Vernunft. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft, 2 Bde., Wien/München 1988; Martin Kirsch, Wissenschaftler im Ausland zwischen 1930 und 1960 – Transferbedingungen und Identitätswandel einer erzwungenen Migration, in: Hartmut Kaelble/ders./Alexander Schmidt-Gernig (Hg.), Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2000, S. 179209. Ich stütze mich im Folgenden weitgehend auf meine eigenen umfänglichen Studien zur Remigration, die in den vergangenen rund dreißig Jahren entstanden sind und etliche der hier behandelten Aspekte diskutieren; dort auch weitere Literatur. Ich werde im Folgenden nur unmittelbare Belege anführen. Zusammenfassend Marita Krauss, Heimkehr in ein fremdes Land. Geschichte der Remigration
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zurückkehrender Emigranten können jedoch nur selten über die Einzelbiografien hinaus als Gruppenphänomen sichtbar gemacht werden: Emigranten schlossen sich nach der Rückkehr in der alten Heimat nicht zu Emigranten-Gruppen zusammen, viel prägender war der jeweilige Zusammenhang mit der aufnehmenden Peer-Group, ob diese nun einer Partei angehörte, einer Gewerkschaft, einer Zeitung, einem Universitätsinstitut oder einem Theater. Dieses Phänomen mag erklären, wie schnell ›erfolgreiche‹ Rückkehrer wieder in den Kosmos ihrer früheren Tätigkeit eintauchten. Ob sie dabei ihren ›fremden Blick‹, also die Distanz und die Klarsicht des Außenstehenden, bewahren konnten oder ob diese Außenperspektive schnell im Alltag zerrann, ist nur am Einzelfall zu betrachten.2 Diesen Remigranten im engeren Sinne sind temporäre Rückkehrer wie Gastprofessoren gegenüber zu stellen, die meist weiterhin durch den Blick von außen geprägt waren.3 Die klare Sicht auf die deutschen Verhältnisse bedeute jedoch noch lange nicht, dass Wissen aus den Exilländern tatsächlich transferiert werden konnte: Die vom Nationalsozialismus und der Kriegsniederlage geprägte Bevölkerung war meist nicht bereit, von Remigranten Belehrungen anzunehmen. Einige Faktoren erleichterten dennoch den Reimport von Wissen: Insgesamt griffen die politischen Eliten auf die Konzepte der Zeit vor 1933 zurück. Daher hatten auch Ideen, die vor 1933 innovativ gewesen waren, eine Chance auf Umsetzung – und für solche Konzepte standen etliche Rückkehrer. Hinzu kam die Bedeutung der Besatzungsmächte, vor allem der USA: Der Kontakt mit der Militärverwaltung und nach 1945, München 2000. Besonders relevant auch Marita Krauss, Die Region als erste Wirkungsstätte von Remigranten, in: Claus-Dieter Krohn/Patrick von zur Mühlen (Hg.), Rückkehr und Aufbau 1945. Deutsche Emigranten im politischen Leben Nachkriegsdeutschlands, Marburg 1997, S. 23-38, danach auch einige der folgenden Gedanken. In dem Band Rückkehr und Aufbau finden sich etliche weitere Aufsätze zum Thema. 2 | Diese Perspektiven zeigten sich z.B. noch beim Thema Wiederbewaffnung, dazu Peter Mertz, Und das wurde nicht ihr Staat. Erfahrungen emigrierter Schriftsteller mit Westdeutschland, München 1985. 3 | Zum Thema der Gastprofessoren Marita Krauss, Exilerfahrung und Wissenstransfer. Gastprofessoren nach 1945, in: Dittmar Dahlmann/Reinhold Reith (Hg.), Elitenwanderung und Wissenstransfer im 19. und 20. Jahrhundert, Essen 2008, S. 35-54.
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ihren oft ganz anderen Vorstellungen von Verwaltung und Demokratie,4 aber auch die in der Phase der Reorientation einsetzenden Einladungen deutscher Eliten, darunter auch vieler Verwaltungsleute, mit umfänglichen Besuchsprogrammen,5 der Wissenschaftler- und Studierendenaustausch, nicht zuletzt aber auch die Wahrnehmung der USA als wirtschaftliches Erfolgsmodell beförderten die Akzeptanz von Wissen, das zum Wiederauf bau von Land und Wirtschaft beitragen konnte. Der bald einsetzende Aufschwung bestätigte diesen Kurs. Für die Rezeption von Exilwissen war jedoch meist ein Besatzer oder Remigrant an maßgeblichen Positionen nötig, dessen Fähigkeit, solches Wissen einzubringen, sowie die Bereitschaft, dieses Wissen aufzunehmen und umzusetzen.
I. R emigrierte P olitiker Wer waren nun die Remigranten, die in die Westzonen zurückkehrten und ›wirksam‹ werden konnten? Für Hamburg repräsentierte Max Brauer und für Bayern Wilhelm Hoegner den Typus des Remigranten, dessen Erfahrungen Gehör fanden.6 Der emigrierte SPD-Bürgermeister von Altona, Max Brauer, wurde 1946 stürmisch begrüßt und im Schnellverfahren wieder eingebürgert, damit er bei der Hamburger Bürgermeisterwahl kandidieren konnte. Obwohl er im Auftrag der ›International Labour Federation‹ zunächst als Gast zurückgekehrt war, gab es schon kurz nach seiner Ankunft in Hamburg keinen amerikanischen Staatsbürger Brauer mehr sondern nur noch den Hamburgischen Politiker, dessen ›Wir‹ alle Dagebliebenen einschloss, der zusammen mit Belasteten und Unbelasteten gegen den Hunger und für den Wiederauf bau des Hafens kämpfte. Auch Wilhelm Hoegners Heimat lag wie die Brauers in der Sozialdemokratie. Als bayerischer Ministerpräsident seit 1946 und noch einmal im 4 | Uta Gerhardt, Nichts Punitives. Der Morgenthau-Plan, die Direktive JCS 1067 und das »Wirtschaftswunder«, in: Hans Braun/dies./Everhard Holtmann (Hg.), Die lange Stunde Null. Gelenkter sozialer Wandel in Westdeutschland nach 1945, Baden-Baden 2007, S. 29 – 57. 5 | Ellen Latzin, Lernen von Amerika? Das US-Kulturaustauschprogramm für Bayern und seine Absolventen, Stuttgart 2005. 6 | Axel Schildt, Max Brauer, Hamburg 2002; Peter Kritzer, Wilhelm Hoegner. Politische Biographie eines bayerischen Sozialdemokraten, München 1979.
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Rahmen der ›Viererkoalition‹ 1954 bis 1957 sowie als Minister verschiedener Regierungen war er ein wichtiger Ankerpunkt der bayerischen Nachkriegspolitik. Beide Politiker waren vor 1933 bereits politisch profiliert tätig gewesen, beide kamen früh aus dem Exil zurück – Hoegner 1945 aus der Schweiz, Brauer 1946 aus den USA –, beide wurden wieder an herausgehobener Stelle tätig. Es ist daher zu fragen, inwiefern ihr Verwaltungshandeln von Exilerfahrungen bestimmt wurde. Ein dritter Politiker, der ebenfalls daraufhin zu untersuchen ist, ist Herbert Weichmann – auch er Hamburger Remigrant aus den USA, wenn auch mit jüdischem Verfolgungsschicksal.7 Weichmann und Hoegner sind insofern besonders wichtig, als ihre umfänglichen Briefwechsel erhalten sind.8 Weichmann kam 1948 auf Anfrage Max Brauers zurück und wurde zunächst Präsident des Hamburger Rechnungshofs, 1957 Finanzsenator und ab 1965 Hamburger Bürgermeister. Herbert Weichmann schrieb 1950: »Ich kann nicht sagen, daß es mir schwerfiel, hier wieder Wurzeln zu schlagen. Es ist mir im Gegenteil sehr viel leichter geworden, als ich erwartet habe. Dazu mag beitragen, daß man ja älter und damit auch freier von Illusionen geworden ist. Ich verkenne die Schwächen des Landes und der Menschen nicht, sie bereiten mir auch Sorgen, aber wer sich nun einmal dem öffentlichen Leben und nicht dem Gewinnstreben verpflichtet fühlt, empfindet es einfach als seine Aufgabe, in seinem Rahmen etwas beizutragen, das dem Fortschritt helfen mag.«9 Weichmanns Frau Elsbeth merkte in ihrem Buch »Zuflucht. Jahre des Exils« an: »Die Emigration hatte die Rückkehrer für ihre Aufgabe besonders gut ausgerüstet. Sie kamen nicht aus der kleinen Welt des begrenzten Lebensraums, der Enge sozialer Prestigefragen, der Verdächtigungen, der Gehässigkeiten und der Verstörung durch Trümmer und Elend. Sie brachten eine breite Weltsicht mit, Erfahrungen einer langjährigen Wanderung durch Fremde und soziale Wurzellosigkeit, 7 | Uwe Bahnsen, Die Weichmanns in Hamburg. Ein Glücksfall für Deutschland, Hamburg 2001; Claus-Dieter Krohn (Hg.), Herbert Weichmann (1896-1983). Preußischer Beamter, Exilant, Hamburger Bürgermeister. Dokumentation, Hamburg 1996, S. 95-145. 8 | Staatsarchiv Hamburg, Familie Weichmann. 9 | Staatsarchiv Hamburg, Familie Weichmann, Nr. 74, Bd. 3, Brief an Doris Bronder in Berlin vom 4.5.1950.
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einen Lebensrythmus, der erhöhte Anforderungen an Anpassungsfähigkeit in Krisensituationen gestellt hatte.«10 »Exilerfahrung« enthält bei Elsbeth Weichmann Elemente von Wissenserwerb und anderen schwer beschreibbaren Wissenszuwächsen, die dazu helfen sollten, Aufgaben in der alten Heimat mit Hilfe dieses Wissens besser zu lösen Zentral ist daher die Frage, welche Bedeutung das Exil als erzwungene Lern- und Lehrzeit für die Rückkehrer erreichen konnte und welche Auswirkungen das auf ihre Nachkriegstätigkeit hatte. Trugen Remigranten zu einer Modernisierung und ›Verwestlichung‹ der Bundesrepublik bei oder waren sie eher an der Weimarer Republik orientiert und daher rückwärtsgewandt? Ein Beispiel für die konkrete Umsetzung von Exilerfahrungen in der Verwaltung lässt eher auf ersteres schließen. Der Leiter des hamburgischen Prüfungsamtes für den öffentlichen Dienst, Oberregierungsrat Theodor Bonte, berichtete in einer Sitzung der Personalreferenten der Obersten Bundesbehörden im Januar 1955 in Bonn über die »Möglichkeiten einer psychologischen Personalauslese aufgrund der Erfahrungen des hamburgischen Prüfungsamtes für den öffentlichen Dienst«.11 Die Entstehung dieses Amtes, so Bonte, gehe darauf zurück, »daß der für den Fortschritt aufgeschlossene derzeitige Bürgermeister Hamburgs, Max Brauer, während seines Emigrationsaufenthaltes in den USA, wo – ähnlich wie in England – seit langem der Zugang zum öffentlichen Dienst nur über Eignungsprüfungen des Civil Service möglich sind, die Bedeutung der praktischen Psychologie für die Verwaltung kennengelernt hat«. Er fuhr fort, es entbehre nicht »einer gewissen Tragik, daß auf diese Weise ursprünglich von deutschen Wissenschaftlern erarbeitetes Gedankengut […] auf dem Umweg über das Ausland, wo man recht bald die ideelle, soziale und wirtschaftliche Bedeutung einer psychologischen Menschenauslese auch in der Verwaltung erkannt hatte, nach Deutschland zurückfand«. Dieses neue Verfahren werde nun in Hamburg seit über sieben Jahren mit besten Ergebnissen praktiziert, und wenn auch in der Anfangszeit »trotz aller Aufgeschlossenheit« manche Behördenleiter und Betriebsräte der neuen Einrichtung noch kritisch gegenübergestanden hätten, so strahle heute der Erfolg dieser Methoden weit über Hamburgs Grenzen hinaus und habe bereits Nachahmer in zahlreichen 10 | Elsbeth Weichmann, Zuflucht. Jahres des Exils, Hamburg 1983, S. 207f. 11 | Staatsarchiv Hamburg, Familie Brauer, Nr. 13, Bd. 1, Brief an Doris Bronder in Berlin vom 4.5.1950.
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anderen Gegenden gefunden. Brauers innovative Verwaltungsinitiative, so ist dieses Beispiel zusammenzufassen, wurde klar als amerikanische Exilerfahrung gekennzeichnet, als solche positiv bewertet und als wegweisende Verbesserung dargestellt. Es handelt sich hierbei also um ein Musterbeispiel von Wissenstransfer durch einen Remigranten. Doch durch den Bezug auf die deutsche Tradition dieser Neuerung zeichnet sich hier ein typischer Weg des Wissenstransfers aus dem Exil ab: Fortschrittliche Konzepte der Weimarer Zeit waren im Exil diskutiert und verändert worden, bevor sie mit den Remigranten zurückkehrten. Dies enthält Kontinuität und Wandel zugleich. Im Umfeld eines regierenden Rückkehrers wie Max Brauer war es dann auch möglich, solche Neuerungen politisch durchzusetzen. Neben Max Brauers herausragender persönlicher Bedeutung für Hamburg spielte dabei sicherlich die Hamburger Tradition eine entscheidende Rolle, in der vor allem angloamerikanisches Wissen einen sehr viel wichtigeren Platz einnahm als z.B. in München.12 1950 betonte Brauer öffentlich: »An keinem Tage meiner Hamburger Tätigkeit habe ich vergessen, was ich an Wissen und neuen Erkenntnissen in Amerika zu sammeln die Gelegenheit hatte.«13 Auch bei Wilhelm Hoegner zeigten sich die Lernprozesse aus dem Exil bereits unmittelbar nach Amtsantritt: Seine eigenen Erfahrungen in der Schweiz führten dazu, dass er als Ministerpräsident Wege fand, die Betroffenen an der Ausarbeitung des bayerischen Flüchtlingsgesetzes zu beteiligen. Er hatte sich überdies in den zwölf Jahren des Exils vom Zentralisten zum Föderalisten gewandelt und versuchte, auch seine Genossen von den Vorteilen zu überzeugen.14 Seine Verfassungsentwürfe, die maßgeblich die im Dezember 1946 angenommene Bayerische Verfassung prägten, waren ebenfalls im Exil entstanden;15 sie bezogen sich 12 | Ein weiteres Beispiel für die Wirksamkeit des amerikanischen Vorbildes bietet der Bau der Grindelhochhäuser, vgl. Axel Schildt, Die Grindelhochhäuser. Eine Sozialgeschichte der ersten deutschen Wohnhochhausanlage Hamburg-Grindelberg 1945-1956, Hamburg 1988. 13 | Neues Hamburg 5 (1950), S. 31. 14 | Kritzer, Hoegner (Fn. 6), S. 224-229. 15 | Barbara Fait, Demokratische Erneuerung unter dem Sternenbanner. Amerikanische Kontrolle und Verfassunggebung in Bayern 1946, Düsseldorf 1998, S. 122-134.
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auf die Weimarer Reichsverfassung, Hoegner hatte sich aber bemüht, die erkannten Mängel dieser Verfassung zu beseitigen. Insofern ging auch hier »Wissen« mit Hoegner ins Exil, wurde dort weiterentwickelt und kehrte erfahrungsgesättigt wieder zurück, um in der Nachkriegszeit Anwendung zu finden.
II. W issenschaf tler als G astprofessoren Exilwissen kam aber nicht nur auf solchen Wegen nach Deutschland. Weitere Mittler zwischen drinnen und draußen waren Exilwissenschaftler. Betrachtet man Wissenschaft und Universität in den Transformationen des 20. Jahrhunderts über die scheinbaren Zäsuren der Jahre 1933 und 1945 hinweg,16 wird die Bedeutung des Neuanfangs nach 1945 sichtbar. So wurden Wissenschaftszweige wie die Amerikanistik oder die Politikwissenschaft nach 1945 von Emigranten und Remigranten mit aufgebaut. Etliche dieser Wissenschaftler kamen nie ganz zurück, sie wirkten vielmehr als Gastprofessoren und in anderen Funktionen in der alten Heimat.17 Auch hier steht eine alternative Kontinuität der Wissenschaft zur Diskussion, die mit den Forschern im Exil überdauerte, sich durch Exilerfahrung angereichert und verändert hatte, bevor das durch neue Horizonte modifizierte Wissen und die veränderte Lehrerfahrung dann 16 | Rüdiger vom Bruch/Brigitte Kaderas (Hg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahme zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002; Bernd Weisbrod (Hg.), Akademische Vergangenheitspolitik. Beiträge zur Wissenschaftskultur der Nachkriegszeit, Göttingen 2002; Georg Bollenbeck/Clemens Knobloch (Hg.), Semantischer Umbau der Geisteswissenschaften nach 1933 und 1945, Heidelberg 2001; Mitchell Ash, Wissenschaft und Wissenschaftsaustausch, in: Detlef Junker (Hg.), Die USA und Deutschland im Zeitalter des Kalten Krieges 1945-1990. Ein Handbuch, Stuttgart/München 2001, Bd. I, S. 634-645; ders., Internationalisierung und Entinternationalisierung der Wissenschaften im 19. und 20. Jahrhundert – Thesen, in: Manfred Lechner/Dietmar Seiler (Hg.), zeitgeschichte.at. 4. Österreichischer Zeitgeschichtetag ’99, Wien 1999, S. 4-12. 17 | Marita Krauss, »Gedankenaustausch über Probleme und Methoden der Forschung«. Transatlantische Gastprofessoren nach 1945, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 3 (2006), S. 224-242.
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nach 1945 durch Remigranten, Gastprofessoren und Publikationen nach Deutschland zurückkehrten. Die Bedeutung solcher Kontakte sahen auch westdeutsche Nachkriegsbehörden.18 Bereits im Dezember 1946 schrieb ein Referent des Bayerischen Kultusministeriums an die Rektoren der bayerischen Hochschulen: »Im Laufe der letzten Monate haben sowohl das Staatsministerium für Unterricht und Kultus als auch verschiedentlich die Fakultäten der Universitäten Verbindung mit im Ausland lebenden Professoren aufgenommen, um sie zur Übernahme von Gastprofessuren zu gewinnen. […] Wie aus den Zuschriften entnommen werden konnte,[…] ist der Wille zur Mitarbeit am Wiederauf bau der Universitäten unter den im Ausland lebenden deutschen und auch ausländischen Professoren äußerst groß; ebenso die Bereitschaft, auf Grund der dem Ausland gegebenen Möglichkeiten, die Institutionen der Universitäten mit Büchern usw. zu unterstützen.«19 Die angefügte Liste der Professoren, mit denen der Kontakt bereits hergestellt war oder bald hergestellt werden sollte, umfaßte 50 Namen emigrierter Wissenschaftler, darunter 17 in der Schweiz, 16 in den USA, sechs in Großbritannien, fünf in der Türkei und je einer in Norwegen, Schweden, Persien, Österreich, Holland, Indien. Es handelte sich um eine Prominentenliste: Das ging für die USA von Brüning über den Romanisten Eberhard Bruck (Havard), den Physiker Kasimir Fajans (Ann Arbor), den Juristen Rosenstock-Hüssy bis zu dem Anatomen Friedrich Wassermann (University of Chicago) und dem Mathematiker Alexander Weinstein (Toronto). Was erhoffte man sich, so ist zu fragen, von diesen Professoren? Was sollten, was konnten sie bewirken in einem Land, das wirtschaftlich und moralisch in Trümmern lag? Und warum wollte man sie als Gäste gewinnen, nicht als Kollegen auf Dauer? Bereits seit den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelten die USA eine große Anziehungskraft auf Wissenschaftler aus Europa. Nach 1933 beschleunigte sich diese Entwicklung der USA zur führenden 18 | Zur SBZ/DDR Mario Keßler, Exilerfahrung in Wissenschaft und Politik. Remigrierte Historiker in der frühen DDR, Köln u.a. 2001; Lothar Mertens, Remigration als Elitenaustausch. Die Rückkehr vertriebener Wissenschaftler in die SBZ/DDR, in: ders. (Hg.), Unter dem Deckel der Diktatur. Soziale und kulturelle Aspekte des DDR-Alltags, Berlin 2003, S. 197-221. 19 | Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, MK 68836, Schreiben des Kultusministeriums an die Rektoren vom 19.12.1946.
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Wissenschaftsnation durch die Immigration von den Nationalsozialisten verfolgter deutschsprachiger Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen. Die Internationalisierung der Wissenschaft schritt dadurch rapide voran. Englisch war nun die wichtigste Wissenschaftssprache, Deutsch verlor an Bedeutung. Elitenzirkulation ist zwar ein genuiner Teil des Wissenschaftsbetriebs. Doch die Zwangsmigration von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen nach 1933 war etwas anderes: Es ging hier nicht um die übliche akademische Chancenwanderung. Mit der Emigration wurden die Betroffenen aus etablierten Wirkungszusammenhängen gerissen und konnten meist nur mit Hilfe der akademischen Hilfsorganisationen wieder Fuß fassen. Viele mußten sich in ihren Projekten und Forschungsrichtungen umorientieren und neue Wege einschlagen. Daher ist es auch verfehlt, eine Verlust- und Gewinnrechnung aufzustellen, ist es doch eher unwahrscheinlich, dass die Forscher in der alten Heimat die selben Projekte betrieben hätten und zu vergleichbaren Ergebnissen gekommen wären. Die Wissenschaftler mußten sich auf unterschiedlichste Weise mit der neuen Situation arrangieren: Das konnte Kontinuität der Forschung bedeuteten, aber auch Umorientierung, neue Zusammenschlüsse, in jedem Fall: Lernprozesse. Etliche emigrierte Wissenschaftler wurden durch diese Prozesse der Exilierung, der Immigration und Integration in eine neue Wissenschaftskultur vor allem in den USA zu einer transnational fühlenden und handelnden Elite;20 daraus bezog und bezieht die Internationalisierung der Wissenschaft ihre eigentliche Kraft. ›Transnational‹ bedeutet eine gefühlte Zugehörigkeit zu mehreren Kollektiven. Ob sich der einzelne einer Nation, einer Klasse oder einer Ethnie zuschreibt, er bezieht sich damit auf eine vorgestellte Gemeinschaft (Benedict Anderson), die Normen und Werte festschreibt, an denen man sich orientiert. Das gilt natürlich auch für Wissenschaftler und es läßt sich durchaus von nationalen ›Wissenschaftsstilen‹ sprechen. Der transnationale Wissenschaftler, wie ich ihn hier beschreibe, steht in zwei oder mehreren Wissenschaftskulturen. Wissenschaft wurde nach 1933 jedenfalls zunehmend von Individuen unterschiedlicher Herkunft betrieben, die ihre Erfahrungen aus der Wissenschaftskultur der Heimatländer in einen neuen gemeinsamen Prozeß einbrachten. Es begann nicht nur in der Wissenschaft ein viel20 | Diese Überlegungen nach Krauss, Exilerfahrung, S. 41 (Fn. 3); dort auch weitere Literaturangaben.
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fältiges Überlappen und Überschneiden von Traditionen und Diskursen, eine Auflösung der nur scheinbar festen Grenzen der Herkunftskollektive.21 Es entstand eine ›hybride‹ Wissenschaftskultur: Die Ankommenden bringen daher Erfahrungen mit, die sie in neue Zusammenhänge stellen und dort überprüfen müssen. Dabei entsteht durch die Interaktion mit anderen etwas Neues, das nur in eben dieser speziellen Konstellation denkbar und nicht mehr auf seine ursprünglichen Bestandteile zurückzuführen ist. Wissenstransfer ist nicht linear, sondern vielstimmig, keine »Entwicklung«, sondern ein Konglomerat. Eben auf dieser Erfahrung basierte dann der Wissenstransfer oder Wissenswandel nach Kriegsende. Es handelte sich auch um praktische Neuerungen wie die Erfahrung eines neuen Lehrstils, neuer Formen der Zusammenarbeit, einer anderen Art von Hierarchie. Durch den Wissenschaftleraustausch ließ sich der transnationalen Raum nun auch auf die alte Heimat ausdehnen. Die prominenten Wissenschaftler strömten jedoch keineswegs in Scharen nach Kriegsende in die alte Heimat zurück; viele kamen gar nicht oder, wie etliche der eingangs genannten Wissenschaftler, erst in den sechziger oder siebziger Jahren. Doch wer früh kam, wollte helfen und alte Kontakte aufnehmen. Ein Beispiel ist der Germanist William Gaede, Dekan im Brooklyn College; er schrieb im November 1950 nach einer Gastprofessur in Hamburg an den remigrierten Herbert Weichmann in die Hansestadt: »Es ist ein wunderbares Gefühl, daß man ausgeruht, Europa verdaut habend, und mit heilen Augen wieder in seine Arbeit zurückgeht […]. Aber die vier Wochen strammer Arbeit in Hamburg waren eine gute Grundlage, auf der, glaube ich, weitergebaut werden wird. Ich habe unseres Präsidenten Zusage, daß er jedes Jahr 2-3 Hamburger Studenten […] gebührenfrei ins College nehmen will, nun warte ich auf einen Bericht […], ob mit Hilfe des Konsuls oder der deutsch-amerikanischen Gesellschaft die Finanzierung der Überfahrt und der Aufenthaltskosten für 3 Monate erreicht werden kann. Gegenleistung soll dann sein, daß ebenso viele Brooklyn Studenten gebührenfrei in Hamburg studieren können.«22 Für Gaede, mit Weich21 | Hartmut Kaelble/Martin Kirsch/Alexander Schmidt-Gernig (Hg.), Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2000, darin besonders Kirsch, Wissenschaftler (Fn. 1) 22 | Staatsarchiv Hamburg, Familie Weichmann Nr. 74, Bd. 3, Brief vom 2.11.1950.
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mann bereits aus Berlin vor 1933 bekannt, stellte Remigration keine Alternative dar; er freute sich wieder auf die USA. Der Aufenthalt in Hamburg bedeutete für ihn jedoch den Anfang eines produktiven Austauschs zwischen hüben und drüben. Er war also überzeugt, daß auch seine amerikanischen Studierenden in Hamburg profitieren könnten. Gaede hatte sich nicht – und das ist charakteristisch für Transnationalismus – in ein neues, scheinbar abgeschlossenes nationales Kollektiv eingebunden. Sein transnationaler Raum war die wissenschaftliche Community, die nationale Grenzen überschreiten muß, um produktiv zu sein. In diesem Raum, auch das zeigt das Beispiel von Gaede und Weichmann, wirkten die Netzwerke, die zwischen Emigrierten und Dagebliebenen, zwischen Emigrierten und Remigrierten noch oder wieder existierten. Claus-Dieter Krohn war von durchschnittlich zehn Prozent Rückkehrern aus der Wissenschaft ausgegangen. Doch wie mein Sample zu München zeigt,23 gab es an den drei Münchner Hochschulen (LMU, TH/ TU, Hochschule für Politik) 34 Exilrückkehrer und mindestens 21 zeitweilige Gastprofessoren. Hinzu kommen die Gastvortragenden. Das ist ein gutes Drittel von 160 Personen, die sich im Biographischen Handbuch der deutschsprachigen Emigration mit München-Bezug finden lassen. Die Tätigkeit solcher transatlantischer Gastdozenten, die anfangs oft aus den USA mitfinanziert wurde, fand in einem hochbrisanten politischen Umfeld stattfand: Kalter Krieg und bundesdeutsche Westorientierung, Hegemonialstreben der USA und wissenschaftlicher Wettkampf mit der UdSSR grundierten diese Jahre nach 1945. Die USA hatten Interesse an Reeducation und Demokratieerziehung in Deutschland und Österreich. Dort grassierte aber schnell die Furcht vor einem Brain-drain in die USA. Etliche Wissenschaftler vor allem aus den Bereichen Politikwissenschaft und Amerikanistik waren überdies eng in US-amerikanische Politikprogramme bis hin zu Geheimdienstaktivitäten eingebunden. ›Kulturaustausch‹ war nach 1945 ein genuines Moment amerikanischer Außenpolitik. Anfang der sechziger Jahre fasste das bayerische Kultusministerium die Ergebnisse einer Umfrage zu den Erfahrungen mit Gastprofessoren so zusammen: Die meisten Gastprofessoren seien des Deutschen mächtig gewesen. Die Studenten schätzten deren Anregungen. Gegeneinladungen – die das Finanzministerium fürchtete, könnten sie doch den »Lehr23 | Krauss, Exilerfahrung, S. 45f. (Fn. 3)
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betrieb stören« – seien erwünscht. »Ergänzend muß darauf hingewiesen werden, daß der Sinn des Besuchs von Gastprofessoren nicht allein in der Abhaltung von Vorlesungen durch die Gastprofessoren besteht, sondern auch im Gedankenaustausch über Probleme und Methoden der Forschung und nicht minder im gegenseitigen sich Kennenlernen, was für die erfolgreiche wissenschaftliche Zusammenarbeit im internationalen Raum nicht unterschätzt werden darf.« Die Universitäten und mit ihnen das Kultusministerium sahen also sehr genau die möglichen Erträge von Gastprofessuren: Neue wissenschaftliche Forschungsergebnisse, Informationen über grundsätzlichere Fragen des Fachs und internationale Kontakte. Gastprofessuren, Vortragsreisen und Besuche spielten eine zentrale Rolle in dem Prozess, Deutschland wieder in die wissenschaftliche Weltcommunity zu integrieren. Die Sprache dieses Wissenschaftslandes hatte gewechselt und es hatte sich seit den frühen dreißiger Jahren bemerkenswert entwickelt. Nationalistischer Separatismus wurde nicht länger akzeptiert. Das wichtige Thema der Nachkriegsjahre sollte daher nicht die Remigration der verfolgten Wissenschaftler in eine »deutsche« Wissenschaftswelt sein. Der spannende Prozess ist bis heute der wissenschaftliche Austausch und die wissenschaftliche Kommunikation in einer globalen wissenschaftlichen Welt. In diesem Prozess kann man die Emigranten und Remigranten als Vorläufer transnationaler hybrider Kulturen, als produktive Mediatoren des Wissens betrachten.
III. R esümee Remigranten blieben einzelne handelnde Individuen: Es gab keineswegs eine nationale ›Pflicht‹ zur Rückkehr und sie war auch nicht der Normalfall; dies war nach Vertreibung und Mord nicht möglich. Die Tatsache, dass viele deutsche Emigranten Wiederauf bau, Modernisierung und Internationalisierung Deutschlands unterstützten, war vielmehr ein Glücksfall. Zu fragen wäre in Zukunft daher nicht nur nach den Emigranten selbst, sondern auch nach der »Second Generation«, ihrem Wirken zwischen den Welten sowie nach den langen Linien der Innovationen in den 1960er und 1970er Jahren. Wie aus dem Blick auf heutige Transformationsgesellschaften bekannt ist, beginnen etliche Entwicklungen erst
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nach einer Inkubationszeit von 25 Jahren sichtbar zu werden.24 Die Remigranten und Gastprofessoren in den Bereichen Politik und Wissenschaft bildeten jedenfalls eine wichtige Stimme in einem Konzert, das zur Entwicklung einer stabilen Nachkriegsdemokratie führte.
24 | Als Beispiel Sarah Scholl-Schneider, Mittler zwischen Kulturen. Biographische Erfahrungen tschechischer Remigranten nach 1989, Münster u.a. 2011.
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Augsberg, Steffen Prof., Dr. iur., studierte Rechtswissenschaften in Trier und München und wurde von der Juristischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg promoviert. Nach dem Assessorexamen ging er als wissenschaftlicher Assistent an das Institut für Staatsrecht der Universität zu Köln. 2011 habilitierte er sich dort und folgte sodann dem Ruf auf den Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Recht des Gesundheitswesens, an der Universität des Saarlandes. 2013 wechselte er auf eine Professur für Öffentliches Recht an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Seite 2016 ist er Mitglied des Deutschen Ethikrats.
Breunung, Leonie Dr. iur., Dipl.-Sozialw., studierte Sozialwissenschaften in Bochum und Göttingen. Nach ihrem Diplomexamen war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der juristischen Fakultät Freiburg an der Durchführung eines von der Volkswagenstiftung geförderten Forschungsprojekts zur Reform der juristischen Eingangsphase beteiligt. Von dort wechselte sie als wissenschaftliche Assistentin bzw. Hochschulassistentin an den juristischen Fachbereich der Universität Hannover und promovierte an der Universität Amsterdam. In Hannover war sie des Weiteren als wissenschaftliche Mitarbeiterin bzw. ist sie als freiberufliche Wissenschaftlerin u.a. an der Durchführung des von der DFG geförderten Forschungsprojekts zur Emigration der deutschsprachigen Rechtwissenschaft(ler) ab 1933 beteiligt, woraus eine Reihe von Veröffentlichungen hervorgingen u.a. der unter diesem Titel 2012 erschienene erste Band eines bio-bibliographischen Handbuchs (zusammen mit Manfred Walther).
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Gerhardt, Uta em. Prof., Dr. rer. soc., studierte Soziologie, Geschichte, Philosophie und Psychologie in Berlin und Frankfurt. Sie forschte und lehrte u.a. an den Universitäten Konstanz, Berkeley, New York (NYU), Harvard, London und war zuletzt Professorin für Allgemeine Soziologie am Max Weber Institut der Universität Heidelberg. Zu ihren einschlägigen Veröffentlichungen zu den Themenkreisen »Max Weber und Talcott Parsons« sowie »Emigration und Remigration« gehören die Bände: Soziologie der Stunde Null. Zur Gesellschaftskonzeption des amerikanischen Besatzungsregimes 1944-1945/46 (2005), Denken der Demokratie. Die Soziologie im atlantischen Transfer des Besatzungsregimes (2007), Nie mehr zurück in dieses Land. Augenzeugen berichten über die Novemberpogrome 1938 (mit Thomas Karlauf, 2009/2011, übersetzt in 5 Sprachen), Soziologie im zwanzigsten Jahrhundert. Studien zu ihrer Geschichte in Deutschland (2009), Talcott Parsons – An Intellectual Biography (2010) sowie die Aufsätze »Herrschaft – Religion – Politik: Der dreifache Ort des Charisma im Werk Max Webers« und »Wiederkehr der Vernunft. Demokratieverständnis der Reeducation«, jeweils im Sammelband »Wirklichkeit(en) – Soziologie und Geschichte« (2014).
Günther, Frieder Dr. phil., studierte Neuere Geschichte, Neuere deutsche Literatur und Öffentliches Recht in Tübingen und Grenoble. Er wurde am Seminar für Zeitgeschichte der Universität Tübingen mit einer Studie über die Entwicklung der bundesdeutschen Staatsrechtslehre im Zeitraum von 1949 bis 1970 promoviert, die als eines der fünf Bücher des Jahres 2004 von der »Neuen Juristischen Wochenschrift« ausgezeichnet wurde. Im Jahr 2008 war er Gastwissenschaftler an der University of North Carolina at Chapel Hill und 2014 am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Außerdem lehrte und forschte er 2012 bis 2014 an der University of California, Davis. Zur Zeit ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte München – Berlin und arbeitet dort an Forschungsprojekten zur Geschichte des Bundesinnenministeriums sowie zu den Verwaltungskulturen in Deutschland zwischen 1920 und 1970.
Heß, Philipp Dr. phil., studierte Geschichte, Geographie, Staatswissenschaften und Erziehungswissenschaften in Erfurt und Jena. Nach seinem Ersten Staatsexamen promovierte er als Mitglied der Doktorandenschule des Je-
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na-Center Geschichte des 20. Jahrhunderts und Stipendiat der JohannesRau-Gesellschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und fertigte dort seine Dissertationsschrift zur Lebensgeschichte des deutsch-amerikanischen Verwaltungsjuristen, Hochschullehrers und Bildungsmanagers Hans Simons an. Nach dem Zweiten Staatsexamen wurde er Lehrer an einem Thüringer Gymnasium. Veröffentlichungen u.a. »Ein deutscher Amerikaner. Der kosmopolitische Demokrat Hans Simons 18931972, (= Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts, hg. von Norbert Frei), Bd. 24), Göttingen 2017 (i. D.)«.
Jestaedt, Matthias Prof., Dr. iur., studierte Rechtswissenschaften in Bonn, wo er auch promoviert wurde und habilitierte. Nach Lehrstuhlvertretungen in Bonn, Köln, Bochum, Freiburg und Erlangen-Nürnberg bekleidete er von 2002 bis 2011 eine Professur für Öffentliches Recht an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, bevor er 2011 einem Ruf an die Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i.Br. folgte. Dort ist er Direktor der Abteilung 3 (Rechtstheorie) des Instituts für Staatswissenschaft und Rechtsphilosophie sowie Leiter sowohl der Hans-Kelsen-Forschungsstelle als auch der Forschungsstelle für Kirchenrecht und Staatskirchenrecht. Er ist Mit-Herausgeber der »JuristenZeitung« (seit 2006), Herausgeber der »Hans Kelsen Werke« (2007ff.) und Vorstandsmitglied der Bundesstiftung »Hans Kelsen-Institut«, Wien.
Krauss, Marita Prof. Dr., studierte an der Ludwig-Maximilians-Universität München, wo sie im Fach Neuere und Neueste Geschichte promovierte und habilitierte. Sie leitete in diesen Jahren mehrere große Forschungs- und Ausstellungsprojekte zur Münchner Stadtgeschichte. Von 1995 bis 2008 lehrte sie als Professorin an den Universitäten München, Bremen und Wien, seit 2008 ist sie Lehrstuhlinhaberin für Europäische Regionalgeschichte sowie Bayerische und Schwäbische Landesgeschichte an der Universität Augsburg. Sie forscht seit Beginn der 1980er Jahre zum Thema Remigration und veröffentlichte dazu etliche Studien, u.a. »Heimkehr in ein fremdes Land. Geschichte der Remigration nach 1945« (2001). Zu ihren weiteren Themenschwerpunkten gehört u.a. die Integration, die Umweltund Landschaftveränderung, die Geschichte des Nationalsozialismus in der Region sowie die Unternehmer- und Unternehmensgeschichte.
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Krehan, Katrin Dr. iur., studierte Rechtswissenschaften in Saarbrücken, Lausanne und München, wo sie auch das Erste Juristische Staatsexamen ablegte. Das Zweite Juristische Staatsexamen absolvierte sie am OLG Zweibrücken. Nach der Promotion an der Humboldt-Universität zu Berlin über »Die Reintegration von Juristen jüdischer Herkunft an den Berliner Universitäten nach 1945« (erschienen 2007) war sie als Assistentin am Lehrstuhl für Völker- und Europarecht an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer tätig. Heute wirkt sie als Administrative Leiterin an der Law School der Universität St. Gallen.
Nicolaysen, Rainer Prof., Dr. phil., wurde 1996 mit einer geschichtswissenschaftlichen Arbeit über den Politikwissenschaftler (und Remigranten) Siegfried Landshut an der Universität Hamburg promoviert. Nach der Habilitation 2002 nahm er mehrere Gastprofessuren in den USA wahr; seit 2010 ist er Professor für Neuere Geschichte und Leiter der Arbeitsstelle für Universitätsgeschichte an der Universität Hamburg sowie seit 2011 Vorsitzender des Vereins für Hamburgische Geschichte. Publiziert hat er insbesondere zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, zur Geschichte des deutschsprachigen Exils und der Remigration, zur Homosexualitätsgeschichte und zur Hamburgischen Geschichte, darunter biographische Studien über die Emigranten Ernst Cassirer, Albrecht Mendelssohn Bartholdy, Magdalene Schoch, Richard Salomon, Curt Bondy und Thomas Mann.
Platz, Johannes Dr. phil., M.A., studierte Geschichtswissenschaften und Philosophie an der Universität Trier, die er mit einem Magister in Geschichte über die Institutionen- und Ideengeschichte der Militärpsychologie in Deutschland vom Kaiserreich bis zur jungen Bundesrepublik abschloss. Er wurde 2008 mit einer geschichtswissenschaftlichen Arbeit über »die Praxis der kritischen Theorie«, in der er die Auftragsforschung am remigrierten Institut für Sozialforschung untersuchte, an der Universität Trier promoviert. Nach der Promotion arbeitete er zunächst als wissenschaftlicher Referent in der Geschäftsstelle des Wissenschaftsrates. Seit 2011 ist er Referent für Gewerkschaftsgeschichte und Geschichte der Arbeitsbeziehungen im Referat Public History des Archivs der Friedrich-Ebert-Stiftung. Zunächst leistete er Netzwerkarbeit an der Schnittstelle zwischen Archiv, Wissenschaft und Ge-
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werkschaften, seit 2013 bearbeitet er die Edition »Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung im 20. Jahrhundert«. Publiziert hat er zur Ideen- und Praxisgeschichte der kritischen Theorie, der Militärpsychologie und -soziologie, der Unternehmensgeschichte, des Automationsdiskurses und der Angestelltensoziologie sowie zur Gewerkschaftsgeschichte.
Seckelmann, Margrit Priv.-Doz., Dr. iur., studierte Rechts- und Geschichtswissenschaften in Heidelberg und Berlin (FU). Nach ihrem Ersten Juristischen Staatsexamen, ihrem Magisterexamen der Geschichtswissenschaften und ihrem Zweiten Juristischen Staatsexamen (alles in Berlin) promovierte sie im institutionellen Kontext des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte an der Goethe-Universität Frankfurt a.M.. Sie habilitierte sich Ende 2015 an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer und nahm im Sommersemester 2016 eine Lehrstuhlvertretung an der Ruhr-Universität Bochum und im Wintersemester 2017/18 eine solche an der Universität Bielefeld wahr. Sie ist Geschäftsführerin des Deutschen Forschungsinstituts für öffentliche Verwaltung in Speyer. Ihre einschlägigen Veröffentlichungen zur Remigration umfassen u.a. eine dreiteilige Aufsatzserie über Fritz Morstein Marx, die in der Zeitschrift »Die öffentliche Verwaltung« (2013, 2014 und 2017) erschienen ist.
Söllner, Alfons em. Prof., Dr. phil, studierte Politikwissenschaft, Philosophie, Soziologie und Literaturwissenschaft in Regensburg, München und Harvard, 1977 Promotion an der LMU München, 1986 Habilitation an der FU Berlin, 1990/1 Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Er war von 1994 bis 2012 Professor für politische Theorie und Ideengeschichte an der Technischen Universität Chemnitz und dort zudem von 1994-97 Prorektor der TU. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Wirkungsgeschichte der Hitler-Flüchtlinge, die Geschichte der Politikwissenschaft, die Politische Theorien im 20. Jahrhundert, die Politische Ästhetik und die Flüchtlingspolitik. Zu seinen einschlägigen Publikationen gehören u.a. die Bücher: Peter Weiss und die Deutschen (1988), Deutsche Politikwissenschaftler in der Emigration (1996), Fluchtpunkte. Studien zur politischen Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts (2006) und der Herausgeberband Deutsche Frankreich-Bücher aus der Zwischenkriegszeit (2012).
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Unger, Corinna R. Prof., Dr. phil., studierte Geschichte, Politik, Historische Anthropologie und Soziologie in Freiburg i.Br., Berlin und Albany, NY. Nach ihrer Promotion an der Universität Freiburg i.Br. wurde sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Historischen Institut Washington, DC, und anschließend Associate Professor of Modern European History an der Jacobs University Bremen. Sie ist seit 2016 Professor of Global and Colonial History (19th and 20th century) am European University Institute in Florenz. Zu ihren Arbeiten gehören u.a. Veröffentlichungen zur Geschichte des deutschsprachigen Exils (Reise ohne Wiederkehr: Leben im Exil, 1933-1945, 2009) und zu Arnold Brecht (mit Claus-Dieter Krohn, Hg., Arnold Brecht, 1884-1977: Demokratischer Beamter und politischer Wissenschaftler zwischen Berlin und New York, Stuttgart 2006).
Geschichtswissenschaft Torben Fischer, Matthias N. Lorenz (Hg.)
Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945 2015, 494 S., kart. 34,99 E (DE), 978-3-8376-2366-6 E-Book PDF: 34,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-2366-0
Debora Gerstenberger, Joël Glasman (Hg.)
Techniken der Globalisierung Globalgeschichte meets Akteur-Netzwerk-Theorie 2016, 296 S., kart. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3021-3 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3021-7
Alban Frei, Hannes Mangold (Hg.)
Das Personal der Postmoderne Inventur einer Epoche 2015, 272 S., kart. 19,99 E (DE), 978-3-8376-3303-0 E-Book PDF: 17,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3303-4
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Geschichtswissenschaft Manfred E.A. Schmutzer
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Pascal Eitler, Jens Elberfeld (Hg.)
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Christoph Weckenbrock
Schwarz-Grün für Deutschland? Wie aus politischen Erzfeinden Bündnispartner wurden Juli 2017, 256 Seiten, kart., 22,99 €, ISBN 978-3-8376-4043-4, E-Book: 20,99 €
Zwischen Union und Grünen lagen einst Welten. Längst aber sind aus den früheren Erzfeinden politische Bündnispartner geworden – bald auch im Bund? »Was in den achtziger und neunziger Jahren für beide Seiten abwegig erschien, ist heute immer noch ungewöhnlich, aber nicht unmöglich. Dieses Buch erzählt von der langsamen Auflösung des Tabus Schwarz-Grün – oftmals spannend wie ein Polit-Thriller.« (Ole von Beust) »Weckenbrock liefert hier kein flammendes Plädoyer für Schwarz-Grün im Bund. Er zeigt vielmehr, wie dieses Bündnismodell überhaupt in den Bereich des Möglichen rücken konnte. Dabei ist ihm ein im besten Sinne aufregendes Sittenbild bundesdeutscher Zeit- und Parteiengeschichte gelungen.« (Rezzo Schlauch)
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