Demokratie nach 1945: Perspektiven auf Geschichte, Politik und Recht in Österreich [1 ed.] 9783205215974, 9783205215967


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Demokratie nach 1945: Perspektiven auf Geschichte, Politik und Recht in Österreich [1 ed.]
 9783205215974, 9783205215967

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Christoph Kühberger, Reinhard Heinisch, Reinhard Klaushofer, Margit Reiter (Hg.)

DEMOKRATIE NACH 1945 Perspektiven auf Geschichte, Politik und Recht in Österreich

Böhlau Verlag Wien Köln

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022 Böhlau Verlag, Zeltgasse 1, A-1080 Wien, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Das Werk ist als Open-Access-Publikation im Sinne der Creative-Commons-Lizenz BY-NC-ND International 4.0 („Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitung“) unter dem DOI https://doi.org/10.7767/9783205215974 abzurufen. Um eine Kopie dieser Lizenz zu sehen, besuchen Sie https://creativecommons.org/licenses/ by-nc-nd/4.0/. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den durch diese Lizenz erlaubten Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Satz: Bettina Waringer, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN Print: 9783205215967 ISBN OpenAccess: 9783205215974

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INHALT

Grußwort Demokratie nach 1945 Perspektiven auf Geschichte, Politik und Recht in Österreich . . . . . . . . 11

Einleitung Christoph Kühberger/Reinhard Heinisch/ Reinhard Klaushofer/Margit Reiter

Zur Entwicklung und zum Stand der Demokratie und ihrer Narrative in Österreich nach 1945 – eine Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

Kapitel I Formierung der Demokratie nach 1945 Günther Sandner

Die Erste Republik in der Zweiten Republik. Parteipolitische Kontroversen um die österreichische Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Reinhard Klaushofer

Narrative der Demokratie – Rechtsdiskurse und Interpretationen zwischen Erster und Zweiter Republik . . . . . . . . . . . . 37 Margit Reiter

Wie wird man Demokrat*in? Narrative zur Demokratie in Österreich nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49

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Gudrun Hentges

Narrative gelungener Demokratie am Beispiel der Bundeszentrale für Heimatdienst/politische Bildung . . . . 65

Kapitel II Entwicklungslinien zwischen 1945 und 2020 Christian Heuer

Geschichte der Demokratie oder demokratische Geschichte(n)? Geschichtsschulbücher als kontrollierte Konstruktionen und kontrollierende Konstrukteure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Christoph Kühberger

Demokratiegeschichte als big data und codes. Historische Narrative von Lehramtsstudierenden in Österreich . . . . . . . 99 Thomas Hellmuth

Eingezäunte Freiheit. Der Demokratie-Begriff in Diskursen der Politischen Bildung seit 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Dirk Rupnow

Demokratie ohne Demokratieerzählung? Zu einer Leerstelle der österreichischen Zeitgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Benjamin Kneihs

Narrative der Demokratie – der stabilisierende Charakter des Rechts . . . 153 Reinhard Heinisch/Susanne Rhein

Narrativ gegen die Angst um die Demokratie: die institutionalistische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

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Kapitel III Herausforderungen in der Gegenwart – Verantwortung für die Demokratie Béatrice Ziegler

Warum Demokratie schulische Politische Bildung braucht. Zum steinigen Weg der Didaktik der Politischen Bildung in der Schweiz . 203 András Jakab

Krisen- und Erfolgsnarrative des Bundes-Verfassungsgesetzes . . . . . . . 217 Zoe Lefkofridi/Atusa Stadler/Nadine Zwiener-Collins

Geschlecht und Demokratie in Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Thomas Steinmaurer

Digitale Transformationen und Demokratie. Herausforderungen für Politik und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . 253

Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267

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GRUSSWORT

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DEMOKRATIE NACH 1945 PERSPEKTIVEN AUF GESCHICHTE, POLITIK UND RECHT IN ÖSTERREICH

Sehr geehrte Leserinnen und Leser! Anlässlich unseres Jubiläums „100 Jahre Salzburger Landesverfassung“ hat sich der Salzburger Landtag die Aufgabe gestellt, sich bewusst mit dem Thema Demokratie zu beschäftigen und die Debatte über deren Zustand und Zukunft zu führen. Bei der dabei entstandenen Kooperation mit der Universität Salzburg verfolgten wir das Ziel, wissenschaftliche Erkenntnisse in die politische Praxis des Landtages einfließen zu lassen und darüber hinaus zu einem größeren Demokratiediskurs beizutragen. Warum droht die Erzählung vom Gelungenen unserer demokratischen Entwicklung hinter einem immer höher werdenden Berg an – durchaus bestehenden – Mankos zu verschwinden? Die sich verbreitende Sorge um die Demokratie ist tatsächlich berechtigt. Die Frage nach der Belastbarkeit dieser für uns im Westen zu selbstverständlich gewordenen Staats- und Gesellschaftsform erhält in der Pandemie zusätzliche Brisanz. Die Demokratie „liefere nicht mehr“, heißt es zu oft in Konsumentenmanier. Desinteresse an politischen Abläufen und Notwendigkeiten sowie Frustration sind die Folge. Da kommt nun die viel zitierte, ja strapazierte Politikverdrossenheit ins Spiel. Bezieht sich diese primär auf die Mitwirkung in politischen Parteien und auf den Verlust des Vertrauens in die Parteipolitiker*innen oder hat der Rückgang der organisierten Partizipation bereits zu einem Legitimationszweifel an der Demokratie als Gesellschaftsmodell geführt? Demokratie benötigt ein Minimum an Beteiligungsbereitschaft und gesellschaftlicher Solidarität über die unterschiedlichen Interessen, Lebensstile und Streitfragen hinweg. „Wutbürger“, die heute als „Mutbürger“ auftreten, das oft tiefe Misstrauen gegen den Staat oder das reflexartige Eliten-Bashing sind Zeugnisse einer in dieser Form neuen Unversöhnlichkeit. Und: Man trifft auf sie in allen gesellschaftlichen Gruppen. Demokratie ist eine Sache der Vielen und – niemals fertig. Demokratisch verfasste Gemeinwesen sind der Dialektik von Freiheit und Grenzziehung unterworfen. Sie entwickeln sich nicht linear, sondern stets geht dies mit Brüchen einher. Das heißt auch: Demokratie muss weiter lernen, muss selbstkritisch bleiben und die Schwächen ausbessern.

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Brigitta Pallauf

Ich bedanke mich bei den Autorinnen und Autoren für die vorliegenden Beiträge. Sie verdienen Beachtung! Danke der Herausgeberin/den Herausgebern Christoph Kühberger, Reinhard Heinisch, Reinhard Klaushofer und Margit Reiter für die umsichtige Ausrichtung der Tagung und die Zusammenstellung des vorliegenden Bandes. Nehmen Sie, sehr geehrte Leserinnen und Leser, das hier versammelte Wissen in Ihr Wirken als Bürgerinnen und Bürger mit. Drin Brigitta Pallauf Landtagspräsidentin

© Manuel Horn

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EINLEITUNG

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Christoph Kühberger/Reinhard Heinisch/Reinhard Klaushofer/Margit Reiter

ZUR ENTWICKLUNG UND ZUM STAND DER DEMOKRATIE UND IHRER NARRATIVE IN ÖSTERREICH NACH 1945 – EINE EINFÜHRUNG

Narrative und die mit ihnen in Verbindung stehenden Diskurse können als sinnvermittelnde Instanzen verstanden werden, die aufgrund ihrer Struktur dazu imstande sind, die Wahrnehmung ganz unterschiedlicher Aspekte einer Gesellschaft zu beeinflussen. Entscheidend dabei ist, welche historischen bzw. politischen Narrative und diskursive Schwerpunktsetzungen innerhalb eines bestimmten gesellschaftlichen Rahmens Gültigkeit für sich beanspruchen können, sich im Ergebnis breit durchsetzen und so letztlich Sinn stiften. Aus einer wissenschaftlichen Perspektive heraus gilt es jedoch immer auch, derartige Strukturen über ihre Funktionen, ihre Akteur*innen und ihre Praktiken beschreibbar zu machen. Die hier vorliegende Dokumentation der Ergebnisse der interdisziplinären Tagung „Narrative gelungener Demokratie? Geschichte – Politik – Recht“, die im Februar 2021 an der Universität Salzburg als OnlineVeranstaltung umgesetzt wurde, versucht daher danach zu fragen, wie Demokratie in Österreich verhandelt wurde bzw. wird und welche Positionen sich dabei durchsetz(t)en. Wer sind bzw. waren Träger*innen derartiger Narrative und Diskurse? Unter welchen gesellschaftlichen Einflüssen formierten sie sich? Bilden sich überhaupt dominante Erzählungen über die Entwicklung der Demokratie aus, die in der Gesellschaft geteilt werden? Demokratie wird in Österreich heute als Selbstverständlichkeit hingenommen, demokratische Rechte werden gelebt, und ein Ausbau in bestimmten Bereichen wird durchaus vehement gefordert. Doch hat es den Anschein, dass es keine bzw. sehr wenige positive Bilder zu dem Begriff Demokratie gibt, die allgemein akzeptiert werden. Politische Skandale, radikale Töne aus den Wahlkämpfen und verschiedene Krisen der letzten Jahre haben diese Tendenz noch verstärkt und lassen die an sich bereits komplexe Situation noch undurchsichtiger werden. Es ist daher sinnvoll innezuhalten, in die Vergangenheit zurückzublicken und Fragen zu stellen: Welche Rolle spielt die (Neu-)Formierung der Demokratie nach 1945 in Österreich? Welche Veränderungsprozesse haben ab 1945 dazu geführt, dass sich bestimmte Sichtweisen auf die Demokratie in

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Kühberger/Heinisch/Klaushofer/Reiter

Österreich entwickelt haben? Wie zeigen sich die Auswirkungen davon im Umgang mit Demokratie in der heutigen politischen Kultur Österreichs? In der Geschichtstheorie ist unstrittig, dass Menschen für ihre Orientierung in Gegenwart und Zukunft auf historische Narrative, also auf Erzählungen über die Vergangenheit, zurückgreifen. Für das frühe 21. Jahrhundert ist jedoch zu beobachten, dass solche historischen Erzählungen über die Entwicklung der Demokratie in Österreich weitgehend fehlen. Oftmals sind es eher präsentistische politische Narrative und Diskurse, die sich um Spezialfragen (etwa zu Gewaltenteilung, Verfassung, Wahlrecht o. Ä.) drehen und dabei vergessen lassen, dass hier immer auch an die Grundpfeiler der Demokratie gerührt wird. Über unterschiedliche Perspektiven gesellschafts- und rechtswissenschaftlicher Disziplinen auf Geschichte, Politik und Recht versucht der vorliegende Band sich dieser Problemlage zu nähern. Ausgehend von der Diagnose, dass die Demokratie in Österreich seit 1945 als nicht gescheitert gilt, sondern als Regierungs- und Lebensform einen breiten Rückhalt in der Bevölkerung besitzt, könnte man sie durchaus als gelungen klassifizieren, ohne Schwächen oder die Notwendigkeit von Weiterentwicklungen leugnen zu wollen. Die Beiträge im vorliegenden Band versuchen, über exemplarische Einblicke, Vergleiche und ein Herausarbeiten von ganz unterschiedlichen Prozessen Aussagen zu den Entwicklungen und zum Stand der Demokratie in Österreich zu treffen. Die in drei Kapitel zusammengefassten Beiträge widmen sich dabei der „Formierung der Demokratie nach 1945“, den „Entwicklungslinien zwischen 1945 und 2020“ sowie den „Herausforderungen in der Gegenwart“.

1. FORMIERUNG DER DEMOKRATIE NACH 1945

In der ersten thematischen Bündelung von Beiträgen werden Grundlagen der Neuorganisation der österreichischen Demokratie nach 1945 diskutiert. Damit rückt insbesondere die demokratische Formierungsphase der Zweiten Republik in den Mittelpunkt: Was waren nach dem Ende des Nationalsozialismus die Grundlagen des Sprechens über Demokratie? Wer spricht wie? Worauf bezieht man sich dabei? Welche Diskurse und Vorstellungsgebäude setzten sich damals durch? Der Politikwissenschaftler Günther Sandner eröffnet diese Diskussion mit einem Einblick in parteipolitische Kontroversen um die Demokratie in Österreich nach 1945 und zeigt auf, dass die Erste Republik dabei oft als Negativfolie fungierte. Reinhard Klaushofer bespiegelt dies aus rechtswissenschaftli-

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Eine Einführung

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cher Perspektive, indem er Rechtsdiskurse und Interpretationen der Ersten und Zweiten Republik vergleichend herausarbeitet. Er prüft, ob rechtswissenschaftliche Narrative und Bewertungen der Ersten Republik gängigen allgemeinhistorischen Interpretationen der Zweiten Republik entgegenstehen. Margit Reiter wendet sich in ihrer zeitgeschichtlichen Betrachtung der Frage zu, wie man im postnationalsozialistischen Österreich Demokrat*in wurde bzw. werden sollte. Sie geht dazu Narrativen zur Demokratie in der unmittelbaren Nachkriegszeit nach und zeigt anhand verschiedener Diskurs-Arenen (politische Nachkriegseliten, Alliierte, ehemalige Nationalsozialist*innen) Konzepte und Strategien der Demokratisierung auf. Einen Blick nach Deutschland und zur dort in den Nachkriegsjahren etablierten Bundeszentrale für Heimatdienst/politische Bildung gewährt Gudrun Hentges in ihrem Beitrag. Sie untersucht die Gründungsgeschichte dieser Institution, die trotz personeller NS-Kontinuitäten und unterschiedlicher Vorstellungen der Akteur*innen eine entscheidende Rolle bei der Formierung von politischer Bildung in der Bundesrepublik Deutschland einnahm.

2. ENTWICKLUNGSLINIEN ZWISCHEN 1945 UND 2020

In einer zweiten thematischen Setzung wird die Entwicklung der Demokratie über eine Rückschau und über Zeitdiagnosen diskutiert. Anhand von verschiedenen gesellschaftlichen und fachwissenschaftlichen Interpretationen der Entwicklungslinien der österreichischen Demokratie werden die dabei aktivierten Narrative herausgearbeitet und einer kritischen Analyse und Reflexion zugeführt: Welche Narrative, die die Entwicklungen von 1945 bis heute interpretieren, können beobachtet werden? Welche (Master-)Narrative haben sich in Wissenschaft und Öffentlichkeit etabliert oder werden hinterfragt? Welche Angebote zur Wahrnehmung der Vergangenheit und Gegenwart werden damit gemacht? Welche Wahrnehmung kann man in Medien, im politischen Diskurs und in der Bevölkerung ausmachen? Welche Rolle spielt dabei das Recht? Zunächst werden Annäherungen aus geschichts- und politikdidaktischer Sicht geboten. Christian Heuer beschäftigt sich mit den Herausforderungen von Konstruktionen in Geschichtsschulbüchern und mit dem Umgang mit Geschichte in demokratischen Gesellschaften aus geschichtsdidaktischer Perspektive. Er plädiert dabei für eine notwendige partizipative Form der Geschichtsschreibung, in der das sich stets erneuernde „Werden“ von Demokratie und die jeweils individuellen Erfahrungen der Schüler*innen Platz fin-

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Kühberger/Heinisch/Klaushofer/Reiter

den können. C ­ hristoph Kühberger versucht dagegen, über einen Zugang der Digital Humanities geschichtliche Darstellungen von Lehramtsstudierenden zur Demokratie in Österreich hinsichtlich deren Erzählmuster und Referenzpunkte zu befragen, um über eine digital organisierte Beschau von big data und eine herkömmliche kategoriale Inhaltsanalyse Aussagen zu verfügbaren geschichtlichen Demokratie-Narrativen von angehenden Lehrer*innen treffen zu können. Wiederum etwas anders gelagert ist der Beitrag von Thomas Hellmuth. Er widmet sich in seinem Beitrag „Eingezäunte Freiheit“ der Domäne der Politischen Bildung ab 1945 und diskutiert vor allem das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft und die daraus erwachsenden Herausforderungen für die schulische Praxis. Eine prononciert zeithistorische Perspektive nimmt Dirk Rupnow ein, der die Frage nach der narrativen Umsetzung von Demokratiegeschichte in der österreichischen Geschichtswissenschaft aufwirft und dabei einige „Leerstellen“ findet. Diesen tendenziell geschichtswissenschaftlich ausgerichteten Beiträgen folgt eine rechtswissenschaftliche Darstellung von Benjamin Kneihs, der die Bausteine des demokratischen Grundprinzips der österreichischen Bundesverfassung umreißt, um zu zeigen, wie sie verschiedenste Ebenen des Rechtssystems durchwirkt und damit schwerlich, auch im gesellschaftlichen Leben, zu unterlaufen ist. Den Abschluss des Kapitels bildet der Beitrag von Reinhard Heinisch und Susanne Rhein, die sich mit der anwachsenden Unruhe in westlichen Demokratien beschäftigen, mit der Erosion von demokratischen Werten und den Ideen eines radikalen politischen Wandels. Sie binden ihre Überlegungen dazu an empirische Befunde zu autoritären und populistischen Einstellungen in Österreich und bieten damit einen aktuellen Befund zum politischen Zeitgeist.

3. HERAUSFORDERUNGEN IN DER GEGENWART – VERANTWORTUNG FÜR DIE DEMOKRATIE

Im dritten Kapitel werden Gegenwartsphänomene und Zukunftserwartungen fokussiert. Aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen und politischer Entwicklungen stellt sich die Frage, ob sich dabei eine „Postdemokratie“ durchsetzt: Relativieren in der Zwischenzeit tatsächlich unterschiedlichste PR-taugliche Narrative partizipative bzw. kritisch aushandelnde Momente in Demokratien? Wie wird die Wahrnehmung von Demokratie und das Handeln in Demokratien davon mitbestimmt? Welche traditionellen bzw. digitalen Formate werden dafür von wem und wie herangezogen? Welche Verantwortung tragen diesbe-

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Eine Einführung

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züglich Politiker*innen, Medienvertreter*innen und Wissenschaftler*innen? Welche Reaktion gibt es darauf in den Debatten der Politischen Bildung? Am Beginn des Kapitels steht eine politikdidaktische Perspektive aus der Schweiz. Béatrice Ziegler thematisiert anhand der Schweizer Entwicklungen, warum die Schule Politische Bildung braucht. Sie argumentiert, dass eine Didaktik der Politischen Bildung alleine Demokratie nicht garantieren kann, aber dazu beiträgt, bei künftigen Bürger*innen ein Bewusstsein für die Notwendigkeit von gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen in heterogenen Settings anzubahnen, damit sie „informierte und gut begründete Entscheidungen für sich fällen“ und ihre „Interessen und Werthaltungen in die politischen Prozesse einbringen können“. Der Rechtswissenschaftler András Jakab greift im Anschluss nochmals die Krisen- und Erfolgsnarrative des Bundesverfassungsgesetzes auf. Er untersucht, warum bestimmte Elemente ignoriert oder eben überbetont wurden und welche Diskurse dafür verantwortlich zeichnen. Zoe Lefkofridi, Atusa Stadler und Nadine Zwiener-Collins fragen ihrerseits nach dem Zusammenhang von Geschlecht und Demokratie in Österreich. Sie vermessen die Verteilung der Geschlechter hinsichtlich der Beteiligung an der Politik und legen Gründe für den Frauen-Gap in der Repräsentation dar. Trotz eines scheinbaren Anstieges von weiblicher politischer Repräsentanz in der Politik (etwa auf Bundesebene) hinken Frauen in den Gemeindevertretungen zahlenmäßig ihren männlichen Kollegen weit abgeschlagen hinterher. Der Beitrag des Kommunikationswissenschaftlers Thomas Steinmaurer zu „Digitalen Transformationen“ in der Demokratie beschließt den Band. Der Autor beschäftigt sich mit Chancen und Risiken der Digitalität für Gesellschaft und Politik, indem er sich auch der zunehmenden Fragmentierung zuwendet.

4. AUSBLICK UND DANK

Demokratie als politisches Projekt hat bereits unterschiedliche Phasen durchlebt und wird immer wieder auf neue Herausforderungen stoßen. Die wissenschaftliche Beforschung der Genese, der Diskurse und Narrative sowie der Erwartungshaltungen im Umgang mit dieser Regierungs- und Lebensform wird anhalten müssen. Neben der Gefahr eines backsliding und anderer Deformationen, die es stets im Auge zu behalten gilt, sollte die Demokratie in Österreich aber auch mehr auf jene Aspekte im politischen Prozess und im Rahmen der Verrechtlichung achten, die ihr im zeitlichen Kontinuum stets Stabilität gegeben und Erfolge hervorgebracht haben und die dies hoffentlich

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Kühberger/Heinisch/Klaushofer/Reiter

auch in Zukunft tun werden. Es ist offenbar ein Kennzeichen von Demokratie, sich selbst infrage zu stellen, was für die Bürger*innen den Vorteil hat, weitere Entwicklungspotentiale heben und Veränderungen offen gegenüberstehen zu können. Gleichzeitig sollten nachwirkende Errungenschaften und erreichte Leistungen auf ganz unterschiedlichen Gebieten des gesellschaftlichen Zusammenlebens unter dieser Regierungs- und Lebensform aber auch in ein entsprechendes Licht gerückt werden. Die aktuellen Befindlichkeiten sind dabei sicherlich ebenso zu beachten wie die längerfristigen Entwicklungen. Es ist den Geschichts-, Politik- und Rechtswissenschaften nur zu wünschen, dass sie sich im Dickicht der nachwachsenden gesellschaftspolitischen Fragestellungen nicht aus den Augen verlieren und im Diskurs bleiben. Für die Realisierung dieses Projektes ergeht der Dank der Herausgeber*innen an den Salzburger Landtag, vertreten durch seine Präsidentin, Frau Dr.in Brigitta Pallauf. Durch die Kooperation zwischen dem Salzburger Landtag und dem Herausgeberteam an der Universität Salzburg von den Fachbereichen Geschichte, Politikwissenschaft und Öffentliches Recht sowie durch die finanzielle Unterstützung der Tagung und des vorliegenden Bandes seitens des Landtages konnten die beteiligten Wissenschaftler*innen einen Rahmen finden, um über die aufgeworfenen Fragestellungen, über Perspektiven und Herausforderungen der Demokratie zu diskutieren und ihre Einsichten vorzulegen. Der Dank ergeht jedoch auch an alle Autor*innen des Sammelbandes, die durch ihre Beiträge die so dringend notwendige Diskussion über unsere Demokratie am Laufen halten und bereichern und damit hoffentlich auch einen Beitrag zu ihrer kritischen Weiterentwicklung leisten. Für die redaktionelle Arbeit im Hintergrund ist vor allem Mag.a Beate Rödhammer und Laura Hausleithner MA vom Fachbereich Geschichte zu danken, die sich umsichtig um die Vorbereitung der Drucklegung bemüht haben. Auch dem engagierten Team des Böhlau Verlages, Mag.a Eva Buchberger, Laura Röthele, Bettina Waringer und Mag.a Gabriele Fernbach, sei an dieser Stelle herzlich für die professionelle und geduldige Begleitung dieses Buchprojekts gedankt.

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KAPITEL I FORMIERUNG DER DEMOKRATIE NACH 1945

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Günther Sandner

DIE ERSTE REPUBLIK IN DER ZWEITEN REPUBLIK. PARTEIPOLITISCHE KONTROVERSEN UM DIE ÖSTERREICHISCHE DEMOKRATIE

1. DIE ZWEITE REPUBLIK UND IHR GEGENTEIL

Die Erste Republik dient häufig als Negativfolie einer vermeintlichen Erfolgsgeschichte Österreichs in den Jahren und Jahrzehnten nach 1945. Einem in der österreichischen Gesellschaft fest verankerten Narrativ zufolge bezog die Zweite Republik ihre Stärke gerade daraus, aus den Fehlern und letztlich dem Scheitern der Ersten Republik gelernt zu haben. Mit dieser Sichtweise waren weitreichende geschichtspolitische Konsequenzen verbunden, die von einer Idealisierung der Monarchie bis zur Hochstilisierung der Zweiten Republik zu einer „Insel der Seligen“ reichen.1 Die Zweite Republik entstand als Antithese zum Nationalsozialismus, von dem man sich abgrenzte. Der „antifaschistische Gründungskonsens“ findet unter anderem im NS-Verbotsgesetz eine im Verfassungsrang stehende Entsprechung. Die Zweite Republik verstand sich aber auch als ein Gegenentwurf zur Ersten Republik. Im medialen Diskurs und im öffentlichen Bewusstsein dominieren zur Geschichte der Ersten Republik Negativzuschreibungen wie jene vom „Staat, den keiner wollte“,2 sofern die sogenannte Zwischenkriegszeit dort überhaupt noch präsent ist. Denn für viele Österreicher*innen spielen die Jahre 1918 bis 1938 keine Rolle mehr. In einer von Oliver Rathkolb und Günter Ogris publizierten Studie aus dem Jahr 2007 stimmten der Aussage „Bundeskanzler Dollfuß verdient große Bewunderung“ immerhin rund 24 Prozent der Befragten zu, etwas über 36 Prozent lehnten diese Feststellung ab. Rund 40 Prozent gaben hingegen keine Antwort, weil sie mit dem Namen Engelbert 1 2

Hellmut Andics, Die Insel der Seligen. Österreich von der Moskauer Deklaration bis zur Gegenwart, Wien 1976. Hellmut Andics, Der Staat, den keiner wollte. Österreich von der Gründung der Republik bis zur Moskauer Deklaration, Wien 1976 (Erstausgabe 1968).

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Günther Sandner

Dollfuß nichts bis wenig anfangen konnten. Zur Frage, ob dieser die Demokratie zerstört habe, äußerten über 47 Prozent keine Meinung.3 Obwohl es 2017 und 2018 um das hundertjährige Jubiläum der Republikgründung herum auch eine Reihe von wissenschaftlichen Neuerscheinungen auf dem Büchermarkt gab,4 waren historische und politikwissenschaftliche Arbeiten zu dieser Periode der österreichischen Geschichte eher selten geworden. Auch in der (politischen) Bildung spielt die Erste Republik keine große Rolle. Es besteht daher die Gefahr, dass Qualitäten und Leistungen einer rund 15-jährigen Demokratiegeschichte, aber auch wichtige Kontinuitäten zu den Jahren und Jahrzehnten ab 1945 aus dem Blick geraten. Angesichts einer dieser Kontinuitäten – der Verfassung von 1920 in der Fassung von 1929 – könnte sogar die Frage gestellt werden, warum überhaupt von einer „Zweiten“ Republik gesprochen wird. In Frankreich, das wegen seiner von Brüchen geprägten Republikgeschichte mit einem „Verfassungslabor“ verglichen wird,5 fanden solche Neunummerierungen immer nur dann statt, wenn es zu grundlegenden Änderungen des politischen Systems, zu einer Neuordnung des Kräfteverhältnisses zwischen den verschiedenen politischen Akteuren und Institutionen auf der Basis von Verfassungsänderungen kam. Genau dadurch unterscheiden sich Erste und Zweite Republik in Österreich aber nicht. Mit der Titulierung einer „Zweiten“ Republik ging es vielmehr um einen bewussten Akt der Abgrenzung und Neugründung, der mit einer Zurückdrängung der widerstreitenden Ideologien der 1920er und 1930er Jahre, einer Neuordnung des Verhältnisses von Konflikt und Konsens und einer Änderung des Politikstils verbunden sein sollte. Die Politikwissenschaftler Rainer Nick und Anton Pelinka haben diese Unterscheidung zwischen Erster und Zweiter Republik im Titel ihres Standardwerks auf den Punkt gebracht: Bürgerkrieg – Sozialpartnerschaft.6 3

4

5 6

Oliver Rathkolb/Günther Ogris (Hg.), Authoritarianism, History and Democratic Dispositions in Austria, Poland, Hungary and the Czech Republic, Innsbruck– Wien–Bozen 2010, 154. Anton Pelinka, Die gescheiterte Republik. Kultur und Politik in Österreich 1918–1938, Wien–Köln–Weimar 2017; Lothar Höbelt, Die Erste Republik Österreich (1918–1938). Das Provisorium, Wien–Köln–Weimar 2017; Alfred Pfoser/Andreas Weigl, Die Erste Stunde Null. Gründungsjahre der österreichischen Republik 1918–1922, Salzburg– Wien 2017; Robert Kriechbaumer/Michaela Maier/Maria Mesner/Helmut Wohnout (Hg.), Die junge Republik. Österreich 1918/19, Wien–Köln–Weimar 2018. Wolfram Vogel, Frankreichs Verfassung 1958–2008, in: Deutsch-Französisches Institut (Hg.), Frankreich Jahrbuch 2007, Wiesbaden 2008, 11–29, 11. Rainer Nick/Anton Pelinka, Bürgerkrieg – Sozialpartnerschaft. Das politische System Österreichs – 1. und 2. Republik. Ein Vergleich, Wien 1983.

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Die Erste Republik in der Zweiten Republik

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Die Verfassung stellt freilich nicht die einzige Kontinuität zwischen den beiden Republiken dar. Eine weitere Kontinuität bezieht sich auf die sogenannten politischen Lager, eine Bezeichnung, die auf den umstrittenen Historiker Adam Wandruszka zurückgeht. Die österreichische Innenpolitik sei „beherrscht durch das Neben-, Gegen- und Miteinander der drei großen Lager […]: des christlich-konservativen, des sozialistischen und des nationalen. Diese Gliederung hat sich über alle Umwälzungen hinweg als derart stabil erwiesen, daß man mit Recht von einer ,natur- oder gottgewollten Dreiteilung Österreichs‘ sprechen konnte“, schrieb Wandruszka.7 Der von ihm geprägte Lagerbegriff ist bis heute im österreichischen politischen Diskurs fest verankert. Er reicht weit über den der politischen Partei hinaus, umschließt etwa auch Gewerkschaften, Vereine und Verbände, dennoch ist die politische Partei ein zentraler Bestandteil eines weltanschaulichen Lagers. Tatsächlich schließen die Gründungsparteien der Zweiten Republik trotz teilweiser Umbenennungen eindeutig an ihre Vorgängerinnen in der Ersten Republik an: die Sozialistische Partei Österreichs (SPÖ) an die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) und die Österreichische Volkspartei (ÖVP) an die Christlichsoziale Partei (CSP). Hinzu kommt die namentlich unverändert gebliebene Kommunistische Partei Österreichs (KPÖ). Auch in der parteipolitischen Neuformierung des sogenannten „dritten Lagers“, des Verbands der Unabhängigen (VdU) im Jahr 1949 beziehungsweise der FPÖ ab 1956, sind personelle und ideologische Kontinuitäten zur Ersten Republik, zum Landbund und zur Großdeutschen Volkspartei (GDVP), nicht zu übersehen. Bei den Politiker*innen des „dritten Lagers“ vollzog sich der Übergang von der Ersten zur Zweiten Republik in der Regel allerdings nicht unmittelbar, lag doch in den meisten Fällen die Mitgliedschaft ihrer Funktionär*innen in der NSDAP oder in anderen nationalsozialistischen Organisationen dazwischen.8

7

8

Adam Wandruszka, Österreichs politische Struktur. Die Entwicklung der Parteien und politischen Bewegungen, in: Heinrich Benedikt (Hg.), Geschichte der Republik Österreich, Wien 1954, 289–485, 291. Margit Reiter, Die Ehemaligen. Der Nationalsozialismus und die Anfänge der FPÖ, Göttingen 2019, 121–126.

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2. ANFANG UND ENDE DER ERSTEN REPUBLIK

Der Tag der Gründung der Ersten Republik, der 12.  November 1918, markierte einen Jahrestag, an dem sich in den folgenden Jahren und Jahrzehnten zahlreiche geschichtspolitische Auseinandersetzungen entzünden sollten. Am 19. April 1919 wurde der 12. November per Gesetz zum Staatsfeiertag erklärt, doch die Feierlichkeiten in den folgenden Jahren waren meist keine staatlichen Akte, sondern Parteifeiern. Das hing damit zusammen, dass der 12. November vor allem für die beiden großen Parteien sehr unterschiedliche Bedeutungen hatte. Er wurde als sozialdemokratischer Feiertag verstanden, von dem sich die Christlichsozialen eher distanzierten. Am 12. November 1923 etwa, dem fünften Jahrestag der Ausrufung der Republik, nahm der amtierende Bundeskanzler Ignaz Seipel nicht an den Feierlichkeiten in Wien teil, sondern war demonstrativ nach Salzburg gereist, um dort bei der 300-Jahr-Feier der Theologischen Fakultät zu sprechen.9 Für die Sozialdemokratie galt es hingegen, durch das feierliche Gedenken Republiktreue zu demonstrieren. Das Wort „Republik“ wurde von ihr im Gegensatz zu den Christlichsozialen offensiv und affirmativ in den Diskurs eingebracht. Die Republik war für die Sozialdemokratie nicht nur eine Errungenschaft, sie war ihre Errungenschaft. Die sozialdemokratische Partei verstand sich als Gründerin, aber auch als Verteidigerin der ersten demokratischen Republik Österreich. Die Bezeichnung Republikanischer Schutzbund für den 1923 gegründeten sozialdemokratischen Wehrverband zeugt genauso davon wie das legendäre Linzer Programm von 1926, in dem es unter anderem heißt: „Die Sozialdemokratie verteidigt die Republik und fordert ihren Ausbau“, für den dann bestimmte leitende Grundsätze genannt werden.10 Am 12. November 1928 wurde neben dem Parlament das von der Sozialdemokratie initiierte Republikdenkmal enthüllt, es bildet drei Sozialdemokraten ab: Victor Adler, Ferdinand Hanusch und Jakob Reumann.11

9 Julia Köstenberger, 12.  November – Gedenktag der Republik. Ein verlorener Staatsfeiertag, in: Stefan Karner/Lorenz Mikoletzky (Hg.), Österreich. 90 Jahre Republik. Beitragsband zur Ausstellung im Parlament, Innsbruck–Wien–Bozen 2008, 609–620, 614–615. 10 Linzer Programm, Programm der Sozialdemokratischen Partei Österreichs, beschlossen am Parteitag zu Linz am 3.  November 1926, in: Albert Kadan/Anton Pelinka, Die Grundsatzprogramme der österreichischen Parteien. Dokumentation und Analyse, St. Pölten 1979, 50–69, 56. 11 Köstenberger, 12. November, 617.

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Der 12.  November blieb auch nach 1945 ein umkämpfter Jahrestag. Zumindest Teile der SPÖ wollten diesen Tag erneut als Staatsfeiertag der Republik Österreich etablieren.12 Damit wäre eine weitere, weitgehend symbolische Kontinuität zwischen den beiden österreichischen Republiken fixiert worden. Staatskanzler Karl Renner distanzierte sich jedoch bereits am 6.  November 1945 im Kabinettsrat der Provisorischen Regierung von dieser Idee mit einer interessanten Begründung: „Ich stelle zur Erwägung, ob wir den 12. November, den Staatsfeiertag der 1. Republik, weiter als Staatsfeiertag behalten wollen. Das Datum ist wegen der ungünstigen Wetterlage, die um diese Zeit gewöhnlich herrscht, für festliche Veranstaltungen sehr ungünstig. Es wäre zu erwägen, ob wir einen anderen Tag, vielleicht den Tag, an dem wir de jure als Regierung ins Leben getreten sind, den 1. Mai als Staatsfeiertag erklären. Diese positive Entscheidung können wir uns aber für später vorbehalten.“13

Tatsächlich sollte es bis zur Entscheidung über einen künftigen Staats- bzw. Nationalfeiertag noch lange dauern und der 12.  November blieb zumindest innerhalb der SPÖ im Spiel. Zum 30.  Jahrestag der Republikgründung, am 12. November 1948, gab es getrennte Parteifeiern von SPÖ und ÖVP. Bei ihrer Feier zum 30. Jahrestag der Republikgründung enthüllte die SPÖ das wiedererrichtete Republikdenkmal.14 Zehn Jahre später, 1958, kam es zur Absage gemeinsamer Staatsfeierlichkeiten durch die ÖVP, und im Gegensatz zu 1948 veranstaltete die konservative Partei auch keine Parteifeier mehr. Die SPÖ hingegen lud zu einer großen Feier in die Wiener Stadthalle.15 Im Unterschied zu 1948 fehlte 1958 offensichtlich die Klammer der alliierten Besatzung, und die Kontroverse zwischen den politischen Parteien brach offen aus. In der Nationalratssitzung kritisierte der sozialistische Abgeordnete Otto Probst, „dass Abgeordnete der ÖVP das Wort Republik so auszusprechen pflegen, als müssten 12 Martin Reisacher, Die Konstruktion des „Staats, den keiner wollte“. Der Transformationsprozess des umstrittenen Gedächtnisorts „Erste Republik“ in einen negativen rhetorischen Topos, Dipl.-Arb., Wien 2010, 136–141. 13 Zitiert nach Gertrude Enderle-Burcel/Rudolf Jěrábek (Hg.), Protokolle des Kabinettsrates der Provisorischen Regierung Karl Renner 1945. Protokolle des Kabinettsrates 12. September bis 17. Dezember 1945, Wien 2003, 206. 14 Heidemarie Uhl, Der 12. November 1918 als Gedächtnisort der Ersten und Zweiten Republik, in: Helmut Konrad (Hg.), 1918–2018. Die Anfänge der Republik ­Österreich im internationalen Kontext, Wien 2018, 65–72, 68. 15 Reisacher, Konstruktion, 118.

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sie glühende Kohlen schlucken“.16 Im Lauf seiner Rede erinnerte er auch an Feierlichkeiten beider Großparteien zehn Jahre zuvor und bemängelte, dass die Republikaner in den Reihen der Volkspartei immer mehr „ins Hintertreffen“ gerieten. „Über die Republikaner in unseren Reihen brauchen Sie sich nicht den Kopf zu zerbrechen!“, kam der Zwischenruf aus der ÖVP. „Weil’s keine haben“, erwiderte die sozialistische Abgeordnete Rosa Jochmann.17 Die Auseinandersetzungen um einen Nationalfeiertag der Republik – im Gespräch waren neben dem 12. November unter anderem der 27. April 1945 (Österreichische Unabhängigkeitserklärung) oder der 15.  Mai 1955 (Unterzeichnung des österreichischen Staatsvertrags) – fanden erst 1965 mit der Festlegung auf den 26. Oktober ein Ende, bekanntlich der Tag, an dem im Jahr 1955 das Bundesverfassungsgesetz über die immerwährende Neutralität beschlossen wurde.18 Was bedeutete das für den politischen Stellenwert des 12. November? Bezeichnete er für die Sozialdemokratie nicht immer noch das ersehnte Ende der Monarchie und den Beginn einer erfolgreichen demokratischen Republikgeschichte? Oder war er nur der Anfang vom Ende, bloß die Vorgeschichte des 1938 vollzogenen „Anschlusses“? Die Geschichtsinterpretationen der beiden großen Parteien blieben in den folgenden Jahren zwar unterschiedlich, näherten sich aber an. Zum 50-jährigen Republikjubiläum 1968 fanden gemeinsame Feiern statt. Es war die Zeit der ÖVP-Alleinregierung unter Bundeskanzler Josef Klaus (1966–1970) und eines Bundespräsidenten der SPÖ, Franz Jonas. Nun gab es Sondersitzungen von Nationalrat und Ministerrat sowie Fest­sitzungen einiger Landtage. Verschiedene Ausstellungen zum Thema 50 Jahre Republik belebten die Debatten und den öffentlichen Diskurs zum Republikjubiläum. Alle vier Parteien (ÖVP, SPÖ, FPÖ und KPÖ) veranstalteten auch eigene Parteifeiern. Die FPÖ assoziierte mit dem Beginn der Ersten Republik vor allem das Anschlussverbot im Vertrag von St. Germain 1919 und nutzte die Feierlichkeiten dazu, den deutschen Charakter Österreichs zu betonen. Im Nationalrat polemisierte der FPÖ-Abgeordnete Otto Scrinzi wiederholt gegen den „sogenannten Nationalfeiertag“ und „gegen eine Minderheit, die in geschichtswidriger Weise und entgegen den Erkenntnissen der Wissenschaft eine österreichische Nation konstruieren will“.19 Die KPÖ verband mit 1918 einerseits die von der Sozialdemokratie verratene Revolution, die vergebene Chance des Sozialismus, die „verlorene Rä16 Stenographische Protokolle des Nationalrats der Republik Österreich, VIII. Gesetzgebungsperiode (GP), 70. Sitzung, 4.12.1958, 3244. 17 Ebd., 3245. 18 Uhl, 12. November, 69. 19 Stenographisches Protokoll, XI. GP, 28. Sitzung, 19.10.1966, 2026.

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terepublik“, wie das Buch des kommunistischen Historikers Hans Hautmann hieß.20 Die Kommunist*innen versuchten aber andererseits, im Lichte der immer negativeren Haltung der anderen Parteien zur Ersten Republik, sich als jene politische Kraft in Szene zu setzen, die immer schon für ein unabhängiges Österreich gewesen sei. „Die KPÖ“, schreibt deshalb auch Anton Pelinka in seiner 2017 erschienenen Geschichte der Ersten Republik, „reflektierte eine für den späteren Verlauf wesentliche Änderung des Österreich-Verständnisses deutlich früher als die Sozialdemokratie. Die KPÖ sollte dafür freilich 1945 und auch danach nicht in Form von Wahlerfolgen belohnt werden.“21 Vor allem in der Ära Kreisky setzten sich in der SPÖ zunehmend negative Charakterisierungen der Ersten Republik durch. Bei der Feier im Jahr 1978 zum 60.  Jahrestag meinte Bundeskanzler Bruno Kreisky, dass aus dem Staat, den keiner wollte, nun ein Staat geworden sei, den jeder will.22 Auch die negative Sichtweise auf die Monarchie, den „Völkerkerker“, von dem viele Sozialdemokrat*innen häufig gesprochen hatten, trat immer weiter in den Hintergrund. Bruno Kreisky, der auch als „Sonnenkönig“ bezeichnet wurde, präsentierte keineswegs eine ausschließlich negative Sichtweise auf das österreichische Kaiserhaus. „Gegenüber der Monarchie befinde ich mich in einer leicht ambivalenten Situation“, schrieb er in seinen Memoiren: „Nicht zuletzt für die Sozialdemokratie liegt über der untergehenden Monarchie ein Hauch von Melancholie und sogar Anmut.“23 Spätere Feiern – etwa jene zum 75. Jahrestag der Republikgründung im Jahr 1993 – blieben ohne große öffentliche Resonanz. Im „Supergedenkjahr“ 2018 gab es zwar zahlreiche Festakte, Veranstaltungen, Ausstellungen und Publikationen – in Wien wurde am 10.  November  2018 im Rahmen der Feierlichkeiten zum hundertsten Jahrestag der Gründung der Republik das Haus der Geschichte Österreich (HdGÖ) eröffnet –, eine Neugewichtung der Sichtweise auf die Erste Republik fand aber allenfalls in Ansätzen statt. In einer Broschüre des in Wien befindlichen Hauses der Geschichte meinte etwa die Historikerin Heidemarie Uhl in ihrem Beitrag zum 12. November, die „Jahre 1918 bis 1920“ ließen „auch eine positive Lesart zu“,24 doch über solche Andeutungen ging die 20 Hans Hautmann, Die verlorene Räterepublik. Am Beispiel der Kommunistischen Partei Deutschösterreichs, Wien 1971. 21 Pelinka, Republik, 90. 22 Reisacher, Konstruktion, 241. 23 Bruno Kreisky, Zwischen den Zeiten. Der Memoiren erster Teil, Wien–München 2000, 29. 24 Uhl, 12. November, 66.

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Debatte kaum hinaus. Bei den offiziellen Feierlichkeiten in den Hintergrund gedrängt wurde hingegen die Oppositionspartei SPÖ,25 die aber eine eigene Parteifeier in der Gösserhalle in Wien-Favoriten veranstaltete. Kontrovers wie der Anfang war auch das Ende der Ersten Republik. Scheiterte sie, weil die Demokraten keine Patrioten und die Patrioten keine Demokraten waren? Gab es so etwas wie eine „geteilte Schuld“ am Ende der Demokratie? Hatte auch die Sozialdemokratie ihren Anteil daran, dass es in den Jahren 1933 und 1934 zu einem „Staatsstreich auf Raten“ (Peter Huemer) kam? Und nicht zuletzt: Wann endete die Erste Republik eigentlich? 1933? 1934? Oder 1938? Im Jahr 2017 erschienen zwei Monographien zur Geschichte der Ersten Republik. Die eine veröffentlichte der eher links-liberale Politikwissenschaftler Anton Pelinka,26 die andere der weit rechts stehende, FPÖ-nahe Historiker Lothar Höbelt27. Bemerkenswert dabei ist nicht alleine die relativ ungebrochene Negativität im Titel von Pelinkas Buch („Die gescheiterte Republik“), die noch dadurch unterstützt wird, dass am Coverbild das mit den austrofaschistischen Kruckenkreuzen überhängte Republikdenkmal gezeigt wird. Nicht der demokratische Aufbruch ist also zu sehen, sondern bereits das (von Beginn an absehbare?) Ende. Beachtlich ist auch, dass sich die beiden Bücher in der Periodisierung gleichen: Für beide endet die Erste Republik nämlich erst im Jahr 1938. Das steht im Gegensatz zu einem 1995 von Emmerich Tálos, Herbert Dachs, Ernst Hanisch und Karl Staudinger herausgegebenen Sammelband zum politischen System der Ersten Republik: „Unter Erster Republik verstehen wir den Zeitraum 1918–1933. Das politische System dieser Phase ist mit seinen rechtsstaatlich-parlamentarischen Strukturen vom Herrschaftssystem 1934–1938 grundlegend abgrenzbar“, heißt es hier im Vorwort der Herausgeber.28

25 Dirk Rupnow, Das Gedenk- und Erinnerungsjahr 2018. Eine Rückschau, in: Zeitgeschichte 46 (2019) 4, 463–477, 467. 26 Vgl. Pelinka, Republik. 27 Vgl. Höbelt, Erste Republik Österreich. 28 Emmerich Tálos/Herbert Dachs/Ernst Hanisch/Anton Staudinger, Vorwort, in: Dies. (Hg.), Handbuch des politischen Systems Österreichs. Erste Republik 1918– 1933, Wien 1995, V–VI, V.

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3. DIE ERSTE REPUBLIK AUS DER PERSPEKTIVE DER POLITISCHEN PARTEIEN NACH 1945

Ab 1945 entwickelten die zuerst drei und bald schon vier politischen Parteien, also ÖVP, SPÖ, KPÖ und (ab 1949 bzw. 1956) VdU/FPÖ, gegensätzliche Narrative und Interpretationen zur Ersten Republik. Die SPÖ nahm die Gründung der demokratischen Republik 1918 als Verdienst der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung für sich in Anspruch. Besonders hoch war ihre Identifikation mit der Anfangsphase der Ersten Republik, also mit den Jahren 1918–1920, in denen die Regierungen vom Sozialdemokraten Karl Renner als Staats- bzw. Bundeskanzler geführt wurden. Vor allem identifizierte sich die SPÖ mit dem von der Sozialdemokratie zwischen 1919 und 1933 durchgehend allein regierten Roten Wien. Die ÖVP zeigte hingegen ein deutlich distanzierteres Verhältnis zur Republikgeschichte. Sie sah den Bruch mit der Monarchie keineswegs euphorisch und zog häufig eine Verbindungslinie zwischen der Gründung der Republik Deutsch-Österreich im Jahr 1918 und dem „Anschluss“ 1938 an das nationalsozialistische Deutschland. Die FPÖ blieb jahrzehntelang dem Deutschnationalismus verhaftet und lehnte die in der Zweiten Republik an Terrain gewinnende Idee einer österreichischen Nation ab. Die Kommunisten wiederum erinnerten an die versäumte Gelegenheit, den Sozialismus zu verwirklichen, betonten aber auch ihre historische Verbindung zu einem unabhängigen Österreich. Die Perspektive der politischen Akteur*innen der Zweiten Republik auf die Erste Republik veränderte sich im zeitlichen Verlauf in mehreren voneinander abgrenzbaren Phasen.29 Besonders in den Anfängen der Zweiten Republik wurde zunächst von den beiden großen Parteien versucht, an die Erste Republik anzuknüpfen. Sie sollte gegenüber den alliierten Besatzungsmächten als positive Legitimation für ein selbständiges und unabhängiges Österreich dienen: Österreich sei eine demokratische Republik, die der von außen kommende Nationalsozialismus nur unterbrochen habe. Aber schon in den 1950er und 1960er Jahren verschärften sich die Gegensätze in den Geschichtsdeutungen von ÖVP und SPÖ, die nun auch offen ausgetragen wurden. Ab der zweiten Hälfte der 1960er Jahre kam es wieder zu einer schrittweisen Annäherung, bevor ab den 1980er Jahren das Thema Erste Republik zunehmend in den Hintergrund trat. Wie sich die Interpretationen von Anfang und Ende der demokratischen Republik in der SPÖ veränderten, möchte ich kurz an zwei Beispielen verdeut29 Reisacher, Konstruktion.

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lichen: der Diskussion um die Anerkennung des Konkordats und der „Habsburg-Krise“. Die Frage nach der Anerkennung oder Nicht-Anerkennung des Konkordats, das am 1. Mai 1934 von einem Rumpfparlament ohne Sozialdemokratie beschlossen wurde, beantwortete die SPÖ nach 1945 zunächst eindeutig. Der Parteivorsitzende Adolf Schärf bemerkte auf dem Parteitag 1947, er könne sich nicht vorstellen, „daß ein durch Staatsstreich, Eidbruch und Galgen zustande gekommenes Konkordat von der Kirche selbst als wirksam betrachtet“ werde.30 Die Zustimmung der SPÖ zum Konkordat erschien schlichtweg undenkbar. Zehn Jahre später trat Schärf im Bundespräsidentschaftswahlkampf gegen den Chirurgen Wolfgang Denk an, den gemeinsamen Kandidaten von ÖVP und FPÖ. Seitens der SPÖ wurde eine Anti-Schärf-Kampagne katholischer Kreise gegen ihren aus der Kirche ausgetretenen Kandidaten befürchtet. Mit der Anerkennung des Konkordats durch die SPÖ sollte diese verhindert werden. Tatsächlich unterblieb die Kampagne dann weitgehend, und Adolf Schärf wurde mit deutlicher Mehrheit zum Bundespräsidenten gewählt.31 Die SPÖ vollzog mit diesem Schritt eine bemerkenswerte Wende in ihrer Politik gegenüber der katholischen Kirche. Die sogenannte „Habsburg-Krise“32 drehte sich um die Frage, ob Otto Habsburg, der Sohn des letzten Kaisers von Österreich, in die Republik Österreich einreisen dürfe. Eine Einreise war durch das Habsburgergesetz vom 3.  April 1919 verboten bzw. setzte eine solche den ausdrücklichen Verzicht Habsburgs auf den Herrschaftsanspruch voraus. Otto Habsburg, der wiederholt öffentlich mit der Idee einer Rückkehr als Kaiser gespielt hatte, wollte zwar eine Aufhebung des Landesverweises erreichen, gab eine Verzichtserklärung aber erst im Jahr 1961 ab.33 Die SPÖ war trotz dieser Erklärung weiterhin strikt gegen dessen Einreise nach Österreich und verwies unter anderem auf ungelöste Vermögensfragen. Das Erkenntnis des von Habsburg angerufenen Verwaltungsgerichtshofs von 1963, das dessen Einreise ermöglichte, interpretierte die SPÖ

30 Gerhard Steger, Der Brückenschlag. Katholische Kirche und Sozialdemokratie in Österreich, Wien–München 1982, 52–53. 31 Ebd., 40. 32 Margareta Mommsen, Die „Staatskrise“ über den ,Justizputsch“ in der Causa Habsburg 1963 und der Niedergang der Großen Koalition, in: Michael Gehler/Hubert Sickinger (Hg.), Politische Affären und Skandale in Österreich. Von Habsburg bis Waldheim, Innsbruck–Wien–Bozen 2007, 437–454. 33 Ebd., 438.

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als „Justizputsch für Otto Habsburg“.34 Nach zum Teil heftigen juristischen und politischen Auseinandersetzungen reiste Otto Habsburg schließlich zur Zeit der ÖVP-Alleinregierung im Jahr 1966 nach Österreich ein. In den folgenden Jahren sollte sich aber auch die Haltung der SPÖ in dieser Frage ändern. Unter der sozialistischen Alleinregierung kam es schließlich zum Handschlag zwischen dem Bundeskanzler und Parteivorsitzenden Bruno Kreisky und Otto Habsburg auf dem Paneuropa-Kongress in Wien 1972 und somit zu einer symbolischen Aussöhnung zwischen der Sozialdemokratie und den Habsburgern.35 Beides, die veränderte Haltung zur katholischen Kirche und die veränderte Haltung gegenüber dem ehemaligen Herrscherhaus, sind augenfällige Brüche in der Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie. Sie spiegeln auch eine veränderte Sicht auf die Zeit der Ersten Republik wider, insbesondere auf ihren Anfang und ihr Ende. Die strikte Ablehnung des Herrscherhauses hatte bisher zur politischen Identität der Sozialdemokratie gezählt. Und das Konkordat von 1934 stand für den mit dem Austrofaschismus verbündeten politischen Katholizismus, damit auch für das gewaltsame Ende nicht nur der Republik, sondern auch der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Beide Themen hatten mittlerweile an Brisanz verloren. Gleichzeitig begannen sich insbesondere seit den 1970er Jahren auch in der SPÖ negative Topoi zur Ersten Republik zu häufen. Anders als die SPÖ hatte die ÖVP immer wieder versucht, Verbindungen zwischen der politischen Gegenwart und der K.-u.-k.-Monarchie herzustellen, beispielsweise, wenn zwischen dem Europäischen Einigungsprozess und dem Habsburgerreich eine Parallele gezogen wurde. ÖVP-Bundeskanzler Julius Raab titulierte Otto Habsburg in Briefen sogar als „Kaiserliche Hoheit“.36 Alles in allem setzte sich in den 1970er und 1980er Jahren im parteipolitischen Diskurs der Topos vom „Staat, den keiner wollte“ beinahe parteiübergreifend durch. Diese negative Einstellung zur Ersten Republik zeigte sich auch in der Bevölkerung. In einer 2008 veröffentlichten Umfrage waren Öster­reicher*innen gefragt worden, in welcher Epoche der österreichischen Geschichte sie gerne gelebt hätten. Die Erste Republik wurde ausgesprochen negativ eingestuft und rangierte nur relativ knapp vor den beiden Weltkriegen und dem „Ständestaat“, aber deutlich hinter jeder der nach Jahrzehnten abgefragten Perioden der Zweiten Republik. Frühere Umfragen hatten auch parteipolitische Differenzen untersucht und festgestellt, dass die Erste Repu34 Ebd., 448. 35 Reisacher, Konstruktion, 208; Bruno Kreisky, Der Mensch im Mittelpunkt. Der Memoiren dritter Teil, Wien–München 2000, 261 und 353. 36 Mommsen, Staatskrise, 439.

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blik von ÖVP-Anhänger*innen wesentlich negativer wahrgenommen wurde als von jenen der SPÖ. Genau umgekehrt verhielt es sich mit der Monarchie.37 Diese parteipolitische Differenz ist auch deswegen interessant, weil die SPÖ in der Ersten Republik ja beinahe so etwas wie eine Oppositionspartei in Permanenz war (ab Herbst 1920) und fast alle Regierungen der Zwischenkriegszeit von Kanzlern der Christlichsozialen Partei geführt wurden. Bundespolitisch betrachtet lag die politische Führungsrolle in der Ersten Republik also keineswegs bei der Sozialdemokratie, sondern bei ihren Gegner*innen.

4. NARRATIVE DER ÖSTERREICHISCHEN DEMOKRATIE

Eine Pointe des am Beginn des Beitrags zitierten Aufsatzes von Adam Wandruszka liegt in der Behauptung, dass alle drei von ihm identifizierten politischen Lager im Liberalismus wurzelten, auch wenn sie unterschiedliche Teilbereiche des Liberalismus (gesellschaftlich-kulturell, wirtschaftlich, politisch etc.) für sich reklamiert hätten. Dieses gemeinsame liberale und demokratische Erbe sei aber zurückgedrängt worden, was in den 1930er Jahren in den Bürgerkrieg geführt habe, in den „erbitterte[n] Kampf jedes der drei Lager gegen die beiden anderen und damit schließlich [in] die Katastrophe“.38 Wandruszka schreibt weiter: „Nach 1945, nach den Erfahrungen mit einer totalitären Diktatur, erlebten dann in allen drei Lagern jene liberalen und demokratischen Elemente – das Bekenntnis zu den Menschen- und Bürgerrechten, zur Zusammenarbeit, zum Kompromiß und ganz allgemein zu den ‚demokratischen Spielregeln‘ – ihre Neuaufwertung […].“39 Bei dieser Geschichtsinterpretation handelt es sich um eine bemerkenswerte Version der These von der „geteilten Schuld“: Demnach waren Sozialisten, Konservative und Großdeutsche bzw. Deutschnationale gleichermaßen für das Scheitern von Demokratie und Republik verantwortlich; sie konnten nun aber, nach Überwindung ihrer Fehler, gemeinsam am politischen Neuaufbau arbeiten. Mit dieser Lagertheorie von Wandruszka wurde dem durch den Nationalsozialismus diskreditierten Deutschnationalismus (also dem VdU und der FPÖ) der Weg geebnet, in der Zweiten Republik gleichberechtigt neben die von den Nationalsozialisten verfolgten Sozialist*innen (Kommunist*innen) und Konservativen zu treten. 37 Reisacher, Konstruktion, 27–29. 38 Wandruszka, Österreichs politische Struktur, 480–481. 39 Ebd., 481.

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Kann die Demokratiegeschichte der Zwischenkriegszeit anders als unter dem Aspekt des Scheiterns, kann sie zumindest zum Teil auch als Beispiel einer „gelungenen“ Demokratie betrachtet werden? Die Erste Republik kann jedenfalls in verschiedene, durchaus auch positive Narrative der österreichischen Demokratie eingeordnet werden. Erstens ist das Narrativ der liberalen Demokratie zu nennen: Freie Wahlen und bürgerliche Freiheitsrechte wurden etabliert; politischen Parteien und auch manchen Verbänden können auffällige Kontinuitäten in der Zeit ab 1945 attestiert werden; die österreichische Verfassung oder Institutionen wie der Verfassungsgerichtshof fanden international Anerkennung. Zudem existierte ein breites ideologisches Meinungsspektrum im Pressewesen, ein politischer Pluralismus auch außerhalb der politischen Parteien.40 Die bereits am Beginn der Republikgeschichte erfolgte Einführung des Frauenwahlrechts, die Existenz eines lebendigen Parlamentarismus über etliche Jahre hinweg oder der – etwa im Vergleich zu Deutschland – relativ niedrige Pegel politischer Gewalt können zusätzlich als positive Elemente genannt werden.41 Zweitens könnte ein Narrativ der sozialen Demokratie diskutiert werden. In den Anfängen der Ersten Republik war es zu einer überaus fortschrittlichen Sozialgesetzgebung gekommen, etwa zur Einführung des Achtstundentags, der Arbeitslosenversicherung, des Arbeiterurlaubs, des Betriebsrätegesetzes, des Arbeiterkammergesetzes und anderer sozialpolitischer Maßnahmen mehr. Vor allem das Rote Wien mit seinem Wohnbauprogramm, seiner sozialen Fürsorge, seiner Gesundheits- und seiner Bildungspolitik (Stichwort: Schulreform) ragt dabei heraus. Viele Elemente einer sozialen Demokratie, wie sie der Politikwissenschaftler Thomas Meyer analysierte, waren also bereits vorhanden.42 In einem Narrativ der partizipativen Demokratie schließlich wäre an – im Vergleich – hohe Wahlbeteiligungen (bei Nationalratswahlen bis zu 90 %), an die hohen Mitgliederzahlen in vielen politischen und sozialen Organisationen, an ein lebendiges politisches Veranstaltungswesen oder – etwas weiter gefasst – auch an die vielfältig ausgestaltete Volks- und Arbeiterbildung zu erinnern. Der „hohe Grad der Wahlpartizipation“ wird im europäischen Vergleich sogar als „österreichspezifisches Merkmal“ bezeichnet.43 40 Detlef Lehnert, Politisch-kulturelle Integrationsmilieus und Orientierungslager in einer polarisierten Massengesellschaft, in: Emmerich Tálos/Herbert Dachs/Ernst Hanisch/Anton Staudinger (Hg.), Handbuch des politischen Systems Österreichs. Erste Republik 1918–1933, Wien 1995, 431–443, 439–442. 41 Pfoser/Weigl, Erste Stunde Null. 42 Thomas Meyer, Theorie der sozialen Demokratie, Wiesbaden 2005. 43 Dirk Hänisch, Wahlentwicklung und Wahlverhalten in der Ersten Republik, in:

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Die stark polarisierte Konkurrenzdemokratie der Ersten Republik war in vielerlei Hinsicht problematisch, erschwerte oft notwendigen Konsens und Kooperationen. Gesellschaftlich betrachtet wirkte sie aber auch als Motor der Modernisierung, mit der vieles aus dem alten Österreich überwunden wurde. Zentrale Elemente von 15 Jahren Demokratie der Ersten Republik könnten wieder stärker ins Bewusstsein gerückt oder überhaupt erst noch genauer erforscht werden. Nicht nur, um aus Fehlern zu lernen, sondern auch, um sich von Stärken inspirieren zu lassen.

Emmerich Tálos/Herbert Dachs/Ernst Hanisch/Anton Staudinger (Hg.), Handbuch des politischen Systems Österreichs. Erste Republik 1918–1933, Wien 1995, 488–503.

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NARRATIVE DER DEMOKRATIE – RECHTSDISKURSE UND INTERPRETATIONEN ZWISCHEN ERSTER UND ZWEITER REPUBLIK *)

1. EINLEITUNG UND AUSGANGSTHESE

In der Diskussion zur Vorbereitung dieser Tagung ist im Veranstalterteam die interessante These aufgetaucht, die Geschichtswissenschaften würden die Erste Republik – ein wenig überspitzt formuliert – als Schreckensbild und Gegenfolie für die Zweite Republik betrachten, wohingegen die Rechtswissenschaften das konträre Narrativ pflegen würden. Die Rechtswissenschaften betrachten die Erste Republik also, so die Annahme, als Vorbild für die demokratische Ausrichtung. Stimmt das?

2. ERSTE REPUBLIK UND DAS DEMOKRATIEMODELL DES B-VG

Die Staatsgründung der Ersten Republik hat nicht bei der „Stunde Null“ begonnen. Vorläufer aus der Zeit der Monarchie, insbesondere die Dezemberverfassung, wurden zum Teil in die Geburtsurkunde der Ersten Republik eingeschrieben. Das kaiserliche Erbe ist an vielen Stellen eingegangen und bis heute sichtbar.1 Das hängt damit zusammen, dass es Richtschnur für die neue Verfas-

*)



1

Die Vortragsform und damit auch die stellenweise persönliche Formulierung wurden weitgehend beibehalten. Zu diesem Ausdruck und den monarchischen Vorbildern vgl. Christoph Schmetterer, Das kaiserliche Erbe im B-VG, in: Zeitschrift für öffentliches Recht (2020) 1, 3–19. Zur republikanischen Verfassungsentwicklung vor 1920 u. a. vgl. Markus Vašek, Zwischen Kontinuität und Diskontinuität. Die republikanischen Verfassungen vor dem B-VG 1920, in: Clemens Jabloner/Thomas Olechowski/Klaus Zeleny (Hg.), Die Verfassungsentwicklung 1918 bis 1920, und Hans Kelsen, Wien 2020, 27–45.

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sung war, alles Brauchbare aus den bisherigen Verfassungen zu übernehmen.2 Deutlich ist das an der Übernahme des Grundrechtskatalogs der Monarchie abzulesen, der in vielen Teilen heute noch in Kraft ist.3 Das Demokratiekonzept musste freilich auf eine neue Basis gestellt werden, denn trotz der Konstitutionalisierung konnte das Parlament in der Monarchie keine Gesetze ohne den Kaiser erlassen.4 Vor allem stand es dem Kaiser vollkommen frei, ob er einem Gesetzesvorschlag die „Sanktion“ erteilte, womit ihm im Gesetzgebungsprozess die Macht der Letztentscheidung eingeräumt war, obschon er nicht mehr vollkommen allein ohne Parlament regieren konnte.5 Das B-VG (Bundes-Verfassungsgesetz) ist durchdrungen von einem Demokratiemodell nach den rechtstheoretischen Vorstellungen von Hans Kelsen.6 Dazu muss allerdings angemerkt werden, dass Kelsen zwischen Demokratie und Parlamentarismus differenziert hat und sein Werk den demokratischen Idealtypus und die praktische parlamentarische Ausformung darlegt.7 Dieses Demokratiemodell ist gekennzeichnet durch eine repräsentativ parlamentarische Zuspitzung, die direktdemokratische Elemente nur am Rande duldet, aber deren Nutzen durchaus sieht und eingesteht.8 Kelsen propagiert das repräsentative Modell mit den Worten: „Denn die moderne Demokratie ist eine parlamentarische und der Parlamentarismus scheint mir, wenigstens nach den bisherigen Erfahrungen, die einzig mögliche Form zu sein, in der Demokratie innerhalb der sozialen Wirklichkeit von heute realisierbar ist.“9 2 So ist im Kommentar von drei zeitgenössisch zentralen Juristen, insbesondere Kelsen, der gerne als Architekt der österreichischen Bundesverfassung bezeichnet wird, Folgendes nachzulesen: „Ferner war grundsätzlich aus der altösterreichischen Verfassung und aus der provisorischen Verfassung der Republik alles Brauchbare nach Tunlichkeit übernommen.“ Hans Kelsen/Georg Fröhlich/Adolf Julius Merkl, Kommentar zur Bundesverfassung 1920, Wien 1922, 55. 3 Art 149 Abs 1 B-VG, BGBl. 1/1930. 4 Schmetterer, Erbe, 11. 5 Ebd. 6 Detailliert dazu David M. Wineroither, Das Demokratiemodell des B-VG und die politische Realität der Zweiten Republik, in: Zeitschrift für öffentliches Recht (2020) 1, 139–154. 7 Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie (2. Auflage, 1929), in: Matthias Jestaedt/Oliver Lepsius (Hg.), Verteidigung der Demokratie, Tübingen 2006, 149–228, 174. 8 Ebd., 184. Nur die direkte Demokratie bedeutet wahre Volksherrschaft, ebd. 172–173. 9 Hans Kelsen, Demokratie (1926), in: Matthias Jestaedt/Oliver Lepsius (Hg.), Verteidigung der Demokratie, Tübingen 2006, 115–148, 121–122.

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Das repräsentativ-parlamentarische Modell wurde von Kelsen „notwendig und unvermeidlich“ als Parteienstaat gedacht.10 Von ihren Kritikern wurde diese im B-VG normativ verwirklichte Konzeption als „Parlamentsabsolutismus“, „Parteienherrschaft“ und „Diktatur der Parteien“ bezeichnet.11 In einem solchen Modell ist die Wahl Kern für die in Art 1 B-VG proklamierte Herrschaft des Volkes. Als bedeutsamster Unterschied im Vergleich zum monarchischen Reichsratswahlrecht wurde die Einführung des Verhältniswahlrechtes aufgefasst,12 das den Weg für eine sogenannte Kompromiss­demokratie bereiten sollte. Es verabschiedete das alte Majoritätsprinzip, verbunden mit zahlreichen Erwartungen, wie dem Motivenbericht von Karl Renner zu entnehmen ist. Vor allem sollte das Verhältniswahlrecht eine verstärkte Berücksichtigung von Minderheiten ermöglichen und die Wahlauseinandersetzungen zivilisieren.13 In der Theorie wurde die Begünstigung von Minderheiten durch ein Verhältniswahlrecht nicht angezweifelt, konkret war jedoch heftig umstritten, inwieweit dieser Schutz durch die Wahlkreisein­teilung und ein gebundenes Listenwahlrecht unterlaufen wird.14 Ein weiteres Schlüsselelement des im B-VG 1920 verwirklichten Demokratiemodells ist das Mehrheitsprinzip. Im historischen Kontext des B-VG steht auch die Mehrheitsregel im engen Zusammenhang mit den demokratietheoretischen Ansichten Kelsens.15 Die wesentlichen Vorzüge des Mehrheitsprinzips werden im Freiheits- und Verfahrensargument gesehen.16 Das Mehrheitsprin10 Kelsen, Wesen, 167. 11 So Adolf Julius Merkl, Die ständisch-autoritäre Verfassung Österreichs, Wien 1935, 4–5 zum Demokratiemodell des B-VG 1920. 12 So wörtlich Hans Kelsen, Die Verfassungsgesetze der Republik Deutschösterreich, Zweiter Teil, Wahlordnung Verfassungsnovelle, Wien 1919, 43. 13 Der Motivenbericht, abgedruckt bei Hans Kelsen, Verfassungsgesetze, 43–44. 14 Kelsen kritisierte, dass ein Proportionalwahlsystem zu einer Wahlkreiseinteilung im Widerspruch stehe. Kelsen, Verfassungsgesetze, 48. Zu den Auswirkungen der Wahlkreiseinteilung und Sperrklauseln für kleinere Parteien mwN Helmut Schreiner, Art  26 B-VG, in: Benjamin Kneihs/Georg Lienbacher (Hg.), Rill-SchäfferKommentar Bundesverfassungsrecht III, 6. Lieferung, Wien 2010, Rn 9. Diesbezüglich äußerst aufschlussreich ist die historische Diskussion um die Auswirkungen der Wahlkreiseinteilung und die Varianten gebundener und freier Listen von Parteien. Zur umfassenden Auseinandersetzung mit dieser Thematik vgl. Kelsen, Verfassungsgesetze, 43. 15 Siehe vor allem Kelsen, Wesen, 193. 16 Zusammenfassend zu den komplexen dahinterstehenden Gedanken von Kelsen vgl. Christoph Konrath, Art  31 B-VG, in: Benjamin Kneihs/Georg Lienbacher

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zip erlaubt die offene Darstellung von Differenzen und lässt dem Pluralismus großen Spielraum. Die einfache Abänderbarkeit von Beschlüssen (die freilich zusätzlich durch Präsensquoren mitbestimmt wird) ermöglicht eine lebendige und zeitgemäße parlamentarische Auseinandersetzung.17 Der Schutz von Minderheiten ist allerdings auch im Mehrheitssystem ein gesonderter Aspekt, der in der Struktur mitbedacht ist.18 Erhöhte Quoren und qualifizierte Mehrheiten als Schutz- und Stabilisierungsfaktoren für demokratische Errungenschaften sind im Mehrheitssystem selbstverständlich und stellen es nicht generell infrage. Die Macht des Parlaments wurde durch die Stärkung des Bundespräsidenten mit der Verfassungsnovelle 1929 geschmälert. Zwar konnten die Christlichsozialen ihre umstrittenen Anliegen nicht in vollem Umfang durchsetzen, doch hat das parlamentarische Regierungssystem einen präsidentiellen Einschlag erfahren.19 Aus der demokratietheoretischen Sicht von Kelsen war die Veränderung eine Katastrophe, die „alles bisher Aufgebaute wieder umstürzen will“.20 Für Kelsen steht die „Vorstellung einer von einem Einzelmenschen dargestellten Spitze des Staates im Widerspruch zur Idee der Volksherrschaft“.21 Diese Ansicht zeugt von zeitgenössischen Traumatisierungen durch absolutistische und totalitäre Staatsformen, seien es Monarchien, Diktaturen oder sonstige Erscheinungsformen mit einem einzigen Machthaber.22 Letzen Endes wurde der Bundespräsident erst in den 1950er Jahren das erste Mal direkt gewählt.23 Seine Funktion stellt – besonders aus heutiger Sicht – keine Gefahr für die Demokratie mehr dar, vielmehr wird der Bundespräsident inzwischen als deren Garant wahrgenommen. Dies, weil seine Kompetenzen zu einem Macht-

17 18 19 20 21 22 23

(Hg.), Rill-Schäffer-Kommentar Bundesverfassungsrecht III, 19. Lieferung, Wien 2017, Rn 5–6. Zu diesbezüglich komplexen Fragestellungen Thomas Kröll, Demokratisches Grundprinzip und Anforderungen an die Ausgestaltung der Beschlusserfordernisse für die Willens- und Mehrheitsbildung, in: Zeitschrift für Verwaltung (2012) 2, 231–239, 231. Zur Unterwanderung dieser Vorstellung durch die konkreten politischen Verhältnisse vgl. Wineroither, Demokratiemodell, 141. Näher Konrath, Art 31 B-VG, Rn 6. Siehe zur Entwicklung gerafft zusammengefasst bei Lamiss Khakzadeh-Leiler, Das Scheitern der Ersten Republik, in: Zeitschrift für öffentliches Recht (2020) 1, 45–65, 51. So Kelsen zur noch umfassenderen Regierungsvorlage. Hans Kelsen, Die Verfassungsreform, in: Juristische Blätter (1929) 21, 445–457, 445. Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, Berlin 1925, 363. Hier wird gezielt nur die männliche Form verwendet. BGBl 354/1982.

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ausgleich führen – einerseits mit dem Parlament und andererseits vor allem auch innerhalb der Exekutive. Ein gut austariertes System von checks and balances bietet nach neueren Ansichten der Demokratieforschung einen besseren Bestandsschutz als ein allzu sehr auf das Parlament konzentriertes Modell.24 Schließlich ist die herausgestellte Idee der Volksherrschaft, wie sie in Art  1  B-VG normiert ist, zu spezifizieren. Durch das Recht zu wählen wird zwischen Volk und Parlament ein unmittelbarer Zusammenhang hergestellt. Insofern ist die Herrschaft des Volkes gegeben. Doch bereits die Auswahl der zu wählenden Personen unterliegt Einschränkungen. Diese können nach dem System des Listenwahlrechts nur solche sein,25 die von Parteien nominiert sind. Personen, die also ohne jegliche Selektion direkt aus dem Volk stammen, können nicht gewählt werden. Die Verbindung zwischen Volk und Parlamentarier*innen wird weiter gelockert durch die Garantien des freien Mandats (Art  56  B-VG). Eine Bindung der gewählten Volksvertreter*innen an den Volkswillen besteht insofern nicht. Im repräsentativ-demokratischen System ist die Herrschaft des Volkes also eine begrenzte. Echte Volksherrschaft kann lediglich im Rahmen der direkten Demokratie ausgeübt werden.26 Der Parlamentarismus dagegen ist ein die Demokratie einschränkendes Element, Kelsen meint, womöglich sogar das bedeutendste.27 Die Freiheit des Volkes ist hingegen eine entscheidend größere, weil grundlegend das Recht der freien Wahlen besteht.28 Darüber hinaus ist die parlamentarische Willensbildung durch die weiteren grundrechtlichen Garantien verfassungsrechtlich eingerahmt, womit die Freiheit des Einzelnen gegenüber dem Staat besonders geschützt wird. Die Grundrechte sind dadurch bereits auf der Ebene der Gesetzgebung ein wesentliches freiheitssicherndes Element und nicht erst später im Rahmen des Rechtsschutzes relevant. Das verleiht ihnen, strukturell betrachtet, eine bei weitem größere Wirkung, weil vom Gesetzge24 András Jakab, Was kann Verfassungsrecht gegen die Erosion von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit tun?, in: Zeitschrift für öffentliches Recht (2019) 3, 369–397. Anna Gamper, Staat und Verfassung, 5. Aufl., Wien 2021, 182–183. 25 Zum Listenwahlrecht als Bestandteil des demokratischen Bauprinzips vgl. Reinhard Klaushofer, Demokratie, in: Harald Eberhard/Michael Holoubek/Thomas Kröll/Georg Lienbacher/Stefan Storr (Hg.), 100 Jahre Republik Österreich, Wien 2021, 289–331, 315–316. 26 Kelsen, Wesen, 173. 27 So Kelsen, Wesen, 173. Im Detail ebd. 175. 28 Das Tatbestandsmerkmal „frei“ ist zwar erst mit BGBl I 2007/27 in das B-VG aufgenommen worden, doch war auch bereits zuvor unbestritten, dass man von demokratischen Wahlen nur bei freier Wählerentscheidung sprechen kann.

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ber schon im Entstehungsprozess freiheitssichernde Überlegungen anzustellen sind. In diesem systematischen Gefüge entfalten die Grundrechte eine präventive Funktion und haben Einfluss auf die staatliche Kultur (der Gesetzgebung). Das demokratische Konzept der Ersten Republik ist zusammengefasst ein repräsentativ-demokratisches Modell mit einem starken Parlamentsvorbehalt, der aber durch den Ausbau der Kompetenzen des Bundespräsidenten einen präsidialen Einschlag erhalten hat. Der starke Parlamentsvorbehalt äußert sich in der zuvor nicht detailliert angesprochenen Zurückdrängung direktdemokratischer Mitwirkungsmöglichkeiten, die bloß erratische Elemente in der Gesamtkonzeption bilden. Die in Art 1 B-VG kodifizierte Volksherrschaft ist angesichts des ausgeprägten Parlamentsvorbehalts eine – wie beschrieben – relative.

3. DIE REZEPTION DES DEMOKRATIEMODELLS DER ERSTEN REPUBLIK DURCH DIE ZWEITE REPUBLIK

Gezeichnet vom Austrofaschismus und von den Schrecken der NS-Gräuel waren die Gründer der Zweiten Republik froh um ein Modell, das in den Wirren der Nachkriegszeit Sicherheit vermittelte. Es dürfte wohl auch mit der personellen Kontinuität zusammenhängen und mit den Erfahrungen aus dem Ringen um die Verfassung der Ersten Republik, dass man auf die allen bekannte erste republikanische Verfassung zurückgriff.29 Das große gegenseitige Misstrauen der Parteien ließ ein Modell günstig erscheinen, das den Parlamentarismus und den Parteienstaat präferiert. Adolf Julius Merkl hat schon zur Ersten Re­publik resümiert: „[D]ie Demokratie war den großen politischen Gruppen bloß die rechtliche Plattform, von der aus man die Gefahr einer Diktatur der anderen am besten abwehren zu können glaubte.“30 So wird schon in den Anfangsmomenten der Zweiten Republik das Vorbild der Ersten Republik beschworen. In der Einleitung zur Auseinandersetzung um das 29 Bundeskanzler, Bundeskanzleramt, https://www.bundeskanzleramt.gv.at/bundeskanzleramt/geschichte/kanzler-seit-1945.html (abgerufen am 25.11.2021); Regierungen, Bundeskanzleramt, https://www.bundeskanzleramt.gv.at/bundeskanzleramt/geschichte/regierungen-seit-1945.html (abgerufen am 25.11.2021). 30 Merkl, Verfassung, 2. Wie tief die Gräben zwischen den Parteien schon seit der Ersten Republik waren, kann dem oben erwähnten Motivenbericht von Renner zur Änderung der Wahlordnung entnommen werden, der unter anderem das Ziel verfolgte, die Wahlauseinandersetzung zu „zivilisieren“. Der Motivenbericht, abgedruckt bei Kelsen, Verfassungsgesetze, 43–44.

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1. Verfassungsüberleitungsgesetz wird von Karl Renner, die – wie sich in den weiteren Diskussionen herausstellt – als Grundkonsens bestehende Prämisse formuliert, wonach es nicht die Aufgabe der provisorischen Staatsregierung sei, eine neue Verfassung zu beschließen.31 „Sie sehe sich jedoch berechtigt und genötigt, von der demokratischen Staatsordnung der Jahre 1918 bis 1933, die zum Schluss in der Verfassung 1929 festgelegt war, unter Ausscheidung aller faschistischen Experimente zu einem parlamentarischen Zustand hinüberzuleiten, bei dem die neue Volksvertretung die endgültige Verfassung herstellen werde.“32 Es wurden auch andere Varianten, wie die Einberufung des alten Parlaments, zur Wiederherstellung des früheren Rechtslebens erwogen, doch erwiesen sich diese als nicht realisierbar.33 Hinzu kam die Skepsis der Siegermächte des Zweiten  Weltkriegs. Die von unterschiedlichen Rechtstraditionen geprägten Alliierten, besonders die britischen Vertreter, hatten gravierende Bedenken gegen jedwede – möglicherweise irreversible – Festlegung durch die provisorische Staatsregierung.34 Da jede Verfassungsänderung von der Zustimmung der Alliierten abhängig war, was diese äußerst aufwendig und schwierig gestaltete, wurde es als Glücksfall betrachtet, zumindest auf der alten Verfassung aufbauen zu können. Wörtlich erklärte Renner am Ende der Diskussion über das 2. Verfassungsüberleitungsgesetz 1945: „Ich halte es für einen Glücksfall, daß wir uns jetzt in die alte Verfassung flüchten können, bis die Zeit kommt, wo wir uns frei entscheiden können.“35 Für die Anknüpfung an die Erste Republik sprach auch, dass es nicht den rechtlichen Grundlagen der Verfassung 1920 angelastet wurde, in die Ära des Faschismus und Nationalsozialismus gekippt zu sein. Das wurde vielmehr den politischen und sozialen Umständen zugeschrieben.36 Letzten Endes wurde die Verfassung 1920 idF von 1929 zum Rechtsbestand der Zweiten Republik erhoben.37 Die mit StGBl 1945/4 übergeleitete Verfassung stellte Kontinuität im Rechtsbestand her und knüpfte inhaltlich an das skizzierte Demokratiemodell der Ersten Republik an.38 31 Beschlussprotokoll der Kabinettsratssitzung Nr. 6 (13.5.1945) 63. 32 Ebd. 33 Ebd., 64. 34 Siehe dazu Beschlussprotokoll der Kabinettsratssitzung Nr. 42 (13.12.1945), 415. 35 Ebd., 415. 36 Ausführlich Khakzadeh-Leiler, Das Scheitern. Siehe auch zum zeitgenössischen Verständnis Merkl, Ständisch-autoritäre Verfassung, 2. 37 Näherhin zum Entwicklungsprozess siehe Klaushofer, Demokratie, mwN. 38 Zur Auseinandersetzung mit dieser dogmatisch fingierten Kontinuität und dem

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4. DER ROTE FADEN DES DEMOKRATIEMODELLS

Am parlamentarisch-repräsentativen System mit präsidentiellem Einschlag hat sich bis heute nichts verändert. Doch damit ist nur das zentrale Element des demokratischen Modells benannt. Der Demokratiegedanke durchzieht unsere Verfassung wie ein roter Faden.39 4.1 Legalitätsprinzip

Was die inhaltliche Steuerung anbelangt, wird durch das Legalitätsprinzip, also die Bindung von Verwaltung und Gerichtsbarkeit an das Gesetz (Art 18 und 89 B-VG), zwischen demokratisch legitimierter Gesetzgebung und der Vollziehung die maßgebliche Verbindung hergestellt. Verwaltungsorgane wie Richter*innen sind an das Gesetz gebunden. Das Gesetz steuert Staatsorgane und die Gesellschaft insgesamt. Seine Verbindlichkeit sichert das geordnete Zusammenleben. Das Gesetz ist Drehscheibe zwischen demokratisch gewählten Parlamenten, daran gebundener Vollziehung und Rechtsunterworfenen. Es ist Scharnier zwischen Wahl, strikter Vorgabe und berechtigtem Freiraum. 4.2 Staatsorganisation

Die demokratische Natur unserer Verfassung bildet sich auch in der Staatsorganisation ab. 4.3 Verwaltung

Besonders die Verwaltung weist eine starke demokratische Durchdringung auf. Das in Art 20 Abs 1 B-VG verankerte Weisungsprinzip unterstellt die Verwaltung den obersten Organen.40 Oberste Organe sind die Regierungsmitglierechtlichen Pouvoir der provisorischen Staatsregierung vgl. Klaushofer, Demokratie, 304–305 mwN. 39 Unter vielen mwN Harald Eberhard, Demokratische Verwaltung und „Demokratisierung aller Lebensbereiche“, in: Zeitschrift für Verwaltung (2015) 1a, 158–164, 158. 40 Walter Berka, Verfassungsrecht, 8. Aufl., Wien 2021, 212–213. Theo Öhlinger/Harald Eberhard, Verfassungsrecht, 12. Aufl., Wien 2019, 231–232. Christoph Grabenwarter/Michael Holoubek, Verfassungsrecht – Allgemeines Verwaltungsrecht, 4. Aufl., Wien 2019, 415–416.

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der auf Bundes- und Landesebene, die in mehrfacher Weise an die jeweiligen Parlamente rückgebunden sind: So erlauben Interpellations-, Resolutions- und Zitationsrechte (Art 52 B-VG) National- und Bundesrat, die Geschäftsführung der Bundesregierung zu überprüfen. Selbst die Leiter*innen weisungsfreier Organe können vor Nationalund Bundesrat zitiert werden (Art  52  Abs  1  B-VG), um sie zu allen Gegenständen der Geschäftsführung zu befragen. Gesonderte Kontrollmöglichkeiten bietet darüber hinaus das Enqueterecht (Art 53 Abs 1 B-VG), also die Kontrolle durch Untersuchungsausschüsse. Die demokratische Legitimationskette der obersten Verwaltungsorgane als Weisungsspitze der Vollziehung und ihre Kontrolle durch die Parlamente ist nicht nur politisch gegeben, sie ist auch rechtlich ausgeformt. Der Verfassungsgerichtshof hat über Ministeranklagen zu entscheiden (Art 142 Abs 1 B-VG), die etwa auf Bundesebene vom Nationalrat zu erheben sind (Art 76 Abs 2 B-VG). Die Verantwortung der obersten Organe gegenüber dem Parlament und ihre Machtposition gegenüber den untergeordneten Organen schafft einen demokratischen Legitimationszusammenhang im Bereich der Verwaltung. 4.3.1 Bundespräsident

Eine besondere Rolle nimmt der Bundespräsident ein. Seine Einführung war, gerade auch aus demokratischer Sicht, umstritten.41 Andererseits repräsentiert er, gemeinsam mit den unten noch zu erwähnenden Gemeindeorganen, jenes Verwaltungsorgan, das unmittelbar demokratisch legitimiert ist (Art  60  Abs  1  B-VG). Im Machtgefüge zwischen Legislative und Exekutive kommt dem Bundespräsidenten eine spezifische Rolle zu, die einerseits das repräsentativ-parlamentarische System schwächt, weil es ursprüngliche Kompetenzen des Parlaments auf ihn überträgt. Andererseits wird die Exekutive in ihrer Macht gezügelt, weil sie zur Kooperation mit dem Bundespräsidenten gezwungen wird. Schließlich wird die Mitwirkungs- und damit mittelbare Gestaltungsmöglichkeit des Wahlvolks sowohl in Bezug auf Legislative als auch Exekutive gestärkt, weil es eine zweite Säule zur Verwirklichung seines Wahlrechts vorfindet. 4.3.2 Gemeinden und sonstige Selbstverwaltung

Eine demokratisch ambivalente Rolle im Staatsgefüge nehmen Gemeinden und sonstige Selbstverwaltungskörper ein. Mit ihrem Recht auf Selbstverwal41 Oben Punkt II.

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tung bilden sie gewissermaßen eigene Zellen im Staat und sind bis zu einem gewissen Grad Gegenspieler des Staates.42 Das ist freilich in sozial-gesellschaftlicher Hinsicht gemeint, denn an der Gesetzesbindung der Gemeindeorgane und auch jener der sonstigen Selbstverwaltung bestehen keine Zweifel. Auch werden sie staatlich beaufsichtigt, wenngleich eben der maßgebliche Schutz der Selbstverwaltung darin besteht, dass staatliche Organe in ihren eigenen Wirkungsbereich nicht eingreifen dürfen. Vor dem Hintergrund dieser Oppositionsstellung gegenüber dem Staat erscheinen vor allem Gemeinden ambivalent. Denn trotz ihrer organisatorischen Selbständigkeit und der damit verbundenen Abgrenzung vom Staat ist die Bestellung der Gemeindeorgane (Bürgermeister*innen und Gemeinderät*innen) nach den allgemeinen Wahlprinzipien vorzunehmen. Das heißt, sie werden aufgrund des gleichen, unmittelbaren, persönlichen, freien und geheimen (Verhältnis-)Wahlrechts auserkoren (Art 117 Abs 2 und Abs 6 B-VG, obschon für die Persönlichkeitswahl der Bürgermeister*innen das Verhältniswahlrecht selbstverständlich nicht gilt). Der Verfassungsgerichtshof vertritt die Auffassung, dass der Gemeindeselbstverwaltung ein parlamentarisch-demokratisches System zugrunde liegt,43 weshalb die Einführung der Bürgermeisterdirektwahl einer verfassungsrechtlichen Grundlage bedurfte, weil sie einen Systemwechsel zu einem dualen System bedeutet. Gemeindeorgane sind folglich auch jene Verwaltungsorgane, die nach den allgemeinen Wahlprinzipien gewählt werden und nicht, wie sonst üblich, aus einem anderen Auswahlprozess hervorgehen. Sie sind damit unmittelbar demokratisch legitimierte Verwaltungsorgane, so, wie wir es in unserer Verfassung nur noch für den Bundespräsidenten kennen (Art 60 Abs 1 B-VG). Weniger scharf ist die angesprochene Ambivalenz hinsichtlich der sonstigen Selbstverwaltung, deren Organe nach „demokratischen Grundsätzen“ zu bilden sind, womit bei aller Offenheit dieser Formulierung jedenfalls nicht an die Konzeption des parlamentarisch-demokratischen Systems angeknüpft wird. Dennoch wird ein Mindestmaß an demokratischer Mitbestimmung der Angehörigen des jeweiligen Selbstverwaltungskörpers verlangt. 4.3.3 Gerichtsbarkeit

Wegen ihrer Schlüsselrolle beim Schutz der Rechtsstaatlichkeit genießt die Gerichtsbarkeit bereits konzeptionell eine starke Unabhängigkeit. Folglich weist sie eine entsprechende Distanz zu den übrigen staatlichen Institutionen auf. 42 Kelsen/Fröhlich/Merkl, Bundesverfassung, 228. 43 VfSlg 13.500/1993.

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Doch auch für dieses Segment der Staatsorganisation können gewaltenverbindende Elemente ausgemacht werden. Besonders der Bestellmodus von Verfassungsrichter*innen stellt einen Nahebezug zur demokratischen Basis unserer Verfassung her: Bundesrat und Nationalrat kommen Vorschlagsrechte für einen Teil der Mitglieder und Ersatzmitglieder des VfGH zu (Art 147 Abs 2 BVG).44 4.3.4 Rechnungshof und Volksanwaltschaft

Schließlich prüfen Rechnungshof und Volksanwaltschaft als Kontrollorgane des Nationalrates die Vollziehung.45 Die beiden Einrichtungen sind dem Nationalrat verantwortlich und somit unmittelbar an ihn rückgebunden (Art 123 und 148g Abs 6 B-VG). Ihre Verantwortlichkeit gegenüber dem Parlament auf der einen Seite und ihre Kontrollaufgaben gegenüber der Vollziehung auf der anderen Seite bauen darüber hinaus eine Brücke zwischen unmittelbar demokratisch legitimiertem Gesetzgebungsorgan und mittelbar demokratisch legitimierten Vollzugsorganen. 4.4 Zusammenfassung

Die erörterten verfassungsrechtlichen Grundlagen der Staatsorganisation zeigen, dass nicht bloß den Parlamenten das demokratische Element eingeschrieben ist. Parlamente sind das Sinnbild der repräsentativen Demokratie Österreichs, doch die dargestellten systematischen Verknüpfungen, gewaltenübergreifenden Verbindungen und einzelnen Ausgestaltungen der Kreation von Verwaltungsorganen veranschaulichen einen weit über das Parlament hin­ ausgehenden Demokratiegedanken unserer Verfassung. Bereits in der Ersten Republik wurden die maßgeblichen Grundlagen dafür geschaffen und in die Zweite Republik überführt. 44 Historisch traf das auch auf den Verwaltungsgerichtshof zu: Diesbezüglich kamen dem Hauptausschuss des Nationalrates und dem Bundesrat Mitwirkungsrechte bei der Bestellung zu (Art 135 B-VG in der Fassung BGBl 1920/1). Im geltenden Recht ist eine solche Mitwirkung nicht mehr vorgesehen (Art 134 Abs 4 B-VG). Die seit 2014 bestehenden Verwaltungsgerichte auf Landes- und Bundesebene folgen dem Modell des Verwaltungsgerichtshofes (Art 134 Abs 2 und 3 B-VG). Ebenso ist für die Zivil- und Strafgerichtsbarkeit keine Gewaltenverbindung hin zu den Parlamenten gegeben (Art 86 Abs 1 B-VG). 45 Berka, Verfassungsrecht, 293; Öhlinger/Eberhard, Verfassungsrecht, 254, Grabenwarter/Holoubek, Verfassungsrecht, 149. Weitere Aufgabenstellungen der beiden Einrichtungen bleiben hier außer Betracht.

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5. SCHLUSSFOLGERUNG UND AUSBLICK

Die Ausgangsthese, die Erste Republik sei ein Vorbild für die demokratische Ausrichtung unserer geltenden Verfassung, hat sich durchgehend erhärtet. Sämtliche demokratischen Elemente unserer heutigen Verfassung wurden bereits in der Ersten Republik geschaffen. Selbst die besprochenen inneren Konstruktionszusammenhänge, die unsere Verfassung wie ein roter Faden durchziehen, waren bereits in der Ersten Republik vorhanden. Aus dem Blickwinkel der Rechtswissenschaften wurde das Narrativ der Demokratie in der Ersten Republik geboren. Ob es das einer gelungenen Demokratie ist, hängt wohl – damals wie heute – davon ab, welchen Wert die Menschen ihr beimessen. Nachdenklich stimmen hier die Worte von Merkl zur Ersten Republik, die auch als Warnung für die heutige Zeit gelten können: „Die Todesursache dieser Verfassungsdemokratie war letztlich die, daß es eine Demokratie ohne geschulte und überzeugte Demokraten, ja vielleicht überhaupt ohne Demokraten war.“46 Es ist zu hoffen, dass nunmehr genügend überzeugte Demokrat*innen in unserem Staat leben, um von einer gelungenen Demokratie sprechen zu können.47 Die Demokratie lebt vom Diskurs, ist ausgerichtet auf wechselnde Mehrheiten und sucht den Kompromiss. Nie geht es daher um idealtypische Lösungen, sondern um ein gemeinsames Ganzes. Dieses Ganze ist auch den Minderheiten und Einzelnen verpflichtet, deren Schutzschilder die Grundrechte sind. Grundrechte bieten allerdings keinen absoluten Schutz, doch verlangen sie den geringstmöglichen Eingriff in Freiheitssphären und garantieren Gleichheit. Unsere Verfassung bietet einen stabilen Rahmen für diese Art der Demokratie. Menschen und vor allem politische Entscheidungsträger sowie gesellschaftliche Vorbilder sind aufgerufen, den aufeinander bezogenen, respektvollen Diskurs zu pflegen und so die Demokratie mit Leben(slust) zu füllen. Dann können wir wohl auch von einer gelungenen Demokratie sprechen.

46 Merkl, Verfassung, 2. 47 Zu den (subtilen) Gefahren vgl. Georg Lienbacher, Autokratieresistenz der österreichischen Bundesverfassung, in: Zeitschrift für öffentliches Recht (2020) 1, 67–97, 67.

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Margit Reiter

WIE WIRD MAN DEMOKRAT*IN? NARRATIVE ZUR DEMOKRATIE IN ÖSTERREICH NACH 1945

1. EINLEITUNG

Um über ein Scheitern oder Gelingen der Demokratie der Zweiten Republik Österreich zu befinden, lohnt sich ein Blick zurück auf deren Ausgangspunkt: das Jahr 1945, das ganz im Zeichen des demokratischen Neuanfangs stand. In der Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945, dem zentralen Gründungsdokument des neu erstandenen Österreich, wird im Artikel 1 festgehalten: „Die demokratische Republik Österreich ist wiederhergestellt und im Geiste der Verfassung von 1920 einzurichten.“1 Die Zweite Republik war als bewusste Antithese zum Nationalsozialismus, aber auch zur (gescheiterten) Ersten Republik gedacht, die vor allem aufgrund der politischen Polarisierung und Radikalisierung als Negativfolie diente. Die ehemals verfeindeten politischen Gegner waren nunmehr entschlossen, über alle politischen Gräben hinweg den demokratischen Wiederaufbau in Angriff zu nehmen. Die Abgrenzung von der konfliktreichen jüngeren Vergangenheit sowie das Bekenntnis zum neuen Öster­reich gehörten somit zu den Grundpfeilern der Zweiten Republik. Wie nach jedem Ende einer politischen Diktatur stand man 1945 auch in Österreich vor der Herausforderung, aus den ehemaligen Anhänger*innen eines autoritären, faschistischen Regimes Demokrat*innen zu machen, und vor der Frage, wie dieser notwendige Prozess einer umfassenden Demokratisierung eingeleitet und umgesetzt werden sollte. Ausgehend von diesen zentralen Fragen der Nachkriegszeit geht der Beitrag den Narrativen zur Demokratie im postnationalsozialistischen Österreich nach und nimmt dabei drei verschiedene diskursive Ebenen in den Blick: zum einen die politische Ebene, und dabei besonders die Demokratie-Postulate der politischen Nachkriegselite in Österreich (von oben); zum anderen werden Vorstellungen und Maßnah1

Proklamation über die Selbständigkeit Österreichs vom 27.4.1945, (StGBl. 1/1945), URL: https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen& Gesetzesnummer=10000204 (abgerufen am 10.6.2021).

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men der Alliierten zur Demokratisierung Österreichs aufgezeigt, wobei besonders die amerikanische Reeducation-Politik beleuchtet wird (von außen). Und schließlich geht es um die Wirkungsmacht all dieser Demokratie-Vorstellungen und Bemühungen nach 1945 auf die ehemaligen, teils nach wie vor ideologisch überzeugten Nationalsozialist*innen, die es zu „demokratisieren“ galt (nach innen).

2. DEMOKRATIEDISKURSE NACH 1945 IN DER ÖSTERREICHISCHEN POLITIK

Der Stellenwert der Demokratie in der österreichischen Nachkriegspolitik kann exemplarisch anhand des politischen Diskurses im Parlament – gewissermaßen dem Hort der Demokratie – abgelesen werden. Nach den ersten Wahlen im November 1945 wurde die Eröffnung des Nationalrates am 19. Dezember 1945 als „Ehrentag der wiedererstandenen österreichischen Demokratie“2 gefeiert. Altpräsident Karl Seitz hielt in seiner Festrede fest: „Wir wissen, daß wir eine Geschichte haben, die uns Verpflichtungen auferlegt. Wir wissen vor allem, daß wir nicht aus Liebedienerei, und weil es heute modern ist, sondern aus urinnerster Überzeugung Demokraten sind und nichts anderes wollen, als daß der Staat nach den Gesetzen wahrer Demokratie geleitet werde.“3 Auch die übrigen Festredner wie Staatskanzler Karl Renner gaben unter Verweis auf den Artikel 1 der Unabhängigkeitserklärung ein „feierliches Bekenntnis [zu einem] freien, selbständigen, unabhängigen und demokratischen Staatswesen.“ ab. Dieses patriotische „Bekenntnis zu Österreich“ – und nicht zur Demokratie – wurde zur zentralen Beschwörungsformel am Beginn der Zweiten Republik.4 Während in Österreich die Abgrenzung von NS-Deutschland und vom Deutschnationalismus nach 1945 als die Eintrittskarte in die Demokratie galt, fungierte im NS-Nachfolgestaat Deutschland neben dem expliziten Bekenntnis zur Demokratie auch die Abgrenzung vom Antisemitismus als Lackmustest für Demokratiefähigkeit.5

2 3 4 5

Stenographische Protokolle des Nationalrats der Republik Österreich, V. Gesetzgebungsperiode (GP), 19.12.1945 – 8.11.1949, hier: 2. Sitzung, 21.12.1945, 27. Stenographisches Protokoll, V. GP, 1. Sitzung, 19.12.1945, 4. Vgl. exemplarisch: Es lebe die Republik Österreich!, Neues Österreich, 28.4.1945, 1–2. Frank Stern, Im Anfang war Auschwitz. Antisemitismus und Philosemitismus im deutschen Nachkrieg, Gerlingen, 1991.

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Insgesamt blieben die Referenzen auf die Demokratie im politischen Nachkriegsdiskurs Österreichs erstaunlich gering und gerieten zur rhetorischen Floskel, ohne nähere Klärung, was man darunter verstand. In erster Linie beriefen sich die Nachkriegspolitiker*innen der drei Gründungsparteien ÖVP, SPÖ und KPÖ auf die erfolgreich durchgeführten „ersten demokratischen“ Wahlen, woraus sie ihre Legitimität bezogen, und verwiesen stolz auf das reibungslose Funktionieren ihrer auf Konsens ausgerichteten Politik. Bereits in den Anfängen der Zweiten Republik entwickelte sich somit das Narrativ einer erfolgreichen und geglückten Demokratie – noch bevor die Demokratiefähigkeit in einem weiteren Sinne unter Beweis gestellt werden musste. Die politische Elite war sich durchaus bewusst, dass Österreich grundsätzlich „demokratisiert“ werden müsse, wobei konkret die Verwaltung, der Sicherheitsapparat und das Erziehungs- und Bildungswesen als bevorzugte Bereiche genannt wurden.6 Unter „Demokratisierung“ verstand man in erster Linie die Säuberung aller Bereiche vom „nazistischen (Un)Geist“, wie es in der zeitgenössischen Diktion hieß. Besonderes Augenmerk sollte dabei auf die Erziehung der Jugend gelegt werden, die Bundeskanzler Leopold Figl zufolge „mit gesamteuropäischem, demokratischem Gedankengut“ zu erfüllen sei: Es dürfe „kein Mittel unversucht bleiben, um die bereits mehr oder minder vom nazistischen Geist verseuchte Jugend wieder zur österreichischen Idee zurückzuführen“ – so der Bundeskanzler.7 Die (wiedererstandene) Demokratie der Zweiten Republik wurde als absolutes Gegenprogramm zu Diktatur und Faschismus gesehen. Daher nahm die Säuberung vom Nationalsozialismus sowohl auf der ideologischen als auch personellen Ebene die oberste Priorität im Demokratiediskurs ein. Demokratisierung war gleichbedeutend mit Entnazifizierung, zumindest in der politischen Rhetorik am Beginn der Republik. Dies zeigte sich besonders in den Debatten um die sogenannte „Nazifrage“, die zu einer zentralen Agenda der ersten Nachkriegsjahre wurde und den öffentlichen und politischen Diskurs dominierte.8 Eine konsequente Entnazifizierung galt als unabdingbare Voraussetzung für eine erfolgreiche Demokratisierung. Grundsätzlich vertraten alle drei Gründungsparteien die Auffassung, dass führende NS-Funktionsträger und NS-Täter zur Rechenschaft gezogen werden sollten, wohingegen die „kleinen Nazis“, die „Irr6 Stenographisches Protokoll, V. GP, 2. Sitzung, 21.12.1945, 28. 7 Ebd., 21. 8 Vgl. Beiträge zu Österreich in Werner Bergmann/Rainer Erb/Albert Lichtblau (Hg.), Schwieriges Erbe. Der Umgang mit Nationalsozialismus und Antisemitismus in Österreich, der DDR und der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a. M.–New York 1995.

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geleiteten, Verführten und Mitläufer“, wie es hieß, wieder in die demokratische Gemeinschaft einzugliedern wären. Nuancen bestanden allerdings in der Umsetzung und in der politischen Praxis, die mit zeitlicher Distanz immer mehr abgeschwächt wurde.9 Während die ÖVP schon sehr früh und ohne weitere Vorbedingungen für eine Reintegration der ehemaligen Nationalsozialist*innen eintrat und die Zulassung aller Nationalsozialist*innen zu den Novemberwahlen 1945 befürwortete10, war für die SPÖ ein politischer Umdenkprozess Voraussetzung für eine Wiedereingliederung in die demokratische Gesellschaft. Der SPÖAbgeordnete Migsch formulierte dies so: „Wer grundsätzlich ein Todfeind der Demokratie und der Freiheitsrechte des Individuums ist, hat kein Recht, an der politischen Gestaltung eines demokratischen Staatswesens mitzuwirken! Dieser Grundsatz ist ein Selbstschutzelement der Demokratie! Jeder, der der nationalsozialistischen Propaganda erlegen ist, hat politisch versagt und muß umlernen.“11 Erst nach einer „staatspolitische[n] Umschulung der Mitläufer und Verführten“, so Migsch weiter, sollten diese allmählich zur „Mitarbeit in Gesellschaft und Staat“ herangezogen werden.12 Sein Parteikollege Ernst Koref bekräftigte diesen Ansatz, wobei auch er eine Tür für die Betroffenen offen ließ: „Die Demokratie und nur die Demokratie ist der Fels, auf dem wir den Staat der Gegenwart und Zukunft bauen wollen. Wer zu ehrlicher Mitarbeit entschlossen ist und […] in vollkommener Reue den dunklen Fleck der Vergangenheit gewissenhaft zu beseitigen willens ist, kurz, wer es aufrichtig meint mit dem österreichischen Volk, der soll uns willkommen sein.“13 Weniger entgegenkommend gegenüber ehemaligen Nationalsozialist*innen zeigte sich hingegen der SPÖ-Abgeordnete Hacken­berg, der apodiktisch feststellte: „Rohlingen, Menschen, die die Humanität verachten, Menschen, die die Gewalt anbeten, die sich ihr verschreiben […] sind nicht würdig, als gleichberechtigte Glieder in die Demokratie aufgenommen zu werden. […] Sie müssen erst umerzogen werden, sie müssen erst lernen, was es heißt, in der Demokratie zu sein, sie müssen die Vorteile der Demokratie selbst erst schätzen lernen, sie müssen sich einfügen in das, was das demokratische System heißt. Die Umerziehungsarbeit wird eine schwere Arbeit sein. […] 9 Grundlegend dazu Dieter Stiefel, Entnazifizierung in Österreich, Wien–München–Zürich 1981; Sebastian Meissl/Klaus-Dieter Mulley/Oliver Rathkolb (Hg.), Verdrängte Schuld, verfehlte Sühne. Entnazifizierung in Österreich 1945–1955. Symposion des Instituts für Wissenschaft und Kunst, Wien 1986. 10 Stiefel, Entnazifizierung, 64–65. 11 Stenographisches Protokoll, V. GP, 28. Sitzung, 24.7.1946, 585. 12 Ebd. 13 Ebd., 598.

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Nur mit Strenge können wir daher erreichen, daß sie die Demokratie achten lernen, wenn sie sie schon nicht lieben können.“14 Die Parteien und ihre Vertreter*innen im Parlament sahen sich in der Rolle als „Erzieher“, wobei nach allgemeiner Auffassung die „Unbelehrbaren“ – oder wie es der SPÖ-Abgeordnete Koref einmal formulierte: die „undemokratischen und antidemokratischen Wegelagerer“15 – bestraft, die „Mitläufer“ hingegen für die Demokratie (zurück-)gewonnen werden sollten. Diese Doppelstrategie von Strafe und Belohnung, von Exklusion und Integration wäre allerdings nur dann erfolgreich, so die Argumentation des KPÖ-Abgeordneten Ernst Fischer, wenn damit eine umfassende Demokratisierung in Gesellschaft und Politik einherginge.16 Außerdem wurde vonseiten der KPÖ eine Bringschuld der Betroffenen eingefordert, wie in einer ausführlichen Debatte unter dem Titel „Die Nazimitläufer und ihr Weg zurück“ in der Zeitschrift Österreichisches Tagebuch klar zum Ausdruck kam.17 Als Voraussetzung für eine demokratische Wiedereingliederung von ehemaligen Nationalsozialist*innen sollten diese nicht nur „tätige Reue“ zeigen, sondern ihre Demokratiefähigkeit durch aktive Mitarbeit in der Demokratie unter Beweis stellen.18 Die von antifaschistischer Seite wiederholt geforderte Überprüfung der zu reintegrierenden ehemaligen Nationalsozialist*innen hinsichtlich ihrer demokratischen Gesinnung19 fand in der politischen Praxis jedoch kaum statt. Demzufolge gab es in Österreich auch kein Demokratisierungsprogramm von oben. Vielmehr ließ der Wille zu einer umfassenden Entnazifizierung sehr bald nach, und es überwog parteienübergreifend die Bereitschaft zur Reintegration ehemaliger Nationalsozialist*innen, die mithilfe von weitreichenden Amnestien und durch die Wiederzulassung zu den Wahlen 1949 schließlich bewerkstelligt wurde. Politische Rhetorik und politische Praxis waren keineswegs immer ident. 14 Ebd., 603. 15 Stenographisches Protokoll V. GP, 2. Sitzung, 21.12.1945, 28. 16 Stenographisches Protokoll V. GP, 28. Sitzung, 24.7.1946, 602. Vgl. auch: Ein klares Nein zur Vergangenheit. Ein klares Ja zur demokratischen Zukunft Österreichs, Volksstimme, 25.7.1946, 1. 17 Die Debatte fand 1946 über mehrere Monate hinweg statt. Exemplarisch dazu: Jenö Kostmann, Der Mitläufer des Nazismus und sein Weg zurück, Österreichisches Tagebuch, Nr. 18, 3.8.1946, 3–4; Ein PG schreibt an uns, Österreichisches Tagebuch, Nr. 21, 24.8.1946, 3; Jenö Kostmann, Die Nazisühne. Ein Schlusswort, das keines ist, Österreichisches Tagebuch, Nr. 27, 5.10.1946, 5. 18 Exemplarisch Jenö Kostmann, Der Mitläufer des Nazismus und sein Weg zurück, in: Österreichisches Tagebuch, Nr. 18, 3.8.1946, 3–4. 19 Stenographisches Protokoll, V. GP, 4. Sitzung, 18.1.1946, 55.

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3. „REEDUCATION“ UND „REORIENTATION“: DEMOKRATISIERUNGSVERSUCHE VON AUSSEN

Nach ihrem Sieg über den Nationalsozialismus fungierten die Alliierten als Besatzungsmächte in Deutschland und Österreich, wo sie eine Stabilisierungsund Kontrollfunktion einnehmen sollten. Sie galten der österreichischen Politik einerseits als „Hüter der demokratischen Entwicklung“20, von denen man sich die erwünschte Unterstützung der Unabhängigkeit Österreichs erwartete; andererseits gehörten Klagen über zu viel Einmischung von außen, besonders was die Entnazifizierung betraf, zum fixen Bestandteil des politischen Nachkriegsdiskurses. Dabei lag die Entnazifizierung in Österreich schon sehr früh und anders als in Deutschland in den Händen der österreichischen Regierung, und die Alliierten übten nur mehr eine Kontrollfunktion aus, die sie allerdings selten, so z. B. beim Einspruch gegen den zu weit gehenden Regierungsentwurf für das Nationalsozialistengesetz von 1947, beanspruchten.21 Die Alliierten, besonders die Amerikaner, hatten bereits während des Krieges elaborierte Umerziehungs- und Demokratisierungs-Konzepte entwickelt, die als Instrument der politischen Neuordnung und des demokratischen Wiederaufbaus im postnationalsozialistischen Europa eingesetzt werden sollten. Ausgehend davon, dass Erziehung und Bildung zentrale demokratiepolitische Säulen seien, sollte – anders als 1918 – nicht nur der Krieg, sondern auch der Frieden gewonnen werden, das heißt: Die militärische Kapitulation wurde erstmals auch mit einem groß angelegten erzieherischen und sozialpsychologischen Programm zur mentalen Abrüstung (mental disarmament) verknüpft.22 Demokratie verstand man nicht allein als politisches Instrument, sondern als zivilgesellschaftliches Projekt: „Democracy is not merely a form of government but a way of life, a set of social habits, a code of ethics.“23 Erklärte Ziele der geplanten Demokratisierung waren damit neben der Demilitarisierung und Entnazifizierung auch die Erziehung zu Toleranz, Freiheit und demokratischer Selbstbestimmung. Dieser werteorientierte Zugang unterschied sich erheblich von jenem der verantwortlichen Nachkriegspolitiker*innen in Österreich, die sich auf die Wiedereinführung des demokratischen politischen Systems konzentrierten und insgesamt ein 20 Stenographisches Protokoll, V. GP, 2. Sitzung, 21.12.1945, 20. 21 Stiefel, Entnazifizierung, 101–124. 22 Christian H. Stifter, Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration. US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Neuorientierung österreichischer Wissenschaft 1941–1955, Wien 2014, 18. 23 Edwin G. Conklin, zit. nach Stifter, Erneuerung, 102.

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eher instrumentelles Verständnis von Demokratie hatten. Die amerikanischen Demokratisierungskonzepte firmierten bald unter dem Begriff der Reeducation oder der Reorientation.24 Auch wenn diese Begriffe oft als Synonyme gebraucht wurden, waren sie unterschiedlich konnotiert: Während Reeducation, also Umerziehung im engeren Sinn, nach dem Top-down-Prinzip funktionierte und ihr etwas Bevormundendes anhaftete, wurde Reorientation eher als längerfristige Strategie und als Angebot gedacht und vielfach auch so verstanden. Österreich spielte in den amerikanischen Nachkriegskonzeptionen der USA keine besondere Rolle. Deren Schwerpunkt lag eindeutig auf Deutschland, das zum einen als Hauptverantwortlicher für den Nationalsozialismus, aber auch bereits als künftiger Bündnispartner im sich abzeichnenden Kalten Krieg galt. Demzufolge gab es vonseiten der USA keine spezifische „Österreich-Planung“, wenn auch entsprechend der Moskauer Deklaration vonseiten der Alliierten von Beginn an eine etwas mildere Behandlung angedacht war.25 In Österreich sollte vor allem das Konzept der Reorientation in die politische Praxis umgesetzt werden.26 Ziel war weniger eine auf Bestrafung abzielende Sanktionierung als eine nachhaltige Demokratisierung, wobei der Schwerpunkt auf dem Bildungs- und Erziehungswesen (Schule, Universitäten) sowie auf den Medien und der Kultur lag und die bevorzugte Zielgruppe – neben den ehemaligen Nationalsozialist*innen – „die Jugend“ war. Die strategischen Stoßrichtungen der intendierten Demokratisierung kamen in den zahlreichen Reeducation-Filmen, die im besiegten Deutschland und Österreich verbreitet wurden, klar zum Ausdruck. Zum einen sollte die deutsche und österreichische Bevölkerung mit den NS-Verbrechen konfrontiert werden, um eine Abkehr vom Nationalsozialismus zu erzielen. Konkret sollte die auf Schuld- und Schamgefühle abzielende Distanzierung vom Nationalsozialismus durch sogenannte Atrocity-Filme – „Todesmühlen“ ist der bekannteste davon – erreicht werden.27 Die zweite Zielsetzung war die Erziehung zur Demokratie, wobei die 24 Stifter, Erneuerung, 160–161. 25 Zur Rolle Österreichs in der Reeducation-Planung vgl. Stifter, Erneuerung, 239– 248; Reinhold Wagnleitner, Coca-Colonisation und Kalter Krieg. Die Kulturmission der USA in Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg (Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik 52), Wien 1991, 82. 26 Stifter, Erneuerung, 151–152; Thomas Liebl, Die Umerziehung der österreichischen Bevölkerung zu demokratischen Grundsätzen durch die US-amerikanischen Besatzer, Dipl.-Arb., Salzburg 1997. 27 Michaela Anderle, Todesmühlen in Wien. Auf den Spuren eines Films im Dienste der Re-education, Dipl.-Arb., Wien 2009; Ulrike Weckel, Beschämende Bilder.

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funktionierende amerikanische Demokratie als Vorbild dienen sollte. Die zu diesem Zweck eingesetzten Reeducation-Filme standen unter dem Motto: „Wie werde ich Demokrat?“28 und lieferten praktische Informationen zum Ablauf von Wahlen und Gerichtsverhandlungen sowie filmische Anleitungen zum Erlernen der Demokratie. Mit Filmbeispielen unter dem Titel: „Demokratie fängt ganz unten an“ und „Lernen Sie diskutieren“ sollten aus dem gehorsamen Untertanenvolk „brauchbare Staatsbürger“ im Sinne einer aktiven „Citizenship“ werden. Drittens ging es den Amerikanern um die Propagierung und Popularisierung des „american way of life“, wobei dies zunächst vor allem auf positive Anreize und Vorbildwirkung abzielte und (noch) nicht aggressiv-propagandistisch verstanden wurde wie später im Kalten Krieg.29 Der im Zentrum der amerikanischen Reorientierung stehende Erziehungs- und Bildungsbereich lag in Österreich in den Händen der eigens dafür eingerichteten, aber personell schwach aufgestellten „Education Division“.30 Wesentliche Arbeitsschwerpunkte dieser Einrichtung waren die nachhaltige Demokratisierung der Universitäten, Erwachsenenbildung, Büchereien, Jugendarbeit und vor allem der Schulen. Bereits nach der Wiedereröffnung der ersten Schulen im Mai 1945 planten die amerikanischen Besatzer die Säuberungen der Lehrpläne und Unterrichtsmaterialien von NS-Gedankengut und die Entnazifizierung der Lehrkräfte sowie die Implementierung moderner Unterrichtsmethoden und eine verbesserte Lehrerbildung.31 Im 2.  Kontrollabkommen im Juni 1946 wurde die österreichische Regierung zur Schaffung eines „progressiven“ Erziehungssystems verpflichtet, mit dem erklärten Ziel, „sowohl alle Spuren der NS-Ideologie zu tilgen als auch die österreichische Jugend mit demokratischen Prinzipien zu erfüllen“.32 Die praktische Umsetzung all dieser Pläne zur geistig-mentalen Reorientierung erwies sich jedoch als schwierig, besonders was die Entnazifizierung der Lehrerschaft betraf, da man aufgrund der

28

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Deutsche Reaktionen auf alliierte Dokumentarfilme über befreite Konzentrationslager, Stuttgart 2010. Eine Kompilation von Reeducation-Filmen findet sich auf der Doppel-DVD: Wie werde ich Demokrat? Reeducation durch Film nach 1945. Ein Film von Dieter Reifarth (arte-Edition) Berlin 2014; vgl. auch Brigitte J. Hahn, Dokumentarfilme im Dienste der Umerziehung. Amerikanische Filmpolitik 1945–1953, in: Heiner Roß (Hg.), Lernen Sie diskutieren! Re-education durch Film. Strategien der westlichen Alliierten nach 1945, Babelsberg 2005, 19–32. Stifter, Erneuerung, 28. Ebd., 265–266 und 270. Ebd., 272–276. Ebd., 270.

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hohen NS-Anfälligkeit dieser Berufsgruppe und des großen Lehrkräftemangels letztendlich auf belastete Lehrer*innen zurückgreifen musste.33 Ein weiterer Bereich der Reorientierungspolitik der Amerikaner war die Demokratisierung der österreichischen Presse,34 die durch eine aktive Medienpolitik in Form von Zeitungsgründungen (z. B. Wiener Kurier, Salzburger Nachrichten) oder dem Radiosender Rot-Weiß-Rot35 erzielt werden sollte. Anfang 1946 wurde zudem ein eigener Schüler-Rundfunk im Rahmen der RAVAG mit monatlichen Sendungen eingerichtet.36 Auch der österreichische Kulturbetrieb stand im Fokus der amerikanischen Demokratisierungsbemühungen. Wagnleitner spricht in diesem Zusammenhang von einer „Kulturmission“, die vor allem auf die Vermittlung der amerikanischen Populärkultur (Filme, Literatur, Musik, Jazz usw.) abzielte.37 Als Vermittlungsinstanzen fungierten dabei die zwischen 1945 und 1955 errichteten zwölf „Amerikahäuser“ (die drei wichtigsten davon standen in Linz, Salzburg und Wien), die durch ihre Bibliotheken, Filmvorführungen, Vorträge und Diskussionsveranstaltungen zu Orten des Austauschs und der Horizonterweiterung wurden.38 Ihr erklärtes Ziel war: „Projecting democratic ideals and the american way of life“.39 Eine eher langfristige Perspektive verfolgten die amerikanisch-österreichischen Austauschprogramme für Schüler*innen, Journalist*innen, Studierende und Wissenschaftler*innen, die nach ihren USA-Aufenthalten als Multiplikator*innen in Österreich wirkten.40 Auch wenn über die Wirkungsmacht all dieser Reeducation- und Reorientierungsmaßnahmen keine validen Studien vorliegen, so kann in Teilen der 33 Stifter, Erneuerung, 275. 34 Oliver Rathkolb, Politische Propaganda der amerikanischen Besatzungsmacht in Österreich 1945 bis 1950. Ein Beitrag zur Geschichte des Kalten Krieges in der Presse-, Kultur- und Rundfunkpolitik, 2 Bände, Diss., Wien 1981; Wagnleitner, Coca-Colonisation, 103–132. 35 Wagnleitner, Coca-Colonisation, 133–148. 36 Stifter, Erneuerung, 270–271. 37 Wagnleitner, Coca-Colonisation, 207–260 und 303–322. 38 Ebd., 159–186. Für Deutschland vgl. Reinhild Kreis, Orte für Amerika. DeutschAmerikanische Institute und Amerikahäuser in der Bundesrepublik Deutschland seit den 1960er Jahren, Stuttgart 2012. 39 Ebd., 160. 40 Christian H. Stifter, Paradigms of U.S. Reorientation and Cultural Exchange Programs in Austria in the Early Stages of the Cold War, 1946–1949, in: Zeitgeschichte 39 (2012) 1, 6–19; exemplarisch dafür: Gerald Stourzh, From Vienna to Chicago and Back. Essays on Intellectual History and Political Thought in Europe and America, Chicago 2007.

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österreichischen Bevölkerung auf längere Sicht zweifellos ein Umdenkprozess festgestellt werden. Vor allem die jüngere Generation als eine der zentralen Zielgruppen der Reorientation zeigte sich für die Attraktivität bestimmter „Angebote“ der Amerikaner zugänglich.41 Wagnleitner weist allerdings darauf hin, dass ohne die gleichzeitige ökonomische Unterstützung durch das European Recovery Program (ERP) die Erfolge der Reorientierung bescheidener ausgefallen wären.42 Gerade durch den Marshall-Plan und den damit einhergehenden wirtschaftlichen Aufschwung im Nachkriegsösterreich konnten sich die USA erfolgreich als Vorbild für materiellen Fortschritt, für Modernität und als antikommunistisches Bollwerk präsentieren. Ein positiver Nebeneffekt davon war die breite Zustimmung zur parlamentarischen Demokratie, wohingegen die Überwindung autoritärer Denkmuster und von Antisemitismus zeitgenössischen Umfragen zufolge wesentlich weniger erfolgreich war.43

4. DEMOKRATIE-NARRATIVE IM „EHEMALIGEN“-MILIEU

Was die ehemals überzeugten Nationalsozialist*innen betrifft, ist der Feststellung von Christian Stifter zuzustimmen, dass die elaborierten Reorientierungskonzepte der USA für eine geistige, kulturelle und politische Demokratisierung in diesem Fall im Wesentlichen an ihrem Ziel vorbeigingen. Mehr noch: Die Zurückhaltung der Besatzungsmächte bei der Entnazifizierung, ihre Politik der freundlichen Nichteinmischung und der Kalte Krieg haben die restaurativen Tendenzen in Österreich tendenziell eher verstärkt als gehindert.44 Untersuchungen legen nahe, dass die Umerziehungsaktivitäten in den Kriegsgefangenenlagern wirkungslos blieben bzw. die bestehenden ideologischen Vorurteile, Abwehrhaltungen und Ressentiments der Internierten sogar noch bestärkt haben.45 Dies bestätigen auch meine eigenen Forschungen zu ehemaligen Na41 Ingrid Bauer, Welcome Ami Go Home. Die amerikanische Besatzung in Salzburg 1945–1955. Erinnerungslandschaften aus einem Oral-History-Projekt, Salzburg– München 1998. 42 Wagnleitner, Coca-Colonisation, 99. 43 Ebd. 44 Stifter, Erneuerung, 28. 45 Ebd., 228; vgl. dazu exemplarisch Heiner Wember, Umerziehung im Lager. Internierung und Bestrafung von Nationalsozialisten in der britischen Besatzungszone Deutschlands, 2. Aufl., Essen 1992; Florentine Kastner, 373 Camp Wolfsberg. Britische Besatzungslager in Österreich von 1945 bis 1948, Dipl.-Arb., Wien 2001.

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tionalsozialist*innen, die nach 1945 im amerikanischen Internierungslager „Marcus W. Orr“ (bekannt als „Glasenbach“) in Salzburg interniert waren.46 Zu den ohnehin eher zaghaften Bemühungen der Amerikaner, die Internierten mit den NS-Verbrechen zu konfrontieren und einen politischen Umdenkprozess einzuleiten, gehörte auch im Lager Glasenbach die Vorführung des Films „Todesmühlen“. Die Schreckensbilder aus den Konzentrationslagern lösten, abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen, kaum Erschütterung oder gar Reue, sondern heftige Abwehrreaktionen aus. Der Film wurde von den Internierten als „Propaganda“ und „Lügenprodukt“ abgetan und die darin gezeigten Verbrechen mit Dresden aufgerechnet.47 Einer von ihnen, der überzeugte Nationalsozialist und spätere Rechtsextremist Erich Kern(mayr) resümierte: „Die Wirkung war nahezu null. Mit Schwarz-Weiß-Propaganda waren diese ausgebrannten Menschen nicht mehr zu erfassen. Das hatte Goebbels Jahre hindurch meisterhaft geübt und, ehrlich sei es gesagt, auch fachlich besser verstanden.“48 Die ehemaligen Nationalsozialist*innen machten sich auch über die Fragebögen der Amerikaner lustig, die sie meist nicht wahrheitsgemäß ausfüllten; sie provozierten mit NS-Parolen und auch die Verhöre durch den CIC (Counter Intelligence Center) nahmen sie nicht ernst.49 Kurz gesagt: Die amerikanischen Reeducation-Maßnahmen wurden von den meisten Nationalsozialist*innen als Zumutung empfunden, und dieser „Umerziehung“ erfolgreich getrotzt zu haben, war ihr ganzer Stolz.50 Gleichzeitig – und im Widerspruch dazu – warfen ausgerechnet sie den Alliierten vor, in dieser Hinsicht zu wenig getan zu haben. Der (in mehreren Lagern internierte und in Nürnberg verurteilte) Wehrmachtsgeneral Lothar Rendulic behauptete beispielsweise, dass die internierten Nationalsozialist*innen über die „verabscheuungswürdigen Vorkommnisse in den Konzentrationslagern“ ehrlich entsetzt und grundsätzlich „sehr aufgeschlossen“ gewesen wären. Die Amerikaner hätten aber „jede Form von Propaganda durch Wort und 46 Margit Reiter, Die Ehemaligen. Der Nationalsozialismus und die Anfänge der FPÖ, Göttingen 2019, 38–47. 47 Ebd., 44; Wilhelm Svoboda, „... vorbehaltlos meine Pflicht erfüllt“. Das Internierungslager Glasenbach (Camp „Marcus W. Orr“), in: Zeitgeschichte 22 (1995) 1/2, 3–29, 6–7; vgl. auch Ulrike Weckel, Zeichen der Scham. Reaktionen auf alliierte atrocity-Filme im Nachkriegsdeutschland, in: Mittelweg 36 23 (2014) 1, 3–29. 48 Erich Kern (=Kernmayr), Herz im Stacheldraht, Salzburg–Wien, o. J. [Erstveröffentlichung 1950]; Kreis, Orte, 137. 49 Svoboda, Vorbehaltlos, 6. 50 Margit Reiter, Die Generation danach. Der Nationalsozialismus im Familiengedächtnis, Innsbruck–Wien–Bozen 2006, 53–57.

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Schrift“ unterlassen und es somit bedauerlicherweise verabsäumt, der Jugend „neue Ideale“ zu vermitteln und somit versagt.51 Während diese „Unbelehrbaren“ noch Jahrzehnte später ihre Ressentiments gegen die „Umerziehung“ propagandistisch verbreiteten und letztendlich nicht für die Demokratie gewonnen werden konnten, war ein großer Teil der ehemaligen Nationalsozialist*innen bereit, sich wieder politisch zu organisieren und am demokratischen Prozess in der Zweiten Republik teilzunehmen. Ihr Verhältnis zur Demokratie kann am Beispiel des 1949 gegründeten Verbandes der Unabhängigen (VdU) und seiner Nachfolgepartei, der FPÖ, aufgezeigt werden.52 Der VdU fungierte als Sammelbecken jener entnazifizierten Nationalsozialist*innen, die sich nicht in die Großparteien integrieren wollten, da sie dies als „Opportunismus“ und „Verrat“ ansahen. Neben einigen Wirtschaftsliberalen wie z. B. dem Parteigründer Herbert Kraus sammelten sich dort Vertreter der Großdeutschen und des Landbundes, die bereits in der Ersten Republik politisch tätig gewesen waren. Unter anderem nahm der LandbundPolitiker Karl Hartleb im VdU eine führende Rolle ein, der sich mit Verweis auf seine parlamentarische Erfahrung in der Ersten Republik (er war 1927 bis 1929 Innenminister und Vizekanzler) gerne als Vorkämpfer der Demokratie inszenierte, wegen seiner Rolle beim Justizpalastbrand 1927 aber von den politischen Gegnern als „Totengräber der Demokratie“ bezeichnet wurde.53 Der Punkt 1 im VdU-Parteiprogramm lautete: „Wir bejahen die wahre Demokratie und lehnen jede Form der Diktatur entschieden ab.“54 Aufgrund der ideologischen und personellen Kontinuitäten des Nationalsozialismus war der VdU aber von Beginn an dem Vorwurf ausgesetzt, eine „Nazipartei“ zu sein.55 Besonders der Parteigründer Kraus versuchte „staatsmännisch“ zu agieren und war – wie die Arbeiter-Zeitung etwas sarkastisch kommentierte – „immer ängstlich bemüht, seine Partei als Hort der Demokratie hinzustellen, für die der Gedanke, daß sie mit dem Nationalsozialismus etwas zu tun habe, geradezu eine Beleidi51 Lothar Rendulic, Glasenbach – Nürnberg – Landsberg. Ein Soldatenschicksal nach dem Krieg, Graz 1963, 39–40; Zur Wende des Jahres, Mitteilungen der Glasenbacher, Nr. 4, Dezember 1957; Kern, Herz, 62. 52 Ausführlich dazu Reiter, Die Ehemaligen. 53 Vgl. exemplarisch Stenographische Protokolle des Nationalrats der Republik Österreich, VI.  Gesetzgebungsperiode (GP), 8.11.1949–19.3.1953, 37. Sitzung, 7.12.1950, 1458. 54 Programm des Verbandes der Unabhängigen 1949, in: Klaus Berchtold (Hg.), Österreichische Parteiprogramme 1868–1966, Wien 1967, 484–488. 55 Reiter, Die Ehemaligen, 115–119.

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gung sei“.56 Um im VdU selbst als akzeptabel bzw. demokratiefähig zu gelten, müssten Herbert Kraus zufolge zwei Kriterien erfüllt sein: Man musste sich zur Eigenständigkeit Österreichs bekennen und außerdem im Nationalsozialismus „anständig“ geblieben sein.57 Mit dieser Vorgabe stand der VdU im Einklang mit der offiziellen Haltung, wonach ein Bekenntnis zu Österreich und die Absage an den Deutschnationalismus als Beweis für die Abkehr vom Nationalsozialismus und für Demokratiefähigkeit galt. Anders formuliert: Wer sich zu Österreich bekannte, galt als „geläutert“ und somit gewissermaßen rehabilitiert. Nachdem der VdU bei den Wahlen 1949 auf Anhieb 11,6 Prozent erzielt hatte, zog er mit 16 Abgeordneten in das Parlament ein. Für die SPÖ war der VdU allerdings „nur auf Probe“ im Parlament, wie der SPÖ-Abgeordnete Max Eibegger 1950 ausführte: „Bestehen seine Vertreter die Probe und bekennen sie sich zur wirklichen Demokratie, dann werden sie fernerhin nach demokratischen Grundsätzen behandelt werden.“ Voraussetzung dafür sei aber, dass sie „ihren Irrtum in der Vergangenheit erkennen und [sich] auch vor ihren Wählern und Anhängern offen“ vom Nationalsozialismus distanzieren würden, was sie jedoch bisher noch nicht getan hätten.58 Auf der politischen Agenda des VdU standen zwei zentrale Bereiche: zum einen der Kampf gegen die Entnazifizierung und für die Rehabilitierung der „Ehemaligen“; zum anderen der Kampf gegen die Große Koalition, gegen Proporz und Bürokratismus, der häufig zu einem pauschalen Rundumschlag ausartete. So attackierten VdU-Politiker das österreichische demokratische System abwechselnd als „Mehrheitsdiktatur“59, „Pressediktatur“60 oder „konzessionierte Monopoldemokratie“61 und sprachen der Zweiten Republik überhaupt ihren demokratischen Charakter ab: „Unsere ganze Demokratie ist ein einziges großes Potemkinsches Dorf.“ – Das Ausland könne man vielleicht täuschen, aber das Volk wisse, dass es keine Demokratie gebe, so etwa Kraus in der Parteizeitung Die Neue Front.62 Auch der VdU-Mitbegründer Viktor Reimann behauptete in unzähligen Artikeln, dass es in Österreich nur eine

Die Debatte über die Regierungserklärung, Arbeiter-Zeitung, 10.11.1949, 2. Reiter, Die Ehemaligen, 116–117. Stenographisches Protokoll, VI. GP, 18. Sitzung, 14.3.1950, 525. Viktor Reimann, Um eine neue Demokratie, Die Neue Front, 16.7.1949, 1–2. H.A. Kraus, Gegen die programmlose Willkür in Deutschland. Offene Worte an die westlichen Besatzungsmächte, Die Neue Front, 2.7.1948, 1–4. 61 H.A. Kraus, Der Weg aus dem Chaos, Die Neue Front, 3.6.1949, 1. 62 Ebd. 56 57 58 59 60

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„Scheindemokratie“ gebe und ein „Koalitionsfaschismus“ herrsche.63 Dass die Attacken nicht nur auf die Große Koalition, sondern implizit auch auf die Antifaschist*innen der politischen Elite abzielten, zeigt folgendes Zitat: „Obwohl wir im Zeitalter der Demokratie leben, herrschen bei uns doch die Zustände eines schlechten Feudalsystems. An Stelle des Feudaladels ist allerdings ein viel minderwertigerer Ersatz getreten: das Parteibuch, die Bonzenfürsprache und der KZ-Ausweis.“64 Der VdU hingegen wolle für eine neue Form der Demokratie eintreten, die „statt Gezänk“ auf Sachlichkeit aufgebaut sein solle.65 Gleichzeitig wurde der österreichischen Regierung 1949 vorgeworfen, dass es ihr „nach vierjähriger Tätigkeit und trotz drakonischer NS-Gesetze noch nicht gelungen sei, die Bevölkerung von der Güte der demokratischen Ideale zu überzeugen“.66 Das heißt: Die eigene Unfähigkeit zum demokratischen Wandel wurde im Umkehrschluss der Regierung und den Alliierten zugeschrieben. Wenn es der eigenen Sache diente, berief man sich im VdU jedoch gerne auf die Demokratie und auf demokratische Grundsätze, vor allem im Zusammenhang mit der als „Unrecht“ gegeißelten Entnazifizierung. Diese wurde nach Ansicht des VdU viel zu rigoros durchgeführt, beruhte auf Zensur und Denunziation und hätte vor allem dem demokratischen Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz widersprochen.67 „Die Entnazifizierung war keine Umerziehung, sondern ein Würgeengel, der den Glauben an das Recht in den Herzen von Millionen zerknickte“68, meinte etwa Viktor Reimann pathetisch. Kraus prangerte 1947 die Entnazifizierung als „Unmenschlichkeit“ an und rechnete diese sogar öfter mit den NS-Verbrechen auf.69 In der nach der Erosion des VdU 1955/56 gegründeten Nachfolgepartei FPÖ nahmen vor allem die bisher aus dem demokratischen Prozess ausgeschlossenen „Belasteten“ zentrale Führungspositionen ein. Schon allein deshalb hatte die FPÖ hinsichtlich ihrer Demokratiefähigkeit ein massives Glaubwürdigkeitsproblem. Das erkannte auch Bundeskanzler Julius Raab, der einer Zusammenarbeit mit der sich formierenden FPÖ nicht abgeneigt war und daher dem Parteigründer Anton Reinthaller 1955 riet, sich mit „demokratischen 63 64 65 66 67 68 69

Viktor Reimann, Haben wir eine freie Presse?, Die Neue Front, 19.4.1952, 1. Arbeitsbeschaffung und Ordnung, Die Neue Front, 10.1.1953, 1. Viktor Reimann, Die politische Etappe, Die Neue Front, 25.3.1949, 1. Viktor Reimann, VdU-Wahlrecht bestätigt, Die Neue Front, 6.5.1949, 1. Vgl. exemplarisch Leserbrief, Die Neue Front, 11.3.1949, 9. Viktor Reimann, Die versäumte Revolution, Die Neue Front, 8.4.1949, 1. Herbert Kraus, Offener Brief an einen amerikanischen Freund, Berichte und Informationen, Nr. 56, 23.5.1947, 4.

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Auftriebselementen“ zu umgeben.70 Mit dem Wissen um diese (berechtigten) Vorbehalte gab Reinthaller, selbst ein ehemaliger hochrangiger Nationalsozialist, bei seinem ersten öffentlichen Auftritt 1955 in Linz ein Bekenntnis zur Demokratie und zur Selbständigkeit Österreichs ab und distanzierte sich, wenn auch eingeschränkt, vom Nationalsozialismus.71 Wie interne Korrespondenzen zeigen, stießen selbst solche halbherzigen Zugeständnisse an die neue politische Realität im Binnenmilieu der „Ehemaligen“ auf heftige Kritik.72 Zudem standen sie im Gegensatz zu anderen Äußerungen von Reinthaller, der sich selbst als „nicht geeignet für die Demokratie“ bezeichnet hat.73 Das Bekenntnis zur Demokratie in der frühen FPÖ erfolgte, wenn überhaupt, vorwiegend in der Öffentlichkeit, wohingegen nach innen hin, im deutschnationalen Milieu, entgegengesetzte Botschaften ausgesendet wurden. Es kam zu einem für die FPÖ typischen „double speak“, in dem das Demokratiebekenntnis letztendlich politische Rhetorik ohne nennenswerte Konsequenzen auf die freiheitliche Ideologie und Politik blieb. So nahmen in den programmatischen Antrittsreden der ersten FPÖ-Obmänner Reinthaller und Friedrich Peter die Beschwörung des Deutschnationalismus und der „Frontgeneration“ einen zentralen Stellenwert ein, wohingegen der Bezug zur Demokratie gänzlich fehlte oder nur am Rande erwähnt wurde.74 Wie viele andere rechte Parteien nach 1945 auch passte sich die FPÖ einerseits dezidiert an demokratische Spiel­ regeln (Parlamentarismus, Wahlen usw.) an und bestimmte als demokratisch gewählte Partei die Politik der Zweiten Republik mit, sie vertrat andererseits aber auch politische Positionen, die auf undemokratischen und teilweise sogar antidemokratischen Werten basierten und die Partei im Laufe ihrer Geschichte immer wieder in die Nähe des Rechtsextremismus rückten.75

70 Kurt Piringer, Die Geschichte der Freiheitlichen. Beitrag der Dritten Kraft zur österreichischen Politik, Wien 1982, 26. 71 Reinthaller gegen Extremismus, Oberösterreichische Nachrichten, 15.7.1955, 2. 72 Reiter, Die Ehemaligen, 206–207. 73 Von Reinthaller ist beispielsweise folgender derbe Ausspruch überliefert: „Ich eigne mich zum Politiker der Demokratie wie der Igel zum A…abwischen.“ Vgl. IZG-Archiv, NL 116, Willfried Gredler, DO 1194, Mappe 8, Friedrich Peter an Willfried Gredler, 3.3.1956. 74 Reiter, Die Ehemaligen, 219 und 245–247. 75 Brigitte Bailer/Wolfgang Neugebauer, Die FPÖ: Vom Liberalismus zum Rechtsextremismus, in: DÖW (Hg.), Handbuch des österreichischen Rechtsextremismus, Wien 1993, 327–428; Reiter, Die Ehemaligen, 256–287.

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5. FAZIT

Schon früh zeigte sich in Österreich nach 1945 ein Narrativ der gelungenen Demokratie, das vonseiten der politischen Elite mit der erfolgreichen Abkehr von der Ersten Republik und vom Nationalsozialismus sowie mit der auf Konsens und Harmonie angelegten Politik begründet wurde. Nach zwölf Jahren Diktatur und Faschismus war ein erstaunlich schnelles Einüben in und eine breite Akzeptanz von Demokratie festzustellen. Die Teilhabe der Parteien, Institutionen und weiter Teile der Bevölkerung am demokratischen Prozess wurde zur Selbstverständlichkeit, auch wenn das Demokratieverständnis (noch) nicht sehr ausgeprägt war. Unmittelbar nach Kriegsende wurde die Entnazifizierung als zentrale Voraussetzung für den anzustrebenden demokratischen Neuanfang betrachtet. Daher fand der frühe Demokratie-Diskurs vor allem im Zusammenhang mit der Entnazifizierung statt. Bemerkenswert dabei ist, dass sowohl die Notwendigkeit einer umfassenden Entnazifizierung in der ersten Zeit als auch die spätere sukzessive Abschwächung bzw. Rückgängigmachung der Entnazifizierung mit dem Hinweis auf den demokratischen Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz argumentiert und legitimiert wurden. Einen wesentlichen Impuls von außen erhielt das postnationalsozialistische Österreich durch die Demokratisierungsprogramme der Amerikaner, deren Wirkungsmacht allerdings begrenzt war. Während die kurzfristig angelegte Reeducation als unzulässige „Umerziehung“ wahrgenommen wurde und auf Abwehr stieß, haben die vielfältigen Reorientierungsmaßnahmen auf längere Sicht gerade im Bildungs-, Kultur- und Wissenschaftsbereich durchaus Wirkung gezeigt. Bei ideologisch überzeugten Nationalsozialist*innen, die auch nach 1945 ihrer Gesinnung treu blieben, waren sämtliche Demokratisierungsbemühungen erfolglos. Sie konnten nicht für die Demokratie gewonnen werden. Viele ehemalige Nationalsozialist*innen hingegen haben einen Lernprozess durchlaufen oder sich – zumindest nach außen hin – den neuen politischen Gegebenheiten angepasst, selbst wenn sie nicht alle demokratischen Werte teilten. Die demokratischen Defizite am Beginn der Zweiten Republik haben die österreichische Politik bis heute nachhaltig geprägt. Das Narrativ einer gelungenen Demokratie hat somit nur bedingt Gültigkeit.

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NARRATIVE GELUNGENER DEMOKRATIE AM BEISPIEL DER BUNDESZENTRALE FÜR HEIMATDIENST/POLITISCHE BILDUNG

1. EINLEITUNG

Die Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) verfügt europaweit über ein Alleinstellungsmerkmal. Auch wenn in den EU-Staaten auf unterschiedliche Weise staatliche politische Bildung betrieben wurde (und wird), existiert keine vergleichbare Institution, die auf fast 70 Jahre Erfahrung zurückblicken kann und über Jahrzehnte hinweg relativ autonom arbeiten konnte. Ungeachtet dessen hat das Bundesministerium des Innern (BMI) die Fachaufsicht über die Bundeszentrale für politische Bildung inne. Aufgrund der Empfehlungen des Kabinettsausschusses zur „Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus“ wurden im November 2020 zahlreiche Maßnahmen verabschiedet, darunter auch Maßnahmen im Bereich der „Weiterentwicklung der politischen Bildung und Demokratiearbeit“. Infolgedessen standen der Bundeszentrale für politische Bildung im Jahr 2021 rund 105 Millionen Euro zur Verfügung; 2013 betrug das Budget noch 38 Millionen Euro. Zudem hat sich in diesem Zeitraum die Zahl der Mitarbeiter*innen – auf 369 Personen – verdoppelt.1 Laut BMI besteht die Aufgabe der Bundeszentrale für politische Bildung darin, das „Verständnis für politische Sachverhalte zu fördern, das demokratische Bewusstsein zu festigen und die Bereitschaft zur politischen Mitarbeit zu stärken“.2 Sie organisiert u. a. Tagungen, Kongresse, Ausstellungen, Studien1 Anna Schneider, Die Bundeszentrale für politische Bildung soll die Deutschen ausgewogen und unideologisch informieren – schön wär’s, Neue Zürcher Zeitung, 7.2.2021, URL: https://www.nzz.ch/international/bundeszentrale-fuer-politischebildung-in-ideologischer-schieflage-ld.1599958?reduced=true (abgerufen am 28.7.2021). 2 Demokratie stärken – Zivilgesellschaft fördern, Bundeszentrale für politische Bildung, URL: https://www.bpb.de/die-bpb/51743/demokratie-staerken-zivilgesellschaft-foerdern (abgerufen am 28.7.2021).

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reisen und Kulturveranstaltungen zu gesellschafts- und demokratiepolitischen Themen. Die Bundeszentrale für politische Bildung wendet sich nicht nur an Multiplikator*innen (z. B. Lehrkräfte), sondern auch an Jugendliche und junge Erwachsene. In der Bundesrepublik Deutschland als Bundesstaat gilt der Föderalismus (Art. 20, Abs. 1 GG), eine Konsequenz, die der Parlamentarische Rat 1949 aus dem zentralistisch organisierten NS-Staat gezogen hat. Da die Kulturhoheit bei den Ländern liegt, fallen Schulen und überwiegend auch Hochschulen in den Kompetenzbereich der Landesregierungen. Die Bundeszentrale für politische Bildung interveniert demnach nicht unmittelbar in die schulische politische Bildung, sondern macht ergänzende Angebote für schulische und außerschulische politische Bildung. Die Bundeszentrale für politische Bildung „hat die Aufgabe, durch Maßnahmen der politischen Bildung Verständnis für politische Sachverhalte zu fördern, das demokratische Bewusstsein zu festigen und die Bereitschaft zur politischen Mitarbeit zu stärken“, so der BpB-Erlass vom 24. Januar 2001. Doch wie bekannt ist eigentlich die Entstehungs- und Gründungsgeschichte der Bundeszentrale für politische Bildung? Was weiß man über die Kontroversen, Methoden und über personelle Kontinuitäten in dieser Institution? Im November 2022 feiert die Bundeszentrale für politische Bildung ihr 70-jähriges Bestehen. Dieses Jubiläum könnte ein Anlass sein, um die Frage der sich um sie rankenden Narrative gelungener Demokratie kritisch aufzuwerfen. Während sich die Behörde heute – vor allem unter politisch Interessierten – einer ebenso großen Beliebtheit wie Bekanntheit erfreut, zählte ihre Gründungsgeschichte lange zu den unbekannteren Kapiteln des 20. Jahrhunderts. Auch aktuell sorgt die Bundeszentrale für politische Bildung für Diskussionen, die sich an der Definition von „Linksextremismus“ entzündeten. Über zehn Jahre hinweg wurde der Begriff „Linksextremismus“ auf der Website der BpB wie folgt definiert: „Im Unterschied zum Rechtsextremismus teilen sozialistische und kommunistische Bewegungen die liberalen Ideen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – interpretieren sie aber auf ihre Weise um.“3 Dieser Satz stammte aus der Feder von Hans-Gerd Jaschke, der als Hochschullehrer bis zu seiner Pensionierung zum Themenfeld Rechtsextremismus lehrte. Die jüngste Kontroverse um diese Definition wurde ausgerechnet von Hubertus Knabe ausgelöst, der 2018 von der Stasi-Gedenkstätte Berlin-­ 3

Zit. nach Volkan Agar, Bundeszentrale für politische Bildung. Unabhängigkeit bedroht, Die Tageszeitung (taz), 2.3.2021, URL: https://taz.de/Bundeszentrale-fuerpolitische-Bildung/!5750736/ (abgerufen am 28.7.2021).

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Hohenschönhausen mit sofortiger Wirkung als ihr Vorstand und Direktor abberufen wurde. In einem Tweet schrieb Knabe, wer nach „Diktatur und Terror und 100 Millionen Toten“ noch von der Idee der Freiheit spreche, mache sich mit den Verbrechern gemein, und forderte die „Geldgeber“ dazu auf, die Bundeszentrale für politische Bildung stärker zu beaufsichtigen. In eine ähnliche Richtung weisen auch Artikel im wichtigsten Organ der Neuen Rechten, der Wochenzeitung Junge Freiheit, auf der neurechten Plattform Tichys Einblick4 sowie Tweets oder Artikel in der Neuen Züricher Zeitung.5 Die Bild-Zeitung warf der Bundeszentrale für politische Bildung gar eine „Verharmlosung des Kommunismus“ vor. Diese medialen Proteste veranlassten das Innenministerium schließlich dazu, tätig zu werden. Da die Bundeszentrale für politische Bildung dem BMI untersteht, nahm das Referat G II 4 „Politische Bildung und politische Stiftungen“ seine Fachaufsicht wahr und entfaltete enormen Druck, sodass die bisherige wissenschaftliche Definition von Hans-Gerd Jaschke, die 13 Jahre Bestand hatte, durch eine neue Definition des Bundesamtes für Verfassungsschutz ersetzt wurde. Diese definierte Linksextremismus nun als einen „Sammelbegriff für alle gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichteten Bestrebungen, die sich insbesondere in den Ideen von Anarchismus und Kommunismus ausdrücken“.6 Diesen Bestrebungen sei gemeinsam, so die Definition der Sicherheitsbehörden, „dass die von ihnen als ‚Kapitalismus‘ und ‚Obrigkeitsstaat‘ bezeichnete bestehende demokratische Staats- und Gesellschaftsordnung als Ursache aller vorhandenen Missstände“ gelte und somit mittels einer „gewaltsamen Revolution“ abgeschafft werden solle.7 An diesem Beispiel wird deutlich, dass die Bundeszentrale seit ihrer Gründung im Jahre 1952 einen weiten Weg zurückgelegt hat. Ihre turbulente Gründungs- und Entstehungsgeschichte wird in meiner Studie „Staat und politische 4

Ferdinand Knauss, Liberale Linksextremisten? Empörung über die Bundeszentrale für politische Bildung, Tichys Einblick, 12.1.2021, URL: https://www.tichyseinblick. de/daili-es-sentials/liberale-linksextremisten-empoerung-ueber-die-bundeszentrale-fuer-politische-bildung/ (abgerufen am 28.7.2021). 5 Anna Schneider, Die Bundeszentrale für politische Bildung soll die Deutschen ausgewogen und unideologisch informieren - schön wär‘s, Neue Zürcher Zeitung, 7.2.2021, URL: https://www.nzz.ch/international/bundeszentrale-fuer-politischebildung-in-ideologischer-schieflage-ld.1599958?reduced=true (abgerufen am 28.7.2021). 6 BpB-Dossier Linksextremismus, URL: https://www.bpb.de/politik/extremismus/ linksextremismus/(abgerufen am 28.7.2021). 7 Ebd.

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Bildung“ (2013), auf der dieser Beitrag basiert, anhand von Quellen, Dokumenten und Zeitzeugengesprächen rekonstruiert.8

2. GRÜNDUNGSGESCHICHTE

Gegründet wurde die Bundeszentrale für politische Bildung 1952 als „Bundeszentrale für Heimatdienst“. Mitunter wird diese Gründung verkürzt mit reeducation oder reorientation in Zusammenhang gebracht bzw. mit einer Politik der Besatzungsmächte, ausgerichtet auf die Demokratisierung der deutschen Bevölkerung. Diese Annahme lässt sich nach Auswertung der Archivalien jedoch nicht bestätigen. Im Gegenteil: Im Vorfeld und in den ersten Jahren nach der offiziellen Gründung fanden heftige Kontroversen statt. Diese drehten sich um die Ressortzuordnung (Bundeskanzleramt, Bundespresseamt, Bundesinnenministerium) und um Ziele und Methoden einer solchen Zentrale. Memoranden, Denkschriften und Konzeptpapiere, die im Vorfeld der offiziellen Gründung kursierten, formulierten die folgenden konkurrierenden Ziele: Heimatdienst, Staats-Propaganda, Demokratisierung, Stärkung des europäischen Gedankens. Der Begriff der politischen Bildung setzte sich erst im Laufe der 1950er Jahre durch und führte schließlich 1963 zur Umbenennung in „Bundeszentrale für politische Bildung“.9 Mit Blick auf die Zielgruppen wies die Bundeszentrale für Heimatdienst erhebliche Demokratiedefizite auf: Historisch betrachtet wandte sich die Bundeszentrale für Heimatdienst nicht etwa an die bundesdeutsche Bevölkerung, sondern explizit an das – völkisch interpretierte – deutsche Volk. Ausgeschlossen von den Angeboten (Informationen zur politischen Bildung, Schriftenreihe, Seminare) waren Ausländer*innen, die im Bundesgebiet lebten und arbeiteten; Anfragen von Interessent*innen ohne deutsche Staatsangehörigkeit wurden abgelehnt. Der Leiter der Fachaufsicht fasste schließlich die für die Bundeszentrale geltende Zuständigkeitsabgrenzung zusammen. Statt „Ausländer über die Verhältnisse der Bundesrepublik zu informieren“10, sei es Aufgabe der Bundeszentrale, ihre Publikationen auf die Förderung des demokratischen und europäischen Gedankens im deutschen Volk zu richten. Erst seit 1999 zählen auch Ausländer*innen zu den Zielgruppen der Bundeszentrale für politische 8 Gudrun Hentges, Staat und politische Bildung. Von der ,Zentrale für Heimatdienst‘ zur ,Bundeszentrale für politische Bildung‘, Wiesbaden 2013. 9 Ebd., 447. 10 Bundesarchiv (BA) Koblenz, B 106/3253, 1630 B 2 III/54 an das AA, 3.6.1954.

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Bildung, sodass es heute selbstverständlich erscheint, dass sich die Bundeszentrale nicht nur an deutsche Staatsbürger*innen, sondern auch an Migrant*innen oder Geflüchtete wendet.11 Nicht nur in Bezug auf Staatsangehörigkeit, auch in Bezug auf Gender hatte die Bundeszentrale für Heimatdienst ein Demokratiedefizit. Bemühungen um eine Steigerung der Wahlbeteiligung richteten sich ausschließlich an eine männliche Wählerschaft. So wurden im Vorfeld der Bundestagswahlen 1953 Tonträger mit eindeutiger Botschaft eingesetzt: 20.000 Tanzschallplatten mit dem Refrain „Ich steh’ nicht abseits und bin gleich dabei, ich wähl’ mir die Frau genau wie ’ne Partei“ wurden z. B. an Filmtheater und Gaststätten verteilt. Der klassische – als Wähler adressierte – Bürger war somit deutsch, männlich, heterosexuell. Um gezielt Frauen anzusprechen, wurden vonseiten der Bundeszentrale für Heimatdienst Artikel im Magazin der Hausfrau platziert, welches in einer hohen Auflage erschien und von der Bundeszentrale großzügig finanziert wurde. Da das Magazin die deutschen Hausfrauen über den Einzelhandel erreichte, konnte damit „ein besonders wichtige[r] Sektor zu einem relativ geringen finanziellen Aufwand“ erfasst werden.12 Die im Magazin der Hausfrau publizierten Artikel orientierten sich an einem breiten Politikbegriff und knüpften an den Alltag von Hausfrauen an, die nicht in der Arbeitswelt, sondern im häuslichen Bereich unbezahlte Reproduktionsarbeit verrichteten. So setzte beispielsweise der Artikel „Lippenstift und Entwicklungshilfe“ bei den (vermeintlich) weiblichen Interessen an und versuchte gleichzeitig – ausgehend von der Information, dass jeder zweite Lippenstift aus nigerianischem Pflanzenfett hergestellt wird – die Entwicklungshilfe zu thematisieren. „Die Lippenstifte weisen den Weg“, so hieß es im Kommentar, „wie Entwicklungsländern geholfen werden kann.“ Vorgeschlagen wurde die Errichtung von Lippenstift- oder Streichholzfabriken, also Schritte in Richtung einer Industrialisierung, um den Lebensstandard in der Bevölkerung zu heben und Nigeria zu einem Handelspartner der Bundesrepublik zu machen.13 Mittlerweile verfügt die Bundeszentrale für politische Bildung in Bezug auf Gender über ein umfassendes Angebot: seien es die zahlreichen Beiträge zum 11 Thomas Krüger, Beutelsbach 2.0. Zehn Thesen zur politischen Bildung, in: Gudrun Hentges (Hg.), Krise der Demokratie. Demokratie in der Krise, Frankfurt a. M. 2020, 177–193, 188–189. 12 Ebd. 13 Der Artikel „Lippenstift und Entwicklungshilfe“ wurde in vielen anderen Magazinen nachgedruckt, u. a. in: Die Kaffeestunde, 21.9.1962, 10; Bäcker Post, 14.9.1962, 10; Hausfrauen Blatt, 28.9.1962, 12. 

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Thema Gender Mainstreaming, Dossiers zu Frauen in Deutschland oder zur Frauenbewegung, Publikationen zu Geschlechterverhältnissen in der Politik oder das Projekt „Civic Education and Learning for Gender Mainstreaming“.14

3. DEMOKRATISIERUNG

1976 einigten sich die politischen Bildner*innen mit dem Beutelsbacher Konsens darauf, dass es sich bei dem Kontroversitätsgebot und dem Indoktrinationsverbot um zentrale Pfeiler der politischen Bildung handelt. Auch wenn der Beutelsbacher Konsens aufgrund der aktuellen Entwicklungen der letzten Jahre – Globalisierung, Digitalisierung, Corona-Krise – zweifelsohne an die veränderten gesellschaftspolitischen Bedingungen angepasst werden müsste, haben die beiden Prinzipien keineswegs an Relevanz verloren. Indirekte Methoden der psychologischen Massenbeeinflussung zählen im Allgemeinen nicht zu den Methoden der politischen Bildung. Im Gegenteil: Thymian Bussemer verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff der „soziologischen Propaganda“. Dieser Begriff bezeichnet alle Strategien der Herrschenden, die angewandt werden, um mithilfe von Propaganda eine Verinnerlichung von Werten und Normen zu erreichen. Eine solche „Integrationspropaganda“ existiere, so Bussemer, auch in Demokratien und im Rahmen der politischen Bildung.15 Die praktischen Methoden der Demokratisierung, die vonseiten der Bundeszentrale für Heimatdienst zum Einsatz kamen, sind wenig bekannt. Großes Vorbild für die „Erziehung des Volkes“ (Konrad Adenauer) war das US-amerikanische National Advertising Council, welches den Versuch einer mittelbaren Einflussnahme durch psychologische Methoden unternommen hatte. Anknüpfend daran bediente sich auch die Bundeszentrale für Heimatdienst einer indirekten Strategie psychologischer Massenbeeinflussung, indem sie Werbung für die Demokratie machte, ohne als Bundeszentrale in Erscheinung zu treten. Zum Einsatz kamen Werbefilme wie der sogenannte „Mecki-Film“, die im Rahmen der Wochenschau gezeigt wurden und darauf abzielten, die Wahl-

14 GEcel Projektgruppe, Politische Bildung und Lernen für Gender Mainstreaming. Beispiele guter Trainings-Praxis – Höhepunkte und Hindernisse, Bonn 2005. 15 Thymian Bussemer, Psychologie der Propaganda, in: Aus Politik und Zeitgeschehen (APuZ) (2007) 11, 2.3.2007, URL: https://www.bpb.de/apuz/30602/psychologieder-propaganda (abgerufen am 28.7.2021).

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beteiligung zu fördern.16 Carl-Christoph Schweitzer, Gründungsreferent der Bundeszentrale, berichtet davon, dass neben Zeitungen und Zeitschriften auch die Wochenschauen, die damals in den Kinos zu sehen waren, von ihm und den anderen Referent*innen der Bundeszentrale als wichtiges Medium betrachtet wurden.17 Schweitzer hatte die Idee, die damals bekannte Mecki-Figur – die Figur eines Igels aus dem Puppenfilm der Gebrüder Diehl – einzusetzen. Anknüpfend an diese Idee entstanden bis Ende der 1950er Jahre vier MeckiTrickfilme, in denen dafür geworben wurde, sich an den Wahlen zu beteiligen, um sogenannten extremistischen Parteien nicht das Feld zu überlassen. Konkret wurde auf die Sozialistische Reichspartei (SRP) und die Kommunistische Partei Deutschland (KPD) angespielt, die 1952 bzw. 1956 durch das Bundesverfassungsgericht verboten wurden. In dem Kurzfilm „Schlaf, Kindchen, schlaf “ scheinen Vertreter der KPD und der SRP als Wölfe auf, die aus dem dunklen Wald kommend sich an die Schafe heranschleichen. Als der Film 1954 ausgestrahlt wurde, war die SRP bereits verboten, die KPD jedoch noch nicht. Die beiden Schafe (weiblich und männlich) wirken verträumt und gedankenverloren. Während das weibliche Schaf – entsprechend der geschlechtlichen Arbeitsteilung – strickt und eine Wiege schaukelt, will sich das vor sich hin dösende männliche Schaf den ruhigen Wahlsonntag nicht durch den Gang zur Urne verderben lassen. Hier wird die Botschaft vermittelt, verschlafene Schafe liefen Gefahr, von den Wölfen gerissen zu werden. Im übertragenen Sinne setzen sich desinteressierte Bürger*innen dem Risiko aus, von den politischen Strömungen des Nationalsozialismus bzw. Neonazismus und Kommunismus überrumpelt zu werden. Dieser Puppenfilm, der so harmlos erscheint, basiert auf der Ideologie des Kalten Krieges. Folgt man dem damals weit verbreiteten Narrativ, so handelt es sich bei dem Neonazismus und dem Sozialismus bzw. Kommunismus um zwei Seiten derselben Medaille, von denen gleichermaßen eine Gefahr für die Demokratie ausgehe. Diese Totalitarismustheorie (u. a. begründet durch Carl-Joachim Friedrich) firmierte in den 1970er Jahren auch unter dem Be-

16 Dokumentiert sind diese Filme auf: Bundeszentrale für politische Bildung, URL:https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/geschichte-der-bpb/166310/ interview-mit-carl-christoph-schweitzer (abgerufen am 28.7.2021). 17 Carl-Christoph Schweitzer, Untypisch deutsch, Bundeszentrale für politische Bildung, 7.8.2013, URL: https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/geschichte-der-bpb/166310/interview-mit-carl-christoph-schweitzer (abgerufen am 28.7.2021).

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griff der Hufeisentheorie.18 Unabhängig von einem Rekurs auf das Hufeisen lebt die Extremismustheorie seit den 1980er Jahren vor allem in den Schriften von Uwe Backes und Eckhard Jesse fort. Aktuell wird die Extremismustheorie beispielsweise im Zusammenhang mit der Extremismusklausel für die außerschulische politische Bildung diskutiert.19 Die Extremismustheorie geht von der Existenz einer gemäßigten gesellschaftlichen Mitte aus. Legitime Abweichungen dieser seien – sofern gemäßigt – rechte oder linke Strömungen. Wenn die Strömungen jedoch rechts- oder linksextreme Ausprägungen annähmen, verließen sie das gemäßigte politische Spektrum. Wie das sogenannte Hufeisenmodell illustrieren will, nähern sich das linksextremistische und rechtsextremistische Lager einander an. Mit anderen Worten: Extremismus als Oberbegriff impliziert die Behauptung von strukturellen Ähnlichkeiten des Rechts- und Linksextremismus und will diese Extremismen gleichermaßen als illegitim oder illegal markieren. Anhand der eingangs skizzierten Kontroverse um das BpB-„Dossier Linksextremismus“ wird deutlich, dass die Extremismusformel, die von zahlreichen Sozialwissenschaftler*innen äußerst kritisch rezipiert wird,20 mithilfe der Sicherheitsbehörden in jüngster Zeit wieder in das Theoriegebäude der Bundeszentrale für politische Bildung Einzug gehalten hat. Doch zurück zu den 1950er Jahren: Nicht nur die „Mecki“-Filme kamen im Kontext der politischen Bildung zum Einsatz. Verbreitet war auch die Einflussnahme auf die öffentliche Meinung mithilfe von Leitartikeln, Materndiensten und Broschüren. Zu erwähnen ist hier exemplarisch die Broschüre „Augen auf – Kommunismus durch die Hintertür“21, verfasst von Eberhard Taubert. Taubert war seit 1933 in führender Funktion Mitarbeiter im Reichspropagandaministerium und Drehbuchautor des antisemitischen Hetzfilms „Der ewige Jude“ gewesen und wurde nach 1945 von der Bundeszentrale als freier Mitarbeiter engagiert, um Propagandabroschüren zu konzipieren.

18 Daniel Keil, Politik(wissenschaft) als Mythos. Die Extremismustheorie und das Hufeisen, in: Eva Berendsen/Katharina Rhein/Tom David Uhlig (Hg.), Extrem unbrauchbar. Über Gleichsetzungen von rechts und links, Berlin 2019, 45–58. 19 Vgl. Beiträge in: Eva Berendsen/Katharina Rhein/Tom David Uhlig (Hg.), Extrem unbrauchbar. Über Gleichsetzungen von rechts und links, Berlin 2019. 20 Keil, Politik(Wissenschaft), 45–58. 21 Die Broschüre „Augen auf – Kommunismus durch die Hintertür“ (1951) vergleicht Kommunisten mit Insekten, Ungeziefer und Schädlingen. Unverkennbar sind die Parallelen mit der NS-Propaganda.

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4. PERSONELLE (NS-)KONTINUITÄT: DAS BEISPIEL GERHARD VON MENDE

Taubert sollte nicht der einzige ehemalige Nationalsozialist sein, der später im Umfeld der Bundeszentrale für politische Bildung tätig war. Auch weitere Personen gewannen an Bedeutung, deren politische Biographien in die Zeit des Nationalsozialismus zurückreichen. Eines von zahlreichen Beispielen ist Gerhard von Mende. 1904 in Riga geboren, übersiedelte er 1919 nach Deutschland. Er trat am 3. November 1933 der SA bei, beantragte aber bereits 1936 „wegen Arbeitsüberlastung“ einen „ehrenvollen Abschied“ aus der SA.22 Nach seiner Promotion (1932) und Habilitation (1936) lehrte er zunächst russische Nationenwissenschaft an der Auslands-Hochschule in Berlin. 1941 erhielt er einen Ruf für Russlandkunde an die Reichsuniversität Posen; ungeachtet dessen lehrte er weiterhin an der Universität Berlin. Ab 1939 war er im Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete tätig, zunächst leitete er das Referat Kaukasien/Turkestan und wurde 1943 zum Leiter der „Führungsgruppe III Fremde Völker“ befördert.23 In dieser Funktion gründete er sogenannte „Nationalkomitees“ und stellte den Kontakt zwischen den antirussischen bzw. antisowjetischen Kriegsgefangenen und Emigranten her. Aus Angehörigen der nichtrussischen (muslimischen) Minderheiten der Sowjetunion errichtete er die sogenannten „Ostlegionen“, die später von der Waffen-SS übernommen wurden.24 In seiner Schrift „Die Völker der Sowjetunion“ verknüpfte er Antisemitismus und Antibolschewismus, indem er behauptete, dass der „Bolschewismus“ der „Ausbreitung der jüdischen Kreise Vorschub geleistet“ habe. Juden unterstellte er ein „blutsmäßig bedingte[s] kliquenhafte[s] Helfershelfertum“, eine Verneinung aller Bindungen, eine „Machtausübung ohnegleichen“; sie zersetzten und schädigten jede „völkische Einheit“.25 22 Humboldt-Universität zu Berlin, Archiv, NL Mende, Lebenslauf v. 16.11.1939, 2; Fragebogen, 1. 23 Babette Quinkert, Propaganda und Terror in Weißrussland 1941–1944. Die deutsche „geistige“ Kriegführung gegen Zivilbevölkerung und Partisanen, Paderborn 2009, 87; 275; 285. 24 Ebd.; auch in der zuerst 1958 erschienenen Studie von Alexander Dallin finden sich viele Informationen zur Rolle Gerhard von Mendes im Ostministerium: Alexander Dallin, Deutsche Herrschaft in Rußland 1941–1945. Eine Studie über Besatzungspolitik, New York 1981. 25 Quinkert, Propaganda, 108–109. Diese beiden Passagen werden zitiert in: Bundesarchiv Koblenz, B 106/21618, 106/3253, Betr.: Prof. von Mende, Abteilungsleiter Z,

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Bereits im Sommer 1945 wurde Mende in das US-Hauptquartier nach Wiesbaden eingeladen, da er für die westliche Besatzungsmacht vor allem aufgrund seiner profunden Kenntnisse der „Freiwilligenbewegung“ als hervorragender Ost-Experte galt. Bei der Entnazifizierung fiel Mende unter das „Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Artikel 131 des Grundgesetzes fallenden Personen“, das am 1. Juli 1951 in Kraft trat. Artikel 131 GG sicherte all jenen Beamt*innen die Rückkehr in den öffentlichen Dienst zu, die nicht als Hauptschuldige (Gruppe I) oder Schuldige (Gruppe II) eingestuft wurden.26 Von Mende galt damit als entnazifiziert; er bezog zudem das Übergangsgeld eines Regierungspräsidenten zur Wiederverwendung und erhielt eine steuerfreie Prämie für seine freiberufliche Tätigkeit in der Bundeszentrale. Im Laufe des Jahres 1952 entwickelte Gerhard von Mende ein Konzept für einen Nachrichtendienst über die Entwicklung in der Sowjetunion, das er dem Auswärtigen Amt (AA) vorstellte.27 Das AA stimmte der Einrichtung eines solchen Büros zu, das zunächst als „Büro für heimatlose Ausländer“ firmierte und in Düsseldorf residierte. Somit stand er in einem engen Kontakt zur Bundeszentrale und entwickelte Konzepte für eine „Soziologische Studiengesellschaft“ bzw. für ein noch zu gründendes „Ostkolleg“. Fest stand bereits, dass die Professoren Gerhard von Mende und Hans Koch an der „Spitze des gesamten Unternehmens“ stehen sollten, von Mende in der Funktion des Geschäftsführers und Koch als princeps in der Rolle des Direktors.28 Es folgten zahlreiche Tagungen, vor allem mit Blick auf die „geistig-politische Bekämpfung des Kommunismus“, die von Mende konzipiert wurden und bei denen er als Redner auftrat. Dass es sich bei der Gründung der „Soziologischen Studiengesellschaft“ nicht lediglich um eine weitere bildungspolitische Einrichtung handelt, sondern vielmehr um ein Projekt, in das die Geheimdienste involviert waren, zeigt der für den Bundesinnenminister verfasste Sachstandsbericht.29 Als Ergebnis von Ressortbesprechungen innerhalb des Innenministeriums wurde 1957 für die „Breitenarbeit“ das „Ostkolleg der i. V. Brockmann an Abteilungsleiter I, 19.4.1961, Anlage 2, Abschrift „Die Voelker der Sowjetunion“ von Dr. phil. habil. Gerhard Mende, 19.4.1961. 26 Zu den „131ern“ vgl. Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, 2. Aufl., München 1997, 69–100. 27 Quinkert, Propaganda, 214. 28 Ebd. 29 BA Koblenz, B 106/21611, Staatssekretär I durch Unterabteilung I B, Abteilung III, Abteilung VI, Abteilung und Herrn Staatssekretär II dem Herrn Minister vorzulegen, 25.3.1956.

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Bundeszentrale für Heimatdienst“ eingerichtet, welches für „antikommunistische Aufklärung und Werbung mit Massenwirkung“ zuständig sein sollte.30 In der Phase der konzeptionellen Vorbereitung spielte von Mende eine entscheidende Rolle. Er legte Denkschriften zur Errichtung eines solchen Ostkollegs vor, nahm Einfluss auf die Entwicklung der Konzeption sowie auf die Auswahl der Referenten und Mitglieder des Direktoriums. Aufgrund seiner exponierten Positionen im Nationalsozialismus, wie z. B. im Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete, und seiner Teilnahme an der Wannsee-Konferenz31 kam er als Leiter des Ostkollegs nicht infrage, spielte jedoch eine entscheidende Rolle als konzeptioneller Vordenker.

5. PARADIGMENWECHSEL IN DER POLITISCHEN BILDUNG

Während die Bundeszentrale für Heimatdienst zunächst über Projekte im Umfang von bis zu 30 000 DM selbst entscheiden konnte und auch hinsichtlich der von ihr herausgegebenen Publikationen eine weitgehende Autonomie besaß, änderte sich dieses Arrangement im Jahr 1960 mit einem Erlass des BMI vom 12. August. Darin wurde die Bundeszentrale dazu aufgefordert, künftig Entwürfe von Publikationen „ohne Rücksicht auf den späteren Kostenaufwand“ dem BMI zur Prüfung vorzulegen. Für die Mitarbeiter*innen der Bundeszentrale wie für die Presse war offensichtlich, dass die Einführung einer generellen Genehmigungspflicht den Handlungsspielraum der Bundeszentrale merklich einschränkte. Doch was hatte das BMI zu diesem Schritt veranlasst? Im September 1956 veranstaltete die Bundeszentrale in der Grenzakademie Sankelmark in Schleswig-Holstein eine Tagung zum Thema „Die Praxis der politischen Bildung in der Volksschule“. Unter dem Titel „Der Beitrag des Geschichtsunterrichts zur politischen Bildung“ hielt auch die Hochschullehrerin Renate Riemeck einen Vortrag, der in die 1957 erschienene Tagungsdokumentation aufgenommen wurde. Im Juli 1960 intervenierte der Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen, Jakob Kaiser: Frau Riemeck sei eine „erbitterte Gegnerin“ der Regierung und der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Als vermeintlichen Beleg für seine Behauptung führte Jakob Kaiser u. a. ihr En30 Werner Maibaum, Ostkolleg der Bundeszentrale für Heimatdienst. Gründungsgeschichte und Aufbauphase, Bonn 2004, 57. 31 BA Koblenz, B 106/21618, Betr.: Prof. von Mende, Abteilungsleiter Z, i. V. Brockmann an Abteilungsleiter I, 19.4.1961, Anlage 1, Abschrift, Auszug aus dem Buch „Eichmann und Komplizen“ von Robert M. W. Kempner, 165–166.

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gagement in der „Aktionsgemeinschaft gegen die atomare Aufrüstung in der Bundesrepublik“ und ihre publizistische Tätigkeit in den Blättern für deutsche und internationale Politik an. Von diesen Organisationen und Zeitschriften hätten sich die demokratischen Kräfte – einschließlich der SPD – distanziert.32 Neben den Ereignissen in Zusammenhang mit Riemeck stellte der Anstieg antisemitischer Anschläge und Straftaten in den Jahren 1959/60 die Bundeszentrale vor neue Herausforderungen. Für Furore sorgte insbesondere ein Artikel, der vom Leiter des Referats „Psychologie“ der Bundeszentrale für Heimatdienst, Walter Jacobsen, in der Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) veröffentlicht wurde.33 Jacobsen verfasste seinen Text unter dem Titel „Die Vergangenheit mahnt“ Ende 1959 „im Anschluss an die Kölner Vorgänge am Weihnachtsabend“. In der Nacht vom 24. auf den 25. Dezember 1959 war die kurz zuvor neu eingeweihte Kölner Synagoge in der Roonstraße mit Hakenkreuzen beschmiert worden. In seinen „Gedanken zu den neuen antisemitischen Exzessen und zu Gegenmaßnahmen“ spielte Jacobsen implizit auf eine Fernsehansprache Adenauers an. Als Wurzel des Übels betrachtete er den noch nicht völlig überwundenen Nationalsozialismus und den Antisemitismus in der BRD. Jacobsen war einer der ersten Mitarbeiter der Bundeszentrale für Heimatdienst, der das Problem der antisemitischen Einstellungen und Haltungen, die auch nach 1945 die bundesdeutsche Bevölkerung prägten, in aller Deutlichkeit thematisierte und daraus Konsequenzen für die politische Bildung ableitete. Bundesinnenminister Gerhard Schröder und der Staatssekretär des Innern, Hans Ritter von Lex, protestierten heftig gegen Jacobsens Ursachenanalyse und forderten, dass Paul Franken in seiner Funktion als Leiter der Bundeszentrale und Verantwortlicher für deren Publikationen zur Rechenschaft gezogen werden sollte. Vor dem Hintergrund der hier skizzierten Auseinandersetzungen um Riemeck und Jacobsen wurde nicht nur der Handlungsspielraum der Bundeszentrale für Heimatdienst merklich eingeschränkt. Auf Empfehlung der „Kommission zur Beratung der Bundesregierung in Fragen der politischen Bildung“ bzw. der „Unterkommission ‚Bundeszentrale für Heimatdienst‘“ wurde eine Namensänderung vorgeschlagen. Begründet wurde dies damit, dass die nur „historisch zu erklärende“ Bezeichnung „Heimatdienst“ dem „nicht Einge32 BA Koblenz, B 106/28441, Der Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen an den Bundesminister des Innern, z. Hd. v. Staatssekretär Ritter von Lex, betr.: Schriftenreihe der Bundeszentrale für Heimatdienst, Nr. 28: „Die Praxis der politischen Bildung in der Volksschule“, gez. Thedieck, 18.7.1960. 33 Walter Jacobsen, Die Vergangenheit mahnt – Wille, Wege und Wagnis zur Bewältigung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 27 (1960), 429–435.

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weihten“ unverständlich bleiben müsse und wenig Vertrauen erwecke. Der Begriff „Heimatdienst“ werde ferner häufig als „Hinweis auf eine Vertriebenenpolitik“ missverstanden. Rückblickend wurde die veränderte Namensgebung – „Bundeszentrale für politische Bildung“ – auch damit begründet, dass politische Bildungsarbeit dann wirksam sei, wenn sich der Staat klar und eindeutig mit dieser Aufgabe identifiziere.34 Es wäre jedoch vorschnell, aus der am 1. Juni 1963 erfolgten Umbenennung ableiten zu wollen, dass sich die Bundeszentrale aufgrund einer neuen Terminologie auch konzeptionell grundlegend gewandelt habe. Verantwortlich für die Veränderungen im Feld der politischen Bildung und der Politikwissenschaft als Bezugsdisziplin waren vor allem Interventionen von Didaktiker*innen, weltpolitische Veränderungen in den 1960er Jahren und nicht zuletzt auch die erstarkenden sozialen Bewegungen der zweiten Hälfte der 1960er Jahre. Hermann Giesecke folgend können die 1950er Jahre als eine Zeit der „politisch-pädagogischen Diskussionen“ betrachtet werden; ab dem Jahr 1960 folgte eine Zeit der „politisch-didaktischen Diskussion“. Debatten in der politischen Bildung und der Fachdidaktik Politikwissenschaft bzw. Sozialwissenschaften führten zu einer Neuorientierung und mündeten in eine „didaktische Wende“. „Didaktisierung“, „Verwissenschaftlichung“ und „Politisierung der politischen Bildung“ prägten, so Walter Gagel, die 1960er Jahre.35 Eine „Didaktisierung“ und die Vermittlung von politischen Einsichten gewannen in der Arbeit der Bundeszentrale für politische Bildung zunehmend an Bedeutung. Ihren unmittelbaren Ausdruck fand die „didaktische Wende“ in der politischen Bildung in den „elementaren politischen Einsichten“.36 Diese sollten nicht nur zu einem Maßstab der künftigen politischen Meinungs- und Willensbildung werden, sondern avancierten zur Grundlage des politischvernünftigen Handelns der Bürger*innen. Anknüpfend an diese „didaktische Wende“ wurde die hessische Konzeption politischer Bildung (Rahmenrichtlinien für Gesellschaftslehre in Hessen, 1972 ff.) entwickelt, an deren Ausarbeitung vor allem die politischen Bildner Wolfgang Hilligen und Kurt Gerhard Fischer beteiligt waren.37 34 BA Koblenz, B 106/21647, Protokoll über die dritte Arbeitssitzung der Kommission zur Beratung der Bundesregierung in Fragen der politischen Bildung, 12.5.1962, 3. 35 Walter Gagel, Geschichte der politischen Bildung in der Bundesrepublik Deutschland 1945–1989, Wiesbaden 1994, 125. 36 Kurt Gerhard Fischer/Karl Hermann/Hans Mahrenholz, Der politische Unterricht, Bad Homburg 1960. 37 Ingo Juchler, Geschichte der politischen Bildung, Profession politische Bildung,

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Die Politikdidaktik etablierte sich als eigenständige Disziplin; Fragen des politischen Lernens wurden zum Gegenstand einer Theoriebildung und begründeten eine fachliche Identität der politischen Bildung als eigenes Unterrichtsfach. Die Arbeiten von Wolfgang Hilligen (Problemorientierung), Kurt Gerhard Fischer (Das Exemplarische) und Hermann Giesecke (Konflikt als zentrale Kategorie) prägten die erste Phase der Politikdidaktik. Anknüpfend an die Kritische Theorie entwarf Rolf Schmiederer 1972 zunächst ein Konzept der politischen Bildung, das vor allem Demokratisierung und Emanzipation als Ziel der politischen Bildung formulierte; zudem sollte politische Bildung immer auch Ideologiekritik betreiben und die politische Praxis in den Blick nehmen.38 Indem Schmiederer in den folgenden Jahren von der Makro- zur Mikroebene wechselte, nahm er einen Perspektivenwechsel vor und prägte somit vor allem das didaktische Prinzip der Schülerorientierung und des schülerorientierten Unterrichts.39 Im Sinne einer subjektorientierten politischen Bildung versteht sich die politische Bildung seit den 1980er Jahren als ein Prozess, der darauf ausgerichtet ist, „Selbstbildungsprozesse“ bei den Lernenden zu initiieren, zu begleiten und zu qualifizieren.40 Dieses Verständnis einer subjektorientierten politischen Bildung, bei der Lernende nicht mehr als Objekt von Belehrung betrachtet, sondern selbst zum Subjekt von Lernprozessen gemacht werden, gewann in den 1980er Jahren in den bildungspolitischen Debatten an Bedeutung. Die Lernenden sollten ihre Interessen selbst bestimmen können, Wissen erwerben, diese Prozesse reflektieren und in die Praxis übertragen.41

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URL: https://profession-politischebildung.de/grundlagen/geschichte/affirmationkritik/#elementor-toc__heading-anchor-1 (abgerufen am 28.7.2021). Bernd Overwien, Wieder gelesen: Rolf Schmiederer, in: Klaus-Peter Hufer/Theo W. Länge/Barbara Menke/Bernd Overwien/Laura Schudoma (Hg.), Wissen und Können. Wege zum professionellen Handeln in der politischen Bildung, Schwalbach/Ts. 2013, 134–137. Ebd., 136. Albert Scherr, Subjektivität als Schlüsselbegriff kritischer politischer Bildung, in: Bettina Lösch/Andreas Thimmel (Hg.), Handbuch kritische politische Bildung, Bonn 2011, 303–314, 310. Peter Henkenborg, Politikdidaktische Forschung, Bundeszentrale für politische Bildung, 19.3.2015, URL: https://www.bpb.de/gesellschaft/bildung/politische-bildung/193802/politikdidaktische-forschung (abgerufen am 28.7.2021); Christine Zeuner, Entwicklung und Umsetzung eines didaktisch-methodischen Konzepts zur politischen Bildung. Oskar Negts „Gesellschaftliche Kompetenzen“, in: Magazin erwachsenenbildung.at. Das Fachmedium für Forschung, Praxis und Diskurs

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Diese hier skizzierten bildungspolitischen Debatten wurden angestoßen und flankiert von Erfahrungen im Feld der sozialen Bewegungen, die sich ihrerseits auf Ziele und Methoden der politischen Bildung bezogen, wobei vor allem von der außerschulischen politischen Bildung wichtige Impulse ausgingen.42 Die Aktivist*innen der sozialen Bewegungen forderten verstärkt eine nicht nur formale, sondern tatsächliche Demokratisierung aller gesellschaftlichen Bereiche. Dadurch ausgelöste Veränderungen fanden erst unter dem Einfluss der Studenten- und Protestbewegungen, der Außerparlamentarischen Opposition, der Friedensbewegung (Anti-Vietnam-Bewegung) und der Zweiten Frauenbewegung ab 1967 statt. Thematisiert wurden die undemokratischen Strukturen in der Gesellschaft und die Elitenkontinuitäten in Wirtschaft, Recht, Politik und Wissenschaft („Unter den Talaren der Muff von 1000 Jahren“). Insofern fungierten die sozialen Bewegungen und mit ihnen auch die kritisch-emanzipatorischen Bewegungen und Theorien der 1960er Jahre als Katalysator der langsamen Umstrukturierung im Feld der politischen Bildung. Im Rückblick auf die Anfänge der politischen Bildung spricht der heutige Präsident der Bundeszentrale, Thomas Krüger, davon, dass „politische Bildung die Demokratie im Bewusstsein der Menschen verankern und sie dadurch zu einem werteorientierten Handeln befähigen und bewegen sollte“.43 Politische Bildung wurde in den Nachkriegsjahren, so Thomas Krüger, als „positive Form des Verfassungsschutzes“ verstanden. In dieser Zeit habe die staatliche politische Bildung die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in das Zentrum gerückt; einige Jahre später folgte dann die Abwehr der kommunistischen Ideologie als zentrales Thema der Bundeszentrale für politische Bildung. „Politische Bildung sollte die Bevölkerung gegen totalitäre Versuchungen immunisieren“, so Krüger.44 Im Zuge des Demokratisierungsprozesses der 1960er Jahre habe sich die politische Bildung mit sich selbst auseinandergesetzt. Als Ergebnis des Pro(2013) 20, URL: https://erwachsenenbildung.at/magazin/ausgabe-20/7079-entwicklung-und-umsetzung-eines-didaktisch-methodischen-konzepts-zur-politischen-bildung-oskar-negts-gesellschaftliche-kompetenzen.php (abgerufen am 28.7.2021). 42 Klaus-Peter Hufer/Theo W. Länge/Barbara Menke/Bernd Overwien/Laura Schudoma (Hg.), Wissen und Können. Wege zum professionellen Handeln in der politischen Bildung, Schwalbach/Ts. 2013. 43 Thomas Krüger, Vorwort, in: Klaus-Peter Hufer/Dagmar Richter (Hg.), Politische Bildung als Profession. Verständnisse und Forschungen, Bonn 2013, 9–11, 9. 44 Ebd.

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zesses der Selbstreflexion habe man als Bildungsziel mündige Bürger*innen in den Blick genommen: „Politische Bildung soll Wissen und Kompetenzen vermitteln, die es den Menschen erlauben, sich ein eigenes Urteil zu bilden und selbstbestimmt Entscheidungen zu fällen.“45 Somit sollen politische Bildner*innen dazu beitragen, dass sich Lernende eigenständig mit dem Lerngegenstand auseinandersetzen; keineswegs sollten sie ihre Urteile und Überzeugungen den Lernenden aufoktroyieren. In diesem Sinne spricht Thomas Krüger implizit von einem Paradigmenwechsel, der sich in den 1960er Jahren im Feld der politischen Bildung vollzogen habe. Hinsichtlich der Bewertung der 1968er-Bewegung im Spannungsfeld zwischen Mythos und Kulturkampf unterscheidet Edgar Wolfrum zwischen dem „antiquierten Zugriff “, dem „monumentalistischen Zugriff “ und dem „kritischen Zugriff “.46 Überträgt man diese Varianten des Zugriffs auf den Paradigmenwechsel im Zuge der „didaktischen Wende“ auf die Debatten um politische Bildung und Demokratisierung und auf die sozialen Bewegungen in den 1960er Jahren, so bietet sich hier der „kritische Zugriff “ an, da er eine differenzierte Betrachtungsweise ermöglicht: Während die Achtundsechziger in ihren politischen Zielen weitgehend gescheitert sind, erwiesen sie sich erfolgreich hinsichtlich ihres Beitrags zu einer kulturellen Liberalisierung bzw. „Fundamentalliberalisierung“ (Jürgen Habermas). Damit vollzog sich der Übergang der bundesdeutschen Gesellschaft zu einer modernen Gesellschaft, was vor allem für den gesellschaftlichen Wertewandel, Bürgerinitiativen, Mitbestimmung, Bildungsreformen und für den kritischen Umgang mit Autoritäten gilt. Die Demokratisierung der Bildung wurde vorangetrieben im Sinne einer (Re-)Politisierung der Bildungsarbeit, verbunden mit einer starken Subjektorientierung (Oskar Negt). Jedoch: Zu beobachten sind auch Tendenzen einer „Versicherheitlichung“47 45 Ebd. 46 Edgar Wolfrum, „1968“ in der gegenwärtigen deutschen Geschichtspolitik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) (2001), 22–23, 28–36, URL: https://www.bpb.de/ apuz/26243/1968-in-der-gegenwaertigen-deutschen-geschichtspolitik?p=all (abgerufen am 28.7.2021) 47 Der Begriff „Versicherheitlichung der Landschaft politischer Bildung“ (Thomas Krüger) bezeichnet die Tendenz, dass politische Bildung sukzessive mit dem Ziel der Prävention verknüpft wird und dass die Sicherheitsorgane (Bundesamt für Verfassungsschutz, BKA) in diesem Feld an Einfluss gewinnen. Dies manifestiert sich darin, dass ein immer größerer Anteil von Projekten der politischen Bildung der Prävention dient, u. a. der Prävention gegen Islamismus, Rechtsextremismus oder Extremismus allgemein. Vgl. Fachdebatte politische Bildung und Primärprä-

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der politischen Bildung – eine Tendenz, vor der Thomas Krüger explizit gewarnt hat.48 Um auf das eingangs angeführte Beispiel zurückzukommen: Wenn das Bundesamt für Verfassungsschutz interveniert, um das Dossier „Linksextremismus“ in seinem Sinne zu gestalten, verschwimmen die Grenzen zwischen politischer Bildung, sozialwissenschaftlicher Forschung und den Definitionen der Sicherheitsbehörden. Anhand dessen lässt sich aufzeigen, dass eine „Versicherheitlichung“ der politischen Bildung im Sinne eines positiven Verfassungsschutzes nicht ad acta gelegt wurde, sondern derzeit revitalisiert wird. Die Salzburger Tagung „Narrative gelungener Demokratie?“ fragte danach, welche Narrative in Österreich über die Demokratie existieren und welche Narrative sich gesellschaftlich durchzusetzen vermochten. In Bezug auf Deutschland kann die Frage nach den „Narrativen gelungener Demokratie“ dahingehend beantwortet werden, dass der Bundeszentrale für Heimatdienst bzw. der Bundeszentrale für politische Bildung anlässlich von Jahrestagen oder Jubiläumsfeiern immer wieder eine zentrale Funktion im Prozess der Demokratisierung der deutschen Bevölkerung beigemessen wurde (und weiterhin wird). Der Blick in die Archivalien der Bundeszentrale und somit hinter die Kulissen von Hochglanzbroschüren verweist auf die Diskrepanz zwischen den Narrativen gelungener Demokratie und der gelebten Realität. Somit bedarf es immer wieder eines kritischen Blicks auf die Narrative gelungener Demokratie – und dies gilt auch, aber nicht nur für die Bundeszentrale für politische Bildung.

vention, URL: https://www.bpb.de/politik/extremismus/radikalisierungspraevention/325195/fachdebatte-politische-bildung-und-primaerpraevention (abgerufen am 28.7.2021). 48 Krüger, Beutelsbach 2.0, 186.

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KAPITEL II ENTWICKLUNGSLINIEN ZWISCHEN 1945 UND 2020

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GESCHICHTE DER DEMOKRATIE ODER DEMOKRATISCHE GESCHICHTE(N)? GESCHICHTSSCHULBÜCHER ALS KONTROLLIERTE KONSTRUKTIONEN UND KONTROLLIERENDE KONSTRUKTEURE

„‚Es gibt ein Mädchen in dieser Klasse, das so heißt wie unsere Freundin aus dem Lesebuch‘, sagte die Lehrerin am ersten Schultag. ‚Könnt ihr erraten, wer es ist?‘ Ich dachte allen Ernstes für einen kurzen Moment vielleicht bin ich es, mit einer naiven Hoffnung, bevor sie mit dem Finger auf Sophia zeigte.“1

Die Erzählerin in Denize Ohdes „Autosoziobiografie“2, in der das prekäre Heranwachsen eines Mädchens zur jungen Frau als ein Bildungsweg zwischen Beschämung, Ausgrenzung und Abwertung im Frankfurter Westen aus der Retrospektive heraus erzählt wird, verdeutlicht uns als Leser*innen beiläufig und leise, was in der Vergangenheit immer wieder in aller Deutlichkeit analysiert worden ist,3 dass nämlich Schule und Unterricht nicht nur als demokratische Orte betrachtet werden müssen, die Bildung, Teilhabe und Anerkennung ermöglichen, sondern dass sie eben auch Orte sind, durch die Bildungsanstren1 2

3

Deniz Ohde, Streulicht, Berlin 2020, 40–41. Eingeführt hat den Begriff der Literaturwissenschaftler Carlos Spoerhase in Bezug auf die Werke von Didier Eribon, J. D. Vance und Edouard Louis; vgl. Carlos Spoerhase, Politik der Form. Autosoziobiografie als Gesellschaftsanalyse, in: Merkur 71 (2017) 818, 27–37. Vgl. Pierre Bourdieu/Jean-Claude Passeron, Die Illusion der Chancengleichheit. Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs, Stuttgart 1971; Pierre Bourdieu, Der Staatsadel, Konstanz 2004, z. B. 72; Markus Rieger-Ladich, Cooling out. Warum Bildung mehr ausgrenzt als inkludiert, in: Kursbuch (2018) 193, 100–114.

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gungen verhindert und in denen soziale und symbolische Ordnungen durch vielfältige Praktiken und Medien überhaupt erst erzeugt werden. Dies gilt selbstverständlich auch für die Praxis des Geschichtsunterrichts.4 Auch das historische Lehren und Lernen in der Schule, das auf historische Bildung als reflexive Selbstverortung in Zeit und Raum durch historisches Denken zwischen geschichtskultureller Teilhabe und individueller Lebenspraxis abzielt, grenzt aus und inkludiert zugleich – und initiiert so folgenreiche Subjektivierungsprozesse.5 Das durch schulische Bildungsprozesse zu initiierende „Anderswerden“ muss immer in beide Richtungen und in seiner Gleichzeitigkeit gedacht werden.6 Schule und der an ihr praktizierte Geschichtsunterricht stellen ambivalente demokratische Orte dar, an denen sich Praktiken der Disziplinierung, der Verweigerung und des Widerstands7 gleichzeitig vollziehen. Insbesondere den Leitmedien des Geschichtsunterrichts8, den verwendeten Geschichtsschulbüchern, kommen in diesen Prozessen als Materialisierun4

Vgl. Johanna Ahlrichs, Die Relevanz des Beiläufigen. Alltägliche Praktiken im Geschichtsunterricht und ihre politischen Implikationen, Wiesbaden 2020. 5 Vgl. Christian Heuer, Klasse im Diskurs der Geschichtsdidaktik, in: Sebastian Barsch/Bettina Degner/Christoph Kühberger/Martin Lücke (Hg.), Handbuch Diversität im Geschichtsunterricht. Inklusive Geschichtsdidaktik, Frankfurt  a.  M. 2020, 135–145, 135. 6 Vgl. Hans-Christoph Koller, Bildung anders denken. Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse, Stuttgart 2012. 7 Vgl. zur „anderen“ Seite von Bildungsprozessen Christian Grabau, Bildung als Kunst, sich zu entziehen. Vom Verweigern, Desertieren, Abfallen und Aussteigen, in: Ingrid Miethe/Anja Tervooren/Norbert Ricken (Hg.), Bildung und Teilhabe. Zwischen Inklusionsforderung und Exklusionsdrohung, Wiesbaden 2017, 157–177. 8 Die Leitmedienthese hat innerhalb des geschichtsdidaktischen Diskurses eine lange Tradition. Auch wenn es immer wieder theoretische Einwände gegen die These vom Leitmedium gab, so etwa bei Thomas Höhne, Schulbuchwissen. Umrisse einer Wissens- und Medientheorie des Schulbuches, Frankfurt  a. M. 2003, bes. 12‒16, kann – zumindest wenn man die Quantität der Verwendung und Nutzung als Argument heranzieht – mit theoretischen Einschränkungen an der These festgehalten werden; vgl. Roland Bernhard, Das Schulbuch als Leitmedium des Geschichtsunterrichts in Österreich. Empirische Ergebnisse einer Triangulationsstudie und einige Schlussfolgerungen für die LehrerInnenbildung, in: Christoph Kühberger/Roland Bernhard/Christoph Bramann (Hg.), Das Geschichtsschulbuch. Lehren ‒ Lernen ‒ Forschen (Salzburger Beiträge zur Lehrer/innen/bildung. Der Dialog der Fachdidaktiken mit Fach- und Bildungswissenschaften, Bd. 6, Münster–New York 2019, 35–56, 52, und Holger Thünemann, Historisch Denken lernen mit Schulbüchern? Forschungsstand und Forschungsperspektiven, in: Christoph

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gen gesellschaftspolitischer Subjektivierungspraktiken eine Reihe von nicht zu vernachlässigenden Funktionen zu. Nicht nur bringen Geschichtsschulbücher „Geschichte in spezifischer Weise hervor“,9 sie schaffen auch Räume geschichtsunterrichtlicher Kommunikation mit klaren Grenzen. Und so ist Christian Bunnenberg und Peter Gautschi zuzustimmen, wenn sie zur Gegenwart und Zukunft des Geschichtsschulbuchs im 21.  Jahrhundert schreiben, dass Geschichtsschulbücher „weit mehr Funktionen“ haben, als Schüler*innen „Wissen zu vermitteln und sie zu befähigen, Probleme zu lösen“,10 oder Lehrer*innen bei der Strukturierung der Unterrichtsinhalte zu unterstützen.11 Als „ausbalancierte Lernmedien“ stellen Geschichtsschulbücher einerseits vielfältige Angebots-, Kommunikations- und Aneignungsräume für Lehrer*innen und Schüler*innen zur Verfügung,12 andererseits sind Geschichtsschulbücher aber auch ambivalente Bildungsorte, in denen Differenzen durch Ordnungen gerade erst erzeugt werden. Als „Autobiographien der Nation“13 inkludieren sie eben nicht nur, sondern schließen auch aus der „Nation“ und „der Demokratie“ aus: nämlich Individuen, Perspektiven, Identifikationsmöglichkeiten und andere, nicht hegemoniale Geschichte(n). Im Folgenden sollen anhand der in österreichischen Geschichtsschulbüchern als Lern- und Identifikationsmöglichkeiten erzählten Geschichte(n) der Demokratie die Mechanismen eines disziplinierenden, hegemonialen Diskurses aus einer geschichtsdidaktischen Perspektive heraus thematisiert werden,

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Bramann/Christoph Kühberger/Roland Bernhard (Hg.), Historisch Denken lernen mit Schulbüchern, Frankfurt a. M. 2018, 17‒36, 17. Johanna Ahlrichs/Felicitas Macgilchrist, Medialität im Geschichtsunterricht. Die Rolle des Schulbuchs beim Vollzug von ‚Geschichte‘, in: Zeitschrift für interpretative Schul- und Unterrichtsforschung 6 (2017), 14–27, 24. Peter Gautschi/Christian Bunnenberg, Schulgeschichtsbücher im 21. Jahrhundert, in: Public History Weekly 9 (2021) 2, DOI 10.1515/phw-2021-17618 (abgerufen am 25.5.2021). Zur zentralen Rolle des Geschichtsschulbuchs für die Unterrichtsvorbereitung und -planung vgl. Ulrike Kipmann/Christoph Kühberger, Einsatz und Nutzung des Geschichtsschulbuches. Eine Large-Scale-Untersuchung bei Schülern und Lehrern, Wiesbaden 2020, 75. Peter Gautschi/Christian Bunnenberg, Schulgeschichtsbücher im 21. Jahrhundert, in: Public History Weekly 9 (2021) 2, DOI 10.1515/phw-2021-17618 (abgerufen am 25.5.2021). Wolfgang Jacobmeyer, Das Schulgeschichtsbuch – Gedächtnis der Gesellschaft oder Autobiographie der Nation?, in: Geschichte, Politik und ihre Didaktik 26 (1998) 1/2, 26–35, 30.

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um nicht zuletzt zu fragen, welche Geschichte der Demokratie erzählt wird und welche demokratischen Geschichten erzählt werden könnten, um die Orientierungsfunktion historisch-politischer Bildung zu berücksichtigen, nach der Schülerinnen und Schüler im Unterricht zur geschichtskulturellen Teilhabe durch selbstreflexive Verortung in Zeit und Raum im Modus historischen Erzählens herausgefordert werden sollten.14 Zunächst möchte ich dafür (1) den Gegenstandsbereich meiner Suchbewegung, quasi den disziplinären Rahmen, bestimmen, wenn ich unter der Frage „Orientierung und Kritik?“ Grundsätzliches zum historischen Lehren und Lernen im Geschichtsunterricht als Subjektivierungspraxis ausführen werde. Daran anschließend werde ich dann (2) das Geschichtsschulbuch als kontrollierte Konstruktion der Demokratie und als kontrollierenden Konstrukteur demokratischer Ordnungen thematisieren, um gegenwärtige Tendenzen in der Darstellung der Demokratie im Geschichtsschulbuch zusammenfassend und pointiert aufzuzeigen. Daran anknüpfend möchte ich die unlängst aufgeworfene Frage, nämlich, was vom Geschichtsunterricht in einer Demokratie denn überhaupt zu erwarten sei,15 wenden und versuchen, Antworten darauf zu geben, was denn überhaupt unter gelungenen demokratischen Narrativen im Geschichtsschulbuch als Lern- und Identifikationsmöglichkeiten für Schüler*innen aus geschichtsdidaktischer Perspektive zu verstehen sein könnte.

1. ORIENTIERUNG UND KRITIK? – GESCHICHTSUNTERRICHT ALS SUBJEKTIVIERUNGSPRA XIS

Schulische Bildung im Allgemeinen und der Geschichtsunterricht als Ort historisch-politischer Bildung im Besonderen verdanken ihre Legitimation und Bedeutung in demokratisch verfassten Staaten auch ihrem Anspruch, Schü14 Vgl. z. B. Bärbel Völkel, Zeit erfahren und handhaben lernen. Annäherungen an eine inklusive Geschichtsdidaktik, in: Christoph Kühberger/Robert Schneider (Hg.), Inklusion im Geschichtsunterricht. Zur Bedeutung geschichtsdidaktischer und sonderpädagogischer Fragen im Kontext inklusiven Unterrichts, Bad Heilbrunn 2016, 103–119, 112. 15 Vgl. Christoph Kühberger, Was kann vom Geschichtsunterricht in einer Demokratie erwartet werden? Vergangenheit und Gegenwart einer Pflichtunterweisung, in: Heinrich Ammerer/Margot Geelhaar/Rainer Palmsdorfer (Hg.), Demokratie lernen in der Schule. Politische Bildung als Aufgabe für alle Unterrichtsfächer (Salzburger Beiträge zur Lehrer/innen/bildung. Der Dialog der Fachdidaktiken mit Fach- und Bildungswissenschaften, Bd. 9, Münster–New York 2020, 83–99.

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ler*innen in die Lage zu versetzen, als Bürger*innen an Demokratie teilzuhaben bzw. an politischen und geschichtskulturellen Aushandlungsprozessen reflexiv zu partizipieren und ihre Perspektiven und Anliegen in der Öffentlichkeit zu artikulieren.16 Ganz in diesem Sinne kann man im österreichischen Lehrplan aus dem Jahr 2016 zur Zielsetzung des Unterrichts in Geschichte, Sozialkunde und Politische Bildung lesen: „Er [der Geschichtsunterricht] leistet somit einen wichtigen Beitrag zur Orientierung der Schülerinnen und Schüler in Zeit und Raum, zur kritischen Identitätsfindung in einer pluralistisch verfassten Gesellschaft sowie zur Entwicklung selbständigen historischen und politischen Denkens und Handelns. Der Unterricht soll Einblicke in die Geschichte und Politik unterschiedlicher räumlicher Dimensionen (lokale, regionale, nationale, kontinentale und globale Ebene) sowie zu ihren Vernetzungen geben. Kontroverse Interessen im Umgang mit Geschichte und Politik sind von den Schülerinnen und Schülern als solche zu erkennen, zudem sollen sie – im Sinne einer demokratisch verfassten Gesellschaft – dazu befähigt werden, die eigenen Meinungen zu artikulieren sowie jene der anderen zu akzeptieren, sie aber auch zu reflektieren und kritisch zu hinterfragen. Ziel des Unterrichtes ist es daher, bei den Schülerinnen und Schülern ein reflektiertes und (selbst-)reflexives Geschichtsund Politikbewusstsein zu entwickeln und das Bewusstsein für die Bedeutung von Demokratie und Menschenrechten, sowie Europäischer Grundwerte, wie sie beispielsweise in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union definiert sind, und der damit verbundenen Gesellschafts- und Rechtsordnung zu schärfen.“17

Was die grundlegenden Funktionen von Schulen in Demokratien angeht, nämlich hinsichtlich der Qualifikation, der kulturellen Sozialisation und der individuellen Identitätsbildung,18 werden dem Geschichtsunterricht auch im 16 Vgl. Ulrich Binder/Johannes Drerup, Demokratieerziehung und die Bildung digitaler Öffentlichkeiten, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Demokratieerziehung und die Bildung digitaler Öffentlichkeit, Wiesbaden 2020, 1–11, 1. 17 Bundesrecht konsolidiert: Gesamte Rechtsvorschrift für Lehrpläne – allgemeinbildende höhere Schulen, Fassung vom 29.5.2021, URL: https://www.ris.bka.gv.at/ GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10008568 (abgerufen am 25.5.2021). 18 Vgl. Gert Biesta, How Does a Competent Teacher Become a Good Teacher? On Judgement, Wisdom and Virtuosity in Teaching and Teacher Education, in: Ruth Heilbronn/Lorraine Foreman-Peck (Hg.), Philosophical Perspectives on Teacher Education, Hoboken 2015, 3–22, 7–9.

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österreichischen Lehrplan demnach zwei elementare Ziele zugewiesen: Zum einen ist der Geschichtsunterricht der Lernort, an dem Schüler*innen in die jeweilige Erinnerungs- und Geschichtskultur mitsamt ihren tradierten Wissensordnungen eingeführt werden und wo sie die „Werkzeuge“ des historischen Denkens erlernen sollen, um gegenwärtig und zukünftig im Rahmen der demokratischen „Gesellschafts- und Rechtsordnung“19 partizipieren zu können. Zum anderen ist er der Lernort, an dem Schüler*innen erfahren sollen, dass diese kulturellen Ordnungen selbst historischem Wandel unterliegen, dass sie gemacht und somit veränderbar sind. Es geht um Reflexion und Kritik, auch um das Hinterfragen der eigenen hegemonialen Narrative der Demokratie. Institutionalisiertes historisches Lehren und Lernen zielt also auf Bewusstseinsbildung des Individuums, auf Orientierung individueller Lebenspraxis in und durch Geschichte(n) und auf Handlungsorientierung im Sinne geschichtskultureller (lies: gesellschaftlicher) Teilhabe ab. Zielpunkt des Geschichtsunterrichts ist der Erwerb und die Entwicklung von Kompetenzen historischen Denkens zum Zwecke der gegenwärtigen und zukünftigen Orientierung, verstanden als Reflexion und Emanzipation von historisch gewachsenen Strukturen und ihren tradierten Geschichten im Sinne „kritischer Loyalität“20 und als das Erzählen anderer Geschichte(n) im Sinne geschichtskultureller Teilhabe im Modus „historischer Phantasie“21. Als staatlich legitimierte soziale Praxis zielt der Geschichtsunterricht auf die Bildung des demokratischen Subjekts als demokratische Bürgerin/als demokratischer Bürger im demokratischen Rahmen der bestehenden österreichischen Gesellschaft ab. Geschichtsunterricht als Teil der Institution Schule vermittelt und stellt Schüler*innen Identifikationsmöglichkeiten in Form eines solchen Rahmens von demokratisch legitimen Verhaltensweisen zur Verfügung, die eine klare Positionierung erfordern, will man als demokratisches Subjekt Anerkennung erlangen.22 19 Lehrplan [Anm. 17]. 20 Kühberger, Demokratie, 93. 21 Klaus Bergmann, Geschichtsunterricht für eine demokratische Gesellschaft, in: Ders., Geschichtsdidaktik. Beiträge zu einer Theorie historischen Lernens. Klaus Bergmann zum 60. Geburtstag, Schwalbach/Ts. 1998, 100–108, 107. 22 Vgl. zur Analyse von Subjektivierungsprozessen allgemein Norbert Ricken, Bildung und Subjektivierung. Bemerkungen zum Verhältnis zweier Theorieperspektiven, in: Ders./Rita Casale/Christiane Thompson (Hg.), Subjektivierung. Erziehungswissenschaftliche Perspektiven, Weinheim–Basel 2019, 95–118, bes. 101–102.

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2. KONTROLLIERTE KONSTRUKTIONEN UND KONTROLLIERENDE KONSTRUKTEURE – DIE DEMOKRATIE ALS BIOGRAPHIE

Ungeachtet der Tatsache, dass von Geschichtsschulbuchnarrativen nicht kausal auf Prozesse und Effekte historisch-politischer Bildung rückgeschlossen werden kann, kommt insbesondere dem Geschichtsschulbuch im Kontext der Demokratisierung als „Leitmedium des Geschichtsunterrichts schlechthin“23 eine besondere Funktion zu. Denn Geschichtsschulbücher lassen sich aufgrund ihrer Verbreitung und ihrer Bedeutung für die Praxis des Geschichtsunterrichts nicht nur als Wissensspeicher und Arbeitsmittel,24 sondern ‒ als Materialisierungen dieser Demokratisierungspraxis ‒ auch als spezifische Form schulischer Subjektivierungspraktiken verstehen. Und sie können gerade deswegen nicht anders erzählen als so, wie sie erzählen, weil sie aufgrund ihrer Funktion und ihres inhärenten hegemonialen Wissens Teil der liberalen repräsentativen Demokratie mitsamt ihren Widersprüchen25 sind, von der sie erzählen. So erscheint die Suche nach der erzählten Geschichte der Demokratie und nach den gemachten Demokratiegeschichten von Schüler*innen in Geschichtsschulbüchern nicht unerheblich zu sein, wenn man die Frage beantworten will, „welche Narrative in Österreich über die Demokratie existieren und welche Narrative sich gesellschaftlich durchsetzen“.26 Und so ließe sich auch das von Christoph Kühberger auf der Tagung präsentierte Ergebnis einer empirischen Untersuchung zu den Demokratiegeschichte(n) und -vorstellungen von Student*innen27 als das verstehen, was es ist: ein Beleg dafür, wie wirksam diese Subjektivierungspraxis im Sinne der Reproduktion erwünschter Narrative der Demokratie war. Es sind reproduzierte Geschichten von außen, die von den befragten Student*innen erzählt werden. Demokratie wird von ihnen als etwas erzählt, als ein Objekt distanzierter Beobachtung. Das liegt sicherlich auch daran, dass die befragten 23 Bernhard, Schulbuch, 52. 24 Vgl. Gautschi/Bunnenberg, Schulgeschichtsbücher. 25 Zu den Aporien liberaler Demokratie vgl. Isabell Lorey, Demokratie im Präsens. Eine Theorie der politischen Gegenwart, Berlin 2020, 14–15. 26 Vgl. die Ankündigung zur Salzburger Tagung unter https://www.bmbwf.gv.at/ Themen/schule/schulpraxis/termine/veranstaltungen/ngd.html (abgerufen am 25.5.2021). 27 Vgl. den Beitrag in diesem Band: Christoph Kühberger, Demokratiegeschichte als big data und codes. Historische Narrative von Lehramtsstudierenden in Österreich.

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Studierenden die Sozialisation zum demokratischen Subjekt in der Schule erfolgreich durchlaufen konnten. Machttheoretisch könnte man fragen, ob dieser Effekt nicht auch erwünscht ist. Hier erzählen nicht die, die keine Stimme haben, sondern jene, die alle Privilegien besitzen und die sich erfolgreich identifizieren konnten. Deshalb erzählen sie so „smart“ über die Demokratie, wie das jemand im Tagungs-Chat geschrieben hatte. Für sie ist Demokratie als Objekt sicher und vorhanden, stellt quasi den nicht hinterfragten Rahmen dar, in dem sich ihr individueller Bildungsweg vollzogen hat. So lassen sich die Ergebnisse der empirischen Studie meiner Ansicht nach eben auch als Belege für die Wirksamkeit des Geschichtsschulbuchs als an der Bildung des demokratischen Kopfes maßgeblich beteiligter Akteur lesen. Geschichtsschulbücher wählen aus und lassen weg, zeigen das „Eigene“ und „Fremde“, kürzen und fügen hinzu, ordnen an und strukturieren neu, kon­ struieren Zeitverläufe und Sinnzusammenhänge, illustrieren und didaktisieren, finden Anfänge und Enden. Geschichtsschulbücher konstruieren Kohärenzen und narrative Zusammenhänge und generieren so auch bestimmte Narrative über und für die bzw. in der Demokratie. Selbstverständlich dienen auch die erzählten Narrative der Demokratie in den im Kontext des Geschichtsunterrichts verwendeten Geschichtsschulbüchern konkreten politischen und didaktischen Zwecken. Es geht um Orientierung, Bewusstseinsbildung und Teilhabe an der bestehenden demokratischen Praxis. In den unterschiedlichen Narrativen der Demokratie in Geschichtsschulbüchern wird erinnert und vergessen, es werden Anfänge gesetzt, Vorschläge unterbreitet und Urteile gefällt, Verläufe modelliert und vorläufige Enden gefunden. Und sie werden, wie alle andere(n) Geschichte(n) auch, immer von jemandem für jemanden erzählt. In Geschichtsschulbüchern wird didaktisiertes Konsenswissen28 zur Verfügung gestellt, auf das sich die beteiligten Akteur*innen (Wissenschaft, Bildungspolitik, Schulpraxis) in einem aufwendigen Prozess bereits geeinigt haben. Die im Geschichtsbuch präsentierten Narrative der Demokratie haben sich bereits durchgesetzt, stellen also das Kondensat eines gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses dar, sind Teil des kulturellen Gedächtnisses einer Nation und sollen auch zukünftig so nacherzählt werden. Geschichtsschulbücher stellen also normalisiertes sozio-kulturelles Wissen dar,29 das aus den vielen Geschichten, den Antworten der Geschichtswissenschaften auf spezifische historische Fragen, die eine, eben auch die Geschichte der Demokratie des jeweili28 Vgl. Thomas Höhne, Schulbuchwissen. Umrisse einer Wissens- und Medientheorie des Schulbuches, Frankfurt a. M. 2003, 61. 29 Vgl. ebd., 102.

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gen Geschichtsschulbuches macht. Narrative Konstruktionen der Demokratie in Geschichtsschulbüchern sind folglich keine Repräsentationen vergangener Ereignisse und Prozesse, vielmehr stellen sie als narrative Strukturierungen gegenwärtige Interpretationen der Demokratie dar. Sie sind somit als Darstellungen weniger daten- als bedeutungsgenau. Geschichtsschulbücher bilden also keine objektiven Wahrheiten über die Demokratie ab, sondern konstruieren ein bestimmtes Vermittlungswissen über die Demokratie, von der sie selbst konstitutiver Teil sind, und vermitteln Lehrer*innen und Schüler*innen so eine konkrete Geschichte der bestehenden Demokratie als Orientierungs- und Identifikationsangebot. Geschichtsschulbücher mit ihren Narrativen über die Demokratie vermitteln folgenreiche Ordnungen, die ihrerseits Subjekte formieren können,30 gerade weil sie auf Anerkennung zielen. Dass dieses Potential allerdings nicht ausschließlich linear entfaltet werden kann, zeigt sich in den gescheiterten Identifikationsversuchen, so etwa bei der eingangs zitierten Erzählerin in Ohdes „Streulicht“. Auch wenn die Erzählerin längst dem entwachsen ist, bleibt die erfahrene Ausgrenzung als Riss permanent präsent, hat sich im Leibgedächtnis eingeschrieben.31 Als „Konstruktorien“32 stellen Geschichtsschulbücher somit kontrollierte Konstruktionen der Demokratie dar und sind zugleich kontrollierende Konstrukteure demokratischer Ordnung und gesellschaftlichen Wissens,33 indem sie das hegemoniale historische Wissen über den Prozess der Demokratisierung und die Techniken und Verfahren demokratischer Teilhabe, die aus staatlicher Perspektive für die Erziehung zum demokratischen Subjekt bedeutsam erscheinen, als approbiertes Wissen zur Verfügung stellen und thematisieren. Sie definieren den kommunikativen Rahmen, in dem man sich bewegen muss, will man als demokratisches Subjekt anerkannt werden. 30 Vgl. ebd., 80. Dazu, dass Geschichtsschulbüchern im Prozess gesellschaftlicher Demokratisierung eine zentrale Funktion eingeräumt werden kann, vgl. Johanna Bethge, Beyond textbooks. Amerikanische Schulbucharbeit in Deutschland, 1944‒1952, Göttingen 2021. 31 Vgl. Christian Heuer, „Everyman his own historian“. Historical thinking and life history narration, in: Rethinking History. The Journal of Theory and Practice 24 (2020) 1, 56–68. DOI 10.1080/13642529.2019.1669292 (abgerufen am 25.5.2021). 32 Höhne, Schulbuchwissen, 18. 33 Vgl. auch Simone Lässig, Wer definiert relevantes Wissen? Schulbücher und ihr gesellschaftlicher Kontext, in: Eckhardt Fuchs/Joachim Kahlert/Uwe Sandfuchs (Hg.), Schulbuch konkret. Kontexte – Produktion – Unterricht, Bad Heilbrunn 2010, 199–215, 203.

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Geschichtsschulbücher, so könnte man sagen, disziplinieren in dieser Logik Denk- und Handlungsweisen, indem sie versuchen, durch ihr spezifisches Schulbuchwissen über die Demokratie Subjektivierungsprozesse des „demokratischen Kopfes“ zu kontrollieren und zu steuern. Sie sind im Foucault’schen Sinne Medien des Regierens,34 indem sie gültige und anerkannte Narrative über und für die Demokratie zur Verfügung stellen und auf Anerkennung im Sinne positiver Identifikation abzielen. Wolfgang Jacobmeyer hat Schulgeschichtsbücher einst als „Autobiographien der Nation“35 bezeichnet ‒ eine Zuschreibung, die weite Verbreitung gefunden hat36 und dennoch, so meine ich, gerade diese skizzierte Subjektivierungsfunktion nur unzureichend thematisiert. Denn auch wenn das Geschichtsschulbuch als Text beansprucht, dass „seine“ Geschichte der Demokratie, die es erzählt, in die jeweilige Erzählgegenwart passt, dass sie zeitgemäß ist, auf die individuellen und kollektiven Herausforderungen in der demokratischen Gegenwart reagiert, eine Bereicherung für die Schüler*innen dieser Gegenwart darstellt und dass die konstruierte Demokratie durch die Schüler*innen als gemeinsam geteilter Rahmen kommunikativ anerkannt wird, bleibt der „autobiographische Pakt“37 zwischen Erzählinstanz, Schüler*in und Text auf der Oberflächenstruktur des Geschichtsschulbuchs aus. Denn im Geschichtsschulbuch zählt es zum Common Sense, die rahmenden sozialen Ordnungen in den Hintergrund, das Objekt der Erkenntnis, etwa die Geschichte der Demokratie, ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken und damit die konstruierten Ordnungen in tradierte soziokulturelle Schemata einzuordnen, was – durch die Brille hegemonialer Wissenspraxis betrachtet – schnell alles Einzelne zum allgemeinen Fall erhebt. Das konstruierende Subjekt des Geschichtsschulbuchs ist, so könnte man mit dem Wissenschaftstheoretiker Fleck sagen, asozial und ahistorisch, „es hat also 34 Vgl. Michel Foucault, Das Subjekt und die Macht, in: Hubert L. Dreyfus/Paul Rabinow (Hg.), Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1994, 241–261. 35 Jacobmeyer, Schulgeschichtsbuch, 30. 36 Vgl. Barbara Hanke, Geschichtskultur im Schulgeschichtsbuch. Ein deutsch-österreichischer Vergleich, in: Jan M. Hoffrogge/Martin Schlutow/Max Twickler (Hg.), Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft. Festschrift für Bernd Schönemann zum 65. Geburtstag, Frankfurt a. M. 2021, 160‒169, 162 und Marko Demantowsky, Was soll das bloß mit dieser „Heimat“?, in: Jan M. Hoffrogge/Martin Schlutow/Max Twickler (Hg.), Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft. Festschrift für Bernd Schönemann zum 65. Geburtstag, Frankfurt a. M. 2021, 170–188, 172. 37 Vgl. Philippe Lejeune, Der autobiographische Pakt, Frankfurt a. M. 1994.

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absolut, unveränderlich und allgemein zu sein“38. Hier sind es nicht die Demokratie bzw. die Akteur*innen der Demokratisierung, die erzählen und ihre Krisen in Kohärenzen überführen, sondern es ist das Geschichtsschulbuch als staatlich-legitimierte Erzählinstanz, das die Demokratie als Objekt beschreibt, welches sich gerade nicht retrospektiv selbst entwirft.39 Es ist die Geschichte der Demokratie, die dargestellt wird, und es sind eben nicht die demokratischen Geschichten einer Nation. Die Erzählinstanz des Geschichtsschulbuchs steht auf dem „Feldherrenhügel“ und nicht im sie mitreißenden „Fluss“. Und so könnte man die Ergebnisse der explorativen Suche nach den Narrativen der Demokratie in gegenwärtigen Geschichtsschulbüchern zusammenfassend als erfolgreich bezeichnen. Die in den Geschichtsschulbüchern präsentierten Narrative stellen die Demokratie als politische Staatsform aus politikgeschichtlicher Perspektive dar, setzen die Anfänge gegenwärtiger Demokratie in das klassische Athen und das Ende in die erfolgreiche Durchsetzung der Demokratie als Ordnungsvorstellung nach 1945. Demokratie wird als Erziehungsprojekt einer männlichen weißen Elite erzählt, das geglückt ist und dessen Fortbestand Schüler*innen durch Teilhabe an demokratischen Verfahren und Aushandlungsprozessen gewährleisten. Es ist, so könnte man plakativ und verkürzt festhalten, wirklich ein Narrativ gelungener Demokratie, nämlich die Biographie der Demokratie, die präsentiert wird. Aber so paradox das auch erscheinen mag, die Geschichtsschulbücher stellen zwar ein hegemoniales Narrativ der gelungenen Demokratie zur Verfügung, erzählen aber keine demokratische(n) Geschichte(n) vom Scheitern und Gelingen als relevante Lerngeschichte(n) für Schüler*innen. So bestätigt die Suche nach den Narrativen der Demokratie in österreichischen Geschichtsschulbüchern das, was zuletzt Michele Barricelli als den „vernachlässigten Zweig historisch-politischer Bildung“ beklagte, nämlich die noch viel zu selten thematisierte historische Dimension der Demokratie und ihrer Geschichte(n): „Leider wird Demokratie noch viel zu selten […] durch das Erzählen von Geschichten gelehrt.“40

38 Ludwik Fleck, Das Problem einer Theorie der Erkenntnis, in: Ludwik Fleck, Erfahrung und Tatsache. Gesammelte Aufsätze. Hg. v. Lothar Schäfer und Thomas Schnelle, Frankfurt a. M. 1983, 84–127, 84. 39 Vgl. zum Identifikationspotential autobiographischer Texte Volker Depkat, Autobiographie und die soziale Konstruktion der Wirklichkeit, in: Geschichte und Gesellschaft 29 (2003) 3, 441–476, 468. 40 Michele Barricelli, Demokratiegeschichte als Lerngeschichte. Zu einem vernach-

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3. VOM GELINGEN – GESCHICHTE DER DEMOKRATIE UND DEMOKRATISCHE GESCHICHTE(N)

Dass die im Geschichtsschulbuch zur Verfügung gestellten gesellschaftlichen und individuellen Identifikations- und Orientierungsangebote immer nur vorläufig sein können, dass sie eben nicht sicher und feststehend, sondern umkämpft und möglicherweise verteidigenswert sind, das kann beim Geschichtslernen im Geschichtsunterricht wie wohl kaum in einem anderen Schulfach problematisiert werden. Denn es ist gerade das historische Denken, das auf die Kontingenz, die Brüchigkeit sozialer und kultureller Ordnungen, eben auch derjenigen der Demokratie, verweist und damit konsequent das Denken in Alternativen schult. Wir könnten immer auch andere Fragen stellen, andere Antworten geben, uns immer auch anders orientieren. Demokratie selbst ist immer auch eine große Erzählung, die für jemanden erzählt wird. Und besonders weil sie sich auch in Geschichte(n) manifestiert, ist die Demokratie weder gelungen noch gescheitert, weder am Ende noch in der Krise. Es sind die unterschiedlichen Erzählerinnen und Erzähler, die die Geschichte der Demokratie als eine Erfolgs- oder Misserfolgsgeschichte erzählen und der Vergangenheit dadurch einen zeitlichen Verlauf und einen Sinn unterlegen, den es so nur in der Gegenwart der Erzählung gibt, den es in der Vergangenheit jedoch in dieser Linearität wohl nie gegeben hat. Die Demokratie lässt sich dann aus ganz verschiedenen Perspektiven als Erfüllungs-, Erkundungs- und Krisengeschichte,41 mittlerweile auch in Bezug auf Deutschland als eine sehr lesenswerte „Affäre“42 ganz unterschiedlich erzählen. Wer also nach den Narrativen der Demokratie sucht, ist gut beraten, die Demokratie in ihren unterschiedlichen disziplinierenden Erzählungen und auch in den nicht erzählten Geschichten zu suchen. Denn es gehört zu den Aporien der in den Geschichtsschulbüchern erzählten Geschichte der liberalen Demokratie, dass sie Differenzen zwischen dem Innen und dem Außen klar markiert und Macht verteilt.43 Von diesen demokratischen Geschichten lässigten Zweig der historisch-politischen Bildung, in: Michael Parak (Hg.), Demokratiegeschichte als Beitrag zur Demokratiestärkung, Berlin 2018, 29–41, 30. 41 Vgl. Paul Nolte, Was ist Demokratie? Geschichte und Gegenwart, München 2012, 16. 42 Vgl. Hedwig Richter, Demokratie. Eine deutsche Affäre, München 2020. 43 Vgl. Wendy Brown, Wir sind jetzt alle Demokraten …, in: Giorgio Agamben/Alain Badiou/Slavoj Žižek/Jacques Rancière/Jean-Luc Nancy/Wendy Brown/Daniel Bensaïd/Kristin Ross, Demokratie? Eine Debatte, Berlin 2012, 55–71, 63.

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Geschichte der Demokratie oder demokratische Geschichte(n)?

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und ihren Akteur*innen, deren Beschämungen und deren Widerständen liest man aber in den Leitmedien des Geschichtsunterrichts nichts. Hier lassen sich keine Quellen und Darstellungstexte finden, die von der Schattenseite der Demokratie, vom Außen, erzählen. Die Suche nach Ordnungen geht also dem Erzählen der Geschichte der Demokratie dabei immer schon voraus. Beim Erzählen der Demokratie im Geschichtsschulbuch geht es auch um die Markierung von Differenzen, um die Durchsetzung von Ordnungen und um den Versuch, etwas zu disziplinieren, was sich letztlich aufgrund seiner inhärenten Kontingenz nicht disziplinieren lässt. Es könnten also immer auch ganz andere Narrative der Demokratie sein, die erzählt werden. Die Demokratie kann immer auch ganz anders sein. Geht es also um einen geschichtlichen Blick auf die Demokratie oder um einen demokratischen Blick auf die Geschichte(n)?44 Und wenn es das Zweite wäre, um das es geht, was könnte das heißen, ein demokratischer Blick? Als Erzähler*in demokratischer Geschichte(n) würde ich nicht mehr der Demokratie erzählend gegenüberstehen und damit scheinbar außerhalb der Erzählpraxis, sondern wäre selbst konstitutiver Teil der demokratischen Praxis mitsamt ihren Ordnungen und Differenzen, die meine Demokratiegeschichte vorgibt zu erfassen. Geschichtsschulbücher und der Geschichtsunterricht könnten dann als „Räume für Gegenartikulationen“45 verstanden werden, die ihre Kontrollfunktionen mitsamt ihren Ordnungen und Differenzierungen zur Disposition und die Eindeutigkeit der Demokratie infrage stellen. Die so präsentierten demokratischen Lerngeschichten wären explizite Vorschläge, etwas zu sehen und zu verstehen, was sich aufgrund seiner Ungewissheit und seiner Fragilität nur schwer veranschaulichen lässt, ja, sich regelrecht der Festschreibung zu entziehen scheint. Nicht nur als Regierungsform, auch als Lebensform war Demokratie immer schon umkämpft. Geschichtsunterricht und seine demokratische(n) Geschichte(n) könnten dann vielleicht wirksame Austausch- und Kommunikationsmöglichkeiten zur Verfügung stellen, die Subjektivierungspraktiken und individuelle Bildungsprozesse nicht durch 44 Vgl. Bodo von Borries, Demokratisches Geschichtsbewusstsein. Was könnte das sein und wie sollte es gefördert werden?, in: Dirk Lange/Gerhard Himmelmann (Hg.), Demokratiebewusstsein. Interdisziplinäre Annäherungen an ein zentrales Thema der Politischen Bildung, Wiesbaden 2007, 209–228, 210. 45 Susanne-Verena Schwarz, Demokratie/Postdemokratie, in: Gabriele Weiß/Jörg Zirfas (Hg.), Handbuch Bildungs- und Erziehungsphilosophie, Wiesbaden 2020, 391–403, 396.

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Christian Heuer

letzte Sicherheiten einschränken, sondern sie durch Perspektivenvielfalt und -differenz bereichern würden. Geschichtsschulbücher wären dann Materialisierungen einer demokratischen Praxis des Geschichte-Lehrens und Geschichte-Lernens, die weniger als Konsens organisiert ist, sondern die die Potentiale des Dissens für demokratische Prozesse betonen und so die Diskussion sozialer Differenzen herausfordern würde. Denn es ist gerade diese Kontingenz, das Anders-sein-Können, das für einen demokratischen Geschichtsunterricht als Geschichtsunterricht in einer Demokratie und für das Geschichtsschulbuch als materiellen Gegenstand der Demokratisierungspraxis ausschlaggebend sein könnte.46 Denn genauso wie es die Geschichte nicht gibt, gibt es auch die Demokratie nicht.47 „Ihr Modus ist die Krise“,48 schreibt Hedwig Richter. Demokratie ist ohne Konflikt, Ohnmacht, Verluste und Opfer nicht zu haben. Sie ist nicht feststehend und gesichert. Die Demokratie lässt sich demokratisch nicht als Biographie erzählen. Ihr Kern ist die Kontingenz, alles kann möglich sein:49 „Sie ist Werden, ein unentwegtes Demokratisch-Werden in der Jetztzeit der konstituierenden Prozesse.“50 Und es ist gerade diese Kontingenz des Demokratischen – die Krise, die Irritation, der zeitliche Bruch –, die historisches Denken überhaupt verlangt und zum Geschichtslernen als Orientierungsleistung herausfordert. Geschichtslernen, das durch historisches Erzählen demokratischer Geschichte(n) auf Orientierung und Teilhabe vieler zielen würde, könnte dann auch als gelungen betrachtet werden, gerade weil es so die demokratische Erfahrung verwirklichen könnte.51

46 Vgl. Bergmann, Geschichtsunterricht, 103. 47 Vgl. Jacques Derrida, Schurken. Zwei Essays über die Vernunft, Frankfurt  a.  M. 2005, 105. 48 Richter, Demokratie, 11. 49 Vgl. Christian Grabau, Utopie. Der Exzess der Demokratie und die Attraktivität der Versöhnung. Politik, Pädagogik und Utopie, in: Ulrich Binder/Jürgen Oelkers (Hg.), „Das Ende der politischen Ordnungsvorstellungen des 20.  Jahrhunderts.“ Erziehungswissenschaftliche Beobachtungen, Wiesbaden 2020, 15–28, 26. 50 Lorey, Demokratie, 196. 51 Vgl. Roland Reichenbach, Demokratisches Selbst und dilettantisches Subjekt. Demokratische Bildung und Erziehung in der Spätmoderne (Internationale Hochschulschriften, Bd. 366), Münster–New York 2001, 130.

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Christoph Kühberger

DEMOKRATIEGESCHICHTE ALS BIG DATA UND CODES. HISTORISCHE NARRATIVE VON LEHRAMTSSTUDIERENDEN IN ÖSTERREICH

1. ANNÄHERUNG

Versucht man zu verstehen, welchen Stellenwert Demokratie in Österreich besitzt, kann man sich die Frage stellen, welche Geschichten sich die Menschen in Österreich über die Demokratie erzählen. Dabei geht es hier weniger um aktuelle tagespolitische Narrative, die von verschiedenen Seiten genutzt werden, um damit Politik zu machen und um abstrakte politische Zusammenhänge leichter verständlich an die Wähler*innen zu bringen,1 sondern um Erzählungen, die historische Verläufe strukturieren und Sinn – eben auch für die Gegenwart – stiften. Denn Geschichte, als Fachbegriff im Singular, tritt uns in Demokratien immer als Geschichten, also im Plural, entgegen, in Form unterschiedlicher Interpretationen von zeitlichen Verläufen. Aus der Perspektive einer narrativistischen Geschichtstheorie handelt es sich dabei um Produkte von Orientierungsleistungen in einer Gesellschaft für die Gegenwart oder eine erwartete Zukunft. Der Geschichtstheoretiker Jörn Rüsen mahnt jedoch: „Nicht alle Deutung ist schon Orientierung. Zu Letzterer gehört ein direkter Bezug zur Lebenspraxis, also eine innere Qualität von Lebensdienlichkeit. Je nach Lebensumständen kann das ganz Unterschiedliches bedeuten.“2

1

2

Vgl. Markus Arnold/Gert Dressel/Willy Viehöver (Hg.), Erzählungen im Öffentlichen. Über die Wirkung narrativer Diskurse, Wiesbaden 2012; Frank Gadinger/ Sebastian Jarzebski/Taylan Yildiz (Hg.), Politische Narrative Konzepte – Analysen – Forschungspraxis, Wiesbaden 2014; Wilhelm Hofmann/Judith Renner/Katja Teich (Hg.), Narrative Formen der Politik, Wiesbaden 2014. Jörn Rüsen, Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft, Köln 2013, 41.

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Christoph Kühberger

So könnte man etwa danach fragen, welche herrschaftlichen oder gesellschaftlichen Strukturen Geschichte als stabilisierend darstellt oder welche Sichtweisen hinsichtlich etablierter Traditionen mit einer Geschichte legitimiert oder kritisiert werden. Die Geschichtswissenschaft macht dies entlang bestimmter methodischer Standards und liefert so Erkenntnisse. Diese Deutungen gehen „damit in die kognitive Landschaft der menschlichen Welt ein und steh[en] für Orientierungszwecke zur Verfügung“.3 In einer postmodernen und demokratischen Gesellschaft widmet sich eine Vielzahl von Autor*innen der Demokratiegeschichte. Die Geschichtswissenschaft spielt dabei oft nur noch die „zweite Geige“. Es ist die Geschichtskultur, die uns umgibt, die mit verschiedenen Narrativen mannigfaltig auf uns einwirkt. Diese Geschichtskultur wird dabei vor allem durch die zur Verfügung stehenden geschichtlichen Manifestationen konstituiert, die bereitstehen, damit wir uns mit ihnen kognitiv beschäftigen (Computerspiele, Spielfilme, Denkmäler, Zeitungsberichte, Internetblogs, Schulbücher etc.). Dies kann auf eine sehr intensive Weise erfolgen, wie etwa bei einem mehrstündigen Museumsbesuch, oder auch nur auf eine oberflächliche Art, etwa bei der Rezeption eines kurzen TV-Features. Welche Aspekte davon bei den Menschen ankommen, ist oft unklar, da der potentielle Pluralismus in demokratischen Gesellschaften nahezu unüberschaubar ist. Aber erzählt man sich in Österreich unterschiedliche Geschichten über die Demokratie im Land? Im Rahmen dieses Beitrages wird danach gefragt, wie Studierende als exemplarische Vertreter*innen der Gesellschaft damit umgehen. Wie beschreiben sie die Entwicklung der Demokratie in Österreich? Welche Geschichte erzählen sie? Am Beginn des Wintersemesters 2020/21 wurden 123 Lehramtsstudierende des Fachs „Geschichte und Sozialkunde/Politische Bildung“ an der Universität Salzburg aus verschiedenen Semestern anonym und schriftlich befragt.4 Im Anschluss an die Erhebung von soziographischen Daten wurden die Studierenden dazu aufgefordert, einen Essay5 über die Entwicklung der 3 4

5

Rüsen, Historik, 41. Es waren dabei 58,5 % Frauen und 41,5 % Männer im Alter von 18 bis 46 Jahren (Ø 23 Jahre); bei 23,6 % der Studierenden wurde mindestens ein Elternteil im Ausland geboren; 93,5 % haben in Österreich maturiert; 31,7 % waren Studienanfänger*innen im ersten Semester. Mit der Handlungsaufforderung, eine Beschreibung anzufertigen (Operator „beschreibe“), sollte den Studierenden mitgeteilt werden, dass nicht eine Analyse oder eine Interpretation der Demokratieentwicklung in Österreich erwartet wird, sondern eine Wiedergabe dessen, was sie wissen, Das Ziel war es also, eine Beschrei-

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Demokratiegeschichte als big data und codes

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Demokratie in Österreich zu schreiben.6 Darüber hinaus wurde nach Abgabe der Essays ein zweiter Befragungsbogen mit geschlossenen Items ausgeteilt, der epistemic beliefs, Haltungen und Einstellungen zu Demokratie, Politik und Geschichte abfragte. Ziel war es dabei nicht, methodische Fähigkeiten im Umgang mit historischen Quellen oder Interpretationen der Vergangenheit zu überprüfen, wie dies durchaus auch im Bereich der Geschichtsdidaktik vorgenommen wird,7 sondern es sollten in den Beschreibungen jene Entwicklungen in Erscheinung treten, die die Studierenden in der Erhebungssituation ad hoc abrufen konnten. Von Beginn an stand dazu die Hypothese im Raum, dass die befragten Studierenden eine ganz ähnliche Geschichte erzählen werden. Dies referiert auf das Konzept von master narratives. Als Master-Narrative kann man eine historische Erzählung verstehen, eine „kohärente, mit einer eindeutigen Perspektive ausgestattete und in der Regel auf den Nationalstaat ausgerichtete Geschichtsdarstellung, deren Prägekraft nicht nur innerfachlich schulbildend wirkt, sondern öffentliche Dominanz erlangt“.8 Es kann an dieser Stelle bereits vorweggenommen werden, dass bei der quantitativen Auswertung der Befragung zu den politischen Einstellungen und epistemischen beliefs keine ausreichend differenzierenden Ergebnisse geliefert wurden.9 Die befragte Gruppe der Lehramtsstudierenden für „Geschichte und

6

7

8

9

bung der Geschichte zu erhalten, die ad hoc abgerufen werden kann – und bei der man davon ausgehen kann, dass es sich um jenes Narrativ handelt, das gesichert verfügbar ist. Die Aufgabe lautete: „Beschreiben Sie möglichst detailliert, wie sich die Demokratie in Österreich entwickelt hat. Binden Sie dazu möglichst viel Wissen ein, das Sie dazu besitzen! Schreiben Sie den Text in ganzen Sätzen!“ Derartige Evaluationen sind etwa: Christoph Kühberger (Hg.), Geschichte denken. Zum Umgang mit Geschichte und Vergangenheit von Schüler/innen der Sekundarstufe I am Beispiel „Spielfilm“. Empirische Befunde ‒ Diagnostische Tools ‒ Methodische Hinweise, Innsbruck 2013; Ulrich Trautwein et al., Kompetenzen historischen Denkens erfassen. Konzeption, Operationalisierung und Befunde des Projektes „Historical Thinking in History“ (HiTCH), Münster 2017; Kristina Karl/Christoph Kühberger, Perspektivische Einseitigkeit. Zu Wahrnehmung und Versprachlichung in historischen Darstellungen von Studienanfänger/innen, in: Thomas Sandkühler/Markus Bernhard (Hg.), Sprache(n) des Geschichtsunterrichts. Sprachliche Vielfalt und Historisches Lernen (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 21), Göttingen 2020, 297–310. Konrad H. Jarausch/Martin Sabrow, „Meistererzählung“. Zur Karriere eines Begriffs, in: Dies. (Hg.), Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945, Göttingen 2002, 9–31, 16. Es wurde eine ganze Reihe an statistischen Berechnungen angestellt (u. a. konfir-

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Christoph Kühberger

Sozialkunde/Politische Bildung“ ist sich hinsichtlich ihrer Positionierung gegenüber Fragen der Demokratie, der politischen Partizipation(sbereitschaft) und der Gewichtung von historisch-politischen Inhalten zu ähnlich, um diese Ergebnisse bereits als Beleg für eine (relative) Homogenität werten zu können. Festgehalten werden kann jedoch: 97,5 % lehnen einen starken Führer, der sich nicht um Parlament und Wahlen kümmern muss, (eher) ab.

2. AUSWERTUNGSSTRATEGIEN

Es standen nun immer noch die qualitativen Daten in Form der Essays zur Verfügung, auch wenn sie nicht mit statistischen Werten aus der quantitativen Befragung in Verbindung gebracht werden konnten. Für die Auswertung wurden im Sinn einer Methodentriangulation verschiedene Strategien zum Einsatz gebracht und teilweise auch miteinander kombiniert. So wurden die Essays nicht nur mithilfe von Tools der digital humanities verschiedenen Formen des distant reading unterzogen und in Prozessen des data mining befragt, um über Zugänge der Stilometrie quantifizierende Einsichten zu deren gemeinsamer Struktur zu erlangen,10 sondern es wurde auch eine kategoriale qualitative Inhaltsanalyse vorgenommen. Die im Rahmen der Inhaltsanalyse herangezogenen Kategorien waren einerseits deduktiver Natur – folgten also theoretischen Setzungen –, wurden aber andererseits auch hinsichtlich bestimmter Bereiche induktiv aus den Essays selbst abgeleitet, um damit Strukturmerkmale der historischen Narrationen herauszuarbeiten, die dazu imstande sind, Auskünfte über dominante Momente, Vernachlässigtes oder Unberücksichtigtes zu geben. Um die Qualität der Codierungen abzusichern, wurde die Intercoder-Reliabilität festgestellt. Zwei Geschichtsdidaktiker haben in zwei voneinander unabhängigen Durchgängen den Essays Codes zugeordnet. Auf dieser Grundlage wurde die Übereinstimmung mithilfe von Cohens Kappa-Wert (κ) berechnet. Alle hier präsentierten Daten aus der qualitativen Inhaltsanalyse besitzen einen Kappa-Wert von ≥ 0,71, was als eine gute bis sehr gute Interrater-Reliabilität eingestuft werden kann.11 matorische und explorative Clusteranalysen, multivariate und invariante Varianzanalysen, Faktorenanalysen, verteilungsfreie Analysen). 10 Vgl. Martin Dröge, Text Mining im Fach Geschichte in der Hochschullehre, Frankfurt/Main 2020; Christoph Schöch, Qualitative Analyse, in: Fotis Jannidis et al. (Hg.), Digital Humanities. Eine Einführung, Stuttgart 2017, 279–298. 11 Udo Kuckatz, Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung, Weinheim 20163, 210.

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3. DATA MINING MIT VOYANT

Wertet man das Korpus mit dem digitalen Analysetool Voyant aus, so können über ein data mining erste Ergebnisse sichtbar werden, die sich auf der Wortebene zeigen. Betrachtet man die 100 MFW (most frequent words) ohne Funktionswörter und bereinigt man sie zudem um jene Wörter, die wenig sinngebend sind („z. B.“, „Jahr“ o. Ä.), und um jene, die eigentlich zum gleichen Lexem gehören, aber als Flexion vorliegen (etwa: „demokratische“, „demokratischen“), ergibt sich eine Liste mit 78 Wörtern (Tab. 1)12: Österreich

312

1938

22

Jahrhunderts

13

Demokratie

293

Dollfuß

22

Meinung

13

Republik

137

System

22

Politik

13

Partei/en

89

Land

21

Ständestaat

13

Weltkrieg/s

86

eingeführt

20

1920

12

Monarchie

67

Parteien

20

Habsburg

12

demokratisch/e/n

80

Reich

20

Karl

12

Wahl/en

44

20

19

Renner

12

Volk

39

Männer

19

1919

11

Wahlrecht

39

1955

18

Alliierten

11

Deutschland

38

Entwicklung

18

Bürger

11

wählen

35

gewählt

18

EU

11

1945

31

Jahrhunderts

18

Habsburgermonarchie

11

Anschluss

31

Kaiser

18

herrschte

11

1918

30

Regierung

18

Parlament/s

21

ausgerufen

29

Staat

17

Recht

11

Bevölkerung

28

entwickelte

17

Ungarn

11

Frauen

28

Hitler

16

16

10

politische

26

Österreichischen 16

christlich-soziale/n

19

Verfassung

26

19

16

Frauenwahlrecht

10

SPÖ

25

Menschen

15

gegründet

10

Österreichs

24

Beginn

15

mitbestimmt

10

Austrofaschismus

23

Deutsche

14

verändert

10

12 Durch die Einstellung der „Stoppwortliste“ – gemeint sind damit jene Wörter, die bei der digitalen Analyse nicht berücksichtigt werden sollen – auf „Deutsch“ konnten Funktionswörter wie Artikel, Präpositionen und Konjunktionen herausgefiltert werden. Vgl. etwa auch: Janina Kühner, Fachdidaktisches Essay. Beispielhafte Konzeption einer Literaturunterrichtseinheit mit Voyant, in: Skriptum 6 (2017) 1, 41–57, 50. URL: http://www.skriptum-geschichte.de/fileadmin/user_upload/Ausgaben/2017/Heft_1 (abgerufen am 27. 11. 2020).

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Diktatur

23

entwickelt

14

entstanden

9

Nationalsozialisösterreichische

23

mus

14

FPÖ

9

ÖVP

23

entstand

13

Nationalsozialsten

9

Tabelle 1: Most frequent words (Voyant)13 (eigene Darstellung).

Hier kann man bereits erkennen, dass die Geschichte der Demokratie in Österreich vor allem mit der Republikwerdung nach der Monarchie in Zusammenhang gebracht wird. Zwar verwundert das Ergebnis der häufigsten zehn Wörter angesichts der Aufgabenstellung nicht sonderlich, da damit Momente der geographischen Verortung und demokratische Aspekte angesprochen werden, die dort bereits grundgelegt sind, gleichzeitig wird mit den 10 MFW aber auch der Kern ganz vieler „Geschichten“ offengelegt, wodurch grundlegende konzeptionelle Bausteine eines master narrative sichtbar werden. Folgt man den MFW und fragt nach den sich ergebenden kategorialen Tendenzen, die davon ableitbar sind, so zeigt sich, dass - die Demokratie vor allem mit der Republikwerdung und dem Wahlrecht in Verbindung gebracht wird; - die Monarchie und die Zeit des Nationalsozialismus als konstituierende Momente und ‒ wie wir wissen ‒ als Negativfolien wahrgenommen werden; - vor allem politische Strukturen dargestellt werden und weniger handelnde Menschen. Engelbert Dollfuß kommt mit 22 Identifizierungen auf den 28. Platz dieser Aufstellung. Karl Renner schafft es auf den 59. Platz (mit 12 Identifizierungen). Betrachtet man die am häufigsten verwendeten Verben (Abb. 1), so wird nochmals deutlich, dass es sich bei den Beschreibungen des Geschehens um dynamische Momente handelt, also um Darstellungen der Geschichte, die mit einem genetischen Sinnbildungsmodus in Verbindung zu bringen sind. bvw_SB_205-21596_Kuehberger_abb01.jpg

13 Bereinigte Liste nach Stéfan Sinclair/Geoffrey Rockwell, Terms. Voyant Tools 2020, URL: https://voyant-tools.org/?corpus=381a0f3490f3e6bfef21fe5563d4329f&view=CorpusTerms (abgerufen am 18. 11. 2020).

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Abb. 1: Häufigkeit von Verben in den Essays (eigene Darstellung).

4. PRINCIPAL COMPONENT ANALYSIS

Um im Sinne der Stilometrie ein distant reading der Essays umzusetzen, das Aufschluss über mögliche Cluster auf der Ebene der most frequent words (MFW) gibt,14 wurden die Textdateien mit R-Studio analysiert und dargestellt. Dabei konzentrierte man sich vor allem auf eine Principal Component Analysis (PCA) in einer Korrelationsmatrix. Der PCA-plot verwandelt dabei vorhandene bzw. nicht vorhandene Korrelationen zwischen den Texten auf der Grundlage der MFW in ein zweidimensionales Diagramm mit Koordinatenachsen. Der Nullpunkt (Koordinatenursprung) entspricht dabei der abstrakten Positionierung eines durchschnittlichen Essays, der in dieser Form jedoch – wie die Darstellungen zeigen – nicht existiert. In der Darstellung als scree plot werden jene Texte, die als hoch korrelativ angesehen werden, eng zusammengeclustert. Die principal component 1 (PC1) und principal component 2 (PC2), die auf der x- und y-Achse dargestellt werden, geben die Größenordnung der „Ähnlichkeitsabstände“ im Verhältnis zum Koordinatenursprung an. Betrachtet man die Zahlen bei nur drei Durchgängen mit je unterschiedlichen Setzungen der Variablen (hier: MFW), zeigt sich, dass aufgrund der vielen sprachlichen Möglichkeiten nur ein sehr geringer Umfang (hier: max. 34,7 % der Variation bei 10 MFW) erreicht werden konnte (Tab. 2). Auch weitere Reduzierungen oder Erhöhungen der MFW führten zu keinen eindeutigeren Clustermustern (Abb. 2). Damit konnte mit diesem Verfahren keine ausrei14 Pronomina werden dabei nicht berücksichtigt.

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chend genaue Repräsentation der Daten erreicht werden.15 Dennoch können die Daten auf dieser Grundlage interpretiert werden. PC1

PC2

Summe

1.500 MFW

1,7%

1,6%

3,3%

100 MFW

6,5%

5%

11,5%

10 MFW

18,2%

16,5%

34,7%

Tabelle 2: PCA – total variation von PC1 und PC2 (correlation matrix) (eigene Darstellung).

Blickt man vor dem Hintergrund der Fragestellung (i. e. Beschreibung der Entwicklung der Demokratie in Österreich) auf die Positionierung der Essays im scree plot, kann angenommen werden, dass diese eine große Ähnlichkeit hinsichtlich der am häufigsten verwendeten Wörter aufweisen und in der dementsprechenden linguistischen Struktur relativ nahe beieinander liegen. Damit kann festgehalten werden, dass Texte mit ähnlich oft genutzten Wörtern eng beieinander positioniert wurden, was hier durchaus als Hinweis auf ein master narrative zu lesen ist, da in bestimmte Lexeme ja auch bestimmte konzeptionelle Vorstellungen eingeschrieben sind oder mit narrativen Abbreviationen des Historischen in Verbindung stehen (z. B. „Alliierte“, „Frauenwahlrecht“). Gleichzeitig ermöglichen es die PCA-Darstellungen, jene Essays näher zu untersuchen, die in den drei hier herangezogenen scree plots exponierte Lagen einnehmen. Dazu wurden 22 Essays (17,9 %) identifiziert, die in erkennbaren Randlagen des zentralen Großclusters angesiedelt sind, und hermeneutisch hinsichtlich ihrer Besonderheiten befragt. Auffällig ist ‒ vor allem auch bei Betrachtung aller Essays aus dem Korpus ‒, dass damit jene Darstellungen (a) identifiziert wurden, die einen massiven Gegenwartsbezug aufweisen16 und aktuelle tagespolitische Themen ansprechen (z. B. COVID-19, Flüchtlinge).17 Auf diese Weise unterscheiden sie sich nämlich von anderen Essays, die oftmals mit einem alleinigen Fokus auf längerfristige Entwicklungen in der Vergangenheit angelegt sind und die Gegenwart in vielen Fällen zur Gänze aussparen oder nur 15 Auch bei einer farblichen Kennzeichnung (a) von Studienanfänger*innen und fortgeschrittenen Studierenden sowie (b) nach Semestern bildeten sich keine erkennbaren Muster ab. 16 DG_7 beschreibt keine längerfristige historische Entwicklung, sondern eine Gegenwartsgeschichte der letzten Jahrzehnte und verweist auf die eigene Positionierung zu Mitbestimmung und Solidarität. 17 DG_100 etwa ad extremer Rechtsruck und COVID; DG_42 ad Flüchtlinge.

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andeuten. Andere derartige Texte (b) sind dadurch gekennzeichnet, dass sie verstärkt zeitgeschichtliche Entwicklungen aufgreifen, diese jedoch nicht mit fachsprachlichen Begrifflichkeiten präsentieren, weshalb sich im Rahmen der hier vorgenommenen Untersuchung auch keine Ähnlichkeiten zu anderen Essays zeigen.18 Aber auch eine Betonung von zeitgeschichtlichen Momenten ab dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts (z. B. Hainburger Au, Großparteien, NEOS) führt offenbar zu einem Ausscheren aus dem ansonsten sehr geschlossenen Ähnlichkeitsblock.19 Ein Essay (c) fällt dadurch auf, dass er überhaupt keine Beschreibung bietet, sondern über das eigene Unwissen berichtet.20 Nur vier weitere Essays (d) zeugen von einer abweichenden Einschätzung der demokratischen Entwicklungen, indem eine sehr detaillierte Beschreibung der Geschehnisse rund um die Etablierung des Austrofaschismus21 bzw. des Nationalsozialismus22 in den Mittelpunkt gestellt wird und die Essays sich auf diese Weise im Verhältnis zu den anderen Texten exponieren. Einige Texte fielen vermutlich aufgrund ihres knappen Umfangs in den exponierten Bereich23, weil sie sich einer tendenziell theoretisch-abstrakten Sprache bedienen, ohne dabei ausreichende Verknüpfungen mit konkreten historischen Momenten herzustellen,24 oder weil der Text aufgrund einer fehlenden Prosastruktur nur mit Stichworten agiert, was zu einer strukturellen Auffälligkeit führt.25 Bei fünf Texten kann man selbst nach kritischer Sichtung ihrer Struktur und ihrer Inhalte keine Besonderheiten erkennen.26 Darüber hinaus kann festgehalten werden, dass sich Essays von Studienanfänger*innen bei einer stilometrischen Bewertung nicht von den Essays der übrigen Studierenden unterscheiden lassen. Sie streuen in ähnlicher Weise und lassen keinen besonderen Cluster erkennen (Abb. 3). bvw_SB_205-21596_Kuehberger_abb02.jpg

18 DG_32; DG_46. 19 DG_40; DG_56. 20 DG_116. 21 DG_58; DG_71. 22 DG_36; DG_53 betont zusätzlich den Austrofaschismus. 23 DG_61; DG_117; DG_8. 24 DG_103. 25 DG_35. 26 DG_34; DG5; DG_256; DG_37; DG_11.

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Abb. 2: PCA bei 10 MFW (eigene Darstellung).

Abb. 3: Vergleich der Positionierungen von Studienanfänger*innen und anderen Studierenden (PCA mit 100 MFW) (eigene Darstellung).

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Damit kann hinsichtlich der stilometrischen Analyse zu Principal Component Analysis (PCA) festgehalten werden, dass im Rahmen der vorgenommenen Dimensionsreduktion die gewonnenen Einsichten – vor allem, was die Nähe der Beiträge zueinander und die damit festgestellte relative Ähnlichkeit angeht – einen ersten statistischen Hinweis darauf geben, dass die Essays mit ähnlichen Wortkombinationen auf ähnliche Inhalte verweisen. Dies wäre zunächst eine erste Bewährungsprobe, ob es sich um ein master narrative handeln könnte. Dieser Frage wird im Rahmen der kategorialen Inhaltsanalyse – nun jedoch unter verstärkt geschichtstheoretischer Ausrichtung – nachgegangen.

5. QUALITATIVE INHALTSANALYSE

Während bereits die Möglichkeiten der Big Data Analysis wichtige Hinweise liefern, so kann man mithilfe einer an der Geschichtstheorie orientierten deduktiven Herangehensweise noch stärker in die Tiefenstruktur der Essays eindringen und diese auf unterschiedlichen Ebenen erfassen, um so eine noch dichtere „Vermessung“ des Samples zu erzielen. Einige Aspekte der kategorialen Erfassung wurden bei der Umsetzung dieser Strategie induktiv erweitert. Im Folgenden wird daher versucht, anhand der Codierungen der qualitativen Inhaltsanalyse (a)  narrative, (b) konzeptionelle, (c) räumliche, (d) temporale Merkmale der Darstellung der Entwicklung der Demokratie in Österreich vorzustellen sowie (e) die dabei involvierten menschlichen Kräfte (Einzelpersonen, Gruppen), die als Handelnde in der jeweils präsentierten Geschichte auftreten. (a) Narrative Merkmale

Um narrative Muster herauszuarbeiten, kann im Zusammenhang mit den hier analysierten Darstellungen von Studierenden festgehalten werden, dass es sich nicht um genuines historisches Erzählen handelt, bei dem Zusammenhänge und Erkenntnisse das erste Mal (anhand der Auswertung von Fachliteratur und historischen Quellen) in Form eines Essays präsentiert werden. Vielmehr handelt es sich um Nacherzählungen von Zusammenhängen, die in den Proband*innen bereits angelagert sind. Gleichwohl hätten die Proband*innen die Möglichkeit, mit den ihnen bekannten Erzählungen oder auch nur mit einzelnen Versatzstücken daraus auf unterschiedliche Art umzugehen. In der vorliegenden Untersuchung findet man – neben den Textprodukten eines kleinen Teils von Studierenden, der sich dem intendierten Modus der Aufgabe entzogen hat

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(ca. 9 %) – vor allem Nacherzählungen. Für Hans-Jürgen Pandel stellen diese einen reproduktiven Sinngebrauch dar, indem bekannte Erzählungen entweder kondensiert oder extendiert bzw. elaboriert werden. Dieser Art des historischen Erzählens fällt – gerade etwa im schulischen Kontext – eine stabilisierende Rolle für das kulturelle und kommunikative Gedächtnis einer Gemeinschaft zu.27 In derartigen Erzählungen lagern damit aber auch jene gesellschaftlich breit verfügbaren Erzählmuster, denen hier eben nachgegangen wird. Andere Formen des historischen Erzählens, wie etwa das Umerzählen, bei dem eine bekannte Darstellung der Vergangenheit umperspektiviert oder mit neuen, bisher vernachlässigten inhaltlichen, konzeptionellen oder normativen Versatzstücken versehen wird, oder das De-Konstruieren („rezensierendes Erzählen“, „Metanarration“), bei dem ein kritisches Hinterfragen von Erzählungen über die Vergangenheit einsetzt, konnten im Sample nicht beobachtet werden.28 Betrachtet man zunächst die Strukturen der performten Sinnbildungs­ muster, wie sie in der Geschichtstheorie bei Jörn Rüsen systematisiert wurden,29 um entlang von abstrahierten Idealtypen erkennen zu können, welche Sinnstrukturen die Studierenden ihren Darstellungen der Demokratie eingeschrieben haben, kann gezeigt werden, dass die „genetische Sinnbildung“ mit 77,2 % (κ=0,93) in den Essays eindeutig dominiert (Abb. 4). Diese Essays erzählen damit eine Geschichte der Demokratie in Österreich, die eine „zeitliche Dynamik der Veränderung“ in den Mittelpunkt stellt und damit die Entwicklungen rund um die Demokratie als einen Prozess des ständigen „Anderswerdens“ adressiert.30 Jörn Rüsen impliziert in seiner „genetischen Sinnbildung“ auch den Zukunftsbezug, der jedoch in der Darstellung der Studierenden so schwach ausgeprägt ist, dass er überhaupt nur in 4,1  % (κ=0,93) der Essays auffindbar war. Dieser Aspekt wurde daher in der hier verwendeten Kategorie „genetisches Erzählen“ unberücksichtigt gelassen. Daneben tritt vor allem die „traditionelle Sinnbildung“ in 11,4 % (κ=0,93) der Essays hervor. Mit ihrer Hilfe werden Geschichten über die Entwicklung der Demokratie in Österreich erzählt, die eine stabile Kontinuität bekräftigen, in der kein Wandel existiert.31 Während eine „kritische Sinnbildung“, also ein Modus, der vorhandene Erzählungen destruiert oder dekonstruiert, um eine 27 Hans-Jürgen Pandel, Historisches Erzählen. Narrativität im Geschichtsunterricht, Schwalbach/Ts. 2010, 154. 28 Vgl. Pandel, Historisches, 156–159. 29 Vgl. Rüsen, Historik, 209–215. 30 Vgl. ebd., 212–213. 31 Ebd., 210–211.

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Abb. 4: Sinnbildungsmuster nach Jörn Rüsen in den Essays in Prozent (κ=0,93) (eigene Darstellung).

neue Darstellung einzuführen, im Sample nicht nachweisbar ist, konnte in zwei Essays (2,4 %; κ=0,93) eine „exemplarische Sinnbildung“ vorgefunden werden. Bei der exemplarischen Sinnbildung werden mindestens zwei Fälle miteinander verglichen, um „allgemeine Handlungsregeln mit überzeitlicher Geltung“ abzuleiten.32 Die 8,9 % der Essays, die keinem dieser Sinnbildungsmuster zuzurechnen sind, entziehen sich stark dem Modus des historischen Erzählens, indem sie etwa nur Gegenwartsphänomene thematisieren bzw. in einer Analyse der Gegenwart steckenbleiben. Stellt man sich die Frage, ob nicht die an Rüsen angelehnten Kategorien zu grob sind, und codiert die Essays mittels der theoretisch verfeinerten Systematik von Andreas Körber,33 so zeigen sich nur marginale Abweichungen, indem zwei Essays, die zuvor als genetische Sinnbildung erkannt wurden, in diesem System als genese-kritisch eingestuft werden. 32 Ebd., 211. 33 Andreas Körber, Historische Sinnbildungstypen. Weitere Differenzierung, 2013, URL: https://www.pedocs.de/volltexte/2013/7264/pdf/Koerber_2013_Sinnbildungen_Differenzierung.pdf (abgerufen am 10. 1. 2021)

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(b) Konzeptionelle Merkmale

Einen anderen Aspekt der Geschichte der Demokratie stellen Konzepte dar, die für die Darstellung der Vergangenheit aktiviert werden. Bei der Codierung wurde dazu auf in der Geschichtswissenschaft gängige konzeptionelle Zugriffe (Wahlrecht, Partizipation, Emanzipation, Mobilisierung, Durchsetzung etc.) zurückgegriffen,34 aber auch Konzepte aus den Essays wurden in Form einer induktiven Erweiterung des Kategoriensets aufgenommen (z. B. Volksabstimmung, Redefreiheit). Dabei war maßgebend, dass diese Konzepte entweder benannt oder auch nur umschrieben werden konnten. So zeigt sich (Abb. 5),35dass ein Viertel der Proband*innen auf keines der hier angeführten Konzepte zur Beschreibung der Demokratie zurückgreift, während ansonsten Demokratieentwicklung in Österreich über das „Wahlrecht“ (41,5  %; κ=1) und Formen der

Abb. 5: Aktivierung von Konzepten zur Ausdeutung der Demokratie in den Essays in Prozent 35 (eigene Darstellung).

34 Vgl. dazu: Michele Barricelli, Demokratiegeschichte als Lerngeschichte. Zu einem vernachlässigten Zweig der historisch-politischen Bildung, in: Michael Parak (Hg.), Demokratiegeschichte als Beitrag zur Demokratiestärkung, Berlin 2018, 29–41, 32. 35 Die Kappa-Werte für die einzelnen Kategorien dieser Aufstellung variieren zwischen 0,79 und 1.

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politischen „Partizipation“ (30,9 %; κ=0,86) beschrieben wird. Jene 13,8 % der Essays, die Konflikte in der Demokratie thematisieren, tun dies, indem sie auf die Auseinandersetzungen zwischen Republikanischem Schutzbund und Heimwehr in der Ersten Republik verweisen.36 Nur ganz wenige verweisen im Zusammenhang mit der Entwicklung der Demokratie in Österreich auf Kampf (1,6 %; κ=0,9). bGerade im Zusammenhang mit dem Wahlrecht, das von 38,7 % (κ=0,9) aller Essays berücksichtigt wurde, zeigt sich eine durchaus differenzierte Wahrnehmung der historischen Entwicklungen seit dem 19. Jahrhundert, die jedoch selbst in Anbetracht der damaligen Regierungsform der Monarchie als Schritte hin zur Demokratie interpretiert werden. Denn während 22,7 % (κ=0,71) auf das Wahlrecht im Allgemeinen eingehen, spezifizieren andere Essays einzelne Etappen seiner Entwicklung. Das Frauenwahlrecht kann dabei mit 26,1% (κ=1) als am besten eingebunden betrachtet werden (Abb. 6).

Abb. 6: Einzelnennung des (jeweiligen) Wahlrechts als Konzept in den Essays in Prozent37 (eigene Darstellung).

36 Hierzu gibt es keinen Kappa-Wert, da dieser Bereich induktiv abgeleitet wurde und bei der Kappa-Berechnung nicht zur Verfügung stand. Es gibt jedoch im Rahmen dieser Kategorien keinen Wert, der unter 0,86 liegt. 37 Der Durchschnittskappawert für alle Codes beträgt hier 0,9005 (und reicht von 0,71‒1). Hierbei wurden all jene Nennungen berücksichtigt, die sich auf das Konzept des jeweiligen Wahlrechts bezogen. So erklärt sich auch die Abweichung gegenüber den niedrigeren Zahlen zu den verschiedenen Wahlrechtsreformen in der zeitlichen Nennung, da dies seltener stattfand.

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Auf einer generalisierenden Ebene wurde auch codiert, inwieweit im gesamten Essay eine bestimmte historiographische Ausrichtung dominiert, also inwiefern dieser einer Sozialgeschichte, Kulturgeschichte, Wirtschaftsgeschichte, Konfliktgeschichte oder Staats- und Herrschaftsgeschichte zuzurechnen ist. Dabei zeigte sich ein eindeutiges Bild, wonach staatspolitische Strukturen und Formationen in 95,1 % (κ=0,9) der Essays dominieren (Abb. 7).

Abb. 7: Dominanz der historiographischen Ausrichtung in den Essays in Prozent (κ=0,9) (eigene Darstellung).

b(c) Räumliche Merkmale Wenn auch die Aufgabe darin bestand, die Entwicklung der Demokratie in ­Österreich darzustellen, so wäre es durchaus möglich gewesen, über strukturelle Vergleiche oder über parallele Entwicklungen auch andere Räume miteinzubeziehen. Dies wurde – bis auf einige wenige Verweise ‒ unterlassen. ­Österreich und seine Vorgängerstaaten standen ganz zentral im Mittelpunkt der Essays (Abb. 8).

(d) Temporale Merkmale

Wie nicht anders erwartet, streut die Darstellung der Geschichte der Demokratie in Österreich durchaus, abhängig davon, ob die griechische Antike als klassisches Modell des ersten dokumentierten demokratischen Systems herangezogen wird, ob und inwieweit verschiedene Herrschaftsformen (auch etwa des Mittelalters) in Abgrenzung zur zeithistorischen Demokratie herangezogen bzw. gesellschaftliche und/oder philosophische Entwicklungsstränge als wirkmächtig in die Darstellung eingewoben werden (z. B. die Aufklärung). Es muss jedoch festgehalten werden, dass in den Essays oftmals explizite Nen-

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Abb. 8: Prozentanteil der räumlichen Verortung in den Essays (Mehrfachnennungen möglich; κ=0,9) (eigene Darstellung).

nungen von historischen Versatzstücken (z. B. Babenberger), deren Zusammenhang jedoch im Unklaren bleibt, oder auch Generalisierungen (z. B. „in der Monarchie“), deren zeitliche Tiefenstruktur und inhaltliche Bedeutung nahezu nicht eingrenzbar sind, das hier vorgestellte Ergebnis mitbestimmen. Nichtsdestotrotz zeugen diese Verweise von kognitiven Verbindungen, die in der Erhebungssituation hergestellt wurden. Für die meisten (37,4 %) beginnt die Demokratiegeschichte in Österreich jedoch mit dem Ende des Ersten Weltkriegs (1918) (Abb. 9). 80,5 % der Essays binden die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, insbesondere die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg (ab 1918), in ihre Beschreibungen der Demokratie ein. Die Habsburgerzeit bzw. insbesondere auch das lange 19. Jahrhundert werden dennoch von 23,6 % als Vorgeschichte herangezogen, wobei die Geschichte des Wahlrechtes eine besondere Position einnimmt. Die wachsende Spannung zwischen Neoabsolutismus und demokratischen Elementen im späten Habsburgerreich wird jedoch nicht aufgegriffen, sondern unhinterfragt hingenommen. In Summe kann man jedoch erkennen, dass die Geschichte der Demokratie von den Befragten hauptsächlich im 20. Jahrhundert angesiedelt wird, ergänzt durch Bezüge bis zur Gegenwart herauf (Abb. 10). bvw_SB_205-21596_Kuehberger_abb09.jpg

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Abb. 9: Beginn der Demokratie in den Essays in Prozent (κ=0,79) (eigene Darstellung).

Abb. 10: Nennung von Epochen bzw. ihre Einbeziehung durch Ereignisse/Entwicklungen in Prozent (Mehrfachnennungen möglich; Durchschnittskappawert für alle Kategorien lag bei κ=0,89 (mit Varianz von 0,72 bis 1) (eigene Darstellung).

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Abb. 11: Handelnde in den Essays in Prozent (eigene Darstellung).

(e) Involvierte menschliche Kräfte38

Da die Entwicklung der Demokratie in Österreich in 95,1  % der Essays mit einem eindeutigen Hauptfokus auf staatspolitische Strukturen bzw. Formationen der Herrschaft dargestellt wird,39 die Darstellungen also einer alten Herrschaftsgeschichtsschreibung folgen, verwundert es kaum, dass damit konkrete Menschen oder andere potentiell handelnde Gruppierungen in den Hintergrund treten. 22  % der Essays verzichten in ihren Darstellungen überhaupt auf Handelnde. Dem älteren Paradigma einer Herrschaftsgeschichte folgend 38 Diese Aufstellung beruht auf einer induktiven Auszählung ohne die Berechnung des Kappa-Werts. 39 Daneben konnte eine Sozial- oder Strukturgeschichte (2,4 %) sowie eine Konflikt-/ Militärgeschichte (0,8 %) codiert werden. Eine Wirtschaftsgeschichte oder Kulturgeschichte (individuelle Ereignisse; alltägliches Leben) konnten nicht identifiziert werden. 1,6 % der Essays waren nicht zuordenbar.

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treten neben dem „Volk“ vor allem Parteien („SPÖ“, „ÖVP“) in circa je einem Viertel der Essays als Handelnde auf. Alle anderen Gruppen oder Personen liegen jeweils nahezu unter 10 %. Außer Maria Theresia ist zudem keine einzige weibliche Herrschaftsfigur bzw. Politikerin auszumachen. Es sind vielmehr die negativen Folien der Demokratie, die über konkrete Personen wie Dollfuß oder Hitler aktiviert werden (Abb.11).

6. ABSCHLIESSENDE SYSTEMISCHE EINORDNUNG

Wie sich bei den Analysen der Essays zeigte, werden keine konkurrierenden Geschichten über die Entwicklung der Demokratie in Österreich erzählt. Es hat vielmehr den Anschein, dass ad hoc verfügbare Vorstellungen von zeitlichen Verläufen und Entwicklungen ganz grundlegend von einem engen herrschaftsgeschichtlichen Narrativ geprägt sind, welches staatliche Strukturen, gesetzliche Normen und Formen der Machtausübung in den Mittelpunkt stellt. Demokratie erscheint darin einerseits als Herrschaftsform, die es von anderen abzugrenzen gilt (Monarchie, Diktatur), und andererseits als nahezu menschenleeres Gebilde, wenn Wandel hauptsächlich über Abstrakta (Rechte, Reformen, Strukturen) erzählt wird. Was dazu vorliegt, sind sachlich gehaltene Rückschauen auf Entwicklungen, die aus dem Heute heraus konstatiert werden und nur allzu oft unsere Gegenwart in der Darstellung gar nicht erreichen. Warum die Entwicklungen auf diese Art erzählt werden, kann auf ein ziemlich dominantes master narrative zurückgeführt werden, das in der Schule positioniert wird und auch von der Geschichtswissenschaft – insbesondere in Österreich – nicht grundlegend infrage gestellt oder aktualisiert wird. Demokratie verkommt in dieser Erzählung, die vor allem die Abfolge von Herrschaftsformen behandelt, tendenziell zu einer wenig eindeutigen Nebensache. Damit ist es also angezeigt, dass sich der Geschichtsunterricht und auch die Geschichtswissenschaft in Österreich um eine differenziertere Entwicklungsgeschichte der Demokratie bemühen.40 Dabei sollte man durchaus mit Anerkennung auf den bundesdeutschen Diskurs schauen, da es in Deutschland 40 Parlamentsdirektion (Hg.), Umbruch und Aufbruch. Parlamentarische Demokratie in Österreich, Wien 2019; Wolfgang Häusler, Ideen können nicht erschossen werden. Revolution und Demokratie 1789–1848–1918, Wien 2017; Oliver Rathkolb, Demokratiegeschichte Österreichs im europäischen Kontext, in: Ludger Helms/David M. Wineroither (Hg.), Die österreichische Demokratie im Vergleich, Baden-Baden 20172, 71–103.

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eine weit differenziertere Aufarbeitung der Entwicklungen gibt als in Österreich.41 Es geht in Zukunft um eine konzeptionelle Schärfung des Demokratiebegriffs (Gleichheit, Freiheit, Gerechtigkeit usw.), aber vor allem auch um soziale Praktiken der Demokratie, über die Menschen zurück in die abstrakten, oft menschenleeren Strukturen geholt werden können (Meinungsaustausch, Parteischulen, Vereine, Stammtische, Formen des Meinungsausgleiches, des Kompromisses, der Provokation etc.), wodurch sich das politische Projekt der Demokratie von einer sperrigen und blutleeren Herrschaftsgeschichte befreien könnte zugunsten einer stärkeren Hinwendung zu einer Kulturgeschichte der Emotionen, der Symbole, der Aufmerksamkeitsregime, der Praktiken, der Diversität etc. Dass die Demokratiegeschichte dabei nach wie vor als nationale Nabelschau ohne transkulturelle, internationale oder globale Vernetzung erzählt wird, deutet zudem darauf hin, dass trotz der Diskussionen über einen kritischen Ethnozentrismus in der Geschichtswissenschaft die Wahrnehmung der Demokratie in einem nationalen Container gefangen ist, wobei auch die lokale und die regionale Ebene ignoriert werden, die ebenso wie unterschiedliche im Diskurs unterrepräsentierte Gruppen (Frauen, Jugendliche, Menschen mit Behinderung, Menschen mit Migrationshintergrund etc.) verstärkt in die Erzählungen zu integrieren wären.42 Bildnachweis: Alle Tabellen und Abbildungen sind eigene Darstellungen des Autors, basierend auf Daten aus der im Text erwähnten anonymen schriftlichen Befragung von Lehramtsstudierenden des Fachs „Geschichte und Sozialkunde/Politische Bildung“ an der Universität Salzburg vom Wintersemester 2020/21.

41 Vgl. Hedwig Richter, Demokratie. Eine deutsche Affäre. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 20202; Ute Daniel, Postheroische Demokratiegeschichte, Hamburg 2020; Lutz Raphael, Demokratiegeschichte als Problemgeschichte und Gegenwartsanalyse. Das Werk Pierre Rosanvallons, in: Neue Politische Literatur 58 (2013), 7–20; Heidrun Kämper/Peter Haslinger (Hg.), Demokratiegeschichte als Zäsurgeschichte. Diskurse der frühen Weimarer Republik, Göttingen 2014; Paul Nolte, Was ist Demokratie? Geschichte und Gegenwart, München 2012. 42 Vgl. Richter, Demokratie, 10–16.

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EINGEZÄUNTE FREIHEIT. DER DEMOKRATIEBEGRIFF IN DISKURSEN DER POLITISCHEN BILDUNG SEIT 1945

Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen soll die Gegenwart sein bzw. die Frage, wie der Begriff der Demokratie in der heutigen politischen Bildung verstanden wird. Anschließend begeben wir uns auf die Reise in die Vergangenheit und beleuchten die Demokratie-Konzepte der Politischen Bildung nach 1945, die zunächst zwischen individueller Freiheit und Herrschaft schwankten. Nicht selten schlug dabei das Pendel in Richtung Herrschaft aus, also in Richtung Disziplinierung und „Entmündigung“ bzw. Bejahung staatlicher Strukturen und kritikloser Einordnung in ein Kollektiv. Interessanterweise zeigen sich dabei Mechanismen der Indoktrination, die für gewöhnlich autokratische Systeme kennzeichnen, aber auch in Demokratien – freilich unter anderen Vorzeichen – beobachtet werden können. Ohne Zweifel spiegelt sich darin ein Widerspruch der Aufklärung, der die bürgerlich-demokratische Gesellschaft prägt: Der „mündige“ Bürger bzw. die „mündige“ Bürgerin soll sich mithilfe des eigenen Verstandes aus dem „Morast der Unmündigkeit“ befreien, zugleich bedarf er bzw. sie aber der Anleitung, um sich des eigenen Verstandes zu bedienen.1 Politische Bildung soll also individuelle Freiheit garantieren, zugleich hat sie aber auch die Aufgabe zu „erziehen“. Auch wenn sie diesen Widerspruch nicht endgültig auflösen konnte, zeigt ihr heutiges Verständnis von Demokratie einen zumindest partiellen Ausweg aus diesem Dilemma.

1

Immanuel Kant, Über Pädagogik, Bochum o. J. [Erstausgabe: 1803], 40; Martin Heinrich, Zwischen Befähigung zur Kritik und falscher Werteerziehung. Zwei Studien am Beispiel einer Unterrichtssequenz zur Kulturindustrietheorie und einem Lehrstück zur politischen Erwachsenenbildung, Münster 2004, 15–16.

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1. EIN HANDLUNGSORIENTIERTER DEMOKRATIEBEGRIFF „Die Staatsform muß ein durchsichtiges Gewand sein, das sich dicht an den Leib des Volkes schmiegt. Jedes Schwellen der Adern, jedes Spannen der Muskeln, jedes Zucken der Sehnen muß sich darin abdrücken. Die Gestalt mag nun schön oder häßlich sein, sie hat einmal das Recht zu sein, wie sie ist; wir sind nicht berechtigt, ihr ein Röcklein nach Belieben zuzuschneidern.“ (Camille Desmoulins in Georg Büchners „Dantons Tod“)2

In der Politischen Bildung kann Demokratie als die Fähigkeit definiert werden, in sozialer Verantwortung zu handeln. Sie gleicht einer „eingezäunten Freiheit“3, die – wie bereits in der französischen Erklärung der Bürger- und Menschenrechte von 1789 formuliert ist – darin besteht, „alles tun zu können, was einem anderen nicht schadet. So haben die natürlichen Rechte jedes Menschen keine anderen Grenzen als die, die den anderen Mitgliedern der Gesellschaft den Genuß der gleichen Rechte sichern“.4 Diese Grenzen, die sich in bestimmten Regeln und Normen ausdrücken, werden von den Bürger*innen in einem „Gesellschaftsvertrag“5 bzw. einer demokratischen Verfassung festgelegt. Die2 3

4

5

Georg Büchner, Dantons Tod. Ein Drama, Stuttgart 1988, 7. Thomas Hellmuth, Historisch-politische Sinnbildung. Geschichte – Geschichtsdidaktik – politische Bildung, Schwalbach/Ts. 2014, 19–25; Ders., Frankreich im 19. Jahrhundert. Eine Kulturgeschichte, Wien–Köln–Weimar 2020, 14–22. Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, in: Christ E. Paschold/Albert Gier (Hg.), Die Französische Revolution. Ein Lesebuch mit zeitgenössischen Berichten und Dokumenten, Stuttgart 1989, 96. Diese „eingezäunte Freiheit“ wird auch als „positive Freiheit“ bezeichnet („Freiheit zu …“), weil der Einzelne in einem bestimmten Rahmen verschiedene Handlungsmöglichkeiten besitzt. Damit unterscheidet sie sich von der „negativen Freiheit“ („Freiheit von …“), unter der zum einen die Befreiung von einem System, das die individuelle Freiheit einengt, verstanden wird. Zum anderen ist damit aber auch die „transzendentale Freiheit“ gemeint, die dadurch gekennzeichnet ist, dass der Einzelne völlig ungehindert, jenseits von Normen und Regeln, seinen Willen und seine Ziele verfolgen kann. Siehe dazu: Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, 3., verb. Aufl., Frankfurt–Leipzig 1791; Johann Friedrich Herbart, Über die ästhetische Darstellung der Welt als das Hauptgeschäft der Erziehung, in: Kurt Beutler/Detlef Horster (Hg.), Pädagogik und Ethik, Stuttgart 1996, 48–49. Jean-Jacques Rousseau, Du contrat social ou Principes du droit politique. Vom Ge-

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ser gesetzliche Rahmen, der Demokratie erst ermöglicht, muss immer wieder den gesellschaftlichen Wandlungsverhältnissen angepasst werden, damit er nicht als einengendes Korsett, das gleichsam die Luft zum Atmen nimmt, empfunden wird. Demokratie ist also als handlungsorientiert und dynamisch zu verstehen, zumal sie voraussetzt, dass der bzw. die Einzelne dazu beiträgt, den gesetzlichen Rahmen ständig daraufhin zu hinterfragen, ob er weitgehende individuelle Freiheit in sozialer Verantwortung ermöglicht. Gegebenenfalls muss dieser Rahmen auch verändert werden, wobei darauf zu achten ist, das Gleichgewicht zwischen individueller Freiheit und Herrschaft, d. h. dem gesetzlichen Rahmen, zu erhalten.6 Das zentrale Ziel der Politischen Bildung ist es somit, zu Gesellschaftskritik und zum „offenen Diskurs“, der als Austausch unterschiedlicher Perspektiven und rational begründeter Meinungen sowie als Konflikt- und Konsensfähigkeit definiert werden kann,7 zu befähigen. Politische Bildung setzt – wie der Philosoph Axel Honneth schreibt – „Erziehungstheorie und Regierungslehre“ miteinander in Verbindung: „Ohne die eine wäre die andere nicht möglich, weil beide Voraussetzungen eines demokratischen Gemeinwesens erläutern, die unabhängig voneinander nicht existieren können.“8 In diesem Zusammenhang mag zwar schnell der Vorwurf erhoben werden, dass hier letztlich Indoktrination zur Demokratie erfolge. Dieser Vorwurf ist aber schnell zu entkräften: Demokratie ist das Gegenteil von Indoktrination, sie zeichnet sich durch Offenheit, (Selbst-)Reflexion und Multiperspektivität aus, weil sie eben Werte und Normen ständig reflektiert und hinterfragt.9 Demokratie vermittelt keine „Wahrheiten“, sondern stellt vielmehr den Rahmen zur Verfügung, unterschiedliche „Wahrheiten“ zu verhandeln. Jeder ist berechtigt, seine „Wahrheiten“ anderen gegenüberzustellen und gemeinsam mit anderen den Rahmen, in dem gehandelt wird, zu verändern.10 Demokratie hat, ganz im Sinne der „Theosellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts. Französisch/Deutsch, Stuttgart 2010 [Erstausgabe des französischen Originals: 1762]. 6 Thomas Hellmuth, Didaktik der demokratischen Freiheit, in: Informationen zur Politischen Bildung 48 (2021), 13–17, 15. 7 Hellmuth, Frankreich, 22‒26. 8 Axel Honneth, Erziehung und demokratische Öffentlichkeit. Ein vernachlässigtes Kapitel der politischen Philosophie, in: Ders., Die Armut der Freiheit. Aufsätze 2012‒2019, Frankfurt a. M. 2020, 188. 9 Thomas Hellmuth, Das „selbstreflexive Ich“. Politische Bildung und kognitive Struktur, in: Ders. (Hg.): Das „selbstreflexive Ich“. Beiträge zur Theorie und Praxis politischer Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 2009, 11–20. 10 Der Philosoph Étienne Balibar hat in diesem Zusammenhang den Begriff der

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rie des kommunikativen Handelns“ von Jürgen Habermas,11 eine herrschaftsfreie Kommunikation zu ermöglichen, bei welcher der „zwanglose Zwang des besseren Arguments“12 als Grundlage von Entscheidungen gilt.

2. DEMOKRATIEKONZEPTE NACH 1945

Der skizzierte handlungsorientierte Demokratiebegriff, der heute die Politische Bildung zumindest in der Theorie prägt, konnte sich in der Politischen Bildung nur allmählich durchsetzen. Nach 1945 schwankten die DemokratieKonzepte, wie bereits angedeutet, zwischen der Förderung individueller Freiheit und staatlicher Disziplinierung bzw. einer gleichsam „demokratischen Indoktrination“. Zudem war eine Tendenz in der Politischen Bildung festzustellen, die Demokratie auf soziales Lernen reduzierte und von der Politik gewissermaßen entkoppelte. „Demokratische Indoktrination“ zeigte sich etwa in der Bundesrepublik Deutschland im „Potsdamer Abkommen“ vom 2. August 1945. Darin kamen die Besatzungsmächte unter anderem überein, die Demokratisierung Deutschlands mithilfe des Erziehungswesens zu gewährleisten.13 Das Programm der reeducation reduzierte die Ursachen des Nationalsozialismus auf eine verfehlte Erziehung und verstand daher Politische Bildung als demokratische Mission.14 Dabei blieb unberücksichtigt, dass Demokratie nicht einfach nur anerzogen werden kann, sondern letztlich von den Bürger*innen als sinnvoll für die eigene Lebenswelt erkannt bzw. aus eigener Überzeugung anerkannt und vor allem auch gelebt werden muss. In der Tradition dieser demokratischen Mission stand auch Theodor Litt, der eine modifizierte Staatsbürgerkunde forderte, die bei den Bürger*innen ein

11 12

13 14

„Égaliberté“, der „Gleichfreiheit“, geprägt. Vgl. Étienne Balibar, La proposition de l’égaliberté. Essais politiques 1989–2009, Paris 2010. Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bände, Frankfurt a. M. 1988. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1990 [Erstausgabe: 1962], 152–153. Joachim Detjen, Politische Bildung. Geschichte und Gegenwart in Deutschland (Lehr- und Handbücher der Politikwissenschaft), München–Wien 2007, 99. Wolfgang Sander, Politik in der Schule. Kleine Geschichte der politischen Bildung in Deutschland, Marburg 2004, 89–90.

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demokratisches „Staatsbewusstsein“15 schaffen sollte. Dazu habe der Staat ein „Gefüge von Verbindlichkeiten“ zu garantieren: „Was als Brauch, Sitte, Sittlichkeit, Gesetz den Umgang der Genossen regelt, was als gemeinsam verfolgtes Willensziel ihr Handeln ausrichtet, was als gläubige Gewissheit ihre Gemüter über das Erdentreiben emporführt: Alles dies schließt sich zu einem Gefüge von Verbindlichkeiten zusammen, an denen die Willkür des Individuums ihre Schranke findet.“16

Das „Gefüge von Verbindlichkeiten“ erinnert zwar an den erwähnten „Gesellschaftsvertrag“, welcher der „eingezäunten Freiheit“ zugrunde liegt, politisches Handeln sollte aber laut Litt auf staatliche und gesellschaftliche Einheit abzielen, wobei dies nur auf der Basis von Macht möglich sei, die sich letztlich im Kampf um zwei Formen der Staatsorganisation ausdrücke: Demokratie oder Totalitarismus. Im Kontext des Kalten Krieges gewann „diese vereinfachende […] Sichtweise“17, dieses Schwarzweißbild, das die kritische Auseinandersetzung mit dem Staat und die Konkurrenz unterschiedlicher politischer Meinungen nicht gerade förderte, für die politische Bildung der 1950er Jahre besondere Bedeutung. In Litts Forderung eines demokratischen „Staatsbewusstseins“ spiegelt sich nicht nur die re-education, sondern auch die fehlende Identifikation der deutschen Bevölkerung mit der deutschen Nation wider – nicht zuletzt auch, weil die deutsche Wiedervereinigung in weite Ferne gerückt schien, wodurch das Gefühl kollektiver Zugehörigkeit verloren ging. Ideologien galten als überholt, das Denken und Handeln der Bürger und Bürgerinnen war pragmatisch ausgerichtet. Das demokratische System wurde zwar anerkannt, allerdings in erster Linie deswegen, weil es Wohlstand zu garantieren schien.18 Neben der „demokratischen Indoktrination“ wurde Demokratie auf harmonisierendes soziales Lernen reduziert. Theodor Wilhelm, der unter dem Pseudonym Friedrich Oetinger die sogenannte „Partnerschaftspädagogik“ entwarf, 15 Theodor Litt, Die politische Selbsterziehung des deutschen Volkes. 6. Aufl., Frankfurt a. M. 1961, 8. 16 Theodor Litt, Mensch und Welt. Grundlinien einer Philosophie des Geistes, München 1948, 24. 17 Sander, Politik, 124. 18 Joachim Rohlfes, Geschichtsunterricht und Geschichtsdidaktik von den 50er bis zu den 80er Jahren, in: Geschichtsunterricht und Geschichtsdidaktik. Festschrift des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands zum 75jährigen Bestehen, hg. vom Verband der Geschichtslehrer Deutschlands, Stuttgart 1988, 155.

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definierte in diesem Zusammenhang Politische Bildung als Sozial- und Verhaltenserziehung.19 Wilhelm war während des Nationalsozialismus Redakteur der „Internationalen Zeitschrift für Erziehung“ gewesen, in der er zum Teil nationalsozialistisch gefärbte Artikel veröffentlichte. Seine Partnerschaftspädagogik ist unter anderem auch unter diesem Aspekt zu betrachten, d. h. als durchaus problematischer, weil letztlich kompensatorischer Versuch, nationalsozialistisch Belastete und Gegner des Nationalsozialismus auf Basis einer geradezu naiv verstandenen sozialen Harmonie zu versöhnen und Erstere wieder in die Gesellschaft einzugliedern.20 Wilhelm ging vom sogenannten „deutschen Sonderweg“ aus, der dem deutschen „Volk“ einen historisch bedingten Charakter zuschreibt, der letztlich für die nationalsozialistische Katastrophe verantwortlich gewesen sei. Die politische Bildung sollte diesen Charakter der Deutschen korrigieren.21 Dabei kritisierte Wilhelm insbesondere die traditionelle staatsbürgerliche Erziehung und sah in der „Partnererziehung“ die Möglichkeit, „Demokratie nicht als Staatsform, sondern als Lebensform“ zu lehren. Das Politische wird bei Wilhelm nicht mit einem „Staatsmodell“ in Verbindung gebracht, sondern als „Lebenszusammenhang der im Staat vereinten Menschen“ gedacht.22 Der Verwirklichung der Demokratie stünde demnach nichts mehr im Wege, hielten sich die Bürger und Bürgerinnen denn an die Spielregeln des partnerschaftlichen Verhaltens. Erst in den 1960er Jahren schuf die „didaktische Wende“ in der Politischen Bildung die Voraussetzungen dafür, dass Demokratie zunehmend im Sinne der „eingezäunten Freiheit“ definiert wurde. In diesem Zusammenhang seien vor allem Kurt Gerhard Fischer und Hermann Giesecke hervorgehoben. Fischer stellte eine werturteilsfreie politische Bildung bzw. überhaupt eine wertfreie Wissenschaft infrage. Damit verlieh er der Sozialisation einen Stellenwert, der 19 Friedrich Oetinger, Partnerschaft. Die Aufgabe der politischen Erziehung. 3., erw. Aufl., Stuttgart 1956. 20 Gudrun Hentges, Debatten um die politische Pädagogik bzw. Bildung vor und nach 1945. Theodor Litt und Theodor Wilhelm (Pseudonym: Friedrich Oetinger) als Beispiele, in: Christoph Butterwegge/Dies. (Hg.), Alte und Neue Rechte an den Hochschulen. Münster 1999, 159–176; Wolfgang Keim, Bundesdeutsche Erziehungswissenschaft und Nationalsozialismus. Eine kritische Bestandsaufnahme, in: Ders. (Hg.), Pädagogen und Pädagogik im Nationalsozialismus. Ein unerledigtes Problem der Erziehungswissenschaften, 2., durchges. Aufl., Frankfurt a. M. 1990, 15–34, 19; 23–25. 21 Walter Gagel, Geschichte der politischen Bildung in der Bundesrepublik Deutschland bis 1989, in: Andrea Wolf (Hg.), Der lange Anfang. 20 Jahre „Politische Bildung in den Schulen“, Wien 1998, 111. 22 Oetinger, Partnerschaft, 85.

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heute – infolge konstruktivistischer Ansätze – in der Didaktik der Politischen Bildung nahezu selbstverständlich ist. Nicht „‚Affirmation‘ von Werten in Form von Gesinnungsbildung“ sei daher laut Fischer die Aufgabe der Politikdidaktik, sondern vielmehr die Förderung von „Denk- und Handlungspositionen im Schüler […], die ihn befähigen, das Vorfindliche in der Gesellschaft, ihre Mechanismen, Institutionen und Ideologien zu analysieren und dazu Stellung zu nehmen durch begründetes Urteil und rational kontrolliertes Handeln“.23 Hermann Giesecke formulierte wiederum – in Anlehnung an die „kategoriale Bildung“ Wolfgang Klafkis24 – mehrere politische Kategorien, die in der Politischen Bildung eine Rolle spielen sollten, wozu er auch „Konflikt“, „Solidarität“ und „Mitbestimmung“ sowie „Funktionszusammenhang“ und „Ideologie“ zählte.25 Ein Konflikt, so Giesecke, müsse jeden Bürger bzw. jede Bürgerin betreffen. Seine Lösung solle durch die Mitwirkung des Einzelnen (Mitbestimmung) in Solidarität mit den anderen Mitgliedern der Gesellschaft erfolgen. Jeder Konflikt und die damit verbundenen politischen Entscheidungen seien zudem in „einem auf das politische Ganze zielende[n] Begründungszusammenhang“26 und in einem Funktionszusammenhang, d. h. in der Auswirkung auf die Veränderung des ganzen Systems, zu betrachten. Zudem müsse berücksichtigt werden, dass jede politische Entscheidung von „partikularen Interessen“ beeinflusst ist, womit Giesecke auf die Kategorie Ideologie hinwies. Sowohl Fischer als auch Giesecke legten mit ihren Überlegungen die Grundlagen für den skizzierten handlungsorientierten Demokratiebegriff. So weist Giesecke mit der Betonung von „Konflikt“, „Solidarität“, „Mitbestimmung“ sowie „Ideologie“, aber auch mit dem „Funktionszusammenhang“, der die Veränderbarkeit des politischen Systems andeutet, bereits auf das Handeln der Bürger und Bürgerinnen in der „eingezäunten Freiheit“ hin. Fischer bringt gleichsam die Selbstreflexion27 ins Spiel, welche die Abhängigkeit des Individuums von Sozialisationsprozessen sowie von Normen und Werten bewusst 23 Kurt Gerhard Fischer, Einführung in die Politische Bildung. Ein Studienbuch über Diskussions- und Problemstand der Politischen Bildung in der Gegenwart, 3., durchges. und erw. Aufl., Stuttgart 1973, 108, 113. 24 Wolfgang Klafki, Das pädagogische Problem des Elementaren und die Theorie der kategorialen Bildung, Weinheim 1959. 25 Hermann Giesecke, Didaktik der politischen Bildung, 9.  Aufl., München 1974, 161–172. 26 Ebd., 176. 27 Siehe dazu u. a. auch: Thomas Hellmuth, Das „selbstreflexive Ich“. Politische Bildung und kognitive Struktur, in: Ders. (Hg.), Das „selbstreflexive Ich“. Beiträge zur Theorie und Praxis politischer Bildung, Innsbruck–Wien–Bozen 2009, 11–20.

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macht. Erst dadurch kann letztlich auch der Rahmen, in dem politisch gehandelt wird, hinterfragt und gegebenenfalls verändert werden. Mit der Durchsetzung des handlungsorientierten Demokratiebegriffs geriet die Politische Bildung ins Getriebe parteipolitischer Auseinandersetzungen, zumal politisch-ideologische Beeinflussung im Politikunterricht befürchtet wurde. 1976 wurden daher auf einer im schwäbischen Beutelsbach abgehaltenen Tagung drei Grundprinzipien Politischer Bildung, der Beutelsbacher Konsens, formuliert: das Überwältigungsverbot, das Kontroversitätsgebot sowie das Gebot, Schülern und Schülerinnen operationale Fähigkeiten zur gesellschaftlichen Analyse und zur Durchsetzung individueller Interessen zu vermitteln. Das Überwältigungsverbot verbietet der Lehrperson, die Lernenden mit der eigenen Meinung zu indoktrinieren, und das damit zusammenhängende Kontroversitätsgebot, nur eine einzige wissenschaftliche oder politische Per­ spektive im Unterricht zu vermitteln. Der Unterricht ist vielmehr so zu gestalten, dass sich die Schüler und Schülerinnen ihre eigenen Urteile bilden und für ihre Interessen eintreten können. Dazu bedarf es wiederum der Vermittlung methodischer bzw. operationaler Fähigkeiten.28 Auch wenn der Beutelsbacher Konsens gewisse Schwächen aufweist,29 sicherte er den „offenen Diskurs“ als ein Grundprinzip des handlungsorientierten Demokratiebegriffs, der sich in der Folge zunehmend in der Politischen Bildung durchsetzen sollte. Dies zeigt sich sowohl in der aktuellen Kompetenzorientierung, die in der Politischen Bildung etwa mit der politischen Urteilsund Handlungskompetenz das handelnde Subjekt in den Mittelpunkt rückt,30 28 Sander, Politik, 147. 29 Die Lehrperson ist etwa aufgrund ihrer politischen Sozialisation in ihrer „Objektivität“ beeinträchtigt, im Beutelsbacher Konsens wird aber die Fähigkeit zur Selbstreflexion nicht erwähnt. Es stellt sich zudem die Frage, wo kontroverse Meinungen enden und ob es nicht politische „Erzählungen“ gibt, die plausibler als andere sind und somit durchaus vermittelt werden müssen. Zudem wird im Beutelsbacher Konsens gefordert, die Lernenden dazu zu befähigen, die Politik nach ihren individuellen Interessen zu beeinflussen, ohne aber das Prinzip der „eingezäunten Freiheit“ explizit zu betonen. Wie ist etwa damit umzugehen, wenn die individuellen Interessen die Freiheit anderer einzuschränken drohen? 30 Siehe dazu u. a.: Joachim Detjen/Hans-Werner Kuhn/Peter Massing/Dagmar Richter/Wolfgang Sander/Georg Weißeno, Anforderungen an Nationale Bildungsstandards für den Fachunterricht in der Politischen Bildung an Schulen. Ein Entwurf, 2. Aufl., Schwalbach/Ts. 2004; Klaus Moegling, Definitorische und konzeptionelle Grundlagen der Kompetenzorientierung im Politikunterricht, in: Kerstin Backhaus/Ders./Susanne Rosenkranz, Kompetenzorientierung im Politikunterricht.

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als auch in der sogenannten „Kritischen Politischen Bildung“, die sich an die Kritische Theorie der Frankfurter Schule anlehnt und als ein alternativer Zugang zur kompetenzorientierten Politischen Bildung entwickelt wurde. Die „Kritische Politische Bildung“ orientiert sich an „einem weit gefassten Politik- und Demokratieverständnis“, fördert „die Auseinandersetzung mit alltäglichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen“ sowie „die Selbstregierung der Bürgerinnen und Bürger und […] die Selbstbestimmung des Menschen“.31 Gemäß der „eingezäunten Freiheit“, aber auch im Sinne der gegebenenfalls notwendigen Überschreitung gesetzter Normen und Werte wird das Subjekt als Schlüsselbegriff der Politischen Bildung verstanden: „Ein Verständnis von Bildung als Subjekt-Bildung kann also nicht naiv von einem Verständnis von Subjektivität als Selbstbestimmung des unabhängig Einzelnen ausgehen, sondern hat sich damit auseinanderzusetzen, dass Subjektivität nur als soziale Subjektivität sinnvoll zu denken ist, als Fähigkeit zu Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung von Individuen, die gesellschaftlichen (ökonomischen, politischen, kulturellen, rechtlichen) Zwängen und Einflüssen unterliegen und die ihre Subjektivität nur in sozialen Beziehungen entwickeln können.“32

3. DEMOKRATIE UND POLITISCHE BILDUNG IN ÖSTERREICH

Der handlungsorientierte Demokratiebegriff setzte sich in Österreich im Vergleich zu Deutschland erst verspätet durch. Nach 1945 war zwar kurzfristig über die Förderung der Kritikfähigkeit und des offenen Diskurses in Schulen diskutiert worden und damit ein „demokratische[r] und aufklärerische[r] Impetus“ festzustellen.33 „Wieviel Schüler-Demokratie können wir in dieser Situation riskieren?“, fragte etwa der damals zuständige österreichische Staatssekretär Ernst Kompetenzen, Standards, Indikatoren in der politischen Bildung der Schulen. Sekundarstufe I und II, Baltmannsweiler 2008, 10–41. Für Österreich wurde ein eigenes „Kompetenz-Strukturmodell“ für Politische Bildung entwickelt: Reinhard Krammer, Kompetenzen durch Politische Bildung. Ein Kompetenz-Strukturmodell, in: Informationen zur Politischen Bildung 29 (2008), 5–14. 31 Bettina Lösch/Andreas Thimmel, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Kritische politische Bildung. Ein Handbuch (Politik und Bildung, 54), Schwalbach/Ts. 2010, 8. 32 Albert Scherr, Subjektivität als Schlüsselbegriff kritischer politischer Bildung, in: Lösch/Thimmel (Hg.), Kritische politische Bildung, Schwalbach/Ts. 2010, 303– 314, 305. 33 Rudolf Wimmer, Schule und Politische Bildung, Bd. 1. Die historische Entwick-

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Fischer kurz nach seiner Ernennung. Die Schule sollte „keine […] des Befehlens und Gehorchens“ sein, „keine ,autoritäre‘, aber auch keine ,antiautoritäre‘ Schule“. „Wir dachten an Schülerräte, an Mitbestimmung“, schreibt er in seinen „Erinnerungen“, „doch nicht sofort!“34 Zugleich bahnte sich daher auch eine Erziehung zur „Duldsamkeit“ bzw. staatlichen Unterordnung an. So sah die Bildungspolitik die „echte demokratische Gesinnung und österreichische Humanität“ in „der persönlichen Freiheit und gleichzeitigen Anerkennung der Rechte des anderen“ verankert, aber auch in der „sozialen Hingabe“ und in der „Pflicht, alle Kräfte in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen“. „Demokratisches Verantwortungsbewußtsein, Gerechtigkeit in Denken und Handeln, Übereinstimmung in Wort und Tat, Strenge gegen sich selbst und Duldsamkeit gegen den Nächsten“ galten als „Wesenszüge des zu formenden Charakters“.35 Der Demokratiebegriff oszillierte gewissermaßen zwischen den bereits erwähnten Polen der Freiheit und der Herrschaft, wobei sich seit 1946/47 die „demokratische Indoktrination“ durchsetzte. Im Lehrplan für Hauptschulen wurde gefordert, die „Liebe zu Volk und Vaterland“ zu wecken.36 Und der „Erlass zur staatsbürgerlichen Erziehung“ von 1949 schrieb „das Einfügen des Einzelnen, das Unterordnen unter die Erfordernisse der Gemeinschaft“ sowie die „Erziehung […] zu treuen und tüchtigen Bürgern der Republik“ als Ziel des Unterrichts vor.37 Um angeblich „wirkliche Demokratie“ zu schaffen, brauche es – wie in einer seit den 1950er Jahren mehrfach aufgelegten „Staatsbürgerkunde“ zu lesen ist – „vor allem jene Tapferkeit, die in der Selbstentäußerung liegt“.38 Der „offene Diskurs“ und der Konflikt als zentrale Bestandteile der De-

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lung der Politischen Bildung in Österreich (Klagenfurter Beiträge zur bildungswissenschaftlichen Forschung, 6), Klagenfurt 1979, 126. Ernst Fischer, Das Ende einer Illusion. Erinnerungen 1945‒1955. 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1988, 160. Allgemeine Richtlinien für Erziehung und Unterricht an den österreichischen Schulen. Erlaß des Staatsamtes für Volksaufklärung, für Unterricht und Erziehung und für Kultusangelegenheiten vom 3. September 1945, Zl. 4690/IV/45, in: Verordnungsblatt des Stadtschulrates für Wien, 15 (1945). (Provisorische) Lehrpläne für die Hauptschulen. Veröffentlicht auf Grund der Verordnung des Bundesministeriums für Unterricht Zl. 28.520 – IV/12 vom 18. Oktober 1946, Wien 1948, 39. Verordnungsblatt des Bundesministeriums für Unterricht, Nr. 83 ex 1949, zit. nach: Heinz P. Wassermann, Verfälschte Geschichte im Unterricht. Nationalsozialismus und Österreich nach 1945, Innsbruck–Wien–München–Bozen 2004, 28. Franz Heilsberg/Friedrich Korger, Staatsbürgerkunde. 5., durchges. Aufl., Wien 1960, 50.

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mokratie wurden ausgeblendet, wodurch ein „autokratischer Sinnbildungsmodus“ die Politische Bildung prägte. Während der „demokratische Sinnbildungsmodus“ davon ausgeht, dass sich der Mensch gesellschaftliche Regeln und Normen durch Interaktion ständig selbst schafft und diese sich in Gesetzen und Verfassung niederschlagen, spricht die autokratische Sinnbildung dem Menschen die Fähigkeit zur Selbstbestimmung ab und trägt zur Herausbildung „höriger“ Untertanen bei. Die Fähigkeit zur Kritik als Bestandteil der individuellen Sinnbildung und als Beitrag des Individuums zur Fortentwicklung der Gesellschaft steht diesem Sinnbildungsmodus entgegen.39 Es verwundert daher nicht, dass bis in die 1960er Jahre Politische Bildung als Staatsbürgerkunde verstanden wurde, die Konflikte als demokratisches Element ausblendete, gesellschaftliche und politische Einheit einforderte und die patriotische Gesinnung des Einzelnen anstrebte. Erst in den 1970er Jahren, in der „Ära Kreisky“, sollte sich der handlungsorientierte Demokratiebegriff durchsetzen. Die Forderung Willy Brandts, „mehr Demokratie [zu] wagen“,40 fand in Österreich sein Äquivalent in Bruno Kreiskys Diktum, „den Menschen zum Mittelpunkt des politischen Handelns“ zu machen. Die Bürger und Bürgerinnen sollten „in den Umwälzungen der 1970er Jahre nicht zu hilflosen Objekten der Entwicklung, sondern zu ihren Gestaltern werden“.41 Eine „Arbeitsgemeinschaft Geschichte und Sozialkunde – Geographie und Wirtschaftskunde“ wurde Anfang der 1970er Jahre vom Unterrichtsministerium für die achte Klasse der AHS verordnet.42 Ziel dieser Arbeitsgemeinschaft war es, eine „zeitgemäße Staatsbürgerkunde“43 zu entwickeln, womit gemeint war, die politische Bildung auf eine moderne fachdidaktische Basis zu stellen. Bislang war Politische Bildung bzw. Staatsbürgerkunde – mit Ausnahme der Berufsschulen – als Teil des Geschichtsunterrichts 39 Dirk Lange, Historisch-politische Didaktik. Zur Begründung historisch-politischen Lernens, Schwalbach/Ts. 2004, 46–51. 40 Aus der Regierungserklärung des Bundeskanzlers Brandt vor dem Deutschen Bundestag, 28. Oktober 1969. Stenogr. Berichte 6. Deutscher Bundestag, 5. Sitzung, Bd. 71, 20–34, in: Willy Brandt, Mehr Demokratie wagen. Innen- und Gesellschaftspolitik 1966‒1974, bearb. von Wolther von Kieseritzky, hg. von Helga Grebing, Gregor Schöllgen und Heinrich August Winkler, Bonn 2001, 219–220. 41 Erklärung der österreichischen Bundesregierung vom 17.  April 1970, STProtNr 12, GP 10–28, in: Maximilian Gottschlich/Oswald Panagl/Manfried Welan (Hg.), Was die Kanzler sagten. Regierungserklärungen der Zweiten Republik 1945–1987, Wien 1989, 184. 42 Wolf, Geschichte, 28. 43 BGBl. vom 4. September 1970, Nr. 275; zit. nach: Wolf, Geschichte, 28.

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unterrichtet worden. 1974 versuchte das Unterrichtsministerium nun sogar, in den Abschlussklassen der AHS-Oberstufe und der BHS ein eigenes Fach „Politische Bildung“ einzuführen, das gleichsam – um einen heute gebräuchlichen Begriff zu verwenden – active citizenship ermöglichen sollte. Wie in Deutschland, wo allerdings der Beutelsbacher Konsens zu einer Befriedung der parteipolitischen Auseinandersetzungen führte, wurden damit „die alten Instrumentalisierungsängste, Verdächtigungen und auch traumatischen Erinnerungen“ geweckt, welche die Diskussionen über das Thema Politik und Schule bzw. Politik in der Schule seit der Zwischenkriegszeit immer wieder begleiteten.44 Die Angst, mit einem eigenen Fach würde parteipolitische Bildung in den Schulen Einzug halten, führte 1978 zu einem Grundsatzerlass, der politische Bildung als Unterrichtsprinzip für alle Schulfächer festlegte. Dieser betonte neuerlich den Konsensgedanken. Gesellschaftskritik und Konflikt blieben weiterhin nicht oder nur in einem bescheidenen Ausmaß erwünscht.45 In der Berufsschule wurde zwar 1976 das Fach „Staatsbürgerkunde“ in „Politische Bildung“ umbenannt, damit war aber nur auf den ersten Blick ein vollständiger Bruch mit der in den Berufsschulen üblichen Tradition der Entpolitisierung verbunden. Dass dort überhaupt ein eigenes Fach für Staatsbürgerkunde reserviert war, lässt sich mit Georg Kerschensteiners Überlegungen zur „Staatsbürgerliche[n] Erziehung der Jugend“ (1901) begründen. Diese bezogen sich vor allem – Frauen wurden noch nicht mitgedacht – auf Lehrlinge und setzten Arbeitstugenden, unter anderem die Selbstüberwindung und Unterordnung, mit Bürgertugenden gleich.46 Zum Teil fanden sich diese Elemente staatlicher Unterordnung und „klassischer“ Entpolitisierung auch im neuen Lehrplan wieder. Zugleich flossen aber auch Elemente aktiver Bürgerschaft ein, womit der Lehrplan zumindest als Zeugnis eines sich wandelnden Verständnisses von Demokratie und politischer Bildung gelten kann. So wurde zwar die „Opferbereitschaft im Dienste der Gemeinschaft und der Republik Österreich“ gefordert, zugleich wurden aber auch die „Erarbeitung und Vermittlung von Kenntnissen und Erkenntnissen zur aktiven und kritischen Be44 Herbert Dachs, Politische Bildung in Österreich. Ein historischer Rückblick, in: Cornelia Klepp/Daniela Rippitsch (Hg.), 25 Jahre Universitätslehrgang Politische Bildung in Österreich, Wien 2008, 19. 45 Wolf, Geschichte, 28–48; Wassermann, Geschichte, 31–32; Hellmuth, Thomas/ Klepp, Cornelia: Politische Bildung. Geschichte – Modelle – Praxisbeispiele, Wien–Köln–Weimar 2010, 67–68. 46 Georg Kerschensteiner, Staatsbürgerliche Erziehung der deutschen Jugend. Gekrönte Preisarbeit, 4., verb. und erw. Aufl. 1909, 55.

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wältigung des Lebens in Staat und Gemeinschaft“, die „Erziehung zu politischem Urteilsvermögen“ und die „Bereitschaft zum politischen Engagement“ zu Zielen politischer Bildung erklärt.47 Diese ersten Bemühungen, die Bürger und Bürgerinnen dazu befähigen sollten, die gesellschaftliche Entwicklung und somit die „eingezäunte Freiheit“ selbst zu gestalten, verebbten im Laufe der 1980er Jahre allmählich.48 Erst zu Beginn der 2000er Jahre gewann die Politische Bildung erneut an Bedeutung. Vor allem die Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre, die 2007/08 zu einer „Demokratie-Initiative“ der Bundesregierung führte, war Anstoß für mehrere Projekte und weitere Initiativen.49 Unter anderem wurde im Auftrag des Unterrichtsministeriums 2007/08 ein österreichisches Kompetenz-Strukturmodell entwickelt,50 das dem handlungsorientierten Demokratiebegriff entgegenkommt. In den Lehrplänen ist nicht mehr vom „Lehrstoff “, den es im Sinne der traditionellen „Staatsbürgerkunde“ auswendig zu lernen gilt, sondern von „Anwendungsbereichen“ die Rede. Konsequenterweise entspricht auch die Lehrer- und Lehrerinnenausbildung in Politischer Bildung zunehmend dem handlungsorientierten Verständnis von Demokratie.51

4. UND DIE PRA XIS?

Zur Praxis der politischen Bildung und damit auch zum Verständnis von Demokratie im Unterricht gibt es für Österreich kaum empirische Untersuchungen. Es ist jedoch anzunehmen, dass die traditionelle Staatsbürgerkunde noch immer einen relativ hohen Stellenwert besitzt, wobei sich in diesem Zusammenhang durchaus diskutieren lässt, ob in einer Demokratie grundlegendes „Wissen“ im traditionellen Sinn – etwa über das Funktionieren demokratischer Systeme – nicht doch unabdingbar ist. Die alleinige Konzentration darauf ist aber dem handlungsorientierten Demokratiebegriff wohl kaum förderlich. Thomas Stornig kommt daher auch in einer qualitativen Studie über Polytechni47 Verordnung: Lehrpläne für Berufsschulen; Bekanntmachung der Lehrpläne für den Religionsunterricht in diesen Schulen, in: Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich. Ausgegeben am 18. August 1976, 1976/126, 1487. 48 Dachs, Politische Bildung, 29. 49 Hellmuth/Klepp, Politische Bildung, 80. 50 Krammer, Kompetenzen, 5–14. 51 Thomas Hellmuth, Politische Bildung in Österreich, in: Wolfgang Sander (Hg.), Handbuch politische Bildung, 4., überarb. Aufl., Schwalbach/Ts. 2014, 544–545.

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sche und allgemeinbildende höhere Schulen (AHS) zu dem Schluss, dass a­ ctive citizenship nicht im Zentrum der Lehrziele stehe und kaum auf theoretischmethodische Überlegungen der modernen Politikdidaktik Bezug genommen werde. Unterricht in Politischer Bildung würde von Lehrenden überwiegend transmissiv als „Stoff “-Vermittlung sowie als Korrektur von fehlendem Wissen über Politik verstanden. In den Polytechnischen Schulen sei zudem eine Diskrepanz zwischen politischer Mündigkeit und Anpassung an den Arbeitsmarkt festzustellen.52 Der handlungsorientierte Demokratiebegriff der Politischen Bildung scheint also in der Unterrichtspraxis nur bedingt wirksam zu sein. Noch immer scheint eine gestörte Balance zwischen individueller Freiheit und Herrschaft zu bestehen; das Pendel schlägt zwischen diesen beiden Polen immer wieder in Richtung der politischen Indoktrination und autokratischen Sinnbildung aus. Zum einen ist freilich zu fragen, ob die Modelle der Politischen Bildung, die eine didaktische Umsetzung des handlungsorientierten Demokratiebegriffs gewährleisten sollen, nicht zu praxisfern sind. Zum anderen trägt aber auch die Bildungspolitik ihren Teil dazu bei, dass unter Demokratie bis heute unter anderem die Identifikation mit dem demokratischen Staat bzw. mit dem Nationalstaat verstanden wird. Die österreichischen Regierungsprogramme von ÖVP/FPÖ (2017) und ÖVP/Grüne (2020) haben sich etwa neben Politischer Bildung die Einführung von „Staatskunde“ zum Ziel gesetzt.53 Ohne Zweifel ist damit – wohl in Verbindung mit der Integration von Migranten und Migrantinnen – lediglich ein Einblick in demokratische Institutionen, d.  h. die klassische Staatsbürgerkunde, und weniger ein handlungsorientierter Demokratiebegriff gemeint. Wieder scheint allein die Identifikation mit dem Staat im Sinne einer gewissen Form von Indoktrination mit politischer „Mündigkeit“ verwechselt zu werden.

52 Thomas Stornig, Politische Bildung im Kontext von Wählen mit 16. Zur Praxis schulischer Demokratiebildung (Citizenship. Studien zur Politischen Bildung), Wiesbaden 2021. 53 Zum Programm der ÖVP-FPÖ-Koalition siehe URL: https://www.wienerzeitung.at/_em_daten/_wzo/2017/12/16/171216_1614_regierungsprogramm.pdf (abgerufen am 6.6.2021); zur ÖVP-Grünen-Koalition siehe URL: https://www. wienerzeitung.at/_em_daten/_wzo/2020/01/02/200102-1510_regierungsprogramm_2020_gesamt.pdf (abgerufen am 6.6.2021).

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DEMOKRATIE OHNE DEMOKRATIEERZÄHLUNG? ZU EINER LEERSTELLE DER ÖSTERREICHISCHEN ZEITGESCHICHTE

1. ZUR DEMOKRATIE-ERZÄHLUNG SEIT DEM „GEDENK- UND ERINNERUNGSJAHR“ 2018

Laut dem Österreichischen Demokratie Monitor 2020 – nach der „Ibiza-Affäre“ und während der Corona-Krise – hat zwar insgesamt das Vertrauen in das politische System in Österreich im Vergleich zu den Vorjahren wieder zugenommen und neun von zehn Menschen in Österreich sind davon überzeugt, dass die Demokratie die beste Staatsform ist, im ökonomisch schwächsten Drittel und in der Mitte der Gesellschaft ist jedoch gleichzeitig eine gewisse Verunsicherung zu beobachten. Die Corona-Pandemie schwächt die Zustimmung zur Demokratie. Im Gegensatz dazu hat sich das demokratische Selbstverständnis der Menschen im ökonomisch stärksten Drittel erholt. Damit ist auch insgesamt die Zustimmung zu einem „starken Führer“ wieder gesunken. Dennoch können weiterhin 19 % der Bevölkerung einem „starken Führer, der sich nicht um Parlament und Wahlen kümmern muss“, etwas Positives abgewinnen.1 Wohl nicht zufällig wurde der jährliche Demokratie Monitor 2018 vom Sozialforschungsinstitut SORA ins Leben gerufen.2 Im sogenannten „Gedenkund Erinnerungsjahr“ wurde in Österreich viel über Demokratie geredet – im Einklang mit einem europäischen und globalen Trend und in Reaktion darauf, dass liberale Demokratien vermehrt unter Druck geraten sind. Entlang der legendären „8er Jahre“ wurden Demokratie (1918), Menschenrechte (1948) und eine offene Gesellschaft (1968) gefeiert und an deren Aufgabe, Verlust und vollkommene Zerstörung bis hin zu Vertreibung und Genozid (1938) erinnert – und das paradoxerweise in einem Umfeld, in dem Demokratie wie auch 1 2

Österreichischer Demokratie Monitor 2020, URL: https://www.demokratiemonitor.at/ (abgerufen am 28.7.2021). SORA Institute for Social Research and Consulting Ogris & Hofinger GmbH, URL: https://www.sora.at/ (abgerufen am 28.7.2021).

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Menschenrechte keinesfalls mehr als sakrosankt gelten.3 Nur zwei Wochen vor Beginn des Jubiläumsjahres hatte eine neue rechtspopulistische Bundesregierung aus ÖVP (mittlerweile vom Selbstverständnis her türkis und nicht mehr traditionell schwarz) und FPÖ (blau) ihr Amt angetreten (Kurz I) – eine generationelle Neuauflage der Bundesregierung Schüssel I, die im Februar 2000 aus ÖVP und FPÖ gebildet wurde und starke Proteste im In- und Ausland hervorgerufen hatte. Diese blieben diesmal freilich aus, nachdem sich die globale politische Szenerie in den vergangenen Jahren vollständig gewandelt hat und Rechtspopulismus in Europa und weltweit zum Mainstream geworden ist.4 Noch bevor im März das offizielle Erinnern und Gedenken an den „Anschluss“ 1938 überhaupt in Gang kommen konnte, eröffnete im Januar völlig unerwartet die sogenannte „Liederbuch-Affäre“ der rechtspopulistischen FPÖ das Jahr: Nur wenige Tage vor der niederösterreichischen Landtagswahl berichtete die Wiener Stadtzeitung Falter vom Liederbuch der deutschnationalen Burschenschaft Germania in Wiener Neustadt, deren stellvertretender Vorsitzender der FPÖ-Spitzenkandidat war. Neben anderen peinlichen und ausreichend skandalösen Texten, die Verbrechen der deutschen Wehrmacht verharmlosen, findet sich dort im Lied „Es lagen die alten Germanen“ die Zeile: „Da trat in ihre Mitte der Jude Ben Gurion: ‚Gebt Gas, ihr alten Germanen, wir schaffen die siebte Million‘“ – eine offensichtliche Verharmlosung (keinesfalls Leugnung!) des Holocaust, wenn nicht ein impliziter Aufruf zum Massenmord.5 Aufgeworfen wurde damit auch die Frage, welches Verhältnis die österreichische Regierungspartei FPÖ zum Deutschnationalismus unterhält, mithin wie sie im Gedenk- und Erinnerungsjahr überhaupt zu Österreich steht.6 Die FPÖ reagierte mit einer „Rot-Weiß-Rot“-Erklärung, in der sie sich feierlich zur Republik Österreich sowie zu Demokratie, Parlamentarismus und Rechtsstaatlichkeit bekannte und von Gewalt, Totalitarismus und Rassismus und vor allem Antisemitismus distanzierte – ein doch einigermaßen erstaunlicher

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Republik Österreich, 2018 – 100 Jahre Republik, URL: http://www.oesterreich100. at (abgerufen am 14.2.2019). 4 Vgl. aus der Fülle der Literatur: Jan-Werner Müller, Was ist Populismus? Ein Essay, Berlin 2016. 5 Margit Reiter, Die FPÖ und die Vergangenheit, die nicht vergeht, in: Thomas Hofer/Barbara Tóth (Hg.), Wahl 2019. Strategien, Schnitzel, Skandale, Wien 2019, 247–257. 6 Margit Reiter, Die Ehemaligen. Der Nationalsozialismus und die Anfänge der FPÖ, Göttingen 2019.

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Demokratie ohne Demokratieerzählung?

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Vorgang für eine Regierungspartei.7 Im Rahmen der offiziellen Feierlichkeiten fokussierte nicht zuletzt der grüne Bundespräsident Alexander Van der Bellen immer wieder auf Gegenwart und Geschichte der Demokratie in Ö ­ sterreich und darüber hinaus: In seiner Rede zum „Anschluss“-Gedenken am 12. März thematisierte er vor allem die Gefährdetheit von Demokratien und ihre Anfälligkeit für Populismus und Demagogie.8 Beim Staatsakt anlässlich des Jahrestags der Republikgründung am 12. November verwies er im Rahmen eines Plädoyers für die liberale Demokratie und demokratisches Engagement auf die Suche nach dem Konsens als dem österreichischen Erfolgsrezept, zumindest in der Zweiten Republik.9 Die Schriftstellerin und Kärntner Slowenin Maja ­Haderlap sprach in ihrer Festrede zum Republik-Jubiläum hingegen über das integrative Potential der Demokratie, vor allem zur Einbindung und zum Schutz von Minderheiten: „Demokratie ist nicht zuletzt auch die einzige Herrschaftsform, die den Anderen und die Minderheiten mit einbezieht, und wäre als einzige Ordnung imstande, Menschen, die aus anderen Ländern und Traditionen, aus unterschiedlichen Motiven zu uns kommen, einzubinden und zwar als Mitverantwortliche für das Gemeinwesen und die Werte der Demokratie.“10

Auch das ebenfalls im November 2018 nach jahrzehntelangen Debatten eröffnete „Haus der Geschichte Österreich“ in der Hofburg am Heldenplatz deklarierte „Demokratie und Rechtsstaatlichkeit“ als einen seiner drei inhaltlichen Schwerpunkte, neben gesellschaftlichen Transformationsprozessen allgemein Die „Rot-Weiß-Rot Erklärung“ der FPÖ im Wortlaut, Die Presse, 13.2.2018, URL: https://www.diepresse.com/5370933/die-rot-weiss-rot-erklarung-der-fpo-imwortlaut (abgerufen am 4.8.2021). Zur frühen Geschichte der FPÖ vgl. Margit Reiter, Die Ehemaligen. 8 Alexander Van der Bellen, Rede anlässlich des Gedenkens an den 12. März 1938, URL: https://www.bundespraesident.at/fileadmin/user_upload/Anschluss_1938_ final_formatiert_DOWNLOAD.docx.pdf (abgerufen am 14.2.2019). 9 Alexander Van der Bellen, Ein Plädoyer des Bundespräsidenten für liberale Demokratie und demokratisches Engagement beim Staatsakt „100 Jahre Republik Österreich“ am 12. November 2018 in der Wiener Staatsoper, URL: https://www.bundespraesident.at/aktuelles/detail/news/staatsakt-100-jahre-republik-oesterreich/ (abgerufen am 14.2.2019). 10 Maja Haderlap, Festrede. Im langen Atem der Geschichte, URL: https://www.bundespraesident.at/fileadmin/user_upload/Festrede_von_Maja_Haderlap_-_Staatsakt_100_Jahre_Republik_OEsterreich.pdf (abgerufen am 14.2.2019). 7

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und „Diktatur, Nationalsozialismus und die Erinnerung an den Zivilisationsbruch Auschwitz“.11 Direktorin Monika Sommer verwies in ihrer Rede zur Eröffnung auch auf die längere Tradition der österreichischen Demokratie­ geschichte: „Am 10. November 1920 trat das Bundes-Verfassungsgesetz in Kraft. Es beinhaltet auch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger aus der Dezemberverfassung von 1867. Nach der Revolution von 1848 sind die 1867 verfassungsrechtlich garantierten Grund und Freiheitsrechte ein zentraler Meilenstein der österreichischen Demokratieentwicklung, die eben nicht erst mit der Ausrufung der demokratischen Republik einsetzt.“12

Im Hinblick auf die österreichische Demokratiegeschichte war im Vorfeld – zumindest seit der Initiative von SPÖ-Kulturminister Josef Ostermayer zu Jahresanfang 2015 – immer wieder das Revolutionsjahr 1848 als Ausgangspunkt für eine historische Darstellung in einem nationalen Geschichtsmuseum ins Spiel gebracht worden, weil die Republikgeschichte ab 1918 sonst nicht verständlich sei. Auch der Historiker Wolfgang Häusler hat bei seiner Kritik an den Plänen für ein „Haus der Geschichte“ in Wien, verstanden als ein Zeitgeschichte-­ Museum, immer wieder darauf verwiesen und dementsprechend gefordert: „Ich meine daher, dass ‚Zeitgeschichte‘ nicht erst 1918 oder 1945 einzusetzen habe, sie beginnt im Zyklus der bürgerlichen Revolution 1789–1848.“13 Allerdings wurde in der 2016 vorgenommenen Änderung des Bundesmuseen-­ Gesetzes 2002 ohnehin festgelegt, dass das „Haus der Geschichte Österreich“

11 Dirk Rupnow, Nation ohne Museum? Diskussionen, Konzepte und Projekte, in: Dirk Rupnow/Heidemarie Uhl (Hg.), Zeitgeschichte ausstellen in Österreich. Museen – Gedenkstätten – Ausstellungen, Wien–Köln–Weimar 2011, 417–463. 12 Rede von Direktorin Monika Sommer im Rahmen des Österreich am 10.11.2018, Pressestelle HdGÖ, 27.11.2018.Festaktes zur Eröffnung des Hauses der Geschichte Österreich am 10.11.2018, Pressestelle HdGÖ, 27.11.2018. 13 Wolfgang Häusler, Ideen können nicht erschossen werden. Revolution und Demokratie in Österreich 1789 – 1848 – 1918, Wien–Graz–Klagenfurt 2017, 9; vgl. auch Wolfgang Häusler, „Exzellenzen ausstopfen – ein Unfug“ oder: Revolution, Demokratie und Republik im Haus der Geschichte Österreich(s), in: Thomas Winkelbauer (Hg.), Haus? Geschichte? Österreich? Ergebnisse einer Enquete über das neue historische Museum in Wien, Austriaca. Schriften des Instituts für Österreichkunde, Wien 2016, 235–254.

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„die Zeitgeschichte Österreichs ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit thematischen Rückblicken in die Zeit der Aufklärung und davor und einem besonderen Schwerpunkt auf die Zeit von 1918 bis in die Gegenwart in ihrem europäischen und internationalen Kontext vermitteln [soll].“14

Zwei Jahre später, nach dem islamistischen Terroranschlag am Abend des 2.  November 2020 in der Wiener Innenstadt, kam es zu einer interessanten Fortschreibung der Demokratie-Narrative aus dem multiplen Gedenk- und Erinnerungsjahr 2018: Bundesinnenminister Karl Nehammer von der ÖVP verwies in seiner Morgen-Pressekonferenz am 3.  November darauf, dass „Öster­reich […] seit mehr [sic!] als 75 Jahren eine starke Demokratie [ist], eine gewachsene Demokratie, ein Land, dessen Identität geprägt ist von Werten und Grundrechten wie freie Meinungsäußerung, Rechtsstaatlichkeit, aber auch Toleranz im gesellschaftlichen Zusammenleben.“15 Bundespräsident Van der Bellen bezeichnete den Amoklauf als einen Anschlag auf das „Leben in einer liberalen Demokratie“.16

2. DEMOKRATIE IN DER FRÜHEN ÖSTERREICHISCHEN ZEITGESCHICHTSFORSCHUNG

Der Zeithistoriker Oliver Rathkolb, der mit seinen Umfragen zu Geschichtsbewusstsein und autoritären Einstellungen in Österreich den Demokratie-­ Monitor mitgestaltet und schon länger vor „politischer Apathie“ und „autoritärem Hardcore-Potenzial“ im Land gewarnt hat, verband mit dem übervollen und vielschichtigen Gedenk- und Erinnerungsjahr die Hoffnung, dass „es 2018 gelingt, doch noch den Samen für einen demokratischen Verfassungspatriotismus in Österreich zu pflanzen“, und hat – offenbar ebenfalls auf ein Defizit verweisend – dafür explizit auch die Dienste der Zeitgeschichtsforschung angeboten.17 14 Änderung des Bundesmuseen-Gesetzes 2002 vom 13.4.2016, BGBl. I Nr. 20/2016, § 13, Abs. 6. 15 Anschlag in Wien: Ansprache von Österreichs Innenminister Karl Nehammer am 3.11.2020, URL: https://www.youtube.com/watch?v=_bdKfPSqwCU (abgerufen am 5.8.2021). 16 Bundespräsident Van der Bellen zum Terroranschlag in Wien am 3.11.2020, URL: https://www.youtube.com/watch?v=oaJ_n8WwKVk (abgerufen am 5.8.2021). 17 Oliver Rathkolb, Der lange Schatten der 8er Jahre. Kritische Geschichtsbetrach-

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Welche Rolle spielt aber die Demokratiegeschichte und -entwicklung in der (institutionalisierten, etablierten und veröffentlichten) österreichischen „Zeitgeschichte“ nach 1945? Sehr präsent ist ohne Zweifel die Frage, warum die Erste Republik gescheitert ist. Das Narrativ dazu beginnt mit dem Diktum „… der Rest ist Österreich“, das dem französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau in Saint-Germain 1919 zugeschrieben wird, und schreibt sich fort in Buchtiteln wie „Der Staat, den keiner wollte: Österreich von der Gründung der Republik bis zur Moskauer Deklaration“ oder auch jüngst „Die gescheiterte Republik“.18 Immer geht es um eine Republik wider Willen, um wirtschaftliche Probleme, fehlende Lebensfähigkeit und Identitätsfragen sowie Spaltung und Kampf der politischen Lager, die allesamt mehr oder weniger zwangsläufig zum Untergang der Demokratie führen. Marcus Gräser hat allerdings zu Recht darauf hingewiesen, dass in der frühen Zeitgeschichtsforschung das Scheitern der Ersten Republik eher als ein Scheitern Österreichs denn der Demokratie verstanden wurde.19 Im Vordergrund stehen jedenfalls das Versagen und der Untergang, nicht der umgekehrte, ebenfalls mögliche Blick darauf, warum es so lange funktioniert hat, wie es immerhin funktioniert hat.20 Ein dominantes Thema sind Demokratie und Demokratiegeschichte jenseits davon nicht, aber es finden sich einige Spuren in zentralen Texten der jungen Zeitgeschichtsforschung, nicht zuletzt in Reaktion auf die Konfliktgeschichte der Ersten Republik. Am Anfang steht aber der Erlass des Bundesministeriums für Unterricht über die staatsbürgerliche Erziehung aus dem Jahr 1949, eine erste Wegmarke hin zu politischer Bildung in der Zweiten Republik und damit wohl auch zur Beschäftigung mit der Zeitgeschichte. Heimaterziehung tung und Demokratiebewusstsein, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 34–35 (2018), 41–46; Ein Viertel wünscht sich einen „starken Führer“, orf.at, 20.4.2017, URL: https://orf.at/v2/stories/2388154/2388155/ (abgerufen am 13.8.2021). 18 Hellmut Andics, Der Staat, den keiner wollte. Österreich von der Gründung der Republik bis zur Moskauer Deklaration. Neue österreichische Geschichte in vier Bänden, Bd. 3, Wien 1976; Anton Pelinka, Die gescheiterte Republik. Kultur und Politik in Österreich 1918–1938, Wien–Köln–Weimar 2017. 19 Marcus Gräser, Erste Republik, in: Marcus Gräser/Dirk Rupnow (Hg.), Österreichische Zeitgeschichte/Zeitgeschichte in Österreich. Eine Standortbestimmung in Zeiten des Umbruchs, Wien–Köln 2021, 39–66, 54. 20 Ernst Hanisch, Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. Österreichische Geschichte 1890–1990, hg. v. Herwig Wolfram, Wien 1994, 279, 285. Vgl. dazu vor allem auch Erin R. Hochman, The Failed Republic, 1918–1933, in: Günter Bischof/David M. Wineroither (Hg.), Democracy in Austria, New Orleans–Innsbruck 2019, 45–63.

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(„Weckung und Pflege des österreichischen Heimat- und Kulturbewußtseins“) und politische Erziehung („die Erziehung zu treuen und tüchtigen Bürgern der Republik“) wurden darin als Kernelemente der staatsbürgerlichen Erziehung der Jugend definiert. Neben der „Erziehung zum bewußten Österreichertum“ steht dort die Belehrung über die Hauptaufgabe der Demokratie, verstanden als „die friedliche Auseinandersetzung und der wechselseitige Ausgleich“. Letztlich geht es darum, dass die Bürger*innen „durch reichliche Gewöhnung nach erfolgter Großjährigkeit ihre staatspolitischen Pflichten im Geiste des österreichischen Volks- und Kulturbewußtseins erfüllen werden“.21 Die wesentlichen Markierungen sind damit bereits gesetzt: Zentral ist die (wiedergewonnene) staatliche Unabhängigkeit Österreichs, die durch ein eigenständiges kulturelles „Österreichertum“ abgesichert werden soll. Demokratie wird währenddessen zu einem Instrument zur Moderation der ideologischen Gegensätze, die den Untergang der Ersten Republik verursacht haben, freilich ohne dass dies hier explizit erwähnt würde. 1954 erschien dann – noch vor der Institutionalisierung der österreichischen Zeitgeschichtsforschung – ein erstes Standardwerk. Die vom aus dem britischen Exil nach Wien zurückgekehrten Heinrich Benedikt herausgegebene „Geschichte der Republik Österreich“ (1954) enthielt nicht nur eine umfangreiche Ereignisgeschichte der Jahre von 1918 bis 1945, die der Archivar Walter Goldinger verfasst hatte, sondern daneben auch weitere Texte: Adam Wandruszkas wirkmächtige Abhandlung über die politischen Lager in Österreich, einen Beitrag von Friedrich Thalmann über „Die Wirtschaft in Österreich“, wohl vor allem zum Beleg, dass Österreich entgegen den Voraussagen nach dem Ersten Weltkrieg lebensfähig ist, und Stephan Verostas Beitrag mit dem sprechenden Titel „Die geschichtliche Kontinuität des österreichischen Staats und seine europäische Funktion“.22 Der ehemalige Nationalsozialist Wandruszka konstatierte, dass in allen drei politischen Lagern – dem christlich-sozial-kon21 Erlaß des BMU über die staatsbürgerliche Erziehung, 6.7.1949 (Z. 25.575IV/12/49), Verordnungsblatt für den Dienstbereich des Bundesministeriums für Unterricht 8/1949, Nr. 83. 22 Heinrich Benedikt (Hg.), Geschichte der Republik Österreich, Wien 1954 (unverändert reprographisch nachgedruckt 1977). Darin: Walter Goldinger, Der geschichtliche Ablauf der Ereignisse in Österreich von 1918 bis 1945, 15–288; Adam Wandruszka, Österreichs politische Struktur. Die Entwicklung der Parteien und politischen Bewegungen, 289–485; Friedrich Thalmann, Die Wirtschaft in Österreich, 487–572; Stephan Verosta, Die geschichtliche Kontinuität des österreichischen Staates und seine europäische Funktion, 573–610. Ausgekoppelt erschien auch: Walter Goldinger, Geschichte der Republik Österreich, Wien 1962.

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servativen, dem sozialistischen und dem (deutsch-)nationalen – in der Ersten Republik die liberalen und demokratischen Elemente zurückgedrängt wurden, während der Liberalismus selbst als politische Gruppierung praktisch nicht in Erscheinung getreten sei.23 In der Zeit nach 1945 beobachtete er in allen drei Lagern eine Wiederaufwertung dieser liberalen und demokratischen Elemente und verband dies mit einer frühen Andeutung einer kultur- und sozialgeschichtlichen österreichischen Demokratiegeschichte, die er allerdings nicht weiter ausführte und an die auch in der Folge nicht von der Zeitgeschichte angeknüpft wurde: „Die äußeren Anzeichen dieser Wandlung nach 1945 waren die allgemeine Abneigung gegen Abzeichentragen, Fahnen, Aufmärsche, Uniformen, Symbole, die Entwicklung eines neuen politischen Stils der Sachlichkeit, des Kompromisses und der Toleranz, die Auflockerung der verhärteten und verkrampften Fronten, vor allem auf kulturpolitischem Gebiet, die Vorliebe für faire, freie Diskussionen, der Übergang von der ‚Weltanschauungspartei‘ zum ‚Traditionsverband‘, von der ‚Kampfgemeinschaft‘ zur ‚Interessengemeinschaft‘.“24

Als ein entscheidender Gründungsmoment der österreichischen Zeitgeschichtsforschung gilt gemeinhin die Expertentagung 1960 in Reichenau, zu der ÖVP-Unterrichtsminister Heinrich Drimmel geladen hatte.25 Es ging dabei vordergründig um die Situation der österreichischen Zeitgeschichte im Geschichtsunterricht, mit einem besonderen Fokus auf die Behandlung der konflikthaften Geschichte der Ersten Republik und des Neuanfangs nach 1945. In seinem Geleitwort fokussierte der persönlich anwesende Minister, der sich wohl selbst auch als Historiker begriff, ganz auf die neuerliche Unabhängigkeit Österreichs und die „erneuerte österreichische Gemeinschaft“ sowie die Idee eines selbständigen, unabhängigen Österreichs und eines Österreichertums, das an seine geistige und materielle Unabhängigkeit glaubt. Er beschwor 23 Wandruszka, Politische Struktur. Die Entwicklung der Parteien und politischen Bewegungen, in: Benedikt (Hg.), Geschichte, 289–485, 480–481. 24 Ebd., 484. 25 Anton Kolbabek (Hg.), Österreichische Zeitgeschichte im Geschichtsunterricht. Bericht über die Expertentagung von 14. XII. bis 16. XII. 1960 in Reichenau, Wien 1961. Vgl. dazu auch Ernst Hanisch, Die Dominanz des Staates. Österreichische Zeitgeschichte im Drehkreuz von Politik und Wissenschaft, in: Alexander Nützenadel/Wolfgang Schieder (Hg.), Zeitgeschichte als Problem. Nationale Traditionen und Perspektiven der Forschung in Europa, Göttingen 2004, 54–77, 54–55.

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den Weg zur österreichischen Einheit und endete folgerichtig pathetisch mit dem Ausruf „Der Glaube an Österreich!“26 Der Benediktinerpater, ehemalige KZ-Häftling und Historiker Hugo Hantsch beschrieb in seinem Fachreferat die Erste Republik als unvermeidlich, aber kaum gewollt, vor allem auch, weil man sich als Teil der deutschen Republik verstand.27 Demokratie wurde auch hier praktisch nicht zum Thema, höchstens in der Frage, ob die Austromarxisten wie Otto Bauer mittels Demokratie die Klassenherrschaft begründen wollten. Erst über 100 Seiten später ist in der Dokumentation der Diskussion der Anwesenden einmal von „Demokratisierung“ die Rede, als „Ausweitung des allgemeinen Wahlrechts“, die 1918 von „ausschlaggebender Bedeutung“ gewesen sei (Robert Endres, Hugo Hantsch).28 Ansonsten ging es auch hier hauptsächlich um Anschlussideologie vs. Österreichbewusstsein, Nationsbegriff bzw. Kulturgemeinschaft usw. Hantsch hielt allerdings zum Ende der Diskussion fest: „Man begann von einem Bankrott der Demokratie zu sprechen und vergaß dabei, daß nicht die Demokratie daran schuld war, sondern die Menschen, die nicht demokratisch zu denken vermochten.“29 Auch hier findet sich damit ein bemerkenswerter Verweis auf einen kultur- und sozialgeschichtlichen Blick auf die Demokratie in Österreich, der in der Folge jedoch nie richtig aufgegriffen wurde. Spätestens damit war die konsensorientierte sogenannte „Koalitionsgeschichtsschreibung“ etabliert. Um Demokratie und Demokratieentwicklung ging es bei ihr – wenn überhaupt – allerhöchstens am Rande. Im Mittelpunkt stand die (nach dem Zweiten Weltkrieg wiedererlangte) österreichische Unabhängigkeit und die Einheit Österreichs über zumindest zwei der drei politischen Lager hinweg, als Lehre aus der konflikthaften Geschichte der Ersten Republik, die in den „Anschluss“ an NS-Deutschland mündete.30 Nicht zuletzt mit der Wissenschaftlichen Kommission des TheodorK ­ örner-Stiftungsfonds und des Leopold-Kunschak-Preises zur Erforschung der österreichischen Geschichte der Jahre 1927 bis 1938 wurde diese Koalitionsgeschichtsschreibung institutionalisiert und fortgeführt.31 Die Kommission mit 26 Heinrich Drimmel, Geleitwort, in: Kolbabek, Zeitgeschichte, 5–15. 27 Hugo Hantsch, Vom Zerfall der Monarchie bis zum Staatsvertrag von St. Germain, in: Kolbabek, Zeitgeschichte, 19–35. 28 Bericht über die Aussprache, in: Kolbabek, Zeitgeschichte, 107–178, 130–131. 29 Ebd., 171. Dazu auch ebd.: „Nicht die Demokratie versagt, sondern die Menschen, die nicht demokratisch denken, nicht demokratisch leben, versagen“ (Vogelsang). 30 Vgl. dazu auch den Beitrag von Reiter in diesem Band. 31 Rudolf Neck, Die Wissenschaftliche Kommission des Theodor-Körner-Stiftungs-

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dem schwerfälligen Titel ging auf Pläne Bruno Kreiskys aus den späten 1950er Jahren zurück und wurde schließlich Anfang der 1970er Jahre realisiert und eingesetzt, um „die Entwicklung der Ersten Republik vor allem im Hinblick auf das Schicksalsjahr 1934, dessen tragische Ereignisse im Mittelpunkt der Betrachtung stehen sollten“, zu untersuchen.32 Interessanterweise dachte man in diesem Kontext offenbar über die Einrichtung einer „Kommission über die Geschichte der Demokratie und der Parteien in Österreich […], analog etwa der Kommission in Bonn“, nach, die allerdings ebenfalls nie realisiert wurde.33 Ein weiterer Höhepunkt der Koalitionsgeschichtsschreibung sind wohl die von Erika Weinzierl und Kurt Skalnik herausgegebenen, äußerst staatstragend daherkommenden Bände zur Geschichte der Zweiten (1972) und der Ersten (1983) Republik.34 Nicht zufällig ist der Band zur Zweiten Republik „[d]em Andenken von Leopold Figl und Adolf Schärf “ gewidmet. Das Projekt hat eine bewegte Geschichte, in die ursprünglich auch der Journalist Günther Nenning involviert war. Bemerkenswert im Hinblick auf die Frage nach dem Stellenwert der Demokratie in der österreichischen Zeitgeschichtsforschung ist in diesem Zusammenhang der – streckenweise durchaus kryptische – Beitrag „Das geschichtliche Erbe – Gemeinsamer Nenner und rechtes Maß“ des österreichisch-US-amerikanischen Historikers der Habsburgermonarchie Robert A. Kann. Er legt darin sechs Leitsätze des ursprünglichen Redaktionsteams von 1965 dar: „1. Das Recht der freien Meinungsäußerung wird durch die österreichische Neutralität in keiner Weise berührt. 2. Mitarbeit an diesem Werk setzt das Bekenntnis zu eifonds und des Leopold-Kunschak-Preises zur Erforschung der österreichischen Geschichte der Jahre 1927 bis 1938, in: Ludwig Jedlicka/Rudolf Neck (Hg.), Vom Justizpalast zum Heldenplatz. Studien und Dokumentationen 1927 bis 1938. Festgabe der Wissenschaftlichen Kommission des Theodor-Körner-Stiftungsfonds und des Leopold Kunschak-Preises zur Erforschung der österreichischen Geschichte der Jahre 1927 bis 1938 anläßlich des dreißigjährigen Bestandes der Zweiten Republik Österreich und der zwanzigsten Wiederkehr des Jahrestages des Österreichischen Staatsvertrages, Wien 1975. 32 Ebd., 15. 33 Ebd., 16. Gemeint ist die 1952 gegründete bundesdeutsche „Kommission zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien“, die mittlerweile in Berlin ansässig ist, vgl. URL: https://kgparl.de/ (abgerufen am 12.8.2021). 34 Erika Weinzierl/Kurt Skalnik (Hg.), Österreich. Die Zweite Republik, 2 Bände, Graz–Wien–Köln 1972; Erika Weinzierl/Kurt Skalnik (Hg.), Österreich 1918– 1938. Geschichte der Ersten Republik, 2 Bände, Graz–Wien–Köln 1983.

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ner im westlichen Sinne verstandenen Demokratie voraus. 3. Die uneingeschränkte Anerkennung des staatsbürgerlichen Gleichheitsprinzips auf Grund individueller Freiheit im rechtlichen und moralischen Sinn ist in diesem Begriff der Demokratie eingeschlossen. 4. Ausgeschlossen ist die Bejahung einer totalitären Vergangenheit und totalitärer Bestrebungen in Gegenwart und Zukunft, gleichgültig, ob faschistischen oder kommunistischen Charakters. 5. Koalition und Proporz sind weder die Voraussetzung noch die Verneinung einer gesunden österreichischen Demokratie. 6. Traditionspflege ist nicht parteimäßig begrenzt. Ihre Wahrung ist ebenso eine Voraussetzung der österreichischen Geschichtsforschung wie die Forderung, daß diese Traditionspflege unter Einhaltung des gebotenen Taktes kritisch betrieben werden soll.“ 35

Diese Leitsätze geben einen guten Einblick in die staatsoffizielle Koalitionsgeschichtsschreibung, ihre Herausforderungen und wohl auch potentiellen Gefährdungen sowie ihr Funktionieren, bezeichnenderweise von einem etwas außerhalb stehenden Beteiligten offengelegt. Auch hier steht im Hintergrund immer die Konflikterfahrung der Ersten Republik. Demokratie wird damit zwar nicht explizit zum Thema, aber zum grundlegenden impliziten Arbeitsprinzip der österreichischen Zeitgeschichtsforschung in der Zweiten Republik erklärt. Damit einher geht die Feststellung, dass Konsens und Proporz keinesfalls als undemokratisch gelten können, während sie aber gleichzeitig auch nicht als notwendige Voraussetzung von Demokratie angesehen werden – eine interessante Ehrenrettung der österreichischen Spielart der Konkordanzdemokratie. Ebenso fein austariert wird parallel dazu das Verhältnis von Traditionspflege und Kritik. So formuliert Bundespräsident Rudolf Kirchschläger in seinem Geleitwort zur „Geschichte der Ersten Republik“ äußerst zurückhaltend, was die Frage angeht, ob die Demokratie in Österreich als Bedingung für die Überwindung der ideologischen Konflikte angesehen werden kann: „Aus einem Staat, dessen Lebensfähigkeit überall Zweifeln begegnete und dessen Menschen sich nicht nur in ideologischen, sondern auch in militärischen Lagern gegenüberstanden, ist ein Gemeinwesen geworden, das zumindest versucht, Demokratie zu leben und das – auch in internationaler Sicht – zu einer Zone politischer und wirtschaftlicher Stabilität gereift ist.“36 35 Robert A. Kann, Das geschichtliche Erbe. Gemeinsamer Nenner und rechtes Maß, in: Weinzierl/Skalnik (Hg.), Österreich, 19–50, 19. 36 Rudolf Kirchschläger, Zum Geleit (Vorwort des Bundespräsidenten), in: Weinzierl/

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Die hier präsentierten Spuren in zentralen Texten der frühen österreichischen Zeitgeschichtsforschung zeigen, wie wenig Demokratiegeschichte vordergründig als Thema in der österreichischen Zeitgeschichtsforschung präsent ist, wie sehr aber die (Konsens- und Proporz-)Demokratie nach 1945 im Hintergrund das Feld bestimmt.

3. LEERSTELLE – NORMALFALL – DESIDERAT?

Dass im Gedenk- und Erinnerungsjahr 2018 gerade die Erinnerung an „1968“ als Chiffre für gesellschaftliche Demokratisierung wenig sichtbar geworden ist, sollte vielleicht nicht überraschen: Sie lässt sich – im Gegensatz zu den anderen Jahrestagen – schwer an einem konkreten Datum festmachen, nimmt die Ereignisse hierzulande höchstens als eine „heiße Viertelstunde“ (Fritz Keller) wahr und passte der türkis-blauen Bundesregierung schlecht ins Konzept. Auch für ein würdiges Gedenken an die Deklaration der Menschenrechte durch die UNO am 10. Dezember 1948, obwohl explizit als ein Bezugspunkt für das österreichische Gedenk- und Erinnerungsjahr angeführt, war gegen Jahresende kaum mehr Energie übrig. In einem von der Parlamentsdirektion zur Erinnerung an die Wahlen zur konstituierenden Nationalversammlung am 16.  Februar 1919 – den ersten freien und gleichen Wahlen, an denen auch die Frauen teilnehmen konnten – herausgegebenen Sammelband mit dem Titel „Umbruch und Aufbruch. Parlamentarische Demokratie in Österreich“ werden interessanter- und durchaus irritierenderweise zwei zentrale „Narrative“ nebeneinandergestellt: „Vom Großreich zum Kleinstaat“ und „Österreichische Nation und europäische Integration“.37 Auch hier geht es nicht primär um Demokratiegeschichte, wiewohl Dieter A. Binder in einem Beitrag mit einem Fokus auf 1848 „das demokratische Erbe des kaiserlichen Österreichs“ in Erinnerung ruft.38 Die Grundzüge einer österreichischen Demokratiegeschichte im politikgeschichtlichen Sinne hat ansonsten vor allem Oliver Rathkolb skizziert: von der (gescheiterten) Revolution 1848 über die Reichsratswahlordnung 1873, das allgemeine und gleiche Männerwahlrecht für das Abgeordnetenhaus des Skalnik (Hg.), Österreich 1918–1938, 7. 37 Parlamentsdirektion (Hg.), Umbruch und Aufbruch. Parlamentarische Demokratie in Österreich, Wien 2019. 38 Dieter A. Binder, Demokratische Spuren aus der Monarchie in die Republik, in: Ebd., 28–38, 28.

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Reichsrats 1907, die Lagerbildung in Cisleithanien, den radikalen Umbruch beim Wahlrecht 1918 bis hin zur autoritär inspirierten Novellierung der Bundesverfassung von 1920 im Jahr 1929; von der „Kanzlerdiktatur“ über den „Anschluss“ bis zum demokratischen Neubeginn nach 1945, von der Konkordanz-/Proporzdemokratie der Zweiten Republik bis hin zu gegenwärtigen Entwicklungen.39 Das derzeit hegemoniale Narrativ spiegelt sich nicht zuletzt in der Rede von ÖVP-Bundeskanzler Sebastian Kurz beim Staatsakt am 12. November 2018 zur Republikgründung wider: „Nach einer kurzen Phase des Aufschwungs, der positiven Stimmung in unserem Land, begann die Zeit der politischen Extreme. Auf die Auseinandersetzung im Parlament folgte bald die Auseinandersetzung auf der Straße. Auf die Gewalt der Worte folgte die Gewalt der Taten. Und all das führte in den 30er Jahren zum Untergang der Demokratie; und in weiterer Folge zu Gewalt, Krieg und zu den unfassbaren Schrecken der Shoah. Erst mit Gründung der Zweiten Republik ist es dann gelungen, die Einheit Österreichs zu wahren und langfristig Frieden und Wohlstand zu sichern. Erst mit der Unabhängigkeit Österreichs konnte unser Land seinen beispielhaften Erfolgsweg der letzten Jahrzehnte beschreiten. Und erst mit dem Bekenntnis zu ­Österreich als eigenständige Nation in unserem geeinten Europa konnte Österreich ein gesundes Selbstbewusstsein entwickeln. Ein Selbstbewusstsein, das uns heute nicht nur sagen lässt: Viel gerühmtes Österreich oder viel geprüftes Österreich, sondern ein Selbstbewusstsein, das uns auch aus ganzem Herzen sagen lässt: Viel geliebtes Österreich.“40

Auch 2018 spielen Demokratie und Demokratiegeschichte höchstens eine Nebenrolle. Wie schon in den Jahrzehnten davor stehen wiederum die Unabhängigkeit und die Einheit Österreichs sowie das „Bekenntnis zu Österreich als eigenständige Nation“ im Mittelpunkt, nicht etwa ein Bekenntnis zur Demokratie.41 39 Oliver Rathkolb, Demokratiegeschichte Österreichs im europäischen Kontext, in: Ludger Helms/David M. Wineroither (Hg.), Die österreichische Demokratie im Vergleich, 2. Aufl., Baden-Baden–Wien 2017, 71–103. 40 Rede von Bundeskanzler Sebastian Kurz beim Staatsakt „100 Jahre Republik Österreich“, 12.11.2018, URL: https://www.bundeskanzleramt.gv.at/dam/jcr:c52d5caa4ca1-43c6-8b4c-4760d261a72f/Rede_Bundeskanzler_Sebastian_Kurz_Staatsakt_100JahreRep%C3%96.pdf (abgerufen am 23.5.2022). 41 Vgl. dazu auch den Beitrag von Reiter in diesem Band.

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Dies zeigt sich auch im Verhältnis von Erster zu Zweiter Republik. Allein die Nummerierung stellt eine Kontinuität her (unter bewusster Umgehung der NS-Zeit in Österreich von 1938 bis 1945), während sich etwa die Bundesrepublik Deutschland („Bonner Republik“) klar von der Weimarer Republik abzugrenzen versuchte. Besonders deutlich zeigt sich das darin, dass das bundesdeutsche Grundgesetz als Gegenentwurf zur Weimarer Verfassung verstanden wurde, während die Zweite Republik kurzerhand wieder die Bundesverfassung von 1920 in der Version von 1929 in Kraft setzte. Im Hinblick auf den Umgang mit der Verfassung, die Restauration der Institutionen der Ersten Republik und die Wiederkehr alter Eliten wurden die Entwicklungen nach1945 in Österreich bekanntermaßen als ein „Rückbruch“ (Josef Schöner) interpretiert.42 Bürgerkrieg, „Anschluss“ und NS-Zeit führten jetzt allerdings zur Betonung der Einigkeit – auf Grundlage der Demokratie – in ihrer spezifischen Ausprägung mit Konsens und Proporz – der sogenannte „Geist der Lagerstraße“.43 Dennoch wurde über Demokratie nach 1945 verhältnismäßig wenig gesprochen. Der österreichische Befund spiegelt weitgehend die Analyse des britischen Historikers Martin Conway wider, der in seiner Geschichte von Westeuropas demokratischem Zeitalter (1945–1968) feststellt: „The most remarkable feature of the term ,democracy‘ was its relative absence from the rhetoric of liberation. Whatever causes the Second World War had been fought for, democracy, it seemed, was not foremost among them. In the lexicon of European liberation, four overlapping terms predominated: freedom, liberty, people, and nation – or its subtle but significant variants of homeland and motherland.“44

So auch in Österreich: Es geht vornehmlich um Freiheit bzw. Unabhängigkeit und das „Österreichertum“, Demokratie spielt höchstens am Rande oder im Hintergrund eine Rolle. Als eine Ausnahme, die die Regel bestätigt, führt Conway interessanterweise gerade Bundeskanzler Leopold Figl mit seiner Rede vom 8. Mai 1946 an, die dieser nach einer langen Aufzählung der Vorteile von Freiheit und Unabhängigkeit mit der Phrase beendet, dass der 8. Mai1945 den Sieg der Demokratie über die Diktatur bedeute. Zum Ersatznarrativ für die fehlende Demokratieerzählung wurde aber die Geschichte vom Wachsen des Österreich-Bewusstseins in den 1960er und 1970er Jahren – trotz vermehrter 42 Hanisch, Schatten, 395–398. 43 Vgl. dazu auch den Beitrag von Sandner in diesem Band. 44 Martin Conway, Western Europe’s Democratic Age, 1945–1968, Princeton 2020, 98.

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Demokratie ohne Demokratieerzählung?

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deutschnationaler Tendenzen Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre. Wie Dieter A. Binder und Ernst Bruckmüller festhielten, „war in der Politik seit den später 1960er Jahren die Existenz einer eigenständigen und von der deutschen abgegrenzten österreichischen Nation kein wirkliches Thema mehr“.45 Tatsächlich konnte man sich in Europa kaum nostalgisch auf Demokratie beziehen: Die Demokratien der Zwischenkriegszeit waren eben nicht stabilisiert und befriedet, sie standen vielmehr für Instabilität, Konflikt, Gewalt und Bürgerkrieg. Man grenzte sich von den „past democratic failures“ ebenso ab wie von den faschistischen und autoritären Modellen.46 Es ging um eine new democracy, also musste man auch nicht nach Wurzeln und Vorgeschichten suchen. Die Erste Republik wie auch die Weimarer Republik waren Warnungen, keine Vorbilder. Aber auch 1848 wurde kaum als Anknüpfungspunkt gesehen und das Zentenarium nicht groß gefeiert, eher galt es als gescheitert, außer vielleicht in Frankreich. In Österreich wurde stattdessen 1946 an die OstarrichiUrkunde vom 1. November 996 angeknüpft, und es wurde dementsprechend das Jubiläum „950 Jahre Österreich“ zelebriert, um das Österreich-Bewusstsein zu stärken.47 Hinzu kommt: Die wesentlichen politischen Akteur*innen nach 1945 hatten alle ihre nicht unproblematischen Vorgeschichten. In Österreich waren sie entweder Antidemokrat*innen, die für die österreichische Selbständigkeit eingetreten waren, oder Demokrat*innen/Republikaner*innen, die aber für den „Anschluss“ votiert hatten: „It was the proponents of Austrian pride and sovereignty that worked to dismantle democracy, while one of the most vocal advocates of an Anschluss, the SDAPÖ, worked to bolster democracy and republicanism.“48 Wer aber war in der Ersten Republik überhaupt demokratisch gesinnt u n d österreich-bewusst? Demokratisierung nach 1945 war in Österreich wie in anderen westeuropäischen Staaten ein Selbstdisziplinierungsprozess.49 Sie kommt mit der Sprache der Nüchternheit und der Krise. (So forderte etwa auch Unterrichtsminister 45 Dieter A. Binder/Ernst Bruckmüller, Essay über Österreich. Grundfragen von Identität und Geschichte 1918–2000, Wien/München 2005, 103–110. 46 Conway, Democratic Age, 103. 47 Karin Liebhart, Menschen – Mythen – Meilensteine. Die österreichische Millenniums-Länderausstellung 1996, in: Dirk Rupnow/Heidemarie Uhl, Zeitgeschichte ausstellen in Österreich. Museen – Gedenkstätten – Ausstellungen, Wien–Köln– Weimar 2011, 255–274. 48 Hochman, Democracy, 55. 49 Jan-Werner Müller, Das demokratische Zeitalter. Eine politische Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert, Berlin 2013.

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Drimmel bei der Expertentagung in Reichenau „geistige Diszipliniertheit“.) Die österreichische Spielart, die Konsens-, Proporz- oder Konkordanzdemokratie, stand mit ihrer Kartellierung der Macht und ihrer Nähe zum Korporatismus (Ständestaat) zudem in einer gewissen Spannung zur liberalen Demokratie und erschwert dadurch zusätzlich klassische Demokratieerzählungen.50 Nur so konnte später auch das Ende der gemeinsamen Dominanz von SPÖ und ÖVP sowie der Sozialpartnerschaft als Befreiung und Demokratisierung gedeutet werden, ebenso wie der angebliche Beginn einer neuen „Dritten Republik“, die von der FPÖ ins Spiel gebracht wurde. Vermutlich ist Österreich in dieser Hinsicht gar nicht so außergewöhnlich, wie es erscheint – trotz Konsens, Proporz und Sozialpartnerschaft. Dennoch fehlt bis heute eine Demokratieerzählung in der österreichischen Zeitgeschichte, nicht nur angesichts des derzeitigen Aufschwungs des Themas, sondern vor allem auch im Hinblick auf die zunehmende Gefährdung von Demokratie, weltweit, in Europa und auch in Österreich.51 Während die frühe bundesdeutsche Zeitgeschichte Rothfels’scher Prägung ebenso wenig auf Demokratie fokussiert hat wie die österreichische, sondern ebenfalls stark ihr Scheitern betonte, hat sich in Deutschland mittlerweile ein Demokratie-Narrativ entwickelt, das sich vor allem aus den Erfolgsgeschichten der Bonner und Berliner Republik nach 1989 speist. Bereits 1971, also lange vor der Gründung des Deutschen Historischen Museums und des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (1986/1994), war im Berliner Reichstagsgebäude zum 100-jährigen Jubiläum der Reichsgründung die Ausstellung „Fragen an die deutsche Geschichte. Ideen, Kräfte und Entscheidungen. Von 1800 bis zur Gegenwart“ eröffnet worden, die vor allem die „Entwicklungsgeschichte der parlamentarischen Demokratie mit ihren Höhen und Tiefen“ in den Blick nahm.52 Edgar Wolfrum betitelte seine Geschichte der Bundesrepublik 50 Reinhard Heinisch/Mario Wintersteiger, Demokratie. Grundlagen, Probleme, Antworten, in: Reinhard Heinisch (Hg.), Kritisches Handbuch der österreichischen Demokratie. BürgerInnen, Verfassung, Institutionen, Verbände, Wien–Köln–Weimar 2020, 27–62, 45. 51 Aus der unüberschaubaren Fülle der Literatur vgl. neben den bereits zitierten Arbeiten von Conway und Müller vor allem Ute Daniel, Postheroische Demokratiegeschichte, Hamburg 2020, und Till van Rahden, Demokratie. Eine gefährdete Lebensform, Frankfurt a. M. 2019. 52 Deutscher Bundestag (Hg.), Fragen an die deutsche Geschichte. Ideen, Kräfte und Entscheidungen. Von 1800 bis zur Gegenwart, Berlin 1971, 9. Hier heißt es: „[…] spiegelt den Abschnitt deutscher Geschichte wider, in dem wesentliche Grundlagen für die heutige staatliche, gesellschaftliche und wirtschaftliche Ordnung

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Demokratie ohne Demokratieerzählung?

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Deutschland wohl auch nicht zufällig „Die geglückte Demokratie“ (2006)53, während Oliver Rathkolb – selbst viel skeptischer und ambivalenter – bei seiner Geschichte Nachkriegsösterreichs weniger Euphorie gezeigt hat – sein Buch trägt den Titel „Die paradoxe Republik“ (2005)54.

unseres Landes geschaffen wurden. Die Kräfte, Ideen und Entscheidungen, aus denen sich diese Ordnung herausgebildet hat, werden veranschaulicht. […] Entsprechend ihrer grundlegenden Bedeutung für die Gegenwart bildet die Entwicklungsgeschichte der parlamentarischen Demokratie mit ihren Höhen und Tiefen den besonderen Schwerpunkt der Ausstellung“ (Philipp Jenninger/Lothar Gall). Spätere Ausgaben hießen denn auch im Untertitel „Wege zur parlamentarischen Demokratie“. 53 Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006. 54 Oliver Rathkolb, Die paradoxe Republik. Österreich 1945 bis 2005, Wien 2005.

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Benjamin Kneihs

NARRATIVE DER DEMOKRATIE – DER STABILISIERENDE CHARAKTER DES RECHTS *)

1. EINLEITUNG UND VORBEMERKUNG

„Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus.“1 Es handelt sich dabei um Grundprinzipien des österreichischen Bundesverfassungsrechtes, also Richtungsentscheidungen, die über das grundsätzliche Gepräge der Verfasstheit unseres Staats Auskunft geben.2 Sowohl die Republik, die bei Erlassung des B-VG 1920 und dessen großer Novelle 1929 im Vordergrund stand, als auch die Demokratie werden nach herrschender Auffassung durch diese Bestimmung aber nur proklamiert. Mit Leben werden diese Leitgedanken der Bundesverfassung erst durch die Vorschriften über die Wahlen zum Nationalrat und den Landtagen, den Weg der Gesetzgebung, das Verhältnis der Parlamente zur Vollziehung, insbesondere zur Bundesregierung und den Landesregierungen und über den Bundespräsidenten erfüllt.3 Eine Die Vortragsform und damit auch die persönliche Formulierung wurden weitgehend beibehalten. Herrn Mag. Lorenz Kern danke ich sehr herzlich für die wertvollen Ergänzungen und seine Unterstützung. 1 Art.  1 B-VG, BGBl.  1/1920, wiederverlautbart mit BGBl.  1/1930 i.  d.  F. BGBl.  I 2/2021. Zur Frage, wie das B-VG in der Zweiten Republik wieder zur Grundlage unseres Staatswesens wurde, vgl. Alois Birklbauer/Benjamin Kneihs, Art.  I Verbotsgesetz, in: Benjamin Kneihs/Georg Lienbacher (Hg.), Rill-Schäffer-Kommentar Bundesverfassungsrecht (13. Lieferung), Wien 2014, Rn. 16. Vgl. zum Ganzen auch die Ausführungen von Reinhard Klaushofer in diesem Band. 2 Anna Gamper, Die verfassungsrechtliche Grundordnung als Rechtsproblem, Wien 2000, und Andreas Janko, Gesamtänderung der Bundesverfassung, Wien 2001, sowie Markus Vašek, Unabänderliches Verfassungsrecht und Revisionsschranken in der österreichischen Bundesverfassung, Wien 2013; vgl. auch Michael Thaler, Gibt es einen harten Kern von Art. 44 Abs. 3 B-VG?, in: Zeitschrift für öffentliches Recht (2020) 1, 195–208, und Christoph Grabenwarter, Kerne im öffentlichen Recht, in: Erwin Bernat et al. (Hg.), Festschrift Christian Kopetzki, Wien 2019, 153–166. 3 Vgl. schon die Ausführungen von Klaushofer in diesem Band.

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Benjamin Kneihs

Schnittstelle zum Rechtsstaat ergibt sich dabei auch aus der grundsätzlichen Anordnung der Gesetzes-Bindung der gesamten staatlichen Vollziehung,4 die das (hoheitliche) Staatshandeln auf die Gesetze und damit auf die Parlamente zurückführt und damit wesentlichen Anteil an der Einlösung insbesondere des zitierten zweiten Satzes in Art. 1 B-VG hat, wonach das Recht unserer demokratischen Republik von ihrem Volk ausgeht.5 Die „Schönheit“ unserer Verfassung beruht über weite Strecken darauf, dass sie ihre wesentlichen Inhalte nicht abstrakt oder wertehaft in die Welt setzt, sondern durch die Organisation des Staatswesens und die einzuhaltenden Verfahren wirksam werden lässt. So hält sie sich schlank und die rechtspolitische Entwicklung offen.6 Das bedeutet nicht, dass die Bundesverfassung keinen bundes- oder rechtsstaatlichen, republikanischen oder demokratischen Inhalt hätte. Sie verhilft diesen Inhalten allerdings im Wesentlichen bloß implizit zur Geltung, indem sie eben die Akteure des politischen Geschehens und die von ihnen jeweils einzuhaltenden, umsichtig aufeinander abgestimmten Verfahrensschritte organisiert.

2. INHALT

Mit der Rückführbarkeit allen Rechts auf das Volk wird die Gesetzgebung zum Dreh- und Angelpunkt der Demokratie erklärt. Das B-VG konkretisiert diesen Grundsatz in einem repräsentativen System, in dem die zentrale Rolle Parlamenten zugedacht ist; deren Rechtsstellung, insbesondere gegenüber der Vollziehung, steht daher zumindest in einem elementaren Zusammenhang mit dem demokratischen Grundgedanken des B-VG. Hinzu treten repräsentative Elemente in der Vollziehung selbst. 4 Art. 18 B-VG. 5 Statt vieler Walter Antoniolli/Friedrich Koja, Allgemeines Verwaltungsrecht, 3. Aufl., Wien 1996, 222–249; Walter Berka, Verfassungsrecht, 7. Aufl., Wien 2018, Rn.  492  ff.; Theo Öhlinger/Harald Eberhard, Verfassungsrecht, 12.  Aufl., Wien 2019, Rn. 344–345, 598 ff. 6 Vgl. Benjamin Kneihs, Die „Schönheit der Verfassung“, in: Zeitschrift für öffentliches Recht (2020) 1, 209–225, 221–224. Durch seine inhaltliche Offenheit und vergleichsweise einfache Abänderung vermeidet das B-VG die Notwendigkeit einer Revolution, weil es selbst das Instrumentarium für seine Totalrevision bereithält; vgl. i. d. S. auch Georg Lienbacher, Autokratieresistenz der österreichischen Bundesverfassung, in: Zeitschrift für öffentliches Recht (2020) 1, 67–97, 76–77 mwN.

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Zentrale demokratische Inhalte der Bundesverfassung sind demnach zunächst die Grundsätze und Grundrechte des Wahlrechtes,7 die Rückführung allen Staatshandelns auf solcherart gewählte Organe sowie die diversen In­ strumente der Partizipation und der direkten Demokratie, die eine angemessene Beteiligung der Bevölkerung an der politischen Willensbildung nach Maßgabe der Stärke der in ihr vertretenen Strömungen sicherstellen. Das sind die Grundrechte des status activus, wie die Vereins-, Gewerkschafts- und Parteienfreiheit,8 die Versammlungsfreiheit,9 die Freiheiten der Meinungsäußerung,10 der Wissenschaft und der Kunst11 und das Petitionsrecht,12 aber auch alle anderen Grundrechte, die unter einem Gesetzesvorbehalt stehen, der wiederum auf das parlamentarische Gesetz als einzig legitime Quelle ihrer Einschränkung und Ausgestaltung verweist. Das sind aber auch das Volksbegehren,13 die Volksbefragung14 und schließlich die in den meisten Fällen bloß mögliche, gerade über so grundsätzliche Fragen wie die demokratische oder rechtsstaatliche Verfasstheit aber verpflichtend abzuhaltende Volksabstimmung.15 7

8 9 10 11 12

13 14 15

Allgemeines, persönliches, gleiches, freies, unmittelbares und geheimes Verhältniswahlrecht: Art. 26 B-VG, Art. 8 Staatsvertrag von Wien, Art. 3 1. Zusatzprotokoll zur EMRK (Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten). Vgl. dazu unten Abschnitt IV des vorliegenden Beitrags. Art. 12 Staatsgrundgesetz (StGG), Art. 11 EMRK, Art. 1 Parteiengesetz. Art. 12 StGG, Art. 11 EMRK. Art. 10 EMRK, Art. 13 StGG, Beschluss der Provisorischen Nationalversammlung vom 30. 10. 1918. Art.  17, 17a StGG. Vgl. Walter Berka/Christina Binder/Benjamin Kneihs, Die Grundrechte, 2. Aufl., Wien 2019, 654. Art. 11 StGG. Die politischen Grundrechte stellen nun aber nicht etwa, wie Stephan Kirste, Das B-VG als Werteordnung  –  Zum Abschied vom Mythos einer wertneutralen Spielregelverfassung? in: Zeitschrift für öffentliches Recht (2020) 1, 173–194, 188–189, darzulegen versucht, von der Demokratie geschützte Werte dar. Vielmehr sind politische Grundrechte, wenn überhaupt, umgekehrt Sicherungen oder nüchterner gesagt Bausteine des demokratischen Gefüges, das wiederum nicht als Wert, sondern als Effektivität versprechende Technik eingesetzt wird, um die Gesellschaft zu organisieren. Art. 41 Abs. 2 B-VG. Art. 49b B-VG. Art. 43, 44 B-VG. Ob die Demokratie mittels demokratischer Volksabstimmung abgeschafft werden kann, ist im Schrifttum nicht unumstritten. Vgl. Heinz Peter Rill/ Heinz Schäffer, Art. 1 B-VG, in: Benjamin Kneihs/Georg Lienbacher (Hg.), RillSchäffer-Kommentar Bundesverfassungsrecht (1. Lieferung), Wien 2001, Rn. 18, 22, und Peter Oberndorfer, Art.  1 B-VG, in: Karl Korinek/Michael ­Holoubek/

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Zu den demokratischen Inhalten der Bundesverfassung gehört auch das bereits erwähnte Legalitätsprinzip, also die Bindung der gesamten staatlichen Vollziehung an das Gesetz. Sie stellt sicher, dass jeder Hoheitsakt auf dem vom demokratisch gewählten Parlament repräsentierten Volkswillen beruht. In engem Zusammenhang damit steht das Recht aller Bundesbürgerinnen und Bundesbürger auf Gleichheit „vor dem Gesetz“, das Gleichbehandlung durch das Gesetz und eine gleichmäßige Vollziehung ohne Willkür garantiert.16

3. ORGANISATION

Den weit überwiegenden Teil seiner demokratischen Sicherungen verbaut das B-VG implizit in die Organisation seiner Akteure und Institutionen. So wird zunächst der Bundespräsident direkt vom Bundesvolk gewählt, was ihm eine besondere demokratische Legitimation verleiht, die es auch gestattet, die Ernennung und Entlassung des Bundeskanzlers und der übrigen Bundesminister in seine Hände zu legen, die zusätzlich außerdem vom stetigen Vertrauen des Nationalrates abhängig sind.17 Der Bildung und Erhaltung dieses Vertrauens dienen zahlreiche Kontrollmechanismen, durch die das Parlament die Vollziehung begleitet und beobachtet. Der Effektuierung dieser parlamentarischen Kontrolle dient auch das Weisungsrecht der jeweils obersten Organe des Bundes und der Länder für ihren Bereich.18 Es ist kein Instrument der politischen Gängelung der Verwaltung, sondern der Verantwortlichkeit ihrer Spitze  –  Verantwortlichkeit setzt IngeChristoph Bezemek/Claudia Fuchs/Andrea Martin/Ulrich E. Zellenberg (Hg.), ­Österreichisches Bundesverfassungsrecht. Textsammlung und Kommentar (3. Lieferung), Wien 2000, Rn. 10. 16 Berka/Binder/Kneihs, Grundrechte, 515, 519 mwN. VfSlg. 15.373/1998 ordnet den Gleichheitssatz ebenfalls dem demokratischen Prinzip zu. Es ist dann auch keine Anomalie, dass gerade der Gleichheitssatz ein Staatsbürgerrecht ist. 17 Benjamin Kneihs, Die „demokratische Republik“. Zu den Befugnissen des Bundespräsidenten, in: Journal für Rechtspolitik (2017) 2, 73–77, 74–75. Vgl. Art. 70, 74 B-VG. Dass das Parlament von dieser Möglichkeit nur in Ausnahmefällen Gebrauch macht (Lienbacher, Autokratieresistenz, 81–82), ist m.E. kein Zeichen einer Schwäche, sondern vielmehr der Stabilität unserer Demokratie. Ob ein solches Misstrauensvotum aber an der Einigkeit über den Bundeskanzler und seine Minister oder an der Uneinigkeit ihrer Gegner scheitert, ist dabei verfassungsrechtlich egal. 18 Art. 20 B-VG.

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renz voraus, die eben durch das Weisungsrecht sichergestellt wird. Aus diesem Grund wird auch für die Ausgliederung staatlicher Aufgaben und insbesondere für die Beleihung nicht-staatlicher Rechtsträger mit Hoheitsgewalt neben anderen Sicherungen auch die Herstellung einer Weisungsgewalt parlamentarisch kontrollierter oberster Organe verlangt.19 Demokratische Elemente sind aber auch in der ordentlichen Gerichtsbarkeit vorgesehen, etwa die ebenfalls vom Bundespräsidenten ernannten Richter*innen, die grundsätzlich volksöffentlich verhandeln,20 oder auch die Schöffen- und Geschworenenbeteiligung, die in Fällen schwerer und politischer Delikte vorgesehen ist.21 Auch die Verwaltungsgerichte und der Verwaltungsgerichtshof (VwGH) kontrollieren die Vollziehung, auch ihre Mitglieder sind auf Grund der Ernennung durch gewählte Organe indirekt demokratisch legitimiert.22 Für alle diese Gerichte gilt außerdem, dass auch sie nur auf Grund der Gesetze agieren dürfen,23 durch diese Bindung an den parlamentarisch repräsentierten Volkswillen also zusätzliche demokratische Legitimation genießen. Der Rechtsprechung kommt für die Stabilisierung der Demokratie durch das Recht eine besondere Bedeutung zu.24 Zunächst beruht dies auf dem Umstand, dass die Verwaltungsgerichte, der Verwaltungs- und der Verfassungsgerichtshof, aber auch die ordentlichen Gerichte sowohl die demokratischen Prozesse als auch die Einhaltung von Gesetz und Verfassung und damit deren Ergebnisse kontrollieren. Darüber hinaus muss die Bevölkerung aber auch sehen, dass das von ihr legitimierte Recht eingehalten und gesprochen wird – im jeweils persönlichen Einzelfall, aber auch etwa bei der Amtshaftung, der Disziplinargerichtsbarkeit und bei der Strafverfolgung von Polizisten, (ehemaligen) Politikern oder anderen Funktionären. Nicht umsonst hat der Europäische 19 VfSlg. 14.473/1996, 16.400/2001, 17.421/2004; Gabriele Kucsko-Stadlmayer, Grenzen der Ausgliederung, 15. ÖJT I/1, Wien 2003, 67. 20 Lamiss Khakzadeh, Art. 90 B-VG, in: Benjamin Kneihs/Georg Lienbacher (Hg.), Rill-Schäffer-Kommentar Bundesverfassungsrecht (16.  Lieferung), Wien 2015, Rn. 2–8. mwN. 21 Art. 91 B-VG. 22 Art. 134 B-VG. 23 Vgl. z. B. Stefan Griller/Michael Potacs, Zur Unterscheidung von Pragmatik und Semantik in der juristischen Hermeneutik, in: Michael Potacs/Helmuth Vetter (Hg.), Beiträge zur juristischen Hermeneutik, Wien 1990, 66–105, 92  ff.; Theo Öhlinger, Der völkerrechtliche Vertrag im staatlichen Recht, Wien 1973, 81, 142 FN. 94 mwN; ausdrücklich VfSlg. 12.947/1991. 24 Lienbacher, Autokratieresistenz, 82–83 mwN.

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Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) den Satz geprägt, dass Recht nicht nur gesprochen, sondern im Richterspruch auch sichtbar werden muss.25 Dem kommt für die Identifikation der Bevölkerung mit ihrer Rechtsordnung – in Österreich also mit der Demokratie – elementare Bedeutung zu. Umso wichtiger ist daher neben ihrer demokratischen Legitimation auch die Unabhängigkeit der Justiz.26 Und umso gravierender sind daher Angriffe auf sie, wie sie nicht nur in Ungarn oder Polen, sondern auch in Österreich von hoher Stelle geführt worden sind. Dies nicht zuletzt deswegen, weil die Politik etwa seit Ende der 1980er Jahre zunehmend Konflikte und damit auch Entscheidungen auf die Gerichte verlagert, die sie zuvor selbst ausgetragen bzw. getroffen hätte.27 Was früher zwischen den Parteien oder Sozialpartnern ausgemacht worden wäre, wird nun vor die Gerichte gebracht. Ob etwa Niederösterreich und die Steiermark durch einen Eisenbahntunnel miteinander verbunden werden, ob eine Erbschaftsund eine Schenkungssteuer eingehoben werden, ob in Kindergärten oder Klassenzimmern Kreuze hängen, Mädchen Kopftücher tragen, ob todkranke Menschen Suizidhilfe erhalten oder gleichgeschlechtliche Paare heiraten sollen – alle diese Entscheidungen werden zur Zeit eher von Gerichten getroffen als vom Parlament.28 Das liegt, wenn ich es recht sehe, nicht nur an einer Entscheidungsfaulheit oder -feigheit der Politik. Zum Teil provozieren im Gegenteil forsche, selbstbewusste Gesetzgebungsakte nach dem Motto „speed kills“29 Korrekturen,30 zum Teil tragen auch durch Unionsrecht erstarkte Bürgerinitiativen und Nachbarn Konflikte um Flughafenpisten oder Starkstromleitungen 25 EGMR 24.5.1989, 10.486/1983 (Hauschildt gegen Dänemark); EGMR 24. 2. 1993, 14.396/1988 (Fey gegen Österreich). 26 Art. 87, 88, 94 B-VG. 27 Besonders augenfällig in Art. 138b B-VG. 28 VfSlg.  15.552/1999, 18.093/2007, 19.349/2011, 20.225/2017; VfGH 11. 12. 2020, G 4/2020; 11.12.2020, G 139/2020. Vgl. außerdem etwa VfSlg. 18.044/2006 u. a. zu slowenisch-sprachigen Ortstafeln in Kärnten oder VfSlg. 20.361/2019 zur Reorganisation der Sozialversicherung. 29 Klaus Poier, Konventsmethode und Bürgerbeteiligung als Instrumente der Verwaltungsreform, in: Gerhard Baumgartner/Franz Sturm (Hg.), Der Kärntner Gemeindekonvent, Wien 2013, 9–22, 12 FN. 10 zu diesem Ausspruch des ehemaligen Nationalratspräsidenten Andreas Khol. 30 Besonders anschaulich etwa die Regelung über die Ambulanzgebühren (§  135a Allgemeines Sozialversicherungsgesetz [ASVG] i.  d.  F. BGBl.  35/2001), die der VfGH wegen eines Kundmachungsfehlers für verfassungswidrig erklärte (VfSlg. 16.848/2003).

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vor die Gerichte, weil sie deren Lösung durch die Politik nicht vertrauen.31 Es darf auch nicht verschwiegen werden, dass bisweilen Gerichte dem demokratischen Prozess vorangehen und eine vor allem unions- oder grundrechtliche Bresche schlagen, wo der Gesetzgebungsprozess vielleicht noch nicht so weit ist32 und dass die Verfassungsgerichtsbarkeit mit ihrer Kraft, demokratisch beschlossene Gesetze zu vernichten, nicht nur als Hüterin, sondern auch als Antagonistin der Demokratie konstruiert ist33 – unvermeidlich, wenn die Grundrechte vor allem die Aufgabe haben, die Minderheit vor der demokratischen Mehrheit in Schutz zu nehmen.34 Die kommunale und die nicht territoriale, insbesondere berufliche Selbstverwaltung durch demokratisch bestellte Organe35 trägt einerseits zur Diversifizierung staatlicher Gewalt, andererseits aber auch zu ihrer Legitimation bei.36 Sicher ist die Binnendemokratie relativ homogener Gruppen wie etwa der Kammern37 nicht mit dem pluralistischen Gemenge des Gemeinde-, Landes- oder Bundesvolkes gleichzusetzen. Sie kann aber durchaus als Form der Selbstgesetzgebung gelten, die den Rückhalt des Staates oder anders gesagt den stabilisierenden Charakter seines Rechts in der Gesellschaft erhöht. Nicht zuletzt ist auch insbesondere den Kammern die Vertretung der Interessen ihrer Mitglieder gegenüber dem Staat aufgetragen.38 Und in ihrer Gesamtheit repräsentieren die Selbstverwaltungskörper, also die Kammern, die Österreichische Hochschülerschaft oder die Sozialversicherungsträger wiederum durchaus pluralistisch die Gesamtbevölkerung, die durch sie mediatisiert abermals auf das Gesamtgeschehen Einfluss nimmt.

31 32 33 34 35 36

VfSlg. 20.185/2017; VwGH 15.10.2020, Ro 2019/04/0021. Berka/Binder/Kneihs, Grundrechte, 265–273 mwN. Lienbacher, Autokratieresistenz, 85. Berka/Binder/Kneihs, Grundrechte, 36 mwN. Art. 115 ff., 120a ff. B-VG. Karl Korinek, Von der Aktualität der Gewaltenteilungslehre, in: Journal für Rechtspolitik (1995) 151–163 ,154–155. 37 Harald Stolzlechner, Vorbemerkungen Fünftes (nunmehr: sechstes) Hauptstück B-VG, in: Benjamin Kneihs/Georg Lienbacher (Hg.), Rill-Schäffer-Kommentar Bundesverfassungsrecht (6. Lieferung), Wien 2010, Rn. 17, 20; Harald Stolzlechner, Art. 120c B-VG, in: Benjamin Kneihs/Georg Lienbacher (Hg.), Rill-SchäfferKommentar Bundesverfassungsrecht (6. Lieferung), Wien 2010, Rn. 10 ff. 38 Heinz Peter Rill/Harald Stolzlechner, Art. 120a B-VG, in: Benjamin Kneihs/Georg Lienbacher (Hg.), Rill-Schäffer-Kommentar Bundesverfassungsrecht (6.  Lieferung), Wien 2010, Rn. 12 ff. mwN.

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Wenn man möchte, kann man auch die mittelbare Bundesverwaltung39 zu den demokratischen Vorkehrungen im Staatsorganisationsrecht des B-VG zählen. Diese Art der Vollziehung dient bestimmt vor allem bundesstaatlichen Interessen und dem Zweck der Sparsamkeit und Effizienz durch weitgehende Vermeidung paralleler Strukturen. Ihr wohnt aber auch – wie dem Einsatz der Gemeinde im so genannten übertragenen Wirkungsbereich40 – der Gedanke inne, staatliche Vollziehung möglichst dezentral dort zu besorgen, wo sie den Bürger*innen am nächsten ist.41 Das schafft Vertrauen oder, juristisch ausgedrückt, Legitimation und gewährt der dezentralen Einheit Einfluss auf den Vollzug – ein Korrektiv zur übergeordneten Gesetzgebungsbefugnis des Bundes, das seinerseits von der vereinheitlichenden Kraft insbesondere der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Schach gehalten wird, damit sich der Vollzug vom demokratischen Gesetz nicht zu weit entfernt. Die wechselseitige Verschränkung dieser Strukturen schafft wiederum Stabilität. Das Bundesheer darf nur auf Anforderung durch die zivile Gewalt im Inneren eingesetzt werden.42 Die allgemeine Wehrpflicht43 sorgt im Prinzip für eine angemessene Repräsentation der Bevölkerung in jenem Teil des Wehrkörpers, der nicht aus Berufssoldaten besteht. Eine Institution, die schließlich nicht vergessen werden darf, wenn über die demokratischen Sicherungen gesprochen wird, die unsere Bundesverfassung in ihrem Organisationsrecht vorsieht, ist der ORF. Meinungsfreiheit und Pluralismus verbieten eine Monopolisierung des Rundfunks, insbesondere beim Staat.44 Das bedeutet aber nicht, dass der Staat sich aus der Organisation dieses Mediums heraushalten müsste. Er hat sich vielmehr im B-VG Rundfunk45 zur Bereitstellung eines unabhängigen, objektiven und ausgewogenen Rundfunkprogramms verpflichtet, das die Meinungsvielfalt berücksichtigt. Dem dient 39 Art. 102 Abs. 1 B-VG. 40 Vgl. Art. 118, 119 f. B-VG. 41 Die österreichische Bundesverfassung verfügt nicht explizit über ein Subsidiaritätsprinzip. Die oben bereits angesprochene (auch wirtschaftliche) Selbstverwaltung der Gemeinden folgt aber immerhin dem Leitgedanken, dass alle jene Aufgaben dorthin ressortieren sollen, die in deren ausschließlichem oder überwiegendem Interesse liegen und von ihnen auch bewältigt werden können (Art. 116, 118 B-VG). 42 Art. 79 Abs. 2 B-VG. 43 Art. 9a Abs. 3 B-VG. 44 EGMR 24.11.1993, 13.914/1988 u. a. (Informationsverein Lentia u. a. gegen Österreich). 45 BGBl. 396/1974.

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die Konstruktion des ORF als Stiftung, die sich selber gehört und durch einen vom pluralistisch zusammengesetzten Stiftungsrat46 bestellten Generaldirektor geleitet wird.47 Im Privatradio- und im Audiovisuelle-Mediendienste-Gesetz übernimmt der Staat außerdem Verantwortung für die Gewährleistung angemessener Anforderungen an privaten Rundfunk einschließlich der Aufsicht über ihre Einhaltung. Ich halte dies für einen weiteren wesentlichen organisatorischen Pfeiler im Tragwerk der Demokratie. Ein ähnlich duales Konzept finden wir auch im Bildungswesen. Die Bundesverfassung erklärt Schule und Universität zur Staatsaufgabe,48 für die demokratische und freiheitliche Grundsätze maßgeblich sind.49 Daneben lässt sie auch private Schulen und Universitäten zu,50 die aber unter der Aufsicht des Staates stehen51 und ebenfalls auf freiheitlich-demokratische Grundwerte verpflichtet werden.52

4. VERFAHREN

Es gibt eine schier unüberschaubare Zahl an Wahlen, deren Verfahren teils in der Bundesverfassung, teils in den Landesverfassungen, Gemeindeordnungen und anderen Gesetzen geregelt ist: Gemeinderats- und Bürgermeisterwahlen, Wahlen zu den satzunggebenden Organen der gesetzlichen beruflichen Vertretungen, HochschülerInnenschafts- und Senatswahlen, ja sogar Vorschriften über Wahlen zur Schülervertretung bis hin zur Klassensprecherwahl finden sich im Gesetz.53 Sie alle beruhen auf ähnlichen Prinzipien, die im Wesentlichen auf eine demokratische Repräsentation der Vertretenen durch die Vertretenden abzielen. Für alle Wahlen gilt, dass ihre Ergebnisse umso eher ak46 § 20 ORF-Gesetz: Sechs Mitglieder bestellt die Bundesregierung unter Berücksichtigung der Kräfteverhältnisse im Nationalrat auf Vorschlag der dort vertretenen Parteien; neun Mitglieder bestellen die Länder; neun Mitglieder bestellt die Bundesregierung, sechs Mitglieder bestellt der Publikumsrat und fünf Mitglieder der Zentralbetriebsrat. 47 § 22 ORF-Gesetz. 48 Art. 17 StGG, Art. 14, 81c B-VG. 49 Art. 14 Abs. 5a, 81c B-VG; einfachgesetzlich § 2 Schulorganisationsgesetz, §§ 2 f. Universitätsgesetz. 50 Art. 17 Abs. 2 StGG, Art. 14 Abs. 7 B-VG, implizit auch Art. 81c B-VG. 51 Art. 17 Abs. 5 StGG. 52 Art. 14 Abs. 5a B-VG, § 2 Privatschulgesetz. 53 § 59a Schulunterrichtsgesetz.

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zeptiert werden, wenn die Regeln transparent, fair und allgemein gültig sind, nach denen sie abgehalten werden, und wenn sie auch für Transparenz des Wahlverfahrens sorgen. Stellvertretend für alle diese Wahlverfahren verweise ich auf die Wahl des Bundespräsidenten54 und die Wahlen zum Nationalrat55 und zu den Landtagen, die nach dem Vorbild der Nationalratswahlen zu gestalten sind.56 Mit den dafür aufgestellten Wahlgrundsätzen garantiert die Bundesverfassung eine faire Wahl mit gleichen Chancen und anteiliger Vertretung für alle Strömungen im Parlament, deren Ergebnis umso eher auch von jenen akzeptiert werden kann, die nicht im erhofften Ausmaß zum Zuge kommen. Ob mit dem Begriff des „Bundesvolkes“ Ausländer*innen vom Wahlrecht ausgeschlossen werden, auch wenn sie hier leben und Steuern zahlen, ist nicht restlos geklärt.57 Angesichts der Entstehungsgeschichte58 und der besonderen Bedeutung, die der gezielt den Staatsangehörigen vorbehaltene Gleichheitssatz für die Konstituierung des Bundesvolks hat,59 ist eine solche Deutung aber jedenfalls plausibel und vielleicht erzeugt ja auch gerade sie wiederum eine besondere Identifikation der dann übrig bleibenden Wahlberechtigten mit dem Ergebnis. Im Wahlprüfungsverfahren60 wird außerdem durch den VfGH öffentlich nachvollziehbar überprüft, ob Verletzungen der Wahlgesetze stattgefunden haben, die auf das Ergebnis von Einfluss waren.61 Dieses Ergebnis bestimmt nicht mehr und nicht weniger als das zentrale Organ der Bundesgesetzgebung (im Falle der ähnlich zu wählenden Landtage: der Landesgesetzgebung) und vermittelt so dem Gesetz die demokratische Legitimation, von der in Art.  1 B-VG die Rede ist.62 54 55 56 57

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Art. 60 B-VG. Art. 26 B-VG. Art. 95 B-VG. Vgl. VfSlg.  12.023/1989, 17.264/2004 einerseits und andererseits Magdalena Pöschl, Wahlrecht und Staatsbürgerschaft, in: Metin Akyürek/Dietmar Jahnel/ Gerhard Baumgartner (Hg.), Festschrift Heinz Schäffer, Wien 2006, 633–667, insb. 651–662. Vgl. Hans Kelsen/Georg Fröhlich/Adolf Julius Merkl, Kommentar zur Bundesverfassung 1920, Wien 1922, 94. Siehe oben FN. 16. Art. 141 B-VG. Vgl. Benjamin Kneihs, Von abstrakten und konkreten Möglichkeiten, in: Journal für Rechtspolitik (2016) 4, 279–281 mwN. Vgl. oben bei und in FN. 1.

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Gesetzesvorschläge können direkt aus dem Bundesvolk,63 von einzelnen Abgeordneten oder Ausschüssen des Nationalrates,64 aus dem Bundesrat oder von der Bundesregierung65 und damit in jedem Fall von direkt oder indirekt demokratisch legitimierten Organen kommen.66 Regierungsvorlagen gehen zudem zumeist auf Ministerialentwürfe zurück, die einem breiten Begutachtungsverfahren unterzogen werden;67 aber auch alle anderen Anträge werden im Nationalrat in mehreren Lesungen und zum Teil volksöffentlich diskutiert.68 Das verfassungsmäßige Zustandekommen der Gesetze wird vom Bundespräsidenten beurkundet, dessen Beurkundung wiederum vom Bundeskanzler gegenzuzeichnen ist.69 Die Einhaltung dieser Erzeugungsbedingungen wird vom VfGH im Gesetzesprüfungsverfahren zumindest daraufhin kontrolliert, ob im schlussendlich kundgemachten Gesetz auch der „wahre Wille“ der Volksvertretung zum Ausdruck kommt.70 Die stetige Abänderbarkeit der Gesetze wird von ihr durch eben die Vorschriften über den Gang der Gesetzgebung vorausgesetzt. Die Kompetenzverteilung und das Legalitätsprinzip regulieren lediglich Zuständigkeit und Modalität, aber nicht den Inhalt der Gesetzgebung und die Grundrechte markieren bloß äußerste Grenzen, die dabei nicht überschritten werden dürfen. Der rechtspolitische Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers ist daher relativ groß. In der Möglichkeit des Wechsels der Mehrheiten liegt daher immer auch eine Möglichkeit des Wechsels der Politik. Die Bundesverfassung räumt mit anderen Worten allen demokratischen Kräften71 die gleiche Chance auf Ver63 64 65 66

67

68 69 70

71

Volksbegehren; siehe oben bei FN. 13. Initiativ- und Ausschussantrag (Art. 41 Abs. 1 B-VG). Regierungsvorlage (Art. 41 Abs. 1 B-VG). Der Vorwurf der Exekutivlastigkeit der Gesetzgebung (statt aller Lienbacher, Autokratieresistenz, 79–80) geht schon deshalb ins Leere. Das Gleiche gilt für die Annahme von Gesetzesentwürfen, die de facto außerhalb des Parlaments konzipiert worden sind (Lienbacher, Autokratieresistenz, 80–81). Relativierend Peter Bußjäger, Art. 41 B-VG, in: Benjamin Kneihs/Georg Lienbacher (Hg.), Rill-Schäffer-Kommentar Bundesverfassungsrecht (3. Lieferung), Wien 2004, Rn. 22. Art. 32 B-VG. Art. 47 B-VG. VfSlg.  16.151/2001; vgl. Heinz Schäffer†/Benjamin Kneihs, Art.  140 B-VG, in: Benjamin Kneihs/Georg Lienbacher (Hg.), Rill-Schäffer-Kommentar Bundesverfassungsrecht (18. Lieferung), Wien 2017, Rn. 16. Zum Verbotsgesetz als einziger relevanten inhaltlichen Schranke Lienbacher, Autokratieresistenz, 88–89, mit demokratischen Bedenken; vgl. demgegenüber aber

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wirklichung ihrer Vorstellungen ein. Das Recht folgt in Österreich insoweit tatsächlich der Politik.72 Das ist aber nicht unbedingt ein Nachteil und schon gar kein Skandal. Vielmehr verschafft es den vom Parlament beschlossenen Gesetzen Transparenz, Nachvollziehbarkeit und jene demokratische Legitimation, die dafür sorgt, dass die Rechtsordnung wenigstens im Großen und Ganzen effektiv bleibt.73 Auch der Bundespräsident wird vom Bundesvolk auf Grund des gleichen, unmittelbaren, persönlichen, freien und geheimen Wahlrechtes der zum Nationalrat wahlberechtigten Männer und Frauen gewählt.74 Diese Wahlgrundsätze garantieren ebenfalls eine faire Wahl, deren Ergebnis am Ende auch – allenfalls nach einer Anfechtung und dem entsprechenden Wahlprüfungsverfahren vor dem VfGH75 – von den unterlegenen Kandidat*innen akzeptiert werden kann. Dies ist umso wesentlicher, als dieses Ergebnis nicht mehr und nicht weniger als jene Person bestimmt, von der die Ernennung und Entlassung des Bundeskanzlers und der übrigen Bundesminister,76 die Auflösung des Nationalrates77 und die Ernennung der Richter*innen sowie weiterer wichtiger Funktionäre und Funktionärinnen abhängig ist.78 In Zivil- und Strafrechtssachen sieht die Bundesverfassung einen Obersten Gerichtshof (OGH) als oberste Instanz vor. Die vereinheitlichende Kontrolle über die Verwaltungsgerichte übt vor allem ein ebenfalls von der Bundesverfassung vorgesehener VwGH aus.79 Für beide Gerichtshöfe gilt der Grundsatz

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73 74 75 76 77 78 79

z. B. Birklbauer/Kneihs, Art. I Verbotsgesetz, Rn. 9 ff., insb. Rn. 11 (keine Grundrechtsverwirkung), Rn. 12 (zur Meinungsfreiheit), Rn. 13 (zur Vereins-, Versammlungs- und Parteienfreiheit), Rn. 14 (zum Gleichheitssatz) und Rn. 15 f. (zur Demokratie) sowie Benjamin Kneihs, Art.  17 EMRK, in: Benjamin Kneihs/Georg Lienbacher (Hg.), Rill-Schäffer-Kommentar Bundesverfassungsrecht (13.  Lieferung), Wien 2014, Rn. 6, 9. Vgl. aber die hitzige Diskussion um den so lautenden Ausspruch des damaligen Bundesministers für Inneres, Herbert Kickl: Richterpräsidentin sieht Rechtsstaat in Gefahr, Wiener Zeitung, URL: https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/politik/oesterreich/1014705-Richterpraesidentin-sieht-Rechtsstaat-in-Gefahr.html (abgerufen am 20. 1. 2021). Siehe unten bei FN. 97. Art. 60 Abs. 1 B-VG. Vgl. insb. VfSlg. 20.071/2016. Art. 70 B-VG. Art. 29 B-VG. Art. 65, 66 B-VG. Vgl. im Einzelnen Kneihs, Die „demokratische Republik“, 73–77. Daneben werden die Beschlüsse und Erkenntnisse der Verwaltungsgerichte unter

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der richterlichen Selbstergänzung: Die dort jeweils offenen Planstellen werden auf Vorschlag richterlicher Gremien80 besetzt.81 Nur für den Präsidenten und Vizepräsidenten des VwGH schlägt die Bundesregierung dem Bundespräsidenten ohne Bindung an derartige Vorschläge Personen vor; es gelten aber Unvereinbarkeitsbestimmungen, die eine parteipolitische Voreingenommenheit ausschließen sollen.82 Etwas anders liegen die Dinge beim VfGH. Ihm kommt vor allem als Kompetenz-,83 Wahl-,84 Staats-85 und Normenkontrollgerichtshof86 eine besondere Bedeutung für die hier skizzierten demokratischen Sicherungen zu. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass die Bundesverfassung dem Verfahren der Bestellung seiner Mitglieder nicht nur besondere Aufmerksamkeit widmet, sondern dafür auch spezifische Vorgaben macht.87 Demnach werden der Präsident, die Vizepräsidentin, sechs weitere Mitglieder und drei Ersatzmitglieder ohne Bindung an einen Vorschlag des Gerichtshofs von der Bundesregierung, je drei weitere Mitglieder von National- und Bundesrat nominiert; zwei Ersatzmitglieder nominiert darüber hinaus der Nationalrat, eines der Bundesrat. Ernannt werden sie alle vom Bundespräsidenten.88 Man kann das natürlich als politische Bestellung brandmarken. Man kann die Nominierung und Ernennung durch direkt oder indirekt demokratisch legitimierte Organe aber auch als Legitimation der Verfassungsrichter*innen sehen. Das besondere Vertrauensverhältnis zu einer Partei, die hinter der einen oder anderen Nominierung jeweils steht, relativiert sich erstens durch die

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82 83 84 85 86 87 88

verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten auch nach Art.  144 B-VG vom VfGH kontrolliert. Senate, Vollversammlung. Diese Gremien erstatten ihre Vorschläge der Bundesregierung, die ihrerseits dem Bundespräsidenten entsprechende Vorschläge macht. Vgl. Art.  86 Abs.  1, 134 Abs. 4 B-VG und § 32 Abs. 4 Richter- und Staatsanwaltschafts-Dienstgesetz bzw. § 1 Abs. 4 Verwaltungsgerichtshofgesetz. Art. 92 Abs. 2 und Art. 134 Abs. 5 und 6 B-VG. Art. 126a, 138 B-VG. Art. 141 B-VG. Art. 142 f. B-VG. Art. 139 ff. B-VG. Art. 147 B-VG. Siehe schon oben bei FN. 79. Vgl. dazu außerdem Benjamin Kneihs, Die Verfassungsgerichtsbarkeit 1918 bis 2018. Kontinuität – Brüche – Kompromisse, in: Zeitschrift für öffentliches Recht (2020) 4, 885–913, insb. 899, 906–907.

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Unabhängigkeit, Unversetzbarkeit und Unabsetzbarkeit,89 zweitens durch die lange Amtsdauer90 der Mitglieder und drittens durch den Wechsel der politischen Mehrheiten und Koalitionen über die Zeit.91 Hinzu kommt, dass im Plenum der Verfassungsrichter*innen eine Übereinkunft (Mehrheit der stimmberechtigten Mitglieder) gefunden werden muss,92 was eine juristische fachliche Diskussion (und nicht den Austausch von parteipolitischen Positionierungen) voraussetzt. Nicht von ungefähr ist die Ernennung der Mitglieder der Verfassungsgerichtsbarkeit fast überall in Europa ein solcher oder ähnlicher „politischer“ Prozess.93

5. SCHLUSS

Von Ernst-Wolfgang Böckenförde stammt der Satz, wonach die Verfassung von Voraussetzungen lebt, die sie selbst nicht garantieren kann.94 Damit ist im Kontext der Äußerung erkennbar gemeint, dass die Freiheitlichkeit, Rechtsstaatlichkeit und demokratische Reife einer Rechtsordnung von der Gesinnung, Standhaftigkeit und Offenheit der Gesellschaft abhängig ist, die sie organisiert. Das klingt einleuchtend, ist aber insoweit eine Binsenweisheit, als es nichts anderes umschreibt als eine der wesentlichsten Geltungsbedingungen jedweden Rechts: Eine Rechtsordnung gilt nur, wenn sie wenigstens im Großen und Ganzen effektiv ist.95 Erreicht sie die Gefolgschaft der Gesellschaft nicht, bleibt sie ein politisches Projekt; verliert sie diese Gefolgschaft, wird sie zu einem historischen Phänomen.96 In beiden Fällen scheidet sie dann aber aus dem Be89 Art. 147 Abs. 6 iVm. Art. 87, 88 B-VG. 90 Art. 147 Abs. 6 B-VG. 91 So hat etwa die ÖVP-FPÖ-Koalition durch die Nominierung FPÖ-naher Mitglieder nicht nur eine schwarz-blaue, sondern auch eine rot-blaue Mehrheit im Gremium geschaffen, die nun nicht unbedingt zum Vorteil der aktuellen Koalition und parlamentarischen Mehrheit agiert. 92 § 32 Verfassungsgerichtshofgesetz. 93 Armin Glatzmeier, Gerichte als politische Akteure, Baden-Baden 2019, 363–367 mwN. und Schaubildern. 94 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt a. M. 1976, 60. 95 Clemens Jabloner, Der Rechtsbegriff bei Hans Kelsen, in: Stefan Griller/Heinz Peter Rill (Hg.), Rechtstheorie. Rechtsbegriff – Dynamik  – Auslegung, Wien 2011, 21–39, 29–36. 96 Setzt sich eine neue Rechtsordnung effektiv durch, die nicht auf die vorangegan-

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trachtungsfeld der dogmatischen Rechtswissenschaft aus. So gesehen ist die Aussage dann aber auch falsch. Solange nämlich eine Rechtsordnung effektiv ist, beeinflusst sie auch die Gesellschaft und ihre Teile. Sie steuert das Verhalten der Normunterworfenen und kanalisiert den politischen Prozess. So kann sie in ihrem Straf- und Zivilrecht zu Rechtsfrieden und Wohlstand, in ihrem Abgabenrecht zu einer angemessenen Verteilung der Lasten, durch ihre verfassungsrechtlichen Spielregeln zur Rechtsstaatlichkeit und demokratischen Reife und durch ihre Grundrechte zur Freiheitlichkeit der Gesellschaft einen maßgeblichen Beitrag leisten. Stellt die Rechtsordnung außerdem noch Institutionen zur Verfügung, denen sie den Schutz dieser Güter überträgt, dann stellt sie damit die Voraussetzungen sicher, von denen sie lebt.

gene zurückzuführen ist, die also einen Bruch der Kontinuität darstellt, sprechen wir von einer Revolution; vgl. Benjamin Kneihs, Rente und Revolution. Zum Schicksal prärevolutionärer Ansprüche und Anwartschaften im postrevolutionären System, in: Zeitschrift für öffentliches Recht (2007) 4, 501–535, 507–508.

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Reinhard Heinisch/Susanne Rhein

NARRATIV GEGEN DIE ANGST UM DIE DEMOKRATIE: DIE INSTITUTIONALISTISCHE PERSPEKTIVE

1. EINLEITUNG

Gegenwärtig scheint es schwer, über Narrative gelungener Demokratie aus politikwissenschaftlicher Sicht zu schreiben. Allenthalben befindet sich die Demokratie unter Druck. In der englischsprachigen Demokratieforschung wird von backsliding gesprochen. Dies geschieht mittlerweile nicht nur in jenen Staaten, wo die Demokratie nie so richtig Fuß gefasst hat, wie etwa in Russland oder der Türkei, sondern auch in den Demokratien Mittel- und Osteuropas ebenso wie in den USA. Auch ist uns noch gegenwärtig, dass man vor nicht allzu langer Zeit durchaus die Vorstellung haben konnte, totalitäre Staaten wie China oder Kuba könnten sich einer nachhaltigen politischen Liberalisierung nicht entziehen. Mittlerweile müssen wir Rückschritte sogar in Staaten der Europäischen Union konstatieren, wie etwa in Polen und ganz besonders in Ungarn. Jenseits von Europa hat die Demokratie besonders herbe Rückschläge zu verzeichnen: Nach Venezuela, Nicaragua, Ägypten oder Myanmar mit ihren mittlerweile klar repressiven Systemen finden wir weichere Formen illiberaler Demokratie etwa in Bolivien, Honduras oder Guatemala. Diese Staaten fügen sich in eine lange Liste autoritärer Systeme, in denen Öffnungsschritte entweder nie stattfanden oder sich nicht durchsetzen konnten. Dazu zählen etwa die Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, wie Belarus, Aserbeidschan, Turkmenistan und Usbekistan, ebenso wie der Iran, die meisten Staaten in Nord- und Zentralafrika und in der arabischen Welt sowie Teile Ostasiens. Der Mangel an gelungenen Narrativen ist jedoch nicht nur dem backsliding geschuldet, sondern auch der vielfachen Kritik an den etablierten demokratischen Systemen. Das Zusammenwirken von demokratiepolitischen Rückschritten in verschiedenen politischen Systemen einerseits und zunehmender Kritik an der bestehenden Demokratie andererseits ist ein charakteristisches Phänomen unserer Zeit. Während etwa in den 1960er Jahren die Kritik am

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Reinhard Heinisch/Susanne Rhein

System auf bestimmte Gruppen und ideologische Strömungen beschränkt blieb, gibt es heute Systemkritik von links bis rechts. Das Auffällige an den Demonstrationen von Gegnern der Anti-Corona-Maßnahmen war etwa, dass mehrfach Regenbogenfahnen und Reichsflaggen gleichzeitig zu sehen waren und somit die ideologischen Unterschiede zwischen ganz links und ganz rechts offenbar geringer waren als die Distanz zur herrschenden Demokratie. Rückwärtsgewandtheit und Kritik an der Demokratie gehen mit dem Aufstreben populistischer und nationalistischer Bewegungen und Parteien einher, welche wiederum in Verbindung mit neuen digitalen Informationsmedien die öffentliche Meinung mit systemfeindlichen Botschaften auch gegen demokratische Institutionen mobilisieren. So glauben etwa 70 Prozent der republikanischen Wähler*innen in den USA, dass die Wiederwahl Donald Trumps von den Demokraten durch Wahlmanipulation „gestohlen“ worden sei. Wie das Problem genau zu diagnostizieren ist, darüber ist sich die wissenschaftliche Gemeinschaft uneins. In der empirischen Politikwissenschaft gibt es im Wesentlichen zwei gegensätzliche Debatten, deren Positionen im Folgenden näher erläutert werden sollen. Auf der einen Seite gibt es den Ansatz, der von einem Niedergang der Demokratie selbst ausgeht, also von einem Wertewandel in der Bevölkerung der westlichen Länder, die aufgrund der negativen Auswirkungen von Modernisierung und Globalisierung den Glauben an die Demokratie als System verliert und sich illiberalen und autoritären Werten und Heilsversprechen zuwendet.1 Andere finden dafür allerdings wenig empirische Belege. Eine ähnlich pessimistische These, die aber auf anderen Annahmen beruht, lautet, dass die Bürger*innen zwar immer noch demokratische Werte hochhalten und lieber in Demokratien leben, aber von den bestehenden Institutionen und politischen Führern desillusioniert sind und deshalb für einen radikalen Wandel eintreten. Sie beschuldigen die Politik, die Bevölkerung nicht ausreichend vor den negativen Auswirkungen des wirtschaftlichen und sozialen Wandels der letzten Jahrzehnte zu schützen.2 1

2

Vgl. Herbert Kitschelt, Citizens, Politicians, and Party Cartellization. Political Representation and State Failure in Post-Industrial Democracies, in: European Journal of Political Research 37 (2000), 149–179; vgl. William A. Galston, The populist challenge to liberal democracy, in: Journal of Democracy 29 (2018) 2, 5–19; vgl. Herbert Kitschelt/Anthony J. McGann, The radical right in Western Europe. A comparative analysis, Ann Arbor, MI 1997. Vgl. Hanspeter Kriesi/Willem Saris/Paolo Moncagatta, The structure of Europeans’ views of democracy: citizens’ models of democracy, in: Mónica Ferrín/Hanspeter Kriesi (Hg.), How Europeans view and evaluate democracy, Oxford/New York

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Narrativ gegen die Angst um die Demokratie

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Unter diesen Umständen ist es schwierig, an erfolgreiche Narrative der Demokratie zu denken. Dennoch begann der Konferenzvortrag zu diesem Kapitel des Buches mit dem Hinweis auf Brad Raffensperger, Staatssekretär des US-Bundesstaates Georgia. Dieser Amtsinhaber sollte in gewissem Sinne zu einer Art Symbolfigur und Hoffnungsträger für erfolgreiche Demokratie werden, deren Narrativ wir hier nachgehen wollen. Wohlgemerkt, wir sprechen hier keinesfalls von einer Lichtgestalt der Demokratiebewegung, sondern von einem Republikaner in einem konservativen Bundesstaat, der nichts weiter tat, als sein Amt auszuüben. Weder sein Pflichtbewusstsein noch besonders ausgeprägte liberaldemokratische Überzeugungen haben ihn dabei speziell ausgezeichnet – im Verlauf der Ereignisse hat er sich sogar von seinen eigenen Handlungen distanziert –, dennoch hat er jene ihm vom demokratischen System zugewiesene Rolle im Moment der Krise und trotz gegenläufiger politischer Versuchungen erfüllt: Indem er einfach seinem Amtsverständnis folgte, widerstand er den Verlockungen und Drohungen des mächtigsten Mannes der Welt, also jenen des US-Präsidenten Donald Trump, und dem Druck vieler Parteikolleg*innen, das Endergebnis der Präsidentschaftswahl in Georgia nicht zu bestätigen. Dies hätte Trump die Möglichkeit gegeben, erfolgreich Einspruch gegen die Anerkennung des Wahlergebnisses einzulegen. Was ist also das Narrativ einer erfolgreichen Demokratie? Konkret erleben wir in etablierten Demokratien immer wieder, dass Jurist*innen, Journalist*innen, Beamte und Beamtinnen, Pädagog*innen und andere jene institutionellen Rollen erfüllen, die in entscheidenden Momenten die liberale Demokratie stärken. Der Erfolg besteht in der Robustheit der Institutionen der liberalen Demokratie mit ihren Regeln, Normen und Rollen, die gerade in solchen alteingesessenen Systemen ein Bollwerk gegen demokratiepolitische Rückschritte sein können. Die vier Jahre unter der Präsidentschaft Trumps in den Vereinigten Staaten bieten dafür viele Beispiele. Diese finden sich aber nicht nur dort, auch in Österreich hat die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft Ermittlungen gegen einen amtierenden und äußerst populären Bundeskanzler, gegen den Finanzminister und zahlreiche andere Personen der parteipolitischen Elite und sogar gegen Spitzenbeamte im eigenen Justizressort eingeleitet. Damit soll 2016, 64–89; vgl. Hanspeter Kriesi, The implications of the euro crisis for democracy, in: Journal of European Public Policy 25 (2018) 1, 59–82; vgl. Christoffer Green-Pedersen, A giant fast asleep? Party incentives and the politicization of European integration, in: Political Studies 60 (2012) 1, 115–130; vgl. Liesbet Hooghe/ Gary Marks, Cleavage theory meets Europe’s crises. Lipset, Rokkan, and the transnational cleavage, in: Journal of European Public Policy 25 (2018) 1, 109–135.

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Reinhard Heinisch/Susanne Rhein

hier keine Aussage über Schuld und Unschuld von Politiker*innen getroffen werden – diese sind oft auch Opfer von haltlosen Anschuldigungen durch politische Gegner –, sondern es geht um das Prinzip, dass die Mächtigen den gleichen Gesetzen unterstehen und solche Ermittlungen möglich sein müssen, will der demokratische Rechtsstaat gewahrt bleiben. Bevor wir die Demokratie und erfolgreiche Narrative näher beleuchten, folgt ein Überblick über die Entwicklung der Demokratie aus politikwissenschaftlicher Sicht und ein Abriss der aktuellen Herausforderungen, um zu zeigen, warum diese so gefährdet ist und liberale Institutionen so notwendig sind.

2. DER SIEGESZUG DER LIBERALEN DEMOKRATIE WESTLICHER PRÄGUNG

Wenn wir einen Blick zurück in die Geschichte werfen, haben wir es im 20. Jahrhundert mit einem Wettbewerb der Ideologien und der darauf basierenden Herrschaftssysteme zu tun.3 Auf der einen Seite steht die aus Großbritannien und den Vereinigten Staaten importierte westliche liberale Demokratie, die wiederum ihre Wurzeln in der griechischen Antike, dem britischen Liberalismus und der französischen Aufklärung hat. Auf der anderen Seite befinden sich jene autoritären und totalitären Ideologien, die vor allem im 19. Jahrhundert entstanden sind und im 20. Jahrhundert zu konkreten Herrschaftssystemen wie den verschiedenen Formen des Faschismus und Kommunismus geführt haben. Der Wesenskern der liberalen Demokratie ist, dass es neben Mehrheitsprinzip und Wahlen auch eine Begrenzung der Macht des Staates und der Regierung gibt. Im US-amerikanischen System der sogenannten checks and balances kommt diese wechselseitige Begrenzung wohl am besten zum Ausdruck. Es herrscht dort nicht nur eine Gewaltenteilung, also eine Aufgabenverteilung, sondern auch eine gegenseitige Kontrolle und, wenn notwendig, Blockade. In jedem Fall geht die liberale Demokratie von der Idee des limited government aus, also von der Vorstellung, dass auch eine noch so populäre Regierung in ihrer Macht begrenzt ist. Der liberale Kern solcher Regime widerspricht somit zentralen demokratischen Prinzipien, da der Mehrheitswille nicht beliebig durchsetzbar ist. Dies wird somit häufig als Schwäche gegenwärtiger Demokratien ausgelegt. 3

Vgl. Francis Fukuyama, The end of history? In: The national interest 16 (1989), 3–18.

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Im Wettbewerb mit autoritären Herrschaftssystemen hat sich jedoch im Laufe des 20. Jahrhunderts die ursprünglich als schwach empfundene Demokratie in vielen Teilen der Welt durchgesetzt. Trotz verschiedener Rückschläge geschah dies in etwa drei großen Wellen. Nach der ersten Welle in den Jahren vor und nach dem Ersten Weltkrieg und der zweiten nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte am Ende des Kalten Krieges die dritte und wohl umfangreichste.4 Das Jahr 1989 wurde nicht umsonst vom damaligen EU-Präsidenten Jacques Delors als annus mirabilis bezeichnet. Infolgedessen kam es vor allem in Mittel- und Osteuropa, aber auch in Teilen Lateinamerikas, Asiens und Afrikas, insbesondere Südafrikas, zu beispiellosen Fortschritten der Demokratie. Wenn wir vom Siegeszug der Demokratie westlicher Prägung sprechen, meinen wir nicht, dass nach 1989 überall demokratische Verhältnisse herrschten. Das war in vielen Reformstaaten auch nach der dritten Welle nicht der Fall. Dennoch war es für autoritäre Regime immer schwieriger geworden, undemokratische Verhältnisse zu rechtfertigen. Es war notwendig, zumindest den Anschein demokratischer Legitimität zu erwecken oder demokratische Reformen vorzutäuschen. Deshalb sahen wir selbst in Putins Russland oder auch in Myanmar politisch liberalere Verhältnisse, als sie gegenwärtig herrschen. Die Stärke der demokratischen Idee zeigt sich nicht in der Perfektion ihrer Umsetzung, sondern in der Tatsache, dass selbst autoritäre Regime meinten, die Fiktion demokratischer Verhältnisse aufrechterhalten zu müssen, oder dass sie, wie in Myanmar, sogar bereit waren, für einige Zeit die Macht zu teilen. Eine wesentliche Voraussetzung für den Sieg der westlichen Demokratie war das Versprechen von Wohlstand und individueller Selbstbestimmung. Es galt also in vielen Entwicklungsländern die Formel, dass, wer einen westlichen Lebensstandard möchte, auch ein pluralistisches und liberaldemokratisches System unterstützen müsse. Staaten wie Deutschland, Italien, Japan und schließlich Süd-Korea sind hier prägnante Beispiele, da sie sich nicht nur zu mustergültigen Demokratien entwickelten, sondern auch zu großem Wohlstand gelangten. Niemand brachte dies gegen Ende der 1980er Jahre so pointiert auf den Punkt wie der Spät-Hegelianer Francis Fukuyama mit seiner These vom Ende der Geschichte5. Im Hegel’schen Sinne schreitet die Geschichte in dialektischer Dynamik durch den Zusammenprall ideeller Gegensatzpaare voran. Wenn jedoch der These die Anti-These abhandenkommt, kommt auch diese Dynamik 4 5

Vgl. Samuel P. Huntington, The third wave. Democratization in the late twentieth century, Bd. 4, Norman, OK 1993. Vgl. Fukuyama, The end of history, 3–18.

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zum Stillstand. Auch wenn sich Fukuyamas Erwartung einer allumfassenden Durchsetzung der westlichen Demokratie nicht erfüllt hat und die Geschichte inzwischen noch keineswegs an ihr Ende gekommen ist, so war seine These doch enorm einflussreich. Aus heutiger Sicht erscheinen seine Annahmen anmaßend, aber sein Werk bleibt eine Erinnerung an den damaligen Optimismus, den Zeitgeist und die großen Erwartungen am Ende des Kalten Krieges.

3. DER WET TBEWERB DER DEMOKRATIEFORMEN

Im 20. Jahrhundert entwickelte sich nicht nur ein Wettkampf zwischen autoritären Herrschaftssystemen und der Demokratie, sondern auch ein Wettbewerb der Demokratieformen untereinander.6 Der Grund dafür ist, dass durch die Entscheidung für eine bestimmte Demokratieform manchmal Elemente, die eine andere Form auszeichnen, nicht mehr umsetzbar sind. Trotzdem ist es auch möglich, bestimmte Demokratietypen zu kombinieren, wenn diese unterschiedliche Prozesse im politischen System betreffen. Dieser Kampf um Geltung wird durch die Reibungspunkte zwischen liberalen und majoritären Formen, repräsentativen und direkten Formen sowie der Konkordanz- und der Konkurrenzdemokratie deutlich. Der liberalen Demokratie mit ihrer begrenzten Macht für die Herrschenden standen immer auch andere Formen gegenüber. Insbesondere die majoritäre Demokratie, die darauf bedacht ist, politische Entscheidungen nach dem Mehrheitswillen zu formen, war von Anfang an auch eine Herausforderung für die liberale Demokratie und erfreut sich in Zeiten populistischer Politik zunehmender Beliebtheit.7 Intuitiv hat man den Eindruck, die liberale Demokratie habe einen schwereren Stand, vertritt sie doch die Position, dass der Mehrheitswillen vor dem Rechtsstaat und den Minderheitenrechten zurückzuweichen hat. Selbst einer mit Mehrheit ausgestatteten Regierung sind Grenzen gesetzt. Daher ist es verständlich, dass Politiker*innen und politische Parteien erfolgreich darin sind, den Menschen die Ideale der Mehrheitsdemokratie effektiv zu vermitteln, und dass deren Narrative gegenwärtig an Popularität gewinnen. Wie die Vergangenheit gezeigt hat, setzte sich im Wettbewerb der demokratischen Systeme in der Regel dennoch die liberale Demokratie durch, die allerdings auch in unterschiedlichen Formen existiert. 6 7

Vgl. Robert A. Dahl, On democracy, New Haven CN 2020. Vgl. Peter Mair, Populist Democracy vs. Party Democracy, in: Yves Mény/Yves Surel (Hg.), Democracies and the Populist Challenge, Basingstoke 2002, 81–98.

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Liberale und majoritäre Demokratien fokussieren sich darauf, die Bedeutung des Mehrheitswillens für politische Entscheidungen zu determinieren. Sie sind deswegen mit repräsentativen und direkten Demokratieformen vereinbar, da diese sich ebenfalls auf unterschiedliche Prozesse der Entscheidungsfindung beziehen. In einer repräsentativen Demokratie wählt das Volk diejenigen, die die Entscheidungen treffen, in der direkten Demokratie trifft das Volk die Entscheidungen selbst. Obwohl diese Unterschiede zwischen den Demokratieformen bestehen, scheint es häufig so, als würden Mehrheitsdemokratien und direkte Demokratien einander ähneln. Ein Grund dafür ist, dass Rechtspopulist*innen oft sowohl für die direkte als auch für die majoritäre Demokratie eintreten – vordergründig immer mit dem gleichen Ziel: dem Volkswillen in der Politik mehr Geltung zu verschaffen. Sowohl Instrumente der direkten als auch der majoritären Demokratie sind in der Lage, dies zu bewirken, da sie der Mehrheit einen ungefilterten Einfluss auf politische Entscheidungen garantieren. Bei der direkten Demokratie geschieht dies durch den Wegfall von Repräsentanten. In majoritären Systemen sichert die Abwesenheit von Liberalismus, dass der Mehrheitswille verwirklicht werden kann, auch wenn er auf Kosten vulnerabler Gruppen durchgesetzt wird. Hierbei zeigt sich, dass unterschiedliche Demokratieformen, auch wenn sie unterschiedliche Elemente des politischen Systems betreffen, ähnliche Ergebnisse erzielen können. Kontrastiert man repräsentative und direkte Demokratien, so zeigt sich, dass beide Arten Vor- und Nachteile haben. Die Schwachstellen der repräsentativen Demokratie sind hinlänglich bekannt: intransparenter Interessenabtausch, „abgehobene“ Entscheidungsträger und Einflussnahme von Insidern. Als effektives Mittel gegen die Auswüchse der repräsentativen Demokratie gilt daher die direkte Demokratie. Allerdings: Bei zu vielen Volksabstimmungen, wie das Beispiel Schweiz ersichtlich macht, neigt der rationale homo politicus, der auch ein homo oeconomicus ist, vielfach zum Glauben, dass der Aufwand, zu jeder Abstimmung zu gehen, in keinem Verhältnis zum persönlichen Nutzen stehe, und tendiert daher zum Zuhausebleiben. Damit entsteht jedoch die Situation, dass Entscheidungen mit enormer Tragweite von relativen Minderheiten getroffen werden – und im Gegensatz zur repräsentativen Demokratie ohne Interessenabtausch und Kompromissbildung. Gut nachvollziehbar war dies beim Brexit. Bei allen Meinungsumfragen war der harte Brexit eine von drei Minderheitenpositionen gemeinsam mit soft Brexit (Großbritannien bleibt zumindest im Binnenmarkt) und remain (Verbleiben in der EU). Dennoch wurde die Entscheidung lediglich zwischen zwei einander ausschließenden Optionen gefällt, wobei letztlich eine Form des harten

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Brexit Wirklichkeit wurde.8 Sowohl im britischen Parlament als auch in der Bevölkerung hatten die beiden Positionen, nämlich die eines Verbleibens im Binnenmarkt und die des Verbleibens in der EU, gemeinsam eine Mehrheit. In einem rein repräsentativen Verfahren hätte sich wohl ein Kompromiss analog zum ursprünglichen Plan (Chequers plan) von Premierministerin Theresa May durchgesetzt. Aufgrund des Alles-oder-nichts-Prinzips bei Volksabstimmungen können sich Positionen der Mitte nur schwer durchsetzen, auch wenn die Bevölkerung tendenziell die Mitte bevorzugt. Grundsätzlich ist es ein Problem, wenn die Wahlbeteiligung sinkt und die Teilnahme sich auf die besonders Motivierten beschränkt, da Volksentscheide dadurch zu Magneten für verärgerte Bürger*innen und mobilisierte Randgruppen werden, aber weniger repräsentativ für die Mitte des Meinungsspektrums sind. Auch geht es bei direktdemokratischen Entscheidungen nicht immer um die Sache an sich, vielmehr wird diese von politischen Parteien gerne als Mobilisierungsvehikel oder für einen Zwischenwahlkampf instrumentalisiert. Direktdemokratische Verfahren haben andererseits den Vorteil einer hohen Output-Legitimität. Das heißt, dass sie trotz knapper Entscheidungen bei stark gegensätzlichen Positionen von der Bevölkerung eher akzeptiert werden als andere Formen der Entscheidungsfindung, etwa mühsam erzielte Kompromisse in den Gremien der repräsentativen Demokratie.9 Für Österreich ist die Form der Konkordanz- oder Konsensdemokratie relevant, die im Gegensatz zur Konkurrenzdemokratie steht, wie sie vor allem in angelsächsischen Ländern existiert. In den kontinentaleuropäischen Demokratien, die vor allem in der Vorkriegszeit von scharfen sozialen Konflikten, politischer Spaltung und letztlich zunehmendem Autoritarismus geprägt waren, haben sich Formen der Konsensdemokratie durchgesetzt, die wiederum in gemäßigten und ausgeprägten Formen existieren. In der moderaten Form zwingt das Wahlsystem, insbesondere wenn es auf dem Verhältniswahlrecht basiert, die politischen Akteur*innen zur Koalitionsbildung und Kooperation, was in der Regel für einen Interessenausgleich und eine Politik der Mitte sorgt. In der ausgeprägten Form dieses Demokratietypus verbinden sich die politischen Ausgleichsmechanismen auch mit denen der wirtschaftlichen Steuerung, der Arbeitsmarktpolitik und des Wohlfahrtsstaates. Somit spricht man 8 9

Vgl. Anand Menon/Brigid Fowler, Hard or soft? The politics of Brexit, in: National Institute Economic Review 238 (2016) 1, 4–12. Vgl. Kristof Jacobs/Agnes Akkerman/Andrej Zaslove, The voice of populist people? Referendum preferences, practices and populist attitudes, in: Acta Politica 53 (2018), 517–541.

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von Konkordanzdemokratie und Korporatismus, in Österreich von Sozialpartnerschaft.10 In dieser Variante sind parteipolitische und wirtschaftspolitische Akteure miteinander verflochten, wobei das gesellschaftliche Ziel der sozialen und politischen Stabilität Vorrang vor dem Wettbewerbsprinzip hat. Allerdings neigen diese auf sozialen Ausgleich ausgerichteten Systeme zu Intransparenz und Insiderprivilegien (Stichwort Proporz), während sich in wettbewerbsdemokratischen Systemen mit ihrem Winner-takes-all-Ansatz, der besagt, dass sich nur der Kandidat oder die Kandidatin mit den meisten Stimmen durchsetzt, oft soziale Unterschiede verstärken.11 Aufgrund dieser inhärenten Schwächen gerieten beide Formen der Demokratie zunehmend in die Kritik. Infolgedessen entstanden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts neue politische Kräfte, die sich für andere Demokratieansätze, wie die partizipative Form der Demokratie, einsetzten.12 Diese Reformdiskussionen, die aus den verschiedenen Protest- und Bürgerbewegungen der 1960er und 1970er Jahre hervorgingen, richteten sich zum Teil gegen die Dominanz der Institutionen und somit gegen den Liberalismus. Sie setzten hingegen auf mündige und aufgeklärte Bürger*innen.13 Vor dem Hintergrund dieser Reformdiskussionen sind auch zwei andere Demokratieformen, die derzeit debattiert werden, zu betrachten. Dies sind die deliberative Demokratie und die wohl eher nur unter Spezialisten bekannte Stealth-Demokratie.14 Die deliberative Demokratie baut auf dem Prinzip der direkten Bürgerbeteiligung auf. Doch im Gegensatz zu direktdemokratischen 10 Vgl. Arend Lijphart, Patterns of democracy. Government forms and performance in thirty-six countries, New Haven CN 2012. 11 Vgl. Reinhard Heinisch, Populism, Proporz and Pariah: Austria Turns Right, Austrian Political Change, Its Causes and Repercussions, New York 2002. 12 Vgl. Åsa Bengtsson/Mikko Mattila, Direct democracy and its critics, Support for direct democracy and ,stealth‘ democracy in Finland, in: West European Politics 32 (2009) 5, 1031–1048; vgl. Shaun Bowler/Todd Donovan/Jeffrey A. Karp, Enraged or engaged? Preferences for direct citizen participation in affluent democracies, in: Political Research Quarterly 60 (2007) 3, 351–362. 13 Vgl. Fritz Plasser/Peter Ulram, Meinungstrends, Mobilisierung und Motivlagen bei der Volksabstimmung über den EU-Beitritt, in: Anton Pelinka (Hg.), EU-Referendum. Zur Praxis direkter Demokratie in Österreich, Wien 1994, 87–119; vgl. Steffen Mohrenberg/Robert Huber/Tina Freyburg, Love at first sight? Populist attitudes and support for direct democracy, in: Party Politics (2019), 1–12. 14 Vgl. Sebastián Lavezzolo/Luis Ramiro, Stealth democracy and the support for new and challenger parties, in: European Political Science Review 10 (2018) 2, 267–289.

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Entscheidungen bildet das partizipative Instrument in der deliberativen Demokratie eine Art „vierte Gewalt“, die Konsultative. Hierbei geht es weniger um die Entscheidung zwischen fertigen Optionen, sondern vielmehr um die unmittelbare Einbindung der Bürger*innen in das Erarbeiten der Optionen, über die dann entschieden werden soll. Per Losentscheid oder durch Wahl bestimmter Bürgerräte können Vertreter*innen betroffener Bevölkerungsgruppen in schwierige Entscheidungsprozesse eingebunden werden. Im Unterschied zu den üblichen gewählten Repräsentanten, die unterschiedliche Interessen ausgleichen müssen, können diese eigens bestimmten Bürger*innen als Betroffene gezielt die Interessen einer bestimmten Bevölkerungsgruppe vertreten und mithelfen, verschiedene Lösungsvarianten auszuloten. Fraglos gilt die Bürgerpartizipation heute als der zentrale Aspekt der Demokratie. Dennoch wurde diese Auffassung von politischen Beobachter*innen nicht immer universell geteilt. Besonders nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, als große Volksverführer linker und rechter Provenienz, von Massen bejubelt und vielfach demokratisch legitimiert, ihre Regime etablierten, bestimmten für Demokratietheoretiker wie Joseph Schumpeter15 vor allem der Wettbewerb zwischen politischen Alternativen und die Möglichkeit der Entscheidung das eigentliche Wesen der Demokratie. Auch für den bekannten amerikanischen Demokratiewissenschaftler Robert Dahl bestand die ideale Demokratie, die Polyarchy16, zu gleichen Teilen aus Wettbewerb und Partizipation.17 Demzufolge solle alles unternommen werden, um den politischen Wettbewerb zu erhöhen: Dazu zählten vor allem der freie Informationsfluss und die garantierte Einhaltung der Spielregeln, der Rest werde sich, so Dahl, schon von selber einstellen. Das Eigeninteresse und das Streben nach Macht würden Politiker zwingen, auf Wählerwünsche einzugehen. Aus der amerikanischen Politikwissenschaft stammt das Konzept der Stealth Democracy, welches wiederum im klaren Kontrast zur deliberativen Demokratie steht.18 Gewiss sind viele Bürger*innen motiviert, sich in Form der direkten Demokratie einzubringen, ein nicht unerheblicher Teil der Be15 Vgl. John Medearis, Joseph Schumpeter’s two theories of democracy, Harvard University Press 2013. 16 Vgl. Robert A. Dahl, Polyarchy. Participation and opposition, New Haven CN 2008. 17 Vgl. Richard W. Krouse, Polyarchy & participation. The changing democratic theory of Robert Dahl, in: Polity 14 (1982) 3, 441–463. 18 Vgl. John R. Hibbing/Elizabeth Theiss-Morse, Stealth democracy. Americans’ beliefs about how government should work, Cambridge 2002.

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völkerung möchte jedoch eher das Gegenteil, und zwar von der Politik in Ruhe gelassen werden. Diese Bürger*innen würden es vorziehen, wenn die gewählten Vertreter*innen als die Expert*innen in Sachen Politik die anstehenden Aufgaben lösen und die ohnehin sehr beschäftigten Bürger*innen nicht weiter behelligen würden. Konflikte zwischen Regierung und Opposition, kritische Medienberichte oder gar vorgezogene Neuwahlen werden als besonders negativ empfunden, wobei es die Tendenz gibt, nicht jene zu bestrafen, die für die politischen Probleme verantwortlich zu sein scheinen, sondern die Partei, die dafür verantwortlich ist, dass die Bürger*innen mit der anstehenden Thematik und den Folgen „belästigt“ werden. Beispiele dafür finden sich auch in der jüngeren Vergangenheit in Österreich, wo nach dem Sturz einer ÖVP-geführten Minderheitsregierung durch einen Misstrauensantrag der SPÖ im Parlament nicht die ÖVP für das Scheitern mit der Vorgängerregierung bestraft wurde, sondern die SPÖ für den Neuwahlantrag. Bemerkenswert war diesbezüglich auch die enorme Popularität der eher unpolitischen, mit Expert*innen besetzten Übergangsregierung unter Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein, obwohl (oder gerade weil) sie kaum gestaltend tätig war. Es bleibt also eines der Dilemmata der Demokratie, dass die Bürger*innen unterschiedlich motiviert sind und sich entweder intensiv oder gar nicht beteiligen wollen, aber formal alle den gleichen Einfluss haben und alle die gleichen Konsequenzen tragen müssen, was zwangsläufig zu Unzufriedenheit führen muss, die derzeit von Populist*innen stark ausgenutzt wird.

4. DIE LEGITIMATIONSKRISE DER REPRÄSENTATIVEN DEMOKRATIE IN ÖSTERREICH

Die Debatte über verschiedene Demokratieformen verdeutlicht, dass die Ausgestaltung eines demokratischen Systems immer Kompromisslösungen hervorbringt. Die Demokratie-Reformdebatte in Österreich wurzelt in den Stabilitäts- und Konsensmechanismen, die die österreichische Konkordanzdemokratie auszeichnen. Somit sind sowohl die Bemühungen um mehr Partizipation und direkte Demokratie diesen Ursachen geschuldet wie auch der neue Rechtspopulismus, dessen Ziel in Österreich besonders am Anfang das Überwinden der Zweiten Republik und ihrer Mechanismen war.19 19 Vgl. Anton Pelinka, Die geänderte Funktionalität von Vergangenheit und Vergangenheitspolitik. Das Ende der Konkordanzdemokratie und die Verschiebung

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In Österreich wurde diese Demokratie-Reformdebatte im Zusammenhang mit zahlreichen Enthüllungen von Privilegien und Skandalen wahrgenommen, die die innenpolitische Debatte ab Ende der 1970er Jahre prägten. Bundespräsident Rudolf Kirchschläger sprach in diesem Zusammenhang von den berühmten „sauren Wiesen“20, und FPÖ-Chef Jörg Haider forderte gar eine Dritte Republik.21 Es waren aber auch die Grünen und die Liberalen, die mehr Bürgerbeteiligung forderten. Die Debatte über den Niedergang der traditionellen Parteien, die nicht nur in Österreich geführt wird, konzentriert sich auf die Schwächung ihrer Bindung an Wähler*innen, Mitglieder und Aktivist*innen.22 Eine zentrale Idee in diesem Zusammenhang ist, dass Parteien in postindustriellen politischen Systemen zu profillosen Catch-all-Parteien und hoch professionalisierten Organisationen geworden sind.23 Die daraus resultierende Machtkonzentration bei der Parteiführung und die Auslagerung der politischen Strategiebildung an Marketing- und Kommunikationsexperten haben eine Distanz zur Basis und in der Folge auch zur Bevölkerung geschaffen. Die Parteienforschung spricht auch davon, dass sich Parteiensysteme in Kartelle verwandeln und infolgedessen zunehmend versuchen, ihre Macht nicht von Wähler*innen und Parteimitgliedern abzuleiten, sondern durch staatliche Finanzierung und die Besetzung von Posten im Staatsapparat zu generieren. In beiden Fällen distanzieren sich die Parteien zunehmend von ihren Mitgliedern und den ihnen zugeneigten Teilen der Bevölkerung und werden entfremdet und abgekoppelt.24

20

21 22 23 24

der Feindbilder, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 30 (2001) 1, 35–47. Vgl. Sümpfe und saure Wiesen sollen trockengelegt werden. Der Bundespräsident Rudolf Kirchschläger zur Korruption rund um den Bau des Allgemeinen Krankenhauses, Österreichische Mediathek, Ausschnitt aus dem Ö1 Mittagsjournal 20. März 1985, URL: https://www.mediathek.at/unterrichtsmaterialien/suche/detail/ atom/1363E25A-054-00174-000007E8-136311B9/pool/BWEB/ (abgerufen am 19.6.2021). Vgl. Jörg Haider, Die Freiheit, die ich meine, Frankfurt am Main 1993, 167. Vgl. Emilie Van Haute/Anika Gauja (Hg.), Party members and activists, London 2015. Vgl. Richard S. Katz/Peter Mair, Changing Models of Party Organization and Party Democracy. The Emergence of the Cartel Party, in: Party Politics 1 (1995) 1, 17–21. Vgl. Ingrid Van Biezen/Petr Kopecký, The State and the Parties, Public Funding, Public Regulation and Rent-Seeking in Contemporary Democracies, in: Party Politics 13 (2007) 2, 235–254; vgl. Richard S. Katz/Peter Mair, The Cartel Party Thesis, A Restatement, in: Perspectives on Politics 7 (2009) 4, 753–766; vgl. Susan E. Scar-

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Der Niedergang der Großparteien in Österreich hat einerseits spezifische, in der österreichischen Proporzdemokratie verwurzelte Ursachen, andererseits spiegelt er Entwicklungen wider, die wir überall in Westeuropa beobachten können. Das wesentliche Bindeglied dieser politischen Veränderungen in den westlichen Demokratien ist ein soziokultureller Wertewandel25 durch den Übergang vom industriellen zum postindustriellen Zeitalter und das Ende der Nachkriegszeit. In Österreich stieg der Anteil der Angestellten seit den späten 1960er Jahren kontinuierlich an und erreichte 1980 42 Prozent der Erwerbstätigen.26 Die gesellschaftlichen Trends, die sich in dieser Zeit in Österreich entwickelten, gingen mit einem tiefgreifenden Wandel der Lebensstile und kulturellen Werte einher. Der amerikanische Politikwissenschaftler Ronald Inglehart (1977) nannte diesen Umbruch hin zum Postmaterialismus, der sich in Umfragen deutlich zeigte, eine silent revolution. In Österreich brach diese Entwicklung die bestehenden politischen Verhältnisse auf und untergrub die traditionelle Basis, die die großen Parteien in der Bevölkerung hatten. Damals fungierten die Parteien demokratiepolitisch noch faktisch als Bindeglied zwischen ihrer Wählerschaft und dem Staat. Auf der einen Seite konzentrierte sich das mehr oder weniger geschlossene Milieu der Arbeiterschaft oft in Gemeindebauten und Arbeitersiedlungen, flankiert von Freizeiteinrichtungen und Vereinen, die ebenfalls eng mit der SPÖ und den Gewerkschaften verbunden waren. Auf der anderen Seite stand das christlich-konservative Milieu, entweder in Form des städtischen Bürgertums oder der Landbevölkerung, und bildete eine wichtige Säule der ÖVP. In den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg war Österreich de facto ein Zweiparteiensystem. Die beiden Großparteien hatten 1945 das demokratische System der Nachkriegszeit so wiederhergestellt, dass die Gefahr von eskalierenden politischen Konflikten und einer parteipolitischen Radikalisierung, die 1933 zum Sturz der Demokratie geführt hatten, minimiert wurde. Im Mittelpunkt des neuen demokratischen Konsenses stand ein dauerhafter Mechanismus der Machtteilung zwischen den Sozialdemokraten und Konservativen, der die Zuteilung von row, Political Finance in Comparative Perspective, in: Annual Review of Political Science 10 (2007), 193–210. 25 Vgl. Ronald Inglehart, Values, objective needs, and subjective satisfaction among western publics, in: Comparative Political Studies 9 (1977) 4, 429–458. 26 Vgl. Peter Ulram, Political Culture and the Party System in the Kreisky Era, in: Günter Bischof/Anton Pelinka (Hg.), The Kreisky Era in Austria, New Brunswick NJ 1994, appendix 10, 93.

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politischen Positionen in öffentlichen und halböffentlichen Institutionen und Unternehmen proportional zur Wahlstärke der Parteien vorsah („Proporz“). Diese Verschränkung war für die Vertrauensbildung notwendig, da auf diese Weise sichergestellt werden konnte, dass keine Partei hinter dem Rücken der anderen handeln konnte. Die große Koalition, paktierte Politik und die Verlagerung gesellschaftlicher Konflikte in konsensuale Gremien waren allesamt Kennzeichen der österreichischen Demokratie, die zwar auch den Wettbewerb hemmten, jedoch durch Stabilität und steigenden Wohlstand den Parteien und dem demokratischen System insgesamt eine hohe Legitimität verliehen. Im Laufe der Zeit führte dieses System jedoch immer stärker zu einer klientelistischen „Insiderpolitik“. Die zunehmende mediale Berichterstattung über solche Fehlentwicklungen durch eine neue, kritischere Journalistengeneration fiel mit dem oben beschriebenen Wertewandel zusammen. Die so entstehende neue Mittelschicht lebte nicht mehr in geschlossenen Milieus und war somit für die Großparteien schwerer zu rekrutieren. Gleichzeitig traten für diese Wähler*innen die Verdienste der Aufbauzeit weitgehend in den Hintergrund; dafür maßen sie die Legitimität der Großparteien zunehmend an ihrer Fähigkeit, anstehende gesellschaftliche und politische Probleme zu lösen. Davon profitierten vor allem die Grün-Alternativen und die Umweltbewegung. Nur der anfängliche Mangel an professioneller Organisation verhinderte, dass Die Grünen in den frühen 1980er Jahren eine größere Rolle in der nationalen Politik spielten. Von 1980 bis 1985 stieg der Prozentsatz der Wähler*innen, die den Schutz der Umwelt als „sehr wichtig“ einstuften, von 55 auf 76 Prozent.27 Die zunehmende Entfremdung der SPÖ-Wählerschaft von ihrer Partei zwischen Mitte der 1970er und Mitte der 1980er Jahre zeigt sich auch in der sinkenden Parteiidentifikation, sowohl, wenn man nur die Gruppe der Arbeiter*innen (−18 Prozent) für sich betrachtet, als auch gesondert davon alle Personen, die aus einem sozialdemokratischen Milieu stammen (−31 Prozent)28 Die ÖVP konnte zunächst von den Problemen der Sozialdemokraten profitieren, da die Wähler*innen aus der Mittelschicht von den Sozialdemokraten abwanderten. Dennoch scheiterte die Volkpartei 1983 und 1986 mit ihren Versuchen, die Sozialdemokraten zu überholen, da ihr in Form einer neu aufgestellten Freiheitlichen Partei unter Jörg Haider eine Konkurrenz von rechts 27 Vgl. Peter Ulram, Political Culture and the Party System in the Kreisky Era, in: Günter Bischof/Anton Pelinka (Hg.), The Kreisky Era in Austria, New Brunswick NJ 1994, 79–95. 28 Vgl. ebd.

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erwachsen war. Die ÖVP und die SPÖ verloren in der Folge Wähler*innen auf beiden Seiten ihres Spektrums. Der Wertewandel hatte zu einer neuen gesellschaftspolitischen Konfliktachse entlang soziokultureller und postmaterieller Themen geführt, wobei einander auf den jeweiligen Polen die Grün-Alternativen und soziokulturell Liberalen einerseits und die auf Identität und Tradition pochenden Rechtspopulisten anderseits gegenüberstanden. Diese beiden neuen Gruppierungen nahmen nicht nur in Österreich den angestammten Parteien Wähler*innen weg, sie verhinderten vor allem, dass neue Wähler*innen in die Traditionsparteien nachstießen. Die neu entstandene politische Achse passte nur bedingt in die angestammte sozioökonomische Programmatik der Traditionsparteien. Dies führte dort zwangsweise zu Spaltungen und Zielkonflikten, was etwa die Abspaltung der Gruppierung NEOS von der ÖVP ebenso erklärt wie die ständigen Dissense etwa zwischen der SPÖ Burgenland und der Bundesparteiführung unter Rendi-Wagner. Die ehemaligen Großparteien SPÖ und ÖVP haben seit Mitte der 1980er Jahre etwa 50 Prozent ihrer Wähler*innen verloren. Dennoch kontrollierten beide bis in das zweite Jahrzehnt dieses Jahrhunderts beinahe 100 Prozent der Macht im Staat. Aus dieser Diskrepanz ergab sich zwangsweise der Eindruck, dass das repräsentativdemokratische System in Österreich extrem träge sei und dass es ungenügend auf die Veränderungen im Wählerwillen reagiere. Durch die Durchdringung des Beamtenapparats auf Bundes- und Länderebene sowie durch Postenbesetzungen in zahlreichen staatsnahen Unternehmen und Organisationen behielten die Traditionsparteien eine nur langsam abnehmende Machtreserve, die sie von anderen Parteien unterscheidet. Demokratiepolitisch ist diese Machtreserve jedoch nicht legitimiert, da sie nicht mehr dem Wählerwillen entspricht. Dies zeigt eines der Paradoxe der repräsentativen Demokratie auf. Ohne Parteien ist die moderne Demokratie kaum möglich, da nur über Parteien die Interessen in der Bevölkerung artikuliert und aggregiert werden können. Andererseits sind Parteien so konzipiert, dass sie nach Macht streben und natürlich entsprechende Strategien verfolgen, auch jene, sich im Sinne der Selbstbehauptung vom Wählerwillen zu emanzipieren, wenn es opportun ist.29 Das heißt, Parteien sind einerseits für die Demokratie unabdingbar, andererseits jedoch auch ein Problem, wenn sie ihre Machtposition von den Launen des Wahlvolkes zu entkoppeln versuchen oder zu mächtig werden. Die übergroße Rolle der Parteien in Österreich suggeriert auch, dass die Debatte um die Demokratie mit der Debatte über Parteien zusammenfällt. In 29 Vgl. Kaare Strom, A behavioral theory of competitive political parties, in: American journal of political science 34 (1990) 2, 565–598.

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Wahrheit sind diese Diskussionen losgelöst voneinander zu betrachten. Im einen Fall geht es darum zu fragen, ob die Demokratie als beste Regierungsform angesehen wird und welche Demokratieform dies sei. Diese Debatte fokussiert sich auch auf Änderungen in den Einstellungen und Werten der Wähler*innen, wobei die Frage nach den demokratiepolitischen Vorstellungen der Wähler*innen unabhängig von der Rolle bestimmter Parteien und Institutionen erfolgen kann.30 Im anderen Fall wird die Demokratie als System an sich nicht infrage gestellt, jedoch konzentriert sich die Diskussion eher auf die Rolle der Institutionen und Parteien. In Österreich wird die sogenannte Demokratieverdrossenheit häufig mit Parteienverdrossenheit verwechselt. In diesem Kontext ist es wichtig, einen Blick auf die Demokratie-Reformdebatte in Österreich zu werfen.31

5. DIE DEMOKRATIE-REFORMDEBAT TE IN ÖSTERREICH

Wenn man in Österreich von einer Demokratie-Reform spricht, meint man meist eine Reform in Richtung mehr direkter Demokratie. Tatsächlich erreichte die Debatte um eine demokratische Reform nach der Wiederherstellung der großen Koalition in den Jahren nach 2006 einen Höhepunkt. Die damals noch populäre, aber demokratiepolitisch nicht unumstrittene Form der Großen Koalition, die Österreich jahrzehntelang dominierte, führte vor allem bei politischen Beobachter*innen und Oppositionsparteien zu Kritik, zumal die Koalitionsparteien damals deutlich kleinere Teile der Wählerschaft repräsentierten als in den Jahrzehnten zuvor. Die ÖVP präsentierte daraufhin ihr Reformkonzept Demokratie.neu, das Vorschläge zur Neuordnung der direkten Demokratie enthielt, darunter ein rechtsverbindliches Volksbegehren mit einer Mindestunterschriftenzahl von 30 Vgl. Damarys Canache, Citizens’ conceptualizations of democracy, Structural complexity, substantive content, and political significance, in: Comparative Political Studies 45 (2012) 9, 1132–1158; vgl. Ferrín/Kriesi, Europeans; vgl. Susanne Pickel/ Wiebke Breustedt/Theresia Smolka, Measuring the quality of democracy, Why include the citizens’ perspective? In: International Political Science Review 37 (2016) 5, 645–655. 31 Vgl. Sind Sie mit der Art und Weise, wie die Demokratie in Österreich funktioniert, alles in allem gesehen zufrieden? Statista, URL: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/285282/umfrage/umfrage-in-oesterreich-zur-zufriedenheit-mitder-demokratie/ (abgerufen am 28.6.2021).

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zehn Prozent der Wahlberechtigten. Der schließlich 2013 vorgelegte Gesetzesentwurf der Regierung war jedoch deutlich weniger ambitioniert, was bei den Oppositionsparteien (BZÖ, FPÖ, Grüne) auf große Kritik stieß. Eine Proponentengruppe, bestehend aus ehemaligen Politiker*innen, initiierte schließlich das Volksbegehren Demokratie Jetzt!. In der Folge kam es beinahe zu einer Einigung zwischen den Regierungsparteien und den Grünen. Monate später schien ein Kompromiss zwischen SPÖ und ÖVP bezüglich der Rahmenbedingungen für verpflichtende Volksbegehren gefunden zu sein. Aufgrund der Nationalratswahlen im Herbst 2013 konnte über diesen Kompromiss in Form des Demokratiepakets 2013 jedoch nicht mehr abgestimmt werden. Daraufhin initiierte der Nationalrat auf Basis des Demokratiepakets 2013 eine fraktionsübergreifende Arbeitsgruppe unter Einbindung von Expert*innen mit dem Ziel der Stärkung der Demokratie. Die 2015 eingesetzte Enquete-Kommission des österreichischen Parlaments beschäftigte sich einerseits mit dem Ausbau direktdemokratischer Elemente und andererseits mit der Verbesserung der Qualität des Parlamentarismus.32 In acht Sitzungen tauschten sich Parteivertreter*innen einerseits und Expert*innen und ausgewählte Bürger*innen andererseits aus. Als Novum für die Zusammensetzung solcher Kommissionen wurden die Bürgervertreter*innen nach antikem Vorbild per Los aus der interessierten und stimmberechtigten Bevölkerung ausgewählt. Letztere hatten zwar ein Rede-, aber kein Stimmrecht, was dennoch ein wichtiges Zeichen in Richtung deliberativer Demokratie war. Im Verlauf der Tätigkeit der Enquete-Kommission zeigte sich allerdings, dass sich die demokratiepolitische Situation insgesamt verändert hatte. Die spürbare Polarisierung der Bevölkerung im In- und Ausland bremste die Begeisterung für starke direktdemokratische Akzente, vor allem seitens der SPÖ und der an einer Politik des Ausgleichs interessierten Politiker*innen. Erst im Zuge der türkis-blauen Koalition zwischen ÖVP und FPÖ kam es zu einer Regierungsvereinbarung darüber, Volksbegehren, die von mindestens 900.000 Wahlberechtigten unterstützt werden, einer Volksabstimmung zu unterziehen. Dieser Plan endete jedoch mit dem Scheitern der Koalition.

32 Vgl. Tamara Ehs/Stefan Vospernik, Demokratie aus Perspektive der BürgerInnen, in: Reinhard Heinisch (Hg.), Kritisches Handbuch der österreichischen Demokratie. BürgerInnen, Verfassung, Institutionen, Verbände, Wien 2020, 79–117.

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6. DER ZUSTAND DER DEMOKRATIE – DER EMPIRISCHE BEFUND

Im Licht dieser Ereignisse in der österreichischen Politik stellt sich die Frage: Was ist der empirische Befund zum Zustand der Demokratie? In der Tat gibt es zahlreiche empirische Studien und Indizes, die die Qualität der Demokratie und die Einstellung der Bürger*innen zur Demokratie messen. Wenn wir zunächst den globalen Gesamtzustand betrachten, können wir uns auf die folgenden vier transnational vergleichenden Indizes bekannter Forschungseinrichtungen berufen: die Bertelsmann-Stiftung (BS)33, Economist Intelligence Unit (EIU)34, Freedom House (FH)35 und das Varieties of Democracy Institute (V-Dem)36. Obwohl die vier Demokratie-Indizes darin übereinstimmen, dass es einen fortlaufenden Prozess des Niedergangs der Demokratie und der Ausbreitung des Autoritarismus gibt, unterscheiden sie sich doch in den Details und Begriffen, die zur Beschreibung dieser Phänomene verwendet werden. Es ist auch nicht klar, ob Autokratie derzeit die dominierende Kategorie politischer Regime ist. Diese Diskrepanz ist das Ergebnis der jeweils unterschiedlichen Art, politische Regime zu konzeptualisieren und zu messen. So gibt es etwa keinen Konsens über die Klassifizierung jener Regime, die weder eindeutig einer vollen Demokratie noch einer Diktatur entsprechen, weshalb sich unterschiedliche Konzepte wie „mangelhafte Demokratie“ (BTI), „hybrides Regime“ (FH und EIU) oder „Wahlautokratien“ (V-Dem) entwickelt haben. Die EIU stellt fest, dass die demokratische Regression bereits in den 1990er Jahren begann, sich in den 2000er Jahren beschleunigte und in der letzten Dekade ihren Höhepunkt erreichte. Daher lautet die Schlussfolgerung hier, dass 33 Vgl. Sabine Donner, BTI 2020. Resistance to democratic regression and authoritarian rule is growing. Global Findings Democracy, Gütersloh 2020, URL: https:// www.bti-project.org/content/en/reports/global-report-d/global_findings_democracy_2020_EN.pdf (abgerufen am 28.6.2021). 34 Vgl. Democracy index 2019. A year of democratic setbacks and popular protest, EIU 2020, The Economist Intelligence Unit, URL: http://www.eiu.com/topic/democracy-index/ (abgerufen am 28.6.2021). 35 Vgl. Freedom in the World 2021. Democracy under Siege, Freedom House, URL: https://freedomhouse.org/report/freedom-world/2021/democracy-under-siege (abgerufen am 28.6.2021). 36 Vgl. Autocratization Turns Viral. Democracy Report 2021, University of Gothenburg, V-Dem Institute, URL: https://www.v-dem.net/static/website/files/dr/ dr_2021.pdf (abgerufen am 24.5.2021).

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autoritäre Regime derzeit am zahlreichsten sind, mit 57 von insgesamt 167 bewerteten Regierungsformen. Sie übertreffen damit hybride Regime (35) und demokratische Regime (23 volle Demokratien und 52 mangelhafte Demokratien). V-Dem setzt den Beginn der „dritten Welle der Autokratisierung“ in einem ähnlichen Zeitraum an wie EIU, nämlich im Jahr 1994, ab dem sie sich weltweit ausgebreitet habe. Daher gilt für diese Organisation das autokratische System als der häufigste Regimetyp. Seit 2010 stieg der Anteil autokratischer Systeme von 57 auf 62 unter insgesamt 178 politischen Regimen. Gleichzeitig sank die Zahl der liberalen Demokratien im gleichen Zeitraum von 41 auf 32. Dennoch überwiegen die 92 demokratischen Regime gegenüber insgesamt 86 autoritären Regimen, was aber damit zusammenhängt, dass zu ersteren auch die sogenannten gelenkten und majoritären Demokratien und zur Gruppe der autoritären Regime auch die sogenannten (Wahl-) Autokratien gehören. Die gravierendsten Fälle von Autokratisierung sind dem Bericht zufolge Benin, Bolivien, Indien, Philippinen, Sambia und Komoren, Serbien, Tansania und Ungarn. Demokratische Regression findet sich auch in Polen, Portugal, der Tschechischen Republik, der Slowakei, Slowenien, Litauen, Chile, Südafrika, Botswana und Mauritius. Thailand, Usbekistan und der Sudan werden als zunehmend autoritär identifiziert. Für Bertelsmann beginnt die „Erosion in der Substanz der Demokratie“ erst kurz vor 2010 und setzt sich seither schrittweise fort. Die demokratische Regression spiegelt sich nicht in Regimewechseln wider, sondern im Rückgang des Gesamtindex der politischen Transformation. So liegt der aktuelle Anteil der als Demokratien bezeichneten Systeme bei 54 Prozent gegenüber 57 Prozent laut BTI-Bericht 2010. Ähnlich wie Bertelsmann geht auch Freedom House (FH) davon aus, dass die „Erosion der globalen Freiheit“ im Jahr 2006 begonnen habe und bis heute anhalte. In der 15-jährigen dokumentierten Geschichte des globalen demokratischen Niedergangs erreichte der Anteil der „nicht freien“ Staaten im Jahr 2020 seinen höchsten Stand (27,7 Prozent). Gleichzeitig sank der Anteil der „freien“ Staaten auf 42 Prozent und erreichte damit den niedrigsten Stand seit Beginn der Aufzeichnungen. Besonders betroffen sind der Nahe Osten, die Staaten der ehemaligen Sowjetunion, große Teile Asiens und Afrika südlich der Sahara. Eklatante Rückschritte stellt FH auch in Lateinamerika und Osteuropa fest. Neben diesen etablierten Demokratie-Indizes ist eine andere Vorgehensweise, um die Qualität der Demokratie zu ermitteln, die Messung individueller Einstellungen. Diese können sich entweder auf die Demokratie im Allgemeinen oder auf die Institutionen im Speziellen beziehen. Die Frage, ob die illi-

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beralen Einstellungen der Wählerschaft zunehmen und welche Auswirkungen dies auf die Aussichten für die Demokratie haben kann, hat in den letzten Jahren in der öffentlichen und akademischen Debatte eine große Rolle gespielt.37 Unter den zahlreichen Stimmen, die vor der Möglichkeit einer „neuen“ Krise der demokratischen Legitimität gewarnt haben,38 wurde einer Serie von Artikeln von Roberto Stefan Foa und Yascha Mounk im Journal of Democracy39 wahrscheinlich die größte Aufmerksamkeit gewährt. Anhand von Daten aus den World Values Surveys (1995–2014)40 argumentieren die Autoren, dass die meisten konsolidierten Demokratien in Europa und die USA dem Risiko der Dekonsolidierung ausgesetzt sind, was sich dadurch erklärt, dass die Bürger*innen dieser Länder „zynischer geworden sind, was den Wert der Demokratie als politisches System“ angeht, und „eher bereit sind, Unterstützung für autoritäre Alternativen“ zu artikulieren.41 Allerdings wird das Argument der beiden Autoren auch von vielen Seiten kritisiert. Dies geschieht nicht nur aufgrund der zu pessimistisch scheinenden Behauptungen und der möglichen Fehlinterpretation der Daten42, sondern auch wegen der sehr abstrakt anmutenden Messung des Konzeptes der Unterstützung für die Demokratie, die auch Amy Alexander und Christian Welzel in ihrer Kritik an Foa-Mounk ansprechen: „Ohne weitere Qualifikationen für die Werte, in denen sie verwurzelt ist, verbirgt die Unterstützung für die Demokratie mehr, als sie offenbart.“43 Mit anderen Worten: Wenn es nicht gelingt, 37 Vgl. Larry Diamond/Marc F. Plattner/Christopher Walker (Hg.), Authoritarianism Goes Global. The Challenge to Democracy, Baltimore MD 2016. 38 Vgl. Larry Diamond, Breaking out of the democratic Slump, in: Journal of Democracy 31 (2020) 1, 36–50. 39 Vgl. Roberto S. Foa/Yascha Mounk, The danger of deconsolidation. The democratic disconnect, in: Journal of democracy 27 (2016) 3, 5–17; vgl. Roberto S. Foa/ Yascha Mounk, The signs of deconsolidation, in: Journal of democracy 28 (2017) 1, 5–15. 40 Vgl. WVS Wave 6 (2010–2014), World Values Survey, URL: https://www.worldvaluessurvey.org/WVSDocumentationWV6.jsp (abgerufen am 28.6.2021). 41 Vgl. Foa/Mounk, danger, 7. 42 Vgl. Amy C. Alexander/Christian Welzel, The myth of deconsolidation. Rising liberalism and the populist reaction, in: ILE Working Paper Series 10 (2017), 1–15; vgl. Pippa Norris, Is Western democracy backsliding? Diagnosing the risks, in: Forthcoming, The Journal of Democracy 28 (2017) 2, o. S.; vgl. Erik Voeten, Competition and Complementarity between Global and Regional Human Rights Institutions, in: Global Policy 8 (2017) 1, 119–123. 43 Vgl. Alexander/Welzel, The myth, 2.

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die Art der Werte und Überzeugungen zu definieren, in denen die öffentliche Unzufriedenheit mit der Demokratie verwurzelt ist, kann sich kein Verständnis dafür entwickeln, in welchem Ausmaß sich eine solche Unzufriedenheit auswirkt. Umfragen in diese Richtung kommen oft zu unterschiedlichen Ergebnissen, die nicht einfach zu deuten sind. Zum einen ist für viele Bürger*innen die Demokratie als abstraktes Wertesystem untrennbar mit der konkret erfahrbaren Demokratie, also mit dem Vorhandensein von Parteien und Politikern verbunden, sodass eine Zuordnung schwierig ist. Des Weiteren hängen Ergebnisse sehr oft von der Fragestellung und vom Verstehen der Frage ab, wobei die persönliche Situation und Wahrnehmung der Respondent*innen auch eine Rolle spielt.44 In der empirischen Politikwissenschaft gibt es zunehmend Kritik an den klassischen Demokratie-Umfragen.45 Die Stoßrichtung dieser Kritik ist, dass Umfragen eher von Expert*innen konzipierte Konzepte testen, die zwar für die Wissenschaft einen Sinn ergeben, aber von Durchschnittsbürger*innen anders verstanden werden. Gerade ein so komplexes Konzept wie Demokratie ist vielfach für Bürger*innen nicht fassbar, um darüber aussagekräftige Beurteilungen abzugeben. Für den einen mag eine funktionierende Demokratie bedeuten, Arbeit und ein gutes Einkommen zu haben, für den anderen mögen immaterielle Konnotationen wie Redefreiheit oder Rechtsstaatlichkeit mehr im Vordergrund stehen. Eine weitere Sorge bereitet der Umstand, dass Respondent*innen auch vermeintlich erwünschtes Antwortverhalten an den Tag legen. Gerade bei kontroversen Fragestellungen zu politischen Positionen und polarisierenden Politiker*innen neigen Befragte dazu, nicht ihre tatsächliche Meinung zu äußern. In anderen Fällen sind Konzepte in abstracto so positiv oder negativ besetzt, dass gemessene Meinungen dies widerspiegeln. Dies sagt jedoch wenig über das tatsächliche Befinden in einer Situation aus. Gerade die Demokratie gilt allgemein als etwas sehr Positives, was entweder zu einem Automatismus im Antwortverhalten führen kann, in dem alles mit Demokratie im Zusammenhang Stehende positiv bewertet wird, oder im gegenteiligen 44 Vgl. Ralph Erber/Richard R. Lau, Political cynicism revisited. An information-processing reconciliation of policy-based and incumbency-based interpretations of changes in trust in government, in: American Journal of Political Science 34 (1990) 1, 236–253. 45 Vgl. Carolien van Ham/Jacques Thomassen/Kees Aarts/Rudy Andeweg (Hg.), Myth and reality of the legitimacy crisis. Explaining trends and cross-national differences in established democracies, Oxford 2017.

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Fall zu einer negativen Bewertung, weil die erlebte Realität nicht dem imaginierten Ideal einer Demokratie entspricht. Konkret gibt es somit unterschiedlichste Gründe, warum Antworten auf die Frage zum Zustand der Demokratie in Österreich empirisch nicht leicht zu erfassen sind. Laut dem österreichischen Demokratieradar46 stimmen 54 Prozent der Österreicher*innen der Aussage sehr zu, dass die Demokratie die beste Staatsform sei, 33 Prozent stimmen eher zu. Während gegenteilige Aussagen im einstelligen Bereich liegen, zeigt sich immerhin fast ein Drittel der Befragten etwas skeptisch. Etwa zwei Drittel der Österreicher*innen meinen, dass die Demokratie eher gut funktioniere, 12 Prozent bewerten sie als sehr gut und 18 Prozent als eher schlecht. Somit sagen insgesamt 67 Prozent der Befragten, dass sie großes oder etwas Vertrauen in die Politik besäßen, während 31 Prozent offenbar wenig bis gar kein Vertrauen haben. Insgesamt ist das Vertrauen bei älteren Österreicher*innen ab 50 deutlich stärker ausgeprägt, wobei interessanterweise Männer insgesamt etwas mehr davon zeigen als Frauen. Wenn die Kategorie Vertrauen in Bezug zur Bildung gesetzt wird, zeigen die Daten des Demokratieradars, dass Personen mit höherer formaler Bildung ein geringfügig stärkeres Vertrauen zeigen. Wenig überraschend zeigen sich auch Unterschiede im Vertrauen zur Politik zwischen einzelnen Wählergruppen. Das Vertrauen war zum Umfragezeitpunkt im Juni 2018 während der ersten Regierung Kurz unter ÖVP-Anhänger*innen (88 Prozent in einem Vertrauensindex skaliert von 0 bis 100) im Vergleich zu den anderen Parteien am größten (SPÖ: 60 Prozent; FPÖ: 70 Prozent; NEOS: 71 Prozent; Grüne: 69 Prozent; Nichtwähler: 50 Prozent).47 Jene Personen, die der Politik insgesamt wenig bis gar kein Vertrauen entgegenbringen, stimmen nur zu knapp zwei Dritteln (63 Prozent) der Aussage zu, dass Wahlen in Österreich „rechtmäßig und ohne Manipulation“ ablaufen. Diese politikskeptische Gruppe hat auch zu fast 60 Prozent wenig oder gar kein Vertrauen in Medien. Bezeichnend ist auch, dass jene Personen, die der Politik mit Skepsis gegenüberstehen, auch diejenigen sind, die am ehesten der Aussage zustimmen, dass sich die Gesellschaft in Österreich auseinanderentwickelt, auch wenn insgesamt die Zahl der Befragten, die der Aussage „Ich mache mir Sorgen, dass sich die Gesellschaft in Österreich immer weiter auseinanderent46 Vgl. Democracy Radar Wave 1 (SUF edition), Austrian Social Science Data Archive, URL: https://doi.org/10.11587/16RCPU, https://data.aussda.at/dataset. xhtml?persistentId=doi:10.11587/16RCPU (abgerufen am 28.6.2021). 47 Vgl. Demokratieradar. Welle 1: Vertrauen in die Politik, Austrian Democracy Lab, URL: https://www.austriandemocracylab.at/wp-content/uploads/2018/09/Demokratieradar-Welle-1-PK-19092018.pdf (abgerufen am 28.6.2021).

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wickelt“ zustimmt, bereits sehr hoch ist.48 Die Auswirkung von mangelndem politischen Vertrauen auf die negative Evaluation anderer Aspekte des politischen Systems zeigt auf, dass diese Einstellungen breit gefächert sind und die Legitimität eines politischen Systems untergraben können.49 Als positives Narrativ der Demokratie darf dennoch gewertet werden, dass im internationalen Vergleich das Vertrauen der Österreicher*innen in demokratische Institutionen vergleichsweise hoch ist. So befindet sich Österreich laut Eurobarometer50 mit 59 Prozent Zustimmung unter den sechs EU-Mitgliedsstaaten, in denen das größte Vertrauen darauf herrscht, dass Wahlen ohne Manipulation ablaufen, und liegt somit deutlich über dem EU-Durchschnitt von 44 Prozent. Bei einer Batterie von Fragen, mit der die Europäische Union versuchte zu erheben, ob die Bürger*innen der Meinung sind, dass womöglich bestimmte Akteur*innen im In- und Ausland versucht haben, auf Wahlen Druck auszuüben, die Bevölkerung bewusst zu spalten oder gezielt demokratische Prozesse zu sabotieren, findet sich Österreich unter den wenigen Staaten, in denen nur wenige Bürger*innen vom Vorliegen solcher Manipulationen überzeugt sind. Somit liegt Österreich im europäischen Vergleich generell weit über dem EU-Durchschnitt, was die positive Haltung in politischen Vertrauensfragen angeht. Lediglich in Bezug auf das Vertrauen in die Politik der EU bildet Österreich eines der Schlusslichter. Dies lässt jedoch weniger Rückschlüsse auf die heimische Demokratie und das Vertrauen in deren Institutionen zu als vielmehr auf den Euroskeptizimus der österreichischen Bevölkerung. Dennoch ist Österreich, wie die Wahlergebnisse auch zeigen, durchaus für populistische und autoritäre Einstellungen zur Demokratie empfänglich. Eine repräsentative Umfrage der Autor*innen dieses Buchkapitels, die zu Beginn der zweiten Welle der Corona-Pandemie durchgeführt wurde, zeigt, dass sich immerhin ca. 74 Prozent der Österreicher*innen der Meinung anschließen, dass die „Mächtigen im Land zu wenig auf das einfache Volk hören“ (Tabelle 1). Ein Meinungsbild wie dieses relativiert wiederum die vorher erwähnte Zustim48 Vgl. Flooh Perlot/Katrin Praprotnik/Daniela Ingruber, Landtagsabgeordnete in Österreich, Austrian Democracy Lab, URL: https://www.austriandemocracylab.at/ wp-content/uploads/2021/03/Perlot-et-al_2020_Landtagsabgeordnete-in-Oesterreich.pdf (abgerufen am 28.6.2021). 49 Vgl. Arthur H. Miller, Political issues and trust in government. 1964–1970, in: The American Political Science Review 68 (1974) 3, 951–972. 50 Vgl. Special Eurobarometer 507. Report. Democracy in the EU, URL: https://aej. org/wp-content/uploads/2021/04/ebs_507_en.pdf (abgerufen am 28.6.2021).

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mung zur Demokratie als abstraktes System an sich und lässt den Schluss zu, dass die Befragten entweder zwischen der Demokratie als erlebte Politik und dem demokratischen System in seiner abstrakten Form unterscheiden oder dass die Art der Fragestellung jeweils eine große Rolle spielt. In jedem Fall ist das demoskopische Bild, das wir zum Thema Demokratie in Österreich wahrnehmen, ein gespaltenes. Kategorien

Absolute Häufigkeit Relative Häufigkeit

Kumulative Häufigkeit

nicht populistisch

166

13,79 %

13,79 %

neutral

148

12,29 %

26,08 %

populistisch

890

73,92 %

100 %

Tabelle 1: Populistische Einstellungen der österreichischen Bevölkerung laut Umfrage Quelle: Eigene Umfrage, durchgeführt von Market Institut, Linz, September 2020, n=1200 Legende: Gemessen anhand der Reaktion auf das Statement: „In unserem Land hören die Mächtigen viel zu wenig auf das einfache Volk“. Befragte, die als populistisch klassifiziert wurden, haben auf das Statement mit stimme nicht/gar nicht zu geantwortet, während Befragte, die das Statement mit stimme zu/sehr zu beantwortet haben, als nicht populistisch eingestuft wurden.

Diese Umfrage versuchte außerdem, das Ausmaß autoritärer Einstellungen in der österreichischen Bevölkerung zu erfassen. Da die direkte Abfrage derart negativ besetzter Einstellungen meist nicht zielführend ist, weil Menschen sich bei der Beantwortung von Fragen nach sozialen Normen orientieren oder mit der verwendeten Begrifflichkeit nichts anfangen können, weicht man besser auf eine indirekte Frage aus, die sich auf ein unverfängliches Thema, z. B. die Erziehung junger Menschen, bezieht. An Tabelle 2 ist abzulesen, dass beinahe die Hälfte der Befragten entweder teilweise oder ganz davon überzeugt ist, dass es „dem Land besser gehen [würde], wenn die jungen Leute zu Gehorsam und Disziplin erzogen werden würden“. Das ist ein bemerkenswertes Ergebnis, da es verdeutlicht, dass beinahe die Hälfte der Österreicher*innen das Potential in sich trägt, autoritäre Tendenzen in der Politik zu unterstützen.51

51 Vgl. John Duckitt/Chris G. Sibley, Personality, ideology, prejudice, and politics. A dual-process motivational model, in: Journal of personality 78 (2010) 6, 1861–1893.

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Narrativ gegen die Angst um die Demokratie Kategorien

Absolute Häufigkeit

Relative Häufigkeit

Kumulative Häufigkeit

nicht autoritär

467

38,79 %

38,79 %

neutral

177

14,70 %

53,49 %

autoritär

560

46,51 %

100 %

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Tabelle 2: Autoritäre Einstellungen der österreichischen Bevölkerung laut Umfrage Quelle: Eigene Umfrage, durchgeführt von Market Institut, Linz, September 2020, n=1200 Legende: Gemessen anhand der Reaktion auf das Statement: „Es würde dem Land besser gehen, wenn die jungen Leute zu Gehorsam und Disziplin erzogen werden würden.“ Befragte, die als autoritär klassifiziert wurden, haben auf das Statement mit stimme nicht/ gar nicht zu geantwortet, während Befragte, die das Statement mit stimme zu/sehr zu beantwortet haben, als nicht autoritär gelten.

Die Unzufriedenheit vieler Österreicher*innen mit dem politischen System hat, wie wir bereits dokumentierten, eine lange Tradition. Dennoch hat sich das Land bisher als stabile und gelungene Demokratie bewährt. Österreich ist eine gefestigte westliche Demokratie und unterscheidet sich eindeutig von seinen unmittelbaren östlichen Nachbarn, wo eindeutig demokratische Erosionsprozesse zu konstatieren sind. Auch in diesem Sinne kann von einem positiven Narrativ gesprochen werden, wenngleich die Umstände nachdenklich stimmen.

7. DER AUFSTIEG NEUER PARTEIEN

Die Legitimationskrise in westlichen Demokratien hat den Aufstieg neuer radikaler und vor allem populistischer Parteien gefördert. Mittlerweile gibt es in Europa keine Länder mehr, die davor gefeit sind. Während zum Beispiel Deutschland aufgrund seiner Geschichte einst als relativ immun gegen Rechtspopulismus galt und man glaubte, dass Großbritannien mit seinem Mehrheitswahlrecht über eine Barriere gegen wieder erstarkende dritte Parteien verfüge, gelten diese Erwartungen eindeutig nicht mehr. Die Alternative für Deutschland (AfD) hat sich inzwischen als starke politische Kraft in ganz Deutschland etabliert. Die United Kingdom Independence Party (UKIP) und ihre Nachfolgerin, die Brexit-Partei, waren wichtige Kräfte hinter dem Votum der Briten für den Austritt aus der Europäischen Union. Sogar in den nordischen Ländern – oft bewundert für ihre effizienten und transparenten politischen Systeme, ihre korruptionsfreien Regierungen sowie ihre ausgeprägte Wohlfahrtspolitik und die hohen Lebensstandards – haben sich jeweils schlagkräftige populistische Parteien entwickelt. In Dänemark und Norwegen haben Vertreter*innen die-

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ser Parteien öffentliche Ämter bekleidet und die nationale Politik mitgestaltet. Auch in Südeuropa sind radikale links- und rechtspopulistische Protestparteien entstanden, von denen einige inzwischen, etwa in Griechenland, Spanien, und Italien, Regierungsämter besetzen. Insgesamt ist der Stimmenanteil von Parteien, die in der empirischen Wissenschaft allgemein als populistisch gelten, in Europa von 11,81 Prozent im Jahr 2000 auf 27,26 Prozent im Jahr 2019 gestiegen. Von diesen Formationen können 15,11 Prozent als rechtsextrem- und 5,31 Prozent als linksextrem-populistisch eingestuft werden, während weitere 6,84 Prozent anderen Arten von Populismus zugerechnet werden können.52 Auch auf EU-Ebene ist das Anwachsen des Populismus in den letzten zwei Jahrzehnten außergewöhnlich. Dort liegt der Stimmenanteil der im Europäischen Parlament versammelten populistischen Parteien für den Zeitraum 2019–2024 bei 30,6 Prozent.53 Dies ist ein enormer Zuwachs, wenn man bedenkt, dass vor 2004 der Anteil der ihnen zuzurechnenden Abgeordneten im Europäischen Parlament (MEP) nur 5,1 Prozent betrug (davon 4,3 Prozent Rechtspopulisten) und ihr gemeinsamer Stimmenanteil 2004 auf 14,2 Prozent und 2009 auf 17,8 Prozent stieg. Bemerkenswert ist, dass die Linkspopulisten anfangs schneller wuchsen und ihre Präsenz mehr als verdreifachen konnten (von 1,2 Prozent auf 4,1 Prozent). Danach waren die Rechtsextremen an der Reihe, die ihren Stimmenanteil von 13,5 Prozent auf 20,9 Prozent im Jahr 2014 und auf 26,4 Prozent im Jahr 2019 steigern konnten.54 Das Verhältnis des radikalen Populismus und der Demokratie ist ein komplexes, da populistische Parteien ja von sich behaupten, die „eigentlichen“ Demokraten zu sein, sie allein würden sich „dem Volk“ verpflichtet fühlen und dessen Souveränität gegen üble Eliten verteidigen.55 Aber gerade der radikale 52 Vgl. Holger Döring/Philip Manow, Parliaments and governments database, Development version (2019), ParlGrov Database, URL: http://www.parlgov.org (abgerufen am 28.6.2021); vgl. Matthijs Rooduijn/Stijn Van Kessel/Caterina Froio/Andrea Pirro/Sarah De Lange/Daphne Halikiopoulou/Paul Lewis/Cas Mudde/Paul Taggart, The PopuList. An overview of populist, far right, far left and Eurosceptic parties in Europe, 2019. URL: www.popu-list.org (abgerufen am 28.6.2021). 53 Vgl. Daniel Stockemer/Abdelkarim Amengay, The voters of the FN under JeanMarie Le Pen and Marine Le Pen: continuity or change? In: French Politics 13 (2015) 4, 370–390. 54 Vgl. ebd. 55 Vgl. Reinhard Heinisch/Carsten Wegscheider, Disentangling how populism and radical host ideologies shape citizens’ conceptions of democratic decision-making, in: Politics and Governance 8 (2020) 3, 32–44.

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Rechtspopulismus birgt Gefahren für die Demokratie, insbesondere für ihre liberalen Prinzipien. Zum einen ist der Populismus anti-politisch und anti-pluralistisch, weil „das Volk“ als geschlossene Einheit mit einer einheitlichen Meinung dargestellt wird. All diejenigen, die eine andere Position vertreten, sind erklärte Gegner des Volkes, denen keine politische Legitimität zugestanden wird. Populisten fordern zunehmend einen Wandel von der repräsentativen hin zur majoritären Demokratie, womit die stille Hoffnung verknüpft ist, Rechtsstaat und Medien in den Griff zu bekommen. Konkret sind der liberalen Demokratie somit zwei Bedrohungen erwachsen, die „populistische Demokratie“ von unten und die „autoritäre Demokratie“ von oben. In letzterer geht die Zurückdrängung des Rechtsstaates und der freiheitlichen Grundordnung von den gewählten Machthabern aus, wobei staatliches Handeln durch die (vermeintliche) Volksmeinung legitimiert scheint, jedoch von der politischen Führung durch gezielte Kampagnen gesteuert wird. Der Prozess beginnt mit der systematischen Diskreditierung der freien Medien und der Zivilgesellschaft. Initiativen und Organisationen, die sich durch internationale Unterstützung gegen die staatliche Allmacht wehren, geben den Behörden Anlass, gegen „ausländische Einflussnahme“ vorzugehen, Büros zu schließen, Unterlagen zu beschlagnahmen und prominente Mitglieder zu denunzieren. Welche Folgen sich aus diesem anti-liberalen Verständnis von der Demokratie ableiten, lässt sich besonders an Ungarn und Polen verdeutlichen: Zunächst wird die Verfassung in ein System umgewandelt, das Mehrheiten bevorzugt. In weiterer Folge kommt es in diesen Systemen zu einer Aufweichung der Gewaltenteilung, wobei durch politische Interventionen oder Verfassungsänderungen die Unabhängigkeit der Justiz kompromittiert wird, was auch in Polen nach dem Sieg der Rechtsregierung geschah. Danach wird das System zunehmend exekutivlastig, und die gesamte politische Macht konzentriert sich bei den Führungspersonen von Regierung und Regierungspartei. In der CoronaKrise hatte das ungarische Parlament dem Regierungschef auch de facto autokratische Machtfülle überantwortet. In dieser Situation ist der Staat nicht mehr neutral, sondern folgt nur noch einer parteipolitischen Agenda. So bilden etwa Schulbücher in Ungarn die ideologische Ausrichtung der herrschenden Regierungspartei ab.56 Des Weiteren ist die Kampagne Viktor Orbáns und der Fidesz-Partei gegen George Soros, die Central European University oder die Akademie der Wissenschaften 56 Vgl. Péter Krekó/Zsolt Enyedi, Explaining Eastern Europe. Orbán’s laboratory of illiberalism, in: Journal of Democracy 29 (2018) 3, 39–51.

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längst nicht mehr die politische Aktion einer Partei, sondern ein Angriff des ungarischen Staates auf bestimmte Personengruppen. Die Medien werden dabei „scheibchenweise“ ausgeschaltet. Der staatliche Rundfunk wird direkt übernommen und mit loyalen Kräften besetzt, die privaten Medien entweder durch Regulierungsmaßnahmen in wirtschaftliche Schieflage gebracht oder nach Möglichkeit von regierungsfreundlichen Konzernen aufgekauft. So gibt es zwar regelmäßig Wahlen, aber ohne effektive Minderheitenrechte und Medienpluralität sind diese weit von den Standards einer liberalen Demokratie entfernt. Doch die letzten Jahre brachten auch Rückschläge für die Populisten. In ­Österreich schlug der von den Grünen unterstützte Präsidentschaftskandidat unerwartet den Kandidaten der rechtspopulistischen Freiheitlichen Partei. Auch brach die 2017 gebildete rechtskonservative Regierungskoalition nach weniger als zwei Jahren im Amt zusammen. In Frankreich war Marine Le Pens Streben nach der Präsidentschaft letztlich erfolglos, als unerwartet eine neue politische Figur, Emmanuel Macron, sowohl die etablierten Parteien als auch die populistische extreme Rechte schlug. Auch in Italien triumphierten zunächst die Populisten und bildeten eine Regierung aus der populistischen linken FünfSterne-Bewegung und der rechtsextremen Lega, deren Anführer Matteo Salvini Innenminister wurde und die italienische Regierungspolitik dominierte. Als er mit dem Versuch, Neuwahlen auszulösen, zu weit ging, wechselte sein ehe­ maliger Koalitionspartner die Seiten und bildete eine Regierung ohne Salvini. In Deutschland schnitt die AfD bei den Bundestagswahlen gut ab und erreichte 2017 den dritten Platz. Anschließend wurde sie zur größten Oppositionspartei und zog in allen Bundesländern in die Landtage ein. Doch auch sie scheint ein Plateau erreicht zu haben und ist weiterhin zwischen ihrem extremistischen Flügel und einer eher rechtskonservativen Ausrichtung gespalten. In Dänemark wurde die extreme Rechte bei den Wahlen 2019 von den Sozialdemokraten deutlich geschlagen. Bei den US-Wahlen 2020 wurde Donald Trump von einem Politiker besiegt, der in Bezug auf Persönlichkeit und politische Einstellung das genaue Gegenteil seines Amtsvorgängers verkörpert. Obwohl der Brexit Realität wurde, ließen der sich dahinquälende Ablösungsprozess und die Verwerfungen, die er in Großbritannien verursachte, andere populistische Parteien zweimal darüber nachdenken, ähnliche Forderungen zu stellen. Und schließlich wurde auch in Griechenland die populistische Partei Syriza abgewählt. Dies bedeutet, dass die sehr pessimistischen Erwartungen vom Durchmarsch des radikalen Populismus etwa in Frankreich, Italien und in anderen

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Narrativ gegen die Angst um die Demokratie

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westlichen Staaten so nicht erfüllt wurden. Auch Präsident Trump scheiterte (vorläufig) an seiner Wiederwahl. Zwar mag diese Einschätzung sehr bescheiden wirken, dennoch zeigt sich die liberale Demokratie westlicher Prägung von großer Resilienz. Als diese Zeilen geschrieben wurden, befand sich die Welt in den Fängen der COVID-19-Pandemie, deren Auswirkungen auf den Populismus und seinen weiteren Erfolg zu diesem Zeitpunkt noch nicht deutlich absehbar waren. Die ersten Trends deuteten jedoch darauf hin, dass der Populismus auf verschiedene Weise profitieren würde. Menschen, die sich durch die von Expert*innen und politischen Eliten getroffenen Entscheidungen im Zusammenhang mit Corona negativ beeinflusst fühlen, die sich an Abriegelungen und Maskierungsauflagen reiben, die ihre Lebensgrundlage durch die Schließung von Geschäften gefährdet sehen oder die liberale Demokratien als zu technokratisch und ineffektiv empfinden, um angemessen mit einer gesundheitlichen und wirtschaftlichen Notlage umzugehen, können sich nirgendwo anders hinwenden als zu Parteien außerhalb des Mainstreams. Es scheint klar zu sein, dass sowohl Corona als auch viele der damit verbundenen Aspekte zunehmend politisiert werden und auch weiterhin die laufenden Trends in demokratischen Regimen prägen werden.57 Doch auch hier haben sich die Bürger*innen mehrheitlich um ihre demokratischen Regierungen geschart und angesichts nie dagewesener Eingriffe in ihre Autonomie Verständnis gezeigt.

8. SCHLUSSFOLGERUNG

Nun war viel von den Problemen der Demokratie und einigen positiven Tendenzen die Rede. Bei der Erzählung erfolgreicher Demokratie müssen wir also bescheiden sein. Wir möchten an dieser Stelle noch einmal auf den eingangs erwähnten Staatssekretär Brad Raffensperger aus dem US-Bundesstaat Georgia zurückkommen. Er und viele andere Politiker*innen eines solchen Formats geben uns Hoffnung – zumindest denjenigen von uns, die in konsolidierten Demokratien leben. Raffensperger – sein Leben lang Republikaner – hat dem massiven Druck seines Präsidenten und Parteikollegen widerstanden, Wahlergebnisse zu fälschen; selbst Morddrohungen und eine Kampagne gegen ihn 57 Vgl. Giuliano Bobba/Nicolas Hubé, Between mitigation and dramatization. The effect of the COVID-19 crisis on populists’ discourses and strategies, in: Giuliano Bobba/Nicolas Hubé (Hg.), Populism and the Politicization of the COVID-19 Crisis in Europe, London 2021, 131–144.

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durch seine Partei konnten ihn nicht beeindrucken. Damit sei hier nicht der Mut eines Einzelnen hervorgestrichen – das nötigt natürlich auch Respekt ab –, sondern wir beziehen uns hier auf einen anderen Faktor, der nicht außer Acht gelassen werden sollte, nämlich auf die verinnerlichten Rollen von Akteur*innen, die in den Institutionen der liberalen Demokratie agieren. Dieses Handeln mag einem Berufsethos entspringen, demokratischer Überzeugung oder einfach einer Gewohnheit, doch gerade durch den Fokus auf Institutionen und Institutionalisierung bietet die liberale Demokratie einen gewissen Schutz vor der Erosion demokratischer Handlungsweisen. Unsere Schlussthese und unser Fazit sind also, dass die in den Institutionen der liberalen Demokratie verwurzelten und dort „sozialisierten“ Rollenträger*innen, die Beamt*innen, Staatsanwält*innen, Richter*innen, Journalist*innen, Mandatar*innen, aber auch Pädagog*innen an öffentlichen Schulen, ein wichtiges, wenn nicht ein wesentliches Bollwerk gegen die Bedrängung der liberalen Demokratie sind. Man mag es Berufsverständnis oder sozialisiertes Verhalten nennen – rechtsstaatliches und demokratiekonformes Verhalten im Angesicht autoritärer und illiberaler Tendenzen sind ein entscheidender Faktor und somit ein wichtiges Narrativ für den Erfolg der Demokratie. Man mag sich kaum ausmalen, was geschehen wäre, wenn die für die Wahlen verantwortlichen Amtsträger*innen in den USA dem Drängen radikaler Kräfte und sogar des Staatsoberhauptes nachgegeben hätten, haltlose Wahlanfechtungen zuzulassen oder gar dem Interesse einer Seite stattzugeben und das Wahlergebnis zu annullieren. Die Legitimität von Wahlen ist das Herzstück demokratischer Legitimität, ohne dieses Instrument verliert das politische System seine Verpflichtungsfähigkeit. Zumindest in den USA, nicht jedoch in Polen, in Ungarn und in der Türkei haben die Institutionen der liberalen Demokratie die ihnen eigene Zähigkeit oder stickiness, wie man im Englischen sagt, unter Beweis gestellt. Diese „Klebrigkeit“ und Dauerhaftigkeit von Institutionen mit ihrem normierten, normalisierten Rollenverhalten und ihren verinnerlichten Werten bilden ein entscheidendes Bollwerk gegen die Autokratisierung. Wie Raffensperger in Georgia stehen in den USA viele Beamte und Beamtinnen, Mandatare und Mandatar*innen, Journalist*innen und Richter*innen unter Druck oder werden von Extremisten sogar mit Waffen bedroht. Bürger*innen wie ihnen gebührt unser Dank angesichts einer in Bedrängnis geratenen Demokratie. Sie sind Bollwerk gegen den demokratischen Rückschritt und Verkörperung eines gelungenen Narratives in konsolidierten liberalen Demokratien.

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Man darf vermuten, dass diese Standhaftigkeit der Institutionen tendenziell in länger etablierten und konsolidierten Demokratien besser „funktioniert“. Dies mag wohl auch den demokratiepolitischen Unterschied zwischen Österreich einerseits und den Staaten Ungarn oder Polen andererseits erklären. Auch in Österreich ist der Rechtsstaat in den letzten Jahren unter Druck geraten, und es gab beispiellose Angriffe vonseiten der Politik auf die Justiz. Dennoch wurden zahlreiche Verfahren von Staatsanwält*innen und Untersuchungsrichter*innen beharrlich weiterverfolgt und haben kritische Medien schonungslos über viele Fälle von politischer Korruption und Machtmissbrauch in Staat und Politik berichtet. Letztlich kam es auch hier zu politischen Konsequenzen und sogar zum Rücktritt eines mit großer Machtfülle und mit einer deutlichen politischen Mehrheit ausgestatteten Bundeskanzlers. Es mag somit verwundern, warum gerade in einem Zeitalter der großen Skepsis gegenüber Institutionen und der allseitigen Würdigung von Bürger*innen-Engagement und people ­power an dieser Stelle ausgerechnet an die Rolle von Institutionen erinnert wird. Ihre Bedeutung wird oft unterschätzt, sie haben jedoch einen entscheidenden Anteil an den Narrativen gelungener Demokratie.

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KAPITEL III HERAUSFORDERUNGEN IN DER GEGENWART – VERANTWORTUNG FÜR DIE DEMOKRATIE

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Béatrice Ziegler

WARUM DEMOKRATIE SCHULISCHE POLITISCHE BILDUNG BRAUCHT. ZUM STEINIGEN WEG DER DIDAKTIK DER POLITISCHEN BILDUNG IN DER SCHWEIZ

1. EINLEITUNG

Wenn in der deutschen Öffentlichkeit Entwicklungen in politischen Prozessen und Veränderungen des politischen Verhaltens von Teilen der Bevölkerung als problematisch wahrgenommen werden, wird die Forderung nach mehr oder besserer schulischer Politischer Bildung laut. Wenn sich Gruppierungen zu Rassismus, Antisemitismus oder Feindseligkeit gegenüber Flüchtlingen und Asylsuchenden bekennen, wenn „Linksautonome“ Autoreifen aufstechen, aber auch, wenn Korruptionsskandale politische Funktionsträger*innen ins Zwielicht bringen oder populistische Parteien das Wahlvolk hinsichtlich ihrer Ziele täuschen, wenn die Mechanismen der Sozialen Medien der Bevölkerung die Köpfe verwirren, folgt alsbald die Frage nach Politischer Bildung.1 In der Schweiz ist eine derartige Reaktion selten. Der Ruf nach Politischer Bildung wird hier aus anderen Gründen laut, gleichzeitig stimmen längst nicht alle zu, dass die schweizerische Demokratie schulische Politische Bildung brauche. Noch viel weniger aber ist man sich darüber einig, welche Erwartungen an dieselbe gestellt werden sollen: Die Zielvorgaben hängen neben politischen Opportunitäten stark davon ab, welches Staats- und Gesellschaftsverständnis bzw. welche Vorstellung von der Rolle der Bürgerinnen und Bürger zugrunde gelegt wird.2 1

2

Vgl. auch den Problemkatalog in Katrin Hahn-Laudenberg, Die gesellschaftliche Bedeutung der Politikdidaktik, in: Georg Weißeno/Béatrice Ziegler (Hg.), Handbuch Geschichts- und Politikdidaktik, Wiesbaden 2022. DOI 10.1007/978-3-65829673-5_6-2. Vgl. Béatrice Ziegler, Welche Politische Bildung braucht die direkte Demokratie? In: Béatrice Ziegler/Andreas Glaser (Hg.), Direkte Demokratie im Kanton Aargau in Geschichte und Gegenwart (Schriften zur Demokratieforschung 15), Zürich 2020, 51–66.

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Béatrice Ziegler

Der Politik bereitet es zum einen Sorgen, dass zwar die Zahl der Kandidierenden für das eidgenössische Parlament wie auch für die kantonalen Parlamente stetig wächst, die Gemeinden aber eine immer größere Mühe bekunden, die politischen Ämter zu besetzen.3 Zum andern bereitet die zwar unterschiedliche, aber generell doch niedrige Beteiligung des „Stimmvolkes“ an Wahlen und Abstimmungen Unbehagen.4 Politische Bildung wird in beiden Fällen mit der Forderung nach Partizipationssteigerung verbunden.5 Die Politikwissenschaften, deren Sichtbarkeit in Politik und Öffentlichkeit sich seit dem Nationalen Forschungsschwerpunkt „NCCR Democracy“6 deutlich gesteigert hat, stützen die Diagnose, dass die schweizerische Demokratie in Legitimationsprobleme geraten werde, wenn die Beteiligung an Wahlen und Abstimmungen auf Dauer niedrig bleiben sollte.7 Als zusätzlich problematisch interpretierte die mit Wahl- und Abstimmungsanalysen sowie mit Umfragen befasste Forschung, dass die Beteiligung der jüngeren Berechtigten (18- bis etwa 30-Jährige) am schwächsten von allen Alterskohorten ausfällt.8 3

Daniel Kübler/Oliver Dlabac (Hg.), Demokratie in der Gemeinde. Herausforderungen und mögliche Reformen (Schriften zur Demokratieforschung 11), Zürich 2015. 4 Béatrice Ziegler/Nicole Wälti (Hg.), Wahl-Probleme der Demokratie (Schriften zur Demokratieforschung 5), Zürich 2012. 5 Diesem Verständnis entspricht die stark gestiegene Unterstützung von partizipativen Projekten durch Politik und Stiftungen, etwa die gesamtschweizerischen Programme „Schulen nach Bern“, URL: https://www.schulen-nach-bern.ch/de/; „Jugendparlamente“, URL: https://www.dsj.ch/ oder „Jugend debattiert“, URL: https://yes.swiss/programme/jugend-debattiert, sowie die zahlreichen Aktivitäten, die vom Campus Demokratie vermittelt werden, URL: https://campusdemokratie. ch/ (alle abgerufen am 30.5.2021). 6 Das Programm des Schweizerischen Nationalfonds für die Förderung der wissenschaftlichen Forschung (SNF) lief von 2005 bis 2017, URL: https://data.snf. ch/grants?q=NCCR%20Democracy&funding-l2=9B6AAB58-034B-4A33-96CB1031FF144734; seine Leitung war an der Universität Zürich angesiedelt. Es führte zur Institutionalisierung der Demokratieforschung am Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA), URL: https://www.zdaarau.ch/ (beide abgerufen am 9.6.2022). 7 Vgl. dazu Frank Schimmelpfennig/Manuel Vogt, Voraussetzungen der Demokratie. Staat und Volk – was sonst? In: Hanspeter Kriesi/Lars Müller (Hg.), Herausforderung Demokratie, Zürich 2013, 152–191. 8 Der Befund ist Gegenstand intensiver Diskussionen. Insbesondere wurde entlastend gezeigt, dass übersehen wird, dass bei der hohen Abstimmungsdichte in der Schweiz wechselnde Beteiligungen zustande kommen und derart insgesamt rund drei Viertel der Stimmfähigen in die Prozesse involviert sind. Uwe Serdült, Parti-

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Der damit definierte Handlungsbedarf bezüglich der Beteiligung des „Stimmvolkes“ an politischen Aushandlungsprozessen und in den damit befassten Institutionen kollidiert mit einer langen Tradition, in der die Auffassung vorherrscht, politische Beteiligung sei ein Resultat der häuslichen und vereinsinternen Sozialisierung in die republikanische Gesellschaft und solle deshalb nicht von einem Fach Politische Bildung in der Schule beeinflusst werden.9 Die Didaktik der Politischen Bildung ist von diesen Diskussionen nicht unberührt geblieben. Sie vertritt aber mit Nachdruck die Auffassung, dass es für eine funktionierende Demokratie eine schulische Politische Bildung braucht.10 Deren Notwendigkeit begründet sie aber nicht einfach mit den von der Öffentlichkeit diskutierten Defiziten, sondern argumentiert mit dem individuellen Recht auf informierte und kompetente Teilhabe der Individuen.11 Darin wird sie durch weitere Entwicklungen gestützt, die sich in den letzten Jahrzehnten vollzogen haben. So wurden in der schweizerischen Bildungslandschaft in den vergangenen rund fünfzehn Jahren im Kontext der Professionalisierung der Ausbildung von Lehrpersonen an Pädagogischen Hochschulen dezidierte Schritte unternommen, die Fachdidaktiken institutionell, aber auch in ihrer Wissenschaftlichkeit zu stärken. Wie für andere Fachdidaktiken entstand für die Didaktik der Politischen Bildung ein Zentrum, das sich der Forschung und Entwicklung in dieser Domäne widmet.12 Bedeutsam war weiter, dass sich die zipation als Norm und Artefakt in der schweizerischen Abstimmungsdemokratie. Entmystifizierung der durchschnittlichen Stimmbeteiligung anhand von Stimmregisterdaten aus der Stadt St. Gallen, in: Andrea Good/Bettina Platipodis (Hg.), Direkte Demokratie. Herausforderungen zwischen Politik und Recht: Festschrift für Andreas Auer zum 65. Geburtstag, Bern 2013, 41–50. 9 Zur politischen Bildung oder Erziehung in Texten der eidgenössischen Diskussion der letzten 200 Jahre vgl. Alexander Lötscher/Claudia Schneider/Béatrice Ziegler (Hg.), Reader. Was soll Politische Bildung? Bern 2016. 10 Vgl. Ziegler, Politische Bildung; vgl. auch Monika Waldis/Béatrice Ziegler, Politische Bildung in der halbdirekten Demokratie der Schweiz, in: Jahrbuch für direkte Demokratie 2018, Zürich 2019, 42–66. 11 So im Übrigen auch der Staatsrechtler Andreas Glaser, Politische Bildung und politische Rechte. Wechselbeziehungen aus staatsrechtlicher Sicht, in: Béatrice Ziegler/ Monika Waldis (Hg.), Politische Bildung in der Demokratie. Interdisziplinäre Perspektiven, Wiesbaden 2018, 17–36. 12 Das Zentrum Politische Bildung und Geschichtsdidaktik der PH FHNW ist am Zentrum für Demokratie Aarau angesiedelt, URL: https://www.zdaarau.ch/organisation/abteilungen (abgerufen am 1.6.2021).

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Hinwendung der Erziehungswissenschaft zur Empirie seit den 1990er Jahren auch in Befragungen zum Stande des Wissens, des Interesses und der Partizipationsbereitschaft bezüglich Politik zeigte.13 Schließlich fanden die insbesondere vom Europarat vorangetriebenen Bemühungen für das „Demokratie-Lernen“ auch in der Schweiz ihren Niederschlag, sodass die Ausrichtung der Politischen Bildung in Richtung der Befähigung nachkommender Generationen zu einer handlungsorientierten Teilhabe an politischen bzw. demokratischen Aushandlungsprozessen im Staat wie in der Zivilgesellschaft Aufschwung nahm. Damit wandte man sich in Theorie und Praxis ab von früheren Modellen, wie etwa dem Staatskundeunterricht.14 Unter dem Motto „Demokratie fällt nicht vom Himmel“ haben sich alle an einer Stärkung der Politischen Bildung Interessierten beteiligt. So wünschenswert die stärkere Beachtung auch ist, die zivilgesellschaftlichen Stimmen haben es einer wissenschaftsbasierten Didaktik der Politischen Bildung nicht unbedingt einfacher gemacht, schulische Politische Bildung zu konzipieren und deren Implementation beratend zu begleiten. Im Folgenden soll die aktuelle Position der Didaktik der Politischen Bildung skizziert werden, bevor gezeigt wird, gegen welche Strömungen in Öffentlichkeit und Politik, aber auch in der Wissenschaft sie dabei argumentieren muss.

2. DIDAKTIK DER POLITISCHEN BILDUNG

Die Didaktik der Politischen Bildung versteht sich als wissenschaftsbasierte Disziplin, die über theoretische und empirische Arbeit zum Lehren und Lernen in der Domäne der Politischen Bildung forscht und ihre Befunde der Ausund Weiterbildung von Lehrpersonen, der Bildungspolitik und der Öffentlichkeit zur Verfügung stellt. Die Kenntnisnahme wissenschaftlich erarbeiteter und diskutierter Ergebnisse wird allerdings durch starke alternative Vorstellungen dazu, was Politische Bildung sei und zu leisten habe, bestimmt. Die aktuelle Didaktik der Politischen Bildung in der Schweiz orientiert sich vorrangig an einem Politikbegriff, der die Aushandlungsprozesse zur Errei13 Monika Waldis, Demokratietheorie und Erziehungsideal im Diskurs der Politischen Bildung in der Schweiz, in: Béatrice Ziegler/Monika Waldis (Hg.), Politische Bildung in der Demokratie. Interdisziplinäre Perspektiven, Wiesbaden 2018, 75–96. 14 Ein wichtiges Signal für die Lehrpersonen und die Politik war die Publikation von Rolf Gollob/Christian Graf-Zumsteg/Bruno Bachmann/Susanne Gattiker/Béatrice Ziegler, Politik und Demokratie – Leben und lernen. Politische Bildung in der Schule. Grundlagen für die Aus- und Weiterbildung, Bern 2007.

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chung allgemeingültiger Regelungen ins Zentrum stellt, und fordert von schulischer Politischer Bildung die Förderung von Fertigkeiten, Fähigkeiten und Bereitschaften, also der Kompetenz für die Teilhabe aller an einer so verstandenen Politik.15 Sie folgt der deutschsprachigen Community darin, als zentrale Bereiche die Urteils-, die Handlungs- und die Sachkompetenz bzw. das Wissen zu unterscheiden.16 Die Komplexität politischer Teilnahme wird deutlich, wenn die politische Kompetenz auf die Situation des Abstimmens über Sachfragen in der direkten Demokratie gerichtet wird. Nicht, dass in einer parlamentarischen Demokratie die dabei hervortretenden Kompetenzfacetten irrelevant wären – ganz im Gegenteil: Es braucht einen Wissensaufbau, ein Netz von Konzepten, das die einzelnen Elemente der politischen Aushandlung in ihrer institutionellen Stellung, ihrer Funktion, ihren Abhängigkeiten usw. miteinander verknüpft und so verfügbar macht.17 Daraus entsteht das Verständnis für die spezifische Gestaltung und das Urteilen und Handeln in der jeweiligen Demokratie. Schulische Politische Bildung konzentriert sich deshalb auf Wissensaufbau und Förderung der politischen Kompetenzen des Urteilens und Handelns. Um für seine Teilnahme am politischen Leben sachgerechte Voraussetzungen zu schaffen, braucht das Individuum schulische Politische Bildung. Nur so gelingt ihm die informierte Vertretung seiner eigenen Bedürfnisse und Interessen und die Mitbestimmung im gesellschaftlichen Leben. Mit den stark ausgebauten Volksrechten begründet Waldis das spezielle Augenmerk der Didaktik der schweizerischen Politischen Bildung auf Fähigkeiten der Informationsbeschaffung und -bewertung sowie der Beurteilung von 15 Waldis/Ziegler, Politische Bildung; Dies., Politische Bildung in der Schweiz, in: Wolfgang Sander/Kerstin Pohl (Hg.), Handbuch politische Bildung, Frankfurt a. M. 2022, 574–582. Béatrice Ziegler, Politische Bildung im Deutschschweizer Lehrplan (Lehrplan 21), in: Dominik Allenspach/Béatrice Ziegler, Forschungstrends in der politischen Bildung. Beiträge zur Tagung „Politische Bildung empirisch 2010“, Zürich–Chur 2012, 29–46. 16 Joachim Detjen/Peter Massing/Dagmar Richter/Georg Weißeno, Politikkompetenz. Ein Modell, Wiesbaden 2012; Reinhard Krammer, Kompetenzen durch Politische Bildung. Ein Kompetenz-Strukturmodell, in: Informationen zur Politischen Bildung 29 (2008), 5–14; Béatrice Ziegler/Claudia Schneider/Vera Sperisen/Patrik Zamora/Roxane Kübler, Kompetenzraster Politische Bildung. Für Lehrpersonen und Schulleitungspersonen der Volksschule im Kanton Aargau/im Bildungsraum Nordwestschweiz, Aarau 2012. 17 Georg Weißeno/Joachim Detjen/Ingo Juchler/Peter Massing/Dagmar Richter, Konzepte der Politik. Ein Kompetenzmodell, Bonn 2010; Waldis/Ziegler, Politische Bildung.

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sachlichen wie politischen Konsequenzen einer Vorlage, die sowohl manipulativen Abstimmungsvorlagen wie auch folgenreichen „Fehlentscheidungen“ vorbeugen sollen.18 Dabei gilt ein besonderes Interesse der politischen Meinungsbildung unter den Bedingungen der Digitalisierung.19 Was das Verhältnis von Bürgerinnen und Bürgern auf der einen und dem Staat auf der anderen Seite betrifft, stützt die Didaktik ihre theoretischen Überlegungen auf demokratietheoretische Konzepte und Diskussionen.20 Der Didaktik und der Politikwissenschaft bereitet demokratietheoretisch die Tatsache Sorge, dass ein relevanter Anteil der Wohnbevölkerung an den politischen Aushandlungsprozessen nicht beteiligt ist, vor allem der hohe Prozentsatz ausländischer Kinder in schweizerischen Schulklassen gibt Anlass zu einer grundsätzlichen Prüfung der Ziele und Inhalte schulischer Politischer Bildung.21 Ungleichheit in den Bildungschancen als Faktor für die später unterschiedliche Beteiligung sozialer Gruppen an politischen Prozessen findet generell Aufmerksamkeit.22 18 Vgl. Waldis, Demokratietheorie. 19 Manuel S. Hubacher/Monika Waldis (Hg.), Politische Bildung für die digitale Öffentlichkeit. Umgang mit politischer Information und Kommunikation in digitalen Räumen, Wiesbaden 2021. DOI 10.1007/978-3-658-33255-6. 20 Vgl. dazu Kriesi/Müller (Hg.), Herausforderung. Darin insbesondere: Wolfgang Merkel, Was ist Demokratie? Herrschaft des Volkes, in: Kriesi/Müller (Hg.), Herausforderung Demokratie, Zürich 2013, 100–151. 21 Glaser, Politische Bildung; ders. (Hg.), Politische Rechte für Ausländerinnen und Ausländer? (Schriften zur Demokratieforschung 13), Zürich 2017; Béatrice Ziegler, Studien und Konzepte zur politischen Bildung mit Migrant/-innen. Das Beispiel Schweiz, in: Georg Weißeno (Hg.), Bürgerrolle heute. Migrationshintergrund und politisches Lernen, Bonn 2010, 190–202; Monika Waldis, Politische Bildung in der Migrationsgesellschaft. Eine Durchsicht fachdidaktischer Konzepte und empirischer Befunde, in: Steve Kenner/Dirk Lange (Hg.), Citizenship Education. Konzepte, Anregungen und Ideen zur Demokratiebildung, Frankfurt a. M. 2017, 147–158; Vera Sperisen/Simon Affolter, Teilhabe ermöglichen statt integrieren, in: Mechtild Gomolla/Ellen Kollender/Christine Riegel/Wiebke Scharathow (Hg.), Diversitäts- und Antidiskriminierungskonzepte im Feld von Schule und Migration. Erfordernisse, Spannungen und Widersprüche, in: Zeitschrift für Diversitätsforschung und -management (2019) 1‒2, 106–111; Dies., Den Blick auf das Politische schärfen. Vom Umgang mit hegemonialen Zugehörigkeitsordnungen in der Politischen Bildung, in: Dirk Lange/Moritz P. Haarmann/Steve Kenner (Hg.), Politische Bildung als Demokratisierung der Gesellschaft? Wiesbaden 2020, 217–232. DOI 10.1007/978-3-658-29556-1_15. 22 Béatrice Ziegler (Hg.), (Un-)Gleichheiten und Demokratie (Schriften zur Demo-

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3. TRADITIONELLE POLITISCHE KULTUR DER DIREKTEN DEMOKRATIE

In der Überzeugung, die demokratische Praxis der Politik in der Gemeinde und ihren Organen, im Kanton und auf Bundesebene sowie die zivilgesellschaftlichen politischen Diskussionen (in der Familie, in Vereinen und in einer als reich bezeichneten Presselandschaft) begründeten demokratische Gesinnung und Praxis auch bei heranwachsenden Generationen, ging man lange davon aus, ein allfälliger Unterricht in Politischer Bildung diene primär der Vermittlung einiger grundlegender Kenntnisse über die Institutionen. Dazu gehörte gelegentlich aber auch die Förderung „vaterländischer“ bzw. „patriotischer“ Gesinnung.23 Traditionellerweise erfolgte in der Schweiz eine Erziehung zum Staatsbürger (und seit 1971 zur Staatsbürgerin) hauptsächlich in der nach-obligatorischen Schulzeit, nämlich vornehmlich im Geschichtsunterricht der weiterführenden Schulen der Sekundarstufe II (ca. 15‒19 Jahre, je nach Kanton). Lehrpläne der Berufsschulen sehen seit langem Politische Bildung als Unterrichtsgegenstand vor, reservieren dieser aber nur wenige Stunden. Im gymnasialen Unterricht banden die Lehrpläne meist Schweizer Geschichte und Staatskunde zusammen, ab den 1970er Jahren verschwand die Staatskunde fast überall aus dem Unterricht. Auch die Schweizer Geschichte geriet seit den 1970er Jahren immer stärker unter Druck, da sie den schweizerischen Sonderfall bedient habe.24 Partizipation hielt man mit der Enkulturation in die politische (Vereins-)Kultur der Region und des Landes für außerschulisch gefördert. Der Inhalt „Staatskunde“ hatte damit mehrheitlich instrumentellen Charakter: Die Vermittlung eines institutionellen und formalen Grundwissens sollte den Schülerinnen und Schülern die spätere Wahrnehmung von Wahl- und Abstimmungsrechten ermöglichen.25 kratieforschung 12), Zürich 2016; Dies., Geschlechterungleichheit. Demokratie und die Rolle der Schule. Anforderungen an die Professionalität der Lehrperson aus Sicht der Didaktik der Politischen Bildung, in: Susanne Burren/Sabina Larcher (Hg.), Geschlecht – Bildung – Profession. Ungleichheiten im pädagogischen Berufsfeld, Opladen–Berlin–Toronto 2022, 84–105. 23 Vgl. Nadine Ritzer, Der Kalte Krieg in den Schweizer Schulen. Eine kulturgeschichtliche Analyse, Bern 2015; vgl. außerdem Lötscher/Schneider/Ziegler, Politische Bildung. 24 Damit war insbesondere eine isolationistische Sicht auf die Politik der neutralen Schweiz gemeint. 25 Lötscher/Schneider/Ziegler, Politische Bildung.

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Die Politische Bildung auf Sek-I-Stufe war in den meisten Kantonen nicht in der Stundentafel aufgeführt, Aspekte oder Themen der Politischen Bildung waren an die Gründung des schweizerischen Bundesstaates gebunden26 – so wurde etwa auf die Kenntnis des Prinzips der Gewaltenteilung als grundlegender Struktur des 1848 gegründeten Bundesstaates Wert gelegt.27 Aus Anlass stattfindender Wahlen in das eidgenössische oder das kantonale Parlament thematisierte man praktische Vorgehensweisen, sodass jeder Schüler, jede Schülerin wenigstens einmal in der obligatorischen Schulzeit mit dem Wählen als Vorgang vertraut gemacht worden sein dürfte. Dies bedeutet keineswegs, dass es nicht auf beiden Sekundarstufen Lehrpersonen gegeben hat, denen eine ausgeprägte Beschäftigung mit Politik ein Anliegen war. Sie standen aber stets vor einer schwierigen Aufgabe, da sie keine fachliche und fachdidaktische Ausbildung in Politischer Bildung erfahren konnten und in einem Umfeld agieren mussten, in welchem alltagsweltliche Vorstellungen von Politischer Bildung die allfälligen Diskussionen bestimmten und schulische Politische Bildung schnell in den Geruch politischer Beeinflussung kam.28 Den Verfechterinnen und Verfechtern einer Enkulturation29 geht es heute angesichts der diagnostizierten Beteiligungsdefizite darum, Partizipationsangebote zu fördern, weil sie sich davon den Aufbau einer lebenslangen Praxis der Teilnahme versprechen. Empirische Studien erbringen aber keinen Nachweis, dass schulische Partizipation die Voraussetzungen für eine „politische Mündigkeit“ tatsächlich schafft.30 Bisher ist nicht belegt, dass schulische und außerschulische Partizipationsprogramme einen Beitrag zur Erweiterung von

26 Ruth Calderón-Grossenbacher, Politische Bildung in der Schweiz. Analyse des Lehrplans auf Sekundarstufe I im Kanton Bern, Lizentiatsarbeit Universität Freiburg (CH) 1998. 27 Fritz Oser/Roland Reichenbach (Hg.), Politische Bildung in der Schweiz. Schlussbericht. Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK), Bern 2000, 30. 28 Vgl. Ritzer, Der Kalte Krieg. 29 Darunter kann nun die traditionelle Richtung der republikanischen Sozialisierung (vgl. Abschnitt 3) oder diejenige des Demokratielernens, die in der BNE berücksichtigt wird, verstanden werden. Zu letzterer Dirk Lange/Gerhard Himmelmann (Hg.), Demokratiebewusstsein. Interdisziplinäre Annäherungen an ein zentrales Thema der politischen Bildung, Wiesbaden 2007. 30 Carsten Quesel/Fritz Oser (Hg.), Die Mühen der Freiheit. Probleme und Chancen der Partizipation von Kindern und Jugendlichen, Zürich–Chur 2006.

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Kenntnissen und zur Steigerung des Interesses an Politik leisten.31 Es gibt keine Hinweise, dass Partizipation das Interesse für Politik bzw. die Motivation, politisch zu handeln, direkt beeinflusst.32 Die Didaktik der Politischen Bildung setzt sich deshalb das Ziel, dass Schülerinnen und Schüler zur Partizipation befähigt werden, und fasst dies als Element der politischen Kompetenz auf.

4. EMPIRISCH BEGRÜNDETE AL ARMRUFE

Die schweizerischen Befunde der internationalen IEA-Studie, in deren Rahmen Daten zum politischen Wissen, zum Interesse und zur Bereitschaft zur politischen Partizipation bei Jugendlichen der neunten Klassen kurz vor der Jahrtausendwende erhoben wurden,33 wurden als alarmierend für einen Staat diagnostiziert, welcher die Jugendlichen mit 18 Jahren an den politischen Rechten der direkten Demokratie teilhaben lässt. Ein im internationalen Vergleich unterdurchschnittliches Wissen, Fremdenfeindlichkeit, schwach ausgeprägtes Interesse für Politik und geringe Bereitschaft zur zukünftigen Partizipation begründeten den Ruf nach schulischer Politischer Bildung. Zwar führten die Resultate der ICCS-Studie von 200934 zu einer nüchterneren, wenn auch nach wie vor besorgten Einschätzung: Insbesondere das darin zutage tretende Des31 Sibylle Reinhardt: Was leistet Demokratie – Lernen für die politische Bildung? Gibt es empirische Indizien zum Transfer von Partizipation im Nahraum auf Demokratie-Kompetenz im Staat? Ende einer Illusion und neue Fragen, in: Dirk Lange (Hg.), Demokratiedidaktik. Impulse für die politische Bildung, Wiesbaden 2010, 125–141; Alexander Wohnig, Die Entwicklung politischer Partizipationsfähigkeit in politischen Lernprozessen, in: Ziegler/Waldis (Hg.), Politische Bildung, 191– 212; Georg Weißeno/Barbara Landwehr, Politische Partizipation. Selbstkonzept und Fachwissen. Ergebnisse einer Studie, in: Ziegler/Waldis (Hg.), Politische Bildung, 175–190. 32 Vgl. ebd., 186–188. 33 Fritz Oser/Horst Biedermann, Jugend ohne Politik. Ergebnisse der IEA-Studie zu politischem Wissen. Demokratieverständnis und gesellschaftlichem Engagement von Jugendlichen in der Schweiz im Vergleich mit 27 anderen Ländern, Zürich 2003. 34 Horst Biedermann/Fritz Oser/Liana Konstantinidou/Dagmar Widorski, Staatsbürgerinnen und Staatsbürger von morgen. Zur Wirksamkeit politischer Bildung in der Schweiz. Ein Vergleich mit 37 anderen Ländern (ICCS – International Civic and Citizenship Education Study), Universität Freiburg 2010, URL: http://edudoc. ch/record/87080/files/zu10096.pdf (abgerufen am 2.6.2021).

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interesse von jungen Menschen gegenüber einer Beteiligung an den politischen Aushandlungsprozessen bestätigte den Handlungsdruck. Das Wissen der Jugendlichen hatte sich aber gegenüber 2003 nur auf den ersten Blick verbessert. Entfernt man aus dem Sample die Daten der neu hinzugekommenen Staaten, sehen die Ergebnisse 2009 im internationalen Vergleich nicht wesentlich besser aus als 2003. Auch der Befund, dass sich innerhalb der Gruppe der befragten Jugendlichen eine deutliche Kluft zum letzten Fünftel auftat, die zudem mit sozialen Faktoren korrelierte,35 machte die Notwendigkeit, Maßnahmen zu ergreifen, deutlich. Andere Studien zu politischem Wissen, Interesse und Partizipationsbereitschaft von 18-Jährigen zeigten zwar, dass die jungen Leute einiges mehr an Wissen aufwiesen als noch 14-Jährige, aber ihr Interesse und ihre Partizipationsbereitschaft waren ebenfalls gering.36 Kleinere qualitative Studien, die das politische Interesse und das Verständnis von politischer Bildung breiter abfragten, zeigten ein differenzierteres Bild. Sie attestierten Jugendlichen ein durchaus vorhandenes Interesse an Politik, das sich punktuell, themenbezogen und häufig in nicht institutionellen Bereichen manifestierte.37 Damit erhielt der diagnostizierte Handlungsbedarf einen Hinweis auf die Richtung, in welche eine Reform zu gehen hätte. Nicht nur ein Mehr an Politischer Bildung bzw. deren Integration in die Volksschule schien angezeigt, sondern auch der Wandel des Verständnisses von Politischer Bildung hin zu einem adressaten- und handlungsorientierten Umgang mit politischen Themen und Prozessen.

35 Monika Waldis, Bildungs(un-)gleichheit in der Politischen Bildung, in: Ziegler (Hg.), (Un-)Gleichheit, 71–93, 83. 36 Ebd., mit Bezug auf CIVED-, CH-x- und CH@YOUPART-Studien. 37 Vgl. etwa Matthias Künzler/Yvonne Herzig Gainsford, „Ich finde es wichtig, dass man abstimmen geht!“ Studie zum politischen Interesse von Jugendlichen mit Empfehlungen für die Praxis. Teilstudie II im Rahmen von „scoop-it 2.0!“, Chur 2015, URL: https://www.fhgr.ch/fileadmin/fhgr/angewandte_zukunftstechnologien/IMP/projekte/scoop_it_2.0/Projekt-scoop_it_2.0-gruppendiskussion.pdf (abgerufen am 2.6.2021).

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5. „BILDUNG FÜR NACHHALTIGE ENTWICKLUNG“ STAT T POLITISCHE BILDUNG

In ähnlicher Weise wie für die Geschichtsdidaktik38 kam die Neukonzeption der Volksschule durch erstmals kantonsübergreifende, sprachregionale Lehrpläne (LP2139 und PER40) auch für die erst am Anfang stehende Didaktik der Politischen Bildung zu früh. Die noch nicht ausformulierte, aber auch in der Öffentlichkeit (noch) zu wenig akzeptierte Konzeption einer kompetenzorientierten Didaktik der Politischen Bildung in der Schweiz wurde angesichts der Tatsache, dass Politische Bildung sowieso keine eigenständige Domäne, sondern ein transversales „Thema“ werden sollte, beiseitegeschoben.41 „Demokratie“ und „Menschenrechte“ sollten thematisiert werden, die zentrale Verantwortung dafür wurde der Geschichte (auf Sek-I-Stufe) bzw. dem Fachbereich „Natur, Mensch, Mitwelt“ (Primar- bzw. Grundschulstufe) zugewiesen. Die dahinter liegende Konzeption entsprang der „Bildung für Nachhaltige Entwicklung“ (BNE), die damit aus zwei Gründen in die Lehrpläne Eingang fand: Zum einen bestand und besteht ein starker zivilgesellschaftlicher Druck, Umweltfragen in der Schule zu einem wichtigen Thema zu machen, was auch unter den Lehrpersonen hohe Akzeptanz besitzt.42 Zum andern hat die Schweiz internationale Vereinbarungen unterzeichnet, mit denen sie sich verpflichtete, 38 Vgl. Béatrice Ziegler, Reform zum falschen Zeitpunkt. Die Ausgestaltung des Fachs „Geschichte“ im Lehrplan 21 als Kollateralschaden, in: Flavian Imlig/Lukas Lehmann/Karin Manz (Hg.), Folgeprobleme. Annäherungen an eine Theorie der Schulreform. Lucien Criblez zum 60. Geburtstag, Wiesbaden 2018, 37–50. 39 Lehrplan 21, URL: https://www.lehrplan21.ch/ (besucht am 2.6.2021). 40 Plan d’études. Conférence intercantonale de l’instruction publique de la Suisse romande et du Tessin, URL: https://www.plandetudes.ch/ (abgerufen am 2.6.2021). 41 Béatrice Ziegler, Politische Bildung im Deutschschweizer Lehrplan (Lehrplan 21), in: Actes du congrès de l’Actualité de la recherche en éducation et en formation. Université de Genève, 13–16 septembre 2010, Genève 2011, URL: https://plone2. unige.ch/aref2010/symposiums-longs/coordinateurs-en-h/nouvelles-demandessociales-et-valeurs-portees-par-l2019ecole (abgerufen am 2.6.2021); Dies., Welche Politische Bildung wollen wir? Die Arbeiten zur Integration von Politischer Bildung im Lehrplan 21, in: vpod – Bildungspolitik 170 (2011) 4‒6; Dies., Politische Bildung im Deutschschweizer Lehrplan, in: Lehrplan 21, 29–46. 42 Lehrkräfte waren bereits davor für diese Thematik sensibilisiert und wurden unterstützt durch Stiftungen wie das Naturama in Aarau, URL: https://www.naturama. ch/ (abgerufen am 1.6.2021), oder diejenigen, die sich im Zusammenhang mit den neuen Lehrplänen als Stiftung éducation 21, als nationales Kompetenz- und Dienstleistungszentrum für Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE) in der

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BNE, aber auch Menschenrechts- und Demokratieerziehung in die Schulen zu integrieren. Letzteres schien mit dem Einbezug der beiden Themen in die BNE-Konzeption erfüllt.43 Damit hat die Schule nun zwar deutlich Abstand von einer Staatsbürgerschaftskunde genommen, aber von einer Integration der Politischen Bildung – wie durchaus behauptet wird – kann deswegen nicht gesprochen werden. Aus Sicht der Didaktik der Politischen Bildung handelt es sich um eine verpasste Chance. Die Leitidee der „Bildung für Nachhaltige Entwicklung“ weist einen normativen Überschuss auf, auch wenn jüngere Konzeptionen deutlich argumentativer geworden sind. Die Didaktik der Politischen Bildung setzt hingegen darauf, zentrale Wertekonzepte wie „Gemeinwohl“, „Demokratie“, „Menschenrechte“ oder „Nachhaltigkeit“ in argumentativer und kontroverser Weise mit Fokus darauf zu behandeln, die Bedeutung dieser Wertekonzepte für eine nachhaltig demokratische Gesellschaft zu entwickeln und zu diskutieren. Politische Bildung den Zielsetzungen der BNE unterzuordnen, wie dies in den Lehrplänen LP 21 und PER geschehen ist, ist mit deren Intention, Kontroversität auch in der Behandlung von Wertkonzepten zu beachten, nicht kompatibel. Es werden damit per se Grundprinzipien der Politischen Bildung für die Schule verletzt.44 Die schulische Einforderung von bestimmten Werthaltungen wäre aus Sicht der Didaktik der Politischen Bildung als Indoktrination und damit als eine massive Einschränkung persönlicher Erfahrungs- und Lernmöglichkeiten und letztlich der Entfaltungsfreiheit einzustufen und wird denn auch als typisch für undemokratische Schulsysteme eingeschätzt.45

Schweiz, zusammenschlossen, URL: https://www.education21.ch/de (abgerufen am 1.6.2021). 43 Vgl. dazu die Erläuterungen der Stiftung education 21, URL: https://www.education21.ch/de/bne (abgerufen am 1.6.2021). 44 Béatrice Ziegler, Fachliches Lernen und thematische Fokussierung. Éducations à als Themen in der Politischen Bildung, in: Schweizerische Zeitschrift für Bildungsforschung 42 (2020) 1, 46–63. 45 Wolfgang Sander, Politik in der Schule. Kleine Geschichte der politischen Bildung in Deutschland, Marburg 2010; vgl. zudem die Debatte um den Beutelsbacher Konsens in Benedikt Widmaier/Peter Zorn (Hg.), Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens? Eine Debatte der politischen Bildung, Bonn 2016.

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6. FAZIT

Die Didaktik der Politischen Bildung verwahrt sich gegen den Auftrag, gute Demokratie garantieren zu sollen. Vielmehr sieht sie es als Notwendigkeit an, Kinder und Jugendliche an die Mechanismen der gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse heranzuführen, damit sie vielseitig informiert gut begründete Entscheidungen für sich fällen und ihre Interessen und Werthaltungen in die politischen Prozesse einbringen können. Dabei berücksichtigt sie die Tatsache, dass heutige Gesellschaften äußerst heterogen sind, Politische Bildung also die Staatsbürgerschaft nicht zur Voraussetzung, sondern zu einem Analysekonzept für das kompetente Handeln in der Demokratie machen muss. Inhalte und Vorgehensweisen beim Lehren und Lernen im Bereich der Politischen Bildung begründet die Didaktik der Politischen Bildung mit theoretisch entwickelten und empirisch überprüften Ansätzen und Konzepten. Derweil stemmt sich das immer noch tief verwurzelte Verständnis von Politischer Bildung als politischer Sozialisation gegen schulische Politische Bildung und verteidigt die enge Bindung von Politischer Bildung an die („vaterländische“) Geschichte. Gleichzeitig hat man sich mit der Integration in die BNE für die Einführung von Konzepten der Menschenrechte und der Demokratie entschieden, die aber weitestgehend von Politik befreit sind. Schulische Politische Bildung, so argumentiert die Didaktik der Politischen Bildung zugunsten ihrer Domäne, ermöglicht rationale und sachbezogene demokratische Prozesse und damit auch auf solider Information basierende Legitimation von Herrschaft. Entscheidungen sind nachhaltiger, wenn informierte Bürgerinnen und Bürger sich von unsorgfältigen und irreführenden Diskussionen in der Öffentlichkeit weniger täuschen lassen. Damit bilden die Abstimmungsresultate gefestigte politische Interessen und Haltungen ab und führen zu besseren politischen Problemlösungen. Kompetente Bürgerinnen und Bürger vermögen es, den Menschenrechten und demokratischen Grundrechten Achtung zu verschaffen, und stärken die demokratischen Institutionen durch ihre Kontrolle. Die Didaktik der Politischen Bildung ist weit davon entfernt, in der schulischen Politischen Bildung ein Allheilmittel gegen demokratische Gefährdungen zu sehen. Aber Demokratie kann es sich nicht leisten, auf eine forschungsbasierte Didaktik der Politischen Bildung und auf die Förderung politischer Kompetenz im schulischen Kontext zu verzichten. Zu groß ist die Gefahr, dass sie sich und ihre Institutionen selbst zerstört.

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András Jakab

KRISEN- UND ERFOLGSNARRATIVE DES BUNDESVERFASSUNGSGESETZES

1. EINLEITUNG

Narrative (Erzählungen) ordnen, vereinfachen und bewerten die Wirklichkeit und betonen (manchmal überbetonen) einige Wirklichkeitselemente, während sie andere ignorieren.1 Sie sind oft implizit, treten also nicht explizit, sondern etwa über die Themenwahl oder die gewählte Terminologie in Erscheinung. Spricht man beispielsweise über großangelegte Reformen, kommt hierbei implizit zum Ausdruck, dass eine Krise herrscht, ansonsten wären Reformen ja nicht notwendig. Sogar dieselben Wirklichkeitselemente können als Grundlage von verschiedenen Narrativen dienen: Wie man erzählt, also wie die einzelnen Elemente geordnet und betont werden, führt nämlich zu unterschiedlichen Erzählungen.2 Diverse Erzählungen über die vermeintliche Wirklichkeit kreieren eine Realität für sich, die selbst Untersuchungsobjekt werden kann. 1

2

Schriftliche Form des am 5. Februar 2021 im Rahmen der interdisziplinären Tagung der Universität Salzburg „Narrative gelungener Demokratie?“ gehaltenen Vortrags. Für kritisches Feedback bin ich Larissa Bley, Lando Kirchmair, Benjamin Kneihs, Michael Thaler und Edvin Zukic dankbar. Zum Begriff des Narrativs und zu seiner rechtswissenschaftlichen Relevanz siehe noch Günter Frankenberg, Comparative Constitutional Studies. Between Magic and Deceit, Cheltenham 2018, 91–93: „A narrative may be tentatively defined as a story created in a constructive format as a work of writing, speech, pictures and so on, that describes a sequence of fictional or non-fictional events, thus joining description, explanation and argumentation as a further rhetorical mode of discourse. (p. 91) […] Lawyers and legal scholars have traditionally resisted the narrative style and tended to insist that their texts are strictly factual accounts (dealing with facts of a case that is) and purely logical-doctrinal deductions (legal reasoning) – that no one speaks but the law tells itself. (p. 92) […] Gradually, however, this resistance has caved in. Scholars […] paved the way for an understanding of legal narrations not as the product of some distant time or an abstract logic, but an attempt of the narrator to map out, from the perspective of the here and now, a

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Im folgenden Beitrag werden einige Beispiele für Krisen- und Erfolgsnarrative des Bundes-Verfassungsgesetzes (B-VG) aus dem verfassungsrechtswissenschaftlichen und aus dem politischen Diskurs dargestellt. Wie wir sehen werden, haben die zwei Diskurse einander an verschiedenen Stellen beeinflusst. Es wird nicht nur der Frage nachgegangen, welche Wirklichkeitselemente durch die einzelnen Narrative gezielt betont bzw. ignoriert werden, sondern es werden auch Überlegungen dazu angestellt, warum einige Narrative mit der Zeit an Popularität gewonnen beziehungsweise verloren haben.

2. REFORMDISKURSE ALS (TEILWEISE IMPLIZITE) KRISENNARRATIVE: GRUNDRECHTSREFORM, NEUKODIFIK ATION, FÖDERALISMUSREFORM

Es gab in den letzten Jahrzehnten in Österreich drei größere Reformdiskurse, wobei alle drei das Vorhandensein je einer bestimmten Krise der Bundesverfassung implizieren.3 (A) Einleitend werden zunächst einige Aspekte des Narrativs von der Notwendigkeit einer Grundrechtsreform vorgestellt. Das B-VG selbst beinhaltet keinen Grundrechtskatalog (nur einzelne Grundrechtsbestimmungen). Im Entstehungsjahr des B-VG, 1920, gab es für einen umfassenden Grundrechtskatalog nicht den notwendigen politischen Konsens (was auch der Grund für das Fehlen einer Präambel des B-VG war), weshalb als Kompromiss das Staatsgrundgesetz, also der alte kaiserliche Grundrechtskatalog aus dem Jahr 1867, übernommen wurde. Seit den 1960er Jahren gab es verschiedene Versuche, eine groß angelegte Grundrechtsreform durchzusetzen. Es wurde sogar eine Grundrechts-Kommission aufgestellt, die Ergebnisse waren allerdings aus demselben Grund

3

coherent story about a series of disparate past events. (p. 92) […] Like narrations in the everyday world, legal science stories establish a relationship between why or at least how something happened and turned into a memorable event, and what will come of it. […] theoretical and doctrinal legal narratives try to come to terms with contingency by embedding singular events or facts in a historical or logical connection (p. 92–93).“ Für Literaturhinweise zu den Reformdiskursen siehe András Jakab, Begriffe und Funktionen der Verfassung, in: András Jakab (Hg.), Methoden und theoretische Grundfragen des österreichischen Verfassungsrechts. Eine Einführung für Fortgeschrittene, Wien–Baden-Baden 2021, 339–386, 356–357.

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Krisen- und Erfolgsnarrative des Bundes-Verfassungsgesetzes

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(d.  h. fehlender Konsens) sehr bescheiden: Ein(ziges greifbares) Nebenprodukt dieser Bemühungen war das bis heute geltende eigenständige Bundesverfassungsgesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit. Die Erarbeitung eines neuen Grundrechtskatalogs wurde aus zwei Gründen befürwortet: Einerseits beeinträchtige – so die vorherrschende Meinung – das Fehlen eines modernen Grundrechtskatalogs die Qualität des österreichischen Grundrechtsschutzes, andererseits brauche man für die symbolische Integrationskraft der Verfassung auch einen modernen (d. h. aus der republikanischen Zeit stammenden) österreichischen Grundrechtskatalog. Heute ist dieser Diskurs wesentlich leiser und schwächer, wenngleich er nicht gänzlich zum Erliegen gekommen ist. Dafür gibt es zwei Gründe: (1) 1958 wurde die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) durch Ö ­ sterreich ratifiziert und 1964 sogar in den Verfassungsrang erhoben. Seit den 1980er Jahren übt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eine aktivistische Rechtsprechung aus, die auch vom österreichischen Verfassungsgerichtshof (VfGH) übernommen wurde.4 Dementsprechend hat Österreich heutzutage schon einen gut entwickelten und modernen Grundrechts­katalog in Form der EMRK. Dass es so weit kommen würde, war vor den 1980er Jahren kaum vorhersehbar. (2) Ein zweiter Grund, warum der Diskurs zur allgemeinen Grundrechtsreform in Österreich leiser wurde, ist mit einem aktivistischen Zug des VfGH zu erklären: Die europäische Grundrechte-Charta wurde durch ein Erkenntnis im Jahr 2012 als österreichischer Grundrechtekatalog anerkannt (mit einem beschränkten Anwendungsbereich, siehe VfSlg 19.632/2012). (B) Der zweite Reformdiskurs betrifft die Notwendigkeit der Neukodifikation der Bundesverfassung, wir können diesen auch als „Ruinendiskurs“ bezeichnen. Im österreichischen Verfassungsrecht gibt es kein Inkorporationsgebot, d. h. Verfassungsbestimmungen findet man nicht nur im Stammtext des B-VG, sondern auch in einfachen Gesetzen (explizit als „Verfassungsbestimmungen“ bezeichnet) und in weiteren eigenständigen Bundesverfassungsgesetzen. Das österreichische Verfassungsrecht ist dadurch tatsächlich stark zersplittert – ob es deswegen allerdings als „Ruine“ bezeichnet werden sollte, ist eine andere Frage. Das Wort „Zersplitterung“ klingt im Vergleich eher neutral, der 4

Gerhart Holzinger/Stefan Leo Frank, Die Verfassungsgerichtsbarkeit. Essenz und Wandlung, in: Clemens Jabloner (Hg.), Festschrift 150 Jahre Wiener Juristische Gesellschaft, Wien 2017, 169–184, 177: als „Katalysator der Verfassungsgerichtsbarkeit“ bezeichnet.

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Begriff „Ruine“ hingegen beinhaltet ein stark negatives Werturteil. Es gibt zahlreiche Ausdrücke namhafter österreichischer Juristen, die dieser Terminologie folgten: Die Bezeichnung „Ruine“ stammt von Hans Klecatsky (Universitätsprofessor und auch Justizminister von 1966 bis 1970), Theo Öhlinger sprach vom „Zerfall des Verfassungsrechts“, Karl Irresberger von einem „Verfassungsdschungel“ und Ludwig Adamovich jun. (Präsident des VfGH von 1984 bis 2002) von der „Atomisierung des Verfassungsrechts“.5 Gerade um dieses Problem zu beheben, wurde der „Österreich-Konvent“ ins Leben gerufen, welcher zwischen 2003 und 2005 diesbezüglich auch bedeutsame Arbeit geleistet hat. Letztlich muss die Arbeit des „Österreich-Konvents“ allerdings als gescheitert bezeichnet werden. Es gab zwar Teilergebnisse, die umgesetzt wurden (Verfassungsbereinigungen, durch die zahlreiche Verfassungsbestimmungen außer 5

Detailliert zur Geschichte der Ruinen-Metapher siehe Peter Bußjäger, Jenseits von Spielregel- und Werteverfassung: Verfassungsfunktionen auf dem Prüfstand, in: Peter Bußjäger/Anna Gamper/Arno Kahl (Hg.), 100 Jahre Bundes-Verfassungsgesetz, Wien–Baden-Baden 2020, 1–20, 10–11 mwN. Zu den weiteren Bezeichnungen siehe Ludwig Adamovich jun., Zur Fortentwicklung des österreichischen Verfassungsrechts, in: Eberhard Zwink (Hg.), Salzburger Symposion zum Jubiläum 60 Jahre Bundesverfassung, Salzburg 1980, 58–68, 58; Karl Irresberger, Wege aus dem Verfassungsdschungel, in: Journal für Rechtspolitik (1994) 2, 239–251, 251; Theo Öhlinger, Verfassungskern und verfassungsrechtliche Grundordnung. Gedanken zu Peter Pernthalers Verfassungstheorie, in: Karl Weber/Norbert Wimmer (Hg.), Vom Verfassungsstaat am Scheideweg. Festschrift für Peter Pernthaler, Wien–New York 2005, 273–293, 273. Zum Kontext siehe Ewald Wiederin, 100 Jahre Verfassung. Die Schönheit der Bewährung, Der Standard 1.10.2020, URL: https://www. derstandard.at/story/2000120377260/die-schoenheit-der-bewaehrung (abgerufen am 15.2.2022): „Neue Wertschätzung war aber nicht der entscheidende Grund [der Wiederinkraftsetzung im Jahr 1945]. Dieser Schritt ersparte eine Verfassungsdiskussion, die schwierig geworden wäre; er ersparte die Bewertung und Bewältigung von Nationalsozialismus und Ständestaat; er unterstrich die Kontinuität der österreichischen Existenz und stützte dadurch, was außenpolitisch gelegen kam, die These von der Okkupation Österreichs durch das Deutsche Reich. Auch nach 1945 sollte es dauern, bis das B-VG als Grundordnung der Republik geschätzt wurde. Staatsvertrag 1955 und Neutralitätsgesetz 1955 waren populärer und für die Identität Österreichs wichtiger. Große Koalitionen gossen tagespolitische Kompromisse in Verfassungsform, um sie für alle Zukunft abzusichern; und statt die Regeln des B-VG entweder einzuhalten oder abzuändern, durchlöcherten sie diese mit Ausnahmen. Das geschah durch Verfassungsbestimmungen außerhalb des B-VG, das je länger, desto mehr zur Rumpfverfassung verkam. Universitätsprofessor Hans Klecatsky verglich darum die Bundesverfassung mit einer Ruine und stieß damit auf große Resonanz. Die Verfassung galt als hässlich, überholt, abrissreif.“

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Kraft gesetzt wurden), am Ende musste man sich jedoch eingestehen, dass die Aufgabe hoffnungslos komplex ist und dass, zumindest in absehbarer Zukunft, kein einheitliches Verfassungsdokument in Österreich geschaffen werden kann. Der Diskurs über die Neukodifizierung der österreichischen Bundesverfassung kam damit zum Erliegen. Darüber hinaus hatte man auch eingesehen, dass es sogar gefährlich sein kann, über die Notwendigkeit der Neukodifikation zu sprechen, da dieser Diskurs die Autorität der Verfassung untergraben kann.6 Es gibt sicherlich keine perfekte Verfassung – die österreichische Bundesverfassung ist da keine Ausnahme.7 Die sich stellenden Probleme werden nun aber als punktuelle Reformvorschläge thematisiert und nicht als Begründungen für eine groß angelegte Neukodifikation herangezogen – so etwa die Diskussionen um die Amtsverschwiegenheit, um parteiinterne Demokratie, Weisungen innerhalb der Staatsanwaltschaft oder die Rechnungshof-Kontrolle der Parteien als Themen für potentielle Verfassungsänderungen. Spricht man heute über die österreichische Bundesverfassung als „Ruine“, ist dies wohl weniger als Selbstkritik zu verstehen, sondern vielmehr als sprachlicher Code für (populistische) Kritik an liberaler Demokratie im Allgemeinen. (C) Der dritte größere österreichische verfassungsrechtliche Reformdiskurs der letzten Jahrzehnte betrifft die Notwendigkeit einer umfassenden Föderalismusreform. Die österreichische Kompetenzordnung wird aus verschiedenen Gründen berechtigterweise kritisiert.8 Sie wird als kompliziert, belastet durch ein Übergewicht des Bundes (welches in der Realverfassung noch mehr zum Ausdruck kommt als in der geschriebenen Verfassung) und als zersplittert bezeichnet. Letzteres bedeutet, dass sich Kompetenzbestimmungen nicht nur im B-VG, sondern auch außerhalb von diesem (als sogenannte Kompetenzdeckungsklauseln in einfachen Gesetzen) finden.9 Darüber hinaus wird oftmals 6

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Christoph Konrath, Erinnerung und Hoffnung, Regeln und Werkzeug. Über Verfassung als Argument in politischen Debatten, in: Thomas Walter Köhler/Christian Mertens (Hg.), Jahrbuch für Politische Beratung 2019/2020, Wien 2020, 112–121, 114. Zu den Gefahren einer Neukodifikation als „Büchse der Pandora“ vgl. Clemens Jabloner, Vom Verfassungskampf zum Österreich-Konvent, in: Nikolaus Dimmel/Josef Schmee (Hg.), Politische Kultur in Österreich 2000–2005, Wien 2005, 155–165, 158, und Magdalena Pöschl, Die Zukunft der Verfassung, Wien 2010, 54. Kurz zusammengefasst z. B. durch Peter Bußjäger, „Dreifach getötet und erschlagen?“, in: Manfred Matzka/Peter Hilpold/Walter Hämmerle (Hg.), 100 Jahre Verfassung, Wien 2020, 153–156. Ewald Wiederin, Die Kompetenzverteilung hinter der Kompetenzverteilung, in: Zeitschrift für öffentliches Recht (2011) 2, 215–232.

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auch die Rolle des Bundesrates hinterfragt, der als viel zu schwaches und möglicherweise obsoletes Verfassungsorgan in die Kritik gerät.10 Es stimmt tatsächlich, dass es in Österreich Probleme mit der bundesstaatlichen Kompetenzordnung gibt. Diese Probleme haben bisher aber zu keinen wesentlichen Beeinträchtigungen der Funktionsfähigkeit des Gesamtstaates geführt – etwa im Gegensatz zu Belgien, wo das misslungene verfassungsrechtliche Föderalismusdesign den Staat regelrecht stilllegte. Man muss ferner einsehen, dass diese Frage letztlich ein zero sum game ist, also einem Gewinner immer ein Verlierer auf der anderen Seite der Kompetenzverteilung gegenübersteht. Des Weiteren gibt es bei dieser Reform viele „Vetospieler“, die ihr Einspruchsrecht teilweise durch Bundesverfassungsrecht, teilweise durch die politische Realität garantiert bekommen. All dies erschwert eine Reform. Letztlich hat man auch eingesehen, dass die Regeln des österreichischen Bundesverfassungsrechts in Bezug auf den Föderalismus so enorm detailreich und kompliziert sind, dass eine umfassende Reform kaum zu bewältigen wäre. Diese Schwierigkeiten waren für das Scheitern des gesamten „Österreich-Konvents“ verantwortlich: Man konnte die zahlreichen bundesstaatlichen Kompetenzbestimmungen, die in den verschiedensten einfachen Bundesgesetzen, aber auch in Bundesverfassungsgesetzen zu finden sind, nicht als einheitliches Dokument neu kodifizieren.11 Da die Durchführung einer umfassenden Föderalismusreform ohnehin als unmöglich zu bewältigende Aufgabe betrachtet wird, ist es auch nicht besonders ergiebig, darüber zu sprechen – der Diskurs ist, zumindest derzeit, dementsprechend leiser und schwächer.

10 Dazu András Jakab, Art 24 B-VG, in: Benjamin Kneihs/Georg Lienbacher (Hg.), Rill-Schäffer-Kommentar Bundesverfassungsrecht, Wien 2021, 26. Lfg., Rz 4–8. 11 Ewald Wiederin, Bundesstaatsreform in Österreich, in: Detlef Merten, (Hg.), Die Zukunft des Föderalismus in Deutschland und Europa, Berlin 2007, 87–117; Christoph Konrath, Dann bleibt es eben so. Föderalismus und Kompetenzverteilung als Themen des Österreich-Konvents, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft (2005) 4, 351–365.

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3. UMFASSENDE INHALTLICHE KRITIKEN ALS EXPLIZITE KRISENNARRATIVE: PARL AMENTSABSOLUTISMUS VS. „WEIMARER ZEITBOMBE“

Es gab auch Krisennarrative des B-VG, die nicht als allgemeine Reformdiskurse konzipiert waren, sondern als konkrete inhaltliche Kritik. (A) Gleich nach der Verabschiedung des B-VG, in den 1920er Jahren gab es einen Diskurs über den „Parlamentsabsolutismus“ im Regierungssystem des B-VG. Damals war das Regierungssystem gemäß dem B-VG rein parlamentarisch, d. h. der Nationalrat spielte verfassungsrechtlich eine wesentlich stärkere Rolle, während der Bundespräsident nur eine eher symbolische Funktion hatte. Eine „Lösung“ hierfür war die Verfassungsnovelle von 1929, wodurch größtenteils die halbpräsidentielle Regierungsform der Weimarer Reichsverfassung übernommen wurde.12 (B) Das zweite konkrete inhaltliche Krisennarrativ erscheint seit dem Zweiten Weltkrieg immer wieder, gerade als Konsequenz der soeben erwähnten „Lösung“ des ersten Krisennarrativs. Die mit der 1929er-Verfassungsnovelle eingeführte Regierungsform wurde als „Weimarer Zeitbombe“ aufgefasst. Bruno Kreisky bezeichnete sie bekannterweise als eine „präfaschistische“ Verfassungsnovelle und betrachtete dementsprechend auch das B-VG, zumindest teilweise, als präfaschistisch. Insbesondere aus Anlass der Bundespräsidentenwahl 2016 gab es besorgte Stimmen aus den Reihen der Verfassungsrechtswissenschaftler*innen, die in der starken Rolle des Bundespräsidenten eine Autokratie-Gefahr sahen.13 Dieses Narrativ ist allerdings mit dem „Ibiza-Skandal“ praktisch verschwunden, im Zuge dessen das B-VG seine Stressresistenz gegenüber autokratischen Tendenzen bewiesen haben sollte. Auf diese Frage komme ich gleich noch zurück.

12 András Jakab, Das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz (1920) und die Weimarer Reichsverfassung (1919). Weimars negativer Einfluss auf die österreichische Verfassung, in: Revista de Historia Constitucional 20 (2019), 435–448. 13 Theo Öhlinger, Das wäre wohl so etwas wie eine Verfassungskrise (Interview mit Maximilian Steinbeis), Verfassungsblog 25–04–2016, URL: https://verfassungsblog.de/das-waere-wohl-so-etwas-wie-eine-verfassungskrise/ (abgerufen am 15.2.2022); anders Benjamin Kneihs, Die „demokratische Republik“. Zu den Befugnissen des Bundespräsidenten, in: Journal für Rechtspolitik (2017) 2, 73–77.

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4. ERFOLGSNARRATIVE: INTELLEKT, ÄSTHETIK, ALTER

(A) Nach dem ersten hier zu besprechenden Erfolgsnarrativ ist das B-VG ein Produkt des Gründungsvaters Hans Kelsen,14 der auch die Verfassungsgerichtsbarkeit erfunden habe, die dann im weiteren Verlauf in vielen Ländern der Welt übernommen worden sei.15 2020, also rund hundert Jahre nach der Verabschiedung des B-VG, wurde sogar eine Graphic Novel mit dem Titel „Gezeichnet, Hans Kelsen“ veröffentlicht.16 Einige Lösungen des B-VG seien also (ähnlich wie Red Bull oder die Mozartkugel) österreichische Exportschlager geworden. Mit der Betonung der Rolle Kelsens, eines der international bekanntesten österreichischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts, wird somit auch dem Text des B-VG mehr intellektuelles Prestige verliehen. Der Mythos Hans Kelsen wird auf unterschiedliche Weise verstärkt. Kelsen war tatsächlich einer der größten und weltweit einflussreichsten Rechtswissenschaftler überhaupt. Er hat sich auch selbst als Vater des Verfassungsgerichtshofes dargestellt. Und er hatte tatsächlich eine bedeutende Rolle bei der Ausarbeitung des B-VG. In Wirklichkeit war Hans Kelsen aber eher nur der Legist und nicht der ­Erfinder der Verfassungsgerichtsbarkeit. Als inhaltlichen Erfinder könnte man, zumindest im österreichischen Kontext, eher Georg Jellinek bezeichnen, der zu diesem Thema am Ende des 19. Jahrhunderts eine Kurz-Monographie 14 So mythisch und übertrieben etwa im Stiftbrief des Hans-Kelsen-Instituts: „Die Republik verdankt Hans Kelsen ihre Verfassung“, abgedruckt in Robert Walter/ Clemens Jabloner/Klaus Zenely (Hg.), 30 Jahre Hans Kelsen-Institut, Wien 2003, 107. Zur „Kelsenverfassung“ siehe Oswald Panagl/Peter Gerlich (Hg.), Wörterbuch der politischen Sprache in Österreich, Wien 2007, 86, 442; zu Kelsen als „Schöpfer der österreichischen Verfassung“ siehe ebd., 315, 317, 354, 451. 15 Margarete Schramböck, Parallelen zur Gegenwart, in: Manfred Matzka/Peter Hilpold/Walter Hämmerle (Hg.), 100 Jahre Verfassung, Wien 2020, 20–23, 21: „Die von Kelsen geschaffene Bundesverfassung hat sich daher auch bald nach ihrem Entstehen zu einem echten österreichischen Erfolgsmodell entwickelt – so wie sich der damals ebenfalls neugeschaffene Verfassungsgerichtshof als spezielles Gericht für Gesetzesprüfung zu einem erfolgreichen Exportartikel entwickelt hat – mehr als 100 Staaten weltweit verfügen heute über jene spezielle Form der Verfassungsgerichtsbarkeit, wie sie 1919/20 in Österreich entstanden war.“ 16 Die Arbeit ist zugleich eine popularisierte Einführung in das österreichische Verfassungsrecht, mit einem speziellen Fokus auf die Entstehung des B-VG, siehe Pia Plankensteiner, Gezeichnet, Hans Kelsen, hrsg. vom Jüdischen Museum Wien, Wien 2020.

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Abb.1: Titelseite und Klappentext der Graphic Novel „Gezeichnet, Hans Kelsen“.17

veröffentlicht17hatte.18 Die konkreten Regeln wurden in einem Gesetzesentwurf von Edmund Bernatzik vorbereitet, dem Habilitationsvater von Kelsen an der Universität Wien.19 Letztendlich stammte der politische Impuls von Karl Renner, der hauptsächlich aus Gründen der Bundesstaatlichkeit (zur Sicherung der bundesstaatlichen Kompetenzordnung) den Vorschlag der Verfassungsgerichtsbarkeit vorbrachte. Daneben wird Hans Kelsen oft als Vater und Architekt der Verfassung bezeichnet, was in dieser Form sicher auch etwas übertrieben ist.20 Zwar hat er während verschiedener Phasen an der Verfassungsgesetzgebung mitgewirkt21 17 Plankensteiner, Gezeichnet. 18 Georg Jellinek, Ein Verfassungsgerichtshof für Österreich, Wien 1885. 19 Ewald Wiederin, From the Federalist Papers to Hans Kelsen’s ,Dearest Child‘: The Genesis of the Austrian Constitutional Court, in: Zeitschrift für öffentliches Recht (2021) 2, 313–329. 20 Christian Moser, Der Vater der Verfassung, in: Österreichisches Anwaltsblatt (2020) 10, 548. 21 Thomas Olechowski, Hans Kelsen. Biographie eines Rechtswissenschaftlers, Tübingen 2020, 211–306.

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und hatte einen starken Einfluss auf die Systematik und die Terminologie des B-VG (etwa „Gesetzgebung“ statt „gesetzgebende Gewalt“)22 bzw. auf einige konkrete Bestimmungen (etwa auf die genaue Formulierung von Art 1 zweiter Satz oder Art 18 Abs 1 B-VG),23 inhaltlich gesehen war die Wirkung Hans Kelsens allerdings beträchtlich kleiner – insbesondere die Impulse zur Errichtung der Verfassungsgerichtsbarkeit stammten nicht von ihm. Er passte seine eigene Lehre erst später an das B-VG durch Übernahme der Stufenbaulehre von Adolf Merkl an.24 Das B-VG wurde also nicht aufgrund seiner theoretischen Konzeptionen geschaffen, vielmehr glich Kelsen diese umgekehrt an das österreichische positive Recht an. Die Verfassungsgerichtsbarkeit ist also nicht so sehr Kelsens „Kind“,25 sondern eher sein „Adoptivkind“ gewesen. Die Verfassungsgerichtsbarkeit in Österreich hat heutzutage auch nur noch wenig mit dem Kelsen’schen Idealbild zu tun. Der wichtigste und üblichste Tätigkeitsbereich der Verfassungsgerichte (und auch des VfGH) ist die Rechtsprechung aufgrund von Grundrechten (sie fungieren also hauptsächlich als Grundrechtsgerichte) und verfassungsrechtlichen Grundprinzipien (wie etwa Demokratie) – Hans Kelsen war allerdings skeptisch gegenüber der Grundrechts- und Prinzipiengerichtsbarkeit eingestellt.26 Noch ein Punkt, wenn man an Mythen zweifeln möchte: Der österreichische Verfassungsgerichtshof war nicht das erste eigenständige Verfassungsgericht, dies war (mit einem knapp 22 Jakab, Art 24 B-VG, Rz 1 Fn 3 mwN. 23 Theo Öhlinger, Die Bedeutung Hans Kelsens im Wandel, Demokratiezentrum, URL: https://www.demokratiezentrum.org/wp-content/uploads/2021/09/oehlinger_kelsen.pdf (abgerufen am 15.2.2022), 1–2. 24 Ewald Wiederin, Der österreichische Verfassungsgerichtshof als Schöpfung Hans Kelsens und sein Modellcharakter als eigenständiges Verfassungsgericht, in: Thomas Simon/Johannes Kalwoda (Hg.), Schutz der Verfassung. Normen, Institutionen, Höchst- und Verfassungsgerichte. Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar vom 12. bis 14. März 2012 (Der Staat. Beiheft 22), Berlin 2014, 283–315, 297. 25 Kelsens eigene Worte zitiert bei René Marcic, Verfassungsgerichtsbarkeit und Reine Rechtslehre, Wien 1966, 58: „Der Autor der Reinen Rechtslehre heißt die Verfassungsgerichtsbarkeit oft und oft ‚sein liebstes Kind‘; das letzte Mal titulierte er sie so in einem Trinkspruch bei einem Frühstück am Ballhausplatz, das der ­österreichische Bundeskanzler Dr. Josef Klaus zu Ehren Hans Kelsens anläßlich des Jubelfestes zum 600jährigen Bestand der Wiener Universität im Mai 1965 veranstaltet hatte.“ 26 Dieter Grimm, Recht oder Politik? Die Kelsen-Schmitt-Kontroverse zur Verfassungsgerichtsbarkeit und die heutige Lage, Berlin 2020, 31 mwN.

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halbjährigen Vorsprung) der tschechoslowakische Verfassungsgerichtshof (wenn auch nur mit sehr bescheidener und zeitlich wesentlich kürzerer Tätigkeit).27 (B) Das zweite Erfolgsnarrativ ist mit dem „Ibiza-Skandal“ verbunden. Die Ereignisse wurden retrospektiv als ein erfolgreicher anti-autokratischer Stresstest wahrgenommen. Auch weiß man ganz genau, zu welchem Zeitpunkt dieses Narrativ entstanden ist, wurde es doch von Bundespräsident Van der Bellen in einer Rede vorgebracht: „In Zeiten wie diesen zeigt sich die Eleganz, die Schönheit unserer österreichischen Bundesverfassung.“ Diese Aussage wurde in der Verfassungsrechtswissenschaft durchaus positiv rezipiert.28 (Anscheinend sind die starken verfassungsrechtlichen Kompetenzen des Bundespräsidenten kein Grund zur Sorge im Hinblick auf autokratische Tendenzen, solange die richtige Person das Amt innehat.)29 Jemanden von der Schönheit einer Rechtsnorm sprechen zu hören, ist juristisch gesehen schwer zu verdauen. „Schönheit“ muss irgendwie juristisch „übersetzt“ werden, was meistens mit den Begriffen Knappheit, Klarheit oder Nüchternheit des Verfassungstextes geschieht.30 Letztlich ist die Wortwahl „Schönheit“ aber als ein strategischer und schlauer Versuch der Kreation eines Verfassungspatriotismus zu bewerten, wodurch auch eine emotionale Zu27 Jana Osterkamp, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Tschechoslowakei (1920–1939), Frankfurt a. M. 2009. Beide gingen auf die Vorläufer in der Monarchie zurück, vgl. Benjamin Kneihs, Die Verfassungsgerichtsbarkeit 1918 bis 2018. Kontinuität – Brüche – Kompromisse, in: Zeitschrift für öffentliches Recht (2020) 4, 885–913. 28 Bußjäger, Jenseits, 18–19 mwN. 29 In diesem Sinne etwa Andreas Khol, Weder Prachtbau noch Ruine, in: Manfred Matzka/Peter Hilpold/Walter Hämmerle (Hg.), 100 Jahre Verfassung, Wien 2020, 67–70, 68–69: „Der Bundespräsident ergriff Maßnahmen, die in der Zweiten Republik noch nie notwendig geworden waren, und bewältigte diese unruhige Zeit mit ruhiger Hand. Grundlage waren Verfassungsbestimmungen, die lange schliefen und plötzlich zum Leben erwachten.“ Die vom Bundespräsidenten im Jahr 2019 angewandten (und somit als „schön“ gelobten) Bestimmungen des B-VG stammen hauptsächlich von der 1929er-Verfassungsnovelle (sie wurden von der Weimarer Reichsverfassung inspiriert) und nicht aus der von Kelsen beeinflussten 1920er-Textversion. Etwas distanzierter gegenüber der Problematik der „Schönheit“ vgl. Benjamin Kneihs, Die Schönheit der Verfassung, in: Zeitschrift für öffentliches Recht (2020) 1, 209–225. 30 Wiederin, 100 Jahre: „Es ist dieser nüchtern[e], unterkühlte Ton, es ist die Kongruenz von Form und Inhalt, die die Schönheit unserer Verfassung ausmachen.“ Ähnlich Christoph Grabenwarter, In guter Verfassung, in: Österreichisches Anwaltsblatt (2020) 10, 556–558, 556; Konrath, Erinnerung, 113.

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stimmung betont werden soll. Wenn man nun nach dem Grund des aktuellen Florierens dieses Narrativs fragt, findet man ihn in der Angst vor der Erosion der Rechtsstaatlichkeit. Man sieht, dass in der geographischen Umgebung oder beinahe weltweit in Verfassungsstaaten eine Erosion der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie stattfindet.31 Dementsprechend sollte man die Situation in Österreich zu schätzen wissen. Man kann zwar von einer Verfassung erwarten, Lösungen und Selbstverteidigungsmechanismen gegen feindliche Übernahmen vorzusehen, aber letztlich scheint die Aufrechterhaltung der liberalen Demokratie wegen des ungünstigen politischen Kontexts der Zwischenkriegszeit eine mission impossible gewesen zu sein, und somit wird das Scheitern des B-VG 1933/34 ignoriert bzw. nicht den Fehlern des B-VG zugerechnet werden. (C) Das dritte Erfolgsnarrativ betont das Alter des B-VG: „Erfolg durch Alter“. Das B-VG sei schon „100 Jahre alt“ und habe somit schon lange überlebt und sei stabil.32 Man spricht in diesem Zusammenhang auch von seiner „rechtstechnischen Haltbarkeit“ und dass es „wohlbewährt“ sei.33 Im Jahr 2020 gab es hierzu auch zahlreiche Sonderhefte, Sammelbände, Fernsehsendungen, Ausstellungen und Podiumsdiskussionen zum hundertsten Geburtstag des B-VG. Die Wirklichkeit ist allerdings auch hier etwas anders beziehungsweise das Narrativ ein wenig ungenau, denn das B-VG hat eigentlich nicht seinen hundertsten Geburtstag erlebt. Das erste Scheitern (der Untergang der Ersten Republik) wird in diesem Narrativ kurzerhand ignoriert. Das heutige B-VG im juristischen Sinne existiert erst seit 1945 (zwar grundsätzlich inhaltsgleich mit dem letzten Rechtszustand der Ersten Republik, aber seine Geltung stammt nicht aus dem Jahr 1920). Das 100-Jahr-Jubiläum basiert also auf einer Fiktion – wobei diese als nützlich angesehen werden kann, wenn man Verfassungspatriotismus kreieren möchte. Hierfür bewährt es sich, die Tradition älter und Geburtstage „runder“ darzustellen, als sie sind. Es ist auch möglich, die drei Erfolgsnarrative (A-B-C) zu kombinieren, wie es etwa im Nachwort des schon erwähnten Comics steht:

31 András Jakab, Was kann Verfassungsrecht gegen die Erosion von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit tun?, in: Zeitschrift für öffentliches Recht (2019) 3, 369–397. 32 Zur Stabilität siehe den Beitrag von Benjamin Kneihs in diesem Band. 33 Clemens Jabloner, Zur Entstehung und Weiterentwicklung des B-VG, in: Manfred Matzka/Peter Hilpold/Walter Hämmerle (Hg.), 100 Jahre Verfassung, Wien 2020, 36–37, 37.

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Krisen- und Erfolgsnarrative des Bundes-Verfassungsgesetzes

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„Mit dieser Graphic Novel möchten wir einen der bedeutsamsten Rechtsgelehrten des 20. Jahrhunderts in Erinnerung rufen: Hans Kelsen. Er war maßgeblich an der Entstehung der österreichischen Bundesverfassung beteiligt, die bis heute den Grundpfeiler unserer Demokratie darstellt, was sich gerade durch das ,Ibiza-Video‘ oder auch die Herausforderungen der Covid-19-Pandemie bewiesen hat. 2020 wird die Bundesverfassung 100 Jahre alt. In diesen einhundert Jahren hat sich die Verfassung immer wieder bewährt und wurde zurecht [sic] von Bundespräsident Alexander Van der Bellen für ihre Schönheit und Eleganz gewürdigt.“34

5. WARUM WURDEN VERFASSUNGSNARRATIVE IN DEN LETZTEN JAHRZEHNTEN WICHTIGER?

Verfassungsnarrative wurden in Österreich in den letzten Jahrzehnten bedeutsamer, und der Grund hierfür ist, dass auch die österreichische Verfassung selbst wichtiger geworden ist. Es gibt zwei Faktoren, die für diese Änderung verantwortlich sind. (A) Der erste Faktor ist die Schwächung der Parteienstaatlichkeit und die Schwächung der daran anknüpfenden Verbändestaatlichkeit. Diese waren und sind Parallelstrukturen neben den Staatsorganen, die allerdings rechtlich wesentlich unregulierter sind. Diese Schwächung wurde von Pelinka und Welan bereits in einem vor zwanzig Jahren veröffentlichten Buch anschaulich beschrieben,35 in dem sie darlegen, dass Parteien auch damals schon weniger Mitglieder hatten als früher (was umso mehr auf die heutige Zeit zutrifft). Ebenso war die Mobilisierung schwächer, was sich in einer geringeren Wahlbeteiligung äußerte. Anfangs wurden die jeweiligen Lager durch die Angst vor dem anderen Lager zusammengehalten – diese Ängste wurden aber allmählich abgebaut oder verblassten zunehmend. Ein wichtiger Grund dafür war, dass jahrzehntelang die zwei dominanten Parteien in einer großen Koalition regierten und die Kultur der Elitekooperation förderten. Daneben waren auch neue Parteien außerhalb der beiden traditionellen Lager entstanden, die zu einem Abbau dieser politischen Dichotomie führten. Paradoxerweise trugen sogar die Einparteienregierungen (ÖVP 1966–1970, SPÖ 1970–1983, davon zwischen 1970 und 1971 als Minderheitsregierung) zum Abbau der Lagerängste bei. Großkoalitionen wurden gegenüber dem eigenen Lager damit gerechtfertigt, dass 34 Plankensteiner, Gezeichnet, 58. 35 Anton Pelinka/Manfried Welan, Austria Revisited. Demokratie und Verfassung in Österreich, Wien 2001, 19–48.

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man einen Platz in der Regierung haben müsse, um zu verhindern, dass vom anderen Lager Schritte mit gravierenden Folgen unternommen werden. Dank der Einparteienregierungen kam man zur Erkenntnis, dass „die Welt auch dadurch nicht untergeht“; die Angst, die das eigene Lager zusammenhielt, konnte dadurch entsprechend verringert werden. Letztlich führte auch die Stabilität der Zweiten Republik zu einem Abbau der Ängste, die die jeweiligen Lager psychologisch zusammengehalten hatten, und so vertraute man langsam mehr und mehr der formalrechtlich geregelten Verfassung. Das B-VG gewann an Normativität, es etablierte sich als oberste „Spielregel“ und wurde wichtiger als das Parallelregime des Parteien- und Verbändekonsenses.36 Dies ist der erste Grund, warum die Verfassung – und somit auch die Verfassungsnarrative – in den letzten Jahrzehnten in Österreich wichtiger geworden sind. (B) Der zweite Grund leitet sich aus der Tatsache ab, dass der VfGH tapferer in seinem Verfassungsauslegungsstil (vor allem im Bereich der Grundrechte) wurde. Er wurde wesentlich aktivistischer, der ältere, reduktionistische Stil der Verfassungsgerichtsbarkeit verschwand schließlich. Diese Veränderung passt zu einer internationalen Tendenz, die auch in Deutschland beim BVerfG wahrgenommen werden kann.37 Das deutsche Verfassungsrecht hat, aus sprach­ lichen und kulturellen Gründen, einen starken Einfluss auf den VfGH (auch wenn es weiterhin Unterschiede im Denkstil gibt). Darüber hinaus hat sich der EGMR seit den 1980er Jahren eine aktivistische Rollenauffassung angeeignet. All diese Erscheinungen werden manchmal als Juridifizierung der Politik bezeichnet.38 Dies führt auch in Österreich zu einer gewissen richterlichen Fortschreibung des B-VG durch den VfGH und zu einer wesentlich stärkeren, stellenweise aggressiveren Umsetzung des B-VG gegenüber der Politik in ­Österreich.

6. KONKLUSION: NARRATIVE UND LEGITIMITÄT

Wozu haben wir also Narrative? Wie zu Beginn des Beitrags geschrieben: Sie ordnen, vereinfachen und bewerten die Wirklichkeit; beim vorliegenden 36 Pelinka/Welan, Austria, 99. 37 Kritisch Matthias Jestaedt/Oliver Lepsius/Christoph Möllers/Christoph Schönberger, Das entgrenzte Gericht, Berlin 2011. 38 Martin Belov, Courts, politics and constitutional law. Judicialization of politics and politicization of the judiciary, London–New York 2020.

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Krisen- und Erfolgsnarrative des Bundes-Verfassungsgesetzes

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Thema geschieht dies oft auch mit einer politischen Agenda. Erfolgsnarrative des B-VG verleihen diesem Legitimität, Krisennarrative beeinträchtigen oder gefährden zumindest seine Legitimität. Mit den Worten von Rudolf Thienel: Das B-VG hat das Potential, ein „Teil des gemeinschaftsbildenden österreichischen Staatsmythos“ und ein Teil der „österreichischen Identität“ zu werden.39 Narrative erzählen so immer auch vom Narrator selbst. In diesem Sinne beende ich auch meinen Beitrag: „Lang lebe das 100-jährige schöne B-VG von Hans Kelsen!“

39 Rudolf Thienel, Von Mythen und der Schönheit der Verfassung, in: Manfred Matzka/Peter Hilpold/Walter Hämmerle (Hg.), 100 Jahre Verfassung, Wien 2020, 65–66, 66.

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GESCHLECHT UND DEMOKRATIE IN ÖSTERREICH

1. EINLEITUNG

Das Herzstück der Demokratie, jener Regierungsform, die im sechsten Jahrhundert v. Chr. in Athen geboren wurde, bildete die politische Partizipation. Im Gegensatz zu allen anderen Regimen (z. B. Monarchie, Oligarchie) gab Demokratie dem Volk die Macht: Im Losverfahren bekamen alle Bürger die gleichen Chancen, das gemeinsame Schicksal mitzuentscheiden. Allerdings bestimmte in diesem ersten Entwurf der Demokratie das Geschlecht1, wer zum Demos zählte. Für lange Zeit wurde damit über politische Inklusion/Exklusion schon bei der Geburt entschieden2 – Frauen bekamen politische Rechte erst im zwanzigsten Jahrhundert. In Österreich sind sie konkret seit 19183 wahlberechtigt und zum ersten Mal 1919 zur Urne gegangen.4 Heutzutage sollte Geschlecht nicht mehr als Kriterium für die Teilhabe an politischer Macht gelten. Es stellt sich daher die Frage, inwiefern dies auch für die Realität zutrifft. Zugegebenermaßen hat sich die demokratische Art des Regierens seit der Zeit von Perikles und Aspasia sehr verändert, und zeitgenössische Systeme – wie die Österreichische Republik – basieren nicht nur auf Partizipation, sondern auch auf Repräsentation. Da die Bürgerschaft nicht mehr direkt an politischen Entscheidungen teilnimmt, sondern ihre Entscheidungs1 Vgl. Democracy, Athenian Agora Excavations. The American School of Classical Studies at Athens, URL: http://www.agathe.gr/democracy/ (abgerufen am 30.5.2021). 2 Vgl. Birgit Sauer/Stefanie Wöhl, Demokratie und Geschlecht, in: Tobias Mörschel/ Christian Krell (Hg.), Demokratie in Deutschland. Zustand – Herausforderungen – Perspektiven, Wiesbaden 2012, 341–361. 3 Vgl. Die Frau als Wählerin, Demokratiezentrum Wien, URL: http://www.demokratiezentrum.org/themen/demokratieentwicklung/frauenwahlrecht/waehlerin. html (abgerufen am 30.5.2021). 4 Vgl. Entwicklung des Wahlrechts. Nicht immer durften alle StaatsbürgerInnen wählen, Republik Österreich – Parlament, URL: https://www.parlament.gv.at/ PERK/HIS/WAHL/RECHT/index.shtml (abgerufen am 30.5.2021).

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macht an ausgewählte Repräsentant*innen durch Wahlen delegiert, reicht es heutzutage nicht, nur die Wahlbeteiligung zu betrachten. Man muss auch die politische Repräsentation – auf unterschiedlichen Regierungsebenen – in den Blick nehmen und politisches Engagement breit definieren, um auch den wichtigen Schritt des Beitritts zu einer politischen Organisation zu inkludieren, welcher – meistens – Voraussetzung für Kandidatur und letztendlich für politische Repräsentation ist. Geschlechtergerechte Partizipation und Repräsentation betrifft die Legitimität der Demokratie an sich: Demokratische Systeme werden von Bürger*innen nur dann als legitim begriffen, wenn sie selbst aus diesem Prozess nicht ausgeschlossen werden bzw. wenn ihre Interessen im politischen Verhandlungs- und Entscheidungsprozess grundsätzlich vertreten werden.5 Da wahrscheinlich nur die Forderungen aktiver Teilnehmer*innen zu hören sind,6 hat die feministische Wissenschaft der geschlechtsspezifischen Kluft bei der politischen Partizipation und Repräsentation zunehmend Aufmerksamkeit geschenkt. Wenn Geschlecht als Struktur verstanden wird, die die Chancen und Einschränkungen von Menschen bestimmt, gibt es Konsequenzen für Menschen auf drei Ebenen: auf individueller Ebene, wo es um die Entwicklung des geschlechtlichen Selbst geht; auf Ebene der Interaktion, wo Männer und Frauen unterschiedlichen kulturellen Erwartungen gegenüberstehen, auch wenn sie identische strukturelle Positionen besetzen; und auf institutioneller Ebene, wo explizite Normen in Bezug auf Ressourcen bestehen, die Verteilung und Besitz materieller Güter geschlechtsspezifisch regeln.7 In diesem Kontext ist die politische Gleichstellung fundamentale Voraussetzung für Geschlechtergerechtigkeit in allen Sphären des Lebens. Die Geschlechtergleichstellung ist nicht bloß eines der Ziele der Agenda 2030 der Vereinten Nationen, sondern die Grundvoraussetzung für die Umsetzung dieser Agenda.8 Auch die Mitgliedschaft in Vgl. Jennifer Lawless, Female Candidates and Legislators, in: Annual Review of Political Science 18 (2015), 349–366, 349–359. 6 Vgl. Nancy Burns/Kay L. Schlozman/Sidney Verba, The public consequences of private inequality. Family life and citizen participation, in: American Political Science Review 91 (1997) 2, 373–389, 373–384; vgl. Sidney Verba/Nancy Burns/Kay L. Schlozman, Knowing and caring about politics. Gender and political engagement, in: The Journal of Politics 59 (1997) 4, 1051–1072, 1051–1070. 7 Vgl. Barbara J. Risman, Gender as a Social Structure. Theory wrestling with activism, in: Gender & Society 18 (2004) 4, 429–450, 433. 8 Vgl. Nachhaltige Entwicklung – Agenda 2030/SDGs, Bundeskanzleramt Österreich, URL: https://www.bundeskanzleramt.gv.at/themen/nachhaltige-entwicklung-agenda-2030.html (abgerufen am 26.5.2021); vgl. Österreich und die Agenda 5

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Geschlecht und Demokratie in Österreich

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der Europäischen Union (EU) verpflichtet Österreich zur Gleichstellung von Frauen und Männern.9 Vor diesem Hintergrund betrachten wir in diesem Kapitel die Demokratie in Österreich aus der Perspektive der Geschlechterforschung. Um die Beziehung zwischen Geschlecht und Demokratie im Österreich von heute zu verstehen, nämlich ob, in welchem Ausmaß und inwiefern Männer und Frauen die österreichische Politik mitgestalten, muss man politische Partizipation gemeinsam mit politischer Repräsentation betrachten. Inwieweit kann man in Österreich noch von einer Androkratie10 sprechen? Ist Geschlecht (noch) rele­ vant für die Analyse von Demokratien wie Österreich, wo Frauen seit über 100 Jahren politische Rechte haben? Um diese Frage zu beantworten, betrachten wir zuerst die Forschung zu Geschlechterunterschieden in politischer Partizipation und Repräsentation, den zwei Fundamenten repräsentativer Demokratien. Einerseits lassen sich die vielfältigen Erklärungen für Geschlechterunterschiede in der Partizipation aus sozialisierungs- bzw. situationsbedingten sowie strukturellen Faktoren herleiten,11 andererseits unterscheidet die Literatur zu den Geschlechterunterschieden in der politischen Repräsentation zwischen Angebots-, Nachfrage- und kulturellen Faktoren.12 Wir versuchen hier eine Brücke zwischen diesen Positionen zu schlagen, wobei ein besonderes Augenmerk auf historisch gewachsene Geschlechterstereotype gelegt wird, die eine zentrale Rolle in der politischen

2030. Freiwilliger Nationaler Bericht zur Umsetzung der Nachhaltigen Entwicklungsziele/SDGs (FNU), hg. v. Bundeskanzleramt Österreich, Wien 2020, 41. 9 Vgl. Rechtsvorschriften und Grundsatzdokumente zur Geschlechtergleichstellung in der EU, Bundeskanzleramt Österreich, URL: https://www.bundeskanzleramt. gv.at/agenda/frauen-und-gleichstellung/frauenrechte-und-gleichstellung-in-dereu/rechtsvorschriften-und-grundsatzdokumente-zur-geschlechtergleichstellungin-der-eu.html (abgerufen am 30.5.2021). 10 Sauer/Wöhl, Demokratie, 342. 11 Vgl. Susan Welch, Women as political animals? A test of some explanations for malefemale political participation differences, in: American Journal of Political Science 21 (1977) 4, 711–730, 711–728; vgl. Linda L. M. Bennett/Stephen E. Bennett, Enduring Gender Differences in Political Interest. The Impact of Socialization and Political Dispositions, in: American Politics Research 17 (1989) 1, 105–122, 105–119. 12 Vgl. Pamela Paxton/Sheri Kunovich/Melanie M. Hughes, Gender in Politics, in: Annual Review of Sociology 33 (2007), 263–284, 264–266; vgl. Mona L. Krook, Why are fewer women than men elected? Gender and the dynamics of candidate selection, in: Political Studies Review 8 (2010) 2, 155–168, 155–167.

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Partizipation und Repräsentation von Frauen spielen.13 Im Folgenden werden Perspektiven der Politikwissenschaft, Soziologie und Psychologie zu Geschlecht und Demokratie kombiniert. Dieser Ansatz hebt die Verquickung von Faktoren, die das politische Engagement und die Repräsentation von Frauen gestalten, hervor. Im Anschluss präsentieren wir deskriptive Daten zur Partizipation und Repräsentation von Frauen in Österreich.

2. GESCHLECHT, PARTIZIPATION UND REPRÄSENTATION

Das Geschlecht war lange ein konsistenter Prädiktor für politische Partizipation – die Beobachtung, dass Frauen im Schnitt weniger politisch aktiv sind als Männer, galt als eines der am besten gesicherten Ergebnisse in der Politikwissenschaft.14 Diese Aussage trifft in ihrer Absolutheit heute so nicht mehr zu: Geschlechterunterschiede in der politischen Beteiligung variieren über Zeit, Länder, Politikebenen sowie über verschiedene Formen der politischen Beteiligung hinweg. Beispielsweise sind Frauen an (nationalen) Wahlen heutzutage im Allgemeinen ebenso aktiv oder manchmal sogar aktiver beteiligt als Männer. Jedoch bleibt auch heute noch ein sogenannter Gender Gap, wie etwa bei den Parteipräferenzen oder dem Engagement in Parteien, bestehen. Der erste Gender Gap, den wir betrachten wollen, betrifft systematische Geschlechterunterschiede bei Parteipräferenzen: In der Vergangenheit wählten Frauen eher konservativ (z. B. Republikaner in Amerika, Christdemokraten in Europa), heutzutage unterstützen sie dagegen eher linke Parteien (z. B. Demokraten in Amerika, Sozialdemokraten und Grüne in Europa)15 – Parteien also, die Gleichstellung gefördert haben. Im Gegensatz dazu werden radikal rechte Parteien hauptsächlich von Männern unterstützt.

13 Vgl. Paxton/Kunovich/Hughes, Gender, 271–272; vgl. Zoe Lefkofridi, Decisionmaking in key areas. Economics, politics, sport, media, science, in: Niall Crowley/Silvia Sansonetti (Hg.), New visions for Gender Equality, Brüssel 2019, 73–77, 73–76. 14 Vgl. Lester W. Milbrath/Madan L. Goel, Political Participation. How and why do people get involved in politics?, 2. Aufl., Chicago 1977, 116. 15 Vgl. Nathalie Giger, Towards a modern gender gap in Europe? A comparative analysis of voting behavior in 12 countries, in: The Social Science Journal 46 (2009) 3, 474–492, 474–488.

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Geschlecht und Demokratie in Österreich

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Der zweite Gender Gap betrifft eine systematisch geringere aktive politische Beteiligung von Frauen, insbesondere in Parteien16, was auch zur ungleichen politischen Repräsentation von Frauen beiträgt: Um als politische Repräsentantin in Betracht gezogen zu werden, muss eine Frau (in der Regel) zunächst einer Partei beitreten, die sie dann als Kandidatin aufstellt. Die politische Beteiligung von Frauen (vor allem in Parteien) ist deswegen eine Vorbedingung für politische Repräsentation. In diesem Kapitel betrachten wir die Ursachen für diese Gaps und bringen folgende Argumente vor: Erstens sind Geschlechterstereotype sehr eng mit der Sozialisierung verbunden, durch welche politisches Interesse und politische Ambition geformt werden (Angebot/Wollen). Zweitens legitimieren Geschlechterstereotype die Segregation von Privatem und Öffentlichem, die die Lebenssituationen und damit die Ressourcen (z. B. Zeit, Netzwerke) für politisches Engagement bestimmt (Angebot/Können). Drittens beeinflussen Geschlechterstereotype die Beurteilung von Kandidat*innen – sowohl vonseiten der Parteiführung als auch vonseiten der Wählerschaft (Nachfrage).

3. POLITIK ALS „MÄNNERDOMÄNE“

Zentral in der Sozialisierung von Menschen sind Geschlechterstereotype, die auch auf das politische Interesse und die politische Ambitioniertheit (Angebot/Wollen) wirken. Geschlecht wird von jedem sozialisierenden Agenten und jeder Kraft in der Gesellschaft konstruiert (Eltern, Schule, Medien, Religion usw.).17 Geschlechterstereotype sind implizite, unbewusste Annahmen über Unterschiede zwischen Männern und Frauen, die in historisch sozialisierten Rollen von Männern und Frauen verwurzelt sind.18 Kinder lernen, wie ihre Gesellschaft und/oder Kultur die Rolle eines Mannes und die einer Frau versteht,

16 Vgl. Nadine Zwiener-Collins, Women’s work and political participation. The links between employment, labour markets, and women’s institutional political participation in Europe, phil. Diss., Universität London 2018. 17 Vgl. Susan A. Basow, Gender. Stereotypes and roles, 3.  Aufl., Pacific Grove CA 1992. 18 Vgl. Alice H. Eagly/Valerie J. Steffen, Gender stereotypes stem from the Distribution of Women and Men into Social Roles, in: Journal of Personality and Social Psychology 46 (1984) 4, 735–754.

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und verinnerlichen dieses Wissen als Geschlechterschemata, die sie nutzen, um nachfolgende Erfahrungen zu organisieren und zu verarbeiten.19 Empirische Forschung zeigt ein systematisches geschlechtsspezifisches Bias bei der Zuordnung von Merkmalen: Frauen werden in der Regel als warmherzig, mitfühlend, fürsorglich, konsensbildend, passiv, freundlich und emotional beschrieben; Männer gelten als logisch, rational, durchsetzungsfähig, entscheidungsfreudig, stark, führungsfähig, direkt, kenntnisreich und ehrgeizig. Kurz gesagt, Frauen werden als gemeinschaftlicher und Männer als agierender wahrgenommen.20 Diese Geschlechterstereotype sind sowohl deskriptiver als auch präskriptiver Natur21: Es wird auch festlegt, wie sich die beiden Geschlechter zu verhalten haben, d. h. ein Soll-Zustand wird definiert. Abweichendes Verhalten wird mit sozialen Sanktionen geahndet.22 Geschlechterstereotype beeinflussen auch die Selbstbewertung von Frauen hinsichtlich ihrer Eignung für die Politik. Bereits in der Kindheit wird gelernt, dass Politik ein „männliches Areal“ ist, was die Selbstwirksamkeit oder das Vertrauen, dass er oder sie die Fähigkeit besitzt, „Politik zu verstehen und effektiv daran teilzunehmen“, beeinflusst.23 Historisch gesehen waren mehr Männer als Frauen in politischen Führungspositionen; das hat dazu geführt, 19 Sandra L. Bem, Gender Schema Theory. A Cognitive Account of Sex Typing Source, in: Psychological Review 88 (1981) 4, 354–364, 354–363; vgl. Sandra L. Bem, The Lenses of Gender. Transforming the Debate on Sexual Inequality, New Haven CN 1993. 20 Vgl. Leonie Huddy/Nayda Terkilsen, The Consequences of Gender Stereotypes for Different Levels and Types of Office, in: Political Research Quarterly 46 (1993) 3, 503–525, 503–522; vgl. Zoe Lefkofridi/Nathalie Giger/Anne M. Holli, When All Parties Nominate Women. The Role of Political Gender Stereotypes in Voters’ Choices, in: Politics & Gender (2018), 1–27, 1–24; vgl. Lefkofridi, Decision-making, 74–75; vgl. Robin Devroe/Bram Wauters, Political Gender Stereotypes in a List-PR System with a High Share of Women MPs. Competent Men versus Leftist Women? In: Political Research Quarterly 71 (2018) 4, 788–800, 788–798. 21 Vgl. Anne M. Koenig, Comparing Prescriptive and Descriptive Gender Stereotypes About Children, Adults, and the Elderly, in: Frontiers in Psychology 9 (2018) 1086, 1–13, 1–11. 22 Vgl. Lefkofridi/Giger/Holli, Parties, 2–4; vgl. Lefkofridi, Decision-making, 74; vgl. Shan-Jan S. Liu, Cracking Gender Stereotypes? Challenges Women Political Leaders Face, in: Political Insight 10 (2019) 1, 12–15, 13; vgl. Madeline E. Heilman, Gender stereotypes and workplace bias, in: Research in Organizational Behavior 32 (2012), 113–135, 115–123. 23 Vgl. Stephen C. Craig, Stephen/Richard G. Niemi/Glenn E. Silver, Political Efficacy and Trust. A Report on the NES Pilot Study Items, in: Political Behavior 12 (1990) 3, 289–314, 289–307.

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Geschlecht und Demokratie in Österreich

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dass der Leader-Prototyp und das männliche Stereotyp identisch sind (Agent). Die Wahrnehmung von Männern und Frauen und wie sie in den Bereich der Politik passen, ist unterschiedlich und hat Auswirkungen auf ihr Verhalten.24 Sie wirkt auf ihr politisches Interesse und ihre politischen Ambitionen – zwei wichtige Voraussetzungen für politische Partizipation und für das Engagement in Parteien.25 Geschlechternormen und die damit in Verbindung stehenden Vorgänge determinieren das Angebot an Kandidatinnen, indem sie den Weg und die Befähigung zur Ausübung öffentlicher Ämter beeinflussen26.

4. SORGEARBEIT ALS „FRAUENDOMÄNE“

Geschlechterstereotype wirken sich auf Lebenssituationen und Karrierewege aus, wie auch die segregierte Arbeitswelt zeigt (Krankenschwester, Kindergärtnerin, Sekretärin versus Arzt, Professor, Geschäftsführer). Geschlechterstereotype in Bezug auf Fähigkeiten und Eignungen legitimieren die Aufteilung von Sorge- und Erwerbsarbeit, die dann die Lebenssituationen von Frauen und Männern beeinflusst, welche wiederum politische Partizipation entweder ermöglichen oder verhindern (Angebot/Können). Frauen werden als geeigneter für Kinderbetreuung und die Pflege älterer Menschen wahrgenommen. Auch deswegen ruht die Belastung durch unbezahlte Arbeit im privaten Bereich immer noch weitgehend auf ihnen. Wenn Frauen hauptsächlich für Haus- und Sorgearbeit verantwortlich und weniger häufig und weniger intensiv als Männer beruflich tätig sind, stehen ihnen weniger Ressourcen zur Verfügung, die für politische Partizipation notwendig sind: Zeit, ökonomisches und politisches Kapital sowie Netzwerke. Frauen sind daher auch weniger politisch aktiv.27 In anderen Worten: Familie und politische 24 Vgl. Jessica R. Preece, Mind the gender gap. An experiment on the influence of selfefficacy on political interest, in: Politics & Gender 12 (2016) 1, 198–217, 198–215. 25 Vgl. Scott Pruysers/Julie Blais, Why Won’t Lola Run? An Experiment Examining Stereotype Threat and Political Ambition, in: Politics & Gender 13 (2017), 232–252, 232–249; vgl. Rachel Bernhard/Shauna Shames/Dawn L. Teele, To Emerge? Breadwinning, Motherhood, and Women’s Decisions to Run for Office, in: American Political Science Review (2020), 1–16, 1–13; vgl. Richard Fox/Jennifer Lawless, If Only They’d Ask. Gender, Recruitment, and Political Ambition, in: The Journal of Politics 72 (2010) 2, 310–326, 310–323. 26 Vgl. Krook, Women, 163. 27 Vgl. Nancy Burns/Kay L. Schlozman/Sidney Verba, The private roots of public action. Gender, equality, and political participation, Cambridge 2001.

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Partizipation sind für Frauen häufig unvereinbar. Dies spielt auch für das Engagement in Parteien eine Rolle. Frauen in Parteien stehen vor einem Dilemma zwischen der Gründung einer Familie und der Verfolgung einer politischen Karriere, bei der angemessene Kinderbetreuungsangebote oder betriebliche Richtlinien für flexibles Arbeiten bzw. familienfreundliche zeitliche Regelungen fehlen28. Wenn Frauen mit Kindern politische Ämter anstreben, steht der Mangel an Betreuungsangeboten oft der für eine politische Karriere notwendigen Vernetzung im Wege. Für Parteifunktionäre kommen jedoch häufig nur jene Personen, die sie aus ihren Netzwerken gut kennen, als potentielle Kandidat*innen infrage. Da diese Netzwerke wiederum großteils männlich besetzt sind, stehen mehr Männer als Frauen als potentielle Kandidat*innen zur Auswahl, und aufgrund des größeren Angebots gehen eben mehr Männer als Kandidaten hervor.29 Dies ist auch im österreichischen Kontext relevant,30 wo weiterhin der Großteil der Haus- und Sorgearbeit von Frauen verrichtet wird. Das führt uns zur Frage, welche Rolle Geschlechterstereotype spielen, wenn es um den Sprung von politischer Partizipation (Arbeit in einer Partei) zur Kandidatur und letztendlich zur Übernahme der Repräsentationsrolle (Nachfrage/Wollen) geht.

5. GESCHLECHTERSPEZIFISCHE KRITERIEN FÜR POLITISCHE K ARRIEREN

Wenn eine Frau den ersten Schritt gemacht hat (Parteibeitritt und Mitarbeit in Kampagnen usw.) und sich als Kandidatin zur Verfügung stellt, muss sie erneut mit Geschlechterstereotypen rechnen. Geschlecht beeinflusst die Art und Weise, wie Menschen, die politisch aktiv sind, wahrgenommen und beurteilt werden. Politikerinnen erhalten zum Beispiel häufiger Kommentare zu ihrem Äußeren als Politiker und werden mit spezifischen Portfolios betraut. Sogar im 28 Vgl. 2019 Report on equality between women and men in the EU, European Commission, 9–18, URL: https://ec.europa.eu/info/sites/info/files/aid_development_ cooperation_fundamental_rights/annual_report_ge_2019_en.pdf (abgerufen am 30.5.2021). 29 Vgl. Lawless, Candidates, 355. 30 Vgl. Helga Nowotny, Women in public life in Austria, in: Cynthia F. Epstein/Rose L. Coser (Hg.), Access to Power. Cross-National Studies of Women and Elites, London 2018, 147–156.

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Geschlecht und Demokratie in Österreich

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skandinavischen Finnland, bekannt für Geschlechtergerechtigkeit, werden bei der Kompetenzbeurteilung Frauen – ganz im Einklang mit politischen Stereotypen – eher bei der Sozialpolitik verortet, während die Kompetenz von Männern in den Themen Sicherheit oder Finanzen vermutet wird.31 Geschlecht bestimmt die Wahrscheinlichkeit einer Kandidatur und beeinflusst die Zusammensetzung des Kandidatenpools und den gesamten Rekrutierungsprozess von Anfang an, denn schon die Vorauswahl von Kandidat*innen hängt stark von der Zusammensetzung der nominierenden Gruppe ab. 32 Die Nachfrage nach weiblichen Kandidaten wird nicht nur durch geschlechtsspezifische Kompetenznormen geprägt, sondern auch durch die Geschlechteridentität der Verantwortlichen für die Anwerbung von Aspirant*innen und die Nominierung von Kandidat*innen.33 Geschlechterstereotype können auch die Beurteilung (Unterstützung/Ablehnung) der weiblichen Kandidaten durch Wähler*innen – vor allem in offenen Parteilistensystemen – beeinflussen, wo Wähler*innen eine Vorzugstimme innerhalb der Parteiliste vergeben können.34 Das Geschlecht beeinflusst die Wahrnehmung von Kandidat*innen hinsichtlich Charaktereigenschaften, Kompetenzen und auch ihrer politischen Ausrichtung; aufgrund politischer Geschlechterstereotype werden weibliche Kandidaten als liberaler wahrgenommen als männliche.35 Solche Stereotype sind also ein wichtiges Element in der Beziehung von Frauen mit der Politik.

31 Vgl. Javier Beltran/Aina Gallego/Alba Huidobro/Enrique Romero/Lluís Padró, Male and female politicians on Twitter. A machine learning approach, in: European Journal of Political Research 60 (2021), 239–251, 239–248; vgl. Lefkofridi/Giger/ Holli, Parties, 1–24. 32 Vgl. Jessica Fortin-Rittberger/Berthold Rittberger, Nominating women for Europe. Exploring the role of political parties’ recruitment procedures for European Parliament elections, in: European Journal of Political Research 54 (2015) 4, 767–783, 767–780. 33 Vgl. Krook, Women, 155–167. 34 Vgl. Lefkofridi/Giger/Holli, Parties, 1–24. 35 Vgl. Kira Sanbonmatsu/Kathleen Dolan, Do gender stereotypes transcend party? In: Political Research Quarterly 62 (2009) 3, 485–494, 485–492; vgl. Jeffrey W. Koch, Do citizens apply gender stereotypes to infer candidates’ ideological orientations? In: The Journal of Politics 62(2000) 2, 414–429, 414–427; Leonie Huddy/Nayda Terkildsen, Gender stereotypes and the perception of male and female candidates, in: American Journal of Political Science 37 (1993) 1, 119–147, 119–144.

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6. DIE FAKTEN: FRAUEN IN DER ÖSTERREICHISCHEN DEMOKRATIE

Im Jahr 2017 etwa glaubten 63 Prozent der an der Eurobarometer-Umfrage zum Thema Geschlechtergleichheit beteiligten Österreicher*innen, dass die Geschlechtergleichheit in der Politik Österreichs erreicht sei.36 Aber in einer im Jahr 2018 in Österreich durchgeführten Umfrage zeigten sich hartnäckige Geschlechterstereotype: Frauen wurden als mitfühlend und Männer als entschlossen charakterisiert; ferner wurden Männer als kompetenter in den Bereichen Landesverteidigung und Wirtschaft, Frauen als kompetenter in der Sozialpolitik betrachtet.37 Obwohl solche Geschlechterstereotype eher mit rechten Ideologien verbunden sind, haben auch linke Wähler*innen Frauen in der Politik auf Basis von Geschlechterstereotypen als geeigneter für Migrationspolitik wahrgenommen.38 Auf den nächsten Seiten folgen nun einige Zahlen, die Aufschluss darüber geben, ob es systematische Unterschiede in der politischen Partizipation und Repräsentation gibt.

7. PARTIZIPATION UND PARTEIPRÄFERENZEN

In Österreich, wie in vielen westlichen Demokratien, gibt es keine bedeutsamen Geschlechterunterschiede bei der Beteiligung an Wahlen „erster Ordnung“, wie etwa den Nationalratswahlen. Daten des European Social Survey zu den Nationalratswahlen seit 2003 zeigen, dass Männer und Frauen etwa gleich 36 Vgl. Special Eurobarometer 465. Report. Gender Equality 2017, Europäische Kommission, 9, URL: http://ibdigital.uib.es/greenstone/collect/portal_social/index/assoc/coeuro01/47.dir/coeuro0147.pdf (abgerufen am 30.5.2021). 37 Die Daten wurden von der Plattform für Umfragen, Methoden und empirische Analysen (PUMA) von Mai bis Juni 2018 gesammelt. Vgl. Nathalie Giger/Zoe Lefkofridi, Politiker vom Mars und Politikerinnen von der Venus? Was das Volk über die Eigenschaften und Kompetenzen von Männern und Frauen in der Politik denkt, Der Standard, URL: https://www.derstandard.at/story/2000106888116/ politiker-vom-mars-und-politikerinnen-von-der-venus (abgerufen am 30.5.2021); vgl. Lefkofridi, Decision-making, 74. 38 Vgl. Nathalie Giger/Anne M. Holli/Zoe Lefkofridi, Left-Right Ideology and Political Gender Stereotypes in European Societies, European Conference on Politics and Gender, Amsterdam, 4–6 Juli 2019 (unveröffentlichtes Manuskript).

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Geschlecht und Demokratie in Österreich Abbildung 1: Selbstberichtete Wahlbeteiligung von Männern undStimme Frauen anabgegeben der häufig berichten, bei der letzten Nationalratswahl ihre Nationalratswahl. Quelle: eigene Darstellung basierend auf Daten der European Social 39 haben. Survey (2002-2018).

243

zu

(berichtete) Wahlbeteiligung in Prozent

bvw_SB_205-21596_Lefkofridi_abb01.jpg 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0

2002

2006

2008 Männer

2013

2017

Frauen

Abb. 1: Selbstberichtete Wahlbeteiligung von Männern und Frauen an der Nationalratswahl. Quelle: Eigene Darstellung basierend auf Daten des European Social Survey (2002–2018).

Bei genauerer Betrachtung von Wahlentscheidungen zeigen sich jedoch sehr wohl Geschlechterunterschiede: So haben zwar Frauen und Männer bei der Nationalratswahl 2019 die beiden großen Parteien, ÖVP und SPÖ, etwa gleich häufig gewählt, doch es zeigen sich interessante Unterschiede bei der Wahl der kleineren Parteien. Beispielsweise hat mehr als jeder fünfte Mann (21 %) seine Stimme der FPÖ gegeben, während der Anteil der FPÖ-Wähler*innen bei den Frauen nur 11 % betrug. Dagegen haben Frauen weitaus häufiger für NEOS (11 %) und Die Grünen (17 %) gestimmt als männliche Wähler (5 % bzw. 10 %).40 Die Unterschiede sind noch ausgeprägter, wenn die Wahlentscheidung intersektionell betrachtet wird, das heißt, wenn neben dem Geschlecht auch andere Faktoren wie Bildung und Alter miteinbezogen werden. Die großen Parteien wurden überwiegend von Wähler*innen über 45 Jahren gewählt; hier zeigen sich kaum Unterschiede zwischen Männern und Frauen. Bei jüngeren Wähler*innen hingegen waren die kleineren Parteien beliebter, und hier sind auch die Unterschiede zwischen Männern und Frauen am ausgeprägtesten: Bei 39 Siehe Abbildung 1. 40 Siehe Abbildung 2.

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Martina Zandonella/Flooh Perlot, Wahltagsbefragung und Wählerstromanalyse. Nationalratswahl 2019, SORA. Institute for Social Research and Consulting/ISA. Institut für Strategieanalysen, 8.

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Zoe Lefkofridi/Atusa Stadler/Nadine Zwiener-Collins

Männer

38

Frauen

22

36

0%

10%

20%

21

22

30% ÖVP

40% SPÖ

FPÖ

11

50% NEOS

60% GRÜNE

JETZT

5

11

70%

10

17

80%

90%

21

2

100%

KPÖ

Abb. 2: Wahlverhalten bei der Nationalratswahl 2019 nach Geschlecht. Quelle: Martina Zandonella/Flooh Perlot, Wahltagsbefragung und Wählerstromanalyse. Nationalratswahl 2019, SORA. Institute for Social Research and Consulting/ISA. Institut für Strategieanalysen, 8.

Wähler*innen unter 45 Jahren waren Die Grünen (mit 27 %) bei der Nationalratswahl 2019 zweitstärkste Kraft, bei Wählern hingegen die FPÖ (mit 17 %).41 Der Faktor Geschlecht interagiert ebenso mit Bildung: Männliche Wähler ohne Matura wählten (neben der ÖVP) am ehesten die FPÖ (27 %), Männer mit Matura eher Die Grünen (27 %). Bei Frauen war die FPÖ hingegen weniger populär und Die Grünen waren beliebter: Der Anteil der Frauen ohne Matura, die 2019 die FPÖ gewählt haben, lag bei 17 %, bei Frauen mit Matura sogar nur bei 4 %. Dafür waren bei gut gebildeten Frauen Die Grünen mit 36 % die stärkste Kraft, noch vor der ÖVP (27 %) und der SPÖ (17 %).42 Obwohl Wahlen das Herzstück repräsentativer Demokratien sind, sind sie nicht die einzige Form der politischen Beteiligung. Andere Formen der Partizipation, wie etwa Petitionen, Proteste oder das Engagement in Parteien und Organisationen, erlauben Bürger*innen auch zwischen den Wahlen, ihre politischen Präferenzen auszudrücken. Anders als bei der Wahlbeteiligung lässt sich bei diesen Formen der Beteiligung oft ein Geschlechterunterschied entdecken. Besonders ausgeprägt sind Unterschiede im Engagement in politischen Par41 Vgl. Martina Zandonella/Flooh Perlot, Wahltagsbefragung und Wählerstromanalyse. Nationalratswahl 2019, in: SORA. Institute for Social Research and Consulting/ISA. Institut für Strategieanalysen, 10, URL: https://www.sora.at/fileadmin/ downloads/wahlen/2019_NRW_Grafiken-Wahltagsbefragung.pdf (abgerufen am 30.5.2021). 42 Vgl. ebd. 13.

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ÖVP SPÖ FPÖ NEOS GRÜNE JETZT KPÖ WANDL

Geschlecht und Demokratie in Österreich

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teien, wie Daten des European Social Survey zeigen.43 In den Jahren seit 2003 haben zwischen acht und 15 % der Männer angegeben, sich in einer politischen Partei engagiert zu haben. Der entsprechende Anteil an Frauen, die von ParteiEngagement berichteten, war hingegen konsistent und statistisch signifikant niedriger: In den Jahren von 2003 bis 2018 lag der Geschlechterunterschied bei 3,1Abbildung (2014) bis 8,2 (2005) Prozentpunkten. 3: Berichtetes Engagement in Parteien nach Geschlecht. Quelle: Eigene Darstellung basierend auf Daten der European Social Survey (2002 – 2018). bvw_SB_205-21596_Lefkofridi_abb03.jpg Engagement in Parteien (in Prozent)

16 14

15,2

14,2

12 10

10,6

6

6,5

7,0

10,7

10,0

8 6,8

5,3

4

5,0

4,1

2 0

2003

2005

9,2

8,7

8,1

2007

2010 Männer

2013

2014

5,5

2016

4,4

2018

Frauen

Abb. 3: Berichtetes Engagement in Parteien nach Geschlecht. Quelle: Eigene Darstellung basierend auf Daten des European Social Survey (2002–2018).

Geschlechterunterschiede im Partei-Engagement sind deswegen besonders interessant, weil der Beitritt zu einer Partei zumeist die Voraussetzung für das Erreichen von einflussreichen politischen Positionen und Mandaten ist. In anderen Worten: Wenn weniger Frauen als Männer Parteien beitreten, stehen auch weniger Frauen als Kandidatinnen zur Verfügung.

8. REPRÄSENTATION

Das österreichische Parlament belegt mit einem Frauenanteil von 43 % im Jahr 2021 im internationalen Vergleich Platz 28,44 dennoch ist die politische Reprä43 Siehe Abbildung 3. 44 Vgl. Monthly ranking of women in national parliaments, PU Parline. Global data on national parliaments, URL: https://data.ipu.org/women-ranking?month=4&year=2021 (abgerufen am 30.5.2021).

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Zoe Lefkofridi/Atusa Stadler/Nadine Zwiener-Collins

sentation von Frauen zur Gänze weder auf der Bundes- noch der Landesebene und erst recht nicht auf der Gemeindeebene erreicht.45 8.1 Bundesebene

Auf Bundesebene sind Frauen aktuell am besten repräsentiert: Im Mai 2021 betrug der Frauenanteil im Bundesrat 42,6 % und im Nationalrat 39,9 %.46 Auch in der Bundesregierung fällt der Frauenanteil mit 47 % etwas niedriger als der von Männern aus. Noch im Jahr 2020 hatte der dortige Frauenanteil 53 % betragen. Die Überwindung der 50-Prozent-Barriere war erstmals mit der Übergangsregierung Bierleins im Juni 2019 erzielt worden. Der Frauenanteil in der Bundesregierung ist demnach im Vergleich zum Jahr 2019 um drei Prozentpunkte und im Vergleich zum Vorjahr gar um sechs Prozentpunkte gesunken.47 Die Entwicklung des Frauenanteils in Nationalrat und Bundesrat im Zeitverlauf zeigt ebenfalls, dass der Frauenanteil in der Politik Österreichs in den letzten Jahrzehnten zwar insgesamt stetig gestiegen ist, doch durchaus auch Phasen der Stagnation und teilweise auch des Rückgangs erlebt hat.48 bvw_SB_205-21596_Lefkofridi_abb04.jpg 45 Vgl. Sylvia Kritzinger/Katrin Praprotnik, Frauen in politischen Führungspositionen: ein Blick über den Tellerrand, URL: https://viecer.univie.ac.at/detail/news/frauenin-politischen-fuehrungspositionen-ein-blick-ueber-den-tellerrand-2/?cHash=c7a854fa94ca7d27f22f1a80d53c0a11&tx_news_pi1%5Baction%5D=detail&tx_ news_pi1%5Bcontroller%5D=News (abgerufen am 30.5.2021); vgl. Katharina C. Zahradnik-Stanzel, Das Geschlechterverhältnis im politischen System Österreichs, in: Reinhard Heinisch (Hg.), Kritisches Handbuch der österreichischen Demokratie. Bürgerinnen, Verfassung, Institutionen, Verbände, Wien 2020, 135–162, 135–145. 46 Vgl. Frauenanteil im Nationalrat, Republik Österreich – Parlament, URL: https:// www.parlament.gv.at/SERV/STAT/PERSSTAT/FRAUENANTEIL/frauenanteil_ NR.shtml (abgerufen am 30.5.2021); vgl. Frauenanteil im Bundesrat, Republik ­Österreich – Parlament, URL: https://www.parlament.gv.at/SERV/STAT/PERSSTAT/FRAUENANTEIL/frauenanteil_BR.shtml (abgerufen am 30.5.2021). 47 Vgl. Frauen als Entscheidungsträgerinnen in der Politik, Bundeskanzleramt Österreich, URL: https://www.bundeskanzleramt.gv.at/agenda/frauen-und-gleichstellung/gleichstellung-am-arbeitsmarkt/frauen-in-fuehrungs-und-entscheidungspositionen/frauen-als-entscheidungstragende-in-der-politik.html (abgerufen am 30.5.2021); vgl. Bundeskanzleramt Österreich (Hg.), Frauen in politischen Entscheidungspositionen in Österreich 2020. Entwicklung der Repräsentation von Frauen zwischen 2010 und 2020, Wien 2021, 10. 48 Siehe Abb. 4; vgl. Zahradnik-Stanzel, Geschlechterverhältnis, 154–155.

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Abbildung 4: Frauenanteil im Nationalrat und Bundesrat im Zeitverlauf 1945-2019. Quelle: Geschlecht und Demokratie in Österreich 247 Eigene Darstellung basierend auf Daten der Republik Österreich – Parlament. 45

Frauenanteil in Prozent

40 35 30 25 20 15 10 5 0

Nationalrat

Bundesrat

Abb. 4: Frauenanteil im Nationalrat und Bundesrat im Zeitverlauf 1945–2019. Quelle: Eigene Darstellung basierend auf Daten der Republik Österreich – Parlament.

Der Anteil von Frauen im Parlament insgesamt verdeckt die teils erheblichen Unterschiede hinsichtlich der einzelnen Parteien: So hat sich der Frauenanteil in allen Parteien mit der Zeit erhöht, jedoch in einigen schneller als in anderen. Bei den Grünen sind bereits seit den 1990er Jahren die Hälfte der Abgeordneten Frauen, während sich der Frauenanteil bei der SPÖ und der ÖVP bis 1990 nur langsam vergrößert hat und seit den 1990er Jahren unterschiedlich schnell, wobei der Frauenanteil in der SPÖ schneller gewachsen ist als in der ÖVP oder in der FPÖ.49 Ähnliche Unterschiede lassen sich auch heute noch beobachten, nicht zuletzt wegen freiwillig implementierter Quoten auf Kandidatenlisten von den Grünen, SPÖ und ÖVP, jedoch nicht von NEOS und FPÖ. Letztere haben keinerlei Konsequenzen zu erwarten, weil in Österreich für Parteien keine Pflicht zur Einführung von Quoten besteht.50 So waren im Mai 2021 bei den Grünen mit 57,7 % mehr als die Hälfte der Abgeordneten und mit 50 % die Hälfte der SPÖ-Abgeordneten Frauen, wobei NEOS mit 40 % und die ÖVP mit 36,6  % auf einen geringeren Frauenanteil kamen. Den niedrigsten Anteil an weiblichen Abgeordneten wies die FPÖ mit 16,7 % auf.51 49 Vgl. Barbara Steininger, Representation of Women in the Austrian Political System 1945–1998. From a Token Female Politician Towards an Equal Ratio? In: Women & Politics 21 (2000) 2, 81–106, 81–104. 50 Vgl. Nora Gresch/Birgit Sauer, Topographies of gender democracy in Austria, in: Yvonne Galligan (Hg.), States of Democracy. Gender and politics in the European Union, London 2015, 33–49. 51 Vgl. Frauenanteil im Nationalrat, Republik Österreich – Parlament, URL: https://

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8.2 Landesebene

In den Landesregierungen lag der Frauenanteil im Mai 2021 bei insgesamt bei 41,2 %. Jedoch zeigen sich hier erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern: Wie aus der unten stehenden Abbildung hervorgeht, sind die meisten Frauen in den Landesregierungen von Steiermark (50 %) und Tirol (50  %) und die wenigsten in der Salzburger Landesregierung (28,6  %) vertreten. In den Landtagen lag der Frauenanteil insgesamt bei 36,1  %. Die meisten Frauen waren in den Landesparlamenten von Vorarlberg (44,4 %) und Wien (42 %) vertreten, die niedrigsten Frauenanteile wiesen dagegen Kärnten (22,5 %) und5:Niederösterreich auf.52 Abbildung Frauen in Landtagen(25 %) und Landesregierungen 2021. Quelle: Eigene Darstellung basierend auf Daten von EIGE 2021. bvw_SB_205-21596_Lefkofridi_abb05.jpg Vorarlberg

44,4 42,9

Wien

42 37,5

Oberösterreich

39,3 44,4

Steiermark

37,5 50

Salzburg

36,1 28,6

Alle Länder

35,4 41,2

Tirol

33,3 50

Burgenland

30,6 40

Niederösterreich

25 33,3

Kärnten

22,5 42,9

Landtag

0 10 Landesregierung

20

30 Frauenanteil in Prozent

40

50

60

Abb. 5: Frauen in Landtagen und Landesregierungen 2021. Quelle: Eigene Darstellung basierend auf Daten von EIGE 2021.

www.parlament.gv.at/SERV/STAT/PERSSTAT/FRAUENANTEIL/frauenanteil_ NR.shtml (abgerufen am 30.5.2021). 52 Siehe Abbildung 5.

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8.3 Gemeindeebene

Am wenigsten Frauen sind auf der Gemeindeebene vertreten. Von den insgesamt 2.095 Bürgermeister*innen Österreichs sind gerade einmal 198 Personen und damit nur 9,5 Prozent weiblichen Geschlechts.53 In 40  Gemeinden wiederum sind gar keine Frauen im Gemeinderat vertreten.54 Ergo ist die Situation hinsichtlich der politischen Repräsentation von Frauen, anders als auf der Bundes- und der Landesebene, auf der Gemeindeebene besonders prekär. Eine Auflistung der aktuellen Anteile von Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern Bürgermeister*innen in Österreich nach Bundesländern istAbb. dem6:unten dargestellten Diagramm zu 2021 entnehmen. bvw_SB_205-21596_Lefkofridi_abb06.jpg Burgenland Kärnten Niederösterreich Oberösterreich Salzburg Steiermark Tirol Voralberg Wien Gesamt 0

10

20

30

40

Frauen

50

60

70

80

90

100

Männer

Abb. 6: Bürgermeister*innen in Österreich 2021. Quelle: Eigene Darstellung basierend auf Daten des Österreichischen Gemeindebundes.

53 Vgl. Wissenswertes über unsere Bürgermeister*innen, Österreichischer Gemeindebund, URL: https://gemeindebund.at/buergermeister-und-buergermeisterinnen/ (abgerufen am 30.5.2021). 54 Vgl. Janine Heinz/Christoph Hofinger/David Baumegger, SORA Gleichstellungsindex 2021. Wie steht es um die Repräsentation von Frauen in den 2095 Städten und Gemeinden in Österreich? SORA Institute for Social Research and Consulting, 8, URL: https://www.sora.at/fileadmin/downloads/projekte/2021_SORA_Praesentation_Gleichstellungsindex_3-2021.pdf (abgerufen am 30.5.2021).

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9. CONCLUSIO

Obgleich die österreichische Demokratie im internationalen Vergleich zu einer der besten gehört, weist sie im Bereich der Geschlechtergleichheit durchaus Schwächen auf.55 Das sieht man besonders an Geschlechterunterschieden im Engagement in Parteien und letztendlich in der Repräsentation von Frauen und Männern, die in Österreich über Zeit-, Parteien-, Bundesländer- und Politikebenen hinweg variiert. Warum ist geschlechtergerechte Repräsentation wesentlich für die Qualität der Demokratie? Zum einen kommt es durch eine größere Anzahl von Politikerinnen viel eher zur Berücksichtigung von Interessen und Bedürfnissen von Wählerinnen.56 Obgleich die Verbindung zwischen dem Frauenanteil (deskriptive Repräsentation) und der Vertretung weiblicher Interessen (sub­ stanzielle Repräsentation) in der Literatur umstritten ist,57 wird überwiegend davon ausgegangen, dass die Zunahme von Frauen in der Politik mit einer stärkeren Berücksichtigung von Themen, die in erster Linie Frauen betreffen, einhergeht.58 Die Erhöhung des Frauenanteils führt demnach zugleich auch einen Wandel in der Auswahl relevanter gesellschaftlicher Fragen und der politischen Prioritätensetzung herbei.59 Zum anderen wirkt sich ein höherer Anteil der Frauen in der Politik auch auf andere Weise positiv 55 Vgl. Ines Grössenberger/Markus Pausch, Das Unbehagen mit der repräsentativen Demokratie. Demokratievertrauten und Reformwünsche in Österreich, in: Momentum Quarterly. Zeitschrift für Sozialen Fortschritt 7 (2018) 3 (2018), 124–135, 124–131. 56 Vgl. Jane Mansbridge, Should Blacks Represent Blacks and Women Represent Women? A Contingent „Yes“, in: The Journal of Politics 61 (1999) 3, 628–657, 643–648. 57 Vgl. Magda Hinojosa/Miki C. Kittilson, Seeing Women, Strengthening Democracy. How Women in Politics Connected Citziens, New York 2020, 32; vgl. Birgit Sauer, „Only paradoxes to offer?“ Feministische Demokratie- und Repräsentationstheorie in der „Postdemokratie“, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 40 (2011) 2, 125–138, 125–136. 58 Vgl. Jessica C. Gerrity/Tracy Osborn/Jeanette Morehouse Mendez, Women and Representation. A Different View of the District? In: Politics & Gender 3 (2007), 179–200, 179–198. 59 Vgl. Zachary Greene/Diana Z. O’Brien, Diverse parties, diverse agendas? Female politicians and the parliamentary party’s role in platform formation, in: European Journal of Political Research 55 (2016), 435–453, 435–436; vgl. Hinojosa/Kittilson, Seeing, 32, 126–127; vgl. Lawless Candidates, 358–359; vgl. Zahradnik-Stanzel, Geschlechterverhältnis, 141–142.

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aus: Beispielsweise mag ein höherer Frauenanteil Frauen dazu ermutigen, sich mit ihren Anliegen an die Politik zu wenden, da sie davon ausgehen, dass Politikerinnen über ähnliche Erfahrungen und Interessen wie sie selbst verfügen.60 Gleichzeitig bewirkt die Erhöhung der deskriptiven Repräsentation von Frauen auch, dass Frauen und Männern Politik nicht mehr als eine vorwiegend männliche Domäne erscheint und Frauen sich selbst als berechtigt und fähig erachten, an Politik aktiv teilzunehmen.61 Das ist wichtig, denn wo Frauen weniger an Politik teilnehmen, sind ihre politischen Präferenzen weniger wahrscheinlich vertreten.62 Um das Verhältnis von Geschlecht und Demokratie empirisch darzustellen, haben wir uns in diesem Abschnitt auf quantitative Indikatoren beschränkt. Jedoch bräuchte man zudem eine tiefere Einsicht in die Mechanismen, die auf der untersten Ebene des Engagements wirksam sind: Gerade die informellen Vorgänge, etwa auf der lokalen Politikebene, sind bisher nur wenig erforscht. Idealerweise würde man Methoden und Datenquellen aus Geschichts- und Politikwissenschaft kombinieren (d.  h. quantitative Umfragen, qualitative Interviews und Archivquellen), um die Art und Weise zu verstehen, wie Geschlechterstereotype und die darauf beruhenden Strukturen auf die Rolle von Frauen in der österreichischen Politik wirken.

60 Vgl. Mansbridge, Blacks, 641–643. 61 Vgl. ebd. 648–650. 62 Vgl. Sarah Dingler/Corinna Kroeber/Jessica Fortin-Rittberger, Do parliaments underrepresent women’s policy preferences? Exploring gender equality in policy congruence in 21 European democracies, in: Journal of European Public Policy 26 (2019) 2, 302–321, 302–316.

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Thomas Steinmaurer

DIGITALE TRANSFORMATIONEN UND DEMOKRATIE. HERAUSFORDERUNGEN FÜR POLITIK UND GESELLSCHAFT

1. EINLEITUNG

Wenn wir über den Einfluss der Digitalisierung als einer technokulturellen Meta-Entwicklung auf Politik und Demokratie nachdenken und die Entwicklung des Wechselverhältnisses dieser Felder zueinander reflektieren, lassen sich auf den ersten Blick unterschiedliche Konjunkturen in den dafür prägenden Narrativen erkennen. Standen anfangs Hoffnungen und Versprechen auf mehr Partizipation, direkte Beteiligung an öffentlichen Diskursen und die Erwartung neuer Chancen für egalitäre Deliberationsformen im Zentrum der Entwicklung, dominieren heute überwiegend pessimistische Einschätzungen und Krisen-Narrative diese immer noch hoch dynamische Transformation. Im folgenden Beitrag werden aktuelle Phänomene der Digitalisierung vor dem Hintergrund dieser Entwicklung diskutiert und Perspektiven aufgezeigt, wie den gegenwärtig überwiegend krisenhaften Erscheinungen begegnet werden könnte.

2. TRANSFORMATIONEN DER DIGITALISIERUNG UND DIE KONJUNKTUR DER NARRATIVE

Ohne Zweifel können wir davon ausgehen, dass sich mit der Digitalisierung neue Möglichkeitsräume und Handlungsoptionen für die Demokratie eröffnet haben. Mit „dem Netz der Netze“ entstanden gänzlich neue Optionen der lokalen wie auch globalen Interaktion, es eröffneten sich niedrigschwellige Zugangsformen zu Politik und staatlichen Institutionen, und es ergaben sich vielfach neue Chancen der Partizipation in unterschiedlichen Handlungsfeldern. Das Internet wurde zu einer universellen digitalen Infrastruktur. Mit seiner Verbreitung war auch ein Strukturwandel von der klassischen Mediengesell-

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schaft hin zu einer „Netzwerkgesellschaft“1 verbunden, und es entstanden fundamental neue Bedingungen für individuelle wie auch gesellschaftliche Interaktions- und Kommunikationsformen. „So wie die Idee der Liquid Democracy die traditionelle Unterscheidung zwischen direkter und repräsentativer Volksherrschaft aufweicht, verwischen [sic] in der digitalen Ära ebenso die Grenzen zwischen funktionalen und normativen, agonalen und deliberativen Auffassungen […], zwischen horizontaler und vertikaler Subsidiarität, technokratischen ‚Systemzwängen‘ und entfesselter Bürgeraktivität sowie insbesondere zwischen dem privatem [sic] und dem öffentlichen Bereich.“2 Strukturell kann man von einem „ko-evolutionären Prozess auf dem Weg in eine neue Ordnung“ sprechen, mit dem möglicherweise auch bereits der Übergang von einer „digitalisierten Demokratie“ in eine „Digitaldemokratie“3 vollzogen wird, wenn wir voraussetzen, dass sich Politik und Demokratie zunehmend nicht mehr als voneinander getrennte Systeme denken lassen. Jedenfalls ist vor dem Hintergrund des digitalen Strukturwandels der Gesellschaft davon auszugehen, dass sich bereits etablierte Prozesse der Mediatisierung von Politik und Demokratie unter dem Einfluss der neuen technologischen Rahmenbedingungen noch einmal gänzlich neu darstellen. Dies umso mehr, als in der Post Internet Society mit dem Übergang in ein Next Internet4 ein wachsender Einfluss von Algorithmen, KI-Anwendungen und zunehmender Datafication verbunden ist, der völlig neue Strukturbedingungen schafft. Inwieweit sich Demokratie – auch mit Blick auf die Gefahren des postfaktischen Zeitalters – damit auch nachhaltig transformiert bzw. dekonstruiert, kann aktuell nicht vorhergesagt werden. Vielfach wird jedenfalls immer noch von der sozial konstruierten Erwartungshaltung ausgegangen, „Demokratie und digitale Gesellschaft ‚sollten‘ miteinander in Einklang zu bringen sein“.5 Und nach Borucki et al. sei mit Blick auf die Forschung nach Möglichkeiten zu suchen, „über Digitalisierung bestehende Demokratiedefizite ausgleichen zu können“, wobei das Konzept einer digitalisierten Demokratie mit „all ihren digitalspezifischen Funktionslogiken, 1 2

3 4 5

Manuel Castells, The Information Age. Economy, Society and Culture, 3 Bände, Oxford 2000. Oliver Hidalgo, Digitalisierung, Internet und Demokratie. Theoretische und politische Verarbeitungen eines ambivalenten Feldes, in: Neue politische Literatur 65 (2020), 77–106, 103, Hervorh. im Orig. Isabelle Borucki/Dennis Michels/Stefan Marschall, Die digitalisierte Demokratie. Ein Überblick, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 30 (2020), 163–169. Vincent Mosco, Becoming Digital. Toward a Post-Internet Society, Bingley 2018. Hidalgo 2020, 104.

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aber auch neuen digitalen Spaltungen und Verwerfungen als genuines Phänomen ernst genommen werden“ müsse.6 Wenn wir auf die Genese der technokulturellen Entwicklung der Digitalisierung zurückblicken, war der Beginn der Internet-Ära von hohen Erwartungen an die neue Technologie geprägt. Das „Netz der Netze“ entwickelte sich Ende der 1950er Jahre in den USA zunächst als ein stark militärisch dominiertes Projekt und wurde in der Folge vermehrt zu einer Domäne universitärer Forschung und Entwicklung. In der Pionier- und ersten Etablierungsphase wurden mit zum Teil euphorischen Hoffnungen der offene Zugang zu Wissen und Informationen, eine neue Transparenz politischer Prozesse und bürokratischer Verfahren sowie die Möglichkeiten einer verbesserten Partizipation an politischen Entscheidungsprozessen von den neuen technischen Möglichkeiten erwartet. Diskurse über neue Potentiale der Vergemeinschaftung, Optionen auf eine vernunftgetriebene Deliberation in der Online Agora und die Stärkung der Basisdemokratie bis hin zu Formen der Liquid Democracy ließen das Netz zu einem Demokratieversprechen werden. Zudem wurde dem Internet in seiner Tiefenstruktur eine Ähnlichkeit zum Habermas’schen Modell der diskursiven Öffentlichkeiten zugesprochen, das eine Diskursethik gleichberechtigter Kommunikation vieler erlauben würde und Bedingungen einer idealen Öffentlichkeit schaffen könnte.7 Nicht selten war daher auch die Rede von einer neuen „grenzenlosen Demokratie“ im neuen Raum des Cyberspace. Seitens der Electronic Frontier Foundation wurde in der „Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace“ eingefordert, die Entwicklung dieses Raums weitgehend sich selbst – ohne staatlichen Regulierungseinfluss – zu überlassen. Der Autor dieses gegenkulturellen Manifests, John Barry Barlow, verwies damit auf das zentrale Gründungsdokument der USA, im Besonderen auch auf das Wirken eines seiner Hauptautoren, Thomas Jefferson, der selbst für die Idee des Zusammenwirkens gleichberechtigter Individuen und basisorientierter Initiativen sowie eines demgegenüber schwachen (Bundes-)Staates stand.8 Gestärkt 6 Isabelle Borucki/Dennis Michels/Stefan Marschall, Die Zukunft digitalisierter Demokratie. Perspektiven für die Forschung, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft (2020) 30, 359–378, 374. 7 Heinz Kleger, Direkte und transnationale Demokratie. Die neuen Medien verändern die repräsentative Demokratie, in: Claus Leggewie/Christa Maar (Hg.), Internet & Politik. Von der Zuschauer- zur Beteiligungsdemokratie? Köln 1998, 97–119, 106–107. 8 Mehr dazu bei David G. Post, in: Search of Jefferson’s Moose. Notes on the State of Cyberspace, New York 2009.

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wurde damit der Mythos eines nicht hierarchischen, sich selbst organisierenden Netzwerks in einem digitalen Raum, der noch dazu „abgekoppelt von kapitalistischen Zwängen und politischen Machtstrukturen“9 funktionieren sollte. Einen wesentlichen Dynamisierungsschub erfuhren weitere Hoffnungsnarrative – auch mit Blick auf eine radikale Durchsetzung demokratischer Strukturen des Netzes – ab Anfang der 2000er Jahre. Getragen war diese Phase von einer sich formierenden Netzkultur, die von David Cameron und Richard Barbrook als Kalifornische Ideologie bezeichnet werden sollte. Die beiden Autoren beschrieben 1997 damit die „seltsame Verschmelzung der kulturellen Boheme aus San Francisco mit den High-Tech-Industrien von Silicon Valley“ und eine für die Netzentwicklung prägende Verbindung aus dem „frei schwebenden Geist der Hippies mit dem unternehmerischen Antrieb der Yuppies“.10 Die neue Netzkultur war v. a. auch wirtschaftlichen Entwicklungsdynamiken gegenüber aufgeschlossen, sollten diese ja auch der Selbstentfaltung des Individuums dienen11. Als solcherart libertäre Bewegung mit stark ökonomischen Triebfedern war sie anschlussfähig für Initiativen, die seitens der amerikanischen Regierung unter der Administration von Clinton/Gore schon Anfang der 1990er Jahre mit der Infrastruktur-Offensive zum Aufbau eines Electronic Superhighway und einer National Information Infrastructure für die USA gesetzt wurden. Einen europäischen Spin-off fand dieses Projekt mit dem Bangemann-Projekt zur Entwicklung einer Information Society, die neben einer stark marktliberalen Ausrichtung auch die Idee einer sozialen Gestaltung der Informationsgesellschaft zu integrieren suchte. Die Perspektiven, die sich dabei für die Demokratie mit der Entwicklung des Internet eröffneten, spiegelten sich – im deutschsprachigen bzw. europäischen Raum – in unterschiedlichen Konzepten und Leitideen wider. Standen in den 1970er/80er Jahren Begriffe wie die der Teledemokratie und Computerdemokratie im Zentrum, wurden um die Jahrtausendwende Konzepte der elektronischen Demokratie oder auch bereits digitalen Demokratie diskutiert. Unterschiedliche Modelle der Erneuerung des politischen Systems in Richtung E-Democracy und Formen eines digital aktivierten Staats auf der Ebene des E-Governments wurden entworfen. Zudem sollte die Erschließung eines bürgerschaftlich-egalitären Raums neue Horizonte für elektronische Gemein9

Sascha Dickel/Jan-Felix Schrape, Dezentralisierung, Demokratisierung, Emanzipation, in: Leviathan 43 (2015) 3, 442–463, 444. 10 Ebd., 52. 11 Vgl. Benjamin Krämer, How to do Things with the Internet. Handlungstheorie online, Köln 2020, 328.

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schaften in einer Cyberdemocracy eröffnen.12 Diese Konzepte reflektierten auf der einen Seite die Polity-Dimension der strukturellen Ebene, wie im Fall der Idee der Cyberdemocracy, auf der anderen Seite aber auch die Policy-Ebene der politischen Inhalte mit dem Konzept der Teledemocracy. Eine generelle Verbesserung und Optimierung des politischen Handelns (auf der PoliticsEbene) wurde im Modell einer Electronic Democratization zu erreichen erhofft.13 Insgesamt sollten sowohl politische Entscheidungs- wie auch Beteiligungsverfahren mittels digitaler Möglichkeiten erweitert und optimiert werden. Positiv zu verbuchen ist jedenfalls die Tatsache, dass wir es heute mit einem deutlich verbesserten und niederschwelligeren Zugang zur Politik zu tun haben. Zudem erhöhte sich die Transparenz von Verfahren und politischen Prozessen, ebenso erweiterte sich kontinuierlich das Spektrum an politischen Partizipationsmöglichkeiten für Individuen wie auch Gruppen oder sozialen Bewegungen. Gerade Social Media eröffnen für Aktivist*innen und Bürgerbewegungen neue Möglichkeiten und Chancen der politischen Organisation und Partizipation. Und es ist auch davon auszugehen, dass etwa mit einem höheren Konsum an politischer Information im Online-Bereich das Interesse an direktdemokratischen Beteiligungsformen zunimmt.14 Die anfänglich sehr großen Hoffnungen auf die Erschließung einer Online-Agora als Forum für herrschaftsfreie Diskurse der Deliberation sollten sich jedoch bald an den Realitäten der „normativen Kraft des Faktischen“ brechen, da sich sehr schnell zeigte, dass Kräfte einer sich selbst organisierenden Cyberdemocracy nicht ausreichen, um das System zu verbessern, und dass das Internet auch nicht – entgegen der anfänglich idealisierten Visionen – von Natur aus als demokratisch gelten kann: „Das Internet schöpft keine virtuelle Athener Polis, und es macht den modernen Menschen eben nicht wieder zu Aristoteles’ zoon politikon, zum ganz auf die staatliche Gemeinschaft ausgerichteten Wesen.“15 Damit verdeutlichte sich auch, dass wir es beim Internet mit einem soziotechnischen System zu tun haben, in dem technische Innovationen nicht ohne gesellschaftliche und soziale Einflüsse verstanden werden dürfen. 12 Vgl. Alexander Siedschlag/Arne Rogg/Carolin Welzel, Digitale Demokratie. Willensbildung und Partizipation per Internet, Wiesbaden 2002. 13 Vgl. Klaus Kamps, Die Agora des Internet. Zur Debatte politischer Öffentlichkeit und Partizipation im Netz, in: Otfried Jarren/Kurt Imhof/Roger Blum (Hg.), Zerfall der Öffentlichkeit? Wiesbaden 2000, 227–239. 14 Vgl. Corinna Mayerl/Florian Oberhuber/Paul Ringler/Werner Sturmberger/Valentin Sützl, Internet und Demokratie in Österreich. Wien 2018, 23, 10. 15 Vgl. Siedschlag/Rogg/Welzel, Demokratie, 19.

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Prägend für die erste Phase der Internet-Entwicklung war jedenfalls eine überwiegend selbstregulierende Ordnungspragmatik, die vom Geist einer anti-etatistischen und anti-institutionellen Ideologie getragen war und als solche auch den Weg für die Durchsetzung einer Kommerzialisierungslogik ebnen sollte. Und so währte „der Traum der Pioniere und Hacker von der undomestizierbaren Anarchie der Netze […] nicht lange“.16 Vielmehr setzte sich in der Folge eine stark an Marktlogiken ausgerichtete Infrastruktur mit global agierenden Plattformen durch, die heute das Spiel der Kräfte dominieren. Die Narrative der Netz-Euphorie aus der Pionierphase verloren zunehmend ihre Wirkmächtigkeit und gingen über in eine Phase von Netz-Diskursen, die vermehrt auf Krisenphänomene und Gefahren hinwiesen. Benjamin Barber warnte schon relativ früh vor den digitalen Monopolen mit ihrem Hang zu einem „kommerziellen Totalitarismus“17, später sprachen Kritiker wie Evgeny Morozov von einem beginnenden „technologischen Solutionismus“, und zunehmend wurde – wie etwa von Cass Sunstein – auf die Gefahr einer Spaltung der Gesellschaft bzw. einer Radikalisierung der netzbasierten Diskussionskulturen hingewiesen.18 Aktuell spitzt sich die Kritik auf den von Zuboff beschriebenen „Überwachungskapitalismus“ zu.19 Diese überwiegend kritische Diskurslage findet sich – mittlerweile breit rezipiert – auch in den Medien repräsentiert und auf der Ebene einer zunehmend skeptischen Haltung im Meinungsspektrum der Bevölkerung gespiegelt.20 Im Kontext dieser Entwicklung ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass wir es mit Blick auf soziotechnische Strukturen auch mit Phänomenen gesellschaftlicher Wandlungsprozesse zu tun haben, in deren Kontext sich neue Differenzierungsprozesse in der Gesellschaft vollziehen. Die Transformation einer einst massenmedial geprägten Gesellschaft in eine durch die Digitalisierung geprägte beschreibt Jarren mit dem Übergang einer „bislang vorherrschende[n] nationalstaatliche[n] wie hierarchisch-elitistische[n] Ordnung 16 Claus Leggewie, Demokratie auf der Datenautobahn. Oder: Wie weit geht die Zivilisierung des Cyberspace? In: Claus Leggewie/Christa Maar (Hg.), Internet & Politik. Von der Zuschauer- zur Beteiligungsdemokratie. Köln 1998, 15–51, 17. 17 Benjamin Barber, Wie demokratisch ist das Internet? Technologie als Spiegel kommerzieller Interessen, in: Claus Leggewie/Christa Maar (Hg.), Internet & Politik. Von der Zuschauer- zur Beteiligungsdemokratie? Köln 1998, 120–133, 127. 18 Vgl. im Überblick dazu Hidalgo, Digitalisierung. 19 Shoshana Zuboff, Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, Frankfurt a. M. 2018. 20 Vgl. Mayerl/Oberhuber/ Ringler/ Sturmberger/Sützl, Internet, 9.

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der Massenmedien […] [in] eine eher heterarchisch-dynamische Kommunikationsordnung bottom up. […] Diese Ordnung entspricht einem stärker auf unmittelbare Beteiligung und die Übernahme von Verantwortung durch den Einzelnen geprägten Kommunikationssystem“.21 Als prägendes Strukturmuster kann in diesem Zusammenhang – neben Metatrends der Globalisierung und Ökonomisierung – das Phänomen der Individualisierung22 gelten, das aktuell in der Soziologie im Kontext einer praxeologischen Perspektive als „Singularisierung“ diskutiert wird.23 So basieren gerade digitale, vermehrt auf der Basis von Algorithmen funktionierende Technologien auf personalisierten Adressierungen der User*innen sowie auf der Kommodifizierung ihrer Nutzungsprofile – sei es auf der Ebene ihres Konsumverhaltens oder aber auch im Rahmen eines politischen Micro-Targeting. Damit steht nicht mehr die Ansprache des gesellschaftlich Allgemeinen im Zentrum, sondern die Adressierung des Individuums mit seinen personalisierten Datenprofilen. Daraus ergeben sich Gefahren im Hinblick auf eine Fragmentierung der Gesellschaft, die nicht ohne Auswirkungen auf Politik und Demokratie zu denken sind. Gleichzeitig lassen sich auf der Ebene gesellschaftlicher Dynamiken auch neue Spielarten der Differenzierung ausmachen, die – neben Logiken der funktionalen oder segmentären Organisation – Formen einer fragmentalen24 Differenzierung ausbilden. In Form einer dynamischen Neukonfiguration gesellschaftlicher Ordnungsbildung kommt es zu neuartigen Formen der inneren Koordination, die auf der Basis von Netzwerk- und Individualisierungstendenzen neue Bindungswirkungen erzeugen, welche insgesamt jedoch instabiler und flüchtiger sein dürften. So entstehen gewissermaßen beständig neue kleinere Cluster und Einheiten, die sich kontinuierlich verändern und neue Muster bilden.25 Im Gegensatz zu den oben angesprochenen Individualisierungsund Singularisierungsprozessen, die vielfach auf Fragmentierungseffekte 21 Otfried Jarren, Ordnung durch Medien? In: Klaus-Dieter Altmeppen/Patrick Donges/Matthias Künzler/Manuel Puppis/Ulrike Röttger/Hartmut Wessler (Hg.), Soziale Ordnung durch Kommunikation? Baden-Baden 2015, 29–50, 46–47. 22 Vgl. dazu insb. Ulrich Beck, Die Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M. 1986. 23 Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017. 24 Jan-Hendrik Passoth/Werner Rammert, Fragmentale Differenzierung als Gesellschaftsdiagnose. Was steckt hinter der zunehmenden Orientierung an Innovation, Granularität und Heterogenität? In: Cornelius Schubert/ Ingo Schulz-Schaeffer (Hg.), Berliner Schlüssel zur Techniksoziologie, Wiesbaden 2019, 143–177. 25 Vgl. Jarren, Ordnung.

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hinauslaufen, sind von fragmentalen Differenzierungsformen eher neue Bindungswirkungen zu erwarten. Und auch auf der Ebene sozialer Aktivitäts- und Partizipationsformen bilden sich digital gestützte Handlungsformen durch den Übergang von kollektiven zu konnektiven Aktionsformen ab, aus denen wiederum (re-)integrierende Kräfte erwachsen können.26 Diese Dynamiken stehen beispielhaft für innovative Vergesellschaftungsformen, welche durchaus auch neue Potentiale für politische Aktivitätsformen hervorbringen können. Mit Blick auf diese sich zusätzlich formierenden Ausdifferenzierungsprozesse können wir jedenfalls von einer Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Differenzierungsdynamiken ausgehen, die einerseits Effekte der Desintegration und Fragmentierung mit sich bringen, gleichzeitig aber auch neue, wenngleich liquidere dynamische Ordnungsbildungen entstehen lassen.27 Im Hinblick auf die Narrative zu Demokratie und Digitalisierung sind es aber insbesondere kritische Stimmen, die heute den Diskurs dominieren. Diese Krisendiagnostik funktioniere – so Hidalgo – „derzeit noch deutlich besser […], als dass sich auf dem Feld der Therapievorschläge bereits tragfähige und innovative Lösungen abzeichnen würden“.28 Kritische Beobachter*innen warnen konkret vor einer zunehmenden Abschottung und Isolierung diskursiver Öffentlichkeiten, wie sie etwa am Phänomen der Filter Bubbles deutlich wird. Durch die Einwirkung von Fake News sowie die steigende Verbreitung (bzw. bessere Sichtbarkeit) von Verschwörungsmythen29 wird auch eine zunehmende Toxifizierung der öffentlichen Diskurs- und Debattenkulturen befürchtet. Zudem sind auf der Seite der User*innen digitaler Netzwerke Strategien der Nachrichtenvermeidung bzw. sogenannten News Avoidance zu beobachten wie auch generell eine Informationsnutzung, die auf eine News Deprivation in bestimmten Bevölkerungssegmenten hinauszulaufen droht.30 Auf diese für Politik und Demokratie besonders relevanten Phänomene soll im folgenden 26 Lance Bennett/Alexandra Segerberg, The Logic of Connective Action. Digital Media and the Personalization of Contentious Politics, in: Information, Communication & Society 15 (2012), 739–768. 27 Vgl. Otfried Jarren, Gesellschaftliche Differenzierung und die Vermittlungsleistungen der publizistischen Medien, in: Otfried Jarren/Christoph Neuberger, Gesellschaftliche Vermittlung in der Krise. Medien und Plattformen als Intermediäre, Baden-Baden 2020, 51–91. 28 Hidalgo, Digitalisierung, 102. 29 Vgl. dazu u. a. Michael Butter, „Nichts ist, wie es scheint“. Über Verschwörungstheorien, Berlin 2018. 30 Mark Eisenegger/Jörg Schneider/Lisa Schwaiger, „News-Deprivation“ als Herausforderung für moderne digitale Gesellschaften, in: ORF (Hg.), Informationsdepri-

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Abschnitt mit dem Versuch eingegangen werden, diese in Bezug auf ihre Wirkung differenzierend einzuordnen und auf ihre Relevanz für Demokratie und Gesellschaft hin zu reflektieren.

3. FILTER BUBBLES, FAKE NEWS UND NEWS DEPRIVATION ALS GEFAHREN FÜR DIE DEMOKRATIE?

Allgemein kann zunächst davon ausgegangen werden, dass durch die steigende Individualisierung digitaler Handlungsformen und die auf Algorithmen basierende Personalisierung der Adressierung der Nutzer*innen im Netz neue Potentiale der Desintegration im Hinblick auf die politische Informiertheit der Bevölkerung – etwa auf der Basis von Meinungsblasen – entstehen. Mit dem Phänomen der Filter Bubbles ist gemeinhin eine durch Algorithmen hervorgerufene Zuordnung von Informationen zu individuellen Profilen oder Nutzungsgruppen im Internet mit Ein- und Ausschließungseffekten angesprochen.31 Auf der Basis empirischer Studien zeigt sich – anders als befürchtet – derzeit allerdings kein einheitliches Bild einer Bestätigung der von Pariser beschriebenen Effekte, da Einflüsse durch zufällige Vernetzungen – auf Basis der sogenannten Serendipity – und andere Variablen die Bildung von stabilen Filter-Blasen zuweilen konterkarieren.32 Auch wenn wir von der Wirksamkeit von Filter Bubbles als Breiteneffekt des Netzes nur bedingt ausgehen können, lassen sich sehr wohl Phänomene einer diskursiven Abschottung auf der Ebene politischer Rand- und Extrempositionen feststellen. In diesen als Fringe Bubbles bezeichneten Gruppen und Milieus ist zudem die Ausbildung von sogenannten „Echokammern“ wahrscheinlich.33 Darin findet ein Austausch und die Bestätigung ähnlicher Meinungen statt, woraus wiederum diskursive Überhitzungs- und Radikalisierungseffekte entstehen können, die einer starken Bindungswirkung nach innen und Abschottungstendenzen nach außen hin Vorschub leisten. Hinsichtlich der darin vertretenen Nutzer*innen ist davation & News-Avoiding. Eine Herausforderung für Demokratie und öffentlichrechtliche Medien, Wien 2020, 7–47. 31 Eli Pariser, The Filter Bubble. What the Internet is Hiding From You, London 2011. 32 Vgl. Katharina Kleinen-von Königslöw, Die Individualisierung der Nachrichtennutzung als Treiber der gesellschaftlichen Vermittlungskrise, in: Otfried Jarren/ Christoph Neuberger, Gesellschaftliche Vermittlung in der Krise. Medien und Plattformen als Intermediäre, Baden-Baden 2020, 93–118. 33 Vgl. Kleinen-von Königslöw, Individualisierung.

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von auszugehen, dass es sich um Gruppen handelt, die von klassischen Medien kaum mehr erreicht werden, sich also von einer integrierten Öffentlichkeit abkoppeln und auch tendenziell kritische Ressentiments den etablierten Medien oder staatlichen Institutionen gegenüber ausbilden. So ortet etwa Jandura (für Deutschland im Jahr 2020) in bestimmten politisch-kommunikativen Milieus – respektive bei den sogenannten „Entfremdeten Demokratiekritikern“ und „Teilnahmslos-Distanzierten“ – die Gefahr, dass sich in diesen Milieus derartige Entwicklungen vermehrt durchsetzen.34 Insgesamt kann in Bezug auf Filter Bubbles von einem Phänomen gesprochen werden, das sich in der Breite durch empirische Untersuchungen nur bedingt bestätigen lässt, in bestimmten digitalen Milieus, die eher am Rand der Gesellschaft zu verorten sind, aber sehr wohl wirkmächtig wird. Ein weiteres Feld, in dem es für die Demokratie zu kritischen Entwicklungen kommt, lässt sich mit der steigenden Verbreitung von Fake News und Verschwörungstheorien in Verbindung bringen. Bei beiden Entwicklungen handelt es sich um kein genuin neues Phänomen, die strukturelle Wirkmächtigkeit erreicht im Kontext der Digitalisierung und durch Netzwerkeffekte in den Social Media jedoch eine neue Dimension und Breitenwirkung. Spätestens mit den politischen Verwerfungen im Kontext der Trump-Präsidentschaft in den USA und zunehmend auch im Kontext der Corona-Pandemie werden negative Einflüsse von gezielt verbreiteten „alternativen Fakten“ auf die politische Diskurs-Kultur jedoch immer mehr zu einem Problem. Verbunden damit erodieren auch die Grenzen des öffentlich politisch Sagbaren, und das Vertrauen in seriöse Nachrichten- und Informationsquellen wie auch in öffentliche Institutionen sinkt. Wie wir aus Befunden aus der Forschung wissen, wird aufseiten der User*innen die Existenz und Wirkung von Fake News grundsätzlich als problematisch gesehen, eine konkrete oder proaktive Dekonstruktion oder Auseinandersetzung mit ihnen erfolgt allerdings kaum. Und gerade in Zeiten krisenhafter Phasen des gesellschaftlichen Wandels, wie das im Kontext der Corona-Pandemie der Fall war/ist, steigt in der Bevölkerung die Wahrnehmung eines gewissen Kontrollverlusts sowie die Angst vor Unsicherheiten, was wiederum dazu führt, dass in komplexen Informationslagen eindimensionalen Erklärungsmodellen leichter Glauben geschenkt wird. Gerade Ver34 Der erstgenannten Gruppe sind etwa 17 % der Bevölkerung zuzuordnen, in der zweitgenannten Gruppe sind das 14 %. Vgl. Olaf Jandura, Spagat zwischen Kritisch-Engagierten und Sozialautoritären, in: ORF (Hg.), Informationsdeprivation & News-Avoiding. Eine Herausforderung für Demokratie und öffentlich-rechtliche Medien, Wien 2020, 48–66.

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schwörungstheorien haben vielfach auch eine entlastende Funktion bei ihren Anhänger*innen und entfalten überwiegend bei jenen Bevölkerungsgruppen ihre Wirkung, die sich sozioökonomisch „abgehängt“ fühlen, über eine geringe Selbstwirksamkeit verfügen und einen gewissen Kontrollverlust beklagen.35 In diesem Umfeld wird auch ein Nährboden für die Aktivitäten populistischer Parteien bereitet, und insbesondere rechtsorientierten Gruppierungen gelingt es zusehends, bestimmte Protestbewegungen mit ihren Ideologien zu unterwandern und für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Schließlich sei auch noch darauf verwiesen, dass wir in Zeiten digitaler Disruptionen und neuer sozialer Wandlungsprozesse mit dem Phänomen eines zurückgehenden Nachrichtenkonsums konfrontiert sind. Eine steigende Anzahl von Bürger*innen verweigert aktiv den Konsum von Nachrichten oder kann als mit Nachrichten unterversorgt gelten. Für den deutschsprachigen Raum ist in diesem Zusammenhang von etwa einem Viertel der Bevölkerung auszugehen, das zu den sogenannten News Avoiders36 zählt, und die Zahl jener, die wir als News-Deprivierte37 bezeichnen können, stieg etwa in der Schweiz zwischen 2009 und 2020 von 21 auf 37 Prozent. Bei den Jugendlichen erreicht der Wert mittlerweile fast 50 Prozent.38 Zudem gilt es, ein Phänomen ernst zu nehmen, das – vor allem im Bereich von Social Media – eine Veränderung des Nachrichtenkonsums insofern aufzeigt, als dort die User*innen zunehmend die Erwartung haben, die für sie relevanten Informationen „zugespielt“ zu erhalten, ohne selbst aktiv nach Nachrichten suchen zu müssen. Sollte sich ein derartiger Habitus des Nachrichtenverhaltens verfestigen, ist mit verstärkten Fragmentierungstendenzen in der Gesellschaft und negativen Konsequenzen für die Demokratie zu rechnen. In Summe stehen die angesprochenen Phänomene für eine Entwicklung, die für die Demokratie eine Reihe kritischer Potentiale in sich birgt. Und wenn auch noch – wie es aktuell schon der Fall ist – Innovationen aus dem Feld der künstlichen Intelligenz die Schaffung einer Manufactured Reality auf der Ebene künstlich erzeugter Video-Fakes möglich machen, dürften die Grenzen 35 Vgl. Karl Hepfer, Verschwörungstheorien. Eine philosophische Kritik der Unvernunft, Bielefeld 2015. 36 Stefan Gadringer/Roland Holzinger/Isabella Nening/Sergio Sparviero/Josef Trappel, Digital News Report 2019. Detailergebnisse für Österreich, Salzburg 2019. 37 News-Deprivierte zeichnen sich insbesondere durch einen vermehrten Social-Media-Konsum und die erhöhte Nutzung boulevardorientierter Medienangebote aus. Vgl. Eisenegger/Schneider/Schwaiger, „News-Deprivation“. 38 Vgl. ebd.

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zwischen dem, was wir als eine gesicherte und gemeinsam geteilte Realität annehmen können, und einer Wirklichkeit, die sich in die Richtung des Postfaktischen bewegt, weiter erodieren und brüchiger werden. Vor dem Hintergrund dieser Veränderungen ergibt sich die Notwendigkeit, darüber nachzudenken, wie es gelingen kann, die drohenden Gefahren und die Risiken für Demokratie und Gesellschaft zu minimieren und gleichzeitig die ohne Zweifel auch vorhandenen Potentiale der Digitalisierung zu heben. Damit stellt sich die im abschließenden Abschnitt zu thematisierende Frage, auf welchen Ebenen es gelingen kann, durch regulatorische, bildungspolitische oder auch zivilgesellschaftliche Prozesseingriffe eine stärkere Verankerung demokratie- und gemeinwohlorientierter Prinzipien im Internet zu realisieren bzw. durchzusetzen. Tendenzen des Auseinanderdriftens von Möglichkeiten und Realisierungschancen gesellschaftlicher Teilhabe über digitale Technologien lassen einen Handlungsbedarf erkennen, der sich auch als Auftrag an Politik und Gesellschaft interpretieren lässt.

4. AUFGABEN FÜR POLITIK UND GESELLSCHAFT

Wie sich aus vielen Diskussionen um die Neuorientierung der sich aktuell vollziehenden Transformation der Digitalisierung ablesen lässt, zeichnet sich – mit Blick auf Demokratie und Politik –insbesondere auf zwei Ebenen die Notwendigkeit eines Handlungsbedarfs ab. Wie oben bereits angesprochen, verfestigt sich auf unterschiedlichen Ebenen die Sichtweise, dass es nicht ausreicht, Transformationen der Digitalisierung einer Selbstregulierungsdynamik zu überantworten, denn ohne einen steuernden Eingriff bleiben gesellschaftlich relevante Entwicklungshorizonte weitgehend außer Acht. Allem voran setzt sich vor dem Hintergrund der aktuellen Dynamiken der Plattformökonomie die Überzeugung durch, dass es gilt, die dominierenden Player mit unterschiedlichen Maßnahmen dazu zu zwingen, ihre Verantwortung gegenüber der Gesellschaft im Sinne ihrer Accountability nicht nur ernst zu nehmen, sondern auch mit entsprechenden Maßnahmen auf unterschiedlichen Ebenen umzusetzen.39 Dazu zählen etwa Instrumente, um auf der Ebene digitaler Plattformen aktiv gegen die Verbreitung von Fake News und Verschwörungstheorien vorzugehen. Zusätzlich sind dazu auch die 39 Florian Saurwein, Automatisierung, Algorithmen, Accountability. Eine Governance Perspektive, in: Matthias Rath/Friedrich Krotz/Matthias Karmasin (Hg.), Maschinenethik. Wiesbaden 2019, 35–56.

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Implementierung eines fairen Umgangs mit privaten Daten der Nutzer*innen sowie ganz generell die Orientierung an Regeln der Transparenz und der Nachvollziehbarkeit ihrer jeweils spezifischen Formen der Datenbewirtschaftung zu zählen. Aktuell sind hier am ehesten auf einer supranationalen Ebene, wie auf Ebene der Europäischen Union, wirkungsvolle Maßnahmen gesetzt worden bzw. weiter zu erwarten. Neben dem Versuch, auf der Ebene der global dominierenden digitalen Plattformen regulierend einzugreifen, bedarf es auch vermehrter Anstrengungen, Potentiale der digitalen Vergesellschaftung zu heben und Initiativen aufzugreifen, die nicht auf den Primat der Ökonomie ausgerichtet sind, sondern die Förderung des Gemeinwohls und die Weiterentwicklung demokratischer Kollaboration zum Ziel haben. In diesem Zusammenhang gilt es auch, die europäische Dimension zur Schaffung eines gemeinsamen europäischen digitalen Raums der Information, der geteilten Kultur und der Deliberation im Blick zu haben, wie das etwa mit den Projekten „EPOS“, „GAJA-X“, der „Europeana“ oder auch anderen Initiativen versucht wird. Insbesondere kommt im Rahmen dieser Projekte die Weiterentwicklung öffentlich-rechtlicher Medien zu digitalen Netzwerk-Plattformen eine besondere Relevanz zu. Eine zentrale Rolle bei der Konzeptionierung der erwähnten Projekte spielt die Idee der Digital Commons40, auf deren Basis die User*innen digitaler Technologien primär in ihrer Rolle als Bürger*in oder Digital Citizen und nicht als Konsument*in adressiert werden sollen. Perspektivisch muss es das Ziel sein, in die Qualitätssicherung einer inklusiven und partizipativen Kommunikationsinfrastruktur der Gesellschaft zu investieren, um neue Möglichkeitsräume für die Demokratie zu erschließen. Neben diesen überwiegend die Makroebene betreffenden Entwicklungsperspektiven gilt es schließlich auch noch auf die Mikroebene zu verweisen, die mit dieser in einem Wechselverhältnis steht. Auf dieser Ebene geht es vor allem um die Entwicklung von Ressourcen für die Erschließung entsprechender Handlungs- und Wissenskompetenzen. Wie zahlreiche Studien bestätigen, bestimmen nach wie vor insbesondere Unterschiede im Bildungsniveau neben Dimensionen des politischen Interesses die Ausprägung des gesellschaftlichen und politischen Engagements.41 Auch wenn sich durch technologische Innovationssprünge im Bereich der Digitalisierung der Digital Divide auf der Ebene des technischen Zugangs zunehmend schließt, ist dies auf der Ebene der Ausschöpfung von Wissensressourcen oder dort, wo es um Ambitionen der 40 Vgl. Graham Murdock, Building the Digital Commons. Public Broadcasting in the Age of the Internet, Spry Memorial Lecture, Montreal 2004. 41 Vgl. Mayerl/Oberhuber/Ringler/Sturmberger/Sützl, Internet, 23.

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politischen Partizipation geht, nicht der Fall.42 Im Gegenteil: Auf dieser Ebene tendieren die Klüfte eines Democratic bzw. Participatory Divide dazu, weiter zu wachsen, und Fragmentierungstendenzen drohen sich zu verfestigen. Gerade vor dem Hintergrund dieser Verschiebungen ist es aus demokratietheoretischen Überlegungen heraus notwendig, als Gesellschaft in eine vertiefende Weiterentwicklung der digitalen Kompetenzen und Skills der Bürger*innen zu investieren und diese nachhaltig zu stärken. Das betrifft zum einen die jungen Generationen, die mit den Möglichkeiten, aber auch mit den kritischen Phänomenen der Digitalisierung aufwachsen. Zum anderen wird es Maßnahmen bedürfen, um Angebote zur Förderung digitaler Kompetenzen für breitere Bevölkerungsschichten zu entwickeln, da gerade in bestimmten politisch-kommunikativen Milieus Abschottungsprozesse von geteilten Themen und Öffentlichkeiten stattfinden. Es gilt diese Gruppen (wieder) dafür zu gewinnen, sich – auch über neue digitale Möglichkeiten der Vernetzung – für gemeinsame Belange der Gesellschaft zu interessieren und sich demokratisch damit gewissermaßen zu „reintegrieren“. Dies dürfte vermutlich zu den derzeit gleichermaßen dringendsten wie auch schwierigsten Aufgaben im Bereich der (Politischen) Bildung zählen. Und nicht nur sich zunehmend von der Politik entfernende Schichten, sondern auch Gruppen der Gesellschaft, die noch kaum die Möglichkeiten gesellschaftlicher Partizipation für sich entwickelt haben und im Kontext der Digitalisierung überwiegend nur als Konsument*innen adressiert werden, sollten verstärkt in ihrer Rolle als Bürger*innen im Netz ernst genommen werden. Sieht man beide hier angesprochenen Problemfeder auf der Mikro- wie auch auf der Makroebene in ihrer Interdependenzbeziehung verortet und nimmt man die aktuell überwiegend kritisch zu beurteilenden technokulturellen Entwicklungen ernst, gilt es also einer Reihe von Fehlentwicklungen entgegenzuwirken, aber auch Potentiale zu heben, um das gegenseitige Bedingungs- und Möglichkeitsspektrum von Digitalisierung und Demokratie zu erweitern und Perspektiven für die Entwicklung gelungener Narrative für die Zukunft zu eröffnen.

42 Vgl. ebd., 11.

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AUTORINNEN UND AUTOREN

Reinhard Heinisch | Universität Salzburg Reinhard Heinisch ist Universitätsprofessor für Vergleichende Österreichische Politik an der Universität Salzburg und leitet den dortigen Fachbereich Politikwissenschaft. Von 1986 bis 2009 lebte und arbeitete er in den USA, wo er zuletzt eine Professur an der University of Pittsburgh innehatte. Seit 2014 ist er auch Lehrbeauftragter an der Renmin Universität in Peking. Heinisch beschäftigt sich mit der empirischen Meinungs-, Parteien- und Demokratieforschung. Derzeit leitet er ein von der EU finanziertes Horizon-2020-Projekt zu Populismus und Demokratieversagen. Seine Publikationen erscheinen in internationalen Fachzeitschriften wie Party Politics, Journal of Common Market Studies,  Democratization, West European Politics und anderen. Reinhard Heinisch ist Träger des Wissenschaftspreises der M.-Lupac-Stiftung des österreichischen Parlaments. Thomas Hellmuth | Universität Wien Thomas Hellmuth ist seit 2016 Universitätsprofessor für Didaktik der Geschichte an der Universität Wien; von 1997 bis 2009 arbeitete er als Lehrer an Allgemeinbildenden Höheren Schulen (AHS), von 2000 bis 2011 – zum Teil neben seiner Tätigkeit als Lehrer – als Univ.-Ass. und Senior Scientist am Institut für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte der Universität Linz, wo er Initiator des Masterstudiums „Politische Bildung“ war; 2011‒2016 war Hellmuth Inhaber einer Tenure-Track-Stelle (Assistenzprofessur); nach seiner Habilitation 2013 leitete er als Assoz.-Prof. den Bereich Didaktik der Geschichte und Politischen Bildung an der Universität Salzburg. Gudrun Hentges | Universität zu Köln Gudrun Hentges ist seit 2016 Professorin für Politikwissenschaft, Bildungspolitik und politische Bildung an der Universität zu Köln; zuvor war sie u. a. Professorin für Politikwissenschaft an der Hochschule Fulda und Research Fellow am German Historical Institute, Washington D.C.; im Sommersemester 2018 hatte sie eine Sir-Peter-Ustinov-Gastprofessur an der Universität Wien inne. Forschungsschwerpunkte: Demokratie, Politische Bildung, Rechtsextremismus, europäische Politik und Identität. Seit 2019 fungiert sie als Sprecherin des Graduiertenkollegs Rechtspopulismus. Autoritäre Entwicklungen, extrem-rechte Diskurse und demokratische Resonanzen (Universität zu Köln und Universität Leipzig).

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Autorinnen und Autoren

Christian Heuer | Universität Graz Christian Heuer ist Universitätsprofessor für Geschichtsdidaktik und Leiter des Arbeitsbereichs Geschichtsdidaktik an der Karl-Franzens-Universität Graz. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen der Theorie und Geschichte der Geschichtsdidaktik, der Pragmatik des historischen Lehrens und Lernens, der Orte und Medien der Geschichtskultur, der empirischen Professions- und Geschichtsunterrichtsforschung und der Lehrer- und Lehrerinnenbildungsforschung. András Jakab | Universität Salzburg András Jakab ist seit 2017 Universitätsprofessor für Verfassungs- und Verwaltungsrecht an der Universität Salzburg. Nach Abschluss des Studiums der Rechtswissenschaften und der Philosophie in Budapest, Heidelberg und Salzburg sowie der empirischen Sozialwissenschaften in Bamberg und Essex forschte er am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg (als wissenschaftlicher Mitarbeiter 2003–2004 bzw. als Schumpeter Fellow der Volkswagenstiftung 2011–2016) und am Centro de Estudios Políticos y Constitucionales in Madrid (als Investigador contratado „M. García-Pelayo“ 2008–2010). Daneben unterrichtete er als Lecturer in Law in Nottingham und Liverpool (2004–2006 bzw. 2006–2008) und als Universitätsprofessor an der Katholischen Universität Pázmány Péter in Budapest (2016–2017). Von 2013 bis 2017 war er als Forschungsprofessor und Direktor des Instituts für Rechtswissenschaften an der Ungarischen Akademie der Wissenschaften tätig. Insgesamt veröffentlichte er in neun verschiedenen Sprachen mehr als 270 wissenschaftliche Werke. Reinhard Klaushofer | Universität Salzburg Reinhard Klaushofer, Universitätsprofessor, beendete 2001 das Doktoratsstudium der Rechtswissenschaften an der Universität Salzburg. Nach der Habilitation mit der Arbeit Strukturfragen der Rechtsschutzbeauftragten erfolgte 2017 die Berufung für die Fächer Verfassungs- und Verwaltungsrecht. Seit 2019 ist Klaushofer Leiter des Fachbereichs Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht an der Universität Salzburg. Klaushofer war als Gastprofessor an der Universität Klagenfurt sowie an der Wirtschaftsuniversität Wien tätig und ist Experte in nationalen sowie internationalen Gremien für Menschenrechte; seit 2015 leitet er das Österreichische Institut für Menschenrechte. Mitwirkung in Arbeitsgruppen und internationalen Projekten, unter anderem in der Türkei und in Bulgarien zum Thema Menschenrechtsschutz. Des Weiteren ist er

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Autorinnen und Autoren

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Leiter einer regionalen Kommission der Volksanwaltschaft und seit 2017 Vorstandsmitglied der Studiengesellschaft für Wirtschaft und Recht. Veröffentlichung zahlreicher Aufsätze und Fachbeiträge sowie Kommentierungen und Abhaltung von Fachvorträgen. Benjamin Kneihs | Universität Salzburg Benjamin Kneihs, Universitätsprofessor, geb. in Wien, wo er 1995 das Studium der Rechtswissenschaften zum Mag. iur. und 1998 zum Dr. iur. mit einer Dissertation über Grundrechte und Sterbehilfe abschloss. Im Juni 2001 erfolgte der Antritt eines APART-Stipendiums für das Habilitationsprojekt Privater Befehl und Zwang. 2004 Verleihung der Lehrbefugnis für Verfassungs- sowie Verwaltungsrecht. Seit 2004 Belegung zahlreicher Listenplätze an den Universitäten in Salzburg, Wien, Graz und Innsbruck und wiederholte Aufnahme in den Besetzungsvorschlag der Vollversammlung des Verwaltungsgerichtshofs. Nach einem Forschungsaufenthalt an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Tromsø in Norwegen 2007 folgte 2008 der Ruf an die Fakultät, der zu Gunsten der Universität Salzburg abgelehnt wurde. Seit 2009 ist Kneihs als Univ.-Prof. an der Universität in Salzburg tätig, wo er von 2013 bis 2019 auch Leiter des Fachbereichs Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht war. Christoph Kühberger | Universität Salzburg Christoph Kühberger ist Fachbereichsleiter und Universitätsprofessor für Geschichts- und Politikdidaktik am Fachbereich Geschichte der Universität Salzburg. Er war zuvor Professor für Vergleichende Neuere und Neueste Europäische Kulturgeschichte an der Universität Hildesheim und Hochschulprofessor für Geschichts- und Politikdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Salzburg Stefan Zweig. Kühberger steht derzeit der Gesellschaft für Geschichtsdidaktik Österreich (GDÖ) vor. Forschungsschwerpunkte sind Historisches und politisches Denken und Lernen, Globales Lernen, Subjektorientierte Politik- und Geschichtsdidaktik, Ethnographische Geschichtsdidaktik, Geschichtskultur, Neue Kulturgeschichte, Ethik der Geschichtswissenschaft. Zoe Lefkofridi | Universität Salzburg Zoe Lefkofridi hat die erste Salzburger Universitätsprofessur für Geschlechterforschung (Gender Studies) inne, welche in der Fakultät für Gesellschaftswissenschaften verankert ist. Als Universitätsprofessorin für Politik & Geschlecht, Diversität & Gleichheit im Fachbereich Politikwissenschaft der Universität

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Autorinnen und Autoren

Salzburg konzentriert sich Lefkofridi in ihrer Forschung und Lehre auf Demokratie und Repräsentation, Diversität und Gleichheit. Ihre Publikationen erschienen in international führenden Fachzeitschriften wie West European Politics, European Union Politics und Politics & Gender. Außerdem ist sie Chefredakteurin der Specialty Section Political Participation der neuen goldenen Open-Access-Zeitschrift Frontiers in Political Science und Mitherausgeberin der Reihe Politics and Governance in the Smaller European Democracies (NOMOS Publications). Sie ist gewähltes Mitglied des Vorstandes der Österreichischen Gesellschaft für Geschlechterforschung (ÖGGF). Lefkofridi hat an der Universität Wien promoviert (2009, Politikwissenschaft) und sich an der Universität Salzburg habilitiert (2017, Politikwissenschaft & Politische Soziologie). Vor ihrer Zeit in Salzburg war sie Jean-Monnet- und Max-Weber-Stipendiatin am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz und forschte als Postdoc an der Stanford University, an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, am GESIS-Leibniz-Institut in Köln und an der Universität Wien. Lefkofridi hat Politikwissenschaft mit Fokus auf Internationale und Europäische Studien am Institut für Höhere Studien (2007) an der Diplomatischen Akademie in Wien (2004), am Europakolleg in Brügge (2003) sowie Theaterwissenschaft an der Universität Athen (2002) studiert. Margit Reiter | Universität Salzburg Margit Reiter ist seit Oktober 2019 Universitätsprofessorin für Europäische Zeitgeschichte an der Universität Salzburg. Zuvor leitete sie mehrere FWFProjekte und forschte und lehrte an den Universitäten Wien und Salzburg. Außerdem war Reiter Gastforscherin am Berliner Kolleg für Vergleichende Geschichte Europas (FU Berlin) und am Zentrum für Antisemitismusforschung an der TU Berlin sowie Senior Fellow am Zentrum für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte (IfZ) München. Für ihre Forschungen erhielt sie mehrere Auszeichnungen, u.  a. den Ernst-Fraenkel-Prize (2005), den Theodor-Körner-Preis (2006) und den Bruno-Kreisky-Anerkennungspreis für das Politische Buch (2006). Ihre Forschungsschwerpunkte: Nationalsozialismus und NS-Nachgeschichte, Antisemitismus und Antiamerikanismus, Generation und Gedächtnis („Kinder der Täter“), Parteiengeschichte der Zweiten Republik (v. a. FPÖ), Antisemitismus und Rechtsextremismus nach 1945.

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Autorinnen und Autoren

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Susanne Rhein | Universität Salzburg Susanne Rhein ist Doktorandin am Center for Comperative and Interanational Studies sowie am Institute for Science, Technology and Policy der ETH Zürich. Im Zuge ihrer Doktorarbeit untersucht sie Einstellungen zur Klimapolitik mit einem Fokus auf CO2-Abscheidung und -Speicherung. Zuvor hat sie ihr Masterstudium der Politikwissenschaft mit den Schwerpunkten Vergleichende Politik und Internationale Beziehungen an der Universität Salzburg abgeschlossen. Sie arbeitete dort als Studienassistentin beim Horizon-2020-Projekt Populism and Civic Engangment und unterstützte die Durchführung einer Jugendbefragung mit dem Schwerpunkt Digitalisierung und Partizipation für das Projekt Jugend Digitalisierung und Partizipation-Oberösterreich. Während ihres Bachelorstudiums beteiligte sie sich als wissenschaftliche Mitarbeiterin an einem weiteren Horizon-2020-Projekt, The Choice for Europe since Maastricht, am Salzburg Center for Europan Union Studies. Dirk Rupnow | Universität Innsbruck Dirk Rupnow ist Universitätsprofessor am Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck und derzeit Dekan der Philosophisch-Historischen Fakultät. Nach dem Studium der Geschichte, Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte an der FU Berlin und der Universität Wien war er Mitarbeiter der Historikerkommission der Republik Österreich (1999/2000). Seine Forschungen führten ihn an das Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur in Leipzig, die Duke University, das Dartmouth College sowie das Center for Advanced Holocaust Studies des US Holocaust Memorial Museums, an das Internationale Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien, das Institut für die Wissenschaften vom Menschen und das Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. 2017 war er Distinguished Visiting Austrian Chair Professor an der Stanford University. Er ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Wiener Wiesenthal Instituts für Holocaust-Studien (VWI). Der Eröffnungsausstellung des „Hauses der Geschichte Österreich“ in Wien (2018) stand er als Konsulent zur Seite. Für seine Arbeiten erhielt er eine Reihe von internationalen Preisen und Auszeichnungen, u. a. 2009 den Fraenkel Prize in Contemporary History der Wiener Library (London). Günther Sandner | Universität Wien Günther Sandner ist Politikwissenschaftler und Historiker. Er arbeitet als Research Fellow am Institut Wiener Kreis der Universität Wien und leitet dort das FWF-Projekt Isotype. Entstehung, Entwicklung und Erbe. Darin untersucht

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Autorinnen und Autoren

er gemeinsam mit dem britischen Designhistoriker Christopher Burke die internationale Verbreitung der im Wien der 1920er Jahre entstandenen Bildstatistik. In den letzten Jahren hatte er Fellowships am Center for Advanced Studies (CAS) der LMU München, am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) in Wien und am Botstiber Institute for AustrianAmerican Studies (USA). Atusa Stadler | Universität Salzburg Atusa Stadler hat Geschichte (BA. MA.) und Politikwissenschaft (BA.) mit Auszeichnung an der Universität Salzburg studiert und dabei erfolgreich die Studienergänzung Gender Studies abgeschlossen. Ihre interdisziplinären Studien vertieft sie zurzeit durch einen Master in Religious Studies an der Universität Salzburg. Thomas Steinmaurer | Universität Salzburg Thomas Steinmaurer ist Außerordentlicher Universitätsprofessor am Fachbereich Kommunikationswissenschaft an der Universität Salzburg. Er war langjähriger Vorsitzender der Österreichischen Gesellschaft für Kommunikationswissenschaft (ÖGK) und Chefredakteur ihrer Vierteljahreszeitschrift, des MedienJournals. Gegenwärtig ist er Leiter der Abteilung Center for ICT&S am Fachbereich Kommunikationswissenschaft an der Universität Salzburg. Außerdem ist Steinmaurer Mitglied in europäischen wie internationalen Fachgesellschaften und Koordinator des Doktoranden-Kollegs Digital Society & Democracy. In seiner Forschung setzt er sich mit den Phänomenen des digitalen und sozialen Wandels, der digitalen Vernetzung und Mediatisierung, den (digitalen) Technokultur(en) der Medien sowie mit Medien- und Kommunikationsstrukturen auseinander. Béatrice Ziegler | PH FHNW/Zentrum für Demokratie Aarau Béatrice Ziegler, Prof.em., Historikerin, Titularprofessorin der Universität Zürich mit Forschungen zu Migrations- und Geschlechtergeschichte der Neuesten Zeit. Ziegler war Leiterin des Bereichs Politische Bildung und Geschichtsdidaktik am Zentrum für Demokratie Aarau/Pädagogische Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz. Am dortigen Zentrum befasste sie sich insbesondere mit Forschungen und Entwicklungen in den Bereichen Geschichtsdidaktik, Geschichtskultur und politische Bildung.

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Autorinnen und Autoren

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Nadine Zwiener-Collins | Universität Salzburg Nadine Zwiener-Collins ist eine vom Land Salzburg geförderte Postdoktorandin im Bereich Politik und Geschlecht, Diversität und Gleichheit am Fachbereich Politikwissenschaft der Universität Salzburg. In ihrer Forschung befasst sie sich mit den Auswirkungen von (Geschlechter-)Ungleichheiten in unterschiedlichen Lebensbereichen, wie etwa dem Arbeitsmarkt und der Familie, auf das politische Verhalten und die Einstellungen von Bürger*innen und Politiker*innen in Europa. Zuvor war sie als Dozentin (Lecturer) am Sozialforschungsinstitut des University College London (UCL) tätig, wo sie quantitative Methoden und Datenanalyse für Sozialwissenschaftler*innen  gelehrt hat. Sie verfügt über einen Master-Abschluss der London School of Economics (LSE) und hat an der City, University of London promoviert.

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