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German Pages 214 Year 2014
Politik und Recht
PERSPEKTIVEN DEUTSCH-JÜDISCHER GESCHICHTE herausgegeben von Rainer Liedtke und Stefanie Schüler-Springorum
Perspektiven deutsch-jüdischer Geschichte vermittelt in sieben Bänden einen umfassenden, thematisch organisierten Überblick über die historische Erfahrung der Juden im deutschen Sprachraum vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Jeder der chronologisch aufgebauten Teilbände ist in sich abgeschlossen und befasst sich mit einem grundlegenden Aspekt der deutsch-jüdischen Geschichte, die immer als integraler Bestandteil der allgemeinen Geschichte betrachtet wird. Die Reihe richtet sich an ein breites, historisch interessiertes Lesepublikum, reflektiert den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Forschung, setzt jedoch keine Spezialkenntnisse zur jüdischen Geschichte voraus. Initiiert und gefördert wurde das von den Herausgebern und Autorinnen und Autoren in enger Kooperation entwickelte Gesamtprojekt von der Wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft des Leo Baeck Instituts.
Uffa Jensen
Politik und Recht
Ferdinand Schöningh
Der Autor: Uffa Jensen, Dr. phil., geb. 1969, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-PlanckInstitut für Bildungsforschung in Berlin.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2014 Ferdinand Schöningh, Paderborn (Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.schoeningh.de Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Herstellung: Ferdinand Schöningh, Paderborn Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München ISBN 978-3-506-77786-7
Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Frühe Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Aufklärung und Haskala . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Die Sicht der Aufklärung auf die Juden . . . . . . . . . . . . . . 23 Das Politikverständnis der jüdischen Aufklärungsbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Emanzipation, Revolution und »Neue Ära« . . . . . . . . . . . . . . 33 Die frühe Phase der Emanzipationspolitik . . . . . . . . . . . 33 Die Gegner der Judenemanzipation . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Das Politikverständnis der jüdischen Reformbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Juden und Politik im Vormärz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Politik in den jüdischen Gemeinden . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Juden und Politik in der Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Die politische Lage der Juden nach der Revolution . . . . 54 Kaiserreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die jüdische Wählerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die jüdischen Parlamentarier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Juden in Politik und Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . Politik in den jüdischen Gemeinden . . . . . . . . . . . . . . . . Der moderne Antisemitismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der politische Wandel unter Juden im Wilhelminischen Kaiserreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Zionistische Vereinigung für Deutschland . . . . . . . . . . Der Hilfsverein der deutschen Juden . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die jüdische Frauenbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Erweiterung des Politischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
59 61 64 68 72 75 84 86 91 96 98 102
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Inhalt
Erster Weltkrieg und Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . Juden und Politik im 1. Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Juden in der Revolutionsphase 1918-1919 . . . . . . . . . . . . Die rechtliche und politische Lage der Juden in der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die jüdische Wählerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die jüdischen Politiker und Politikerinnen . . . . . . . . . . . Antisemitismus in der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . Die politischen Institutionen der Juden in der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Das nationalsozialistische Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Rücknahme der Emanzipation . . . . . . . . . . . . . . . . . Juden und Politik im frühen NS-Regime . . . . . . . . . . . . . Die Verschärfung der Ausgrenzungspolitik 1938 . . . . . . »Arisierung« und Auswanderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Ermordung der europäischen Juden im Zweiten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Neuanfänge jüdischen Lebens im besetzten Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Juden in der sowjetischen Besatzungszone und der Deutschen Demokratischen Republik . . . . . . . . . . . . Juden in der frühen Bundesrepublik Deutschland . . . . . Die politischen Bedingungen für Juden in der Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Juden und die politischen Veränderungen seit den 1960er-Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Juden im wiedervereinten Deutschland. . . . . . . . . . . . . . .
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117 121 124 128 130
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164 169 174 177 183 191
Schlussbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
Einleitung Am 18. Februar 1993 sprach sich die Wochenzeitung Die Woche in ihrer ersten Ausgabe für den Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland Ignatz Bubis (1927-1999) als neuen deutschen Bundespräsidenten aus. Bereits Anfang des Jahres hatte der CDU-Bundestagsabgeordnete Willy Wimmer diesen Vorschlag unterbreitet. Ein Jahr zuvor war Bubis Vorsitzender des Zentralrats geworden; als Vorsitzender der jüdischen Gemeinde von Frankfurt am Main fungierte er schon seit 1982. Nach der Amtszeit des überaus populären Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker stand für den Mai 1994 die Wahl eines Nachfolgers oder einer Nachfolgerin an. Für Die Woche beklagte deren stellvertretender Chefredakteur Hans-Ulrich Jörges (geb. 1951) die unwürdige Kandidatensuche, zu welcher die orientierungslose Bonner Regierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl (geb. 1930) nicht mehr genügend Gestaltungskraft habe. Angesichts der gegenwärtigen Gefährdungen durch Nationalismus und Rassismus – es war in den vorangegangenen Jahren wiederholt zu ausländerfeindlichen Ausschreitungen und Mordanschlägen gekommen – müsse ein Kandidat gefunden werden, der nicht aus dem Politikbetrieb, sondern aus der Gesellschaft stamme. Bubis sei durch sein beherztes Auftreten gegen die rassistisch motivierten Gewalttaten eine »Gegenfigur zum etablierten Politik-Betrieb« und »die moralische Instanz in Deutschland«.1 Seine Wahl wäre auch ein Zeichen dafür, »daß deutsche Juden Deutsche sind, daß Juden in diesem Land alles werden können, was auch Katholiken und Protestanten offen steht«.2 Die Idee einer Kandidatur Bubis’ war offenkundig nicht unpopulär, da er sich zu diesem Zeitpunkt einiger Beliebtheit in der Republik erfreute. Das Präsidentenamt schienen ihm viele
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Die Woche vom 18. Februar 1993, S. 5. Ebenda.
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zuzutrauen; jedenfalls sprachen sich in einer Umfrage der Woche 53 Prozent aller Deutschen für ihn aus. Es ist diskutabel, wie ernst es der Zeitung mit ihrem Vorschlag war, schließlich lancierte sie damit publikumswirksam ihre erste Ausgabe. Zudem war Bubis für ein solches Amt sicherlich ein möglicher Kandidat, der auch Erfolgsaussichten gehabt hätte; allerdings besaß er kein politisches Amt im engeren Sinne, was für eine aussichtsreiche Kandidatur von Vorteil gewesen wäre. Dennoch verweist diese Episode auf ein grundlegendes Problem: Welche Rolle spielt die jüdische Identität, wenn der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland für ein solches Amt in Frage kommt? Für Die Woche war klar: Bubis sollte als deutscher Jude Präsident eines mehrheitlich nichtjüdischen Staates werden. Könnte seine jüdische Identität also ein Hindernis darstellen? Was muss man annehmen, um Bubis’ Kandidatur als ein Problem politischer Repräsentation anzusehen? Solche Fragen waren keineswegs abwegig. In derselben Ausgabe brachte Die Woche auch eine Umfrage, wonach immerhin 22 Prozent der Deutschen überzeugt waren, Bubis habe die israelische Staatsbürgerschaft, aber nur 43 Prozent, dass er die deutsche besitze.3 Mehr noch: Später druckte sie einige Leserbriefe zu dem Thema ab, von denen ein Großteil ablehnend oder sogar offen antisemitisch war: »Er wird«, schrieb etwa ein Karl Scholz aus Neumarkt/Oberpfalz über Bubis, »immer ein Fremder unter uns bleiben, und wenn Sie noch so wundersame Dinge über ihn erzählen, daß einem die Augen tränen.«4 Als Bubis einige Monate zuvor Rostock-Lichtenhagen besucht hatte, wo es zu heftigen ausländerfeindlichen Ausschreitungen gekommen war, wurde er von dem Vorsitzenden des Innenausschusses der Rostocker Bürgerschaft, Karlheinz Schmidt, gefragt: »Sie, Herr Bubis, bezeichnen sich als deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Aber Ihre Heimat ist doch Israel. Stimmt das so? Was sagen Sie zu der Gewalt, die die Israelis gegen Palästinenser anwenden?«5 Man kann davon ausge3 4 5
Ebenda, S. 3. Die Woche vom 4. März 1993, S. 38. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 8. November 1992, S. 4.
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hen, dass Bubis’ Kandidatur, wenn es dazu gekommen wäre und wenn sie sogar Erfolg gehabt hätte, stets von einigen Mitbürgern als illegitim erachtet worden wäre, weil er Jude war. Gegen diese Art von Ausgrenzung hatte sich Die Woche mit ihrer Kandidaten-Idee ausdrücklich gewandt. Juden seien Deutsche und als solche auch für das höchste Amt des deutschen Staates wählbar. Zugleich hatte die Wochenzeitung diese einfache und zweifellos zutreffende Erkenntnis in Frage gestellt. Schließlich glaubte sie, ihren Kandidatenvorschlag genau mit der speziellen Bedeutung Bubis begründen zu müssen, die dieser während der Proteste gegen die fremdenfeindlichen Übergriffe im Winter 1992/93 erhalten hatte. In dieser Hinsicht war ein Jude nicht einfach ein geeigneter Kandidat für ein politisches Amt; seine Eignung ergab sich vielmehr aus der besonderen Botschaft, die er als Jude in der politischen Öffentlichkeit der Bundesrepublik vertrat. Niemand wäre auf die Idee gekommen, ihn als Frankfurter Stadtverordneten oder als Mitglied der Freien Demokratischen Partei (FDP) zu fragen, was Bubis jeweils auch war. In einer Gesellschaft ein politisches Amt legitimer Weise auszuüben, hängt offenkundig eng mit der Frage zusammen, welche Vorstellungen über diese Gesellschaft kursieren, um deren Repräsentanten es geht. Wer gehört zu dem Kollektiv, das einen Präsidenten, einen Regierungschef, einen Außenminister etc. sucht – und wer nicht? Das ist keine Frage, die im heutigen Deutschland »nur« Juden betrifft. Kann ein türkischer, ein vietnamesischer, ein polnischer, ein libanesischer etc. Deutscher in ein politisches Amt gewählt werden? Heutige Parlamentarier mit Migrationshintergrund werden in den Zuschriften von Bürgern – und keineswegs nur von Rechtsextremen – regelmäßig mit dem Vorwurf konfrontiert, aufgrund ihrer Herkunft das Gemeinwesen nicht zu repräsentieren und daher auch nicht politisch aktiv sein zu dürfen.6 Werden solche Politiker vorgeschlagen, weil sie über die entsprechenden politischen Fähigkeiten verfügen? Oder doch 6
Vgl. etwa den Bericht »Der Hass der braven Bürger« in: Süddeutsche Zeitung vom 29./30. Juni 2013, S. 8.
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›nur‹, weil sie als Repräsentanten der eigenen Herkunft für das Amt geeignet erscheinen, etwa weil man herausstellen möchte, dass man ein tolerantes, weltoffenes Gemeinwesen sei? Formal steht einer solchen Wahl angesichts der gültigen Verfassung und Wahlordnung nichts entgegen, soweit die betreffende Person die deutsche Staatsbürgerschaft und das Wahlrecht besitzt – sowie im Falle des Bundespräsidenten mindestens 40 Jahre alt ist. Aber die Legitimität, mit der man ein Amt bekleidet und somit ein Gemeinwesen repräsentiert, ist nicht nur eine rechtliche Frage, sondern eine politische, die offenkundig umstritten ist. In der politischen Öffentlichkeit werden subtile und weniger subtile Zuschreibungen verhandelt, wer welche Rechte auf politische Repräsentation hat. Wer kann das Allgemeinwohl einer Gesellschaft legitimer Weise vertreten und wer nicht? Wer kann – im günstigsten Falle – nur als Mitglied einer besonderen Minderheit politische Rechte einfordern, womit diese Rechte zugleich wieder in Frage gestellt scheinen, weil er/sie mit dieser Forderung nicht für das (vermeintliche) Wohl aller, sondern für die Rechte einer Minderheit eintritt. Oder anders formuliert: Wie müsste die politische Kultur Deutschlands beschaffen sein, damit eine Kandidatur eines Juden, einer Jüdin, keiner weiteren Begründung bedarf, außer dass er/sie für das Amt qualifiziert ist? Die politische Legitimität, ein Amt auszuüben, ist zugleich eine historische Frage. Die jüngste Vergangenheit spielte bei dem Vorschlag, Bubis zum Bundespräsidenten zu wählen, offenkundig eine wichtige Rolle: die Ausgrenzung, Verfolgung, erzwungene Auswanderung, Deportation und schließlich Ermordung der deutschen und europäischen Juden während der nationalsozialistischen Herrschaft. Bubis verkörperte diese Geschichte in besonderer Weise, weil er seine Familie im Holocaust verloren und selbst im Ghetto überlebt hatte. Vielen deutschen Juden war aufgrund dieser Geschichte bei der Vorstellung eines jüdischen Bundespräsidenten nicht wohl; ihr Gedächtnis reichte in dieser Frage weiter zurück. Bubis verwies auf Walther Rathenau (1867-1922), der im Amt des Außenministers der Weimarer Republik ermordet worden war. Wenig über-
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raschend lehnte er daher den Vorschlag der Woche ab: »Ich glaube nicht, daß die Bundesrepublik Deutschland reif ist für eine solche Entscheidung, nämlich daß ein Jude, der ja immer noch von der Mehrheit der Bevölkerung als ein Fremder angesehen wird, Bundespräsident werden soll.«7 Dieses Buch hat die Politik- und Rechtsgeschichte der deutschen Juden zum Gegenstand. Welche politische Rolle spielten die deutschen Juden in den unterschiedlichen politischen Regimen auf deutschem Territorium seit dem späten 18. Jahrhundert? Wie wurden sie gleichberechtigter Teil des politischen Systems und wie versuchten sie, Politik zu gestalten? Gab es spezifische Handlungsoptionen und -strategien im politischen System, die Juden im Vergleich zu anderen Gruppen in der Gesellschaft verfolgten? Und schließlich: Wer lehnte ihre Teilhabe am politischen Prozess ab und wie reagierten die Juden wiederum darauf? Politik- und Rechtsgeschichte und die Juden, Politik- und Rechtsgeschichte der Juden, jüdische Politik- und Rechtsgeschichte – dies wären mögliche Titelvarianten für dieses Buch. Sie deuten zugleich jeweils unterschiedliche Perspektiven auf den Ort von Juden in der modernen Politik- und Rechtsgeschichte Deutschlands an. Waren Juden eher Objekte dieser Geschichte, die dann vornehmlich den politischen und rechtlichen Rahmen für jüdisches Leben bot? Waren Juden Teil dieser allgemeinen Politik- und Rechtsgeschichte, indem sie den politischen Prozess mitbestimmten, etwa als Wählergruppe oder als aktive Politiker? Oder gab es so etwas wie jüdische Politik und Recht in Deutschland, d.h. die Vertretung politischer und rechtlicher Interessen von Juden für Juden? War jüdische Politik sogar anders als nichtjüdische? Alle drei Perspektiven sind legitim: Es gibt in der Tat eine Politik- und Rechtsgeschichte, in der Juden vornehmlich als Objekte auftauchen, etwa in den Diskussionen über ihre rechtliche und politische Gleichstellung seit dem 19. Jahrhundert, aber auch – in einer radikalen Form – in der Ausgrenzungspolitik des NS-Regi7
Die Woche vom 25. Februar 1993, S. 6.
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mes. Zugleich kann man eine Geschichte der Politisierung von Juden beschreiben, durch die sie Teil des politischen Prozesses wurden und begannen, an diesem als – mehr oder weniger – gleichberechtigte Akteure mitzuwirken. Als ein Sonderfall dieser Variante kommt schließlich die dritte Perspektive ins Spiel: Gelegentlich betrieben Juden als Juden und für Juden Politik, wie dies etwa beim deutschen Zionismus der Fall war. Die erste und die dritte Perspektive waren lange Zeit sehr wichtig für die Geschichtsschreibung. Aus Sicht der allgemeinen Politik- und Rechtsgeschichte – wie immer man hier ›allgemein‹ verstehen möchte – interessierten Juden als politische Subjekte kaum, erschienen sie doch im deutschsprachigen Raum als eine zu kleine Gruppe, um die ›allgemeinen‹ politischen und rechtlichen Prozesse beeinflussen zu können. Als Gegenstand politischer und rechtlicher Entscheidungsprozesse – d.h. als gleichzustellende, antisemitisch auszugrenzende und politisch schließlich zu verfolgende Minderheit – kamen sie allerdings an verschiedenen Punkten dieser deutschen Politik- und Rechtsgeschichte in den Blick. Eine zionistisch orientierte Geschichtsschreibung hat sich hingegen besonders für das Aufkommen einer genuin jüdischen Politik interessiert: bis hin zur Entstehung des Zionismus als Nationalbewegung, welche die politischen und rechtlichen Entscheidungsprozesse – in einem eigenen Staat oder zumindest in autonomen Strukturen – in die Hände von Juden legen wollte. In dieser Sichtweise konnte ein Politikverständnis, das in Juden einen gleichberechtigten und integrierten Bestandteil eines nichtjüdischen Politik- und Rechtssystems sah und das man bei nationalkonservativ, liberal wie sozialistisch orientierten deutschen Juden finden konnte, als Verrat an der jüdischen Sache erscheinen. In diesem Band soll die zweite Sichtweise stärker in den Fokus genommen werden: wie verhielten sich die deutschen Juden politisch? Wie und wann wurden sie überhaupt politisiert? Welche Haltungen entwickelten sie zu den sie betreffenden rechtlichen Fragen? Wie versuchten sie, die Gesellschaftsbereiche des Rechts und der Politik zu beeinflussen und mit zu gestalten? Wer enga-
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gierte sich hier, in welchem Rahmen und für welche Ziele? Es gibt bisher nur einige wenige Arbeiten, die diese Fragen behandeln.8 In diesem Band werden gleichwohl alle drei Perspektiven auf die deutsch-jüdische Politik- und Rechtsgeschichte eine wichtige Rolle spielen, da sie in der historischen Realität zumeist miteinander verwoben waren. Um nur ein Beispiel anzudeuten: 1880 wandte sich der prominente nationalliberale Reichstagsabgeordnete Ludwig Bamberger (1823-1899) mit seiner Schrift Deutschthum und Judenthum gegen die neu entstandene antisemitische Bewegung und versuchte dabei, auch das Verhältnis von Juden und Nichtjuden grundsätzlich zu verstehen. In der Rückschau lässt sich nicht abschließend klären, ob er dabei als liberaler Politiker, als liberaler Jude oder als Jude für andere Juden agierte. Dieser Band behandelt auch die moderne Rechtsgeschichte, soweit sie Juden betraf. Im Folgenden wird u.a. der komplexe Emanzipationsprozess erläutert werden, durch den Juden im Laufe des 19. Jahrhunderts den anderen Staatsbürgern rechtlich gleichgestellt wurden. Im Kapitel über den Nationalsozialismus wird der umgekehrte Prozess zu schildern sein: die systematische rechtliche Diskriminierung der deutschen Juden. Ein anderer Gesichtspunkt der Rechtsgeschichte, der zur Sprache kommen wird, betrifft die (straf-)rechtliche Verfolgung von Antisemitismus und Judenfeindschaft. In einem Rechtsstaat – und als solchen kann man das Kaiserreich, die Weimarer Republik und die Bundesrepublik, aber nicht das NS-Regime und die DDR bezeichnen – darf jemand nicht einfach deshalb verurteilt werden, weil er Negatives über eine bestimmte Personengruppe, etwa die Juden denkt. Ein Gerichtsverfahren kann immer erst dann eröffnet werden – und dies geschah auch im Kaiserreich, in der Weimarer Republik und in der Bundesrepublik –, wenn es zu einer (verbalen oder physischen) Attacke gegen Juden gekommen war. Bei einem rein ver8
Jacob Toury, Die politischen Orientierungen der Juden in Deutschland. Von Jena bis Weimar, Tübingen 1966; Ernest Hamburger, Juden im öffentlichen Leben Deutschlands. Regierungsmitglieder, Beamte und Parlamentarier in der monarchischen Zeit 1848-1918, Tübingen 1968; Peter Pulzer, Jews and the German State. The Political History of a Minority, 1848-1933, Oxford 1992.
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balen Angriff musste zudem eine Verletzung des öffentlichen Friedens, der religiösen Empfindung, der individuellen Ehre oder der Menschenwürde vorliegen. Die entscheidenden Paragraphen lauteten dabei seit ihrer Einführung im frühen Kaiserreich: §130 des Strafgesetzbuches (»Aufreizung zum Klassenhass«, heute: »Volksverhetzung«), §166 StGB (»Religionsbeschimpfung«, heute: »Gotteslästerungs-Paragraph«) sowie §185 StGB (»Beleidigung«). In der Rechtspraxis war es nicht immer leicht, einen verbalen Angriff gegen Juden mit Aussicht auf Erfolg zur Anklage zu bringen. Antisemiten konnten z.B. im Kaiserreich der Anklage wegen eines Verstoßes gegen §166 leicht entgehen, indem sie behaupteten, nicht die jüdische Religion, sondern die jüdische Rasse angegriffen zu haben. Auch bei den anderen Paragraphen konnte die Beweisführung sehr komplex sein. Trotzdem strengten jüdische Organisationen immer wieder Klagen an – und dies teilweise durchaus mit Erfolg, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. Ein paar Definitionsfragen gilt es noch vorweg zu erörtern. Zunächst: Wer gilt in diesem Buch als Jude? Viele der akkulturierten Juden, die in der deutschen Politik aktiv wurden, beschrieben sich nur selten oder gar nicht als Juden. Einige ließen sich taufen oder waren bereits in Kindertagen von ihren Eltern getauft worden. Andere – und ihre Zahl stieg eher an – beharrten auf ihrer jüdischen Identität und verteidigten sie explizit. Wieder andere waren mit nichtjüdischen Partnern verheiratet. Alle diese Phänomene lassen eine einfache Definition unmöglich erscheinen. Dies gilt umso mehr, als auch Juden innerhalb des Untersuchungszeitraums unterschiedliche Definitionen für eine jüdische Identität verwandten. Einige gingen hierbei von einer jüdischen Religion oder Konfession aus, manche von einer jüdischen Nation, einem jüdischen Stamm oder einem Volk und andere sogar – wenn auch eher selten – von einer jüdischen Rasse. Generell war für sie jedoch nicht einsichtig, wieso derartige Identitätsbeschreibungen ihre gleichberechtigte Teilnahme und Mitarbeit im deutschen Staat und in der deutschen Politik ausschließen sollten, wie es Antisemiten immer wieder behaupteten. Im Rahmen die-
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ses Buches kann oft nicht im individuellen Fall erörtert werden, was der jeweiligen Person ihr Judentum bedeutete oder wie wichtig es für ihre politische Position war. Gleichwohl wird darauf hingewiesen, wenn eine betreffende Person getauft war – gelegentlich auch mit der Hilfsformel ›jüdischer Herkunft‹. Ob dann diese Information etwas über ihr politisches Handeln aussagt und wenn ja, was, ist oft nicht leicht zu erkennen – und dies gilt für alle Juden und Jüdinnen. Eine andere Frage betrifft den in diesem Buch zugrunde gelegten Politikbegriff. Eine engere Definition würde auf die Machtprozesse innerhalb eines politischen Systems (Regierung, Parlament, Parteien, Öffentlichkeit etc.) abzielen. Zweifelsohne muss hier auch dargelegt werden, welche Rolle Juden – und gelegentlich gar Personen jüdischer Herkunft – im politischen System konkret spielten. Welche Positionen in Regierungen, Parlamenten, Parteien oder in der politischen Öffentlichkeit nahmen sie ein? Ein weiterer Begriff des Politischen umfasst hingegen alle sozialen Aushandlungsformen, mit denen Menschen ihr Zusammenleben zu organisieren versuchen. Von dieser Perspektive aus, die u.a. von der neueren Kulturgeschichte des Politischen propagiert wird, werden politische Fragen selbst im privaten Raum verhandelt, so etwa Geschlechterpolitik bei der Organisation von Kindererziehung oder der Haushaltsführung. Diese Perspektive ist nicht zuletzt deshalb in der Geschichtsschreibung immer wichtiger geworden, weil sich zeigen lässt – und auch in diesem Buch wird darauf hingewiesen werden –, dass die historischen Subjekte ihren Handlungen gelegentlich einen umfassenderen Begriff des Politischen zugrunde legten. Im konkreten Fall des Judentums stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob die Organisation der jüdischen Gemeinden eine Frage der Religions- oder doch (auch) der Politikgeschichte der Juden darstellt. Auch hierauf wird einzugehen sein, nicht zuletzt weil es vor allem im 20. Jahrhundert zu einer Politisierung der ›innerjüdischen‹ Gemeindeangelegenheiten kam, die es notwendig erscheinen lässt, diese Dimension in eine Politikgeschichte zu integrieren.
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Die Politik- und Rechtsgeschichte der Juden beginnt keineswegs mit der Moderne. Ein wichtiges Element ›vormoderner‹ Politikauffassungen in der jüdischen Diaspora stellte der Grundsatz dina de-malchuta dina (aramäisch für »Das Gesetz des (nichtjüdischen) Königreichs ist das Gesetz (für die Juden).«) dar. Mit dieser vertragstheoretischen Annahme legt der Talmud das Verhältnis von nichtjüdischem Herrscher bzw. Staat und jüdischer Gemeinschaft fest. Das bedeutete lange Zeit de facto vor allem die Anerkennung der Finanzhoheit des nichtjüdischen Staates, dem man damit das Recht zugestand, Steuern von Juden zu erheben. Dagegen erhielten diese in der Regel ein weitgehendes Maß an Autonomie in allen innerjüdischen Gemeindeangelegenheiten. In der Praxis wurde das Recht des Staates oft weit ausgelegt, so lange er dabei nicht mit dem jüdischen Gesetz, den jüdischen Religionsvorschriften der halacha (hebräisch für »Gehen, Weg«), die ein gläubiger Juden täglich einzuhalten hat, in Konflikt geriet, die Gemeindeautonomie aufrechterhielt und Juden nicht diskriminierte. In gewisser Hinsicht konnten Juden aus diesem Grundsatz sogar eine Art Widerstandsrecht ableiten, wenn der nichtjüdische Staat oder Herrscher sich derartige Übertritte doch anmaßte oder ungerechtfertigt Steuern erhob. Es ist deshalb von einer »dualistischen politischen Doktrin« (David Sorkin) gesprochen worden: Anerkennung des Staates bei gleichzeitigem (potentiellen) Widerstandsrecht diesem gegenüber. Zugleich sprachen die realen Machtverhältnisse und die oft kleine Anzahl von Juden in den Gemeinden praktisch gegen eine Anwendung dieser Vorstellung.
Frühe Neuzeit Seit dem Ende des 16. Jahrhunderts waren einige der deutschen Staaten wieder dazu übergegangenen, Juden auf ihrem Gebiet anzusiedeln, obwohl es in der Frühen Neuzeit auch weiterhin viele Territorialstaaten und Reichstädte gab, aus denen Juden ausgeschlossen waren. Mit der zunehmenden Autonomie der deutschen Einzelstaaten kam es zu einer Territorialisierung in der Rechtsstellung der Juden, die jetzt nicht mehr, wie im Spätmittelalter, als sogenannte Kammerknechte der reichsweiten Zentralgewalt, sondern den mächtiger werdenden Einzelstaaten unterstanden. Das Rechtsverhältnis der Juden zum jeweiligen Herrscher bestand aber immer noch in einer – mehr oder weniger kodifizierten – Sonderregelung, sogenannten Privilegien. Im Austausch für die Zahlung von Schutzgeld erhielten sie dabei das Recht, sich für einen festgelegten Zeitraum in einem bestimmten Gebiet anzusiedeln und dort Handel zu treiben. Da das »Heilige Römische Reich Deutscher Nation« in eine Vielzahl von weltlichen und kirchlichen Einzelstaaten zerfiel – am Ende des 18. Jahrhunderts waren es immer noch 324 –, existierte auch eine unübersichtliche Anzahl von unterschiedlichen sogenannten Judenordnungen. Dennoch stimmten die meisten dieser Ordnungen in einigen wesentlichen Punkten überein: Die Juden besaßen den Status von (mehr oder weniger) geduldeten Fremden auf dem jeweiligen Territorium. Sie waren verpflichtet, spezielle und im Vergleich zu Christen höhere Steuern zu zahlen. Sie waren aus den meisten Wirtschaftsbereichen und aus den Zünften ausgeschlossen und konnten kein Land besitzen, weshalb sie sich zumeist auf Handel und Geldverleih konzentrierten. Oft konnte der rechtliche Schutzstatus innerhalb von jüdischen Familien nur begrenzt auf die nächste Generation übertragen werden. Hinzu kamen oft noch regionale Sonderbestimmungen, etwa Einschränkungen der Heirat. Eine der letzten Judenordnungen wurde 1750 von König Friedrich II. von Preußen erlassen; sie sah verschiedene Klassen von Schutzprivilegien vor, die jeweils einen unterschiedlichen Grad an herrschaftlicher Protektion bedeuteten.
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Der positive Aspekt dieser unsicheren Rechtsstellung war allerdings der hohe Grad an rechtlicher Autonomie, die den jüdischen Gemeinden von den Territorialherrschern in aller Regel eingeräumt wurde. Bis ins 18. Jahrhundert existierte daher noch eine innerjüdische Gerichtsbarkeit, die weitgehend unbeachtet von christlichen Stellen funktionierte. Zugleich regelten die jüdischen Gemeinden in aller Regel ihr Steuersystem selbst. Die den Juden in einem konkreten Territorialstaat auferlegte Steuer wurde als Gesamtsumme an den Herrscher gezahlt; wie dieser Betrag innerhalb der Gemeinde eingetrieben wurde, oblag ihren internen Regeln. In den meisten Gemeinden lag die Gerichtsbarkeit in den Händen bestallter Rabbiner, die den rabbinischen Gerichten vorstanden, halachische, d.h. religiös verbindliche Entscheidungen fällten sowie für Eheschließungen und Scheidungen zuständig waren. Die Gemeindevorsteher waren hingegen normalerweise für die Organisation des Gemeindelebens zuständig, sie trieben die Steuern ein und führten die etwaigen Verhandlungen mit der jeweiligen Obrigkeit. Von dieser idealtypischen Aufteilung wurde sicherlich vor Ort oft abgewichen, aber prinzipiell waren sowohl weltliche wie religiöse Eliten an der Politik- und Rechtsausübung in den Gemeinden beteiligt. Dieses Führungspersonal der Gemeinden entstammte häufig demselben Kreis von wohlhabenden Juden, die nicht selten mit kaiserlichem Schutzprivileg ausgestattet waren und deren Vorfahren in einigen Fällen schon seit dem Mittelalter entsprechende Funktionen in den Gemeinden ausgefüllt hatten. Zwar versuchte der absolutistische Staat zunehmend, die autonomen Strukturen der jüdischen Gemeinden zu beseitigen, aber zu wirklich entscheidenden Eingriffen kam es erst mit dem Beginn der Emanzipationsgesetzgebung des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Aus dieser Perspektive kann die jüdische Emanzipationsgeschichte der nachfolgenden Jahrzehnte also auch als Verfallsgeschichte verstanden werden, da die z.T. umfassende jüdische Autonomie im modernen Staatswesen abgeschafft wurde. Oberhalb der Gemeindeebene kam es schon in der Frühen Neuzeit zu Versuchen einer überregionalen, gar reichsweiten In-
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teressenvertretung der Juden – ein Thema, das dann während der nachfolgenden Geschichte der deutschen Juden immer wieder akut wurde. Als Beispiel kann die Rolle gelten, die Josel von Rosheim (1476-1554) als politischer Vermittler im 16. Jahrhundert einnahm. Im späten 16. Jahrhundert kam dafür der Begriff des Schtadlan auf: ein wohlhabender, einflussreicher Jude oder eine jüdische Gemeinde, der/die als Fürsprecher bestimmter in Not geratener Juden bei der Obrigkeit intervenieren konnte. Später übernahm die Prager Judenschaft – ausgestattet mit besonderer Königsnähe sowie dem Mandat der größten Gemeinde in Mitteleuropa – diese reichsweite Interessenvertretung; danach teilweise Wien. Die reichsweite Schtadlanut wanderte – besonders in Notfällen – je nach Sachlage und Machtverhältnis zwischen verschiedenen herausragenden Persönlichkeiten und jüdischen Gemeinden. Bis ins frühe 17. Jahrhundert gab es jedoch auch davon unabhängige Versuche, eine reichsweite Bündelung und Vertretung rechtlicher und politischer Interessen der Juden zu erreichen, wie etwa die Frankfurter Rabbinerversammlung von 1603. Ab dem 17. Jahrhundert wurde der Prozess der Territorialisierung politischer Interessen immer wichtiger. An die Stelle des wenig verfestigten, kaum institutionalisierten Staatsverständnisses der Vormoderne trat der absolutistische Staat, der sich auf eine stärkere Zentralisierung politischer Macht gründete und in dem auch die Position der Juden und insbesondere ihre autonomen Gemeindestrukturen problematisch wurden. Zwischen die politischen Organisationsebenen aus autonomen jüdischen Gemeinden und reichsweiter Interessenvertretung bei Notfällen, die bisher die jüdische Politik beherrschten, schob sich allmählich die territoriale Einheit der Landesjudenschaften, die schnell zur wichtigen politischen und bürokratischen Institution vom 17. Jahrhundert bis in die Emanzipationszeit aufstiegen. In diesem Umgestaltungsprozess der politischen Prozesse gewannen auch weltliche jüdische Führungseliten an Einfluss, die z.T. über erhebliche wirtschaftliche und finanzielle Mittel verfügten. Kennzeichnend für diese Gruppe war der neuartige Typus des sogenannten Hofjuden, der teilweise Funktionen der älteren Fürsprache im Sinne
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der Schtadlanut übernahm und gelegentlich auch direkt als Schtadlan bezeichnet wurde. In diesem Sinne wurde etwa der Hofjude Wolf Wertheimer (1681-1765) gegen den Ausweisungsbefehl tätig, den die Königin Maria Theresia von Österreich 1744 gegen die Juden in Böhmen und Mähren erließ. Die Hofjuden entstanden im Kontext des sich konsolidierenden absolutistischen Staates und der Kriegspolitik während des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648), für dessen Finanzierung sie herangezogen wurden. Für die neuen territorialen Staatsgebilde waren sie aber auch unabhängig von den Kriegsfinanzen bedeutsam, rückte doch die veränderte aktive Fiskal- und Wirtschaftspolitik des Merkantilismus u.a. Juden als Objekte einer bewussten Ansiedlungspolitik in den Fokus. Hofjuden erschienen dabei den neuen Territorialherrschern als besonders attraktiv: wegen ihrer Mobilität, ihrer internationalen Verbindungen und Handelskontakte, die oft auf Familiennetzwerken beruhten, aber auch wegen ihrer kompletten Abhängigkeit vom christlichen Herrscher, der sich ihrer ggf. ohne innenpolitischen Widerstand entledigen konnte. Aufgrund der neuen Möglichkeiten entstand mit den Hofjuden eine kleine Gruppe von Juden, die über bis dahin ungekannten Wohlstand und politische Einflussmöglichkeiten am Hofe verfügte. Wenn man von Ausnahmen wie Joseph Süß Oppenheimer (1698/99-1738) absieht, der sich bei seinen Aktivitäten am Hofe des Herzogs Karl Alexanders von Württemberg in Stuttgart sehr weitgehend vom Judentum entfernt hatte, blieben Hofjuden in der Regel Bestandteil der jüdischen Gemeinden. Oft waren sie mit der Gemeindepolitik und -vertretung gegenüber dem Herrscher befasst. Insofern waren sie eigentlich keine Vorkämpfer der modernen Emanzipation der Juden, sondern klassische frühneuzeitliche Fürsprecher im Dienste der jüdischen Gemeinden, die sie damit zugleich zu stabilisieren vermochten. Auf die Nähe zur Gemeinde waren sie nicht zuletzt selber angewiesen, befanden sie sich doch in einer sehr prekären Lage, wie nach dem Tod Karl Alexanders in dem Prozess gegen und der Hinrichtung von »Jud Süß« Oppenheimer 1737-1738 mehr als deutlich wurde. Allerdings
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schufen Hofjuden und ihre Nachkommen im 18. Jahrhundert ein neues kulturelles Experimentierfeld für die Auseinandersetzung mit und auch für die kulturelle Annäherung an die nichtjüdische Umwelt und insbesondere deren Oberschicht. Dieses Feld wurde dann durch die aufkommende Haskala (hebräisch für »Aufklärung«) verändert und führte langfristig sowohl zu einer Veränderung des jüdischen Lebens und der jüdischen Religion als auch zur politischen Forderung nach rechtlicher Gleichstellung.
Aufklärung und Haskala Im Zeitalter der Aufklärung entstanden an spezifischen Orten neue Geselligkeitsformen und Austauschmöglichkeiten, an denen Juden und Christen gemeinsam teilnehmen konnten. Berlin war hierbei im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts eine der wichtigsten Städte, zumal es sich zu einem Zentrum (spät-) aufklärerischer Ideen und Projekte entwickelte. Hier war bereits seit Mitte des Jahrhunderts eine wirtschaftliche Elite von Juden entstanden, die einen neuen wohlhabenden und säkularisierten Lebensstil pflegte und die Nähe zu Christen suchte. Mit dieser Schicht entstand nicht nur ein Markt für die neuen Ideen der Aufklärung, es konnte sich auch ganz direkt ein Mäzenatentum herausbilden, das die jüdischen Intellektuellen förderte, die oft nicht aus der jüdischen Oberschicht stammten und nicht selten zugewandert waren. Durch die Aufklärung änderten sich die gesellschaftlichen Debatten über die Rolle der Juden in Staat und Gesellschaft. Bis zur Mitte des 18. Jahrhundert nahmen Christen die jüdische Minderheit als einen Fremdkörper in der nichtjüdischen Gesellschaft wahr, der sich durch Religion, Sprache und Alltagskultur deutlich von ihnen unterschied und oft auch abgelehnt oder gar gehasst wurde. Dabei dominierten traditionelle christliche Motive die Wahrnehmung der Juden und des Judentums. In diesem Kontext spielte auch die weitgehende jüdische Gemeindeautonomie eine wichtige Rolle, die ein anders strukturiertes Alltagsleben bedingte, sodass sich die Kontakte zwischen Juden und Christen vor allem auf das wirtschaftliche Gebiet beschränkten. Die Sicht der Aufklärung auf die Juden Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kam es im Zuge der sich verbreitenden Ideen der Aufklärung allmählich zu einer positiveren Sichtweise. Während nicht wenige Vertreter der Auf-
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klärung wie Voltaire, Diderot, Kant u.a. negative (oder bestenfalls ambivalente) Ansichten den Juden und dem Judentum gegenüber äußerten, ließen sich doch drei veränderte Perspektiven finden, die den Juden eine neue Rolle in Staat und Gesellschaft zuwiesen: der Toleranzgedanke Lessings, die aufgeklärte Staatsräson Dohms und der religiöse Rationalismus Mendelssohns. Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) propagierte den Toleranzgedanken gegenüber Juden zunächst in seinem weniger bekannten Drama Die Juden – geschrieben 1749 und veröffentlicht 1754 – und dann in seinem berühmten Werk Nathan, der Weise von 1779. In dem späteren Stück tritt der Jude Nathan als Protagonist einer deistischen Vernunftreligion auf und erweist sich in seiner humanen, moralischen Persönlichkeit der Sympathie der Leser würdig. Allerdings fand die Toleranzidee in Nathan, der Weise ihre Grenze darin, nicht die jüdische Religion, sondern jüdische Menschen, deren religiöse Identität aber kaum sichtbar war, als moralisch und vernünftig zu kennzeichnen. Dennoch verband sich mit Lessings Stück die Hoffnung auf ein neues Miteinander zwischen Juden und Christen, das sich zugleich an wenigen Orten wie Berlin bereits zu etablieren begann. 1781 veröffentlichte der Aufklärer und preußische Staatsbeamte Christian Wilhelm Dohm (1751-1820) seine Schrift Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden, in der zum ersten Mal die volle rechtliche Gleichstellung der Juden wie auch ihre gesellschaftliche Integration zum politischen Programm erhoben wurde. Dohm ging dabei davon aus, dass die Juden im Kern eine religiöse Gemeinschaft darstellten, deren sonstigen, von ihm durchaus negativ gekennzeichneten Charaktereigenschaften Resultate der jahrhundertelangen Verfolgungs- und Unterdrückungsgeschichte durch die christliche Gesellschaft und Herrscher darstellten. Von Natur aus besäßen Juden wie Christen eigentlich die gleichen Fähigkeiten, »glücklichere, bessere Menschen, nützlichere Glieder der Gesellschaft zu werden«.1 Eine aufgeklärte, an Staatsräson 1
Christian Konrad Wilhelm von Dohm, Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (1781/1783), Neuedition, Hildesheim, New York 1973, S. 130.
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und Nützlichkeitserwägungen orientierte Politik konnte die Juden somit nicht länger in einem Zustand der Rechtlosigkeit belassen. Die ›bürgerliche Verbesserung‹ der Juden sollte also einerseits in ihrer rechtlichen und politischen Gleichbehandlung bestehen. Andererseits tauchte bei Dohm in einzelnen Aspekten (etwa bei der Frage ihrer Bildung und ihrer Entfernung aus dem Handel) die Idee auf, dass sich Juden sozial und kulturell ›verbessern‹ mussten. Bereits von ihm wurde die rechtliche und politische Emanzipation mit einem langwierigen Erziehungsvorgang vermengt. Dohms Schrift veränderte die Diskussion über die gesellschaftliche Stellung der Juden nachhaltig, indem er sie weniger als moralisch-philosophisches, sondern als politisch-pragmatisches Problem auffasste. Seine Idee einer Besserstellung der Juden aus aufklärerischem Impetus und Nützlichkeitserwägungen konnte von nun an nicht mehr ignoriert werden; gegen sie konnte höchstens argumentiert werden, wie dies etwa der Göttinger Orientalist Johann David Michaelis (1717-1791) versuchte. In seiner Entgegnung postulierte Michaelis 1782 einen grundsätzlich schlechten und hinterlistigen Charakter der Juden, der sich aus ihrem Religionsgesetz erkläre und ihre bürgerliche Verbesserung unwahrscheinlich erscheinen ließe. Damit waren die wichtigsten Aspekte der Debatte, die von nun an über ein Jahrhundert andauern sollte, bereits vorhanden: Konnten die Juden an der allgemeinen Gesellschaft gleichberechtigt teilnehmen, wenn sie zu bürgerlichen Subjekten und zu Staatsbürgern erklärt wurden? Welche Modifikationen in ihren religiösen, kulturellen und wirtschaftlichen Eigenschaften waren für eine solche Teilnahme unabdingbar? Konnten die Juden überhaupt ›verbessert‹ werden? In gewisser Hinsicht war mit den Texten von Dohm und Michaelis die sogenannte »Judenfrage« geboren: Welche Rolle konnten Juden in der modernen Gesellschaft spielen? Die politische Besserstellung der Juden wurde bereits in den aufklärerischen Debatten mit ihrer moralischen Regeneration verbunden.
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Das Politikverständnis der jüdischen Aufklärungsbewegung In den jüdischen Gemeinschaften Zentral- und Osteuropas entwickelten sich seit der Frühen Neuzeit eigene intellektuelle Erneuerungsbemühungen, die sich zunächst für ältere, verlorengegangene Texttraditionen des Judentums und für die kulturellen sowie geistigen Innovationen in der nichtjüdischen Umwelt interessierten. Erst im 18. Jahrhundert erwuchs daraus eine jüdische Aufklärungsbewegung, die sogenannte Haskala, oft finanziell unterstützt durch eine kleine Schicht von wirtschaftlich erfolgreichen Juden. Im Laufe des Jahrhunderts entstand so allmählich eine neue Gruppe von aufgeklärten jüdischen Intellektuellen, den sogenannten Maskilim. Unter ihnen – wie unter Juden allgemein seit dem 17. Jahrhundert – hatte sich ein positiveres Bild vom nichtjüdischen Staat etabliert, was dann von der Haskala weiter verstärkt wurde. So begrüßte etwa der Maskil Naphtali Herz Wessely (1725-1805) in Divrei Shalom ve-Emet (»Worte des Friedens und der Wahrheit«) von 1782 explizit die staatlichen Interventionen u.a. in das jüdische Erziehungswesen. Die erste Generation von Maskilim zählt man zur frühen – im Unterschied zur späteren radikalen – Haskala (1720-1770). Unter ihnen war das Verlangen nach (religiösem wie weltlichem) Wissen besonders ausgeprägt. Allerdings bildeten sie eine sehr kleine Gruppe von in ihrem Umfeld oft isolierten Intellektuellen, die noch nicht in markanter Gegnerschaft zur klassischen rabbinischen Elite in den jüdischen Gemeinden standen. Demgegenüber waren die nach 1750 geborenen Maskilim oft bereits in einem aufgeklärten Umfeld aufgewachsen und hatten früh Verbindungen zueinander und zu Vertretern der jüdischen Wirtschaftselite aufnehmen können. Sie hatten daher auch die Möglichkeit, eigene Diskussionsformen zu finden. Die wichtigste war dabei die hebräische Zeitschrift Ha-Meassef, die seit 1784 von Isaac Euchel (1756-1804) und Mendel Breslau (1760-1827) herausgegeben wurde und an der sich die Abkehr vom Programm der frühen und die Hinwendung zur späteren radikaleren und politisierten Haskala gut ablesen lässt. Normalerweise wird die Haska-
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la als religiöse, soziale und kulturelle Modernisierungsbewegung verstanden, welche zunächst von ca. 1720-1770 damit begann, sich den Trends in der nichtjüdischen Umwelt zu öffnen und das Judentum intellektuell zu erneuern. Erst später, in den 1770er- und 1780er-Jahren, wurde die Haskala zu einer politischen Bewegung, welche die Angleichung der Juden an die allgemeine Kultur propagierte und die rechtliche Gleichstellung der Juden forderte. Die »politische Ideologie der Haskala« (Amos Funkenstein) zeigt sich etwa darin, dass das traditionelle Verhältnis zum Staat, wie es sich in dem talmudischen Grundsatz dina de-malchhuta dina artikulierte, in ein sehr viel weitergehendes Gebot umgedeutet wurde. Die Anforderungen des Staates sollten nun alle möglichen Veränderungen in der jüdischen Gemeinschaft nach sich ziehen. So erschien etwa die Abschaffung der korporativen Rechte der jüdischen Gemeinden als gerechtfertigt, wenn der Staat dies verlangte. In dieser Interpretation ließ sich später der talmudische Grundsatz sogar verwenden, um sehr weitgehende Anpassungen wie etwa religiöse Reformen zu rechtfertigen. Der wichtigste Vertreter der Haskala aber, Moses Mendelssohn (1729-1786), stand der staatlichen Interventionsmacht ablehnend gegenüber. Mendelssohn, eine der zentralen Figuren der Berliner Aufklärung, bekannter Philosoph und bekennender Jude, schlug durchaus Veränderungen des jüdischen Lebens und Kultur vor. Insbesondere seine Bibelübersetzung sollte den Jiddisch sprechenden Juden sowohl die deutsche als auch die hebräische Sprache näherbringen. Allerdings blieben die meisten dieser Vorschläge auf das kulturelle Gebiet beschränkt und tangierten in der Regel keine halachischen Vorschriften. In dieser Hinsicht blieb Mendelssohn ein Vertreter der frühen Haskala. Andererseits lässt sich an seinem Spätwerk auch die zunehmende Politisierung und Radikalisierung der Bewegung gut erkennen, zumal in den letzten Jahren deutlich geworden ist, dass Mendelssohn – ganz entgegen seinem oft moderaten Auftreten in der Öffentlichkeit – durchaus markante politische Überzeugungen und ein polemisches Talent besaß. Zwar war die Haskala wesentlich auf einen innerjüdischen Veränderungswunsch zurückzuführen. Ihre verstärkte Politisie-
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rung seit den 1780er-Jahren lässt jedoch auch den zunehmenden Austausch mit nichtjüdischen Aufklärern wie Lessing oder Dohm erkennen, die über eine Veränderung des jüdischen Lebens nachdachten. Auch hierbei war Mendelssohn eine zentrale Figur, der jedoch zunächst nach innen und getrennt von seinen sonstigen aufklärungsphilosophischen Aktivitäten für die intellektuelle Erneuerung des Judentums gewirkt hat. In seinen frühen Arbeiten hatte er zu jüdischen Fragen nur auf Hebräisch publiziert, sodass er einer deutschsprachigen Öffentlichkeit lediglich als jüdischer Philosoph und Gelehrter mit erstaunlich breiter Bildung bekannt war. Dann kam es 1769 zur sogenannten Lavater-Affäre. Johann Caspar Lavater (1741-1801), ein Schweizer protestantischer Geistlicher, hatte Mendelssohn aufgefordert, eine von ihm geschriebene Apologie des Christentums entweder zu widerlegen oder zu konvertieren. Dagegen verteidigte Mendelssohn – zunächst noch im Ton recht zurückhaltend – das Judentum als eine tolerante Religion, die im Gegensatz zum Christentum keine Mission kenne und nur diejenigen binde, die in sie hineingeboren seien. In der Folgezeit begann sich Mendelssohn bei derartigen Verteidigungen der Juden und des Judentums immer stärker auf die Menschenrechte zu berufen. Als Mendelssohn 1779/80 eine Bitte um Beistand von elsässischen Juden erhielt, wandte er sich an Dohm um Mithilfe; diese Zusammenarbeit führte schließlich zu Dohms erwähnter Schrift. Dohm und Mendelssohn waren, wie sich herausstellte, unterschiedlicher Meinung, was den Erhalt der jüdischen Gemeindeautonomie und des Herem (Bann) anging: Dohm war dafür, Mendelssohn dagegen. 1782 befragte der österreichische Journalist August Cranz (1737-1801) Mendelssohn erneut nach seiner Haltung zum Judentum. Hatte er mit der Ablehnung des Banns nicht eigentlich seine jüdische Religion verleugnet? Wenn Mendelssohn weiterhin Anhänger der jüdischen Religion bleiben wollte, musste er zu derartigen Religionsreformen Stellung beziehen. Zugleich war mit der Bannfrage ein sehr heikles Thema aufgeworfen, das im Kern den politischen Gehalt einer Religion
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betraf: Besaß die jüdische Religion Zwangscharakter? Warum brauchte eine Religion, die laut Mendelssohn im Prinzip mit freiheitlichen Idealen der Aufklärung kompatibel sein sollte, überhaupt die Möglichkeit, einen ihrer Anhänger mit dem Bannstrahl zu belegen? Mendelssohn antwortete mit seinem Werk Jerusalem (1783), in dem er sein Festhalten am Judentum und insbesondere die orthodoxe Beachtung aller jüdischen Religionsgesetze philosophisch rechtfertigte. In dieser komplexen naturrechtlichen Analyse der jüdischen Religion und insbesondere der Rolle der jüdischen Religionsvorschriften, die Mendelssohn als geoffenbarte Zeremonialgesetze verstand, lehnte er es ab, politische Rechte von der Reform dieser Religionsgesetze abhängig zu machen. Für Juden blieb es eine Pflicht, diese Gesetze zu erfüllen, und sie könnten nur Mitglieder einer Gesellschaft werden, die ihnen diese Pflichterfüllung ermögliche. »Schicket euch in die Sitten und in die Verfassung des Lands, in welches ihr versetzt seyd; aber haltet auch standhaft bey der Religion eurer Väter. Traget beider Lasten, so gut ihr könntet!«2 Zugleich widersprächen diese Vorschriften keineswegs den Grundsätzen der menschlichen Vernunft. Mendelssohns Überlegungen mündeten in eine rationale politische Theorie der Trennung von Religion und Staat, der das jeweilige Religionsbekenntnis seiner Bürger zu tolerieren und ihnen ihre Rechte zu gewähren habe. Die politische Theorie Mendelssohns, der ja zeitlebens im Sinne der jüdischen Gesetzesvorschriften observant und, wie man es kurze Zeit später nennen würde, orthodox blieb, bewahrte hier ein Element jener dualistischen politischen Doktrin, die bis in die Frühe Neuzeit die politische Theorie der Juden bestimmt hatte. Zugleich kann man Mendelssohns einziges deutschsprachiges Buch zum Judentum als eine Polemik gegen das Christentum lesen. Für Mendelssohn war die jüdische Religion ein System rechtlicher Vorschriften, das ihre Mitglieder zwar zu deren Ein2
Moses Mendelssohn, Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum (1783), in: Moses Mendelssohn – Gesammelte Schriften, Vol. 8: Schriften zum Judentum II, hg. v. Alexander Altmann, Stuttgart-Bad Cannstatt 1983, S. 99-204, hier: S. 198.
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haltung verpflichtete, aber ihnen keinerlei religiöse Dogmen vorschrieb – und besonders keine irrationalen wie die christliche Vorstellung der Trinität. Ganz im Unterschied zum Christentum, das in der gesamten Welt Mission betrieb und auch Juden wie ihn konvertieren wollte, war das Judentum daher mit einer rationalen, säkularen und zwanglosen Ordnung in einem Staat problemlos vereinbar. Damit hatte sich Mendelssohn nicht nur in scharfe politische Opposition zu seinen christlichen Zeitgenossen gebracht; er hatte auch den politischen Charakter frühneuzeitlicher Organisation des jüdischen Lebens geleugnet. Das reine Judentum als eine im Kern unpolitische Konfession, in die der Staat nicht einzugreifen habe – das war das politische Credo von Mendelssohns Jerusalem. In der Phase nach Mendelssohn radikalisierte sich die Haskala im deutschen Sprachraum weiter. Dies geschah vor allem im Umfeld verschiedener Schulprojekte wie der Berliner Freischule, die 1778 von dem Bankier Isaak Daniel Itzig (1750-1806) und dem Mendelssohn-Schüler David Friedländer (1750-1834) gegründet wurde. Hier standen nun Bildungsvorstellungen, die sich viel stärker auf weltliche Wissensbestände richteten, im Vordergrund, wie auch allgemeine Nützlichkeitserwägung dem Staat und der Wirtschaft gegenüber. In diesem Umfeld wurde die Idee einer sozialen, wirtschaftlichen und besonders kulturellen Verbesserung der Juden von jüdischen Vertretern der Haskala übernommen und gelegentlich sogar als Vorbedingung für ihre Emanzipation angesehen. Friedländer nahm nach Mendelssohns Tod dessen Rolle als Führungsfigur der Berliner Juden ein, nicht zuletzt weil er 1809 als erster deutscher Jude in die Berliner Stadtverordnetenversammlung und zum (unbesoldeten) Stadtrat gewählt wurde. Wie die meisten Maskilim der zweiten Generation interpretierte Friedländer die Ideen der Haskala politischer: Zwischen 1787 und 1792 engagierte er sich – zusammen mit Vertretern der jüdischen Wirtschaftselite Berlins – für eine rechtliche Besserstellung der preußischen Juden nach dem Dohmschen Modell, allerdings vergeblich. Friedländer wich dabei zunehmend von der naturrechtlichen Position Mendelssohns ab und konzentrierte seine Hoffnungen
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auf den aufgeklärten Staat, der aktiv intervenieren sollte. Er verband die »bürgerliche Verbesserung« der Juden enger mit der Frage ihrer rechtlichen Gleichstellung als sein Vorgänger. Damit akzeptierte er jedoch auch die Dohmsche Voraussetzung, dass sich viele Juden – außerhalb der kleinen jüdischen Oberschicht in Städten wie Berlin – in einem beklagenswerten Zustand befänden, der sie einer kulturellen und sozialen Verbesserung bedürftig erschienen ließ. Während die Haskala-Bewegung im deutschen Sprachraum in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts in eine neue Reformbewegung mündete, die nunmehr vor einer Veränderung der jüdischen Religionsvorschriften nicht mehr zurückschreckte, wanderten die Gedanken der Haskala weiter nach Osteuropa. Grundsätzlich kann man die jüdische Aufklärung als einen Versuch ansehen, das prekäre Gleichgewicht von rechtlichem Abhängigkeitsstatus und innerer Gemeindeautonomie aufzuheben, wie es in unterschiedlichen Ausprägungen seit dem Mittelalter existiert hatte: und zwar zugunsten eines individualisierten Rechts auf Emanzipation und der ebenso individualisierten kulturellen wie sozialen Anpassung an die nichtjüdische Umwelt. In der politischen Theorie der Haskala wie auch in den Emanzipationsdebatten der folgenden Jahre und Jahrzehnte war damit eine Art Quid pro quo angelegt, der rechtliche Besserstellung der Juden an ihre moralische Eignung knüpfte. Allerdings verschwand Mendelssohns strikte naturrechtliche Argumentation keineswegs aus den politischen Debatten. In den folgenden Jahrzehnten geschah es immer wieder, dass Juden wie Nichtjuden sich weigerten, Vorbedingungen für die rechtliche und politische Gleichberechtigung der Juden zu akzeptieren. Diese sei schließlich – so die Argumentation – ein Menschenrecht, das man besitze und nicht bei Wohlverhalten verliehen bekomme. Hier bahnte sich eine neuartige politische Rhetorik an, auf die in den späteren Debatten über die ›Judenfrage‹ immer wieder zurückgegriffen werden konnte. Politische Rechte hatten demnach nicht mehr der Logik einer Sonderregelung zu folgen, sondern der Idee der universellen Gleichheit und Gerechtigkeit.
Emanzipation, Revolution und »Neue Ära« Dohm hatte die Diskussion um eine Gleichstellung der Juden angestoßen, die von nun an fast ein Jahrhundert lang in den verschiedenen deutschen Staaten fortgesetzt wurde. Diese Diskussion war eng mit den konkreten rechtlichen Veränderungen der Stellung der Juden verbunden, die in den zahlreichen deutschen Staaten unterschiedliche Formen annahmen. Insgesamt entwickelte der Emanzipationsprozess eine sehr wechselvolle Dynamik, die keineswegs kontinuierlich zu mehr Rechten für Juden führte, die vielmehr lange Zeit von politischen Rückschlägen und erneuten rechtlichen Einschränkungen geprägt war. Die frühe Phase der Emanzipationspolitik Fast zeitgleich mit Dohm bahnten sich die ersten konkreten politischen Verbesserungen an. Die Toleranzpatente, die der österreichische Kaiser Joseph II. 1781 zunächst für Böhmen, 1782 für Wien sowie Niederösterreich und dann auch für andere Herrschaftsgebiete des Habsburger Reichs verkündete, ließen zum ersten Mal das überkommene Prinzip des frühneuzeitlichen Schutzjudentums – Duldung gegen Sonderbesteuerung – hinter sich. Damit begann die Politik der Judenemanzipation. Allerdings bedeuteten diese Patente allenfalls eine partielle rechtliche Besserstellung der Juden, denen etwa Handels- und Ansiedlungsfreiheit eingeräumt wurde. So wurden sie nicht zu Staatsbürgern erklärt und eine Reihe von Sonderbesteuerungen blieb bestehen. Dass Joseph II. nur kurze Zeit später rabbinische Gerichte verbot, verdeutlicht den Versuch, die jüdische Gemeindeautonomie abzuschaffen. Die einzelnen Patente für die verschiedenen Herrschaftsregionen unterschieden sich z.T. erheblich, sodass Juden besonders in den böhmischen, galizischen und ungarischen Landesteilen stärker benachteiligt waren als in anderen Regionen und
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insgesamt von einer einheitlichen Regelung keine Rede sein konnte. Der später auch in anderer Gesetzgebung sichtbare Erziehungscharakter prägte sie ebenfalls, beinhalteten sie doch u.a. die Vorschrift, jüdische Kinder in deutschsprachigen, in der Regel christlichen Schulen erziehen zu lassen. Kaiser Josephs Politik war damit charakteristisch für die sich verändernde Haltung im aufgeklärten Absolutismus gegenüber der jüdischen Minderheit, die sich einerseits in dem Wunsch niederschlug, die Juden zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft zu formen, und andererseits in dem Bemühen, die autonomen Strukturen der jüdischen Selbstverwaltung abzuschaffen. Im Habsburger Reich blieben die Toleranzpatente Josephs II. bis 1848 der einzige Versuch einer rechtlichen Neuregelung. Trotz der erwähnten Bemühungen von einzelnen jüdischen Aufklärern, eine rechtliche Verbesserung der Juden zu erwirken, passierte in den anderen deutschen Staaten zunächst wenig. An der Wende zum 19. Jahrhundert waren nur wenige bis gar keine Anzeichen zu erkennen, dass sich die rechtliche Lage der Juden verbessern könnte, während die publizistische Debatte über die Position der Juden – 1803 mit allein 60 Kampfschriften – so heftig entbrannte, dass die preußische Regierung entsprechende Veröffentlichungen zeitweise verbot. Die französische Revolutionsgesetzgebung, mit der 1791 die französischen Juden emanzipiert worden waren und die während der napoleonischen Besetzung verschiedener deutscher Gebiete auch dort durchgesetzt, danach in der Regel aber wieder abgeschafft wurde, hatte nur indirekte Auswirkungen auf den Status quo. Die Abschaffung des Alten Reiches und die Zusammenlegung verschiedener Kleinstgebiete zu größeren Staaten warf nach Napoleon die Frage auf, wie die neuen Herrscherhäuser die verwirrende Vielzahl an Judenordnungen vereinheitlichen konnten. Die z.T. verheerenden Niederlagen gegen die napoleonischen Truppen entfalteten zudem einen beachtlichen Druck, eine Modernisierung von Staat und Gesellschaft in Angriff zu nehmen. Die rechtliche Besserstellung von Juden wurde häufig als Teil einer solchen Reformagenda angesehen.
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In vielen deutschen Territorien begannen die bürokratischen Apparate spätestens jetzt, eine Neuordnung der ›Judenfrage‹ zu diskutieren oder sogar schon umzusetzen. Das neu konstituierte Großherzogtum Baden erklärte 1808 die Juden zu »erbfreien Staatsbürgern«, verweigerte ihnen allerdings das kommunale Bürgerrecht, welches ihnen erst zugestanden werden sollte, wenn sie sich durch bessere Bildung der allgemeinen Bevölkerung angepasst hätten. Das »Konstitutionsedikt der Juden« aus dem folgenden Jahr spitzte den Erziehungscharakter dieser Politik weiter zu und hob die korporativ-autonome Struktur der jüdischen Gemeinden auf. Trotzdem hatte Baden als erster deutscher Staat, der nicht unter französischer Verwaltung stand, damit einen wichtigen Schritt hin zur Emanzipation der Juden vollzogen. Das Königreich Bayern ernannte die Juden ebenfalls zu Staatsbürgern, erließ jedoch zugleich das Matrikel-Gesetz, das die Anzahl der bayerischen Juden begrenzte. Da die »Matrikel«, die wie ein staatlicher Schutzbrief funktionierte, nur auf den ältesten Sohn einer Familie übertragen werden konnte, waren weitere Kinder zur Abwanderung gezwungen. Damit besaß die bayerische Neuregelung sehr restriktiven Charakter. Auch das preußische »Edikt, betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden« von 1812 lässt sich auf den indirekten französischen Einfluss zurückführen. Seit dem Ende der Regentschaft Friedrichs II. 1786 war in der preußischen Verwaltung – mit wechselnder Konjunktur – über eine rechtliche Besserstellung der Juden diskutiert worden, aber erst die vernichtende Niederlage Preußens gegen Napoleon 1806 bot den Reformkräften innerhalb der Bürokratie die Möglichkeit, ihre Pläne für eine umfassende Neuordnung des Staates durchzusetzen. Als ein Teilaspekt wurde dabei auch die bürgerliche Gleichberechtigung der Juden in Angriff genommen, allerdings votierten viele Reformer in der preußischen Administration für ein vorsichtiges Vorgehen, mithin eine rechtliche Gleichstellung auf Raten. Dem stellte sich 1809 der neue preußische Bildungsminister Wilhelm von Humboldt (1767-1835) entgegen und plädierte für eine sofortige und bedingungslose rechtliche Gleichstellung. Der Staat sei keine Erzie-
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hungsinstitution und würde den Ausnahmestatus der Juden nur zementieren, wenn er sie weiter wie einen rechtlichen Sonderfall behandeln würde. Humboldt konnte sich mit seinen grundsätzlichen Einwänden allerdings nicht durchsetzen; Preußen wählte den Weg einer schrittweisen Angleichung, was aber nicht sofort ersichtlich war. Das Edikt von 1812 erklärte die in Preußen legal ansässigen Juden zu »Einländern und Preußischen Staatsbürgern« und verlieh ihnen die gleichen Rechte wie den anderen Preußen. Zu diesem Zeitpunkt existierte in den deutschen Staaten und in ganz Europa (mit der Ausnahme der Niederlande) keine fortschrittlichere Lösung der »Judenfrage«. Dass mit dem Edikt die autonomen Strukturen der jüdischen Gemeinden und insbesondere ihre Gerichtsbarkeit aufgehoben wurden, folgte der sich etablierenden Logik staatlicher Emanzipationspolitik. Allerdings wurde die Rechtsgleichheit auf Betreiben des Königs Friedrich Wilhelm III. in einem wichtigen und folgenschweren Punkt eingeschränkt: Der Paragraph 9 des Edikts überließ es einer späteren gesetzlichen Regelung, ob Juden Staatsämter bekleiden dürften. Dieser Passus wurde in den folgenden Jahrzehnten von der skeptischer gewordenen preußischen Bürokratie genutzt, um die weitgehende Emanzipationsgesetzgebung von 1812 in der Verwaltungspraxis partiell wieder rückgängig zu machen. Das bemerkenswert progressive Edikt stellte zugleich den Höhe- und Wendepunkt der ersten Welle von Emanzipationsgesetzen dar. Bereits auf dem Wiener Kongress, wo 1814-15 die Neuordnung Europas nach der endgültigen Niederlage Napoleons beschlossen wurde, konnte keine einheitliche emanzipatorische Regelung für die Juden aller deutschen Staaten erreicht werden, wie das von Österreich und Preußen gefordert wurde. Die in den von Frankreich besetzten Gebieten geltende fortschrittliche Judengesetzgebung wurde aufgehoben und jede weitere Regelung den einzelnen Staaten des neuen Deutschen Bundes – das waren fast vierzig – überlassen. In einigen von ihnen kam es in der Folgezeit durchaus zu rechtlichen Maßnahmen, die allerdings – fast ohne Ausnahme – mit zum Teil erheblichen Einschränkungen
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für die Juden verbunden waren. In den ehemals französisch besetzten freien Städten wie Bremen und Lübeck wurden die Juden 1816 sogar wieder ausgewiesen. Andere Gebiete wie Nassau oder Hannover führten die alten Schutzbestimmungen wieder ein. In Bayern blieb die Matrikel-Regelung erhalten, sodass sich unter den jüdischen Auswanderern, die in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts nach Übersee – vor allem in die Vereinigten Staaten – ausreisten, viele bayerische Juden befanden. In Österreich blieb bis 1848 im Wesentlichen der Stand der Josephschen Toleranzedikte in Kraft, damit aber auch deren regional sehr unterschiedlichen Regelungen, inklusive der teilweise markanten Beschränkungen in einzelnen Gebieten. Auch in Staaten wie Baden blieb die Emanzipationsgesetzgebung früherer Jahre bestehen, wurde aber auch nicht ausgeweitet. In Preußen ergab sich eine komplexe Situation, da der Geltungsbereich des Edikts von 1812 nicht auf die 1815 wieder bzw. neu hinzugewonnenen Provinzen wie z.B. Posen ausgeweitet wurde, sodass dort die alten Judenordnungen in der Regel weiterhin galten. Ein wahrer Flickenteppich an verschiedenen Rechtsvorschriften regelte damit das Leben der preußischen Juden, deren Zahl durch die neuerworbenen Gebiete auf über 120.000 (fast 50 Prozent aller Juden auf dem Gebiet des späteren Deutschen Reiches) gestiegen war. Trotz dieser eigentlich unhaltbaren Situation kam es im gesamten Vormärz zu keiner rechtlichen Vereinheitlichung. Im Gegenteil wurden seit den 1820er-Jahren viele den preußischen Juden 1812 gewährte Rechte auf dem Verwaltungsweg wieder eingeschränkt oder gar zurückgenommen. Die erste Welle von Emanzipationsgesetzen hatte insgesamt zu z.T. deutlichen Verbesserungen in der Rechtsstellung der Juden geführt. In dieser Phase war die rechtliche Gleichstellung der Juden von Vertretern der spätaufklärerisch geprägten, reformorientierten Bürokratie, den erwähnten jüdischen Aufklärern bzw. Reformern sowie von bürgerlichen Kräften befürwortet worden, die den freiheitlichen Idealen der Französischen Revolution von 1789 anhingen und diese in der aufblühenden bürgerlichen Öffentlichkeit propagierten. Nach 1815 sollten sich Teile der entste-
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henden frühliberalen Bewegung hinzugesellen. Für sie alle bedeutete der Wiener Kongress jedoch einen herben Rückschlag, sodass für die rechtliche und politische Situation der Juden in den verschiedenen deutschen Territorien erneut Rechtsunsicherheit zur Norm wurde. Die, wie sich nun erwies, nur partiellen Fortschritte in der Gleichstellung, die erneuten rechtlichen Beschränkungen und der Erziehungscharakter der Politik reproduzierten das Problem, das die Judenemanzipation eigentlich beseitigen sollte: die Sonderstellung der Juden – und damit die Begründung für antijüdische Vorurteile – existierte weiter. Die Gegner der Judenemanzipation Die Rückschläge in der Emanzipationspolitik hatten auch mit dem veränderten Meinungsklima zu tun, das sich in der Restaurationsphase nach 1815 verstärkt gegen die Reformbemühungen und insbesondere gegen die rechtliche Gleichstellung der Juden richtete. Schon 1811 hatte der Schriftsteller Achim von Arnim die Christlich-deutsche Tischgesellschaft gegründet, die prominente Mitglieder wie den Philosophen Johann Gottlieb Fichte, die Schriftsteller Heinrich von Kleist und Clemens Brentano sowie den Juristen Friedrich Carl von Savigny gewinnen konnte, Juden jedoch explizit ausschloss. In diesem illustren Kreis wurde häufig gegen Juden polemisiert, die sonst in der zeitgenössischen Geselligkeit, insbesondere in der Berliner Salonkultur einen prominenten Platz einnahmen. Obwohl sich viele Juden 1813 freiwillig für den Krieg gegen Napoleon auf der Seite Preußens meldeten, eine ganze Reihe von ihnen auf dem Schlachtfeld fiel und andere mit Orden ausgezeichnet wurden, spitzte sich die nationalistische Stimmung gegen sie nach Kriegsende weiter zu. 1815 brachen hitzige Debatten über die »Judenfrage« aus, die sich an einem Artikel des Berliner Geschichtsprofessor Friedrich Rühs (1781-1820) entzündeten, der 1816 als Buch unter dem Titel Die Rechte des Christentums und des deutschen Volks erschien. Der
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Heidelberger Philosoph und Mathematiker Jacob Fries (17731843) unterstützte seinen Berliner Kollegen vehement in einer Besprechung: Über die Gefährdung des Wohlstandes und Charakters der Deutschen durch die Juden (1816). Rühs behauptete, dass das Judentum keineswegs eine Konfession, sondern eine eigene Nation darstelle, weshalb Juden auch nicht Bürger eines christlichen Staates werden könnten. Für ihn war daher die Konversion zum Christentum der einzige Weg für Juden, Deutsche zu werden. Fries, der ansonsten Rühs’ Position teilte, hielt selbst diesen Weg für ausgeschlossen und plädierte offen für eine Vertreibung der Juden. Entschiedenen Widerspruch ernteten die beiden Gelehrten in der Folgezeit von aufgeklärten Juden, die den Volkscharakter des Judentums abstritten. Der scharfsinnige jüdische Schriftsteller Saul Ascher (1767-1822) sah hinter diesen Bestrebungen eine »Germanomanie« am Werk, bei der die Juden lediglich als Instrument behandelt würden, um aus dem politisch und religiös zerstrittenen deutschen Volk eine vereinte Nation zu kreieren. Aber auch Ascher hielt diese romantische Judenfeindschaft – wie die meisten anderen jüdischen Gegenstimmen – letztlich für ein Relikt mittelalterlicher, unaufgeklärter Zustände und hoffte weiter auf eine konsequente Emanzipationspolitik der aufgeklärten Herrscherhäuser. Nur wenige Jahre später sollte der verbale Judenhass in eine Welle von antijüdischen Gewaltausbrüchen münden. Die sozialen und wirtschaftlichen Missstände ebenso wie die Ablehnung der Emanzipationspolitik bereiteten den Nährboden für die sogenannten »Hep-Hep«-Unruhen, die am 2. August 1819 in Würzburg ausbrachen und sich schnell von Bayern nach Württemberg, Baden, Frankfurt am Main bis ins Rheinland und sogar bis nach Hamburg und Kopenhagen ausbreiteten. Getragen wurden die Ausschreitungen, die nicht nur großen Sachschaden verursachten, sondern in deren Verlauf Juden auch körperlich misshandelt oder sogar getötet wurden, in der Regel von Handwerkern und Bauern. Zwar gelang es Militär und Polizei zumeist, den Aufruhr durch schnelles Eingreifen einzudämmen, dennoch bedeuteten
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die Krawalle – neben den Schäden an Leib und Seele sowie Hab und Gut – einen herben Rückschlag für die politischen Interessen der Juden. Das Politikverständnis der jüdischen Reformbewegung Die intellektuelle und politische Landschaft unter den Juden veränderte sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts merklich. Während sich die frühe Haskala noch mit der Vermittlung von weltlichem und religiösem Wissen begnügt hatte, wovon die halachischen Religionsvorschriften unberührt bleiben sollten, verstärkte sich in der Phase ab 1790 nicht nur der Ruf nach Emanzipation, sondern auch der Wunsch nach einer Erneuerung der jüdischen Religion. In einer Welt, in der politische und religiöse Fragen eng miteinander verknüpft waren, war auch die zweite Dimension keineswegs eine unpolitische. Wenn zunehmend jüdische Aufklärer und Reformer die Degeneration des Judentums beklagten und daraus eine Aufforderung zur Modernisierung des Judentums ableiteten, geschah dies stets auch mit Blick auf die Chancen, die sich durch eine Religionsreform für die politische und rechtliche Besserstellung der Juden ergeben könnten. Diese Verschränkung von Religion und Politik wurde ihnen zudem von nichtjüdischer Seite aufgedrängt: die Emanzipation war von Beginn an mit einer bürgerlichen Verbesserung der Juden verknüpft – ein Quid pro quo, der sich in der Tendenz durch die erste Welle der Emanzipationspolitik eher verstärkt hatte. Das sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch bei einer steigenden Anzahl von Juden ein genuines Interesse an einer Veränderung der jüdischen Religion und generell des Zustandes des zeitgenössischen Judentums existierte. Dass die beiden Ziele – Emanzipation und Reform – zunehmend vermischt wurden, demonstrierte etwa die Zeitschrift Sulamith, die zum ersten Mal 1806 – als Gegenmodell zum hebräischen Ha-Meassef – in deutscher Sprache von Joseph Wolf (1762-1826) und David Fränkel (1779-1865) in Dessau herausge-
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geben wurde. Mit der Zeitschrift sollten sowohl Juden wie Nichtjuden angesprochen werden und das in ihr sichtbar werdende Erziehungsprogramm umfasste einen ganzen Forderungskatalog: Anpassung der jüdischen Religion an die moderne Welt, Veränderung der jüdischen Berufsstruktur, wodurch die hohe Konzentration von Juden im Handel und Geldverleih gemildert werden sollte, sowie moralische Hebung der Juden durch Bildung und (bürgerliche) Kultur. Aus dieser »jüdischen Emanzipationsideologie« (David Sorkin) entwickelte sich in den folgenden Jahren eine jüdische Reformbewegung, die sich nicht länger an die halachischen Religionsvorschriften gebunden fühlte, sondern diese zu modernisieren beanspruchte, insbesondere wenn sie im Konflikt mit der bürgerlichen Kultur oder den Ansprüchen des Staates zu stehen schienen. Juden und Politik im Vormärz Im Vormärz ließ die rechtliche Stellung der Juden im deutschsprachigen Gebiet vieles zu wünschen übrig. In Sachsen, Österreich oder Hamburg besaßen sie noch immer keine Staatsbürgerrechte; in Lübeck war ihnen gar die Ansiedlung verboten. In der Regel durften sie keine Staats- oder Verwaltungsämter übernehmen. Während auf wirtschaftlichem Gebiet nur noch wenige rechtliche Einschränkungen existierten und auch nur noch selten spezielle Steuern von Juden erhoben wurden, war ihr Recht auf Freizügigkeit und Ansiedlung oft erheblich eingeschränkt. Auch die Teilnahme an politischen Prozessen war ihnen an den meisten Orten verwehrt, da man ihnen weder das aktive noch das passive Wahlrecht einräumte (was aber auch ein Großteil der nichtjüdischen Bevölkerung, wenn überhaupt, nur sehr eingeschränkt besaß). Dennoch lassen sich bereits im Vormärz erste Anzeichen einer Politisierung unter den deutschen Juden erkennen, was insbesondere durch den Kampf gegen die rechtlichen Benachteiligungen bedingt war. Einzelne Juden wie auch ganze Gemeinden verfassten Petitionen und Denkschriften, mit denen sie die Regierungen
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und Ständeversammlungen zu einer judenfreundlicheren Politik zu bewegen versuchten. Jüdische Stimmen wurden damit immer hörbarer in der Flut von Publikationen, die sich seit den Tagen von Rühs und Fries mit der »Judenfrage« beschäftigten und die im gesamten Zeitraum des Vormärzes die Zahl von 2.000 Büchern, Pamphleten, Zeitschriftenartikeln etc. deutlich überstieg. Seit den 1830er-Jahren beschleunigte sich die politische Entwicklung in den deutschen Staaten, insbesondere in Gestalt des Parteiensystems und der politischen Öffentlichkeit, wie etwa die vielen Neugründungen von Tageszeitungen signalisierten, die oft mit einem klaren (partei-)politischen Profil die öffentliche Meinung zu prägen versuchten. Gleiches gilt für die Politisierung der Juden, sodass zahlreiche jüdische Zeitungen entstanden, die den politischen Meinungsbildungsprozess der deutschen Juden maßgeblich unterstützten. Der liberale Politiker Gabriel Riesser (18061863) hatte bereits zwischen 1832 und 1835 die Zeitschrift Der Jude publiziert, in der er die jüdischen Ansprüche auf Emanzipation und Gleichberechtigung formulierte und zugleich ein jüdisches Publikum über politische Fragen von allgemeiner Bedeutung aufklärte. Ab 1837 erschien die Wochenzeitung Allgemeine Zeitung des Judentums, die Ludwig Philippson (1811-1889) herausgab und die bis 1922 gedruckt wurde. Auf ihren Seiten kommentierte Philippson die wichtigsten politischen Ereignisse, plädierte für innerjüdische Reformen und formulierte selbstbewusst die politischen Ansprüche des Judentums. Er schuf damit das wichtigste Sprachrohr des liberalen Judentums und zugleich das wohl bedeutendste jüdische Publikationsorgan in Deutschland insgesamt. Andere, kurzlebigere Zeitschriftenprojekte waren die reformorientierte Zeitschrift Der Orient, die Julius Fürst (1805-1873) zwischen 1840 und 1851 herausgab, sowie das erste orthodoxe Blatt Der Treue Zions-Wächter (1845-1854) von Samuel Enoch (18141876). Langlebiger erwiesen sich im orthodoxen Bereich das Monatsblatt Jeschurun, das ab 1854 von dem Frankfurter Rabbiner und Begründer der Neo-Orthodoxie Samson Raphael Hirsch (1808-1888) redigiert wurde, sowie die Zeitschrift Der Israelit, die ab 1860 von dem Mainzer Rabbiner Marcus Lehmann (1831-1890)
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publiziert wurde. Diese Organe unterstützten nicht nur die Politisierung weiter Teile der jüdischen Bevölkerung, sondern auch die Formierung einer nationalen jüdischen Öffentlichkeit, indem sie Nachrichten über die jeweilige Emanzipationspolitik der deutschen Länder sowie Berichte aus den jüdischen Gemeinden bündelten. Insgesamt beeinflusste der politische Stimmungsumschwung in der Restaurationsphase auch die Einstellungen der Juden. Hatte sich gerade seit der Spätaufklärung unter vielen Juden ein positives Bild vom Staat etabliert, auf dem ihre Hoffnungen für eine allmähliche Verbesserung ihrer Lage ruhten, so wurde dies angesichts der verzögerten rechtlichen Gleichstellung und der öffentlichen Debatten zunehmend fragwürdig. Liberale wie demokratische Oppositionsideen, die sich im Vormärz in wachsenden Teilen der Gesamtbevölkerung verbreiteten und die zumeist mit der Forderung nach einer nationalen Einheit Deutschlands verbunden waren, fanden so auch unter Juden Anklang. Der Liberalismus versprach die universelle Emanzipation aller, sodass seine jüdische Protagonisten zugleich für die Befreiung der Juden und aller Mitbürger – in der liberalen Rhetorik: der ganzen Menschheit – kämpfen konnten. Diese Verbindung von jüdischer und universeller Freiheit erwies sich als sehr einflussreich; sie lässt sich in unterschiedlichen Varianten bei verschiedenen politischen Denkern finden, die dem deutschen Judentum entstammten. Besonders markant waren solche Haltungen z.B. bei den Politikern Riesser und Johann Jacoby (1805-1877). Riesser, dem man als promovierten Juristen die Tätigkeit als Anwalt in Hamburg verweigerte und erst 1860 zum Obergerichtsrat ernannte, verschrieb sich ganz dem politischen Kampf um die Gleichstellung der Juden, die aus seiner Sicht ohne Vorbedingungen zu erfolgen habe. Als Riesser bei den Verhandlungen über die Grundrechte in der Frankfurter Paulskirche im August 1848 vehement die Gleichstellung der Juden verteidigte, versuchte er seinen Standpunkt als Politiker und Mensch zu begründen, nicht als betroffener Jude. Damit lieferte er ein gutes Beispiel dafür, wie wichtig die politische Rhetorik war, mit der ein jüdischer Sprecher sein
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Eintreten für die jüdische Sache als Kampf für ein universelles Menschenrecht darstellen konnte. Während der Revolution von 1848, als Riesser zeitweilig Vizepräsident der Frankfurter Nationalversammlung war, wurde er einem breiten Publikum als gemäßigter Vertreter des Liberalismus und als Sprachrohr der Juden weithin bekannt. Auch bei Jacoby, der zunächst eine wichtige Rolle in der jüdischen Gemeinde seiner Heimatstadt Königsberg gespielt hatte und später in der Nationalversammlung, im preußischen Parlament und im Reichstag saß, wird die Einbettung der jüdischen Emanzipation in ein universelles Narrativ sichtbar, mit dem die Gleichstellung als Akt menschlicher Gerechtigkeit erschien. Im Gegensatz zu Riesser sollte Jacoby jedoch eine politisch immer radikalere Position beziehen, bis er sich schließlich 1872 zur Sozialdemokratie bekannte. In seiner Biographie deutete sich an, was auch bei anderen jüdischen Sozialisten zu bemerken ist: Die Universalisierung des jüdischen Standpunktes konnte aus der jüdischen Politik – als Vertretung jüdischer Interessen durch Juden – herausführen, sodass man allgemein gegen Diskriminierung und Benachteiligung von Menschen kämpfte. Von Beginn an weniger gemäßigt als Riesser waren die Schriftsteller Ludwig Börne (1786-1837) und Heinrich Heine (17971856). Börnes literarischer und oft bissiger Einsatz für Freiheit und Gerechtigkeit erstreckte sich allerdings nur sehr selten auf Fragen der jüdischen Gleichberechtigung. Er war schon als junger Mann zum Christentum übergetreten, ohne jedoch den Ruf, Jude zu sein, je los zu werden – was ihn sehr betrübte. Heine, der sich 1825 taufen ließ, war weniger politisch als vielmehr literarisch aktiv; deswegen wird er hier, obwohl er für diese Phase und für die Gesamtgeschichte der deutschen Juden von großer Bedeutung ist, nur kurz erwähnt. Sein Interesse für den utopischen Sozialismus blieb weitgehend ohne Bezug auf die politischen Fragen der deutschen Juden, und nur in einer kurzen Phase nach den Ritualmordbeschuldigungen 1840 in Damaskus schrieb er einige politische Artikel. Gegen den Zustand relativer Rechtlosigkeit und politischer Benachteiligung, den Juden im Vormärz mit weiten
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Teilen der Bevölkerung teilten, erwies sich die universalistische Rhetorik als besonders attraktiv, da sie politische Forderung nach Teilhabe der Juden mit dem Ziel der Gleichberechtigung aller verband. Das Problem politischer Partizipation stellte sich im späteren Rechtsstaat anders, in dem alle, zumindest formell, gleichberechtigt waren, wie wir noch sehen werden. Diese Biographien von prominenten Juden dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Politisierungsgrad unter den deutschen Juden im Vormärz insgesamt in der Regel noch gering war, trotz aller Veränderungen in der jüdischen Öffentlichkeit. Eine aktive und selbstbewusste Teilnahme am politischen Prozess – sei es als offene Interessenvertretung, als Meinungsäußerung in der sich bildenden politischen Öffentlichkeit oder gar durch die aktive Beteiligung an politischen Vereinen, Parteien oder Institutionen – war unter ihnen in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts noch die Ausnahme. Allerdings hatten sich die frühneuzeitlichen Formen der Fürsprache (Schtadlanut), bei denen herausgehobene Vertreter der jüdischen Gemeinschaft bei der Obrigkeit intervenierten, bereits zum Kampf einzelner bekannter Juden für die Emanzipation gewandelt. Solche Interventionen hatten sich früher aber vornehmlich auf die politischen Belange der jüdischen Gemeinschaften gerichtet, nicht auf individuelle Rechte – was allerdings dem allgemeinen Verständnis von Politik und den faktisch existierenden politischen Wirkungsmöglichkeiten in vordemokratischen Systemen entsprach. Ein personell und thematisch umfassenderes Interesse an politischen Prozessen existierte bis in die 1840er-Jahre bei einem Großteil der deutschen Juden noch nicht, durchaus analog zur Allgemeinbevölkerung, wo sich der politische Willensbildungsprozess auch noch am Anfang befand. Erst mit einem anderen Politikverständnis, dessen Aufkommen wesentlich auf den politischen Liberalismus und die Forderung nach einer stärkeren Konstitutionalisierung des politischen Systems zurückzuführen ist, wurde die Einbeziehung immer weiterer Bevölkerungskreise in den politischen Prozess möglich. Dies galt zunächst allerdings
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nur für erwachsene Männer, da die Debatte über die politischen Rechte der Frauen erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts allmählich an Schwung gewann. Juden waren hierbei allerdings keineswegs Nachzügler; nicht zuletzt durch den politischen Kampf um die Emanzipation, der ja bereits seit einigen Jahrzehnten ausgetragen wurde, war das Politisierungspotential – nicht jedoch der erreichte Grad – unter ihnen vergleichsweise hoch. Hinzu kam, dass sie als Gruppe, die seit dem frühen 19. Jahrhundert schrittweise Teil der bürgerlichen Schichten wurde, die sozialen und wirtschaftlichen Voraussetzungen erfüllte, um – beispielsweise unter den Bedingungen des Klassenwahlrechts, wie es später eingeführt wurde – an politischen Willensbildungsprozessen partizipieren zu können. Zugleich ließ der beachtliche soziale und wirtschaftliche Aufstieg der Juden, zu dem es trotz der skizzierten rechtlichen Beschränkungen kam, den Wunsch vieler wirtschaftlich und sozial nun bessergestellter Juden nach politischer Partizipation drängender werden. Die meisten Juden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren in religiöser Hinsicht orthodox-strenggläubig. In politischer Hinsicht ging dies oft Hand in Hand mit einer wenig ausdifferenzierten loyalen Haltung gegenüber dem jeweiligen Herrscherhaus. Demgegenüber stand ein kleines, aber wachsendes liberales Lager, woran auch der soziale und wirtschaftliche Aufstieg in bürgerliche Schichten einen Anteil hatte. Dabei waren radikalliberale Strömungen, wie sie etwa im Vormärz im Umfeld der Burschenschaftsbewegung existierten, eher randständig. Unter den religiös reformorientieren Juden herrschte meistens die Haltung eines gemäßigten Liberalismus vor, wie ihn Riesser vorlebte. Grundsätzlich lässt sich jedoch ein allmählicher Wandel hin zu einer gesteigerten Loyalität gegenüber dem Staat und der deutschen Nation feststellen. Eine kleinere Gruppe von Intellektuellen jüdischer Herkunft fand sich bereits in dieser Phase in radikalen politischen Bewegungen wie der frühsozialistischen Bewegung, oft an durchaus prominenter Stelle. So entstand die Rheinische Zeitung, die einflussreichste Stimme der radikalen Linken in den 1840er-Jahren, unter
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Mitwirkung von Karl Marx (1818-1883), Moses Hess (1812-1875), Dagobert Oppenheim (1809-1889) und Andreas Gottschalk (18151849). Von ihnen war nur Hess dem Judentum eng verbunden und publizierte 1862 mit Rom und Jerusalem ein einflussreiches Dokument des Frühzionismus. Der linksliberale Oppenheim war konvertiert, setzte sich aber trotzdem für die Rechte der Juden ein. 1841 gründete er die Zeitung und wurde ihr Herausgeber. Daran beteiligt war auch der Arzt Gottschalk, der aus einer jüdischen Familie stammte, sich zeitlebens für die medizinische Versorgung von Armen einsetzte und zeitweilig als Vorsitzender des Kölner Arbeitervereins fungierte. Auch später sollten einige der theoretischen Köpfe des Sozialismus dem Judentum entstammen, neben Marx und Hess auch Ferdinand Lassalle (1825-1864) oder Eduard Bernstein (1850-1932). Allerdings bekannten sich die wenigsten explizit zum Judentum, am ehesten noch Hess und gegen Ende seines Lebens auch Bernstein. Lassalle und Marx hingegen gingen auf ihre jüdische Herkunft, wenn überhaupt, nur negativ ein, wofür Marx’ Schrift Zur Judenfrage von 1844 sicher ein extremes Beispiel darstellte. Das hielt jedoch viele Nichtjuden später nicht davon ab, in ihnen das Sinnbild des revolutionären Juden verkörpert zu sehen. Es stellt eine offene Frage dar, ob die Erfahrungen des jüdischen Anders- und Ausgestoßenseins, welches alle diese Personen auf die eine oder andere Weise in ihrem Leben (und sei es nur in ihrer Kindheit) erlebt haben dürften, auch eine politische Innovationsfähigkeit ermöglichte – analog zu einer intellektuellen, wirtschaftlichen oder wissenschaftlichen, wie sie in der deutsch-jüdischen Geschichtsschreibung immer wieder beschrieben wurde. Dass Diskriminierungserfahrungen ein politisches Bewusstsein schärfen können, erscheint dabei zumindest plausibel. Aktive jüdische Politiker waren während des Vormärz eine Seltenheit. Durch die preußische Städteordnung von 1808 konnten die dortigen Juden die Bürgerrechte erwerben, sodass sie, wenn sie zudem noch über ein bestimmtes Mindesteinkommen verfügten, an den kommunalen Wahlen teilnehmen durften. In Berlin erwarben 1809 275 Juden das Bürgerrecht; hinzu kamen zwölf
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jüdische Familien, die dieses bereits seit 1791 innehatten. Unter den 102 Stadtverordneten und 15 unbesoldeten Stadträten, die damals gewählt wurden, befanden sich zum ersten Mal auch Juden: der Bankier Salomon Veit (1751-1827) wurde Stadtverordneter und David Friedländer Stadtrat. Nach ihrem Ausscheiden sollte es allerdings bis 1838 keine weiteren jüdischen Vertreter in der Selbstverwaltung Berlins geben. Auch in Königsberg wurde 1809 mit Samuel Wulff Friedländer (1764-1828) ein Jude in den Magistrat gewählt. Insbesondere in den Städten und Kommunen Oberschlesiens, Posens und partiell auch Westpreußens mit ihren relativ hohen jüdischen Bevölkerungsanteilen wurden Juden etwas häufiger in die Munizipalverwaltungen gewählt. In einigen Orten Oberschlesiens lag die Zahl der jüdischen Kommunalpolitiker sogar über ihrem Anteil an der Bevölkerung, etwa in Zülz, wo zwei Drittel der Stadtverordneten Juden waren. In einzelnen Fällen stellten die Juden in diesen Gegenden sogar den Dorfschulzen oder Bürgermeister, wie im Posener Dorf Zawade. Zu einer ähnlichen Entwicklung kam es auch in Bayern, Württemberg, Baden, Hessen-Kassel und Hessen-Darmstadt, wenngleich etwas zögerlicher und in kleinerer Zahl. Zu den Ständeversammlungen hatten Juden allerdings keinen Zugang. Lediglich einige Christen jüdischer Herkunft, wie der noch zu diskutierende Konservative Friedrich Julius Stahl (1802-1861), saßen in diesen einflussreichen Institutionen. Erste Juden nahmen seit den 1840er-Jahren auch an den politischen Bürgervereinen teil oder waren in wirtschaftlichen Korporationen wie den Kaufmannschaften aktiv. Im Vormärz engagierten sich schätzungsweise insgesamt über 300 Juden in der Lokalpolitik. Auf überregionaler und nationaler Ebene lassen sich weitere 110 jüdische Politiker sowie 50 Christen jüdischer Herkunft finden, die sich entweder als Verleger, Journalist, Regierungsbeamter, Burschenschaftler oder Frühsozialist politisch betätigten. Insgesamt waren also knapp 500 Personen jüdischer Herkunft in einem Zeitraum von ca. 30 Jahren und für das gesamte Gebiet der deutschen Staaten politisch tätig. In Bezug auf eine jüdische Gesamtbevölkerung zwischen 270.000 (1820)
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und fast 400.000 (1848) ist dies sicherlich keine große Zahl, aber – gerade im Vergleich mit der restlichen Bevölkerung – gab es doch einen gewissen politischen Aktivismus unter den Juden dieser Periode. Politik in den jüdischen Gemeinden Die jüdischen Gemeinden durchliefen in der Emanzipationsphase einen grundlegenden Wandel; wie bereits erwähnt, verloren sie viele kommunale Sonderrechte, die wie die Gerichtsbarkeit oder die Finanzhoheit elementare politische Bedeutung gehabt hatten. In Preußen begann der Eingriff des Staates bereits Mitte des 18. Jahrhunderts und das Edikt von 1812 bestätigte dann nur noch einmal, dass die jüdischen Gemeinden keine Gerichtsbarkeit mehr ausüben durften. In Bayern wurde 1806 der Korporationsstatus der jüdischen Gemeinden aufgehoben und ihre Gerichtsbarkeit abgeschafft; in Baden geschah letzteres 1809. In diese Phase fiel auch die Abschaffung des Steuerverteilungsrechts in den verschiedenen deutschen Ländern, das den jüdischen Gemeinden die Möglichkeit gegeben hatte, die ihnen pauschal auferlegten Steuern intern eigenständig einzusammeln. Die Staaten griffen bei der Neugestaltung der jüdischen Gemeindestrukturen unterschiedlich stark ein, sodass die Gestalt der Gemeinden von Land zu Land voneinander abwich. Preußen definierte die Gemeinden als Privatgesellschaften, für deren Verfasstheit sich der Staat relativ wenig interessierte. So konnten die Vorstände der Gemeinden ohne staatliche Kontrolle selbst ausgewählt werden; die Gemeindebeschäftigten sah der preußische Staat als Privatleute an, inklusive der Rabbiner, die nicht – wie christliche Kirchenführer – als Geistliche anerkannt wurden. Auch in Bayern waren die jüdischen Gemeinden Privateinrichtungen, allerdings fasste der bayerische Staat die Gemeinden zu Bezirken zusammen, mit einem Bezirksrabbiner an der Spitze. Auch griff er direkt in die Rabbinerausbildung ein. Noch aktiver ging das während der napoleonischen Besetzung gegrün-
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dete Königreich Westfalen vor, indem es nach französischem Vorbild 1808 mit dem jüdischen Konsistorium eine übergeordnete Einrichtung schuf, die das jüdische Leben in dem Land organisieren sollte. Dieser erste Versuch einer religiösen Zentralgewalt wurde allerdings nach dem Ende der französischen Herrschaft 1813 wieder abgeschafft. In einigen süddeutschen Ländern glich man in dieser Phase die jüdischen Gemeindestrukturen denen der Christen an. In Baden wurden Rabbiner 1807 Staatsbeamte. Später entwickelte sich hier eine Art Zentralgewalt mit einem jüdischen Oberrat an der Spitze. Vergleichbares entstand in Württemberg, allerdings erst ab 1828. Mit Bezug auf diese oft sehr unterschiedlich gearteten Veränderungen lässt sich behaupten, dass die Gemeinden aus der Perspektive des einzelnen Juden dennoch einiges an jenem Einfluss verloren, mit dem sie das politische Leben der deutschen Juden bis ins 18. Jahrhundert hinein in weiten Teilen bestimmt hatten. Von nun an waren sie nicht mehr die elementare politische Einheit im jüdischen Alltag. Das lässt sich so zumindest für das 19. Jahrhundert sagen; denn mit ihrem Ausbau der Sozial- und Wohlfahrtspolitik im frühen 20. Jahrhundert erhielten die Gemeinden ein Teil ihrer Prägekraft für das jüdische Leben zurück. Juden und Politik in der Revolution Die Revolution von 1848/49 unterstützte, verstärkte und transformierte den bereits einsetzenden Politisierungsprozess unter den deutschen Juden. Sie begannen mit der Revolution in wesentlich größerer Zahl als zuvor aktiv am politischen Prozess teilzunehmen – und taten dies nicht selten offen und selbstbewusst als Juden. Zunächst lässt sich dies an den revolutionären Ereignissen selbst ablesen, die Juden maßgeblich – und nicht selten als Anführer – mitprägten: Mindestens 130 Juden beteiligten sich an den bewaffneten Auseinandersetzungen gegen die herrschenden Mächte in Berlin, Wien, Frankfurt, Baden, Sachsen etc. In Berlin und Wien kämpften Juden im März 1848 auf den Barrikaden mit;
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unter den »Märzgefallenen« in Berlin und Wien waren mehrere Juden. Insgesamt zählten wohl mindestens 750 Juden 1848/49 zu den politischen Aktivisten, wozu die Österreicher allerdings noch hinzugezählt werden müssten. Oft noch sehr jung und politisch längst nicht immer revolutionär gestimmt, engagierten sie sich in Bürgervereinen, Bürgerwehren, kommunalen Ämtern, als Wahlmänner und gewählte Politiker. In das Frankfurter Vorparlament waren bereits sechs Juden und sechs Politiker jüdischer Herkunft entsandt worden. Zu den Wahlen für die Nationalversammlung wurden Juden zugelassen, nachdem sich Riesser in einer beeindruckenden Rede im Vorparlament erfolgreich dafür eingesetzt hatte. Sieben Juden und zehn Politiker jüdischer Herkunft saßen schließlich 1849 in der Frankfurter Nationalversammlung, d.h. Juden wie – mehrheitlich – Nichtjuden hatten in freier Wahl für sie gestimmt. Hinzu kamen noch zwei jüdische Abgeordnete aus Österreich. Der zum Christentum konvertierte Eduard Simson (1810-1899) und Riesser fungierten als Präsident bzw. Vizepräsident des Parlaments. Wenn man die Abgeordneten jüdischer Herkunft hinzuzählt, die in die Einzelparlamente der deutschen Länder – etwa in Preußen, Österreich, Bayern, Sachsen-Anhalt, Frankfurt, Hamburg, Lübeck u.a. – gewählt wurden, wird einerseits deutlich, dass diese Politiker auch unter nichtjüdischen Wählern Mehrheiten finden konnten. Andererseits ist bemerkenswert, dass sie sich auf nahezu das gesamte politische Spektrum verteilten, welches sich erst während und nach der Revolution allmählich in ein Parteiensystem verfestigen sollte. Eine kleine Gruppe von Abgeordneten, die zwar jüdischer Herkunft waren, sich allerdings in der Regel nicht mehr zum Judentum bekannten, saß auf der konservativen Rechten. Unter ihnen war sicherlich der Staatsrechtler und politische Theoretiker Friedrich Julius Stahl am prominentesten, der, aus einer jüdischen Familie stammend, 1819 zum lutherischen Protestantismus konvertiert war und nach der Revolution im Preußischen Oberhaus saß. Seine Theorie des »christlichen Staates«, die für die Ausübung staatlicher Hoheitsrechte ein christliches Bekennt-
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nis voraussetzte und Juden davon ausschloss, wurde grundlegend für die politische Ideenwelt des deutschen Konservatismus. Eine größere Gruppe von Abgeordneten befand sich im radikalliberalen und demokratischen Lager mit so einflussreichen Figuren wie Johann Jacoby, dem Bankier Ludwig Bamberger, dem Juristen August Heinrich Simon (1805-1860) oder dem Arzt Adolf Fischhof (1816-1893), der in Wien eine herausragende Rolle in der revolutionären Bewegung einnahm. Das gemäßigt liberale Lager besaß die meisten Abgeordneten jüdischer Herkunft, unter denen Riesser und Simson die bekanntesten Vertreter waren. Hinzu kamen die bereits erwähnten jüdischen oder konvertierten Repräsentanten des frühsozialistischen Lagers, das im Umfeld der Revolution bekannter wurde und durch die verstärkt einsetzende Industrialisierung und die allmähliche Entstehung eines Proletariats langfristig an Einfluss gewann. Das politische Interesse der jüdischen Gesamtbevölkerung nahm zwar während der Revolution zu; dennoch darf hier vermutet werden, dass der Hang zu konservativen oder zumindest gemäßigt liberalen Haltungen weiterhin ausgeprägt war. Selbst religiös-orthodoxe Kreise der deutschen Juden, die den revolutionären Bestrebungen in der Regel skeptisch gegenüber standen, kamen aber nicht umhin, ihre Überzeugungen in der politisierten Öffentlichkeit zu artikulieren, worauf orthodoxe Zeitschriften wie Der Treue Zionswächter hinweisen. Gleichzeitig muss erwähnt werden, dass es in sehr assimilierten Kreisen der jüdischen Wirtschafts- und Finanzelite tiefe Skepsis gegenüber den politischen Ideen der Revolution gab. Grundsätzlich beförderte die Revolution bei den meisten Juden die Identifikation mit der deutschen Nation und damit den Willen, sich als Teil eines politischen Gemeinwesens zu verstehen. Letztlich wurde deshalb die Forderung nach der Einheit Deutschlands nicht nur unter den politischen Aktivisten, sondern bei vielen Juden immer populärer. Die Revolution erschien Juden auch deshalb attraktiv, weil sie den entscheidenden Schritt zur Emanzipation versprach: Die revolutionären Kräfte forderten die rechtliche und politische Gleichstellung aller Staatsbürger ohne Beachtung der religiösen Be-
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kenntnisse. Allerdings waren entsprechende Fortschritte nicht einfach zu erreichen. In Österreich etwa erklärte die Verfassung vom 25. April 1848 die Gleichstellung aller Religionsbekenntnisse, überlies es aber dem Reichstag die noch existierenden rechtlichen Beschränkungen für die Juden aufzuheben. Erst die österreichische Reichsregierung erließ mit der neuen Verfassung vom 4. März 1849 die Gleichstellung der Juden. Auch in anderen deutschen Staaten war die Situation während der Revolution kompliziert. Während in einigen kleineren Staaten die volle Emanzipation der Juden erreicht wurde, schafften dies in Preußen, wie in Österreich, nicht die revolutionären, sondern die konterrevolutionären Kräfte: hier in der erlassenen Verfassung vom Dezember 1848. In Baden sollten die politischen Rechte der Juden weiterhin nicht auf kommunaler Ebene gelten. In anderen Staaten wartete man auf eine entsprechende Lösung der Frage durch das Frankfurter Nationalparlament. Der Artikel 5 der Grundrechte des deutschen Volkes, die am 27. Dezember 1848 als Reichsgesetz von der Nationalversammlung verkündet wurden, sah die Verleihung der staatsbürgerlichen Rechte an alle unabhängig vom religiösen Bekenntnis vor. Am 28. März 1849 trat die Reichsverfassung der Nationalversammlung in Kraft, die von vielen kleineren Einzelstaaten nicht nur gebilligt, sondern oft auch in deren eigenen Verfassungstext übernommen wurde. Jedoch scheiterte die Revolution, die Reichsverfassung verlor ihre Gültigkeit und 1851 wurden auch die Grundrechte außer Kraft gesetzt. Schon während der Revolutionswirren hatten die Juden aber auch Anlass zur Sorge; schließlich kam es zu den gewalttätigsten Ausschreitungen gegen sie seit den »Hep-Hep«-Krawallen 1819. Von Februar bis April 1848 ereigneten sich antijüdische Übergriffe und Plünderungen an mind. 180 Orten, die vor allem im Kraichgau und im Odenwald sehr massiv waren, aber auch in Franken, Württemberg, Westfalen und Oberschlesien vorkamen. Diese Unruhen brachen häufig in ländlichen Regionen mit einem vergleichsweise hohen jüdischen Bevölkerungsanteil aus und lassen sich als ein lokaler Protest gegen die wirtschaftlichen und sozialen Erfolge der
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Juden sowie gegen ihre Emanzipationsbemühungen begreifen. Allerdings waren derartige antjüdische Ausschreitungen zeitlich begrenzt auf die Frühphase der Revolution. Begleitet wurden sie durch eine antijüdische Propaganda in Flugblättern, Pamphleten und Zeitungen. Die jüdische Presse berichtete zwar über die antijüdischen Ausschreitungen, vermied jedoch durchgehend ihnen besonderes Gewicht zu verleihen. Letztlich sah man hierin gelegentliche »Tölpeleien«, wie sie der bekannte jüdische Schriftsteller Berthold Auerbach (1812-1882) bezeichnete, mithin vereinzelte Aktionen, die aus einer überkommenen Zeit stammten. Die politische Lage der Juden nach der Revolution Nach der Revolution begann eine neuerliche Phase der rechtlichen Beschränkungen für Juden. So wurde in der veränderten Verfassung Preußens vom 31. Januar 1850 mit dem Artikel 14 das christliche Bekenntnis zur Staatsreligion erklärt, was mit der konservativen Ideologie vom christlichen Staat gerechtfertigt wurde. Trotz solcher Rückschläge war die Revolution in rechtlicher und politischer Hinsicht letztlich nicht folgenlos: Die Frage der Judenemanzipation war nach 1848 im Prinzip entschieden; eine vollständige Rückkehr zum rechtlosen Zustand war selbst für die beharrlichsten Gegner dieser Gesetzgebung nicht länger denkbar. Trotz der antijüdischen Gewaltakte während der Revolution und obwohl die Frankfurter Nationalversammlung und damit die Revolution von 1848/49 erfolglos blieb, verstärkte die Erfahrung der politischen Teilhabe aufseiten vieler Juden außerdem ihr Bündnis mit der liberalen Bewegung, die ihre politischen Hoffnungen am ehesten zu erfüllen schien. Die neuerlichen rechtlichen Einschränkungen waren außerdem nur von kurzer Dauer. In einigen kleineren Staaten wie z.B. Oldenburg oder Bremen wurden die Juden bereits in den 1850erJahren gleichberechtigt. In anderen Staaten verbesserte sich in dieser Phase schrittweise ihre rechtliche Situation. Schon in den 1860er-Jahren erhielten liberale und demokratische Kräfte wieder
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mehr Einfluss, sowohl im politischen System wie auch in der öffentlichen Meinung. Zudem hatte sich die soziale und wirtschaftliche Lage vieler Juden grundlegend verändert, waren sie doch im mittleren Jahrhundertdrittel in großer Zahl in die bürgerlichen Schichten aufgestiegen, was ihre Ansprüche auf politische Partizipation noch berechtigter erscheinen ließ. Die Emanzipationsgegner verloren spätestens jetzt eines ihrer wichtigsten Argumente, nämlich dass die Juden vor ihrer rechtlichen Gleichstellung erst bürgerlich verbessert werden mussten. Nun erschien es nahezu allen politischen Entscheidungsträgern als notwendige Voraussetzung eines modernen Staats, die rechtliche Gleichstellung aller Staatsbürgern unabhängig von ihrem religiösen Bekenntnis zu gewähren. Die politische Entwicklung verlief parallel zur rechtlichen: Das nach der Revolution einsetzende Zeitalter der »Reaktion« 1848/49-1857 schränkte die politischen Gestaltungsmöglichkeiten der Juden zunächst wieder ein. Für die weitere politische Entwicklung entscheidend war jedoch das Bündnis von Liberalen und Juden, das sich bereits im Vormärz allmählich herausgebildet hatte, aber nun immer wichtiger wurde. Ohne dies mit Zahlen belegen zu können, lässt sich davon ausgehen, dass sich eine Mehrheit der jüdischen Wähler in den 1860er-Jahren den liberalen Parteien, bis 1866 der Fortschrittspartei, danach der Nationalliberalen Partei zuwandte. Dabei spielte die Hoffnung, mit den liberalen Kräften die letzten rechtlichen Barrieren zur vollen Gleichberechtigung überwinden zu können, eine große Rolle. Die politischen Aspirationen vieler Juden orientierten sich seit Mitte der 1860er-Jahre an der Realpolitik der meisten Liberalen, die sich allmählich mit der Idee einer Vereinigung Deutschlands unter Führung Preußens und Ausschluss Österreichs aussöhnten, für die der spätere Reichskanzler Otto von Bismarck stand. Diese sogenannte kleindeutsche Lösung stellte für viele Juden kein Problem dar, bot doch eine Allianz zwischen Bismarck und den Liberalen für sie die Chance, nicht mehr in der Opposition zur Regierung zu stehen, sondern die Entwicklung hin zur Einheit mitzugestalten. Gleichwohl meldeten sich vor allem unter den
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süddeutschen Juden auch Vorbehalte gegen den preußischen Kurs. Zudem existierte stets ein kleinerer Kreis überzeugter Bismarck-Kritiker im linksliberalen Lager, zu dem auch einige prominente Juden wie Jacoby oder der Frankfurter Zeitungsverleger Leopold Sonnemann (1831-1909) gehörten. Seit der um 1858 einsetzenden Liberalisierung des politischen Klimas in den deutschen Staaten vergrößerte sich der politische Handlungsspielraum für jüdische Politiker: In der nun anbrechenden »Neuen Ära« saßen Juden wieder vermehrt in den Parlamenten oder waren in den Kommunen politisch aktiv. Der Gründungsaufruf zum Deutschen Nationalverein wurde 1859 von 13 Juden unterzeichnet und dessen erste Versammlung in Coburg besuchten 16 jüdische Delegierte; dort wurden mit Riesser und Moritz Veit (1808-1864) zwei Juden in den Vereinsvorstand gewählt. Der Nationalverein setzte sich für die Gleichberechtigung der Juden ein. Die 1861 gegründete Deutsche Fortschrittspartei hatte jüdische Führungspersönlichkeiten wie Bamberger und Heinrich Bernhard Oppenheim (1819-1880) in ihren Reihen, die beide zusammen die dem Nationalverein nahestehenden Deutschen Jahrbücher für Politik und Literatur herausgaben. In rechtlicher Hinsicht kam es in diesem Zeitraum zu entscheidenden Verbesserungen: Die Juden in Hamburg wurden durch die neue Verfassung von 1860 gleichberechtigt; Württemberg folgte 1861-64. Bayern hob 1861 das Matrikelgesetz auf und Baden beseitigte 1862 alle restlichen Beschränkungen auf kommunaler Ebene. In Preußen allerdings kam es zu keiner abschließenden Emanzipationsgesetzgebung, die man einer nationalen Gesamtlösung überließ: Im Norddeutschen Bund wurden 1869 alle noch bestehenden rechtlichen Einschränkungen aufgrund von Religionszugehörigkeit aufgehoben. Nach der Gründung des Kaiserreiches 1871 wurde diese Regelung dann als Reichsgesetz übernommen. Zwar gab es auch danach Benachteiligungen und Diskriminierungen gegen Juden, etwa im Militär, in der Verwaltung oder den Universitäten. Diese waren aber nach 1871 nicht mehr durch eine rechtliche Grundlage abgesichert. Der Kampf um die rechtliche Gleichstellung der Juden war damit nach fast
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einem Jahrhundert beendet; die »Judenfrage« war in ihrer rechtlich-politischen Dimension geklärt – allerdings wurde sie nur wenige Jahre später durch eine neue Welle des Antisemitismus wieder aufgeworfen. Insgesamt war in der Phase von Emanzipation, Revolution und Reichsgründung das politische Engagement der Juden oft eng mit dem Eintreten für jüdische Belange verknüpft. Zunächst manifestierte sich dies im Kampf um die rechtliche und politische Emanzipation der Juden; im noch zu behandelnden Kaiserreich übernahm der Kampf gegen Antisemitismus diese Funktion. Nicht nur am Beispiel Riessers lässt sich behaupten, dass das Engagement für jüdische Interessen lange Zeit den Ausgangspunkt für eine Politikerkarriere bildete. Damit ist aber zugleich die grundlegende Frage nach dem Verhältnis von »allgemeiner deutscher« und »jüdischer« Politik aufgeworfen. In der Rhetorik des Vormärz und insbesondere der 1848er-Revolution wurde eine enge Verknüpfung zwischen der allgemeinen Liberalisierung und Demokratisierung der Gesellschaft einerseits und der Emanzipation der Juden andererseits hergestellt. Paradigmatisch brachte dies Jacoby zum Ausdruck: »Wie ich selbst Jude und Deutscher zugleich bin, so kann in mir der Jude nicht frei werden ohne den Deutschen, und der Deutsche nicht ohne den Juden.«1 Genau auf dieser Kombination politischer Forderungen basierte die »Weggemeinschaft« (Jacob Toury) von Juden und Liberalen, die sich bereits im Vormärz angedeutet hatte, aber dann vor allem nach 1848 und im Kaiserreich zum Tragen kam. Dass die Rhetorik der universellen Gleichheit, in der die Freiheit der christlichen und der jüdischen Deutschen auf eine Stufe gestellt werden konnte, ihre eigenen Aporien entwickeln würde, wurde dabei erst allmählich klar.
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Brief Jacobys an Küntzel vom 12.5.1837, in: Gustav Mayer, Liberales Judentum im Vormärz. Zwei Briefe Johann Jacobys, in: Der Jude (1917), S. 667-677, hier: S. 676.
Kaiserreich Die deutsche Reichseinigung 1870/71, die durch Bismarcks Machtpolitik mit den Feldzügen gegen Österreich und gegen Frankreich möglich geworden war, wurde von vielen Juden begrüßt. Allerdings existierte unter ihnen auch Zweifel über die preußische Vorherrschaft im neuen Staat; schließlich hatte sich Preußen nach 1812 nicht gerade als Vorkämpfer für die jüdische Gleichberechtigung erwiesen. Die »Allgemeine Zeitung des Judenthums« bemühte im Januar 1871 einen Vergleich mit der Situation, in der sich die Juden am Ende des alten Deutschen Reiches 1806 befunden hatten und entdeckte viel Lobenswertes in der Gegenwart. Gleichzeitig zeigte sich der Leitartikler skeptisch gegenüber Preußen. Dessen ungeachtet sollten sich jedoch auch die Juden »ungehindert« der »freudigen Empfindung über diesen Neubau des Vaterlandes« hingeben.1 Es fanden sich in der Tat immer weniger Juden, die wie Jacoby prinzipiell gegen den Norddeutschen Bund sowie die kleindeutsche Reichseinigung eingestellt waren und Bismarcks Machtpolitik grundsätzlich misstrauten. Häufiger beruhigten sich die Skeptiker unter den Juden mit der Hoffnung, dass im neuen konstitutionellen Nationalstaat Preußens Hegemonie eingedämmt werden und auch gerade für sie ein Zeitalter neuer Freiheiten anbrechen könnte. In der Tat bildete die Reichsgründungsphase von 1866/7 bis 1878/79 die einzige historische Zeitspanne, in der die politischen Aspirationen der deutschen Juden mit denen einer Mehrheit der politisch aktiven Bevölkerung große Übereinstimmung besaßen. Der Normalfall der politischen Entwicklung war jedoch, dass sich die politische Interessenlage der jüdischen Bevölkerung von denjenigen in der Mehrheitsgesellschaft unterschied. 1871 schienen sich die Hoffnungen der deutschen Juden in den neuen Staat also zunächst zu erfüllen. Das Kaiserreich bot nicht 1
Allgemeine Zeitung des Judenthums vom 17. Januar 1871, S. 42.
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nur den Rahmen für eine bemerkenswerte soziale und wirtschaftliche Erfolgsgeschichte der deutschen Juden, die sich in ihrer großen Mehrheit eine gesicherte wirtschaftliche Existenz in der Mittelschicht erkämpft und in die bürgerliche Kultur integriert hatten sowie sehr erfolgreich am Wirtschafts-, Geistes- und Wissenschaftsleben des Kaiserreiches teilnahmen. Zugleich eröffnete das Kaiserreich neue politische Möglichkeiten: Die rechtliche Gleichstellung war vollzogen; (männliche) Juden bekamen das Wahlrecht, sowohl für die Länder als auch für den Reichstag, wobei sich die Wahlrechtsformen unterschieden. Die Reichstagssitze wurden in einer absoluten Mehrheitswahl der männlichen Erwachsenen in fast 400 Wahlkreisen vergeben, während etwa für den Preußischen Landtag noch das Dreiklassenwahlrecht galt und dort die wohlhabenden bürgerlichen Wähler größeren Einfluss besaßen. Frauen – Jüdinnen wie Nichtjüdinnen – besaßen nirgendwo das Wahlrecht und blieben vom politischen Prozess weitgehend ausgeschlossen; dagegen begehrten sie in der ersten Frauenrechtsbewegung auf, worauf noch zurückzukommen sein wird. Für jüdische Wähler gab es insbesondere bei Stichwahlen, die für ein Reichstagsmandat immer dann notwendig wurden, wenn zuvor in dem Wahlkreis kein Kandidat die erforderliche absolute Mehrheit erreicht hatte, Einwirkungsmöglichkeiten. Zugleich konnten für sie in solchen Situationen schwierige Entscheidungen anstehen, etwa wenn Wahlbündnisse zwischen (national)liberalen und konservativantisemitischen Kandidaten geschmiedet wurden. Langfristig wirkte sich die Einführung des allgemeinen Wahlrechts auf die politische Repräsentanz der Juden durchaus negativ aus, da der Liberalismus keine demokratische Massenbasis mobilisieren konnte. Undemokratische Wahlrechtsformen wie das Dreiklassenwahlrecht begünstigten dagegen tendenziell die politischen Kandidaten der bürgerlichen Mittelschichten, sodass dort, wo ein solches Wahlrecht weiter existierte, der Liberalismus stark blieb und damit auch der Einfluss der jüdischen Wähler höher ausfiel. Generell darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass der relative Anteil der jüdischen Wählerschaft an den Wahl-
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ergebnissen gering war und blieb. Der jüdische Anteil an der Gesamtbevölkerung sank von 1,3 Prozent 1871 auf 1,0 Prozent 1912 und entsprechend geringer wurde auch die jüdische Wählergruppe. Nur für bestimmte Parteien in bestimmten Wahlkreisen – solche in Großstädten mit einer Mehrheit für die Freisinnige Partei oder die SPD – konnte der jüdische Stimmenanteil überhaupt beachtenswert sein. Allerdings modifizierte sich auch im Verlauf der Geschichte des Kaiserreiches das Bild leicht, wenn man sich einzelne Lokalitäten anschaut: Vor dem Ersten Weltkrieg lebte 38 Prozent der jüdischen Bevölkerung in den sechs größten Städten Berlin, Hamburg, Frankfurt am Main, Breslau, Köln und München; davon allein 23 Prozent in Groß-Berlin. Diese Tendenz zur Großstadt sollte bis in die NS-Herrschaft anhalten und sich sogar beschleunigen. In Berlin, Frankfurt, Breslau, Köln und zudem noch Düsseldorf konnten so die jüdischen Wähler der liberalen Parteien bei Reichstagswahlen noch einen gewissen Einfluss auf das Ergebnis behalten, besonders bei Stichwahlen. Die jüdische Wählerschaft Über das gesamte Kaiserreich von 1871 bis 1918 blieben die politischen Orientierungen der Juden weitgehend stabil. Der größte Anteil der Juden lässt sich dem liberalen Lager zuordnen, wobei sich im Verlaufe des Kaiserreiches eine Wählerwanderung vom National- zum Linksliberalismus beobachten lässt. Nach der politischen Wende von 1878/79 war die Nationalliberale Partei für viele Juden unattraktiv geworden, nicht zuletzt da sie durch ihre Wende nach rechts ein zunehmend ambivalentes Verhältnis zum Antisemitismus pflegte. Das linksliberale Lager zersplitterte sich allerdings, als sich 1893 die Freisinnige Partei in die rechtsliberale Freisinnige Vereinigung und die linksliberale Freisinnige Volkspartei spaltete. Das konservative Lager, das in der Historiographie zum deutschen Judentum bisher zu wenig Beachtung fand, blieb für einige
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Juden durchaus wählbar. Wie man anhand von Autobiographien und Erinnerungen rekonstruieren kann, entstand spätestens seit Beginn des Kaiserreiches eine Schicht konservativer und nationalistischer Juden. Unter ihnen gab es einige, die politisch konservative Vorstellungen leichter mit ihrem orthodoxen Judentum vereinbaren konnten. Andere vertraten monarchistische Einstellungen und wiederum andere entwickelten sich zu glühenden Nationalisten, die sich von allen antisemitischen Ausgrenzungstendenzen auf der politischen Rechten nicht irritieren ließen. Ihre politische Heimat fanden nicht wenige von ihnen während des Kaiserreiches in der Nationalliberalen Partei, auch nachdem sich diese nach rechts bewegte. Besonders unter Juden aus süddeutschen Ländern blieben diese Partei und ihre Nachfolger selbst über das Kaiserreich hinaus eine politische Option. Zugleich fand im frühen Kaiserreich die Freikonservative Partei bei einigen dieser Juden Anklang, vor allem bei denjenigen, die in die Oberschicht aufgestiegen waren. Für die Konservative Partei konnten sich Juden allerdings nur in geringem Umfang begeistern. Auch das neu entstehende katholische Zentrum war für Juden im Kaiserreich kaum attraktiv. Die Beziehungen zur Partei des politischen Katholizismus blieben belastet, obwohl es durchaus Gegner des Antisemitismus in der politischen Führung der Partei gab. Seit Bischof Wilhelm von Ketteler war es aber immer wieder zu antisemitischen Attacken von Bischöfen gekommen, in Teilen der katholischen Presse, allen voran der Germania und vielen Lokalblättern, herrschte eine antisemitische Stimmung vor und katholische Polemiken gegen den Talmud wiederholten sich regelmäßig – all dies stellten keine vertrauensbildende Maßnahmen für jüdische Wähler dar. Dennoch existierten unter der jüdischen Landbevölkerung und in der Orthodoxie gelegentlich Sympathien für diese Partei, vor allem weil man in diesen Kreisen dem Liberalismus skeptisch gegenüberstand. In einigen östlichen Gebieten, etwa in Posen und Schlesien, aber auch in Bayern und im Rheinland konnte es zudem durchaus passieren, dass Juden den Zentrums-Kandidaten bevorzugten, um nicht für einen konservativen Antisemiten stimmen zu müssen.
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Teile des linksliberalen, Bismarck-kritischen Lagers besaßen schon in der Reichsgründungsphase fließende Übergänge zu den Sozialisten und Sozialdemokraten, die in der Politikgeschichte der deutschen Juden langsam an Bedeutung gewannen. Unter den aktiven jüdischen oder konvertierten Politikern gehörten ca. 15 Prozent in der Reichsgründungsphase dem sozialdemokratischen Umfeld an, aus dem 1875 die spätere Sozialdemokratische Partei Deutschlands entstand. Ob ein ähnlicher Anteil der gesamten jüdischen Wählerschaft den Sozialisten zuneigte, darf allerdings für diese Zeit bezweifelt werden. Der hohe Grad der Verbürgerlichung unter den Juden dürfte hier gegen ein größeres Wählerpotential sprechen, zumal es unter ihnen kein nennenswertes landwirtschaftliches oder industrielles Proletariat gab. Wie bereits erwähnt, entstammten einige Anführer des Sozialismus und Kommunismus dem Judentum. Neben Motiven der sozialen Gerechtigkeit und der Freiheitsliebe, die sicherlich durch die Unrechtserfahrungen einer Minderheit geschärft wurden, tauchen in den Biographien vieler Sozialisten jüdischer Herkunft Ideale eines Weltbürgertums und des Internationalismus auf. Eduard Bernstein etwa beschrieb seine Hinwendung zum Sozialismus mit entsprechenden Formulierungen; er erwähnte aber auch die sozialen Probleme in der Gründerkrise ab 1873/74 sowie den aufkommenden Antisemitismus ab 1878/79, der nur durch den Sozialismus wirksam zu bekämpfen sei. Das extreme linke Lager wirkte jedoch in der Reichsgründungsphase nur auf wenige Intellektuelle jüdischer Herkunft anziehend. Viele jüdische Wähler standen auch im späteren Kaiserreich der SPD skeptisch gegenüber. Dennoch wuchs in der wilhelminischen Phase das jüdische Wählerpotential der SPD langsam an, gerade unter den Intellektuellen und im jüdischen Angestelltenmilieu der größeren Städte. Bereits seit den späten 1880er-Jahren veröffentlichten jüdische Zeitungen – zunächst verklausuliert, dann auch offen – Wahlempfehlungen für sozialdemokratische Kandidaten. Nach der Jahrhundertwende wurde es dann in der jüdischen Presse als Faktum konstatiert, dass jüdische Wähler in größerem Umfang der SPD ihre Stimme gaben. Der SPD half
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dabei auch die Vertrauenskrise zwischen dem Linksliberalismus und den jüdischen Wählern, die 1903 durch erste lokale Wahlabkommen der Freisinnigen mit antisemitischen Kandidaten ausgelöst und insbesondere durch die Bildung des Bülow-Blocks 1907 verschärft wurde: ein Wahlbündnis, das nach dem Reichskanzler Bernhard von Bülow (1849-1929) benannt war und Linksliberale, Nationalliberale und Konservative – darunter auch antisemitische Kräfte – gegen die SPD und das Zentrum verband. Da die antisemitischen Kandidaten große Erfolge bei dieser Wahl feierten und jüdischen Wählern, die vor einer Unterstützung der SPD zurückschreckten, die Optionen ausgingen, kam es in der Folgezeit auch zu einem Anstieg der jüdischen Nichtwähler, sodass in der jüdischen Presse zunehmend Klagen über einen Rückzug aus der Politik ins Private auftauchten. Andere Alternativen, die diskutiert wurden, lauteten: eine Annäherung an das katholische Zentrum oder eine eigene jüdische Partei, was aber angesichts des geringen jüdischen Anteils an der Wahlbevölkerung wenig erfolgversprechend war. Gegen Ende des Kaiserreiches kann man insgesamt davon ausgehen, dass zwei Drittel der jüdischen Wähler linksliberal wählten und das restliche Drittel zur Hälfte die Sozialdemokratie unterstützte, während die andere Hälfte vornehmlich aus nationalliberalen und Zentrums-Wählern bestand. Die jüdischen Parlamentarier Bei den aktiven jüdischen Parlamentariern zeigten sich während des Kaiserreiches von der Tendenz her ähnliche Entwicklungen, wenn diese auch stärker ausgeprägt waren. Von 1867 bis 1878 zogen 15 jüdische Politiker – sieben weitere Abgeordnete waren jüdischer Herkunft, aber getauft – in den deutschen Reichstag ein. Allein im Reichstag von 1874 saßen sieben Juden und vier getaufte Personen jüdischer Herkunft – eine Zahl, die erst 1912 wieder erreicht werden sollte. 39 weitere Abgeordnete jüdischer Herkunft kamen für die verschiedenen Landtage hinzu. Die meisten
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dieser Parlamentarier nahmen auf den Bänken der Links- wie der Nationalliberalen Platz; zu diesem Zeitpunkt gehörten nur Einzelne wie der sächsische Abgeordnete Max Kayser (1853-1888) oder ab 1872 Johann Jacoby der Sozialdemokratie an. In den konservativen Parteien (Reichspartei, Freikonservative Partei) gab es einige getaufte Personen jüdischer Herkunft, so etwa den Eisenbahnunternehmer Bethel Henry Strousberg (1823-1884), der allerdings kaum politische Aktivitäten im Reichstag entwickelte, oder den Unternehmer und Juristen Carl Rudolph Friedenthal (1827-1890), der den Freikonservativen nahestand und 1874 preußischer Landwirtschaftsminister wurde. Generell war das politische Profil solcher Konvertiten rechtslastiger im Vergleich zu den Juden. Allerdings darf man von dieser Regel nicht ableiten, dass die rechten oder konservativen Parteien nur für Getaufte attraktiv waren. Gelegentlich hegten Juden wie der Bankier und BismarckVertraute Gerson Bleichröder (1822-1893) Sympathien für die Konservativen, in diesem Fall für die Freikonservativen. Über viele der prominenten Juden unter den Liberalen im frühen Kaiserreich – so etwa den Juristen und nationalliberalen Parteiführer Eduard Lasker (1829-1884), den Publizisten und Fortschrittler Max Hirsch (1832-1905), Ludwig Bamberger oder Heinrich Bernhard Oppenheim – lässt sich sagen, dass sie sich nur selten direkt für jüdische Belange einsetzten und nur wenige Verbindungen zu den jüdischen Gemeinden besaßen. Ihr Jüdischsein war für sie eine Privatangelegenheit, was sich z.T. erst ändern sollte, als der Antisemitismus zum Ende der 1870er-Jahre öffentlich sichtbar wurde. Hierbei spielte natürlich eine Rolle, dass sie sich als Politiker, die von einer nichtjüdischen Mehrheit in ihrem Wahlkreis aufgestellt und gewählt wurden, nicht zuerst als Vertreter der Juden präsentieren konnten. Ganz generell konnte im politischen Prozess der Vorwurf schwer wiegen, vermeintliche Partikularinteressen dem Allgemeinwohl vorzuziehen. Hierin lag ein Dilemma für jüdische Politiker, das erst unter den Bedingungen gleichberechtigter Teilhabe am politischen Geschehen allmählich offenbar wurde und das auch auch über das Kaiserreich hinaus wirksam blieb.
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Wenn antisemitische Vorwürfe lauter wurden, konnte ein liberaler jüdischer Parlamentarier allerdings seine Verteidigung der Juden zumindest damit rechtfertigen, dass er so auch eine Lanze für den Liberalismus brach – und ergo, aus seiner Sicht, für das Allgemeinwohl. Schließlich griffen Antisemiten oft genug Juden und Liberale zusammen an. Bei einer Konzeption des politischen Allgemeinwohls, die auf einem scharfen Gegensatz zu – wie auch immer definierten – nationalen, ethnischen, sozialen, geschlechtlichen etc. ›Partikularismen‹ basierte, blieb das Problem politischer Repräsentanz jedoch bestehen. Trotz der antisemitischen Wellen blieb daher die Gründung einer jüdischen Partei undenkbar, selbst wenn ein entsprechendes Wählerpotential vorhanden gewesen wäre. Zwar gab es vereinzelt Diskussionen darüber, aber solche Vorschläge scheiterten nicht zuletzt an dem so verstehbaren Unwillen der Juden selbst, sich als eigenständige Minderheit mit einer politischen Agenda zu verstehen. Im späteren Kaiserreich verschoben sich die Schwerpunkte der aktiven jüdischen Politik etwas stärker, als dies bei der jüdischen Wählerschaft der Fall war. Ab 1893 wurde kein Jude mehr für das bürgerlich-liberale Lager in den Reichstag entsandt, allerdings einige getaufte Politiker jüdischer Herkunft. Erst 1912 zogen mit Ludwig Haas (1875-1930) und Felix David Waldstein (1865 o. 18661943) wieder zwei Juden für die Linksliberalen in den Reichstag ein. Für die Nationalliberalen und zeitweise auch für die Linksliberalen stellte eine Kandidatur eines bekennenden Juden offenkundig ein Risiko an der Wahlurne dar, das sie lieber vermeiden wollten, zumindest bei den Reichstagswahlen. Hingegen wurden 1893 für die Sozialdemokratie drei jüdische und ein getaufter Politiker gewählt, darunter der Fabrikant und spätere SPD-Vorsitzende Paul Singer (1844-1911), der ab 1884 für 27 Jahre ein Reichstagsmandat besaß. Bei der Wahl von 1912 kamen insgesamt zwanzig jüdische Abgeordnete bzw. Abgeordnete jüdischer Herkunft in den Reichstag – die höchste Zahl während des Kaiserreichs. Von ihnen waren die meisten ebenfalls Sozialdemokraten. Generell hatte der Anteil von Sozialdemokraten unter den jüdischen Politikern zwischen 1867 und 1878 bei 15 Prozent gelegen,
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1892 stieg er auf 19 Prozent und bis zum Ersten Weltkrieg sogar auf 39 Prozent. Diese Tendenz zur Sozialdemokratie unter jüdischen Politikern verweist aber wahrscheinlich weniger auf ein entsprechendes jüdisches Wählerpotential, das wegen ihnen ihre Stimme der SPD gab oder geben sollte, als vielmehr auf die größere Bereitschaft der SPD, bei der Kandidatenaufstellung das jüdische Bekenntnis für irrelevant zu halten. Eine Kandidatur eines Juden bedeutete aber keineswegs ein markanteres Eintreten für jüdische Interessen, obwohl sich erstaunlich viele jüdische Sozialdemokraten zu ihrem Judentum bekannten und nicht konvertierten. Eduard Bernstein, der sogar Sympathien für den Zionismus entwickelte, war hier eher eine Ausnahme. Ihm gegenüber stand etwa Singer, der nur selten in die Debatten über Antisemitismus eingriff und damit eher den sozialdemokratischen Normalfall darstellte. Interessant ist in diesem Kontext der umgekehrte Fall des freisinnigen Politikers Otto Mugdan (1862-1925), der ab 1903 im Reichstag saß und auch noch in der Weimarer Republik politisch aktiv war. Er hatte sich vor seiner Kandidatur taufen lassen – eine Tatsache, die seine Partei, die Freisinnige Volkspartei, deutlich herausstellte und die zu einer lebhaften Debatte unter Juden führte, ob sie ihn trotz seines neuen Bekenntnisses wählen sollten. Unter den jüdischen Landtagsabgeordneten war die Tendenz zur SPD, die sich im Laufe des Kaiserreichs ergab, weniger ausgeprägt, da z.B. das Dreiklassenwahlrecht in Preußen die SPDKandidaten in der Regel benachteiligte. Von den insgesamt 57 jüdischen Abgeordneten der verschiedenen Landtage zwischen 1893 und 1916 entfielen nur 13 auf die SPD; die restlichen gehörten meistens den linksliberalen und nur manchmal den nationalliberalen Fraktionen an. Auf der kommunalen Ebene war der Anteil von Juden wesentlich markanter als auf der Landes- oder Reichsebene, wobei sich hier – wo es, wie in Preußen, existierte – das Dreiklassenwahlrecht auswirkte. Dadurch waren in deutschen Städten, in denen Juden einen bestimmten Bevölkerungsanteil überstiegen, in der Regel auch jüdische Stadtverordnete zu finden. Die Gesamtzahl von
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jüdischen Stadtverordneten und -räten wird auf deutlich über 1000 geschätzt; exakte Angaben sind schwierig, weil die jüdischen Zeitungen gerade wegen der Häufigkeit solcher politischer Karrieren aufhörten, darüber im Einzelnen zu berichten. Die Mehrzahl der jüdischen Stadtverordneten und -räte hing den freisinnigen Parteien an. Schwerpunkte dieser jüdischen Kommunalpolitik waren die preußischen Großstädte Berlin und Breslau sowie die preußischen Ostgebiete Posen und Westpreußen, wo es z.T. einen von der Verwaltung festgelegten Nationenproporz gab, der den Juden ein Drittel der Posten einräumte. Die Kommunalpolitiker standen den jüdischen Gemeinden in der Regel sehr nahe; oft hatten sie als herausragende lokale Honoratioren neben ihrem kommunalen auch ein Vorstandsamt in der Religionsgemeinde inne. Auf Reichsebene war dies unter den Politikern zwar seltener der Fall, aber doch im späten Kaiserreich wesentlich häufiger als in der Reichsgründungsphase. Hierfür war Ludwig Haas, der als erster jüdischer Abgeordnete 1912 wieder für den Freisinn in den Reichstag einzog, ein gutes Beispiel: Er war bereits an der Gründung einer jüdischen Studentenverbindung beteiligt gewesen, hatte in der Vereinigung badischer Israeliten mitgewirkt und sollte in der Weimarer Republik auch im Vorstand des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C.V.) sitzen. Eine gestiegene Bereitschaft, sich in der politischen Arena als Jude zu betätigen, die sich u.a. im C.V. zeigte, begann sich allmählich auf allen politischen Ebenen auszuwirken. Juden in Politik und Öffentlichkeit Öffentliche Staatsämter hatten nur wenige Juden inne. Obwohl ungetauft, bekleidete Moritz Ellstätter (1827-1905) von 1868 bis 1893 das Amt des Finanzministers in Baden und war damit nicht nur der erste, sondern bis 1918 auch der einzige Jude im Ministerrang. In Preußen erhielten darüber hinaus zwei Konvertiten jüdischer Herkunft Ministerwürden: Der freikonservative Parlamentarier Friedenthal war Landwirtschaftsminister von 1874 bis
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1879 und Heinrich von Friedberg (1813-1895) Justizminister von 1879 bis 1889. Im prestigeträchtigen diplomatischen Dienst war es für Juden schwierig, sodass eine Karriere dort nur Wilhelm Cahn (1839-1920) gelang, der zunächst im diplomatischen Dienst Bayerns beschäftigt war und dann 1874 ins Auswärtige Amt (mit dem höchsten Amt des Geheimen Legationsrats) eintrat. Die einflussreichsten Juden in der deutschen Politik dieser Phase dürften aber – neben dem Bismarck-Vertrauten Bleichröder – Lasker und Bamberger gewesen sein, die zusammen mithalfen, die Grundlagen für das wirtschaftliche und politische System des Kaiserreiches zu legen. Lasker war sowohl im Reichstag als auch im Preußischen Landtag der wichtigste Gegenspieler Bismarcks und war an vielen Gesetzesvorhaben (insbesondere beim Wahl- und Budgetrecht für den Reichstag) entscheidend beteiligt, während Bamberger als Wirtschaftsfachmann maßgeblich an der Gründung der Reichsbank und an der Schaffung der Reichsmark mitwirkte. Im späteren Kaiserreich standen vor allem die oft spöttisch als »Kaiserjuden« titulierten Persönlichkeiten des kaisertreuen Lagers im Rampenlicht, von denen einige sogar direkt zum unmittelbaren Beraterumfeld Wilhelms II. gehörten. Die bekanntesten waren der Reeder Albert Ballin (1857-1918), die Großbankiers Eduard Arnhold (1849-1925), Carl Fürstenberg (1850-1933) und Max M. Warburg (1867-1946) sowie die Unternehmer James Simon (1851-1932), Emil Rathenau (1838-1915) und sein Sohn Walther. Generell waren diese »Kaiserjuden« jedoch wesentlich weniger einflussreich, als es ihr Ruf suggerierte, den sie nicht zuletzt unter den Antisemiten genossen. Diese hochgestellten Juden haben ihre Position und ihren Einfluss zudem nur selten genutzt, um politische Verbesserungen für Juden zu erreichen. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch einer der wichtigsten Interessenverbände dieser Periode, der 1909 ins Leben gerufene Hansa-Bund, in dem die Interessen der Industrie, des Handelsund des Finanzwesens vereinigt werden sollten, was aber nur kurzzeitig gelang. Er war explizit konfessionell offen und hatte sowohl eine Reihe von bekannten katholischen Industriellen als auch eine Reihe von Juden als Mitglieder. Der getaufte Neffe
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Gabriel Riessers, Jakob Riesser (1853-1932), übernahm das Präsidentenamt. Gegenüber diesen mehr oder weniger einflussreichen Juden im öffentlichen Leben blieb die Zahl der jüdischen Staatsbeamten im späten Kaiserreich gering. Im Gegensatz zur Situation im frühen Kaiserreich – und der vergleichsweise machtvollen Position von Lasker und Bamberger – hatte der Einfluss der jüdischen Politiker sogar eher abgenommen, auch wenn das von vielen Zeitgenossen anders wahrgenommen wurde. Trotz der »Kaiserjuden« lässt sich eine Mehrheit der jüdischen Politiker insgesamt eher dem Lager der Opposition zuordnen, was ihre Macht begrenzte. Dies spiegelte in gewisser Hinsicht auch ihre Position in der Gesellschaft wider, in der der Antisemitismus in vielen politischen Institutionen, in Verbänden, Parteien und dem Militär zugenommen hatte. Erweitert man den Blick auf die jüdischen Wählerschichten und ihre wesentlichen politischen Präferenzen, so lässt sich für den gesamten Zeitraum von einer schleichenden politischen Isolierung der Juden sprechen. Während im frühen Kaiserreich die Übereinstimmung mit den politischen Interessen der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft vergleichsweise groß gewesen war, so entstand in der Folgezeit eine gewisse Sonderstellung der Juden. Im Wilhelminischen Kaiserreich wiesen die deutschen Juden ein spezifisches politisches Gepräge auf und verteilten sich keineswegs gleichmäßig auf die politischen Hauptlager des Kaiserreiches – die konservative Landbevölkerung, die Katholiken, die liberalen Bürger und die sozialdemokratische Arbeiterschaft. Obwohl man sich vor einer vereinfachenden Darstellung hüten muss, da sich Juden in den verschiedensten Lagern und mit ganz gegenteiligen Einstellungen und Standpunkten finden lassen, so ist doch eine gewisse Konzentration links von der politischen Mitte festzustellen. Juden setzten sich – in vergleichsweise höherem Anteil als Nichtjuden – für Rechtsstaatlichkeit, soziale und politische Reformen sowie internationale Verständigung ein und standen jeder Form von Revolution in ihrer Mehrheit ablehnend gegenüber, weil solche gewaltsamen Umbrüche für Juden immer
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große Gefahren mit sich gebracht hatten. Sie waren in ihrer Mehrheit loyale und national gesinnte Staatsbürger, die keineswegs für eine Abschaffung des Kaiserreiches oder das Ende der Monarchie plädierten. Was die Sozialgeschichte der deutschen Juden als paradoxen Effekt des überaus erfolgreichen jüdischen Integrationsund Verbürgerlichungsprozesses beschrieben hat, nämlich den relativen Modernitätsvorsprung der Juden im Kaiserreich, lässt sich somit auch auf die Politikgeschichte der deutschen Juden übertragen: Als gesellschaftliche Gesamtgruppe hatten sie eine besondere politische »Eigenart« (Shulamit Volkov). Zu einer Politikgeschichte der deutschen Juden gehört zweifellos auch ein Blick auf die Presselandschaft, zumal die journalistische mit einer politischen Tätigkeit (etwa als Parteiführer, Abgeordnete etc.) in dieser Phase noch sehr häufig verschmolzen war. Der Beruf des Journalisten war für viele gebildete Abkömmlinge bürgerlicher Schichten attraktiv – und dies galt gerade für Juden, denen eine akademische Karriere wegen der Berufungspolitik der Universitäten erschwert wurde. Allerdings sind selbst einfache Aussagen über den Anteil von Juden am Presse- und Verlagswesen schwer zu erhalten, geschweige denn eine eingehendere Analyse der jüdischen Journalisten. Diese missliche Lage führt dazu, dass viele Aussagen zu diesem Problemfeld von judenfeindlichen Autoren stammen, in deren Vorstellungswelt eine angeblich jüdische Herrschaft über das Presse- und Verlagswesen eine prominente Rolle spielte. Für die 1870er-Jahre sind 69 Zeitungsverleger, Redakteure oder Berufsjournalisten jüdischer Herkunft gezählt worden, darunter so einflussreiche Zeitungsmacher wie der Gründer und Herausgeber der liberalen Frankfurter Zeitung Leopold Sonnemann, der Verleger der liberalen Berliner Zeitung und der Berliner Illustrirten Zeitung Leopold Ullstein (1826-1899) oder der Verleger des liberalen Berliner Tageblatts und der Berliner Morgen-Zeitung Rudolf Mosse (1843-1920). Als Redakteure kamen noch Georg (1835-1897) und Robert Davidsohn (1853-1937) vom Berliner Börsen-Courier hinzu. Für das Jahr 1899 lässt sich die Lage genauer einschätzen, da in diesem Jahr das preußische Innenministerium eine Liste aller
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Berliner Redakteure z.T. mit biographischen Angaben zusammenstellen ließ. In diesem Jahr waren demnach unter allen Berliner Redakteuren 18 Prozent jüdischer Konfession, denen rund 68 Prozent Protestanten und elf Prozent Katholiken gegenüberstanden. Gleichzeitig lässt sich eine ungleiche Verteilung der jüdischen Redakteure über die Presselandschaft konstatieren. Sie konzentrierten sich vor allem in der linksliberalen und sozialdemokratischen Presse: mit 28 Prozent (gegenüber 61 Prozent Protestanten). Hier arbeiteten einige prominente jüdische Journalisten: so etwa Georg Bernhard (1875-1944) für die Vossische Zeitung oder Theodor Wolff (1868-1943) für das Berliner Tageblatt. Dagegen waren sie nur in Ausnahmefällen bei »regierungsfreundlichen« Organen wie etwa dem Berliner Lokal-Anzeiger tätig. Eine ganze Reihe von Zeitungen (die Norddeutsche Allgemeine Zeitung, die Kreuzzeitung, der Reichsbote, die Deutsche Tageszeitung, die Post etc.) wurde – bis auf einige wenige Katholiken – ausschließlich von protestantischen Redakteuren geschrieben. In diesen Zahlen deutete sich zudem eine ähnliche Tendenz zur SPD an, wie sie bei jüdischen Politikern z.T. erkennbar gewesen war. In sozialdemokratischen oder sozialistischen Medien waren einflussreiche Persönlichkeiten jüdischer Herkunft tätig, darunter Rudolf Hilferding (1877-1941), Theodor Lessing (1872-1933), Hans Goslar (1889-1945), Kurt Eisner (1867-1919), Karl Radek (1885-1939) oder Rosa Luxemburg (1871-1919). In anderen parteinahen Feldern, vor allem in der Gewerkschaftsbewegung, waren Juden hingegen kaum anzutreffen. Im anarchistischen Lager, das der Sozialdemokratie ablehnend gegenüberstand und generell zunächst einen eher literarisch-politischen denn einen parteipolitischen Aktivismus an den Tag legte, waren mit Gustav Landauer (1870-1919) und Erich Mühsam (1878-1934) Juden politisch und publizistisch aktiv. Politik in den jüdischen Gemeinden Die Repräsentation von Juden in den politischen Entscheidungsgremien ist zweifellos ein wichtiges Feld; ein anderes betrifft die
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innere politische Organisation jüdischen Lebens – und damit die Struktur der jüdischen Gemeinden. Juden wie Nichtjuden waren in den meisten Gebieten Deutschlands per Gesetz gezwungen, Mitglied einer Kultusgemeinde zu sein und eine entsprechende ›Kirchensteuer‹ abzuführen. Erst die Kirchenaustrittgesetze, die in den 1870er-Jahren in verschiedenen deutschen Ländern verabschiedet wurden, ermöglichten es, eine Religionsgemeinschaft zu verlassen und sich als konfessionslos zu erklären. Allerdings nutzten dies auch orthodoxe und ultraorthodoxe Gruppen, welche die vorherrschende Reformorientierung in den meisten jüdischen Gemeinden nicht länger akzeptieren und daher eigene Gemeindestrukturen aufbauen wollten. Die jüdischen Gemeinden hatten durch die Abschaffung ihrer korporativen Strukturen während der Emanzipationsphase erhebliche politische Funktionen (vor allem die Gerichtsbarkeit und Steuerhoheit) eingebüßt und verloren zudem an Einfluss bei vielen säkular orientierten Juden, die zwar selten aus den Gemeinden austraten, aber diesen Institutionen in ihrem Leben wenig Gewicht beimaßen. Der Kampf mit den staatlichen Stellen um die korporative Autonomie der Gemeinden war im frühen Kaiserreich jedoch nicht gänzlich beendet, wie etwa die Debatten um die Beschneidungsfrage verdeutlichen. Seit den 1840er-Jahren war die Frage, ob männliche Säuglinge am achten Tag nach der Geburt beschnitten werden sollten, von Juden wie Nichtjuden kontrovers diskutiert worden. Stets war es dabei nicht nur um medizinische und hygienische Einwände gegen dieses uralte Ritual gegangen, sondern auch um die Fragen der Mitgliedschaft in einer jüdischen Gemeinde. Wenn jüdische Eltern – zumeist aus medizinischen Erwägungen – die Prozedur an ihrem Jungen nicht durchführen lassen wollten, war unklar, ob der Junge Mitglied der jüdischen Gemeinde sein durfte, selbst wenn er, wie es halachisch vorgeschrieben war, von einer jüdischen Mutter geboren war. Staatliche Stellen, die dem Beschneidungsritual oft misstrauisch bis voreingenommen gegenüberstanden, versuchten bis ins Kaiserreich, den jüdischen Gemeinden vorzuschreiben, solche Jungen als Vollmitglieder anzuerkennen, wohingegen die Gemeinden
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auf ihrer Autonomie in Religionsfragen beharrten. Derartige Konflikte demonstrieren zum einen, dass selbst religiöse Rituale Gegenstände der rechtlich-politischen Auseinandersetzungen – und damit einer Politik- und Rechtsgeschichte der deutschen Juden – werden konnten. Zum anderen verdeutlichen sie ebenfalls, wie Aspekte des jüdischen Körpers, der Sexualität von Juden und der jüdischen Geschlechtergeschichte im Kern politischer Natur sein können. Den jüdischen Gemeinden stand ein aus Laien bestehender Vorstand vor, der gewählt werden musste, um dann die Finanzen der Gemeinde zu überwachen und deren Alltag zu organisieren. Ihre Organisation war somit durchaus politischen Willensbildungsprozessen unterworfen: Wer sollte der Gemeinde vorstehen? Aus welchen politisch handlungsfähigen Mitgliedern bestand die Gemeinde? Auch hatten die Gemeinden gerade auf dem Gebiet der Sozial- und Wohlfahrtspolitik oder des (Religions-) Unterrichtswesens wichtige Aufgaben zu erfüllen, die einen bürokratischen Apparat voraussetzten und entsprechend legitimiert sein mussten. Im frühen 19. Jahrhundert hatten die religiösen Konflikte um das Reformjudentum gelegentlich noch zu politischer Lagerbildung innerhalb der Gemeinden geführt, etwa bei Vorstandswahlen oder bei der Bestellung eines Rabbiners. Nach der Reichsgründung und nicht zuletzt durch die Abspaltungen von orthodoxen Gemeinden, was die innergemeindlichen Konflikte reduzierte, herrschte ein relativ stabiles Honoratioren-Modell mit einem vergleichsweise geringen Politisierungsgrad vor. Dabei wurden die Vorstände aus der lokalen Elite rekrutiert, die meist dem Bürgertum entstammten und einen hohen lokalen Bekanntheitsgrad besaßen. Dieses System wurde in einigen Gebieten durch ein Klassenwahlrecht abgesichert, das den Stimmen bürgerlicher Männer – Jüdinnen besaßen kein Gemeindewahlrecht – mehr Gewicht verlieh und arme Juden, die kein oder nur wenig zu versteuerndes Einkommen besaßen, häufig sogar ganz von den Wahlen ausschloss. Dieser Mangel an demokratischer Legitimierung der Gemeindestruktur wurde von orthodoxen und später von zionistischen
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Gruppen immer wieder angeprangert, dies blieb aber bis zum Ende des Kaiserreichs ohne Erfolg. Somit wurden vor allem in den größeren Gemeinden die wichtigen Entscheidungen von derselben liberalen bürgerlichen Elite getroffen, die auch die meisten politischen Aktivitäten im allgemeinen politischen System außerhalb der jüdischen Gemeinden entwickelte. Erst die immer stärkere Urbanisierung der jüdischen Bevölkerung und die damit einhergehende Entstehung von Großgemeinden sollte von der Jahrhundertwende an die Vorherrschaft liberaler Honoratioren gefährden. Nun stellten neue politische und religiöse Gruppierungen wie die Orthodoxen, die Zionisten und auch die Frauen, deren jeweilige Rollen im späteren Kaiserreich noch detaillierter besprochen werden sollen, Ansprüche auf demokratische Teilhabe. Allerdings blieb während des gesamten Kaiserreiches die von ihnen propagierte Wahlrechtsreform unverwirklicht, mit der ein allgemeines, gleiches und geheimes Gemeindewahlrecht für alle Männer und Frauen eingeführt werden sollte. Dennoch waren die Gemeindewahlen im späten Kaiserreich öfter von Kampfkandidaturen, echten politischen Alternativen und sogar Parteibildungen geprägt. In Königsberg/Preußen konnten sich beispielsweise zur Gemeindewahl 1912 das liberale und das zionistische Lager nicht mehr auf eine gemeinsame Wahlliste einigen. Der Urnengang mit einer stark angestiegenen Wahlbeteiligung führte zu einem reichsweit ersten – und deutlichen – Wahlsieg der Zionisten. Während die Zeitgenossen derartige Kampfabstimmungen oft als problematisch empfanden, so kann man im Rückblick aber an der zunehmenden Wahlmobilisierung auch erkennen, dass die innerjüdische Gemeindepolitik allmählich wieder eine neue Bedeutung für die deutschen Juden erlangte. Der moderne Antisemitismus Das Leben der deutschen Juden allgemein und insbesondere ihre politischen Aktivitäten wurden im Kaiserreich stark vom sich modernisierenden Antisemitismus beeinflusst, der somit in ei-
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ner Politikgeschichte der deutschen Juden thematisiert werden muss. Kurz zum zeitgenössischen Kontext der entstehenden antisemitischen Bewegung: Das Bündnis, das Bismarck 1866/67 mit der Nationalliberalen Partei eingegangen war, um die kleindeutsche Reichseinigung unter preußischer Vorherrschaft durchzusetzen und parlamentarisch abzusichern, begann bereits Mitte der 1870er-Jahre erste Risse zu zeigen. Ein linker Parteiflügel unter Führung von Bamberger und Lasker ging immer stärker auf Distanz zu Bismarck und seinen Befürwortern unter den Nationalliberalen. Bismarck wiederum versuchte nicht zuletzt durch seine protektionistische Wirtschaftspolitik, einen Keil in die Nationalliberale Partei zu treiben, letztlich mit Erfolg. Zudem spielte eine Rolle, dass unter den jüdischen Abgeordneten der Kulturkampf, also die antikatholische Gesetzgebung der 1870erJahre, z.T. Widerstand hervorgerufen hatte: Lasker und Bamberger hatten 1872 dem sogenannten Jesuitengesetz, mit dem die Aktivitäten des katholischen Ordens in Deutschland verboten wurden, ihre Zustimmung verweigert. Auch bei dem Sozialistengesetz 1878 – dem Verbot sozialistischer und sozialdemokratischer Organisationen – hatten sie Zweifel, obwohl sie es letztlich billigten. Mit dem Beginn der wirtschaftlichen Talfahrt des jungen Kaiserreiches, die mit der sogenannten Gründerkrise 1873/74 einsetzte und zu einer Arbeitslosigkeit von zwanzig Prozent führte, kam auch die »Judenfrage« wieder auf, zunächst vor allem im klerikalen und konservativen Milieu. Der Publizist Otto Glagau (18341892) prangerte in einer vielgelesenen Artikelserie zum »Börsenund Gründerschwindel«, die 1874 in der bürgerlichen Zeitschrift Gartenlaube (Auflage: 380.000) erschien, vermeintlich betrügerische Machenschaften von Juden an. Der erzkonservative Journalist und Politiker Constantin Frantz (1817-1891) war zeitgleich davon überzeugt, »wie innig mit dem Nationalliberalismus die Judenherrschaft zusammenhängt«. »Was uns also«, so schrieb er weiter, »vom Nationalliberalismus befreit, wird uns auch von der Judenherrschaft befreien, und über das Mittel dazu kann kein Zweifel mehr sein. Es ist das Eine: daß die deutsche Nation sich
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wieder als eine christliche erkennt und als solche bethätigt.«2 Weitere antisemitische Artikel erschienen in der konservativen KreuzZeitung und in der katholischen Germania. In der Zwischenzeit schmiedete Bismarck ein neues Reichstagsbündnis mit der Konservativen Partei und dem Zentrum, wodurch er seine Allianz mit der Nationalliberalen Partei aufkündigen konnte. Bismarck unternahm wenig, um dem Anschein entgegenzutreten, er billige die zunehmenden antisemitischen Umtriebe in der Gesellschaft und Politik, die ihm bei seiner konservativen Wende politisch in die Hände spielten. Allerdings lieferte der Antisemitismus nicht nur zusätzliche Munition für Bismarcks Machtspiele; er wuchs sich zu einer neuen, eminent politischen Gefahr für die Juden aus – und er half letztlich die Vorherrschaft der Liberalen zu zerstören, welche die Reichsgründungsphase geprägt hatte. Gegen Ende des Jahrzehnts kam der antisemitischen Hetze immer mehr Aufmerksamkeit zu und ihre Wirkungskraft stieg. Der protestantische Geistliche Adolf Stoecker (1835-1909), der 1874 seine Tätigkeit als Prediger am Hofe Kaiser Wilhelms I. aufgenommen hatte, gründete 1878 die Christlich-Soziale Arbeiterpartei. Sein ursprüngliches Vorhaben, im Umfeld der Sozialistengesetze der Arbeiterschaft eine konservative Alternative zu bieten, scheiterte bei den Reichstagswahlen 1878. Die Christlichsoziale Partei wandte sich nun dem Kleinbürgertum zu und nutzte dafür verstärkt antisemitische Propaganda. Stoeckers Reden lieferten der entstehenden antisemitischen Bewegung, die zeitgenössisch auch Berliner Bewegung genannt wurde, zentrale Stichworte. So verlangte er in Unsere Forderungen an das moderne Judentum vom September 1879 von den Juden dreierlei: »ein klein wenig bescheidener«, »ein klein wenig toleranter« und »etwas mehr Gleichheit«.3 Seit 1878 entstand eine wahre Flut von antisemitischen Pamphleten, darunter einige sehr weit verbreitete wie Der Sieg des Judent2
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Siehe Gustav Adolph Constantin Frantz, Der National-Liberalismus und die Judenherrschaft, München 1874, S. 64. Siehe Adolf Stoecker, Das moderne Judenthum in Deutschland, besonders in Berlin. 2 Reden in der christlich-socialen Arbeiterpartei, 5. Aufl., Berlin 1880, S. 9 ff.
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hums über das Germanenthum (1879) von Wilhelm Marr (1819-1904), der mit der Antisemitenliga eine frühvölkische, antichristliche Alternative zu Stoeckers christlich-nationaler Bewegung aufzubauen versuchte – die sich hier andeutenden Gegensätze blieben bis ans Ende des 19. Jahrhunderts bestehen. Hinzu kamen noch Gegenpamphlete, die zumeist von jüdischen Autoren oder Autoren jüdischer Herkunft verfasst wurden: u.a. Bambergers Deutschthum und Judenthum (1880) oder Oppenheims Stöcker und Treitschke (1880). Insgesamt erschienen über 400 solcher Pamphlete; davon die überwiegende Mehrheit in den Jahren 1879-1881. Die »Judenfrage« stand also wieder auf der Tagesordnung. Dies galt um so mehr, als im Herbst 1879 der reichsweit bekannte Berliner Historiker Heinrich von Treitschke (1834-1896) mit dem Essay Unsere Aussichten, den er in den von ihm herausgegebenen, sehr renommierten Preußischen Jahrbüchern publizierte, in die Diskussion eingriff und die entstehende antisemitische Bewegung – wenn auch mit Einschränkungen – lobte. Dass ein derartiges intellektuelles und rhetorisches Schwergewicht gegen die Juden Partei ergriff, schockte sie. Viele gebildete Juden wie der Mediävist Harry Breßlau (1848-1926), der Völkerpsychologe Moritz Lazarus (1824-1903) – beides Berliner Kollegen Treitschkes –, der Philosoph Hermann Cohen (1842-1918) und der Historiker Heinrich Graetz (1817-1891) meldeten sich gegen Treitschke zu Wort. Nachdem die Auseinandersetzung zwischen Treitschke und den Juden – außer einigen wenigen antisemitischen Äußerungen und einigen Zeitungsberichten nahmen zunächst keine Nichtjuden an der Debatte teil – im Frühjahr 1880 abgeflaut waren, kam eine neue Debatte im Herbst des gleichen Jahres auf, diesmal fand sie allerdings unter Nichtjuden statt. Ein entscheidender Faktor war dabei die sogenannte Antisemiten-Petition, die von dem Gymnasiallehrer Bernhard Förster (1843-1889), dem Physikprofessor Friedrich Zöllner (1834-1882), dem Lehramtskandidaten Ernst Henrici (1854-1915) und dem Oberleutnant Max Liebermann von Sonnenberg (1848-1911) verfasst worden war und sich seit dem Sommer im Umlauf befand. Sie forderte vom Reichskanzler Bis-
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marck konkrete Maßnahmen gegen den angeblich steigenden Einfluss der Juden: 1) die Masseneinwanderung von Juden aus dem Osten zu erschweren, 2) Juden von obrigkeitlichen Stellungen, insbesondere im Justizdienst, teilweise oder gänzlich auszuschließen, 3) den christlichen Charakter der Volksschulen zu wahren und jüdischen Lehrern dort nur in Einzelfällen eine Anstellung einzuräumen sowie 4) die amtliche Konfessionsstatistik wiedereinzuführen. Die Petition war überraschend erfolgreich und wurde am 20. November 1880 Gegenstand einer öffentlichen Parlamentsdebatte im preußischen Abgeordnetenhaus. Nachdem im November sich einige Berliner liberale Politiker gegen die antisemitische Bewegung zu Wort meldeten, kam es schließlich zu einem verbalen Schlagabtausch zwischen Treitschke und seinem Kollegen, dem Althistoriker Theodor Mommsen (1818-1903), der die Schrift Auch ein Wort über unser Judentum (1880) veröffentlichte. Mommsens Text gilt zu Recht als ein zentrales Dokument im Kampf gegen Antisemitismus; gleichwohl empfahl der eigentlich säkulare Mommsen am Schluss seines Essays den Juden die Konversion. Wahre Integration war auch für viele Liberale wie ihn zehn Jahre nach der Emanzipation nur als Aufgabe der jüdischen Identität denkbar. Dass er sich nicht zum Waffenbruder der Juden erklärte, die vor ihm gegen Treitschke aufgetreten waren, ja er ihre Repliken nicht mit einem Wort erwähnte, offenbarte die versteckten politischen Trennlinien selbst im linken Liberalismus, den Mommsen so vehement und überzeugend zu verteidigen versuchte. Wer gegen die Antisemiten für das liberale Erbe Partei ergreifen wollte, musste sich offenkundig vor einer Parteinahme für Juden hüten. Den Juden blieb nichts anderes übrig, als in ihrer Mehrheit Weggefährten des (linken) Liberalismus zu bleiben, dessen politische Strahlkraft mit Bismarcks Tendenzwende geschwunden war. Die Zweifel jedoch, ob sie selbst den Wohlmeinenden unter den Liberalen wirklich trauen konnten, verschwanden nicht wieder. Eine Schlussfolgerung für Juden in dieser Situation hätte eine bewusste und effektive Gesamtvertretung ihrer politischen Interessen in Öffentlichkeit und Politik sein können. Es gab dafür auch eine Reihe von Ansätzen: der Deutsch-Israelitische Gemeindebund
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(DIGB) bemühte sich seit 1872 um den Zusammenschluss aller jüdischen Gemeinden, um die politischen Kräfte der deutschen Juden wirkungsvoll bündeln zu können. Den neuen Antisemitismus versuchte der DIGB dabei zu nutzen, um für diesen Plan mehr Rückhalt zu bekommen. Allerdings mangelte es an (finanzieller) Unterstützung durch die jüdischen Gemeinden. Als Lazarus in der Folge der Auseinandersetzungen mit Treitschke ein Komitee jüdischer Honoratioren zur Bekämpfung des Antisemitismus einberief, kam es nur zu wenigen Sitzungen und zu keiner permanenten Organisation. Bei diesen erfolglosen Organisationsversuchen spielte eine große Rolle, dass für viele deutsche Juden eine explizite Vertretung jüdischer Interessen den Zielen von Integration und Assimilation zuwiderlief. Die Juden, die Treitschke antworteten, waren sich eigentlich alle darin einig, dass man den antisemitischen Vorwürfen letztlich nur mit weiteren Integrationsanstrengungen von jüdischer Seite wirksam begegnen könne. Ein politisches Infragestellen der totalen Integrationsforderung kam nicht in Frage. Parteipolitisch veränderte sich das Engagement vieler Juden in den Monaten und Jahren nach der politischen Wende von 1878/79. Hier war zwar der Antisemitismus nur ein Auslöser unter vielen, aber viele Juden wandten sich von der Nationalliberalen Partei ab; deren prominenteste Vertreter – u.a. Bamberger und Lasker – verließen die Partei und gründeten die sogenannte Sezession, die ab 1884 mit der linksliberalen Fortschrittspartei die Freisinnige Partei bildete. Unter den Nationalliberalen waren in der Folgezeit kaum mehr jüdische Politiker, wenn man von einigen süddeutschen Parlamenten absieht, und sie öffneten sich teilweise antisemitischen Bestrebungen. Zugleich verloren jüdische Politiker nun an den Wahlurnen an Einfluss, was zuerst bei der preußischen Landtagswahl 1879 bemerkbar wurde, die von antisemitischen Wahlaufrufen begleitet war. Neun von 13 der jüdischen Abgeordneten büßten dabei ihr Mandat ein, u.a. auch Lasker; übrig blieben ausschließlich Linksliberale. Bei den nächsten Reichstagswahlen 1881 verringerte sich die Zahl der jüdischen Parlamentarier von neun auf sechs, eben-
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falls alle linksliberal. Generell hingen diese Wahlniederlagen auch mit den Verlusten an Wählerstimmen im liberalen Lager insgesamt zusammen. Allerdings gab es Fälle von jüdischen Parlamentariern, die sich erfolgreich gegen die antisemitischen Vorwürfe in ihrem Wahlkreis zu Wehr setzen konnten, wie etwa das Beispiel Ludwig Löwes (1837-1886) zeigt, der seinen Berliner Wahlkreis 1881 und 1884 erfolgreich für die Linksliberalen verteidigte. Dennoch saßen nach Bambergers Pensionierung 1893 – nach 25 Jahren im deutschen Parlament – bis 1912 keine liberalen Juden mehr im Reichstag; Juden gab es nur noch unter den sozialdemokratischen Abgeordneten. Der preußische Landtag war bereits 1886, in Stoeckers Worten, »judenrein«. Vergleichbare Entwicklungen gab es in den meisten anderen Länderparlamenten, sodass sich die Zahl der Parlamentarier jüdischer Herkunft in deutschen Parlamenten zwischen 1879 und 1892 (von vormals 66) auf nunmehr 38 fast halbiert hatte. In diesem Zeitabschnitt scheiterten 24 Kandidaturen von jüdischen Politikern; der Wunsch der deutschen Juden nach politischer Repräsentation war also in etwa gleich stark geblieben, nur wurden sie entweder von ihren Parteien nicht mehr aufgestellt oder scheiterten an den Wahlurnen. Die politische Schwächung des Liberalismus und die schwierige Position der Juden in diesem Lager führten daher mittelfristig zur bereits erwähnten allmählichen Öffnung für die Sozialdemokratie. Um auf die Entwicklung des Antisemitismus im Kaiserreich zurückzukommen: Zunächst flaute die antisemitische Welle trotz verschiedenster Bemühungen, wie z.B. um die Internationalisierung der antisemitischen Bewegung, die zu entsprechenden Kongressen 1882, 1883 und 1886 führte, in den achtziger Jahren wieder ab. Allerdings drangen antisemitische Vorstellungen in andere gesellschaftliche Institutionen und Vereine ein, gerade unter der ländlichen Bevölkerung, aber auch unter nationalistischen Studenten. Nachdem der erste explizite Antisemit – der Marburger »Bauernkönig« Otto Böckel – 1887 in den Reichstag gewählt worden war, entwickelte der politische Antisemitismus wieder Mobilisierungspotential. Dieser erneuerten antisemiti-
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schen Bewegung gelang es zeitweise eine (vor allem ländliche) Wählerbasis aufzubauen, und sie konnte so an ihrem Höhe- und Wendepunkt 1893 16 antisemitische Abgeordnete in den Reichstag entsenden. Nach 1893 ließ der politische Antisemitismus kurzzeitig wieder nach; 1907 errangen antisemitische Kandidaten allerdings wieder 27 Reichstagsmandate, 1912 dann 13. In den Jahren vor und nach der Jahrhundertwende verband sich der Antisemitismus zunehmend mit völkischen, rassistischen, sozialdarwinistischen und radikalnationalistischen Vorstellungen, wie sie vor allem durch die Werke Arthur J. de Gobineaus und Houston Stewart Chamberlains popularisiert wurden. Viele antisemitische, zunehmend auch völkisch-rassistische Parteien (die Christlich-Soziale Partei, die Deutsche Reformpartei, der Deutsche Volksbund u.a.) sowie entsprechende Vereine (der Alldeutsche Verband (1890), der Deutsche Turnerbund (1848), der Verband der Vereine Deutscher Studenten (1881) oder der Bund der Landwirte (1893) und einige konservative Tageszeitungen (die Kreuz-Zeitung oder die Norddeutsche Allgemeine Zeitung) halfen diese Ideen weiter zu verbreiten. Ein entsprechendes Verzeichnis von P. Westphal enthielt 1893 bereits 226 Vereine mit antisemitischer Orientierung. Der Publizist Theodor Fritsch entwickelte mit der Antisemitischen Korrespondenz und dem Hammer-Verlag wichtige Verbreitungsmedien und veröffentlichte ab 1887 den AntisemitenKatechismus, der hohe Auflagenzahlen erreichte. Ereignisse wie die Ritualmordbeschuldigungen in der niederrheinischen Stadt Xanten 1891-92 oder in Konitz 1900 zeigten ebenfalls die gesellschaftliche Breitenwirkung des Antisemitismus – und konnten von den antisemitischen Parteien zur fortgesetzten Mobilisierung genutzt werden. Allerdings führte die Zersplitterung der antisemitischen Parteien, Vereine und Verbände dazu, dass dieses politische Lager lange keine gemeinsame Schlagkraft entwickeln konnte. Zugleich zeigte sich eine zunehmende Ausrichtung auf den völkischen Rassismus, der thematisch breiter aufgestellt war und so den Antisemitismus mit anderen politischen Zielen (Imperialismus, Nationalismus, Demokratiefeindlichkeit, Antisozialismus) verband.
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Neben Teilen der ländlichen Bevölkerung und dem Kleinbürgertum stießen derartige Ideen auch in bürgerlichen Schichten auf Interesse. Bücher wie Hermann Langbehns Rembrandt als Erzieher mischten antisemitische Motive mit einer fundamentalen Kritik an der Kultur des Kaiserreiches, wodurch judenfeindliche Ideen auch in reformorientierten Bewegungen (Jugendbewegung, Lebensreform) Einzug hielten. In den Jahren vor dem Kriegsausbruch kam es erneut zu einer Gründungwelle von Vereinen und Organisationen im antisemitisch-völkischen Lager, deren Vereinheitlichung und Koordinierung jedoch wie zuvor an den divergierenden Interessen scheiterte. Insgesamt jedoch hatte sich der Antisemitismus zu einer wesentlichen Integrationsideologie für nationalistisch-konservative bis völkisch-radikale Strömungen entwickelt. In diesem politischen Milieu konnte man sich anhand des Antisemitismus wie mit einem »kulturellen Code« (Shulamit Volkov) erkennen. Auch andere politische Kräfte blieben von diesen Entwicklungen nicht unbeeindruckt: 1892 nahm die Konservative Partei einen antisemitischen Paragrafen in ihr neues Parteiprogramm auf. Umgekehrt war von den Freikonservativen und den Nationalliberalen nur in Ausnahmefällen eine klare Stellungnahme gegen den Antisemitismus zu hören. Obwohl die Parteiführung des katholischen Zentrums – unter Ludwig Windthorst – vergleichsweise deutlich gegen den Antisemitismus eingestellt war, war das bei der Wählerschaft, in der katholischen Presse und selbst im bayerischen Parteiflügel längst nicht so klar. Nur die SPD und die linksliberalen Parteien verurteilten die antisemitischen Umtriebe, auch wenn es in der Wählerschaft und der entsprechenden Publizistik gelegentlich anders aussah. Allerdings organisierten sich auch die Gegner der antisemitischen Bewegung: 1890 reagierten Juden und Nichtjuden auf den Anstieg des politischen und gesellschaftlichen Antisemitismus und gründeten den Verein zur Abwehr des Antisemitismus, der bald 12.000 Mitglieder (später 8-9.000) verzeichnen konnte. Obwohl ihm zunächst auch einige prominente Vertreter der Nationalliberalen Partei wie Rudolf von Gneist (1816-1895) oder Ernst von
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Eynern (1838-1906) beitraten, dominierte hier nach kurzer Zeit das freisinnige, linksliberale Lager, angeführt vor allem durch Theodor Barth (1849-1909) und Heinrich Rickert (1833-1902), der 1895 auch die Leitung des Vereins übernahm. Zu den Mitgliedern gehörten zudem der Althistoriker Theodor Mommsen, die Schriftsteller Gustav Freytag (1816-1895) und Heinrich Mann (1871-1950) sowie der sozialdemokratische Politiker und Jurist Otto Landsberg (1869-1957). Der »Abwehr-Verein« bestand bis 1933 und verteidigte die Emanzipation der Juden mit dem Verweis auf die geltende Verfassung. Zwar arbeiteten von Beginn an auch Juden in dem Verein mit, unter ihnen gab es aber immer Bedenken, weil viele der nichtjüdischen Mitglieder einem Verschmelzungsideal anhingen, nach dem Juden durch Assimilation oder/und Mischehe in ihrer nichtjüdischen Umwelt aufgehen und keinerlei Separatidentität behalten sollten. Die Organisation stand zudem einer eigenständigen Mobilisierung von Juden im Großen und Ganzen ablehnend gegenüber, wie das Beispiel der sehr aktiven Kölner Zweigstelle des Vereins zeigte, die ausschließlich aus Juden bestand und von der Zentrale ignoriert wurde. Insgesamt war die Wirkungsmacht des Abwehr-Vereins durch seine eindeutige politische Verortung im linksliberalen Lager begrenzt; er wurde als »freisinnige Judenschutztruppe« verunglimpft. Der politische Wandel unter Juden im Wilhelminischen Kaiserreich Auch wenn sich in den Wählerpräferenzen der deutschen Juden und in den Orientierungen ihrer Politiker insgesamt nur langsame Verschiebungen registrieren lassen und sich am politischrechtlichen Rahmen der vollendeten Emanzipation nichts änderte, so lässt sich mit dem Beginn des wilhelminischen Kaiserreichs (1888-1918) doch ein fundamentaler Wandel in der Politik der deutschen Juden feststellen. Die Veränderungen lagen auf einer anderen, weniger parteipolitischen Ebene: Die neuen politischen
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Bündnisse, vor allem mit den Linksliberalen und weniger mit den Sozialdemokraten, brachten die Juden mehrheitlich in das Lager der Opposition; der aufgekommene Antisemitismus wurde zu einer permanenten, sich weiter radikalisierenden Bedrohung, gegen die die Juden vorzugehen versuchten; neue politische Faktoren wie der Zionismus, die internationale Philanthropie oder die Frauenbewegung gestalteten die politische Landschaft der deutschen Juden komplexer. Es ist nicht übertrieben festzustellen, dass an der Wende zum 20. Jahrhundert die Grundlagen für ihre Politik neu gelegt wurden. Dazu trug auch die osteuropäisch-jüdische Einwanderung bei, die durch die antisemitischen Pogromwellen im zaristischen Russland und durch die Hoffnung auf ein besseres Leben im Westen ausgelöst wurde. Während der Großteil der Wanderungsbewegung – bis zu 2,5 Mio. Personen insgesamt – nur durch das Reichsgebiet in Richtung Nordamerika führte, verblieb eine Minderheit der osteuropäischen Juden zumindest zeitweise im Deutschen Reich, wobei die meisten von ihnen aus dem österreichischungarischen Teil Galiziens und nicht aus Russland stammten. 1910 wurden so 78.000 ausländische Juden gezählt, bei einer jüdischen Gesamtbevölkerung von 615.000. Die vielfältigen Spannungen zwischen alteingesessenen deutschen und osteuropäischen Juden waren durch ihre unterschiedlichen religiösen und kulturellen Traditionen sowie die wirtschaftlich-soziale Lage bedingt, schlugen sich aber auch in politischen Konflikten nieder. Dies wird etwa in der unter deutschen Juden verbreiteten Befürchtung sichtbar, die »Ostjuden« würden die emanzipierte Stellung der einheimischen Juden gefährden, da sie den Antisemitismus unter der nichtjüdischen Bevölkerung befeuerten. Im späten Kaiserreich tauchten neue Formen jüdischer Selbstorganisation auf, von denen der C.V. zunächst die wichtigste war. In gewisser Hinsicht verwandten die deutschen Juden damit ein Organisationsmuster, welches das politische System des Wilhelminischen Kaiserreiches seit den 1890er-Jahren immer stärker prägte: die lobbyistische Interessenvertretung in Verbänden. So existierten eine ganze Reihe von jüdischen ›Pressure-Groups‹ wie
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der Verband der Deutschen Juden, der ab 1904 die jüdischen Interessen gegenüber staatlichen Stellen vertreten sollte, oder regionale Verbünde wie die Vereinigung badischer Israeliten. Als überregionale Vereinigung der jüdischen Gemeinden hatte der bereits erwähnte Deutsch-Israelitische Gemeindebund (DIGB) fungiert, der 1899 den Status einer juristischen Körperschaft erhielt, aber weiterhin Schwierigkeiten hatte, als Sprachrohr für alle deutschen Juden zu dienen. Der Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens Neu entstand 1893 der Central-Verein: Den unmittelbaren Anstoß zu seiner Gründung lieferte die anonym erschienene Schrift Schutzjuden oder Staatsbürger (1893) aus der Feder des jüdischen Philologen Raphael Löwenfeld (1854-1910). Löwenfeld beklagte sich darin über den Zustand der jüdischen Gemeinden und über deren politische Vertreter, die sich gegenüber der antisemitischen Bewegung viel zu passiv verhalten würden. Die Juden bräuchten eine neue politische Führung, die den Judengegnern aktiv entgegenzutreten habe. Die Broschüre erhielt beträchtliche publizistische Aufmerksamkeit und erschien innerhalb von wenigen Wochen bereits in der dritten Auflage. Offenkundig lehnten immer mehr Juden eine beschwichtigende Haltung gegenüber den Anfeindungen ab, die mit den Ritualmordbeschuldigungen in Xanten und dem Programm der Konservativen Partei immer bedrohlicher und breitenwirksamer erschienen. Mitglieder einer jüngeren Generation waren zunehmend bereit, in Kauf zu nehmen, dass eine offensive politische Vertretung der Juden in eigener Sache von den antisemitischen Gegnern als Bestätigung ihrer Haltung missbraucht werden konnte, um gegen eine jüdische Separatidentität zu polemisieren. Der Hass gegen die Juden funktioniere offenkundig ganz unabhängig von jüdischem Wohlverhalten, so die sich verbreitende Meinung. Gerade die jüdischen Studenten, die sich gegen den universitären Antisemitismus in eigenen jüdischen Studenten-
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verbindungen und dann im Kartell-Convent jüdischer Studenten (K.C.) zusammengeschlossen hatten, fanden die beschwichtigende Haltung der Gemeinden und der älteren Generation nicht mehr einsichtig. Viele K.C.-ler wurden folglich in der Leitung des C.V. aktiv. So verständlich und konsequent diese Reaktion vieler Juden auf den Antisemitismus war; unter den Bedingungen eines politischen Systems, in dem politische Legitimität eng mit religiöser, ethnischer und nationaler Homogenität verknüpft wurde, war diese selbstbewusste Demonstration eines jüdischen Standpunktes riskant. Möglicherweise hätte sie dazu führen können, dass ein jüdischer Politiker als Jude agiert und dies mit der Zeit in einer flexibler gefassten politischen Arena Akzeptanz findet. Juden wären dann in Deutschland – ohne diesen Vergleich freilich zu akzeptieren, denn sie verstanden sich als loyale deutsche Staatsbürger – zusammen mit den Katholiken und den Sozialisten Vorreiter einer Pluralisierung des politischen Systems geworden. Die historische Entwicklung verlief allerdings anders. Gegründet wurde der C.V. von bürgerlichen, gebildeten Juden, wuchs aber schnell darüber hinaus, sodass er 1903 16.000 individuelle und 90.000 korporative Mitglieder verzeichnete. Beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges lag die Zahl der individuellen Mitglieder bei 40.000, was bei einer jüdischen Bevölkerung von ca. 550.000 einen bemerkenswert hohen Anteil darstellte. Zunächst war der Verein stark von großstädtischen, insbesondere Berliner Juden dominiert, aber bereits nach der Jahrhundertwende entwickelte sich auch in der Provinz ein dichtes Netz von Ortsgruppen. Unterbürgerliche Schichten, die einwandernden osteuropäischen Juden sowie die Orthodoxie blieben im C.V. stets unterrepräsentiert, wenn auch nicht völlig abwesend. Unter den Gründern waren neben Löwenfeld der Arzt und erste Vereinsvorsitzende Martin Mendelsohn (1860-1920) sowie die späteren Führungsfiguren, Maximilian Horwitz (1855-1917) und Eugen Fuchs (1856-1923), beide Juristen. Der C.V. sollte als eine überparteiliche Organisation fungieren, um die Interessen von Juden zu vertreten und sie vor allem gegen den wachsenden Antisemitismus zu verteidigen.
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Wichtig war dem C.V. stets der Nachweis, dass Juden gute Staatsbürger und überzeugte Deutsche sein könnten, ohne ihren jüdischen Glauben, der bereits im Vereinsnamen (ohne die sonst üblichen Begriffe wie ›mosaisch‹ oder ›israelitisch‹) angeführt wurde, aufgeben zu müssen. Die Vereinsgründung stieß in der Öffentlichkeit durchaus auf einigen Widerstand. Den potentiellen Waffenbrüdern vom Abwehr-Verein war eine separate jüdische Organisation ein Dorn im Auge, weil damit die komplette Assimilation der Juden gefährdet sei und den Antisemiten weitere Munition geliefert würde. Derartige Vorbehalte wurden auch in der breiteren liberalen Öffentlichkeit geäußert. In der jüdischen Öffentlichkeit gab es andere Zweifel: Orthodoxe Gruppen konnten mit dem religiösen Liberalismus der C.V.-Vertreter nichts anfangen. Die Leitungen der jüdischen Gemeinden, gegen deren Untätigkeit Löwenfelds Schrift ja gerichtet gewesen war, sahen ihre Autorität bedroht. Der Verein versuchte mit einzelnen Flugblättern und Broschüren weitverbreitete antisemitische Vorurteile zu widerlegen, v.a. Beschuldigungen des Ritualmords, des Wuchers oder der Tierquälerei (beim viel diskutierten rituellen Schächten). Zudem protestierte er gegen die fortgesetzte Diskriminierung von Juden bei der Vergabe von Ämtern in Verwaltung, Politik, Militär und Bildungssystem, gegen die sinkende Zahl von Juden in der liberalen Politik und gegen die mangelnde Verfolgung des Antisemitismus durch die Gerichte. Besonders der letzte Aspekt war wichtig in der Vereinspolitik: Seit der Jahrhundertwende strengte der C.V. jedes Jahr über 100 Gerichtsverfahren gegen antisemitische Vergehen an. Dazu richtete der Verein in Berlin eigens eine sogenannte Rechtsschutzstelle ein: Mit täglicher Sprechstunde für Personen, die als Juden Diskriminierung erfahren hatten. Auch beobachtete der Vorstand die gesamte antisemitische Tagespresse und andere Veröffentlichungen, um ggf. gegen verunglimpfende Publikationen ein Strafverfahren einleiten zu können. Da sich das rechtliche Vorgehen gegen den Antisemitismus oft auf das Verbot von Religionsbeschimpfungen nach Paragraph 166 StGB stützen musste, kam es allmählich zu einer regelmäßi-
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gen Kooperation mit – oft orthodoxen – Rabbinern, was dann auch Teile der gemäßigten Orthodoxie für die Arbeit des C.V. öffnete. Weitere Paragraphen des Strafgesetzbuches, die der C.V. für seine Strafverfahren anwandte, lauteten »Aufhetzung zum Klassenkampf« oder »Aufführen groben Unfugs«. Allerdings waren die Erfolgsaussichten dieser Verfahren allzu oft gering; in der Regel wies die Staatsanwaltschaft die Anträge wegen fehlendem ›öffentlichen Interesse‹ ab. Wurde doch ein Gerichtsverfahren eröffnet, endete es überdurchschnittlich oft mit einem Freispruch oder einer geringen Strafe. Nicht selten leuchteten die Vorwürfe den oft konservativ eingestellten Richtern nicht ein, weil sie selbst keine vorurteilsfreie Sicht auf das Judentum besaßen. Ein gutes Beispiel für die voreingenommene Justiz stellte z. B. die Rechtsprechung im Fall der Konitzer Ritualmordbeschuldigung (1900) dar, gegen die der C.V. ein Verfahren anstrengte und die er auch mit anderen Mitteln (eigene Ermittlungen, Flugblättern, politischen Interventionen) zu bekämpfen versuchte. Angesichts der schwierigen Erfolgsaussichten blieb die rechtliche Strategie problematisch, die vornehmlich den Abwehrkampf des C.V. bestimmte. Daher wurde sie zunehmend durch eine stärker politische Interessenvertretung ergänzt. Der C.V. hielt die »Judenfrage« also zunächst vor allem für eine Frage des Rechts, nicht der Politik. Nur so glaubte er, Juden aus allen Parteien ansprechen und auf alle Parteien einwirken zu können. Die Überparteilichkeit gestaltete sich aber schwierig: Eine Unterstützung der konservativen Partei kam wegen des Programms und des darin enthaltenen antisemitischen Paragrafens nicht in Frage. Die reservierte Haltung der Nationalliberalen sowie deren gelegentliche Kompromisse mit Antisemiten legte eine Kooperation mit ihnen ebenfalls nicht nahe. Der SPD stand der C.V. lange Zeit misstrauisch gegenüber, da sie ja in Opposition zu jenem Staat stand, dessen bedingungslose Unterstützung der C.V. zum Programm erhoben hatte. Erst nach der Jahrhundertwende plädierte man zunehmend für eine Annäherung an die SPD.
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Ähnlich distanziert stand man dem katholischen Zentrum gegenüber, das vor allem als konfessionelle Partei lange Zeit keine ernsthafte Erwägung wert zu sein schien. Allmählich kam es jedoch auch hier zu Ausnahmen: Als 1907 mit dem Bülow-Block ein Bündnis von Konservativen und Linksliberalen versucht wurde, gab es Stimmen im C.V., die eine Annäherung an das Zentrum einer Fortsetzung der freisinnigen Ausrichtung vorziehen wollten. Übrig blieb für den C.V. wieder nur die Kooperation mit den linksliberalen Parteien, vor allem mit dem Freisinn. Hier existierten jedoch stets Spannungen, zumal man von Seiten des C.V. den Linksliberalen anlastete, dass für sie erst 1912 wieder jüdische Abgeordnete in den Reichstag einzogen. Es mag daher nur vordergründig dem Gebot der Überparteilichkeit geschuldet gewesen sein, dass die Vorsitzenden des C.V., Horwitz und Fuchs, Reichstagskandidaturen für den Freisinn ablehnten. Zunehmend begann der C.V. nun direkt in die Politik einzugreifen, weil Juden vor allem in der politischen Arena angegriffen wurden. Man fing an, gegen antisemitische Kandidaten vorzugehen und nur solche Kandidaten zu unterstützen, die die Rechte der Juden zu schützen versprachen. Insbesondere in Stichwahlen empfahl man den jüdischen Wählern alles zu tun, um einen antisemitischen Kandidaten zu verhindern, was aber in der Realität oft nicht einfach durchzusetzen war, z.B. weil Juden die Wahl eines SPD- oder Zentrums-Kandidaten schwer fiel. Der C.V. baute für diese Unterstützung sogar eine Wahlkampfkasse auf, sodass einzelne Kandidaten finanziell, allerdings nur mit geringen Beträgen, unterstützt werden konnten. Gegen Ende des Jahrhunderts forderte der C.V. jüdische Abgeordnete in den Parlamenten, wobei man betonte, dass diese keine Vertretung jüdischer Interessen zu leisten hätten, sondern lediglich für die Verteidigung der Emanzipation eintreten sollten. Selbst als man also eine ›partikulare‹ Interessenvertretung propagierte, war man bemüht, sie als Dienst an der Allgemeinheit darzustellen. Auch der C.V. entkam also dem Universalisierungsgebot des Politischen letztlich nicht. Allerdings lässt sich in der konkreten Arbeit des C.V. noch in der unmittelbaren Vorkriegs-
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zeit ein Wandel ablesen, mit dem die jüdische Selbstbestimmung – gegenüber der Betonung des deutschen Charakters der Juden – immer stärker in den Fokus rückte. Eine jüdische Traditionspflege, die sich schon in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts u.a. in jüdischen Geschichtsvereinen niederschlug, sollte die Juden mit Stolz erfüllen, um so den Antisemiten wehrhafter gegenübertreten zu können. Hierher passte auch die C.V.-Forderung nach Einführung eines jüdischen Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen. Die zunehmende Verurteilung von Konversion und Taufe durch den Verein passte ebenfalls in diese Tendenz einer »jüdischen Renaissance«. In gewisser Hinsicht wandelte sich der Central-Verein also von einem »Abwehr- zum Gesinnungsverein« (Avraham Barkai). Die Zionistische Vereinigung für Deutschland 1897 kam mit der Gründung der Zionistischen Vereinigung für Deutschland (ZVfD) ein weiterer Faktor in der politischen Landschaft der deutschen Juden hinzu. Frühzionistische Ideen zirkulierten in Deutschland schon vorher, wie etwa Hess’ Schrift Rom und Jerusalem von 1862 oder Autoemancipation (1882) von Leo Pinsker (1821-1891). Vereinzelt wurden bereits in den 1880erJahren Organisationen (etwa in Kattowitz oder in Heidelberg) gegründet, die es sich zur Aufgabe machten, die zunehmende Auswanderungswelle von osteuropäischen Juden nach Palästina zu lenken. Esra, gegründet 1884, war hierbei der erste nennenswerte Verein mit überregionaler Ausstrahlung. Allerdings handelte es sich um Kolonisierungsbemühungen, die noch weit vom späteren Programm des politischen Zionismus entfernt waren und diesem dann sogar ablehnend gegenüberstanden. Auch unter Studenten kam es zu ersten zionistischen Vereinigungen, von denen der Berliner Russisch-jüdische wissenschaftliche Verein ab 1889 vornehmlich russische Exilstudenten – unter ihnen später so einflussreiche zionistische Persönlichkeiten wie Chaim Weizmann (1874-1952) – ansprach. Kurz darauf folgten
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Jung-Israel und die Jüdische Humanitätsgesellschaft, jeweils Berliner Gründungen der frühen 1890er-Jahre, mit denen die Frühzionisten versuchten, deutsch-jüdische Studenten für ihre Ziele zu begeistern. Auch wenn viele dieser Organisationen sehr klein waren und nicht selten sektiererische Züge besaßen, so gelang es ihnen dennoch in bescheidenem Ausmaß eine junge Generation zu mobilisieren, die mit der etablierten Politik der jüdischen Honoratioren unzufrieden war und nach einem neuen jüdischen Selbstbewusstsein strebte. Die zionistische Bewegung zielte nicht zuletzt auf diese Orientierungslosigkeit und stellte dagegen den Stolz auf die jüdische Geschichte und die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft ins Zentrum, wobei allerdings eine individuelle Emigrationsbereitschaft für westeuropäische Juden lange Zeit überhaupt keine Rolle spielte. Stellte die zionistische Bewegung bis Mitte der 1890er-Jahre im Wesentlichen eine Reaktion auf die osteuropäisch-jüdischen Migrationsströme und auf die innerjüdische Kritik an der vorherrschenden Mentalität in den jüdischen Gemeinden Westeuropas dar, so politisierte sie sich in der Folgezeit. Für diese Entwicklung war das Eingreifen Theodor Herzls (1860-1904) zentral, der 1896 mit seinem Buch Der Judenstaat die Diskussionen neu ausrichtete. Herzls Anliegen war dabei weniger geprägt von dem Wunsch, die Lage der russischen Juden zu verbessern. Er reagierte vielmehr auf die französische Dreyfus-Affäre (ab 1894) und stellte damit den westeuropäischen Antisemitismus an den Anfang seiner Überlegungen. Sein politischer Zionismus, d.h. das Vorhaben, politische Souveränität für die Juden in einem selbstverwalteten Gemeinwesen zu erlangen, war als Alternative für die akkulturierten Juden Deutschlands und Westeuropas gedacht, was unter den deutsch-jüdischen Zionisten durchaus zu Kontroversen führte. So beäugten Teile der zionistischen Bewegung, die etwa im Umfeld des Esra-Vereins nach wie vor der Kolonisierungsidee Palästinas anhingen und keine direkten politischen Ziele hin zu einer staatlichen Unabhängigkeit verfolgten, Herzl und seine Gefolgsleute misstrauisch. Das Baseler Programm, das auf dem 1. Zionistischen Weltkongress 1897 in Basel – und u.a. von den dort anwesenden 16 deut-
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schen Zionisten – beschlossen wurde, stellte ganz im Sinne von Herzls Judenstaat fest, dass die Juden aller Länder eine nationale Gemeinschaft bildeten. Die endgültige Lösung der »Judenfrage« könne nur durch die Gründung eines jüdischen Gemeinwesens – das Wort Staat war zu diesem Zeitpunkt noch ebenso heftig umstritten wie unrealistisch – herbeigeführt werden. Dazu sei es nötig, so das Programm weiter, das jüdische Selbstbewusstsein zu stärken (etwa durch das Erlernen jüdischer Geschichte und der hebräischen Sprache) und die weitere Kolonisation Palästinas zu befördern. Die Frage, ob Palästina die zukünftige Heimstätte der Juden werden sollte, war in der zionistischen Bewegung, die sich nach dem Kongress immer mehr konsolidierte, lange Zeit heftig umstritten und wurde entscheidend erst auf dem 7. Kongress 1905 geklärt. Die deutsche ZVfD wurde als Teil eines weltweiten Verbandes gegründet, der Zionistischen Weltorganisation (ZWO), innerhalb derer die deutsche Sektion zentrale Funktionen übernahm und bis 1918 den Hauptsitz stellte. Der deutsche Zweig funktionierte nach demokratischen Prinzipien, trotz des teilweise autokratischen Führungsstils Herzls, und wählte auf dem Statuten gebenden Delegiertentag in Frankfurt 1897 auch ein Zentralkomitee. Wichtige Führungsfiguren der ZVfD waren zunächst die Juristen Max I. Bodenheimer (1865-1940) und Adolf Friedmann (18711932) sowie der Arzt Aron Sandler (1879-1954). 1898 hatte die ZVfD zwanzig Ortsgruppen und lediglich geschätzte 400 Mitglieder. Für die Zukunft wichtig war jedoch, dass es sich hierbei um vergleichsweise junge und akademisch gebildete Männer handelte, was ein späteres Wachstum der Bewegung versprach. In der Tat war die Zahl der organisierten Zionisten 1910/11 bereits auf 8.400 angewachsen. Die immer noch vergleichsweise geringe Zahl erklärt sich auch daraus, dass viele Rabbiner, Gemeindevorstände und auch weite Teile des C.V. der zionistischen Bewegung mehr als skeptisch, ja offen ablehnend gegenüberstanden, schließlich drohte mit jeder Demonstration eines separaten jüdischen Nationalismus der entsprechende Vorwurf nationaler Illoyalität. 1913 wurde auf einer Delegiertenver-
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sammlung des C.V. sogar der Ausschluss von Zionisten in Erwägung gezogen. Seit diesem Zeitpunkt befanden sich der C.V. und die ZVfD in einem Dauerkonflikt, der bis 1933 anhielt. Zugleich warfen die Rabbiner der neuen politischen Kraft vor, dass die zionistische Idee nicht mit der jüdischen Religion zu vereinbaren sei. Die Wiedererrichtung eines jüdischen Staates und die Heimkehr nach Israel könnten sich erst mit Anbruch des messianischen Zeitalters erfüllen. Kritiker wie der Wiener Oberrabbiner Moritz Güdemann (1835-1918) sahen im Judentum zudem nach der zweitausendjährigen Zerstreuung kein Volk mehr; die kosmopolitische Mission der Juden stünde gegen die »Nationalitätsschwärmerei der Völker« und für die Vereinigung aller Menschen.4 1912 wurde schließlich das Antizionistische Komitee gegründet, das Aufklärungsbroschüren gegen die neuen Gegner publizierte. Der Widerstand war teilweise sehr massiv, sodass etwa 1907 ein junger zionistisch gesinnter Rabbiner vom Vorstand der jüdischen Gemeinde Berlins entlassen wurde, weil er sich aktiv für seine Überzeugungen eingesetzt hatte. Hinter diesen Spannungen kamen, abgesehen von den ideologischen Unterschieden, zugleich Konflikte über die demokratischen Spielregeln in den Gemeinden zum Tragen. Die Zionisten forderten demokratische Mitbestimmung in den Gremien, die zumeist nicht mit einem allgemeinen und gleichen Wahlrecht gewählt wurden. Vielmehr favorisierte hier, wie auch in vielen Kommunen, das Klassenwahlrecht die liberalen jüdischen Honoratioren. Die Zionisten setzten sich dagegen für eine Abschaffung dieser Beschränkungen ein: ein Konflikt über die demokratische Verfasstheit der jüdischen Gemeinden, der sich später bei der Frage der politischen Inklusion von Frauen und osteuropäischjüdischen Einwanderern wiederholen sollte. Allerdings wäre es übertrieben, von einem generellen Widerstand der Gemeinden gegen den Zionismus auszugehen; gerade traditionelle und orthodoxe Landgemeinden lehnten die zionistische Idee weniger entschieden ab. Die Gründung des Misrachi, des orthodoxen Zweiges 4
Moritz Güdemann, National-Judenthum, 2. Aufl., Leipzig 1897, S. 35.
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des Zionismus, lieferte 1902 den zionismusfreundlichen Traditionalisten die entsprechende Organisationsform. Trotz aller Antagonismen war die ZVfD nicht zufällig wenige Jahre nach dem C.V. entstanden; sie stand ihm in vielen Aspekten näher, als die ideologischen Auseinandersetzungen vermuten ließen. Hinter beiden Initiativen lag letztlich eine tiefe Enttäuschung über die neue antisemitische Bewegung, die brüchige Allianz mit den Liberalen und die stockende gesellschaftliche Gleichberechtigung der Juden. Beide Gründungen zehrten auch von der – nicht selten viel umfassenderen – Unzufriedenheit einer nachfolgenden Generation, die sich vor allem in den jüdischen Studentenverbindungen organisiert hatte. Obwohl sich zwei ideologisch getrennte Dachorganisationen bildeten – der dem C.V. nahestehende K. C. und das zionistische Kartell jüdischer Verbindungen –, verbanden die Studenten einige generationsspezifische Themen und Haltungen, die auch die Arbeit des C.V. und der ZVfD beeinflussen sollten: Selbstbestimmung, Stolz auf die eigene Herkunft bei gleichzeitiger Ablehnung einer beschwichtigenden Politikauffassung. Es überrascht daher nicht, dass eine Mitarbeit der Zionisten im C.V. in der Frühzeit durchaus möglich war. Diese Ähnlichkeiten in der Gesinnung ließen die zionistische Bewegung auch für viele junge Juden attraktiv erscheinen. Gerade unter denjenigen jüdischen Jugendlichen, die sich für die Ideale der (bürgerlichen) Jugendbewegung begeistern konnten, wurden in dieser Phase einige Anhänger des Zionismus. Anschlussfähig war dieser Enthusiasmus zudem für die beginnende »jüdische Renaissance«, in der sich jüdische Philosophen und Literaten wie Martin Buber (1878-1965) oder Richard Beer-Hofmann (1866-1945) auf die Suche nach einem authentischen, verlorengegangenen Judentum begaben, das sie oft in Osteuropa zu finden glaubten. Innerhalb der noch jungen zionistischen Bewegung kristallisierten sich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zwei Schulen heraus, welche die Position der Zionisten zum deutschen Staat und zum politischen System des Kaiserreiches unterschiedlich beschrieben. Die eine Richtung plädierte für eine ak-
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tive Teilnahme der Juden an der deutschen Politik; sie sollten sich in die Arbeit der politischen Parteien, vornehmlich auf der Linken, einmischen und ihre Interessen vertreten. Aus dieser Perspektive sollte sich die ZVfD auf die Beeinflussung der deutschen Außenpolitik konzentrieren, um eine zionistische Zukunft in Palästina zu ermöglichen. Eine jüngere Generation von deutschen Zionisten, allen voran der Jurist und spätere Generalsekretär der ZVfD, Kurt Blumenfeld (1884-1963), bezweifelte hingegen viel grundsätzlicher die Errungenschaften der Emanzipation der Juden und sah sie in politischer und kultureller Hinsicht als heimatlos an. Mit einer solchen Diagnose wurde die Übersiedlung nach Palästina für jeden deutschen Juden zu einer realen Option. Politische Partizipation in der deutschen Gesellschaft rückte aus dem Blickfeld dieser radikalen Richtung des deutschen Zionismus, die oft als praktischer Zionismus bezeichnet wird und der innerhalb der Gesamtbewegung die Zukunft gehörte. Aus diesem Lager war denn auch die prononcierteste Kritik am C.V. zu vernehmen. Der Hilfsverein der deutschen Juden Eine ganz andere Art von Politik – eine »jüdische Außenpolitik« – entwickelte sich ab 1901: Mit dem Hilfsverein der deutschen Juden entstand eine deutsche Hilfsorganisation, gegründet von dem liberalen Sozialpolitiker Paul Nathan (1857-1927). Diese Internationalisierung hatte sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts angebahnt. Bereits 1860 war in Paris die Alliance Israélite Universelle gegründet worden, 1871 folgte die britische Anglo-Jewish Association. Längerfristig standen diese jüdischen Organisationen in der Tradition der bereits erwähnten politischen Fürsprache (Schtadlanuth), mit der im frühneuzeitlichen Europa Juden oft überregional für in Not geratene Glaubensgenossen bei Herrschern interveniert hatten; zumal die neu entstandenen Organisationen auf die Interventionskraft herausragender jüdischer Persönlichkeiten wie Adolphe Crémieux (1796-1880), Claude Montefiore (1858-
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1938) oder Gerson Bleichröder in den europäischen Machtzentren setzten. Im Kontext des 19. Jahrhunderts agierten diese Organisationen dann allerdings in einem veränderten politischen Umfeld. Ihre Fürsprache bezog sich, zuerst sichtbar bei der Alliance, auf jüdische Gemeinden in den Kolonialgebieten, im Falle Frankreichs vor allem in Nordafrika und im Nahen Osten. Hier engagierte man sich gegen Diskriminierung sowie Antisemitismus und forderte die ökonomische und kulturelle Besserstellung ebenso wie die rechtliche Emanzipation dieser Juden. Weil es in den deutschen Kolonien keine jüdischen Gemeinden gab, setzte der Hilfsverein andere regionale Schwerpunkte: Schon auf dem Berliner Kongress 1878 hatte es unter deutschen Juden Bemühungen zur Verbesserung der Lage rumänischer Juden gegeben; 1881/82 fanden Geldsammlungen für die von Verfolgungen und Pogromen bedrohten russischen Juden statt. Der Hilfsverein führte später diesen Weg fort und bemühte sich vor allem um eine Verbesserung der Lage in Rumänien, Russland sowie im Osmanischen Reich. Wie auch die Alliance und die Association sammelte der Hilfsverein Informationen über die Lage der entsprechenden Juden, um den Zustand der Gemeinden und die Formen der Diskriminierung dokumentieren zu können. Mit diesem Material konnte dann die jüdische wie nichtjüdische Presse und Öffentlichkeit in Deutschland mobilisiert werden, womit – oder auch direkt durch persönliche Intervention – Druck auf Entscheidungsträger ausgeübt werden sollte. Schwerpunkt der Arbeit in den betroffenen Gebieten war die Erziehung; Vorbild war hier das weltweite, französischsprachige und säkular ausgerichtete Schulsystem der Alliance mit über 180 eigenen Schulen und über 40.000 Schülern und Schülerinnen im Jahre 1913. Die vergleichbaren Aktivitäten des Hilfsvereins nahmen sich viel bescheidener aus: Er finanzierte einige jüdische Schulen im Osmanischen Reich, mehrere Kindergärten in Palästina sowie die dortige technische Hochschule, das Technion in Haifa. Ein weiterer Schwerpunkt der Arbeit des Hilfsvereins war die Organisation und Unterstützung der Auswanderung russischer Juden. Die Hilfe für Einrichtungen in Palästina brachte den
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Hilfsverein z.T. in Konflikt mit der zionistischen Bewegung, so etwa beim »Sprachenkampf« am Technion, wo der Hilfsverein die Einführung der deutschen Sprache forderte, während die lokale Lehrerschaft mit Unterstützung der Zionisten das Hebräische als neuer Nationalsprache der Juden durchsetzen wollte. In ihrer Struktur reproduzierten Hilfsverein, Alliance und Association den zeitgenössischen Wettkampf der imperialen Großmächte um koloniale Territorien – und unterliefen ihn zugleich. Indem sie sich jeweils getrennt für jüdische Belange einsetzten, verfügten sie über ein Argument gegen die häufigen antisemitische Vorwürfe, sich für jüdische Interessen zu engagieren und keine loyale Bürger ihres Staates zu sein: Sie würden als deutsche, französische bzw. englische Organisation im Dienste der jeweiligen Nationalinteressen handeln. Zugleich wurden bei allen drei Organisationen koloniale Vorstellungen über die zivilisatorische Rückständigkeit der jeweiligen Regionen und der dort ansässigen Juden zum Motor ihrer Politik. Die west- und zentraleuropäischen Juden betrieben damit in gewisser Hinsicht eine Art Außenpolitik, die ihren internationalen Führungsanspruch dokumentierte. Allerdings stellte dies auf komplexe Weise gleichzeitig ein Stück Innenpolitik dar, schließlich erschienen in einer solchen politischen Philanthropie der Zustand der europäischen Juden als erstrebenswert und ihre Institutionen und ihre Politik als Vorbild und als Exportgut. Ein Nebeneffekt der jüdischen Hilfstätigkeit in fernen Ländern war somit die rhetorische Stabilisierung der eigenen gesellschaftlichen Stellung, die in der Heimat durch die unaufhörlichen Angriffe beständig in Frage gestellt wurde. Zugleich wurde durch diese Organisationen die traditionelle Form der überregionalen politischen Fürsprache in die moderne Welt transformiert. Die jüdische Frauenbewegung Kann man beim Hilfsverein Transformationen der Politik ebenso erkennen wie in der zionistischen Bewegung, weil beide auf älte-
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re Entwicklungen – die überregionale Schtadlanuth oder die jahrhundertealte Sehnsucht nach Zion – aufbauten, so wurden um die Jahrhundertwende auch andere Formen des Politischen sichtbar, die kaum Vorbilder in der deutsch-jüdischen Geschichte kannten. Die sicherlich wichtigste Veränderung dieser Art stellte die Frauenbewegung dar, an deren Entwicklung von Beginn an maßgeblich deutsche Jüdinnen beteiligt waren. Innerhalb der jüdischen Gemeinden hatte schon immer eine Tradition von Wohltätigkeitsverbänden existiert, in denen Frauen in Zeiten, als ihnen die Teilnahme am öffentlichen Leben der Gemeinde noch weitgehend verwehrt war, aktiv mitarbeiten konnten. Im frühen 19. Jahrhundert schufen Frauen die ersten neuartigen Fürsorgevereine. Durch die Verbürgerlichung weiter Kreise der jüdischen Bevölkerung erhielt die karitative Arbeit von Frauen – als legitime Tätigkeit bürgerlicher Frauen – zusätzliche Bedeutung. Gegen Ende des 19. Jahrhundert waren diese Frauenverbände, die nun in vielen jüdischen Gemeinden existierten, erheblich gewachsen und erhielten neue Funktionen, wie etwa die Einrichtung von Kindergärten und -heimen oder die weibliche Berufsbildung und -beratung. Jüdische Frauen bzw. Frauen jüdischer Herkunft waren an der organisatorischen Entwicklung der allgemeinen deutschen Frauenbewegung beteiligt: Henriette Goldschmidt (1825-1920) war Mitbegründerin des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins (1865), eine Vorgängereinrichtung des Bundes deutscher Frauenvereine (BDF), der 1894 gegründet wurde. Ottilie Schönewald (1883-1956) stand den jüdischen Wohlfahrtsverbänden aus feministischen Überlegungen ablehnend gegenüber und wurde daher zunächst im BDF aktiv, obwohl sie dann später im Jüdischen Frauenbund (JFB) maßgebliche Funktionen erfüllte. Dieser wurde 1904 gegründet. Wie im Falle anderer Frauenorganisationen, die im späten 19. Jahrhundert entstanden, folgten Frauen damit dem Muster der politischen Interessenvertretung im Kaiserreich und versuchten so ihre Anliegen stärker in der (jüdischen) Öffentlichkeit zu etablieren. Jüdinnen litten in gewisser Hinsicht an einem »doppelten Handikap« (Marion Kaplan) in der politischen Arena: Sie hatten mit vielen der Nachteile und
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Zurücksetzungen zu kämpfen, die männliche Juden ebenso erfuhren; dazu kamen spezifische frauenfeindliche Diskriminierungen. Zugleich war es eine ihnen oft zugeschriebene Aufgabe, in einer vermeintlich bedrohlichen Welt aus Antisemitismus und Benachteiligungen das Familienleben »jüdisch« und heimelig zu gestalten und so Formen jüdischer Religion und Identität zu erhalten. Die politische Bewegung für die Gleichberechtigung von Jüdinnen rüttelte daher aus Sicht vieler jüdischer Männer und weiter Teile der jüdischen Öffentlichkeit an den Fundamenten des deutschen Judentums – und dies in einer Zeit, in der die zahlenmäßige und spirituelle Reproduktion der jüdischen Gemeinschaft (auch aufgrund der sinkenden Geburtenrate in jüdischen Ehen) bedroht erschien. Der JFB wollte die Lebenssituation jüdischer Frauen verbessern, ihre Selbständigkeit befördern und ihr jüdisches Selbstbewusstsein stärken, womit er wie ein weibliches Pendant zum C.V. und zur ZVFD fungierte. Der Bund setzte sich aktiv gegen die Ausbeutung von Frauen und insbesondere gegen Prostitution und Mädchenhandel ein, wovon gerade osteuropäisch-jüdische Einwanderinnen bedroht waren. Ein weiterer Schwerpunkt der Arbeit lag auf der Förderung von weiblicher Sozialarbeit und karitativer Tätigkeit, sicherlich auch weil auf diesem Gebiet eine gleichberechtigte Teilhabe am öffentlichen Leben auf pragmatischem Weg erreichbar erschien. Der Bund plädierte – wenn auch nicht immer besonders vehement – für die Einführung des Frauenwahlrechts, insbesondere bei den Wahlen zu den jüdischen Gemeinden. Mit diesem Programm war der JFB keineswegs radikal, wie es auch weite Teile der deutschen Frauenbewegung insgesamt zu diesem Zeitpunkt nur selten waren. So herrschte in der Konzeption der Verbandsarbeit und in dessen Selbstverständnis die traditionelle, ›natürliche‹ Aufteilung der Geschlechterrollen vor, womit auch eine spezifische Ausrichtung der Frau auf Ehe und Familie sowie das Desinteresse des Bundes an Berufsausbildungsfragen verbunden waren. Selbst die Rhetorik des Bundes war relativ konservativ; eine direkte Bezugnahme auf feministische Ideen wurde zumeist vermieden. Schließlich
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kamen die Entbehrungen von Frauen aus der Arbeiterschaft kaum auf die Tagesordnung. Dies und die allgemein gemäßigte Politik des Bundes hingen nicht zuletzt mit der sozialen Struktur der Mitglieder zusammen, die vornehmlich den bürgerlichen Mittelschichten entstammten. Insgesamt waren beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges im JFB 35.000, Ende der 1920er-Jahre 50.000 Jüdinnen organisiert. Eine seiner bekanntesten Figuren war Bertha Pappenheim (1859-1936), die bereits viele Jahre in unterschiedlichen jüdischen Organisationen tätig gewesen war und mit dem JFB den Aufbau eines überregionalen Verbandes für Jüdinnen verfolgte, während sie auch im Vorstand des Bundes deutscher Frauenvereine (BDF) saß. Trotz seines gemäßigten Kurses wurde der JFB jedoch häufig als Angriff auf die Geschlechterordnung aufgefasst – und es dauerte Jahrzehnte, bis ihm die liberale Leitung der jüdischen Gemeinden Anerkennung zollte. Der Jüdische Frauenbund war im Großen und Ganzen eine Organisation, der religiöse Jüdinnen mit einer ausgeprägten Nähe zu den Gemeinden beitraten. Im Vergleich zu vielen Vereinen und Verbänden jüdischer Männer legte der JFB sogar deutlich mehr Wert auf die Befolgung jüdischer Religionsvorschriften, was sicherlich auch mit der Rolle der jüdischen Frau als »Traditionsbewahrerin« zusammenhing. Jüdische Frauenrechtlerinnen, die den jüdischen Gemeinden fernstanden und sich nicht als religiös verstanden, zogen in der Regel eine Mitgliedschaft im liberalen BDF vor. Wichtige Beispiele dafür waren u.a. Camilla Jellinek (1860-1940), Josephine Levy-Rathenau (1877-1921), Alice Salomon (1872-1948) und Jeanette Schwerin (1852-1899). In allgemeinen Frauenverbänden wie dem BDF war es allerdings kaum möglich, spezifische Belange jüdischer Frauen zu behandeln, weil diese sich zumeist als strikt überkonfessionell begriffen und einer expliziten jüdischen Identität ihrer Mitglieder skeptisch bis ablehnend gegenüber standen. So lehnte die Frauenrechtlerin Helene Lange (1848-1930) die Betonung der Konfessionalität durch Jüdinnen im BDF rundweg ab und geriet dadurch in Konflikt mit Pappenheim. Als Salomon 1919 versuchte, Vorsitzende des BDF zu werden, wurde sie von ihren Kolleginnen zurückgewiesen, weil
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sie, obwohl getauft, einen jüdisch klingenden Namen und jüdische Vorfahren hatte. Die Erweiterung des Politischen Obwohl es unter den Zeitgenossen des späten Kaiserreiches sicherlich einige gab, für die etwa die Frauenbewegung keine legitime Dimension des Politischen darstellte, würde heute kaum jemand bezweifeln, dass hier elementare politische Probleme und Ansprüche – demokratische Partizipation, Interessenvertretung, Selbstorganisation etc. – verhandelt wurden. Eine Politik- und Rechtsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zu schreiben, bedeutet einen sich erweiternden Gegenstandsbereich zu thematisieren: immer neue Gruppen, immer neue Themen, immer neue Seiten menschlichen Lebens wurden zu Gegenständen des Politischen, mussten also in einer politischen Arena behandelt und gelöst werden. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert kamen so zusätzliche Aspekte hinzu, die an dieser Stelle zumindest erwähnt werden müssen. So wurden Tierschutzfragen in dieser Phase politisiert, sie nahmen breiteren Raum in der öffentlichen Debatte ein und wurden Gegenstand von gesetzlichen Regelungen. Dies betraf Juden unmittelbar, weil Tierschutzgruppen gegen das rituelle Schlachten von Tieren, das sogenannte Schächten, agitierten und in diesen Debatten auch antisemitische Stereotypen eine gewichtige Rolle spielten. 1892 führte Sachsen ein Schächtverbot ein, das bis 1910 galt. Gegen diese Regelung organisierte der Verband der jüdischen Gemeinden Sachsens unter der Leitung des Präsidenten Max Elb (1851-1925) eine Verteidigungskampagne, an der auch liberale Juden teilnahmen, die die halachisch begründeten Speisevorschriften (hebräisch »Kaschrut«), die das Schächten vorsahen, gar nicht mehr einhielten. Dies ist ein Beispiel für eine frühe moderne Politikkampagne, inklusive aufwendiger Lobbyarbeit (u.a. mit tiermedizinischen Experten und Gutachten), Spendenaktionen, öffentlichen Aktionen etc. Damit gelang es schließlich nicht nur, das reichsweite Schächtverbot
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zu verhindern, wie es vonseiten der Tierschutzorganisationen gefordert wurde, sondern auch die Aufhebung der sächsischen Sonderregelung zu erwirken. Ein anders gelagertes Beispiel: In dem Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg entstand eine vielfältige Jugendbewegung in Deutschland. Auch zahlreiche junge Juden und Jüdinnen waren von den neuen Idealen der Jugendlichkeit, Gemeinschaft, Natürlichkeit und des Jugendprotestes begeistert, traten bestehenden Gruppen bei oder bildeten ihre eigenen jüdischen Jugendgruppen. Die Jugendlichen selber wie auch die sie argwöhnisch beobachtende Gesellschaft verstanden diese Phänomene als politisch. In deutschen Parlamenten wurde – so etwa im April 1914 im Preußischen Abgeordnetenhaus – mit großer Sorge über die angebliche Zügellosigkeit der Jugend und den sich anbahnenden Generationskonflikt debattiert. Zentraler Konfliktstoff war dabei ein anderes, engeres Verhältnis zwischen den Geschlechtern, was sich in den Jugendbewegungen aber viel weniger dramatisch ausnahm, als dies in den gesellschaftlichen Phantasien unterstellt wurde. Beängstigend wirkte der neue Umgang mit Körperlichkeit und Sexualität, der schon in anarchistisch-literarischen Gruppen der gleichen Zeit zu beobachten war. Ob Sexualität ein politisches Thema ist oder nicht, darüber lässt sich trefflich streiten. Die Zeitgenossen behandelten es aber oft im politischen Raum und in einer entsprechenden Sprache, wie dies auch an den bereits erwähnten Diskussionen über das Beschneidungsritual sichtbar wurde, die nicht nur kommunalrechtliche und medizinische, sondern auch sexual-, körper- und geschlechterpolitische Fragen aufwarfen. Das Thema des Generationskonfliktes strukturierte zur gleichen Zeit bereits viele Debatten unter den deutschen Juden, die Frontstellungen schienen klar: arrivierte, assimilierte, ›unjüdische‹ Juden einer älteren Generation gegen die Orientierung suchende, identitätshungrige und als ›jüdisch‹ auftretende Generation von Jugendlichen. Sowohl der C.V. als auch die zionistische Bewegung und die kulturell einflussreiche ›jüdische Renaissance‹ spielten in diesem Zuschreibungswettkampf der Generationen eine Rolle. Damit waren
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Jugendlichkeit, Sexualität und die Körper der jungen Juden zugleich zum Teil der Politikgeschichte der deutschen Juden geworden. Im Zusammenhang mit diesem neuen Sexualitätsdiskurs lässt sich noch ein letztes, ebenfalls körpergeschichtliches Beispiel für die Erweiterung des Politischen thematisieren: die Sportgeschichte des deutschen Judentums. Der Arzt und zionistische Autor Max Nordau (1849-1923) forderte auf dem Zweiten Zionistischen Kongress in Basel am 28. August 1898 einen neuen »Muskeljuden«. Dieser sollte die kriegerischen, militanten Eigenschaften religiöser Figuren wie Bar Kochba oder der Makkabäer besitzen und sich damit deutlich von der schwächlichen Mentalität der DiasporaJuden unterscheiden. Im gleichen Jahr war der erste jüdische Turnverein, passenderweise nach Bar Kochba benannt, in Berlin gegründet worden. Dieser Schritt war u.a. notwendig geworden, da viele deutsche Sportvereine, die seit den Tagen Turnvater Jahns als Teil der nationalistischen Turnbewegung hoch politisiert waren und sich zunehmend antisemitisch gerierten, am Ende des 19. Jahrhunderts dazu übergingen, Juden die Mitgliedschaft zu verweigern. Auch unter akkulturierten Juden verbreitete sich eine große Sportbegeisterung, für die die Mitgliedschaft in einem allgemeinen Sportverein – dort, wo sie ihnen noch erlaubt war – oder das Fansein für einen der großen Fußballklubs in den Städten Zeichen ihrer Integration waren. Diese selbsterklärte »körperliche Renaissance« der Juden – mit all ihren interessanten Bezügen zur erwähnten kulturellen Erneuerungsbewegung – signalisierte zugleich eine neuartige Körperpolitik: Die Arbeit am jüdischen Körper wurde nicht nur den antisemitischen Stereotypen vom deformierten jüdischen Rassekörper entgegengestellt, die in der Kultur des Fin de Siècle besonders stark zirkulierten, sondern sollte ebenso die politische Regeneration der Juden physisch vorbereiten.
Erster Weltkrieg und Weimarer Republik Die nationalistische Begeisterung, die das Deutsche Reich wie auch andere europäische Länder beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Sommer 1914 erfasste, führte zunächst zum sogenannten »Burgfrieden«. Kaiser Wilhelm II. erklärte in einer Thronrede am 4. August 1914 vor den Vertretern aller Reichstagsparteien: »Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche! Zum Zeichen dessen, dass Sie fest entschlossen sind, ohne Parteiunterschied, ohne Stammesunterschied, ohne Konfessionsunterschied durchzuhalten mit mir durch dick und dünn, durch Not und Tod zu gehen, fordere ich die Vorstände der Parteien auf, vorzutreten und mir das in die Hand zu geloben.«
Trotz des auch vor Kriegsausbruch manifesten Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft schien also der Kaiser allen – neben der Sozialdemokratie und den Katholiken auch den Juden – die Hand zu reichen, um die völlige Mobilmachung der gesamten Gesellschaft zu ermöglichen. Auf Seiten der Juden – und zwar aller wesentlichen Gruppierungen vom C.V. über die Zionisten bis zur Orthodoxie – wurde dies offiziell mit großer Zustimmung zur Kenntnis genommen. Der C.V. und der Verband der deutschen Juden forderten im September 1914 die Juden auf, sich in den Dienst des Vaterlandes zu stellen; ähnlich äußerten sich die Zionisten. Bekannte jüdische Intellektuelle stimmten in den nationalistischen Begeisterungssturm ein. Als im Oktober 1914 93 führende Intellektuelle und Wissenschaftler ein Manifest in allen großen deutschen Zeitungen veröffentlichten, in dem sie den deutschen »Verteidigungskrieg« rechtfertigten und die Anklagen der Westmächte zu widerlegen versuchten, waren unter den Unterzeichnern einige prominente Juden bzw. Personen jüdischer Herkunft: der Arzt Paul Ehrlich (1854-1915), der Chemiker Fritz Haber (1868-1934), der Staatsrechtler Paul Laband (1838-1918), der Maler Max Liebermann (1847-1935), der Theaterregisseur Max Reinhard (1873-1943) sowie der Schriftsteller Ludwig Fulda (18621939), der Initiator des Aufrufs.
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Der nationalistische Überschwang war bei einigen Juden sehr ausgeprägt; das extremste Beispiel stellt wahrscheinlich der populäre Hassgesang gegen England (1914) von Ernst Lissauer (18821937) dar. Unterstützer fand der Krieg jedoch keineswegs nur unter jüdischen Intellektuellen. Viele Juden meldeten sich freiwillig zum Kriegsdienst und nahmen während der folgenden Jahre an den Kampfhandlungen teil. Juden zeichneten Kriegsanleihen oder unterstützten den Krieg auf andere finanzielle Weise. Ein wichtiger Grund für diesen Enthusiasmus lag sicher darin, dass der Krieg gegen das unter Juden verhasste russische Zarenreich geführt wurde. Gleichwohl ist die Interpretation dieser dokumentierten Kriegsbegeisterung längst nicht so einfach, wie es zunächst aussieht: Angesichts des versteckten und offenen Antisemitismus, der sich im Kaiserreich gesellschaftlich weiter ausgebreitet hatte, lässt sich vermuten, dass das kaiserliche Burgfriedensangebot einen erheblichen Konformitätsdruck auf die deutschen Juden ausübte, sich jetzt als vollwertiger Teil der Nation zu bewähren. Viele von ihnen mögen gedacht haben: wenn wir jetzt nicht mitmachen, liefern wir den Antisemiten zusätzliche Munition. In einem Feldpostbrief eines jüdischen Soldaten an seine Mutter hieß es etwa: »Wir müssen die Ehre des Judentums bewahren, müssen den anderen zeigen, daß auch wir einen Begriff von Ehre und Ehrgeiz haben, müssen ihnen zeigen, daß wir Juden auch Männer sind, keine Feiglinge.«1 Der Krieg hatte schwerwiegende und langfristige innenpolitische Konsequenzen. Vor allem setzte er die Sozialdemokratie erheblichen Spannungen aus; in ihr standen sich ein gemäßigt patriotisches und ein radikal pazifistisches Lager zunehmend unversöhnlich gegenüber. Der Richtungsstreit entbrannte über die Frage der Kriegskredite, zu der die SPD mit der größten Reichstagsfraktion von 110 Abgeordneten eine Position einnehmen musste. Jüdische Sozialdemokraten und Sozialisten fanden sich auf beiden Seiten der Kampflinie. Ludwig Frank (1874-1914) etwa, ein wichtiger Parteiführer vom gemäßigten Flügel und bekennen1
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der Jude, sah bereits früh, dass sich die Sozialdemokratie in einen Widerspruch zu ihrer legalistischen und zurückhaltenden Vorkriegspolitik begeben würde, wenn sie der Kriegspolitik nicht zustimmen sollte. Frank nahm die Konsequenzen seiner Überzeugungen auf sich, meldete sich als Vierzigjähriger freiwillig zum Kriegsdienst und starb bereits nach einem Monat im Feld. Andere sozialdemokratische Juden wie Joseph Bloch (1871-1936) oder Max Cohen-Reuß (1876-1963) unterstützen die Politik der Reichsführung vorbehaltlos, ohne dass dies in der anti-sozialdemokratischen Propaganda der Rechten einer Erwähnung wert gewesen wäre. Das Lager der Kriegsgegner – und damit der Ablehnung der Kriegskredite – brauchte länger, um sich zu organisieren. Unter ihnen waren mit Hugo Haase (1863-1919) und Rosa Luxemburg (1871-1919) ebenfalls prominente Juden. Erst als der »Burgfrieden« angesichts der andauernden Kampfhandlungen zerbrach, konnte sich dieses Lager zu einem Machtzentrum innerhalb der Partei verdichten. Im Juni 1915 schlugen Eduard Bernstein, Haase und Karl Kautsky eine friedliche Aussöhnung mit den Kriegsgegnern vor. Als im Dezember des gleichen Jahres die Kriegskredite erneut bewilligt werden mussten, fand die SPD keine gemeinsame Position mehr. Sechs der elf jüdischen SPD-Abgeordneten verweigerten ihre Zustimmung und bildeten damit im Lager der Gegenstimmen, insgesamt zwanzig, eine markante Gruppe. Diese Opponenten schufen kurze Zeit später ihre eigene Reichstagsfraktion, aus der 1917 die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD) entstand. Die Spaltung der Sozialdemokratie sollte später – mit der Entstehung der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), auch aus Teilen der USPD – das politische Lager der Linken schwächen und den Kampf gegen den aufsteigenden Nationalsozialismus erschweren. Die Schwierigkeiten der SPD in dieser Frage und die Enttäuschung über den wachsenden Antisemitismus im Weltkrieg brachten zudem einige überzeugte Linke wie Bernstein dazu, ihre einst säkulare Position dem Judentum gegenüber zu überdenken.
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Juden und Politik im 1. Weltkrieg Nur in einer kurzen Phase zu Beginn des Krieges schien die kaiserliche Burgfriedenspolitik Wirklichkeit zu werden: Antisemitische Propaganda wurde zensiert und entsprechende Zeitungen (wie z.B. die Staatsbürger-Zeitung) mit Verbot gedroht. Nun konnten Juden in Offiziersränge aufsteigen, die ihnen zuvor verschlossen geblieben waren. Einige prominente Juden aus der Wirtschaft übernahmen wichtige Funktionen in der entstehenden Kriegswirtschaft. Albert Ballin und der Bankier Carl Melchior (1871-1933) organisierten die Zentraleinkaufsgesellschaft zur Versorgung der Zivilbevölkerung. Der Ökonom Julius Hirsch (1882-1961) kümmerte sich um die Regulierung der Lebensmittelpreise und Eduard Arnhold um die Kohlenversorgung durch das Reichskohlenamt. Vor allem aber war es Walther Rathenau, der eine führende Position in der Kriegsorganisation einnahm, indem er die essentielle Kriegsrohstoffabteilung im Kriegsministerium leitete. Es lässt sich sogar behaupten, dass die Organisation der Kriegswirtschaft den »Höhepunkt der öffentlichen Errungenschaften« (Werner Mosse) der deutsch-jüdischen Wirtschaftselite darstellte. Da der Krieg jedoch viel länger als erwartet dauerte und sich zudem zuungunsten der Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn entwickelte, wurde die Burgfriedenspolitik immer brüchiger und spätestens 1917 beendet. Rathenau und Melchior verließen ihre herausragenden Positionen relativ schnell wieder, nicht zuletzt aufgrund antisemitischer Stimmungsmache. Besonders aktiv waren bei dieser Agitation der antisemitische Publizist Theodor Fritsch und sein Reichshammerbund. Schon früh (1916) verfasste er zusammen mit dem Funktionär des Deutschen Handlungsgehilfenverbandes, Alfred Roth (1879-1948), eine Denkschrift, in der sie ein vermeintliches »System Rathenau-Ballin« angriffen, durch das führende Juden die Kontrolle über die deutsche Kriegswirtschaft erlangt hätten. Jüdische Soldaten berichteten von antisemitischen Vorfällen in der Truppe, die sich bereits wenige Monate nach Kriegsbeginn wieder zu häufen begannen. Insbesondere wurde den Juden von den Antisemiten in der Öffentlich-
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keit, aber auch in vielen privaten Zuschriften an das Preußische Kriegsministerium vorgeworfen, sich vor dem Fronteinsatz zu drücken. Die Oberste Heeresleitung (OHL), allen voran der neue Generalquartiermeister und Alldeutsche Erich Ludendorff, schenkte den Gerüchten offenkundig Glauben; schließlich diskutierte sie 1916 über die Kriegsbereitschaft der Juden. Im Sommer desselben Jahres lancierte der Reichstagsabgeordnete für das katholische Zentrum Matthias Erzberger eine entsprechende parlamentarische Anfrage. Im Herbst des gleichen Jahres veranlasste dann das preußische Kriegsministerium die sogenannte Judenzählung im Heer. Jüdische Soldaten empfanden diesen Schritt verständlicherweise als Erniedrigung – ein Soldat nannte sie eine »furchtbare Ohrfeige«2 – und die jüdische Bevölkerung insgesamt fühlte sich zurückgesetzt. Die Zahlen deckten sich nicht mit den Vorwürfen: Von den 615.000 Juden, die vor dem Krieg (1910) im Deutschen Reich lebten, nahmen – je nach Schätzung – zwischen 85.000 und 100.000 Soldaten am Weltkrieg teil. 12.000 von ihnen fielen auf dem Schlachtfeld. Beide Zahlen, die denen der Gesamtbevölkerung entsprechen, demonstrieren, dass die jüdische Kriegsbeteiligung hoch war, was sich auch an der großen Anzahl von militärischen Auszeichnungen (vor allem das »Eiserne Kreuz«) für jüdische Soldaten dokumentiert. Die Ergebnisse der »Judenzählung« wurden nie veröffentlicht – und sind auch nicht überliefert –, was den antisemitischen Spekulationen zusätzlich Tür und Tor öffnete. Als 1922 der Soziologe Franz Oppenheimer (1864-1943) und der Statistiker Jakob Segall (1883-1959) genauere Zahlen anhand von Statistiken veröffentlichten, die von jüdischen Institutionen gesammelt worden waren, hatte sich das Vorurteil des »jüdischen Drückebergers« in der öffentlichen Vorstellungswelt bereits festsetzen können. Schon zu Beginn des Krieges hatte es einige pazifistische Stimmen gegeben, vor allem im sozialistischen und anarchistischen 2
Zitiert nach: Werner T. Angress, Das deutsche Militär und die Juden im Ersten Weltkrieg, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 19 (1976), S. 77-146, hier: S. 99.
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Lager; auch darunter entstammten einige dem Judentum wie z. B. Rosa Luxemburg oder Gustav Landauer. Im weiteren Fortgang der Kriegshandlungen häuften sich dann die distanzierten oder gar kritischen Haltungen. Gerade in der Armee waren viele jüdische Soldaten verunsichert und deprimiert, was sich in privaten Feldpostbriefen dokumentiert. In anderen privaten Quellen, etwa von Intellektuellen, zeigt sich teilweise bereits vor der »Judenzählung« 1916 eine wachsende Enttäuschung und Besorgnis über die Kriegslage. Neben den erwähnten Sozialdemokraten drängten nun auch einige jüdische Prominente öffentlich auf einen Friedensschluss, unter ihnen der Wirtschaftsjournalist Felix Pinner (1880-1942) und der Verleger Rudolf Mosse. Das Berliner Tageblatt und vor allem dessen Chefredakteur Theodor Wolff argumentierten ebenfalls in diese Richtung, was die Auflage des Blattes erheblich steigerte. Viele der Vorwürfe aus dem rechten, antisemitischen und völkischen Lager beriefen sich auf diese Beispiele, wobei sie stets ignorierten, dass es auch nichtjüdische Pazifisten und Skeptiker sowie selbst in der späteren Phase des Krieges noch viele Juden gab, deren Glauben an einen Sieg der Mittelmächte unerschütterlich war und die nationalistische Durchhalteparolen verbreiteten. Ein besonderes Interessengebiet für die deutschen Juden während des Krieges stellte die zukünftige Struktur Osteuropas dar. Das Schicksal der russischen Juden wurde seit dem Beginn der Auswanderungswellen in den 1880er-Jahren von den deutschen Juden sehr genau verfolgt. In Organisationen wie dem Hilfsverein versuchte sie ihnen vor Ort zu helfen oder ihre Auswanderung zu organisieren. Dies war nie nur eine philanthropische Mission geblieben, fürchteten die deutschen Juden doch zugleich die Konsequenzen der massenhaften Migration, die durch deutsches Staatsgebiet führte und dort viele osteuropäische Juden zur permanenten Ansiedlung veranlasste. Der Krieg drohte nun den Auswanderungswunsch erneut zu erhöhen. Seit 1915 kam es zu antisemitischen Hetzkampagnen gegen ostjüdische Flüchtlinge, die in der Tat, nachdem die deutschen Truppen den russischen Teil Polens mit einer hohen jüdischen Bevölkerungsdichte erobert
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und teilweise auch verwüstet hatten, gen Westen strebten. Die Kontrollmechanismen, durch die die Bürokratie die riesigen Wanderungsströme während der letzten Jahrzehnte mehr oder weniger erfolgreich in Richtung Nordamerika kanalisiert hatte, brachen während des Krieges zusammen, sodass sich die Zahl der osteuropäischen Juden im Deutschen Reich – bei Ausbruch des Krieges: 90.000 – erheblich erhöhte. Im April 1918 schloss das preußische Innenministerium die Grenze für jüdische Migranten und erfüllt damit eine Forderung der antisemitischen Rechten. Der Protest von jüdischer Seite gegen diese Maßnahme konnte nur zum Erfolg führen, wenn sie sich in einer Organisation zusammenfanden. Zugleich versprach eine mögliche Niederlage des Zarenreichs und eine dann anstehende Neuordnung Osteuropas eine politische Einflussnahme in diesem Territorium, für die man vorbereitet sein wollte. Mit diesen unterschiedlichen Interessen schufen die deutschen Juden daher verschiedene Organisationen, die sich mit dieser Thematik beschäftigten. Bereits 1914 entstand das Komitee für den Osten (KfdO), das vor allem zionistisch ausgerichtet war und sich für die Anerkennung der osteuropäischen Juden als nationale Gruppe einsetzte. Demgegenüber bildete sich die Deutsche Vereinigung für die Interessen der osteuropäischen Juden unter maßgeblicher Mithilfe des C.V. und vieler prominenter Juden. In liberaler Absicht konzentrierte man hier die Arbeit auf die politische und rechtliche Gleichberechtigung der Juden in ihren osteuropäischen Heimatländern. Nach dem Kriegseintritt des Osmanischen Reiches wenige Monate nach Beginn der Kampfhandlungen bemühten sich die Zionisten stärker um eine Anerkennung Palästinas als nationale Heimstätte für die Juden, was jedoch bei den deutschen Behörden auf Desinteresse und bei dem verbündeten Osmanischen Reich auf Widerstand stieß. Die Balfour-Deklaration von 1917, mit der die Briten diese Forderung anerkannten, änderte die Arbeitsgrundlage fundamental. Als schließlich Anfang 1918 die Vereinigung jüdischer Organisationen Deutschland zur Wahrung der Rechte der Juden des Ostens von C.V. und Zionisten gemeinsam ins Leben gerufen
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wurde, bestand das Programm aus einem Kompromiss: Sowohl die staatsbürgerlichen Rechte der osteuropäischen Juden sollten eingeführt und geschützt, als auch die freie Auswanderung von Juden nach Palästina erlaubt werden. Aus all diesen Plänen wurde allerdings nichts, weil die deutsche Regierung sie weiterhin nicht unterstützte und weil eine Neuordnung Osteuropas nach deutschen Vorstellungen nur bei einem günstigeren Kriegsverlauf für die Mittelmächte möglich geworden wäre, auch wenn Russland im Gefolge der Oktober-Revolution 1917 den Krieg verloren geben musste. In der Endphase des Krieges war das politische Klima im Deutschen Reich komplett vergiftet, wobei sich das deutschnationalantisemitische und das demokratisch-pazifistische Lager unversöhnlich gegenüberstanden. Mit der drohenden Niederlage stieg die antisemitische Agitation noch einmal an und nahm deutlich an Schärfe zu. Die radikale Rechte gab den Juden die Schuld für die Niederlage. Insbesondere der Alldeutsche Verband polemisierte gegen die Anhänger eines Friedensschlusses und attackierte die liberale Presse. In diesem Umfeld begann man an der sogenannten »Dolchstoßlegende« zu stricken, nach der das demokratische und sozialistische Lager unter maßgeblicher Führung der Juden den kämpfenden Truppen in den Rücken gefallen sei und einen Waffenstillstand herbeigeführt habe, obwohl die militärische Lage keineswegs ausweglos gewesen sei. Auch wenn man hierfür den Separatfriedensschluss mit der Sowjetunion vom Frühjahr 1918 anführen konnte, entsprach diese Sichtweise keineswegs der aussichtslosen militärischen Lage des deutschen Reiches an der Westfront, über die sich die OHL wohlweislich ausschwieg. Die militärische Niederlage, das Ende der Monarchie durch die Flucht des Kaisers im November 1918 und der Ausbruch der November-Revolution führten schließlich zur Gründung der Weimarer Republik, der durch den für die Mittelmächte katastrophalen Versailler Friedensvertrag 1919 eine schwere politische Bürde zugemutet wurde. Der komplette Zusammenbruch der politischen Struktur Europas sowie die schockierende Erfahrung des ersten
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globalen Krieges mit insgesamt fast 17 Millionen Toten – darunter zwei Millionen Deutsche – und zwanzig Millionen Verwundeten brannten sich in das Gedächtnis der Europäer als tiefe Zäsur ein. Antisemitische Vorstellungen erhielten durch den Krieg und seine Folgen gerade in Deutschland neue Nahrung, ja die besondere Dynamik des Antisemitismus in den folgenden Jahren lässt sich nur durch die Zerrüttung des politischen Klimas in Folge des Krieges erklären. Juden in der Revolutionsphase 1918-1919 Anfang November 1918 breitete sich eine revolutionäre Bewegung an vielen Orten Deutschlands aus. Provisorische Regierungen übernahmen auf Reichs- und Länderebene die Geschäfte. Daneben bildeten sich Arbeiter- und Soldatenräte, in denen sich die entsprechenden Gruppen der einzelnen Städte organisierten und die eine mehr oder weniger ausgeprägt revolutionär-sozialistische Ausrichtung besaßen. Die einflussreichste politische Gruppierung war die SPD, die schon in den letzten Jahren des Kaiserreiches zur stärksten Oppositionspartei angewachsen war. Partner waren in wechselnden Konstellationen die USPD, die neue liberale Deutsche Demokratische Partei (DDP) oder das Zentrum. Nachdem der SPD-Politiker Philipp Scheidemann am 9. November die Republik ausgerufen hatte, übernahm der Rat der Volksbeauftragten die Regierungsgeschäfte auf Reichsebene, in dem zunächst die SPD und die USPD zusammenarbeiteten. In den Parteien des Mitte-Links-Spektrums setzte sich eine Tendenz nach links fort, die bei jüdischen Politikern teilweise bereits in den Vorkriegsjahren sichtbar gewesen war: Progressive und nationalliberale Juden wanderten zur deutlich linksliberalen DDP; immer mehr linksliberale Politiker näherten sich der SPD an; nicht wenige jüdische Sozialdemokraten wandten sich nach der Spaltung der SPD der USPD zu. Dass in Deutschland nach dem Ende des Kaiserreiches zunächst linke Kräfte an die Macht kamen, ließ also fast automatisch die
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Bedeutung jüdischer Politiker und Politikerinnen – mit Rosa Luxemburg gab es die erste exponierte jüdische Frau in der obersten Parteipolitik – steigen. In den verschiedenen Arbeiter- und Soldatenräten saßen allerdings nur der Sozialdemokrat Max CohenReuß und der Gewerkschafter Julius Kaliski (1886-1935). Im Rat der Volksbeauftragten wurden Juden auch Teil der Reichsregierung: Otto Landsberg (1869-1957) und Hugo Haase (1863-1919) für die SPD bzw. USPD. Drei Staatssekretäre entstammten zudem dem Judentum: der Verfassungsrechtler Hugo Preuß (1860-1925) für die DDP, der Journalist Emanuel Wurm (1857-1920) für die USPD und der getaufte Jurist Eugen Schiffer (1860-1954) für die DDP. Nach den Wahlen vom 19. Januar 1919 erhielten Landsberg, Preuß und Schiffer Kabinettsposten in der Regierung Scheidemann. In der neuen preußischen Landesregierung waren Juden sogar noch prominenter vertreten: Unter dem jüdischen SPD-Ministerpräsidenten Paul Hirsch (1868-1940) von der SPD bekleideten Hugo Simon (1880-1950) das Finanz- und Kurt Rosenfeld (18771943), beide USPD, das Justizministerium. Jüdische Politiker waren auch an den revolutionären Umwälzungen in München beteiligt. Kurt Eisner (USPD) stand der revolutionären Regierung Bayerns als Ministerpräsident vor, die im November 1918 an die Macht kam. Nach seiner Ermordung am 21. Februar 1919 und einem Regierungsvakuum rief am 7. April 1919 der Revolutionäre Arbeiterrat die erste revolutionäre Münchner Räterepublik aus. Zunächst wurde die Regierung von anarchistischen Kräften geführt, unter ihnen in herausragender Position die Juden Ernst Toller (1893-1939), Gustav Landauer und Erich Mühsam. Gefolgt wurde sie von einer zweiten kommunistischen Räteregierung, in der die – wiederum jüdischen – Linken Eugen Leviné (1883-1919) und Toller mitarbeiteten. Auch in anderen deutschen Ländern gelangten Juden in Ministerämter; Georg Gradnauer (1866-1946) wurde für die SPD sächsischer Regierungschef. Preuß hatte als Staatssekretär im Reichsinnenministerium und späterer Reichsinnenminister erheblichen Einfluss auf die spätere Weimarer Republik, weil er maßgeblich die – in vielerlei Hinsicht demokratisch vorbildliche – Verfassung
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der Republik ausarbeitete. Andere Juden hätten eine gewichtige Rolle spielen können; so etwa der Bankier Max Warburg, der noch vor der Revolution das Angebot des Prinzen Max von Baden ausgeschlagen hatte, in dessen Reichsregierung das Finanzministerium zu leiten, weil er einen Juden in dieser Position für untragbar hielt. Warburg war dann aber Teil der Delegation – zusammen mit Rathenau, Arnold, Louis Hagen (1855-1932) und Bernhard Dernburg (1865-1937) –, die 1918/19 mit den Siegermächten über wichtige Reparationsfragen verhandelte. Der Industrielle Hugo Stinnes, ebenfalls Delegationsteilnehmer, beklagte sich hinterher öffentlich über seine jüdischen Verhandlungspartner. Aber nicht nur hohe Berater der neuen Regierung waren Juden oder entstammten dem Judentum, auch in die Weimarer Nationalversammlung, die am 6. Februar 1919 zum ersten Mal zusammentrat, waren 15 Juden und neun getaufte Personen jüdischer Herkunft gewählt worden: acht für die SPD, vier für die USPD und zehn für die DDP sowie je einer für die Deutsche Volkspartei (DVP) und für die Deutsch-nationale Volkspartei (DNVP). Angesichts dieser herausgehobenen Position von jüdischen Politikern, die im Vergleich zum politischen System des Kaiserreichs in der Umbruchsphase 1918/19 wesentlich exponierter waren und noch dazu häufig der politischen Linken angehörten, konnte die antisemitische Propaganda gegen das vermeintlich ›verjudete‹ Regime leicht verfangen. Diese Logik hatte brutale Konsequenzen für viele Aktivisten: Luxemburg, Eisner, Leo Jogiches (1867-1919), Leviné, Landauer und Haase wurden innerhalb des Jahres 1919 ermordet. Aus historischer Perspektive wird man jedoch zwei Aspekte gegen diese Logik einwenden müssen: Zum einen lässt sich die linke politische Orientierung vieler Juden dieser Zeit als Produkt einer historischen Entwicklung verstehen, an deren Anfangspunkt das Scheitern der Allianz mit den Nationalliberalen stand und die dann durch antisemitische Zurücksetzungen im Kaiserreich und im Krieg vorangetrieben wurde, ohne dass alle politisch aktiven Juden diesem Trend folgten. Zum anderen sollte man zumindest die Frage aufwerfen, ob Juden, wenn sie in einer sozialistischen, kommunistischen oder
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anarchistischen Regierung in einer herausragenden Funktion tätig wurden, dies als Juden taten – oder was mit einer solchen Behauptung gemeint wäre. Im radikalen linken Spektrum gab es viele Politiker, denen ihre jüdische Herkunft nur noch wenig oder gar nichts bedeutete; die Annahme, dass ihre Politik in einer spezifischen Weise auch ohne ein solches Herkunftsbekenntnis jüdisch geprägt war, droht auf fragwürdige Konzepte von rassischen Verhaltensmustern zurückzugreifen, was viele antisemitische Zeitgenossen taten. Dass einige der beteiligten Juden wie etwa Eduard Bernstein ihre politische Mission mit einem spezifisch jüdischen Universalismus erklärten, war eher die Ausnahme. Mehr noch: Selbst wenn man historisch argumentieren würde, dass derartige Vorstellungen eines jüdischen Universalismus eine Rolle spielten, wenn Juden im linken politischen Lager aktiv wurden, erklärt das nur selten ihr konkretes, individuelles Wirken als linke, oft säkulare Politiker. Politisches Handeln ist durch Herkunft mitbedingt, geht aber dennoch nicht darin auf. Dass eine vereinte »verjudete Linke« 1918 versucht habe, in Deutschland die Macht zu ergreifen, gehört ins Reich antisemitischer Verschwörungstheorien. Dies gilt umso mehr, als die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung – und dies in deutlicherem Ausmaß als die spezifische Gruppe der aktiven jüdischen Politiker – den revolutionären Bestrebungen sehr skeptisch gegenüberstand. Die liberalen Anführer der jüdischen Gemeinden – und mit ihnen die große Mehrheit der Juden – begrüßten gleichwohl den demokratischen Umsturz im November 1918, weil sie der Krieg und das zweifelhafte Verhalten der zivilen wie militärischen Führung dem Kaiserreich entfremdet hatte. Vor der November-Revolution, im Oktober 1918, hatte sich die Allgemeine Zeitung des Judentums (AZJ) über das »wahrhaft parlamentarische Regiment«, das nun anbreche, sehr erfreut gezeigt: »Wir werden, des sind wir gewiß, nun ohne jede Einschränkung gleichberechtigte, freie Bürger eines freien, stolzen Deutschen Reiches.«3 Und in der Tat: Im Großen und Ganzen war die Identifikation der deutschen Juden mit der Republik – sei 3
Allgemeine Zeitung des Judentums vom 11. Oktober 1918.
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es wegen ihres mehrheitlich linksliberalen Profils oder aufgrund der Enttäuschung über die politische Polarisierung im Krieg – größer als in den Restbevölkerung. Allerdings war der obige Zeitungsartikel vor der November-Revolution und den folgenden Unruhen geschrieben worden. Schon Ende November konstatierte die AZJ eine Pogromstimmung in Berlin, was sicherlich übertrieben war, aber die vorhandenen Ängste über die Entwicklung aufseiten der Juden verdeutlichte. In der Folgezeit waren nicht wenige Juden besorgt über die plötzliche Prominenz und den politischen Einfluss einiger Glaubensgenossen. Die jüdische Zeitschrift Im Deutschen Reich glaubte sogar, die ›arische‹ Herkunft des weithin bekannten KPD-Funktionärs Karl Liebknechts urkundlich nachweisen zu müssen, um entsprechende antisemitische Gerüchte zu entkräften. Als Eisner 1919 von einem völkisch gesinnten Adeligen ermordet wurde, distanzierte sich die AZJ im gleichen Atemzug von der Tat und von Eisner – ein Beispiel, das in der jüdischen Presse Schule machen sollte. Zionisten hätten es bevorzugt, wenn sich diese Politiker nicht der linken, sondern der national-jüdischen Sache verschrieben hätten. Auch orthodoxe Kreise forderten mehr Zurückhaltung angesichts der instabilen, gefährlichen Lage. Einige Juden, vornehmlich aus der Wirtschaftselite wie der Privatbankier Hermann Frenkel (1850-1932), engagierten sich aktiv für die Konterrevolution, indem sie antirevolutionäre Bürgerwehren unterstützten. Gerade in Bayern wandten sich viele Juden gegen die anarchistischen Umtriebe. Aber auch dies waren extreme Beispiele, in diesem Fall für das andere politische Lager. Die meisten Juden standen zu Beginn der Republik eher den Parteien der sogenannten Weimarer Koalition nahe: der SPD und der DDP (weniger dem katholischen Zentrum). Die rechtliche und politische Lage der Juden in der Weimarer Republik Die Verfassung der Weimarer Republik kannte keine rechtliche Diskriminierung von Minderheiten. Der Artikel 136 der Weimarer
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Reichsverfassung gewährte allen Staatsbürgern unabhängig von ihrer Religion gleiche Rechte und Pflichten. De jure durften auch keine Beschränkungen mehr existieren; de facto gefährdete aber der allgegenwärtige Antisemitismus, der nun anders als im Kaiserreich zunehmend gewalttätiger wurde, die gleichberechtigte Position der Juden in der Gesellschaft. In Teilen der Bürokratie war weiterhin eine strukturelle Benachteiligung von Juden etwa bei der Ämtervergabe zu beobachten, die allerdings nicht der Rechtsnorm entsprach, sondern durch informelle Prozesse abgesichert werden musste. Die Mordserie, der bekannte jüdische Politiker – neben den bereits genannten sei noch das tödliche Attentat auf Rathenau am 24. Juni 1922 erwähnt – zum Opfer fielen, dokumentierte nachdrücklich, dass es für Juden sehr gefährlich sein konnte, in prominenter Stellung am politischen Prozess teilzunehmen. Dies war jedoch immer seltener der Fall: Die herausgehobene Position einiger jüdischer Politiker in der Revolutionsphase 1918/19 blieb als Zerrbild während der späteren Entwicklung der Republik präsent, sodass nur selten wahrgenommen wurde, wie viel weniger Juden danach in wichtigen Ämtern tätig waren. Nach dem Tod Rathenaus wurde nur noch Rudolf Hilferding, der sich zunächst in den Reihen der USPD einen Namen als herausragender theoretischer Kopf gemacht hatte und nach dem Zusammenschluss von Teilen der USPD mit der SPD zum einflussreichsten jüdischen Politiker aufstieg, zweimal Reichsfinanzminister (1923, 1928-29). Zwei Reichsjustizminister waren zudem jüdischer Abstammung: der DDP-Politiker Erich Koch-Weser (1875-1944) von 1928 bis 1929 und der parteilose Curt Joël (1865-1945) von 1931 bis 1932. Auch auf Länderebene erlangten Juden nur noch sehr selten Ministerehren. Gelegentlich kam es sogar vor, dass einzelne Juden wie etwa der DDP-Reichstagsabgeordnete Ludwig Haas – angesichts der antisemitisch aufgeheizten Stimmung – auf ein politisches Amt verzichteten (in seinem Fall die Leitung des Reichswehrministeriums). In diesem Kontext ist es bemerkenswert, dass Juden teilweise durchaus innerhalb des bürokratischen Apparates in wichtige Po-
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sitionen aufsteigen konnten, die allerdings nach außen weniger sichtbar waren als z.B. Ministerämter. Der Jurist und Finanzfachmann Hans Schäffer (1886-1967) war erst im Reichswirtschaftsministerium tätig und stieg dann zum Staatssekretär im Reichsfinanzministerium auf. Der SPD-Politiker und spätere Hamburger Bürgermeister Herbert Weichmann (1896-1983) diente im preußischen Staatsministerium dem Ministerpräsidenten als persönlicher Referent. Auch der Journalist Hans Goslar war dort in der Pressestelle beschäftigt und erreichte schließlich den Rang eines Ministerialrats. Der SPD-Landtagsabgeordnete Ernst Hamburger (1890-1980) arbeitete als Oberregierungsrat im preußischen Innenministerium. Während es in den anderen Ländern kaum vergleichbare Karrieren von Juden gab, konnten in Preußen drei Juden das Amt des Regierungsvizepräsidenten bekleiden. Ludwig Landmann (1868-1945), ein DDP-Politiker, der aus der jüdischen Gemeinde ausgetreten und konfessionslos war, war Frankfurter Oberbürgermeister, und der Jurist Carl Petersen (1868-1933), der jüdischer Herkunft war, bekleidete das Amt des Ersten Bürgermeisters in Hamburg. Generell ist die Lage in den Kommunen quantitativ wie qualitativ schwieriger einzuschätzen als im Kaiserreich. Jedoch dürfte sich hier die Abschaffung des Klassenwahlrechts negativ auf die Zahl jüdischer Vertreter in den kommunalen Parlamenten und Ämtern ausgewirkt haben, weil damit der Einfluss bürgerlicher Schichten zurückging, in denen Juden besonders stark vertreten waren. Zugleich sorgte die zunehmende Urbanisierung gerade der deutschen Juden dafür, dass immer mehr Juden in Großkommunen lebten, in denen ihr Stimmenanteil relativ zu gering war, um für eine stetige Repräsentanz in der Kommunalpolitik zu sorgen. Im ostpreußischen Königsberg, das wegen seiner exponierten politischen Lage jenseits des »polnischen Korridors« eine besondere Rolle spielte, verloren die Juden beispielsweise bereits Mitte der 1920-Jahre deutlich an Einfluss, als nur noch in der SPD-Fraktion der Stadtverordnetenversammlung jüdische Abgeordnete saßen, die allerdings kaum Verbindungen zur jüdischen Gemeinde besaßen.
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In Bezug auf die Frage, welche politischen Positionen Juden jenseits der Kabinettsränge einnehmen konnten, war zudem signifikant, dass Juden als informelle politische Berater tätig wurden, was öffentlich ebenfalls kaum sichtbar war. Die Bankiers Max Warburg und Carl Melchior dienten dem Reich etwa in der Reichsbank und im Völkerbund. Eine ganze Reihe von Juden bzw. Personen jüdischer Herkunft saß im Reichswirtschaftsrat, der die Gesetzgebung in Wirtschaftsfragen beraten sollte und über 300 Mitglieder hatte. Als Melchior allerdings für das Präsidentenamt der Reichsbank in Betracht gezogen wurde, gab man schließlich einem nichtjüdischen Kandidaten den Vorzug, weil man in der Öffentlichkeit weder Juden noch Sozialdemokraten in dieser Position für vermittelbar hielt. Mit der Republik hatte sich der rechtliche Rahmen für politische Partizipation geändert. Das Wahlrecht erlaubte nun Männern wie Frauen ab dem 20. Lebensjahr (vorher: 25) die Stimmenabgabe – und zwar im Reich wie in den Ländern nach einem strikten Verhältniswahlrecht. Auch das Parteiensystem wandelte sich, vor allem pluralisierte es sich durch den Einfluss des neuen Wahlrechts. Im linken Lager entstand neben der SPD und der USPD, die sich allerdings 1920 spaltete und ab 1922 nur noch eine Splitterpartei darstellte, Ende 1918 die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD). Die SPD entwickelte sich – zumindest zeitweise – von einer Oppositions- zu einer Regierungspartei. Auch das liberale Lager musste sich an die Übernahme von Regierungsverantwortung erst gewöhnen. Aus Teilen des links- wie nationalliberalen Spektrums entwickelte sich hier die Deutsche Demokratische Partei (DDP); hinzu kam die Deutsche Volkspartei (DVP), in der die meisten Nationalliberalen eine neue Heimat fanden. Das katholische Zentrum blieb einflussreich, allerdings spaltete sich der bayerische Flügel mit der Bayerischen Volkspartei (BVP) ab. Auf der Rechten fanden sich verschiedene konservative sowie antisemitische, völkische und extremnationalistische Gruppierungen zur Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) zusammen; allerdings blieb auf ihrem rechten Rand stets ein Wählerpotential, das von verschiedenen völkisch-rechtsextremen Parteien und Bewegun-
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gen gefüllt wurde: ab 1922 zunächst von der Deutschvölkischen Freiheitspartei (DVFP), dann bald von der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP). Die jüdische Wählerschaft Insgesamt gab es in dem sich neu formierenden politischen System bei allen Wählergruppen zunächst eine Absetzungsbewegung nach links, die mit der Enttäuschung über das alte System und dem Scheitern der konservativen Eliten des Kaiserreiches zusammenhing. Ähnlich sah es in fast allen Parteien aus, deren Personal und Programmatik zunächst weiter links stand als noch bei den vergleichbaren Parteien im späten Kaiserreich. Soweit dies im historischen Rückblick einzuschätzen ist – genaue Zahlen fehlen hier leider –, waren die Wanderungen jüdischer Wähler und Wählerinnen jedoch nach 1918 nicht massiv. In ihrer Gesamtheit waren sie keineswegs radikal, obwohl das Zerrbild des jüdischen Revolutionärs in der zeitgenössischen Öffentlichkeit so weit verbreitet war, dass einzelne Juden dagegen anargumentierten, wie etwa der Nationalökonom Rudolf Kaulla (1872-1954), der 1928 die Verteidigungsschrift Der Liberalismus und die deutschen Juden. Das Judentum als konservatives Element veröffentlichte. Ein großer Teil von ihnen verblieb im linksliberalen Lager, vor allem bei der DDP. Hier versammelten sich die sogenannten »Vernunftrepublikaner«, die den Weg in die neue Demokratie bejahten (wenn auch gelegentlich mit etwas nostalgischer Wehmut für die – im Rückblick – stabile Kaiserzeit). Die typischen DDP-Wähler lehnten Revolution und Konterrevolution ab und wollten eine kompromissorientierte, vernünftige Politik, für die die bürgerliche Partei stand. Das sprach auch viele jüdische Wähler und Wählerinnen an, die oft immer noch mit einiger Skepsis auf die Sozialdemokratie blickten. Zunächst hatte die DDP relativ große Wahlerfolge: 1919 war sie noch mit 18,6 Prozent der Wählerstimmen als drittstärkste Fraktion in die Nationalversammlung eingezogen, konnte dann bei
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der ersten Reichstagswahl 1920 aber nur noch 8,3 Prozent auf sich vereinen. Zwischenzeitlich stabilisierte sich ihr Wählerpotential bei ca. fünf Prozent, um dann am Ende der Republik praktisch zu verschwinden, als die meisten ihrer Wähler und Wählerinnen nach rechts abwanderten. Das bedeutete aber, dass die jüdische Wählergruppe für die DDP relativ gesehen immer wichtiger wurde; allerdings waren auch Juden immer unzufriedener mit der Partei, wie der Parteiaustritt des bekannten Publizisten Theodor Wolff dokumentierte. Viele jüdische Wähler und Wählerinnen blieben der Partei dennoch treu und wurden nach ihrem faktischen Ende politisch heimatlos. Demgegenüber fanden einige eher konservativ orientierte jüdische Wähler und Wählerinnen das Angebot der Deutschen Volkspartei (DVP) attraktiv, insbesondere in den nichtpreußischen Ländern und als sich die Partei nach dem gescheiterten Kapp-Putsch 1920 zur Republik bekannte. Der rechtsliberalen Partei kam dabei auch zugute, dass der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten der DVP näherstand als der DDP. Gleiches gilt für den kleinen Verband nationaldeutscher Juden, dessen Gründer, Max Naumann (18751939), 1918 der DVP beitrat. Die Rhetorik des Verbandes war nationalistisch und damit ergab sich die Möglichkeit, dass von den etwa 3.000 Mitgliedern einige noch weiter nach rechts, d.h. zur DNVP tendierten. Allerdings dürfte diese deutlich antisemitische Partei, die immer stärker unter den Einfluss völkischer Gruppen – etwa des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes, der allerdings bereits 1922 verboten wurde – geriet, nur für sehr wenige von ihnen attraktiv gewesen sein. Das katholische Zentrum wurde dagegen durchaus von jüdischen Wählern und Wählerinnen in Betracht gezogen. Einige orthodoxe Rabbiner riefen ihre Anhänger zu einer solchen Wahl auf; auch existierten regional einzelne jüdische Zentrums-Wählergruppen, etwa in Schlesien. Obwohl es in der bayrischen Zentrums-Abspaltung, der Bayerischen Volkspartei, häufiger zu antisemitischen Äußerungen und Zwischenfällen kam, gab es auch in Bayern jüdische Wähler für die katholische Partei, gerade auch im kleinstädtischen und ländlich-orthodoxen Milieu.
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Die Parteien der politischen Linken blieben auch in der Weimarer Republik eine Alternative für jüdische Wähler und Wählerinnen, allerdings existierten einige der Hindernisse weiter, die schon im Kaiserreich vorhanden gewesen waren. Es gab nur ein relativ kleines Reservoir an jüdischen Arbeitern und Arbeiterinnen, die als osteuropäische Einwanderer oft nicht im Besitz der Staatsbürgerschaft und damit nicht wahlberechtigt waren. Zugleich waren viele Juden selbstständig beschäftigt, 1933 noch geschätzte fünfzig Prozent. In diesem Umfeld existierte wenig Neigung, eine sozialistische Partei zu wählen. Gleichwohl wuchs das Angestelltenmilieu in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts auch unter Juden, bis es am Ende der Weimarer Republik etwa ein Drittel der arbeitenden jüdischen Bevölkerung umfasste. Hier entwickelte sich durchaus ein Wählerpotential für die SPD, die sich in der Weimarer Republik stärker für dieses Milieu zu interessieren begann. Angestelltenvertreter wie der jüdische SPDReichstagsabgeordnete Siegfried Aufhäuser (1884-1969), der seit 1921 die linksorientierte Arbeitsgemeinschaft freier Angestelltenverbände anführte, konnten zusätzlich Wähler mobilisieren. Wenn es in der Weimarer Republik eine jüdische Wählerwanderbewegung gab, dann höchstens Verschiebungen in Richtung Sozialdemokratie, zumal gegen Ende der Republik, als sich die bürgerlichen Parteien der liberalen Mitte in Auflösung befanden. Gerade die SPD konnte für sich ins Feld führen, zumindest in der Parteiführung relativ konsistent gegen den organisierten Antisemitismus aufzutreten, obwohl dies sicherlich nicht zu ihren Hauptthemen gehörte. Ähnlich wie die DDP und das Zentrum stand die SPD loyal zur Weimarer Republik und prägte ihre Politik mit, was sie den meist ebenfalls verfassungstreuen Juden sympathisch machte. In diesem Sinne unterstützten die drei Weimarer Parteien auch das republikanische Verteidigungsbündnis, das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, das 1924 zum Schutze der Republik gegen rechte und linke Kampfbünde gegründet worden war. Gleichwohl stand die Sozialdemokratie den jüdischen Gemeinden, wie insgesamt organisierter Religiosität, eher skeptisch bis ablehnend gegenüber. Hier existierte, wie auch in weiten Teilen
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des liberalen Lagers, ein nicht geringer Konformitätsdruck, der allerdings gegen Ende der Republik etwas nachließ, als Juden und Sozialisten einem gemeinsamen Feind gegenüberstanden. Zu diesem Zeitpunkt nahmen die Kontakte zwischen der SPD und dem C.V. zu; dies geschah jedoch zu spät, um massive Auswirkungen auf das oft noch immer reservierte Wahlverhalten von Juden gegenüber der SPD zu haben. Die KPD konnte nur wenige jüdische Wähler und Wählerinnen gewinnen. Sie agitierte zwar nicht explizit antisemitisch, ging aber mit ihren durchaus vorhandenen jüdischen Politikern wenig pfleglich um, worauf zurückzukommen sein wird. Die jüdischen Politiker und Politikerinnen Jüdische Politiker und Politikerinnen waren in den meisten politischen Parteien vertreten, allerdings ungleich. Noch immer ordneten sich die meisten von ihnen im linksliberalen Lager ein, also vornehmlich in der Deutschen Demokratischen Partei. Der Aufruf zu ihrer Gründung wurde bereits von einer Reihe jüdischer Prominenter unterstützt: Rudolf Mosse, Theodor Wolff, Hugo Preuß, dem Ökonom Moritz Julius Bonn (1873-1965) sowie dem Physiker Albert Einstein (1879-1955). Prominente jüdische Mitglieder der DDP waren darüber hinaus der Reichsaußenminister Rathenau und der Vizepräsident der Berliner Polizei Bernhard Weiß (1880-1951). Von den 75 DDP-Abgeordneten in der Nationalversammlung waren 1919 fünf jüdisch; sechs weitere entstammten dem Judentum. In den Reichstag von 1920 zogen acht Juden bzw. Politiker jüdischer Herkunft – von insgesamt 44 – ein, 1924 vier von 28, 1930 drei von 15 und schließlich 1932 einer von vier Abgeordneten. Die DDP war auch darüber hinaus eng mit jüdischen Unterstützern verbunden, was ihr im oft aufgeheizten Klima der Republik den Ruf einer »Judenpartei« einbrachte. Finanziell wurde sie u.a. von Rathenau, Fürstenberg sowie der Arnold- und der TietzFamilie gefördert; auch die einflussreichen Verlagshäuser Mosse, Ullstein und Simons-Sonnemann standen ihr nahe. Zudem hatte
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die DDP enge personelle Verbindungen zum C.V.; eine Reihe von Abgeordneten saß dort im Vorstand. Gleiches galt für den AbwehrVerein. In der Tat war die DDP am deutlichsten gegen antisemitische Aktivitäten eingestellt und verurteilte diese regelmäßig. Allerdings gab es durchaus Kreise in der Partei, etwa unter liberalen Bauern oder kleinen Mittelständlern, die gegen die »Berliner Clique« wetterten und damit sicher auch die prominenten jüdischen Unterstützer und die Vertreter des »Großkapitals« meinten. Derartige Vorwürfe, die eine versteckte Spitze gegen den vermeintlich jüdischen Einfluss auf die Partei beinhalteten, wurden vor allem während der Wirtschaftskrisen sichtbar, da sich hinter ihnen nicht zuletzt unterschiedliche Wirtschaftsvorstellungen verbargen. Die Deutsche Volkspartei (DVP) stand – von Gustav Stresemann als eigentliche Nachfolgerin der Nationalliberalen Partei gegründet – rechts von der DDP und befand sich damit in der Opposition, zusammen mit der DNVP, mit der sie auch gelegentlich Wahlbündnisse einging. Während die Parteiführung sich in der Regel deutlich gegen antisemitische Bestrebungen positionierte, sah dies in den unteren Parteirängen längst nicht so eindeutig aus. Hier gab es durchaus ernstzunehmende antisemitische Umtriebe, gerade in jenen Kreisen, die einer Zusammenarbeit mit der DNVP das Wort redeten. Auch stellte die Partei zu keiner Reichstags- oder Landtagswahl einen Juden auf ihre Wahlliste. Der getaufte Abgeordnete jüdischer Herkunft Jakob Riesser (1853-1932) war schon Mitglied der Nationalversammlung gewesen und blieb bis 1928 im Reichstag. Hinzu kamen noch einige weitere DVPPolitiker/innen auf Reichs-, Länder- und kommunaler Ebene, die jüdischer Herkunft waren. Ebenso gab es einige jüdische Unterstützer im Umfeld der Partei, wie den Bankier Warburg. Wenig überraschend engagierten sich in den rechten, antidemokratischen Parteien DNVP und NSDAP keine jüdischen Politiker; allerdings gab es in der DNVP einen Reichstagsabgeordneten mit jüdischen Vorfahren: Reinhold Quaatz (1876-1953), der unter direkter Protektion des Parteiführers und Medienmoguls Alfred Hugenberg stand. Nicht viel anders war die Lage im Fall
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des katholischen Zentrums, wo es keine aktiven jüdischen Politiker gab. Im katholischen Kontext kam es im Gefolge der militärischen Niederlage und des politischen Zusammenbruchs zu einer neuen antisemitischen Welle, die von der Ablehnung des politischen Linksrucks 1918/19 getragen wurde. Besonders die Zentrums-Abspaltung der Bayerischen Volkspartei polemisierte, aufgeschreckt durch die Münchner Räterepublik, gegen die vermeintlich atheistischen Tendenzen eines internationalen Judentums. Auch lieferte die säkulare und modernistische Kultur der Weimarer Republik immer wieder Gründe, dass sich konservative Katholiken mit rechten und antidemokratischen Parteien arrangierten. Gleichwohl gab es im verbliebenen Zentrum durchaus Kräfte, die bereit waren, gegen antisemitische Umtriebe vorzugehen. Einige prominente Zentrumspolitiker traten dem Abwehr-Verein bei: Konstantin Fehrenbach und Heinrich Krone. Die beiden Reichskanzler des Zentrums, Joseph Wirth und Wilhelm Marx, sprachen sich öffentlich gegen Antisemitismus aus. Im linken Lager gab es weiterhin prominente jüdische Politiker. Nach dem Ende der unmittelbaren Nachkriegszeit und der Revolutionsphase nahmen Juden für die SPD wesentlich seltener an Kabinettstischen Platz, sei es auf Reichs- oder auf Länderebene. Die wichtigste Ausnahme war, wie bereits erwähnt, Rudolf Hilferding. Aber in der parlamentarischen Arbeit der SPD waren sie weiterhin prominent. So war Ernst Heilmann (1881-1940) zwischen 1921 und 1933 SPD-Fraktionsvorsitzender im Preußischen Landtag und bis 1932 ein Garant für eine der stabilsten Regierungen der Weimarer Republik: die preußische Koalitionsregierung aus SPD, Zentrum und DDP. Paul Levi (1883-1930) wurde einflussreicher linker SPD-Reichstagsabgeordneter, nachdem er den Spartakusbund und die KPD mitgegründet und dann in der USPD tätig gewesen war. Auf dem KPD-Gründungsparteitag Ende 1918 waren mindestens sieben der 117 Teilnehmer Juden bzw. jüdischer Herkunft, von denen vier in das Zentralkomitee gewählt wurden: Luxemburg, Jogiches, Paul Levi und August Thalheimer (1884-1948), die alle seit 1914 bereits im Spartakusbund aktiv gewesen waren. Juden
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waren also in der Partei relativ prominent vertreten, was jedoch weniger über die spätere Mitgliederstruktur oder gar über die Wählerschaft aussagt. Gerade weil die zunächst wenigen Juden in der KPD an prominenter Stelle platziert und noch dazu in der Lage waren, die Öffentlichkeit sehr eloquent in ihren Bann zu schlagen, fiel es kaum auf, wie gering die jüdische Beteiligung in der Partei eigentlich war. Im Reichstag sowie in einigen Länderparlamenten gab es jüdische Kommunisten. Viele dieser Juden verloren allerdings ihre Posten und ihren Einfluss, als 1925 Ernst Thälmann – mit Stalins Unterstützung – die Parteiführung übernahm und eine anti-intellektuelle Kampagne startete, die voller antisemitischer Untertöne war. Dies hatte Auswirkungen: 1932 war keiner der 89 KPD-Abgeordneten Jude oder jüdischer Herkunft. Im weiteren Umfeld der linken Parteien und insbesondere in der linken Presselandschaft taten sich einzelne Juden hervor, wie dies auch bei der bereits erwähnten liberalen Presse der Fall war. Die Sozialdemokratie entwickelte, gerade in Berlin, aber auch in anderen Gebieten, eine reiche Publikationslandschaft, an der jüdische Journalisten und Publizisten aktiv teilnahmen. So brachte etwa Rudolf Hilferding zunächst die USPD-Zeitschrift Die Freiheit und dann das theorieorientierte SPD-Blatt Die Gesellschaft heraus. Joseph Bloch redigierte die Sozialistischen Monatshefte, und am Sprachrohr der Parteilinken, Der Klassenkampf, arbeitete ein fünfköpfiges Herausgebergremium, in dem mit Max Adler (18731937), Paul Levi und Kurt Rosenfeld drei Juden saßen. Die viel bekanntere und einflussreichere Weltbühne, die in ihrer Blütezeit mit einer Auflage von 20.000 Stück erschien, wurde zwar von dem Nichtjuden Carl von Ossietzky herausgegeben; von den 68 Beiträgern, deren religiöser Hintergrund bekannt ist, waren aber fast zwei Drittel jüdisch oder jüdischer Herkunft. Auch an der sozialistisch oder sozialdemokratisch orientierten Tagespresse gab es jüdische Beteiligung, so bei der SPD-Zeitung Vorwärts. Ähnlich sah es zeitweise in der KPD-nahen Presse aus. Die Rote Fahne wurde erst von Luxemburg und Thalheimer er, dann von Heinrich Süßkind (1895-1937) und schließlich von Stefan Heymann (1896-1967) herausgegeben.
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Antisemitismus in der Weimarer Republik Der Antisemitismus nahm in der Weimarer Republik – im Vergleich zum Kaiserreich – noch einmal erheblich an Dramatik und Gewalttätigkeit zu, obwohl er sich inhaltlich nur wenig wandelte. Eine gewichtige Rolle spielte dabei der veränderte politische Kontext: Da sich antisemitische Überzeugungen bereits in der Vorkriegszeit vor allem im konservativen, rechtsnationalistischen und völkischen Lager etabliert hatten, konnte sich nach der Gründung der Republik die in diesem Umfeld verbreitete Ablehnung der Demokratie mit antijüdischen Vorstellungen vermischen und eine radikalisierende Wirkung entfalten, die im Kaiserreich gefehlt hatte. Politische Negativbilder des jüdischen Umstürzlers, des Revolutionärs, des Bolschewisten, aber auch des jüdischen Kompromisspolitikers, des Demokraten und Kriegsgewinnlers hatten zwar schon vorher existiert, erhielten nun aber neue Nahrung. Die demütigende Kriegsniederlage und der Versailler Friedensvertrag, die wirtschaftlichen Krisen, die soziale Instabilität und der politische Umbruch führten in der Bevölkerung zu fundamentalen Verunsicherungen, die antisemitische Stereotypen für viele glaubhafter werden ließen. Das Resultat war eine gänzlich neue Dimension der alltäglichen innenpolitischen Gewaltexzesse gegen Juden. In organisatorischer Hinsicht kamen in der Weimarer Republik zahlreiche antisemitische Bünde, Verbände und Gruppen hinzu. Der wichtigste war – neben der bereits erwähnten DNVP und später der NSDAP – der Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund (DSTB), in dem sich antisemitische Gruppierungen und Organisationen zusammenschlossen. Der DSTB sprach vor allem Anhänger aus den unteren Mittelschichten an und zählte bei seinem Verbot 1922 mehr als 200.000 Mitglieder. Seit Beginn der Republik wurde die Öffentlichkeit mit antisemitischer Propaganda nahezu überschwemmt: Allein für das Jahr 1920 wurden 20 Mio. Zeitschriften, Broschüren und Bücher, 7,5 Mio. Flugblätter, 7,9 Mio. Klebemarken sowie 4,8 Mio. Handzettel mit judenfeindlichen Inhalten gezählt. Die »Protokolle der Weisen von Zion« –
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eine grobe Fälschung der zaristischen Geheimpolizei, in der eine jüdische Weltverschwörung behauptet wird – wurde 1920 in einer deutschen Ausgabe aufgelegt. Arthur Dinters Roman Die Sünde wider das Blut (1918), der rassistisch-völkische Vorstellungen der Rassenvermischung und der sogenannten Blutschande verbreitete, wurde in der Frühzeit der Republik 200.000 mal gedruckt. Rassenbiologische und völkische Theorien waren weiter en vogue; ihre Verwissenschaftlichung schritt voran, sichtbar etwa in dem Band Grundriß der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene, den der Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Züchtungsforschung, Erwin Baur, der Direktor des Kaiser-WilhelmInstituts für Anthropologie, Eugen Fischer, und Fritz Lenz 1921 veröffentlichten und der zum Standardwerk der Rassenhygiene wurde. Gerade in der frühen Phase der Republik eskalierte die antisemitische Gewalt in bis dato ungekanntem Ausmaß; die erwähnte Mordserie an prominenten Juden war dafür nur ein Beispiel, die alltäglichen Gewaltaktionen von Freikorps, Wehrverbänden und anderen Terroristen zählten ebenfalls dazu. So kam es während der Hyper-Inflation 1922/23 zum sogenannten Scheunenviertelpogrom, bei dem vornehmlich osteuropäische Juden tätlich angegriffen wurden. Nachdem sich die wirtschaftliche Entwicklung zwischen 1924 und 1928 besserte und der DSTB 1922 in den meisten Ländern der Republik verboten worden war, flaute der Antisemitismus etwas ab. Allerdings registrierte der C.V. in dieser Phase eine reichsweite Welle von Schändungen jüdischer Friedhöfe und Synagogen: 1924 17, 1925 7, 1926 17, 1927 24 und 1928 27 solcher Vorfälle. Zeitgleich verfestigten sich antisemitische Überzeugungen in der Studentenschaft immer stärker, sodass 1926 77,6 Prozent der Studenten an den preußischen Hochschulen dafür votierten, jüdische Kommilitonen aus der Deutschen Studentenschaft auszuschließen. Trotz solcher problematischen Anzeichen – hinzu kamen der immer weiterreichende antisemitische Konsens in Politik wie Gesellschaft und die fortschreitende Schwächung des politischen Liberalismus – hatten die deutschen Juden in dieser Phase durchaus eine bemerkenswerte Position in der deutschen
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Gesellschaft erreicht. Die politische wie gesellschaftliche Integration der Juden war weit fortgeschritten und die weitere Entwicklung nicht vorhersehbar. Darüber hinaus wurden auch unter den Nichtjuden Stimmen laut, die sich entschieden gegen den Antisemitismus wandten, etwa nach dem Scheunenviertelpogrom oder dem Rathenau-Mord. Ab 1928, insbesondere in den ländlichen Gebieten, in denen es zu populären Protestbewegungen wie z. B. der antisemitischen Landvolkbewegung kam, und dann verstärkt mit der Weltwirtschaftskrise 1929 sowie der dadurch rasant ansteigenden Arbeitslosigkeit erlebte der Antisemitismus einen erneuten Aufschwung. Er fungierte dabei als wichtiger Bestandteil der politischen Ideologie der NSDAP, aber auch vieler anderer Gruppierungen wie der rechtsintellektuellen »Konservativen Revolution«, zu denen einflussreiche Intellektuelle wie der Rechtsgelehrte Carl Schmitt, der Philosoph Ludwig Klages, der Politiker Ernst Niekisch, der Journalist Hans Zehrer sowie die Literaten und Brüder Friedrich Georg und Ernst Jünger gehörten. Die judenfeindlichen Ideen verschmolzen in diesen Kontexten immer stärker mit antidemokratischen, antikommunistischen und extrem-nationalistischen Vorstellungen. Zugleich richteten sich die häufigen terroristischen Gewaltexzessen in der Spätphase der Republik teilweise auch gegen Juden. So kam es in Berlin im Oktober 1930 zu Krawallen anlässlich der Reichstagseröffnung und im September 1931 zu den sogenannten Kurfürstendammkrawallen, jeweils ausgelöst durch nationalsozialistische Schlägertrupps. Die politischen Institutionen der Juden in der Weimarer Republik In der ›innerjüdischen‹ Politik hatte sich bereits vor dem Ersten Weltkrieg ein Stimmungswechsel angedeutet, der durch die vielfältigen Enttäuschungen, Bedrohungen und Anfeindungen während des Krieges noch zusätzlich beschleunigt wurde. Zumeist
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wurde dieser Wandel bereits von den Zeitgenossen mit Vorstellungen von Generation und Generationskonflikt beschrieben, wie überhaupt Generationszuschreibungen im Umfeld der Jugendbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts zu einem politischen Kampfmittel wurden. Die »Renaissance des Judentums« – eine literarisch-kulturelle Bewegung auf der Suche nach einer authentischen, modernen jüdischen Identität – konnte so als ein Projekt junger Juden verstanden werden, mit dem sie sich gegen die – aus ihrer Sicht – überassimilierten Väter auflehnten. Für die Ideale und Ziele der bürgerlichen Jugendbewegung, die noch im späten Kaiserreich entstanden war, hatten sich in der Tat viele junge Juden und Jüdinnen begeistern können. Durch den auch in diesen Kreisen virulenten Antisemitismus begannen sie jedoch bereits vor Kriegsausbruch ihre eigene Jugendbewegung zu organisieren. So entstanden ab 1907 die ersten lokalen jüdischen Wandergruppen, von denen sich einige ab 1912 zum zionistischen Jugendbund Blau-Weiß reichsweit zusammenschlossen, der am Ende des 1. Weltkrieges bereits 3.000 Mitglieder hatte. In diesem Umfeld fiel der Ruf nach einer Rückkehr zum Judentum auf fruchtbaren Boden, zumal die Erfahrungen mit Antisemitismus während des Krieges und zugleich die Kontakte mit osteuropäischen Juden, deren Leben man als authentisch jüdisch wahrnahm, zahlreicher wurden. Auf verschiedenen Ebenen der innerjüdischen Politikdebatten manifestierte sich dieses neue, oft allerdings gänzlich säkulare Interesse an einem vermeintlich unverfälschten Judentum, dem sich ansonsten vor allem Literaten wie Richard Beer-Hoffmann oder Else Lasker-Schüler (18691945) und Gelehrte wie Martin Buber, Franz Rosenzweig (18861929) oder Gershom Scholem (1897-1982) widmeten. Ein weiterer wichtiger Aspekt, der nicht nur diese Identitätsdebatten, sondern den ›innerjüdischen‹ Politikbereich insgesamt veränderte, war die seit dem Krieg beständig gestiegene osteuropäischjüdische Zuwanderung. Mitbedingt durch den anhaltenden Bevölkerungsrückgang unter den deutschen Juden wuchs der Anteil der osteuropäischen Juden auf bis zu einem Fünftel der jüdischen
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Bevölkerung. Dies befeuerte nicht nur, wie bereits im Kaiserreich, die antisemitische Propaganda, sondern warf auch für die jüdischen Gemeinden soziale wie politische Probleme auf. Faktisch entwickelte sich die ›Innenpolitik‹ der deutschen Juden in einem komplexen Geflecht aus nationalen und regionalen Verbänden und Einrichtungen. Da der Verband der deutschen Juden 1922 aus finanziellen Gründen zu existieren aufhörte, verblieb als alleiniger nationaler Dachverband der Deutsch-Israelitische Gemeindebund (DIGB), der jedoch weiterhin mit finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte und gegenüber den übermächtigen jüdischen Großgemeinden immer weniger Einfluss besaß. Praktisch konnte der DIGB auch angesichts der religiösen Vielfalt keine Zusammenführung der Gemeinden erreichen; die orthodoxen und ultraorthodoxen Gemeinden verweigerten noch immer die Mitgliedschaft. Sie hatten mit der Freien Vereinigung für die Interessen des orthodoxen Judentums und im Reichsbund gesetzestreuer jüdischer Gemeinden Deutschlands ihre eigene überregionale Organisationsstruktur ausgebildet. Trotz dieser Spaltungen kam es immer wieder zu Versuchen, eine Gesamtvertretung der deutschen Juden zu schaffen; vor allem der Rabbiner und Jurist Ismar Freund (1876-1956) bemühte sich darum. Auch dieses Unterfangen scheiterte jedoch am Widerstand der Großgemeinden und der Orthodoxie. Wenn es jedoch auf regionaler Ebene zu Vereinigungstendenzen kam, wie etwa 1922 bei der Gründung des Preußischen Landesverbands jüdischer Gemeinden (PLV), erwies sich die Anerkennung als Körperschaften des öffentlichen Rechts durch die Regierungsstellen als schwierig. Wie dem DIGB blieb damit dem PLV das Recht vorenthalten, eigenständig Steuern zu erheben, sodass diese Organisationen in einem engen finanziellen Rahmen agierten, für den sie noch dazu von den Großgemeinden abhängig waren. Die größte Organisation der deutschen Juden blieb der Centralverein, dessen Mitgliederzahl 1926 auf über 60.000, organisiert in 555 Ortsgruppen, angewachsen war. Sein Hauptziel – den Kampf gegen den Antisemitismus – verfolgte der C.V. auch in der Weimarer Republik auf mehreren Ebenen. Seine publizistischen Ak-
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tivitäten waren beachtlich: Jede Woche erschien die C.V.-Zeitung mit einer Auflage von 65.000 Stück, die jedes Mitglied kostenlos erhielt. Zudem wurde eine monatliche Ausgabe mit 30.000 Exemplaren an nichtjüdische Multiplikatoren in Gesellschaft, Politik und Presse verschickt. 1923 erschien der Anti-Anti im Philo-Verlag, in dem sich Widerlegungen der wichtigsten antisemitischen Vorurteile fanden und der viele Auflagen erleben sollte. Der C.V. richtete auch einen Pressedienst ein, der Stellungnahmen zu bestimmten Themen verfasste und an die allgemeine Presse schickte. Ferner bildete das juristische Vorgehen gegen Diskriminierung und antisemitische Verleumdung weiterhin eine der Hauptaufgaben des C.V., die aber auch von anderen Verbänden wie dem Reichsbund jüdischer Frontsoldaten oder dem Kartell-Convent jüdischer Studentenverbindungen wahrgenommen wurde. Während man sich dabei auf die entsprechenden, eindeutigen Strafrechtsparagrafen der Weimarer Verfassung berufen konnte, war gleichwohl umstritten, ob ein massives rechtliches Vorgehen mit Hilfe staatlicher Stellen politisch klug war und ob sich die entsprechenden Stellen dafür überhaupt gewinnen ließen. Gerade die Justiz der Weimarer Republik erwies sich im Vorgehen gegen rechte Gruppen teilweise als sehr unzuverlässig. Dennoch widmete sich der C.V. dieser Arbeit mit einer eigens dafür eingerichteten Rechtsabteilung sehr intensiv. Eine durchaus neue Forderung, die dem ursprünglich liberal-jüdischen Selbstverständnis des C.V. teilweise entgegenstand, wurde in der Zwischenkriegszeit lauter: die stärkere Förderung eines jüdischen Bewusstseins unter den deutschen Juden. Insbesondere die jüngeren C.V.-Führungspersönlichkeiten wie Ludwig Tietz (1897-1933) sprachen sich dafür aus. Dem standen national orientierte jüdische Vereine klar ablehnend gegenüber, so etwa der 1921 gegründete Verband nationaldeutscher Juden. Von hier erfuhr der C.V. deutliche und kontinuierliche Kritik. Der kleine Verband konnte vor allem publizistisch für Aufsehen sorgen: Sein Gründer, Max Naumann, machte vor allem mit seinen Polemiken gegen die osteuropäisch-jüdischen Einwanderer Furore innerhalb des deutschen Judentums. Sein gelegentlich geäußertes Verständnis für einige Antisemiten
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brachte ihm heftige Kritik ein. Nicht unwesentlichen Einfluss auf die jüdische Politik nahm der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten, der 1919 von dem Hauptmann a.D. Leo Löwenstein (1879-1956) gegründet worden war und sich ebenfalls der Abwehr des Antisemitismus widmete. Der Reichsbund wuchs schnell zur zweitgrößten jüdischen Organisation mit 35.-40.000 Mitgliedern (1925) heran. Zunächst schien er sich zu einer überparteilichen Institution zu entwickeln, der zeitweise auch Zionisten angehörten. Im Laufe der Weimarer Republik nahmen im Reichsbund jedoch die nationaldeutschen und vaterländischen Stimmen überhand. Besonders wichtig war es für den Reichsbund, die antisemitischen Vorwürfe hinter der »Judenzählung« zu widerlegen. Daneben engagierte er sich in der Förderung von Sport- und Wehrsporteinrichtungen sowie von jüdischer Landarbeit und Siedlungstätigkeit, was als wirksames Instrument gegen antisemitische Vorurteile angesehen wurde. Die Zionistische Vereinigung für Deutschland (ZVfD) war bis Ende der 1920er-Jahre zwar auf etwa 20.000 Mitglieder angewachsen, blieb damit aber hinter dem C.V. und dem Reichsbund deutlich zurück. Allerdings hatte sie politisch durch die britische Balfour-Deklaration 1917 an Einfluss gewonnen, weil mit ihr die Erfüllung des zionistischen Traums einer jüdischen Heimstätte in Palästina möglich erschien. Die unterschiedlichen Strömungen – eine ältere Generation mit einem relativ gemäßigten Kurs gegenüber einer jüngeren Generation, die unter Kurt Blumenfeld einen radikaleren, praktischen Zionismus predigte – existierten auch nach dem Krieg weiter, nur unter umgekehrten Vorzeichen: Die Jüngeren drängten sich immer mehr in den Vordergrund. Dadurch fokussierte sich die ZVfD stärker auf die Errichtung einer Heimstätte in Palästina, und die Forderungen an die deutschen Juden wurden lauter, die eigene Auswanderung dorthin vorzubereiten. Demgegenüber wollte sich aber weiterhin eine Minderheit auf die Arbeit in der »Diaspora« konzentrieren. Hier deuteten sich Konflikte an, die es in der Zionistischen Weltorganisation ebenfalls gab. Trotz aller Appelle wanderten vor 1933 gleichwohl kaum deutsche Juden nach Palästina aus.
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Bereits dieses ideologisch komplexe Vereinsleben der deutschen Juden verdeutlicht, wie sehr sich die jüdische ›Innenpolitik‹ während der Weimarer Republik in verschiedene Parteien und Lager aufspaltete. Ideologische Konfliktlinien wirkten hier ebenso verschärfend wie die osteuropäisch-jüdische Einwanderung und die religiöse Differenzierung. Zugleich resultierte die Polarisierung aus der einfachen Tatsache, dass die unterschiedlichen Gruppen jetzt in demokratische Prozesse in den Gemeinden eingebunden waren und ihre weltanschaulichen Unterschiede damit ebenso sichtbar wie relevant wurden. In den Gemeinden war mit Beginn der Republik das Klassenwahlrecht abgeschafft worden; dadurch war die Gemeindepolitik nicht mehr vornehmlich Sache einer bürgerlich-liberalen Honoratioren-Elite. Allerdings war die Demokratisierung unvollständig und blieb umstritten: Orthodoxe Kreise um den Direktor des Berliner Rabbinerseminars David Hoffmann (1843-1921) kämpften gegen das passive Frauenwahlrecht, welches 1930 nur in einem Drittel der jüdischen Gemeinden durchgesetzt worden war. Neben dem Kampf gegen Prostitution und Mädchenhandel stellte die Durchsetzung des vollen Wahlrechts für Frauen eine der Hauptaufgaben des Jüdischen Frauenbundes (JFB) dar. Dieser musste hierfür langwierige Auseinandersetzungen in jeder einzelnen Gemeinde in Kauf nehmen, da 1927 der Versuch gescheitert war, im Preußischen Landesverband jüdischer Gemeinden eine landesweite Billigung des Frauenwahlrechts zu erwirken. Noch schwieriger durchzusetzen – natürlich nur dort, wo das aktive und passive Frauenwahlrecht eingeführt worden war – war die Forderung, dass Jüdinnen in den Gemeindeämtern angemessen vertreten sein sollten. In die Repräsentantenversammlungen der Berliner jüdischen Gemeinde wurden 1926 mit Lina Wagner-Tauber (1874-1936) und Bertha Falkenberg (1876-1946) zwei Frauen gewählt. Eine sichtbare Folge der innergemeindlichen Demokratisierung war das Entstehen der Jüdischen Volkspartei (JVP) 1919, in der sich vor allem jene Gruppen organisierten, die sich durch das liberale Establishment der jüdischen Gemeinden nicht repräsen-
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tiert fühlten: (gemäßigte) Zionisten, Orthodoxe und osteuropäisch-jüdische Einwanderer. Die JVP lehnte die liberale Reduktion des Judentums auf die religiös-konfessionelle Dimension ab und sprach stattdessen von einer ethnisch definierten ›Volksgemeinde‹, weshalb sie sich als eine deutsche Spielart des osteuropäischjüdischen Diaspora-Nationalismus verstehen lässt. Auch parteipolitisch wies sie ein markant anderes Profil auf als die Liberalen: Bei ihr fehlten weitgehend die DDP-Anhänger, während einige Aktivisten der JVP die SPD, das Zentrum oder sogar Parteien der Rechten unterstützten. Zudem trat sie mit ihrem Fokus auf die deutsche Gemeindepolitik vor Ort der wachsenden PalästinaOrientierung der ZVfD entgegen, deren Mitglieder viele ihrer Repräsentanten gleichwohl waren. Ihre konkreten Ziele waren die besondere Förderung von jüdischen Schulen, ein umfassenderes Engagement für die Kolonisation Palästinas und eine stärkere Betonung der Sozialarbeit (Jugendfürsorge, Altenpflege, Gesundheitsvorsorge, Berufsbildung etc.). Gerade der letztere Bereich erlebte in der Weimarer Republik eine beachtliche Ausweitung der gemeindlichen Aufgaben, sodass etwa die Berliner jüdische Gemeinde (mit ca. 150.000 Mitgliedern) 1930 1.500 Angestellte und einen Jahresetat von mehr als 10 Mio. Reichsmark aufwies. Gleichwohl behielten die Liberalen innerhalb der Gemeinden während der Weimarer Republik zumeist die Oberhand, allerdings mit einigen Ausnahmen und immer mit einer starken Opposition: Als 1925 der Preußische Landesverband jüdischer Gemeinden von den Mitgliedern der preußischen Gemeinden gewählt wurde, erhielt die liberale Liste 55 und die JVP 26 Prozent. 1926 verloren die Liberalen ihre Mehrheit in der jüdischen Gemeinde Berlins an eine Koalition von JVP, Orthodoxen und Zionisten, was zwar zu großer Unruhe in der Gemeinde führte, allerdings an der konkreten Politik nicht viel änderte. Wenn Zeitgenossen gelegentlich die politische Dynamik in den jüdischen Gemeinden als Zersplitterung und Schwächung begriffen, so kann dies teilweise mit den Schwierigkeiten der Mehrheitsfindung in solchen Situationen, teilweise aber auch mit einem
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vordemokratischen Politikverständnis erklärt werden, wonach Meinungsbildungsprozesse eher durch bürgerliche Hegemonie zustande kommen sollten als durch politische Alternativen und eine offene Debattenkultur. Übersehen wurde dabei auch, dass die Polarisierung mit einer substantiellen Politisierung einherging: In der Berliner Gemeinde gingen 1926 vierzig Prozent der Wahlberechtigten zur Wahl, 1930 dann sechzig Prozent. In München waren es 1921 sogar 78 und in Dresden 82 Prozent. Man kann die Zersplitterung also auch als Pluralisierung und Normalisierung beschreiben. Als 1933 mit der Reichsvereinigung der deutschen Juden zum ersten Mal eine einheitliche Repräsentanz der deutschen Juden ins Leben gerufen wurde, war diese Normalisierung freilich schon an ihrem Ende angelangt.
Das nationalsozialistische Deutschland Bereits ab März 1930 existierte das demokratische System der Weimarer Republik mit den drei Präsidialkabinetten unter Heinrich Brüning, Franz von Papen und Kurt von Schleicher nur noch auf dem Papier. Der greise Reichspräsident Paul von Hindenburg setzte die jeweiligen Regierungen ein und erließ die notwendigen Gesetze per Notverordnungen nach Artikel 48 der Reichsverfassung. Damit war die normale legislative Funktionsfähigkeit des Reichstages nicht mehr gewährleistet; de facto existierte eine Art Präsidialdiktatur. Spätestens als die Weigerung der SPD, den Nachfolger Brünings, von Papen, als Reichskanzler parlamentarisch zu tolerieren, 1932 zu Neuwahlen führte, durch die die Gegner der Republik – auf der Rechten wie der Linken – eine Mehrheit im Reichstag erhielten, war das Schicksal der Republik besiegelt. Möglich geworden war dies vor allem durch den Aufstieg der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei. Die NSDAP ging 1920 aus der Deutschen Arbeiterpartei hervor und hatte sich im gleichen Jahr ein deutlich antisemitisches Parteiprogramm gegeben. Sie war zu diesem Zeitpunkt allerdings nur eine unter vielen Gruppierungen im rechtsextremen, völkischen Lager, die sich in ihrem Antisemitismus auch kaum von anderen unterschied. Erst unter der Führung Adolf Hitlers, der 1921 die Partei übernahm, erhielt sie ein eigenständiges Gepräge und konnte durch den »Hitler-Putsch« 1923 das erste Mal reichsweit auf sich aufmerksam machen. Hitlers selbsternannter »Antisemitismus der Vernunft« stellte eine extreme nationalistische, völkische Variante dar, die insbesondere Elemente der Rassenhygiene und -eugenik wie des Sozialdarwinismus mit dem gesamten Arsenal antisemitischer Stereotypen kombinierte. Die utopisch-apokalyptische Prägung dieses »Erlösungsantisemitismus« (Saul Friedländer) knüpfte die Zukunft des »arischen« Volkes der Deutschen an den erfolgreichen Kampf gegen das Judentum. Es wird bis heute diskutiert, ob diese manichäische Rhetorik bereits früh die physische Vernichtung des jüdischen Volkes beinhaltete oder ob sie sich in
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entsprechende Extremphantasien hineinsteigerte, deren konkrete Umsetzung erst viel später – nach der Machtübernahme und vor allem mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs – möglich wurde. Schon mit den Reichstagswahlen 1928 hatten sich Veränderungen mit langfristigen Folgen für das politische System ergeben; insbesondere die Parteien der bürgerlichen Mitte (in den protestantischen Gebieten) wurden stark geschwächt. Die DDP und die DVP verloren massiv an Wählern und sollten sich davon nicht wieder erholen. Die DDP vereinigte sich 1930 mit Teilen des (teilweise antisemitischen) Jungdeutschen Ordens zur Deutschen Staatspartei (DStP), wogegen es in der Partei und auch von jüdischer Seite Proteste gab. Die dabei gebildete Abspaltung – die Radikaldemokratische Partei – schaffte es jedoch wie die DStP nicht, den Trend umzukehren. Bei den beiden Reichstagswahlen 1932 erhielt die DStP nur noch ein Prozent der Stimmen. Die DVP versuchte sich noch weiter rechts von der Mitte zu platzieren, was aber kaum Erfolge zeitigte (1,2 bzw. 1,9 Prozent 1932). Das gesamte Umfeld verschlechterte sich durch die einsetzende Wirtschaftskrise, die ab 1929 globale Ausmaße annahm und in Deutschland eine Rekordarbeitslosigkeit von drei Mio. Erwerbslosen im Februar 1929 verursachte. Auch unter den Juden spitzte sich die wirtschaftliche Situation zu; die Zahl der deutschen Juden, die von der jüdischen Sozialfürsorge abhängig wurden, stieg rasant. Die weiteren politischen Verschiebungen in der Endphase der Republik verbesserten die Lage der deutschen Juden keineswegs. Schon bei der Wahl 1928 hatte die DNVP ebenfalls herbe Verluste erlitten und reagierte in der Folgezeit mit einem deutlichen Rechtsschwenk, der letztlich in die Unterstützung von Hitlers Machtübernahme münden sollte. Auch das katholische Zentrum bewegte sich seit den späten 1920er-Jahren nach rechts. Einige Juden suchten dennoch hier eine neue politische Heimat, nicht selten weil sie die atheistische Ausrichtung der SPD problematisch fanden. Die bürgerlichen Wähler, vor allem in den protestantischen Gebieten, begannen mit einsetzender Wirtschaftskrise zunehmend die NSDAP zu unterstützen, die zwar 1928 noch eine
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Kleinstpartei mit 2,6 Prozent der Wählerstimmen gewesen war, aber bereits in einigen Krisengebieten der ländlich-protestantischen Regionen erste Zugewinne feiern konnte. Die folgenden Wahlerfolge der NSDAP – 1930: 18,3 Prozent, Juli 1932: 37,4, November 1932: 33,1 – übertrafen die schlimmsten Befürchtungen der Juden. Unter ihnen schwand das Vertrauen in den politischen Liberalismus jetzt rapide; wenn sie sich nicht mit einer linken Partei, vor allem der SPD, oder mit dem Zentrum anfreunden konnten, blieb ihnen kaum etwas anderes übrig, als nicht zur Wahl zu gehen. Die Juden hatten ihre angestammte politische Heimat verloren. Auch die jüdischen Organisationen konnten den jüdischen Wählern und Wählerinnen keinen Ausweg mehr zeigen. Der C.V. empfahl noch lange die Wahl der DStP, was auch daran lag, dass der stellvertretende C.V.-Vorsitzende Bruno Weil (1883-1961) für einen Reichstagssitz dieser Partei kandidierte – ein Schachzug, der innerparteilich nicht unumstritten gewesen war. Zugleich baute der C.V. die Kooperation mit der SPD und dem ihr nahestehenden Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold aus. Der rechte Verband nationaldeutscher Juden warb sogar um Verständnis für den Rechtsruck des politischen Systems, ausdrücklich unter Einbeziehung der NSDAP. Lediglich die Zionisten konnten darauf verweisen, dass sie mit ihrer politischen Einschätzung der Lage schon immer Recht gehabt hätten, weil sie die Chancen von Gleichberechtigung und Integration in die nichtjüdische Gesellschaft als gering und deren Potential an Antisemitismus und Rassismus als hoch eingeschätzt hatten. Doch war die Situation zu gefährlich für rechthaberische Triumphe, sodass auch die Zionisten den Kampf für den Erhalt der bürgerlichen Rechte der Juden unterstützten. Die Rücknahme der Emanzipation Am 30. Januar 1933 ernannte Reichspräsident von Hindenburg Hitler zum Reichskanzler, der sich auf eine Koalition von NSDAP und DNVP stützen konnte, ohne allerdings dieser Absiche-
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rung wirklich zu bedürfen, weil er – wie seine unmittelbaren Vorgänger – mittels Notverordnungen regieren konnte. Wer zu diesem Zeitpunkt noch zweifelte, dass damit der Antisemitismus zum Teil der Regierungspolitik geworden war, sollte spätestens durch die Terrorwelle belehrt werden, mit der SA und SS in den folgenden Tagen und Wochen das Land überzogen. Waren in erster Linie Kommunisten und Sozialdemokraten Opfer dieser Exzesse, trafen sie dennoch oft auch Juden, nicht selten osteuropäisch-jüdische Einwanderer in den urbanen Zentren. Zugleich erwarteten einen Kommunisten jüdischer Herkunft wesentlich härtere Repressalien als einen nichtjüdischen Parteigenossen. Viele Geschäfte wurden bereits in dieser frühen Phase demoliert und ihre jüdischen Inhaber und Mitarbeiter am geregelten Verkauf gehindert. Diese vermeintlich spontanen Aktionen wurden dann am 1. April 1933 von einem staatlich sanktionierten »Boykott« abgelöst. Mitglieder der SA und des Stahlhelms blockierten den Zugang zu jüdischen Geschäften, Anwaltskanzleien und Arztpraxen und beschmierten sie mit antijüdischen Parolen. An manchen Orten kam es zu Plünderungen, in Chemnitz, Kiel und Plauen gar zu Morden. Derartige Kampagnen wiederholten sich über die nächsten Monate und Jahre – und zeitigten zusammen mit den gesetzlichen Beschränkungen große Wirkung: Von den ungefähr 100.000 Betrieben und Geschäften in Deutschland, die 1933 in jüdischem Besitz gewesen waren, verschwanden in den ersten beiden Jahren nach der Machtübernahme bereits 25.000. Parallel zum »Boykott« kam es immer wieder zu unkoordinierten Gewaltaktionen, bei denen sich die Täter – nicht nur SA-Personal, sondern auch ganz normale Bürger – durch die staatlich sanktionierten Kampagnen bestärkt fühlen konnten, mit denen sie aber zugleich zu einer weiteren Eskalation beitrugen. Neben den wiederkehrenden Phasen, in denen antijüdische Gewaltakte offen forciert wurden, begann das neue Regime damit, die Emanzipationsgesetzgebung rückgängig zu machen, die im 19. Jahrhundert so hart und langwierig erkämpft worden war. Das bedeutete in erster Linie den rechtlichen Rahmen jüdischen Le-
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bens grundlegend zu ändern und Juden wieder zu Bürgern zweiter Klasse zu degradieren. Mit dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 wurden alle Beamten jüdischer Herkunft aus ihren Stellungen gedrängt. Durch eine Verordnung vom 11. April 1933 wurde dann zum ersten Mal festgelegt, wer ›nichtarischer‹ Herkunft sei, nämlich wer einen oder mehrere jüdische Großelternteile besaß. Mit dem Berufsbeamtengesetz wurde das erste Sondergesetz geschaffen und somit die rechtliche Gleichstellung der Juden faktisch bereits beendet. Das im Juli des Jahres verkündete Ausbürgerungsgesetz bestätigte diese Tendenz, indem es denjenigen Juden osteuropäischer Herkunft, die nach 1918 die Staatsbürgerschaft verliehen bekommen hatten, diese wieder entzog. Entscheidend für die weitere Entwicklung waren die Nürnberger Gesetze, die im September 1935 auf dem Reichsparteitag erlassen wurden und die Rücknahme der Emanzipationsgesetzgebung vollendeten. Nach dem Reichsbürgergesetz waren Juden keine vollen Staatsbürger (»Reichsbürger«) mehr, sondern nur noch deutsche Staatsangehörige mit eingeschränkten Rechten. Alle künftigen Entrechtungen und Gewaltexzesse konnten in den folgenden Jahren durch diese fundamentale Unterscheidung gerechtfertigt werden. Das zweite Gesetz, das Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre, verbot Ehen und Beziehungen zwischen Juden und sogenannten »Ariern«. Damit wurde der Tatbestand der »Rassenschande« in das Strafrecht übernommen. Die Nürnberger Gesetze setzten die Definition voraus, was ein Jude sei, und daher mussten zusätzliche Unterscheidungen (»Voll-, Halb- und Vierteljuden«) ins Gesetz übernommen werden. Nur »Vierteljuden« oder »Mischlinge zweiten Grades« (mit einem einzigen jüdischen Großelternteil) wurden noch »vorläufig« als Reichsbürger anerkannt. Gerade über die Stellung der »Mischlinge« und der jüdischen Partner in »Mischehen« wurde während der gesamten NS-Herrschaft in Partei und Bürokratie weiter gerungen. In der Praxis musste sich das Regime für den spätestens mit dieser Regelung nötig gewordenen »Ariernachweis« auf religiöse Dokumente (aus Kirchenakten oder den Archi-
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ven der jüdischen Gemeinden) verlassen, um die jüdischen oder nichtjüdischen Vorfahren einer Personen ermitteln zu können. Hierfür war die Kooperation der Kirchen notwendig und wurde in der Regel auch gewährt, gerade von protestantischer und zurückhaltender von katholischer Seite. Die Suche nach rassenbiologischen Unterscheidungsmerkmalen, mit denen man anhand unveränderlicher Kennzeichen einer Person (ihres Körperbaus, ihres Schädelform, ihres Blutes etc.) ihre rassische Zugehörigkeit zweifelsfrei ermitteln könnte, blieb erfolglos. Die Entrechtung der Juden war ein komplexer Prozess, der mehrere Jahre brauchte; schließlich kam es nicht nur darauf an, das geltende Recht zu verändern, sondern auch die alltäglichen Formen der gleichberechtigten Teilnahme am öffentlichen Leben zu zerstören. Es musste im täglichen Leben deutlich werden, dass Juden keine Bürger des deutschen Staates mehr waren. Gerade die Mischung aus »spontanen« judenfeindlichen Aktionen »von unten« und staatlich sanktionierter Entrechtlichung wirkte sich hierbei in fataler Weise aus. So wurden die Beschränkungen des Berufsbeamtengesetzes durch die Initiativen der Länder und Gemeinden sowie der Berufsverbände de facto auf weitere Berufsgruppen ausgedehnt, insbesondere auf Rechtsanwälte und Ärzte. In ähnlicher Weise spielten staatliche und zivilgesellschaftliche Mechanismen bei vielen Ausgrenzungsformen ineinander: Juden verschwanden aus den Vereinen und jüdische Kollegen aus den Betrieben. Einige öffentliche Einrichtungen wie Badeanstalten durften von Juden nicht mehr genutzt werden. Nichtjuden, die weiterhin Kontakt zu Juden hielten, wurden als »Judenfreunde« denunziert. Gerade bei freundschaftlichen Beziehungen zu jüdischen Personen des anderen Geschlechts bestand immer die Gefahr, der »Rassenschande« bezichtigt zu werden. Das nationalsozialistische Hetzblatt Der Stürmer stellte Schaukästen auf, wo Fotos von entsprechenden Paaren – oder die auch nur so aussahen – ausgehängt werden konnten. Als Folge dieser und anderer Praktiken verbreitete sich das Denunziantentum, das nicht selten für die Begleichung eigener Rechnungen mit Juden genutzt wurde.
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»Des Juden Los ist: nachbarlos zu sein.« lautete die bittere Erkenntnis, die der Berliner Rabbiner Joachim Prinz (1902-1988) 1935 formulierte.4 Obwohl diese Wahrnehmung des alltäglichen Isolationsprozesses bei vielen verfolgten Juden in der Tat bestand, so lässt sich doch festhalten, dass die nichtjüdische Bevölkerung gegenüber der antisemitischen Gewalt und der Ausgrenzung der Juden ein breites Spektrum an Reaktionen zeigte. Zweifelsohne zerbrachen viele Beziehungen, weil sich nichtjüdische Nachbarn, Bekannte, Freunde etc. aus Angst vor dem Regime oder gar aus Billigung der neuen Politik zurückzogen. Das bisher gängige Bild vom unbeteiligten Bürger, der offene Gewalt als Zerstörung von Sachwerten ablehnte, aber dem Schicksal der Juden insgesamt unbeteiligt und passiv gegenüberstand, wird allerdings inzwischen angezweifelt. Für Berlin lässt sich zeigen, dass es mehr Diskussionen über die »Judenfrage« und auch länger anhaltenden Protest – selbst gegenüber staatlichen Stellen – gab, als die bisherige Sichtweise suggerierte. Teilweise bestanden geschäftliche oder sogar freundschaftliche Beziehungen zu Juden weiter, sogar bis in den Krieg hinein. Die jüdischen Verfolgten wehrten sich zudem häufiger gegen die Entrechtlichung, als dass im Bild von den Juden als passives Opfer des nationalsozialistischen Terrors behauptet wird. Die Denkschrift Zur gegenwärtigen Lage der Juden, die im Januar 1934 von der Reichsvertretung der deutschen Juden an die Reichsregierung geschickt wurde, dokumentierte die vielfältigen Diskriminierungen der jüdischen Bevölkerung. Auch im Alltag war die Hoffnung auf Schutz durch die Behörden noch nicht verschwunden: Regelmäßig zeigten Juden die von ihnen erlittenen Gewalttaten und Beleidigungen bei der Polizei an. Ihr Protest blieb damit allerdings dem Rahmen eines Rechtsstaates verpflichtet, wie er bereits aufgehört hatte zu existieren. Zugleich lassen sich auch Anzeichen eines notgedrungenen Rückzugs aus der Öffentlichkeit finden, gerade bei besonders integrierten Familien und dort 4
DOK. 161, in: Wolf Gruner (Hrsg.), Deutsches Reich 1933-1937, Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945, hrsg. v. Aly, Götz et al., Bd. 1, München 2008, S. 427.
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besonders bei den jüdischen Männern, die zuvor am allgemeinen Alltagsleben teilgenommen hatten. Für diese Personen wurde eine jüdische Öffentlichkeit – jüdische Vereine, Kulturveranstaltungen, Zeitungen, Bekannte und Freunde, aber auch jüdische Schulen und Arbeitgeber – plötzlich wieder wichtiger. Juden und Politik im frühen NS-Regime Natürlich bedeutete die nationalsozialistische Ausgrenzungspolitik auch, dass Juden aus den politischen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen wurden, dass ihre politischen Spielräume systematisch eingeengt wurden und dass sie an der politischen Öffentlichkeit nicht mehr teilhaben konnten. Damit erhielt der ›innerjüdische‹ Politikbereich eine Bedeutung, die dieser seit der Abschaffung der korporativ-autonomen Gemeindestrukturen im frühen 19. Jahrhundert nicht mehr besessen hatte. Aber auch nach außen, gegenüber dem feindlichen Regime, mussten sich die deutschen Juden organisieren. Bereits im September 1933 reagierte man auf die neue Lage und gründete die Reichsvertretung der deutschen Juden, eine Dachorganisation verschiedener jüdischer Einrichtungen, zu denen u.a. die Großgemeinden, die jüdischen Landesverbände, der Centralverein, die Zionistische Vereinigung für Deutschland und der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten gehörten. Der Einschnitt 1933 ermöglichte damit die Gesamtvertretung, zu der sich die deutschen Juden zuvor nie hatten durchringen können. Die Reichsvertretung sollte sie gegenüber dem Staat und der NSDAP vertreten und zugleich das Zusammenleben der Juden unter den erschwerten Bedingungen organisieren. Besonderes Gewicht legte die neue Zentraleinrichtung auf die Förderung des jüdischen Erziehungswesens, auf die Besserung der wirtschaftlichen Lage sowie auf die Unterstützung der Auswanderung. Das Führungsgremium der Reichsvertretung wurde nicht gewählt, sondern in sehr komplizierten Verhandlungen zwischen den wichtigsten jüdischen Organisationen und Gemeinden ernannt, die jeweils ihre Vertreter entsandten. Die Wahl des Prä-
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sidenten fiel auf den Berliner Rabbiner Leo Baeck (1873-1956), der spätestens damit zur allseits respektierten Führungspersönlichkeit der deutschen Juden wurde. Neben Baeck übernahmen der württembergische Jurist Otto Hirsch (1885-1941), der die umfangreiche praktische Arbeit der Reichsvertretung koordinierte, und der Berliner Jurist Julius Seligsohn (1890-1942), der die Auswanderungsabteilung leitete, wichtige Vorstandsfunktionen. Anfangs hatte man noch die Hoffnung, sich mit den neuen Machthabern auf einer rechtsstaatlichen Grundlage arrangieren zu können. Dies stellte sich jedoch immer deutlicher als Illusion heraus. Die Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen gestaltete sich als sehr schwierig, insbesondere dort, wo man – wie im Reichsinnenministerium – vor allem mit jungen nationalsozialistischen Beamten verhandeln musste. Eingaben an die Reichskanzlei, die etwa die wirtschaftliche Diskriminierung der Juden anprangerten, wurden völlig ignoriert, weil die Reichsvertretung nicht als legitime Vertretung der deutschen Juden anerkannt wurde. Nach innen nahm die Reichsvertretung allerdings immer stärker die Rolle einer Quasi-Regierung ein, die in den Bereichen Sozial- und Wirtschaftshilfe, Kulturförderung, Berufsweiterbildung, Schulwesen sowie Auswanderung wesentliche Entscheidungs- und Exekutivfunktionen innehatte. 1936 gab die Reichsvertretung ein Budget von ca. 4,3 Mio. Reichsmark für Auswanderungshilfe, ökonomische Beihilfen und Sozialarbeit aus. Zum Teil erhielt die Reichsvertretung Gelder von den deutschen Juden selbst, zum Teil aus dem Ausland. Schon 1937 verfügte die Organisation nicht mehr über genügend Kapital, um die steigende Not der jüdischen Bevölkerung zu lindern. Im Zuge des November-Pogroms 1938 wurde die Reichsvertretung dann in die neue Reichsvereinigung der Juden in Deutschland umgewandelt. Die jüdischen Gemeinden wie andere jüdische Organisationen existierten nach 1933 in der Regel zumindest bis 1938 weiter, nur jetzt oft in enger Zusammenarbeit mit oder sogar unter dem Dach der Reichsvertretung. Trotz der Bedingungen einer totalitären Diktatur waren die Führungen der Gemeinden in der Regel demokratisch legitimiert, auch weil das NS-Regime an einer »Gleich-
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schaltung« der jüdischen Einrichtungen keinerlei Interesse hatte und sie somit nach ihren eigenen Regeln weiterarbeiten ließ. Eine politische Öffentlichkeit gab es unter den deutschen Juden weiterhin, viele Presseorgane der verschiedenen ideologischen Richtungen existierten noch immer. Die Gemeinden hatten schon während der Weimarer Republik die Dienstleistungen für ihre Mitglieder, gerade im sozialen, karitativen und schulischen Bereich, erweitert. Dies kann jedoch kaum verglichen werden mit der Situation nach 1933, wo sie wesentliche Funktionen übernehmen mussten, die der NS-Staat für Juden nicht mehr gewährte. Die Gemeinden erhielten jetzt Aufgaben, die sie nie zuvor besessen hatten: Sie räumten jüdischen Unternehmern, die von Plünderung und Boykotten geschädigt waren, Kleinkredite ein, vermittelten Ausbildungsplätze an Jugendliche oder boten Rechtsberatung an. Seit 1935 kürzten kommunale Fürsorgeämter jüdischen Armen, von denen es immer mehr gab, die Sozialleistungen, sodass die jüdischen Gemeinden die – trotz Wirtschaftsaufschwungs und Emigration – steigende Zahl an jüdischen Arbeitslosen übernehmen mussten. Reichsweit organisiert und koordiniert wurde dies ab April 1933 vom Zentralausschuss für Hilfe und Aufbau. Die Ausweitung der Kompetenzen fand jedoch unter schwierigen Bedingungen statt, da wegen der um sich greifenden Armut unter den deutschen Juden immer weniger Spenden für die Gemeinden vorhanden waren. Der Centralverein hatte eine Zeit lang noch die Hoffnung, sich auf der Grundlage einer vaterländischen Gesinnung mit den Nationalsozialisten zu arrangieren. Der C.V. hegte zudem eine teilweise ambivalente Einstellungen zur Reichsvertretung, die ja die Verständigung mit den Zionisten erforderte. In Folge der Nürnberger Gesetze musste sich der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens in Jüdischer Centralverein umbenennen. Da seine Publikationstätigkeit immer schwieriger wurde und ein juristisches Vorgehen gegen antisemitische Vorfälle und Diskriminierung keinerlei Aussicht auf Erfolg hatte, verlor er auch seine Hauptarbeitsgebiete. Oft übernahmen die C.V.-Funktionäre nun de facto Arbeitsbereiche in den Gemeinden bzw. für die Reichsvertretung, wo ihre Mitarbeit
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auch dringend gebraucht wurde. Der C.V. wurde schließlich nach dem November-Pogrom 1938 verboten. Die Zionisten hingegen konnten sich durch die offene Ausgrenzungs- und Diskriminierungspolitik des Regimes in ihrer Ablehnung von Integration und Assimilation bestätigt fühlen. Die Zionistische Vereinigung für Deutschland (ZVfD), die 1932 gerade mal 7.000 Mitglieder gehabt hatte, wuchs trotz der fortschreitenden Auswanderung auf 22.000 Mitglieder an. Auch waren die Zionisten seit Jahren mit Themen der Auswanderung befasst und verfügten durch die Zionistische Weltorganisation über internationale Kontakte. Ihre Vertreter waren daher innerhalb der Reichsvertretung mit den Abteilungen Auswanderung, Jugendarbeit und berufliche Weiterbildung betraut; vor allem das Berliner PalästinaAmt der Zionisten wurde immer wichtiger, da man dort die wenigen Einreiseerlaubnisse für Palästina erhalten konnte. Dass der ZVfD-Generalsekretär Franz Meyer (1897-1972) 1936 zum zweiten Geschäftsführer der Reichsvertretung ernannt wurde, signalisierte die Machtverschiebung zugunsten der Zionisten innerhalb der Zentralorganisation. Dabei profitierten die Zionisten davon, dass die Nationalsozialisten ihr zentrales politisches Ziel zu diesem Zeitpunkt teilten, nämlich die Auswanderung möglichst aller Juden aus Deutschland. 1938 wurde der ZVfD die Weiterarbeit untersagt. Der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten (RjF) versuchte in der Frühphase des neuen Regimes noch Einfluss auf Regierungshandlungen zu bekommen, u.a. durch Eingaben an den Reichspräsidenten Hindenburg. Seine beständigen Hinweise auf die deutschnationale Vaterlandstreue und soldatische Haltung seiner Mitglieder führte jedoch zu Argwohn und Ablehnung in anderen jüdischen Organisationen, insbesondere bei den Zionisten. Spätestens das neue Wehrgesetz 1935, das den Wehrdienst an einen »Ariernachweis« band, zerstörte alle Hoffnung auf zukünftige Beteiligung, die es im RjF noch gegeben hatte. Der RjF wurde ebenfalls 1938 verboten. Der Verband nationaldeutscher Juden (VnJ) stand in noch deutlicherer Opposition zu den anderen jüdischen Organisationen und versuchte durch öffentliche Verlaut-
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barungen und Eingaben an die Regierung, ein nichtjüdisches Publikum zu erreichen. Dabei war man in der Regel bemüht, sich dem neuen Regime als loyale Deutsche zur Mitarbeit anzubiedern. Trotzdem (oder gerade deshalb) wurde der VnJ schon im Herbst 1935 von der Gestapo verboten. Der Jüdische Frauenbund wiederum hatte auch nach 1933 noch ca. 50.000 Mitglieder, z.T. kamen sogar neue Frauen hinzu. Neben vielen praktischen Fragen wie Arbeitssuche, Sozialhilfe, Auswanderungstraining, Rechtshilfe etc. widmete sich der JFB besonders kulturellen und religiösen Aktivitäten in den Gemeinden. Ein ganzes Netz an freiwilligen Helfern und Helferinnen entstand, um den notleidenden jüdischen Frauen und Familien zu helfen. Nach dem November-Pogrom 1938 wurde auch die Arbeit des JFB untersagt. Politisch-ideologische Spannungen existierten weiterhin zwischen diesen verschiedenen Gruppierungen, auch wenn sie in der Rückschau teilweise weltfremd erscheinen. Die süddeutschen Gemeinden beklagten sich über den angeblichen Einfluss der Berliner Gemeinde auf die Reichsvertretung. Auch manche ältere Honoratioren innerhalb der Gemeinden monierten ihren Machtverlust durch die neue Zentralinstanz. Einige Gruppen – u.a. der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten – standen der Reichsvertretung ebenfalls kritisch gegenüber, ebenso wie Teile der Orthodoxie. Die ideologischen Streitigkeiten zwischen dem C.V. und den Zionisten setzten sich fort, auch wenn angesichts der dramatischen politischen Entwicklung letztlich alle Seiten einsehen mussten, wie aussichtslos die Lage der deutschen Juden geworden war. Die Zusammenarbeit der wichtigsten Gruppen war zunehmend ohne Alternative. Die Verschärfung der Ausgrenzungspolitik 1938 Mit dem Einmarsch in Österreich im März 1938 verschärfte sich die nationalsozialistische Diskriminierungspolitik gegen die Juden weiter, nicht zuletzt weil die im Reich bereits durchgesetzten Regelungen in Österreich innerhalb weniger Tage und Wochen
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mit äußerster Brutalität eingeführt wurden. Im Umfeld des sogenannten Anschlusses kam es auch zu ersten Deportationen von Juden im Burgenland. Auch durch andere Maßnahmen (Zwangsräumungen jüdischer Wohnungen, organisierter Raub jüdischen Eigentums, Plünderung von Warenbeständen jüdischer Unternehmen, alltägliche Übergriffe der Bevölkerung) wurde den Juden Österreichs innerhalb kürzester Zeit die Lebensgrundlage entzogen. Bis 1941 waren 130.000, d.h. zwei Drittel von ihnen, ins Ausland geflohen. Die »Arisierung« der österreichisch-jüdischen Unternehmen verlief planmäßig und schnell: Betriebe und Geschäfte wurden stillgelegt, wenn sie als nicht rentabel klassifiziert wurden; die profitablen wurden hingegen an Nichtjuden weit unter Verkehrswert veräußert, wobei die Erlöse in die Staatskasse flossen. Auch auf die jüdischen Privatvermögen in der nun sogenannten »Ostmark« griff der Staat zu. 1938 wurden im gesamten Reich neue rechtliche Einschränkungen für Juden erlassen. So verloren die jüdischen Gemeinden ab dem 1. April 1938 den Status von Körperschaften des öffentlichen Rechts, was den Verlust der steuerlichen Begünstigung bedeutet und somit den sozialpolitischen Handlungsspielraum der Gemeinden zusätzlich einschränkte. Im April 1938 wurde auch die Anmeldung von jüdischem Privatvermögen wirksam. Im September 1938 verloren jüdische Ärzte ihre Approbation und die letzten jüdischen Rechtsanwälte ihre Zulassung. In den Sommermonaten des gleichen Jahres häuften sich zudem wieder die gewalttätigen Übergriffe gegen Juden. Am 9. und 10. November 1938 organisierte das Regime vornehmlich mit in Zivil gekleidetem SA- und SS-Personal ein landesweites Pogrom, das heute sogenannte November-Pogrom. Über 1.000 Synagogen wurden in Brand gesteckt oder demoliert; etwa 7.500 jüdische Geschäfte geplündert und zerstört, ebenso mindestens 177 Wohnhäuser. An den am nächsten Tag fortgesetzten Gewaltaktionen beteiligte sich vielerorts auch die Bevölkerung. 91 Juden wurden nach offiziellen Angaben während des Pogroms ermordet, gewiss lag die wirkliche Zahl höher; hinzu kamen ungezählte Selbsttötungen. Etwa 25.000 bis 30.000 jüdische Män-
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ner wurden in Konzentrationslager verschleppt und dort inhaftiert, bis sie das Land verlassen konnten. Nicht wenige starben dort, die genaue Zahl ist unbekannt. Für alle Juden verdeutlichte die Radikalität und Brutalität des Pogroms, wie dramatisch ihre Lage war; eine Intensivierung ihrer Auswanderungsbemühungen war die Folge, was vom Regime durchaus erwünscht war. Die antisemitische Politik des nationalsozialistischen Regimes erreichte mit dem 9. November ebenfalls eine neue Dimension; denn nun waren alle Opportunitätserwägungen obsolet, die vorher die fortschreitende Radikalisierung der Judenpolitik zwar nicht verhindert, aber doch immer wieder abgemildert und verzögert hatten. Auch wirtschaftliche oder diplomatische Erwägungen spielten von nun an keine wesentliche Rolle mehr. Das November-Pogrom war ein großer Schock für die deutschen Juden. Diese Brutalität und Erbarmungslosigkeit ihrer Verfolger hatte sich niemand vorher vorstellen können. Viele verloren nun jede Hoffnung, insbesondere jene, die aufgrund ihres Alters nicht mehr auswandern konnten oder wollten. Die Selbstmordrate unter den deutschen Juden erreichte im November 1938 einen neuen Höhepunkt. Andere versuchten noch irgendwie das Land zu verlassen, was aber immer schwieriger wurde. Der Literaturwissenschaftler Victor Klemperer (1881-1960) brachte die Stimmung unter den deutschen Juden 1939 auf den Punkt: »Für uns steht es verzweifelt.«5 »Arisierung« und Auswanderung Viele jüdische Betriebe hatten bereits durch den Boykott 1933 hohe Umsatzeinbußen hinnehmen müssen und gingen Bankrott. Bis 1937 war die Hälfte aller Praxen jüdischer Ärzte verschwunden, da Juden seit Sommer 1933 keine Kassenzulassung mehr besaßen und somit keine Patienten mehr hatten. Jüdischen 5
Victor Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933-1941, Bd. 1, Berlin 1995, S. 477 (Eintrag vom 14. August 1939).
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Rechtsanwälten erging es ähnlich, da sie vor Gericht de facto nicht mehr zugelassen waren. Jüdische Kaufleute verloren ihre Geschäfte – die Hälfte aller Einzelhandelsgeschäfte in jüdischer Hand waren 1937 verschwunden – und mussten sich als Hausierer durchschlagen. Laut den Daten der Volkszählung von Mai 1939 waren nur noch knapp 16 Prozent der deutschen Juden erwerbstätig. Wenn diese Betriebe, Geschäfte, Praxen und Kanzleien nicht liquidiert wurden, wechselten sie in die Hände von Nichtjuden, zumeist Konkurrenten oder ehemalige Angestellte. Diese »Arisierungen« von jüdischen Unternehmen wurden durch Parteistellen der NSDAP, örtliche Behörden und Handelskammern maßgeblich beeinflusst, um die Verkaufspreise so niedrig wie möglich zu halten. Viele Nichtjuden zogen aus diesen Maßnahmen erheblichen Profit. Drohungen, inszenierter »Volkszorn«, Misshandlungen und gar KZ-Haft waren die möglichen Mittel, um die jüdischen Verkäufer zu überzeugen, ihr Eigentum weit unter Wert zu veräußern. Gleichwohl gab es auch Ausnahmen, bei denen nichtjüdische Geschäftsleute oder Mitarbeiter einen fairen Preis boten; generell beteiligten sich an diesem »Bereicherungswettlauf« (Avraham Barkai) jedoch viele verschiedene Gruppen der Gesellschaft und längst nicht nur Parteimitglieder oder überzeugte Nationalsozialisten. Die »Arisierung« der jüdischen Privatvermögen wurde ebenfalls in Angriff genommen. Mit der Einführung der Vermögensanmeldung 1938 mussten die Juden ihr Privatvermögen (und insbesondere ihr Devisenvermögen) gegenüber den Finanzämtern angeben. Damit eröffnete sich die Zugriffsmöglichkeit auch auf das Kapital derjenigen Juden, die bisher keine Auswanderungspläne verfolgten. Bei der Auswanderung wurde zusätzlich eine Reichsfluchtsteuer auf das noch vorhandene Vermögen erhoben. Den Rest konnten die Juden auf ein Spezialkonto einzahlen, auf das sie allerdings nach erfolgter Abreise nicht mehr zurückgreifen konnten. Erst dann erhielten sie die Ausreiseerlaubnis. Ab 1938 wurde zudem eine sogenannte Judenvermögensabgabe eingeführt, die später auch erhöht wurde. Diese Ausplünderung wurde vom Regime
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unverhohlen als Beitrag der Juden zur Volkswirtschaft dargestellt und brachte nicht nur dringend benötigte Devisen für den überschuldeten Staatshaushalt ein, sondern finanzierte die militärische Aufrüstung und die anlaufenden Kriegsvorbereitungen. Die Demolierung der Geschäfte und Betriebe während des November-Pogroms besiegelte die Verdrängung von Juden aus dem Wirtschaftsleben, wobei die entstandenen Schäden von den Versicherungen zwar übernommen wurden, die Auszahlungen in enger Kooperation mit den Behörden aber vom Staat beschlagnahmt wurden. Auf einer Besprechung im Reichsluftfahrtministerium am 12. November 1938 beschloss das Regime die endgültige »Entjudung« der Wirtschaft. Außerhalb einzelner Dienste in den jüdischen Gemeinden und Organisationen war es Juden nun nicht mehr erlaubt, einer geregelten Beschäftigung nachzugehen. Zusätzlich wurden neue gesetzliche Einschränkungen (Kinoverbot, Verbot, eine allgemeine Schule zu besuchen etc.) erlassen. Auch die Einrichtung sogenannter »Judenhäuser«, in denen Juden abgetrennt von der restlichen Bevölkerung wohnen sollten, wurde beschlossen. Nach dem November-Pogrom war zum ersten Mal in den Zeitungen von einer ›endgültigen Lösung der Judenfrage‹ die Rede. Die gewalttätige Ausgrenzung und rechtliche Isolierung der verbliebenen Juden war nun abgeschlossen. Die finanzielle Ausplünderung, die katastrophale wirtschaftliche Lage und die fortschreitende Entrechtlichung zwangen immer mehr deutsche Juden in die Emigration. Allein 1933 waren bereits 37.000 Juden ausgewandert; 1938 ca. 40.000 Juden aus dem Altreich und 60.000 aus Österreich. Im Mai 1939 lebten von den über 500.000 Juden (1933) noch knapp 215.000 im Altreich, schätzungsweise 250.000 Juden waren ausgewandert. Bis Oktober 1941 entkamen weitere 30.-40.000. Zurück blieben überproportional viele Frauen und alte Menschen. Zunächst waren vor allem die europäischen Nachbarstaaten wie Frankreich, Niederlande, Schweiz und die Tschechoslowakei sowie Großbritannien und Palästina die Ziele; ab 1935 orientierte man sich stärker nach Übersee, vor allem in die Vereinigten Staaten. Die Auswanderung wurde durch eine systematische Ausplünderung der ausreisewil-
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ligen Juden begleitet. Allerdings war dieser Diebstahl für das Ziel der Auswanderung zunehmend problematisch, da mittellose Juden kaum eine Chance hatten, in anderen Ländern Aufnahme zu finden. Auf der Konferenz von Evian im Juli 1938 berieten Vertreter von über dreißig Staaten über die Aufnahme von jüdischen Flüchtlingen, wozu sich aber – mit Ausnahme der Dominikanischen Republik – kein Staat bereit erklärte. Im Gegenteil: Die meisten verschärften nur kurze Zeit später ihre Einwanderungsbestimmungen und Grenzkontrollen, um die jüdischen Auswanderer abzuhalten. Emigration wurde zunehmend zu einer illegalen, gefährlichen, teuren und chaotischen Flucht für die verfolgten Juden. Die Ermordung der europäischen Juden im Zweiten Weltkrieg Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939 verschärfte das Regime erneut die antijüdische Politik im Deutschen Reich. Die noch dort lebenden polnischen Juden wurden unmittelbar nach dem Überfall auf Polen inhaftiert und in Konzentrationslager verschleppt, wo die meisten von ihnen umkamen. Allen anderen Juden wurde mit KZ-Haft gedroht, sollten sie »staatsfeindliches Verhalten« an den Tag legen. Der Ausbau der Konzentrationslager wurde vorangetrieben, neue im gesamten Reich und in den besetzten Gebieten gegründet, darunter Neuengamme und Auschwitz. Anfang 1940 begann der erste systematische Massenmord im Reich: die Tötung vermeintlich »lebensunwerter« Behinderter und Kranker im »Euthanasie«-Programm. Jüdische Kranke waren unter den ersten Toten und starben insgesamt zu einem überproportionalen Anteil. Mit Kriegsbeginn wandelte sich die jüdische Selbstverwaltung. Bereits Anfang 1939 hatte das NS-Regime die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland geschaffen. Die bisherige Reichsvertretung sowie die jüdischen Landesverbände gingen in die neue Institution über. Deren Führungspersonal wurde aber nicht mehr von den jüdischen Gemeinden und Organisationen bestimmt, sondern von
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der Gestapo ernannt und stand unter staatlicher Oberaufsicht. Leo Baeck übernahm auch hier das Amt des Vorsitzenden. Anders als bei der Vorgängereinrichtung bestimmte die Gestapo zudem, dass in der Reichsvereinigung alle nach den Nürnberger Gesetzen als Juden geltenden Personen, d.h. auch Protestanten und Katholiken jüdischer Herkunft, Mitglieder sein mussten. Zugleich wurden alle jüdischen Gemeinden nachgeordnete Verwaltungsorgane der Reichsvereinigung. Die Aufgaben der Reichsvereinigung blieben zunächst weitgehend unverändert, sie sollte vor allem der Organisation und Forcierung der Auswanderung, aber auch der Sozialund Bildungspolitik dienen. Derweil wurde die Lage der verbliebenen Bevölkerung immer schwieriger, ihre Versorgung unter Kriegsbedingungen zunehmend unmöglich. Mit dem Beginn der Kampfhandlungen war die Emigration kaum mehr möglich, zumindest nicht im großen Umfang. Mit der Besetzung weiterer Nachbarländer gerieten nicht nur weitere Juden – unter ihnen viele Flüchtlinge aus dem Reich – unter deutsche Verwaltung; damit entfielen auch Ausreisemöglichkeiten, zumal die britische Mandatsmacht die Einreise nach Palästina für Juden aus dem Deutschen Reich verbot. Dort wurde die Lage für die verbliebenen Juden noch unerträglicher, der Alltag durch immer neue Einschränkungen beschwerlicher. Bei der Rationierung von Lebensmitteln wurden sie massiv benachteiligt. In den Städten, in denen nunmehr die überwiegende Zahl der Juden lebte, richtete man seit 1939 »Judenhäuser« ein, in die sie zwangsweise umziehen und dort oft auf engstem Raum zusammenleben mussten. Von dem freiwerdenden Wohnraum profitierten Nichtjuden. Ab Frühjahr 1940 verpflichtete man die arbeitsfähigen Juden, die keine Anstellung mehr hatten, zur Zwangsarbeit; im März 1941 wurde dies für alle Juden zur Pflicht, in der Regel für einen Hungerlohn. Vom September 1941 an mussten Juden im Reich und im »Protektorat Böhmen und Mähren« den gelben Stern tragen. Sie konnten damit leichter Objekt von Anfeindungen werden – allerdings auch von Anteilnahme, die es sehr vereinzelt noch gab. Der illegale Besuch von Veranstaltungen, Parks, Trans-
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portmitteln o.ä. war mit der Kennzeichnungspflicht gänzlich unmöglich geworden. Im Herbst 1941 begannen die Behörden, die gesamte jüdische Bevölkerung in Häusern oder Lagern zu konzentrieren, die in den folgenden Wochen und Monaten zu Sammelstellen für die Deportationen Richtung Osten wurden. Die Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland und seine Verbündeten war das Resultat einer längeren Entwicklung. Seit 1939 entwickelte das NS-Regime großflächige Pläne für die Umsiedelung von Bevölkerungsgruppen: Verschiedene deutsche Bevölkerungsteile (aus dem italienischen Südtirol, dem sowjetisch besetzten Ostpolen und dem Baltikum) sollten ins Altreich umgesiedelt werden. Im Gegenzug sollte die verbliebene jüdische Bevölkerung in ehemals polnisches Territorium, das sogenannte Generalgouvernement, abgeschoben werden. Bereits im Herbst 1939 kam es so zu den ersten Deportationen von Juden aus Kattowitz, Mährisch-Ostrau und Wien. Organisiert wurden diese Vertreibungen von Adolf Eichmann, der nach dieser Aktion ins Reichssicherheitshauptamt (RSHA) in Berlin wechselte und zu einem der zentralen Figuren der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik aufstieg. Im Februar 1940 folgte die Deportation fast aller Juden Stettins ins Generalgouvernement. Diese vereinzelten Aktionen wurden allerdings im Frühjahr 1940 gestoppt, u.a. wegen des Protests aus dem Generalgouvernement unter Leitung von Hans Frank. Gleichwohl war damit für die verschiedenen lokalen und regionalen Regierungsstellen im Reich deutlich geworden, dass es möglich sein könnte, das jeweils eigene Gebiet »judenfrei« zu bekommen. Das bisherige Ziel der forcierten Auswanderung der Juden wurde von nun an schrittweise durch eine »territoriale Lösung« der »Judenfrage« ersetzt, mithin durch die Deportation der Juden in ein noch unklares Gebiet. Die Diskussion über mögliche Varianten entbrannte nach dem erfolgreichen Westfeldzug und dem Sieg über Frankreich im Frühsommer 1940 wieder. Kurzzeitig wurde die französische Kolonie Madagaskar als mögliches Deportationsziel für die verbliebenen deutschen (und möglicherweise auch alle westeuropäi-
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schen) Juden anvisiert, was jedoch nur bei einem – allerdings ausbleibenden – Sieg über Großbritannien praktikabel gewesen wäre. Der Plan, die »Judenfrage« durch Deportation und Umsiedlung zu lösen, verfestigte sich immer mehr in den Köpfen. Seit der Überfall auf die Sowjetunion Ende 1940 offiziell beschlossen war, wobei er aber erst am 22. Juni 1941 beginnen konnte, konzentrierten sich die Debatten auf eine dortige »Endlösung der Judenfrage«, wie der offizielle Sprachgebrauch jetzt lautete. Genauere räumliche Festlegungen unterblieben jedoch; ein »Judenreservat« im Generalgouvernement wurde zwar erwogen, stieß jedoch bei Frank auf erbitterten Widerstand. Zugleich wurde immer häufiger klargestellt, dass alle Juden Europas in die entsprechenden Überlegungen einbezogen werden müssten. Die im Gefolge der Wehrmacht tätigen SS-Einsatzgruppen und Polizeieinheiten begannen bereits in den ersten Wochen des Russland-Feldzuges – ermuntert durch entsprechend vage Befehle aus Berlin – die männliche jüdische Bevölkerung in den eroberten Gebieten unterschiedslos zu erschießen. Im August eskalierten die Gewaltaktionen ein weiteres Mal: Nun wurden auch jüdische Frauen und Kinder ermordet. Eigenverantwortliches Handeln vor Ort und Druck von obersten Regierungsstellen – allen voran des Reichsführers-SS Heinrich Himmler und des Chefs des Reichssicherheitshauptamtes Reinhard Heydrich – entwickelten zusammen eine »kumulative Radikalisierung« (Hans Mommsen), die stets zum Ziel hatte, »dem Willen des Führers zuzuarbeiten« (Ian Kershaw). Hitler hatte an dem generellen Ziel – der »Endlösung der Judenfrage« – nie einen Zweifel gelassen und war in der Regel gewillt, den radikalsten Vorschlägen zur Erreichung dieses Ziels (allerdings zumeist nachträglich) zuzustimmen. Aus dieser Dynamik entstand der Massenmord an den europäischen Juden, der nachträglich mit dem Begriff Holocaust belegt wurde. Zunächst waren von diesen Massenerschießungen jüdische Bevölkerungsgruppen im osteuropäischen Kriegsgebiet betroffen. Allerdings bahnte sich hiermit eine Lösung an, nach der die nationalsozialistischen Planungsstäbe spätestens seit Kriegsbe-
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ginn gesucht hatten. Der Druck vieler Gauleiter, die von ihnen kontrollierten Gebiete »judenfrei« zu bekommen, führte schließlich ab September 1941 zu dem Entschluss, die Juden aus dem Reich in Richtung Osten zu deportieren. Im Oktober 1941 wurde den deutschen Juden die Auswanderung verboten: Die Grenze zum systematischen Mord an Männern, Frauen und Kindern, die erstmals nach dem Überfall auf die Sowjetunion überschritten worden war, fiel nun auch im Deutschen Reich und in den deutsch besetzten Ländern. Aus einer Massendeportation mit unbekanntem Ziel im Osten wurde jetzt die massenhafte Vernichtung jüdischen Lebens im Osten. Im Oktober 1941 begannen die ersten Deportationen aus dem Reich in die neu errichteten osteuropäischen Ghettos, zunächst nach Lodz, später auch nach Kowno, Riga, Minsk usw. Die Ghettos waren allerdings bereits mit osteuropäischen Juden überfüllt gewesen; teilweise wurden sie vor der Ankunft der deutschen Juden zu Zehntausenden erschossen. Einige der Neuankömmlinge wurden ebenfalls sofort ermordet. Aus den Ghettos ging es für viele ab Anfang 1942 weiter in die neu errichteten Vernichtungslager und damit in den Tod: von Lodz aus z.B. nach Chelmno, von Minsk z.T. nach Auschwitz. Ab Juni 1942 begannen dann Deportationen aus dem Reich direkt in die Vernichtungslager, vor allem nach Sobibor und Belzec. 100.000 Juden wurde sofort nach der Deportation entweder von den SS-Einsatzgruppen oder in den Vernichtungslagern umgebracht. Etwa 135.000 deutsche Juden kamen erst nach Theresienstadt, zumeist um dann von dort aus in Vernichtungslager geschickt zu werden. Ende 1942 waren nur noch 51.000 Juden im »Altreich« verblieben, Ende März 1943 lediglich noch 32.000. Da die Organisation der Auswanderung wegfiel, erhielt die Reichsvereinigung von der Gestapo und dem Reichssicherheitshauptamt ab Oktober 1941 die Aufgabe zugewiesen, die Deportationen mit zu organisieren. Die Repräsentanten der deutschen Juden, die in aller Regel freiwillig und aus Pflichtbewusstsein in Deutschland verblieben waren, willigten ein: in der Hoffnung, Einfluss auf den Prozess nehmen, besondere Härten bei der Um-
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siedlung mildern und als Gegenleistung mehr Spielraum für die Versorgung der zurückbleibenden Juden erhalten zu können. Im Herbst 1941 konnten sie auch nicht wissen, welches Schicksal die Deportierten im Osten erwarten würde. Nach dem Krieg versicherten die wenigen überlebenden Repräsentanten, das gesamte Ausmaß des – in der Tat schwer vorstellbaren – Völkermordes nicht geahnt oder überblickt zu haben, trotz der vorhandenen Detailkenntnisse und der kursierenden Gerüchte. Selbst wenn ihnen dies im Laufe des Jahres 1942 möglich gewesen wäre, sie hätten den Deportationsprozess zu diesem Zeitpunkt kaum mehr aufhalten oder auch nur stören können. Trotzdem wurde den überlebenden Mitarbeitern der Reichsvereinigung nach dem Krieg vorgeworfen, mit dem NS-Regime kollaboriert zu haben. Einige von ihnen – und nicht etwa die NS-Täter in den Reihen der Gestapo oder des RSHA – mussten sich in den ersten Nachkriegsjahren vor Gericht verantworten. In der Tat wirkte sich die Kooperation der Reichsvereinigung erleichternd auf den Deportationsprozess aus. Der Ablauf gestaltete sich dadurch reibungslos, und die Gestapo konnte so der Juden einfacher habhaft werden. Der Erhalt der Reichsvereinigung und ihres Apparats sowie die von ihnen betriebenen Institutionen und Heime banden viele Juden, die so nicht in den Untergrund gingen oder flüchteten. Die Hoffnungen der deutschen Juden und ihrer Repräsentanten, auf den Deportationsprozess Einfluss nehmen zu können, zerschlugen sich alle; die Gestapo und das RSHA machten selten Zugeständnisse, und wenn, dann nur auf Zeit. An dem generellen Ziel, das Altreich »judenfrei« zu bekommen, konnten die Juden zu keinem Zeitpunkt etwas ändern. Eine Politikgeschichte, die nach den politischen Handlungsoptionen und -strategien der deutschen Juden fragt, erreicht mit der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland ihren Nullpunkt: Den handelnden Personen waren keine Optionen, keine alternativen Strategien mehr gegeben, was politisches Handeln zwingend voraussetzt. Die ruchlosen Nazi-Schergen sowie ihre zahllosen Mittäter unter den Deutschen und Europäern hatten die deutschen Juden in eine Lage der Wahllosigkeit manövriert, in der
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sie nur noch Objekt einer mörderischen Politik waren, aber keine politischen Subjekte mehr. Im Juni 1943 wurde auch die Reichsvereinigung als letzte Einrichtung der deutschen Juden von den Sicherheitsbehörden offiziell geschlossen, das verbliebene Kapital eingezogen und das Führungspersonal deportiert – von den letzten dreizehn Führungspersönlichkeiten überlebten nur Rabbiner Baeck und Moritz Henschel (1879-1947) in Theresienstadt. Anstelle der Organisation setzten die Nationalsozialisten einzelnen Vertrauensmänner – in der Regel Juden, die in »Mischehen« lebten und so bis Anfang 1945 noch geschützt waren – ein, die die restlichen Juden versorgen sollten. Bis auf wenige Ausnahmen – Juden, die im Untergrund zu überleben versuchten, Juden in »Mischehen«, einige jüdische Kranke und »Mischlinge« im Jüdischen Krankenhaus in Berlin-Wedding – gab es auf dem Gebiet des Deutschen Reiches keine deutschen Juden mehr.
Nach 1945 Als am 8. Mai 1945 der Zweite Weltkrieg in Europa endete, wurden auf dem deutschen Territorium ca. 15.000 deutsche Juden befreit, von denen einige im Untergrund versteckt überlebt hatten und nur wenige in Konzentrationslagern auf dem Reichsgebiet. Ein Großteil war durch eine Ehe mit einem/r nichtjüdischen Partner/in geschützt gewesen und war so – oft nur um Haaresbreite – von der Deportation verschont geblieben. Zudem kamen noch ca. 9.000 deutsche Juden zurück, die in Konzentrationslagern außerhalb des Reiches überlebt hatten. In den ersten Wochen nach Kriegsende wuchs die Zahl von jüdischen Displaced Persons (DPs) schnell an. Sie stammten zumeist aus verschiedenen osteuropäischen Ländern und waren von SS-Wachmannschaften in Richtung Westen verschleppt worden, oft in sogenannten Todesmärschen. Im September 1945 registrierte die United Nations Relief and Rehabilitation Agency (UNRRA) über 53.000 jüdische DPs in den deutschen Besatzungszonen. In den folgenden Monaten wurde zunehmend klar, dass die osteuropäischen Juden nicht in ihre Heimatländer zurückkehren würden. Spätestens das Pogrom in der polnischen Kleinstadt Kielce, bei dem am 4. Juli 1946 über vierzig jüdische Rückkehrer von Polen ermordet wurden, dokumentierte für alle sichtbar, dass die Juden dort nicht mehr willkommen waren. Die Aussicht, möglicherweise nach Palästina ausreisen zu können, ließ die Flucht in den Westen zudem attraktiv erscheinen. Somit stieg die Zahl der jüdischen DPs in den westlichen Zonen, insbesondere in der amerikanischen markant an: Hatten dort Anfang 1946 knapp 40.000 Juden Zuflucht gefunden, so waren es Ende des gleichen Jahres bereits über 145.000. Im November 1946 waren noch 127.000 Juden bei der UNRRA registriert, von denen 71 Prozent aus Polen, 6 aus Ungarn, 4 aus der Tschechoslowakei, 2,5 aus Rumänien, 2,5 aus Deutschland, 2 aus Österreich stammten und sich 10 Prozent als staatenlos eintrugen. Insgesamt hielten sich ca. 250.000 jüdische DPs – die Zahlenangaben schwanken hier durchaus – zu-
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mindest für eine Zeit auf deutschem Territorium auf. Auf makabre Weise wurde nach dem Ende des nationalsozialistischen Terrorregimes ausgerechnet das Land der Täter zum Ort eines jüdischen Neubeginns. Die Neuanfänge jüdischen Lebens im besetzten Deutschland Ebenso wie viele nichtjüdische DPs, die sich als ehemalige Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter, aber auch als vormalige Kollaborateure der Deutschen vor allem in den Westzonen versammelten und auf eine Auswanderung in westliche Länder hofften, wollten jüdische DPs keineswegs auf deutschem Boden bleiben. In der Tat sollte schließlich die große Mehrheit der jüdischen DPs weiterwandern, vor allem in den 1948 neu gegründeten Staat Israel oder in die USA. Die restlichen osteuropäischen Juden verblieben in den westlichen Besatzungszonen und sorgten – zusammen mit wenigen deutschen Juden – dafür, dass dort neue jüdische Gemeinden entstanden. Im Mai 1949 registrierten die mehr als hundert jüdischen Gemeinden, die in allen Besatzungszonen entstanden, über 21.600 Mitglieder. Zugleich lag die Zahl der in Deutschland lebenden Juden etwas höher, da sich nicht alle den jüdischen Gemeinden anschlossen, was vor allem in der DDR vorkam. In der Bundesrepublik, in der sich die überwältigende Mehrheit der Juden niederließ, lebte damit nur ein Bruchteil der jüdischen Vorkriegsbevölkerung von mehr als 500.000 Juden. Die Alliierten waren auf die speziellen Probleme der jüdischen Überlebenden unzureichend vorbereitet, die nach der entbehrungsreichen Zeit vielfältige medizinische, versorgungstechnische, aber auch kulturelle und religiöse Bedürfnisse hatten. Zwar war mit der UNRRA eine Institution geschaffen worden, welche die einzurichtenden Lager für die DPs beaufsichtigen und deren Insassen bis zu ihrer Weiterreise versorgen sollte, jedoch hatte sie lange Zeit mit widrigen Umständen wie mangelndem Personal und ungenügender Ausstattung zu kämpfen. Die besonderen Anliegen und Probleme der jüdischen Überlebenden wurden zudem
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von den Alliierten kaum berücksichtigt, sodass Juden z.B. zumeist in gemeinsamen Lagern mit nichtjüdischen DPs – unter ihnen Nazi-Kollaborateure, die teilweise am Holocaust beteiligt gewesen waren – untergebracht wurden. Dies änderte sich in der US-Zone erst mit dem sogenannten Harrison Report vom August 1945, der u.a. die separate Unterbringung der jüdischen DPs befürwortete. Zeitgleich war die Lage in der britischen Besatzungszone oft noch schlimmer. Das Misstrauen der Briten gegenüber den jüdischen DPs war u.a. wegen des Palästina-Problems, wo die britische Mandatsverwaltung eine erneute Einwanderungswelle von europäischen Juden verhindern wollte, noch erheblich größer. Besondere Regelungen für Juden wurden hier zumeist abgelehnt. Vor diesem Hintergrund entwickelten die Juden in den verschiedenen Lagern – neben den vielfältigen kulturellen Aktivitäten – politische Interessen. In den ersten Wochen und Monaten nach der Befreiung engagierten sie sich gegen die sofortige Repatriierung in ihre ehemaligen Heimatländer, für die Anerkennung als eigene Opfergruppe durch die Besatzungsmächte und für die Einrichtung spezieller Lager für jüdische DPs. Wenig später kam der Wunsch hinzu, in verschiedenen Lebensbereichen Selbstverwaltungsrechte von den Besatzungsmächten zu erhalten und – soweit das unter den gegebenen Lagerumständen überhaupt möglich war – die Rückkehr in ein normales Leben zu ermöglichen. Es wurde schnell klar, dass zur Durchsetzung dieser Forderungen eine organisatorische Struktur vonnöten war, die zunächst auf der Ebene einzelner Lager entstand, aber schnell auf alle Juden in den einzelnen Besatzungszonen ausgeweitet wurde. Während in der britischen Zone ein erstes provisorisches Komitee für die befreiten Juden bereits direkt nach der Befreiung im April 1945 entstanden war und die französische Zone mit der Gründung eines Zentralkomitees erst im Dezember 1945 folgte, organisierten sich die in der amerikanischen Zone lebenden jüdischen DPs seit Juli 1945 im Zentralkomitee für die befreiten Juden Bayerns. Im gleichen Monat fand bereits eine Generalkonferenz der überlebenden Juden aller Besatzungszonen in St. Ottilien bei Landsberg statt. Der Plan, eine zonenübergreifende organisatori-
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sche Gesamtvertretung zu etablieren, konnte jedoch wegen der Meinungsverschiedenheiten zwischen den DP-Vertretern aus der amerikanischen und der britischen Zone bis zur Auflösung der Zentralkomitees 1950 bzw. 1951 nicht umgesetzt werden. Nachdem die US-Armee im September 1946 das Zentralkomitee ihrer Zone als Repräsentant der jüdischen DPs anerkannt hatte, entwickelte es sich faktisch zu einer Art jüdischer Selbstverwaltung. Vergleichbares blieb den jüdischen DPs in der britischen und der französischen Zone verwehrt. Schnell bildete sich im Umfeld dieser Organisationen eine neue politische Arena, die auch von unterschiedlichen Bedingungen und Interessenlagen geprägt war: etwa durch die unterschiedlichen Strukturen in den verschiedenen Besatzungszonen, durch die kulturellen und religiösen Unterschiede zwischen »West-« und »Ostjuden«, durch die divergierenden Interessen der DPs und der außerhalb der Lager lebenden deutsch-jüdischen Gemeindemitglieder. Ein wichtiger Unterschied betraf die politische Organisation: Während man in der US-Zone darauf achtete, dass die Lagerkomitees und auch das Zentralkomitee durch Wahlen demokratisch legitimiert waren, lehnte dies das Komitee in der britischen Zone – auch in dem wichtigsten DP-Lager Belsen – bis 1947 ab. In allen Zonen organisierte sich allmählich das politische Spektrum neu. In den DP-Lagern spielten dabei vor allem die politischen Strukturen aus dem Polen der Zwischenkriegszeit eine prägende Rolle, was eine Kooperation mit den deutschen Juden außerhalb der Lager nicht eben erleichterte. Zu den Parteien der Revisionisten im rechten und den sozialistischen Parteien im linken Lager sowie den religiösen Gruppierungen trat ein starker zionistischer Block, der – gegenüber der Zwischenkriegszeit – durch die Staatsgründung Israels 1948 noch an Bedeutung hinzugewann. Überhaupt war der Zionismus unter den DPs schon vor 1948 zur überragenden politischen Ideologie geworden, die die verschiedenen politischen Lager durchdrang, ohne sie allerdings zu vereinheitlichen. Dies erklärte auch die besondere Begeisterung, die der Besuch des späteren israelischen Premiermi-
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nisters David Ben-Gurion (1886-1973) in den DP-Lagern im Oktober 1945 auslöste. Diese Phase beeinflusste die politischen Neuorientierungen derjenigen Juden aus Osteuropa, die – ungeachtet aller anders gelagerten Pläne – in Deutschland verblieben, und damit auch die jüdische Politik der Nachkriegszeit. Parallel zu den Entwicklungen in den DP-Lagern begannen die deutschen Juden damit, das Gemeindeleben in den Städten und größeren Kommunen wieder aufzubauen. Dabei waren sie oft auf die Zusammenarbeit mit den wieder entstehenden Kommunalverwaltungen sowie deren Beamten angewiesen und weniger auf die alliierten Armeen, die UNRRA oder die jüdischen Hilfsorganisationen. Bereits direkt nach der Eroberung durch die US-Armee im April 1945 begann das Gemeindeleben in Frankfurt am Main und in Köln von neuem. Im Juli 1945 hatte die Münchner jüdische Gemeinde wieder einen Vorstand, im Oktober trat Rabbiner Aaron Ohrenstein (1909-1986) sein Amt in der Gemeinde an. Schon im März 1946 zählte die Israelitische Kultusgemeinde München 2.800 Mitglieder, von denen 800 bereits vor dem Krieg dort gelebt hatten. Generell erwies sich der Neuaufbau von jüdischen Gemeinden auf deutschem Boden als sehr schwierig, da dieses Anliegen weder bei den Besatzungsmächten noch bei den jüdischen Hilfsorganisationen Priorität besaß, die sich vor allem um die DPs kümmerten. In der britischen Zone begannen Juden – oft zusammen mit jüdischen DPs – ab 1946 auch die Landesverbände der jüdischen Gemeinden wiederzugründen, die als regionale Einrichtungen die Interessen der jüdischen Gemeinden bündeln sollten. Bereits 1945 entstand mit der Allgemeinen Wochenzeitung der Juden in Deutschland in Düsseldorf ein erstes publizistisches Sprachrohr, das von Karl Marx (1897-1966) herausgegeben wurde und das sich zu dem Presseorgan der Juden in der Bundesrepublik sowie zur warnenden Stimme gegen rechtextreme und antisemitische Tendenzen entwickelte. Diese politischen Neuanfänge waren – gerade in der amerikanischen Besatzungszone – vom Misstrauen gegenüber den osteuropäisch-jüdischen DPs geprägt, die sich kulturell, sprachlich und
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religiös markant von den deutschen Juden unterschieden und deren Anspruch man ablehnte, für alle Juden in den Besatzungszonen zu sprechen. Jedoch wurde in den Monaten und Jahren nach Kriegsende immer deutlicher, wie sehr die beiden Gruppen auf eine gedeihliche Zusammenarbeit angewiesen waren, um die schwierige Lage zu meistern. In einigen süddeutschen Gemeinden galten trotzdem noch bis in die frühe Bundesrepublik Regelungen für die Vorstandsmitgliedschaft, die osteuropäische Juden de facto marginalisierten. Ein dabei deutlich werdender, fundamentaler Meinungsunterschied unter den befreiten Juden betraf die Frage, ob die Juden eine Zukunft in Deutschland haben könnten oder sollten. Während die Zionisten und auch viele osteuropäisch-jüdische DPs dieser Vorstellung zumeist klar ablehnend gegenüberstanden, wurde sie zumindest von einem Teil der deutschen Juden in Erwägung gezogen. Oft konzentrierten sie ihre Bemühungen darauf, in der Rechtsnachfolge der jüdischen Gemeinden Restitutionsansprüche geltend zu machen, während dies die auswanderungswilligen Juden weniger interessierte. Auch hier unterschieden sich die Besatzungszonen: In der britischen Zone funktionierte unter der Führung von Norbert Wollheim (19131998) und Josef Rosensaft (1911-1975) die Zusammenarbeit von DPs und deutschen Juden bzw. ihren neu entstehenden Gemeinden, was auch daran lag, dass der Großteil der osteuropäischen DPs in die US-Zone geflüchtet war. In der amerikanischen Besatzungszone existierte daher nur wenig Kooperationsbereitschaft gegenüber den jüdischen Gemeinden außerhalb der Lager, die zudem viel weniger Personen umfassten. Eigentlich ging man auch vonseiten der Besatzungsmächte davon aus, dass alle Juden Deutschland verlassen würden. Deshalb drängte man auf die Auflösung der noch vorhandenen DP-Lager, was bis Anfang der 1950er-Jahre tatsächlich erfolgte. Viele Repräsentanten jüdischer und zionistischer Institutionen, die sich wie das American Joint Distribution Committee oder die Jewish Relief Unit um die verbliebenen Juden kümmerten, waren durchweg der gleichen Ansicht. Der Jüdische Weltkongress erklärte
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im Sommer 1948, dass Juden sich nie wieder in Deutschland ansiedeln sollten, und die Jewish Agency verkündete noch im Sommer 1950, dass alle, die sich weigerten, Deutschland zu verlassen, nicht länger als Juden anerkannt würden. Dennoch entstand vornehmlich in den Westzonen und in Berlin ein neues jüdisches Leben, das sich allerdings von der Vorkriegssituation nicht nur zahlenmäßig unterschied. Die größten Gemeinden hatten sich in Berlin, München, Frankfurt und Stuttgart herausgebildet. Das Verhältnis zwischen Juden deutscher und osteuropäischer Herkunft schwankte von Ort zu Ort sehr stark, vor allem nachdem viele DP-Lager aufgelöst worden waren und DPs, die doch bleiben wollten oder mussten, in die angrenzenden Städte zogen. In Berlin etwa waren die deutschen Juden deutlich in der Mehrheit, während in München fast nur osteuropäische Juden lebten. Das konnte gerade in der Frühphase die innergemeindliche Politik schwierig gestalten, sodass etwa in Köln Ende der 1940er-Jahre die osteuropäisch-jüdische Mehrheit gegen die nach einem überkommenen Wahlmodus gewählten Gemeindeoberen der deutschen Juden protestierte. In einigen Städten und Regionen waren jüdische Führungspersönlichkeiten von den deutschen Behörden beauftragt worden, Hilfe und Beratung (etwa in Restitutionsfragen) für die jüdischen Opfer nationalsozialistischer Verfolgung zu koordinieren, so etwa Philipp Auerbach (1906-1952) in Bayern, Curt Epstein (1898-1976) in Hessen oder Siegmund Weltlinger (1886-1974) in Berlin. Die Juden in der sowjetischen Besatzungszone und der Deutschen Demokratischen Republik Eine Minderheit von Juden befand sich bei Kriegsende auf dem Territorium, welches die Rote Armee eroberte: einige von ihnen in den Konzentrationslagern, wiederum andere wie Viktor Klemperer in Ehen mit einem/r nichtjüdischen Partner/in. Eine Volkszählung im Oktober 1946 ergab, dass in der gesamten Sowjetischbesetzten Zone (SBZ) ca. 4.500 Juden und Jüdinnen lebten, davon
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mehr als die Hälfte in Ost-Berlin. Darunter waren auch einige Remigranten jüdischer Herkunft, von denen die Schriftsteller Arnold Zweig (1887-1968), Anna Seghers (1900-1983), Stefan Heym (1913-2001) oder der Philosoph Ernst Bloch (1885-1977) große Bekanntheit besaßen oder bald erlangen würden. Unter den insgesamt ca. 3.000 Remigranten war eine große Anzahl von Atheisten, die nach Ostdeutschland zurückgingen, um dort das kommunistische Regime zu unterstützen. Die Personen jüdischer Herkunft unter ihnen dürften daher kaum das Ziel verfolgt haben, als Juden in einer funktionierenden Gemeinde zu leben. Wie in den westlichen Besatzungszonen wurden bereits kurz nach dem Ende der Kampfhandlungen in vielen ostdeutschen Kommunen jüdische Gemeinden neu gegründet. Allerdings trafen derartige Bemühungen oft auf den lokalen Widerstand kommunistischer Kader, die als überzeugte Atheisten an der Organisation religiöser Gruppen kein Interesse hatten. Die offizielle Politik des Antifaschismus, den die ostdeutschen Kommunisten und die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) vertraten, vertrug sich nicht mit einem speziellen Opferstatus für die jüdischen Holocaust-Überlebenden, die – in der SED-Logik – lediglich Opfer, keine aktiven Kämpfer gegen den Faschismus gewesen waren. Zugleich lehnten die ostdeutschen Kommunisten für ihren Staat jegliche juristische, politische oder moralische Verantwortung für die Gräueltaten des NS-Regimes ab, deren Opfer sie selber oft gewesen waren. Das schloss nicht aus, dass es vor allem in der breiten Bevölkerung, aber auch bis hinein in die Führungskader der SED antisemitische Tendenzen gab; ihnen konnte in dieser politischen Logik allerdings keinerlei Bedeutung zukommen. Zugleich erwies sich die SED-Position eines generalisierten Antifaschismus als problematisch, wenn es um eine gesonderte Entschädigung der jüdischen Opfer ging, die auch für die ostdeutschen Juden von herausragender Bedeutung war. Insgesamt war damit jeder Form einer jüdischen Interessenvertretung in der ostdeutschen Nachkriegsgesellschaft enge Grenzen gesetzt, zumal den ostdeutschen Juden ihre in den ersten Jahren noch bestehenden Beziehungen zu amerikanisch-jüdischen Hilfsorgani-
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sationen und nach Palästina/Israel im neuen ostdeutschen Staat als Illoyalität oder Verrat ausgelegt wurden. Gleichwohl gelang es im Sommer 1945, die größte jüdische Gemeinde Deutschlands in Gesamt-Berlin unter der Führung von Hans-Erich Fabian (1902-1974) und später Heinz Galinski (19121992) neu zu gründen. Auch in Leipzig, Magdeburg, Dresden, Erfurt, Halle, Bernburg, Eisenach und Chemnitz organisierten sich die Juden in neuen Gemeinden. Ende 1946 wurde dann der Landesverband jüdischer Gemeinden in der sowjetischen Okkupationszone (später: Landesverband der jüdischen Gemeinden in der Deutschen Demokratischen Republik) unter der Führung des AuschwitzÜberlebenden Julius Meyer (1909-1979) gegründet, der bereits 1930 Mitglied der KPD gewesen war, nun der SED beitrat und 1949-50 auch als Abgeordneter in der DDR-Volkskammer saß. Nach der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik verbesserte sich die allgemeine politische Lage der ostdeutschen Juden nicht wesentlich. Im Gegenteil: Anfang der 1950er-Jahre zog eine antisemitische Säuberungswelle durch die Staaten des kommunistischen Ostblocks, insbesondere nach dem Fall von Rudolf Slánský (1901-1952), dem in der Tschechoslowakei aufgrund seiner jüdischen Herkunft Sympathien für die als imperialistisch gebrandmarkte USA und den Zionismus vorgeworfen und der 1952 – zusammen mit einigen jüdischen Mitangeklagten – in einem Schauprozess zum Tode verurteilt wurde. In der Folge der tschechoslowakischen Entwicklungen bereitete auch die SED Säuberungsaktionen mit antisemitischen Untertönen vor, die sich schnell auf den Nichtjuden Paul Merker (1894-1969) konzentrierten, der unter den kommunistischen Führungskadern der wichtigste Befürworter von Reparationsleistungen an Juden gewesen war und Ende 1952 verhaftet wurde. Auch ihm wurde zur Last gelegt, ein zionistisch-imperialistischer Verschwörer zu sein. Durch diese Entwicklungen geriet die jüdische Gemeinschaft in der DDR generell unter den Verdacht, gegen das kommunistische Regime zu arbeiten. Ihre legitimen Reparationsansprüche wurden in einen antikommunistischen Feldzug der imperialistischen Feinde umgedeutet. Während Merker zu einer mehrjährigen Ge-
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fängnisstrafe verurteilt wurde, nahm die antisemitische Hetzjagd nun den Präsidenten des Landesverbandes der jüdischen Gemeinden ins Visier: Julius Meyer floh 1953 in den Westen. In der Folge gerieten weitere Kommunisten jüdischer Abstammung – wie z.B. der Leiter der Kanzlei des Präsidenten Wilhelm Piecks, Leo Zuckermann (1908-1985) – in Gefahr, wurden sogar verhaftet und verhört. Im Laufe des Jahres 1953 flohen viele Juden oder Personen jüdischer Herkunft nach Westberlin, darunter die Führungsriege ganzer Gemeinden. Im Januar 1953 zog das Büro der Berliner jüdischen Gemeinde in den Westteil der Stadt um; wenige Tage später wurde allerdings eine neue Gemeinde für »Großberlin« im Ostteil gegründet. 1955 waren lediglich 1.700 Juden in den Gemeinden auf dem gesamten Territorium der DDR gemeldet; der Rest – und darunter vor allem die jüngeren Gemeindemitglieder – war in den Westen gegangen. Nicht zuletzt die daraus resultierende Altersstruktur führte dazu, dass in der DDR 1976 nur noch 728 und 1989 nur noch 377 Gemeindemitglieder verblieben waren. Bei diesen Zahlen muss allerdings die religiöse Definition des Judentums, die die ostdeutschen Behörden bei ihren Statistiken verwandten und die die vielen atheistischen Kommunisten jüdischer Herkunft nicht mitzählte, berücksichtigt werden. Man kann davon ausgehen, dass die Zahl der Personen jüdischer Herkunft in der DDR selbst an ihrem Ende ca. zehnmal so groß war. Die neuen Gemeindeleitungen waren nach den Säuberungswellen bemüht, sich von dem geflohenen Führungspersonal und besonders von Meyer zu distanzieren, sich ausschließlich auf die innergemeindlichen Fragen zu konzentrieren und politische Kontroversen (wie insbesondere die Reparationsfrage oder die Beziehung zu Israel) weitgehend zu vermeiden. Zwar blieben Kontakte zum westdeutschen Zentralrat bis 1963 bestehen, aber die Berliner jüdische Gemeinde wurde de facto in eine westliche und eine östliche Einrichtung unterteilt. Generell setzte das Regime die jüdischen Gemeinden einer stärkeren Kontrolle aus und die Gemeinden arrangierten sich in den folgenden Jahren mit dem kommunistischen Regime. Ihr Füh-
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rungspersonal bestand oft aus Mitgliedern der SED und einige von ihnen arbeiteten eng mit dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS, auch »Stasi« genannt) zusammen. Wenn sie politisch aktiv wurden, dann meistens durch Erklärungen, die den Antisemitismus in der westdeutschen Gesellschaft kritisierten und die antifaschistische DDR als immun gegen derartige Phänomene verteidigten. Dabei ignorierten sie, dass es auch in der DDR zu antisemitischen Gewaltausbrüchen kam: So wurden etwa in den 1970er- und 1980er-Jahren immer wieder jüdische Friedhöfe geschändet. 1976 wurden zwei Sprengstoffanschläge auf die jüdische Gemeinde in Halle verübt. Zugleich fand sich in der Presse und in der Politik der DDR relativ regelmäßig antizionistische Propaganda, die sich immer wieder antisemitischer Untertöne bediente. Erst seit Mitte der 1970er-Jahre entspannte sich das Verhältnis der DDR zu ihrer jüdischen Bevölkerung. 1976 konnte die OstBerliner Gemeinde ihren Vorstand selbst wählen und unter der Leitung von Peter Kirchner (geb. 1935) kam es zu neuen kulturellen Aktivitäten. Zur selben Zeit entwickelte sich in den christlichen Kirchen der DDR ein Interesse an einem christlich-jüdischen Dialog. Im letzten Jahrzehnt der DDR änderte sich zudem allmählich die politische Funktion der ostdeutschen Juden. Der DDRStaatsratsvorsitzende und Generalsekretär des ZK der SED, Erich Honecker, bemühte sich um eine erweiterte diplomatische Anerkennung der DDR im Westen. Seit 1980 wurde ein Kultur- und Wissenschaftsaustausch mit Israel möglich. 1988 wurde der Präsident des Jüdischen Weltkongresses, Edgar Bronfman (geb. 1929), zu einem Besuch in die DDR eingeladen, mit dem Hintergedanken, die Handelsbeziehungen mit den USA zu verbessern, wofür die DDR-Staatsführung die Unterstützung der US-amerikanischen Juden als unabdingbar ansah. Da die SED-Oberen der Ansicht waren, dass die in der DDR verbliebenen Juden über beste internationale Kontakte verfügten, stieg ihre Bedeutung in den letzten Jahren der DDR an. In diesem Zusammenhang stand 1988 auch der Beginn der Renovierung der Eingangsfassade der Neuen Synagoge in Ost-Berlin, die 1994 im vereinigten Deutschland abgeschlossen wurde.
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Juden in der frühen Bundesrepublik Deutschland Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, das am 23. Mai 1949 in Kraft trat, stellte alle Bürger gleich. Nach Artikel 3, Absatz 3 darf niemand »wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden«. Juden besaßen damit im neuen Staat alle Rechte, soweit sie die Staatsbürgerschaft inne hatten. Dies war aber gerade zu Beginn nicht immer der Fall, da die DPs nicht aus Deutschland stammten. In der Rechtssprechung der Bundesrepublik galten bei der Verfolgung von antisemitischer Agitation weiterhin die Paragraphen 130, 166 und 185 des Strafgesetzbuches, allerdings wurde der Gotteslästerungs-Paragraph 166 kaum noch angewendet. Für die Frühzeit der Bundesrepublik kann jedoch noch keineswegs von einem Willen der judikativen Gewalt ausgegangen werden, per Gerichtsurteil konsequent gegen antisemitische Agitation einzuschreiten, wie einige Justizskandale aus den Anfangsjahren beweisen. Erst allmählich konzentrierte sich das juristische Vorgehen auf den Paragraphen 130 StGB, der ab 1960 insbesondere mit Blick auf die Erfahrung der nationalsozialistischen Judenverfolgung mehrfach geändert und erweitert wurde. In dieser Strafrechtsreform schlug sich schließlich die Auffassung nieder, dass antisemitische Agitation nicht nur einen Angriff auf Juden darstellt, sondern zugleich die freiheitliche Grundordnung insgesamt unterminiert. Auf dem Weg in die Bundesrepublik hatte sich die politische Großwetterlage für die Juden zunächst freilich gewandelt. Während der Besatzungszeit hatten sie im Großen und Ganzen die Unterstützung der westlichen Besatzungsmächte, vor allem der US-amerikanischen erhalten. Viele jüdische Organisationen sowie die UNRRA hatten den Juden im Alltag und bei der Ausreise geholfen. Auch aus dem antifaschistischen Umfeld, ab 1947 u.a. von der neugegründeten Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN), kam Beistand. Mit der Gründung des Staates Israel 1948
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und der Bundesrepublik Deutschland wie der Deutschen Demokratischen Republik 1949 änderte sich die Situation. Die meisten Juden hatten die Besatzungszonen in Richtung Palästina/Israel oder USA verlassen; neben vielen deutschen Juden entschieden sich allerdings einige osteuropäisch-jüdische DPs zu bleiben. Machtpolitisch wurde die Bundesrepublik für die Westalliierten von einem Feind zu einem Verbündeten im Kalten Krieg, womit manche Nachsicht der Alliierten gegenüber den Nazi-Verbrechen und den Tätern möglich wurde. Nicht zuletzt dies begünstigte die »Vergangenheitspolitik« (Norbert Frei) der frühen Bundesrepublik, durch die eine Reihe von nationalsozialistischen Schwerverbrechern in dem jungen Staat eine zweite Chance erhielten, was unter den Juden Misstrauen und Enttäuschung hervorrief. Zugleich verloren die in Westdeutschland verbliebenen Juden ihre herausgehobene moralische Funktion, die ihnen von den Westalliierten, besonders von den Amerikanern, in den ersten Nachkriegsjahren eingeräumt worden war. Nun griffen die entstehenden westdeutschen Regierungsstellen zunehmend in das jüdische Leben ein. Vor diesem Hintergrund mussten sich die verschiedenen jüdischen Gruppen aufeinander zubewegen. Gerade die Restitutionsfragen in Bezug auf das ehemalige jüdische Eigentum boten hier einen wichtigen Anlass für eine gemeinsame Strategie. Im Juni 1947 wurde zu diesem Zweck die Arbeitsgemeinschaft jüdischer Gemeinden in Deutschland gegründet. Amerikanischer Druck, aber auch der bundesdeutsche Wunsch nach einer jüdischen Interessenvertretung führten schließlich am 19. Juli 1950 zur Gründung des Zentralrats der Juden in Deutschland. Spätestens mit der Schaffung der wichtigsten politischen Institutionen der Juden war zugleich das Signal verbunden, dass sie ein Leben in der Bundesrepublik anstrebten. Der Zentralrat propagierte eine strikte Politik der Einheitsgemeinde, mit der die unterschiedlichen Gruppen und ihre verschiedenen religiösen, kulturellen, sprachlichen und politischen Interessen zusammengeführt werden sollten. Gerade weil die Zahl der Juden in der frühen Bundesrepublik so klein war, mussten die erheblichen Zentrifugalkräfte entschärft werden. Beacht-
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liches Konfliktpotential barg für viele Jahre die unterschiedliche Herkunft der Juden. So ist z.B. bemerkenswert, dass die Leitung des Zentralrats im Wesentlichen aus Juden deutscher Abstammung bestand, bis ab 1953 der bayerische Landesverband stärker eingebunden wurde, in dem die Juden mit osteuropäischer Abstammung stark vertreten waren. In vielen Gemeinden, in denen die Gruppe der deutschen Juden in der Minderheit war, gab es dennoch Versuche, das Wahlrecht oder die Mitgliedschaft an die deutsche Staatsbürgerschaft zu koppeln, über die viele DPs in der Frühzeit noch nicht verfügten. Zentrale Persönlichkeiten in den ersten Jahren des Zentralrats waren Philipp Auerbach, der als bayerischer Staatskommissar für rassisch, religiös und politisch Verfolgte fungierte, Norbert Wollheim, der Sprecher der Juden in der britischen Zone, der 1951 in die USA auswanderte, Karl Marx, der Herausgeber der Allgemeinen Wochenzeitung, Heinz Galinski, der Auschwitz und BergenBelsen überlebt hatte und nach dem Krieg zu einer der wichtigsten Führungspersönlichkeiten der Juden in Deutschland wurde, sowie vor allem Hendrik George van Dam (1906-1973), der erste Generalsekretär des Zentralrats. Bei der Auswahl der jüdischen Repräsentanten im Zentralrat und in den Gemeinden lieferten immer wieder zwei Aspekte den Anlass für z.T. bittere Kontroversen: Hatten einige Führungspersonen zu eng mit dem NS-Regime kollaboriert, etwa während ihrer Tätigkeit in der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland? War eine Person qualifiziert für einen Führungsposten in der jüdischen Gemeinschaft, wenn sie mit einem nichtjüdischen Partner verheiratet war? Letzteres war relativ häufig der Fall, weil viele der deutschen Juden nur durch eine solche »Mischehe« die NS-Zeit überlebt hatten. In der Münchner jüdischen Gemeinde, die von osteuropäischen Juden dominiert wurde, waren entsprechende Kandidaten per Satzung von einer Mitarbeit im Vorstand ausgeschlossen. Die politisch signifikanteste Episode aus der Frühzeit des Zentralrats stellte die Auerbach-Affäre dar. Durch seine Funktion als bayerischer Staatskommissar war der KZ-Überlebende ein weithin sichtbarer Vertreter der deutschen Juden, der 1952 wegen
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angeblicher Unregelmäßigkeiten bei Wiedergutmachungszahlungen von einem Gericht, das z.T. aus Richtern mit NSDAPVergangenheit bestand, zu einer Haftstrafe verurteilt wurde. Am Ende des Prozesses, der von Hetzkampagnen gegen die deutschen Juden begleitet wurde, nahm sich Auerbach das Leben. Damit war klar, wie schwierig die Position der deutschen Juden in der neu entstehenden politischen Arena war. Auf einer Tagung des Zentralrats hieß es damals dazu: »Wir Juden sollten es uns überlegen, ob ein Jude in hoher staatlicher und politischer Stellung gleichzeitig auch hoher jüdischer Funktionär sein soll und kann.«1 Zumeist ohne eine Funktion in einer Gemeinde zu erfüllen, hatten zu diesem früheren Zeitpunkt jüdische Politiker allerdings Ämter in der deutschen Politik inne. Der Bruder Philipps, Walter Auerbach (1905-1975), fungierte als sozialdemokratischer Staatssekretär in Niedersachsen. Josef Neuberger (1902-1977) bekleidete das Amt des Justizministers in Nordrhein-Westfalen. Alfred Ries (1897-1967) war im diplomatischen Dienst für das Auswärtige Amt tätig, u.a. auch als Botschafter in Liberia. Im Deutschen Bundestag in den 1950er- und 1960er-Jahren saßen Jakob Altmaier (1889-1963), Peter Blachstein (1911-1977) und Jeanette Wolff (1888-1976), alle für die SPD. Siegmund Weltlinger zog für die CDU 1959 ins Berliner Abgeordnetenhaus ein. Die politischen Bedingungen für Juden in der Bundesrepublik In beiden deutschen Staaten hatte sich in der frühen Nachkriegszeit eine neue jüdische Gemeinschaft gebildet. Auch noch viele Jahre später war es Juden anderer Länder – und besonders in Israel – oft unverständlich, dass Juden im Land der Mörder leben konnten. Dabei erlebten die jüdischen Gemeinden in den 1950erJahren sogar eine Rückwanderung: Ca. 6.000 Juden kehrten nach 1
Zitiert nach: Michael Brenner und Norbert Frei, 1950-1967. Konsolidierung, in: Michael Brenner (Hrsg.), Geschichte der Juden in Deutschland von 1945 bis zur Gegenwart. Politik, Kultur und Gesellschaft, München 2012, S. 153-293, hier: S. 157.
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Deutschland zurück, der größte Teil von ihnen kam ausgerechnet aus Israel. Außerdem gab es viele Gründe, warum Juden letztlich blieben: weil sie allzu lange auf eine Ausreise in die USA gewartet hatten, weil sie mit einem ausreiseunwilligen nichtjüdischen Partner zusammenlebten, weil sie sich eine neue ökonomische Existenz aufgebaut hatten, weil sie die kulturelle, sprachliche und wirtschaftliche Anpassungsleistung an eine neue Heimat scheuten oder weil es sich einfach so ergab, wie sie nicht selten später erklärten. Der Vorwurf, das Land der Massenmörder nicht verlassen zu haben, wirkte sich in verschiedenen Aspekten des jüdischen Lebens im Nachkriegsdeutschland aus, verband er sich doch mit den Schuldgefühlen, die viele Juden quälten, die den Holocaust überlebt hatten, während andere umgekommen waren. Der Vorwurf, durch ihren Aufenthalt in Deutschland zusätzlich Schuld auf sich zu laden, rief komplexe Rechtfertigungsstrategien für die jüdische Existenz in der Bundesrepublik hervor. Dass der US-amerikanische Hochkommissar John McCloy bereits im Juli 1949 festgestellt hatte, die Entwicklung der jüdischen Gemeinschaft werde »einer der wirklichen Prüfsteine für den Fortschritt Deutschlands«2, passte zu einem verbreiteten Narrativ unter den Juden in Deutschland: Es sei eine moralische Verpflichtung für sie, in diesem Land den Aufbau einer funktionierenden Demokratie sicherzustellen. Der Vorwurf, in Deutschland zu leben, war eine der größten politischen Herausforderungen für den Zentralrat, der zunächst international isoliert dastand. Kaum eine jüdische Organisation – weder der Jüdische Weltkongress noch die Jewish Agency u.a. – wollte in den ersten Jahren die Präsenz von Juden in Deutschland anerkennen und deren offizielle Vertretung politisch einbinden. Erst allmählich setzte hier ein Umdenken ein, für das der Zentralrat über viele Jahre werben musste. Vom deutschen Staat wurden die Vertreter der Juden dagegen häufig hofiert, da man sich erhoffte, das negative Deutschlandbild im Ausland aufzubes2
Zitiert nach: Atina Grossmann und Tamar Lewinsky, 1945-1949. Zwischenstation, in: Michael Brenner (Hrsg.), Geschichte der Juden in Deutschland von 1945 bis zur Gegenwart. Politik, Kultur und Gesellschaft, München 2012, S. 67-152, hier: S. 146.
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sern. So wurde z.B. der Journalist Karl Marx auf quasi-offizielle Auslandsreisen geschickt. Die politischen Bemühungen der Juden standen – wie konnte es anders sein – im Nachkriegsdeutschland im Schatten des Holocaust. Eine der dringendsten, aber auch schwierigsten Fragen in der frühen Bundesrepublik betraf die Wiedergutmachungsund Restitutionspolitik: Wie sollten die Opfer der nationalsozialistischen Arisierungs-, Verfolgungs- und Vernichtungspolitik entschädigt werden? In beiden deutschen Staaten existierte Eigentum (zumeist in Form von Immobilien), deren jüdische Besitzer während des Holocaust umgekommen waren und das von den Westalliierten während der Besatzungszeit jüdischen Organisationen wie der Jewish Restitution Successor Organization und der Jewish Trust Corporation übertragen worden war. Während die jüdischen Gemeinden in aller Regel keinen Zugriff auf dieses Eigentum besaßen und sich in einer sehr schwierigen finanziellen Lage befanden, planten die Hilfsorganisationen das Eigentum zu veräußern und als Unterstützung für Israel zu nutzen. Weil sie der Überzeugung waren, dass in Zukunft keine Juden in Deutschland leben sollten, existierte kein Plan, die jüdischen Nachfolgeorganisationen in Deutschland an einer etwaigen Lösung zu beteiligen. In dieser Situation bat der Zentralrat die westdeutschen Parteien und Behörden um Hilfe. Parallel war die Regierung unter Bundeskanzler Konrad Adenauer bereits seit 1950 mit informellen Gesprächen und Plänen für eine Lösung der Restitutionsfrage beschäftigt; ein Jahr später erklärte Bonn, direkte Verhandlungen mit der israelischen Regierung und internationalen jüdischen Organisationen über die Restitutionsfrage und eine Wiedergutmachungspolitik aufnehmen zu wollen. Dies mündete am 10. September 1952 in das Luxemburger Wiedergutmachungsabkommen, mit dem Israel drei Milliarden D-Mark – in Form von Waffenlieferungen und Dienstleistungen –, die als Kompensation für die Eingliederung der aus Deutschland geflüchteten Juden gedacht waren, sowie 500 Mio. D-Mark für notleidende Holocaust-Überlebende zugesprochen wurde. Außerdem erklärte die Bundesrepublik die Absicht, ein
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Gesetz über die Rückerstattung und Entschädigung von jüdischem Eigentum zu beschließen: das Bundesentschädigungsgesetz, das schließlich 1956 in Kraft trat. Allerdings offenbarte sich in diesen Verhandlungen der begrenzte politische Spielraum der deutsch-jüdischen Vertreter und des Zentralrats. Entgegen ihren Erwartungen wurden sie in die Vertragsgespräche keineswegs als Mittler einbezogen, sondern die westdeutsche Regierung verhandelte im Wesentlichen direkt mit der israelischen Regierung und mit einer neuen Vereinigung, der Jewish Conference on Material Claims Against Germany (oft als Claims Conference abgekürzt). Trotz der Kritik an dem Abkommen, die in Israel mit heftigen Vorwürfen gegen die Staatsführung einherging und in Deutschland z.T. massive antisemitische Untertöne besaß, wird man im Rückblick festhalten können, dass es für das internationale Recht einen historischen Schritt darstellte, nicht mehr nur Reparationszahlungen zwischen Staaten vorzusehen, sondern Restitutionsansprüche für erlittenes Unrecht auch von Gruppen und Privatpersonen anzuerkennen. Das Bundesentschädigungsgesetz sah zwar einen erweiterten Kreis von Anspruchsberechtigten vor, aber trotzdem blieben viele Gruppen aus dieser Wiedergutmachungspolitik der Bundesrepublik ausgeklammert, vor allem Hunderttausende osteuropäischer Zwangsarbeiter. Für diesen Personenkreis wurde erst nach der Wiedervereinigung im Jahre 2000 die Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft gegründet, die mit einem Kapital von zehn Milliarden D-Mark ausgestattet wurde. Eine besondere Rolle im politischen Selbstverständnis der Juden in Deutschland nahm der Staat Israel ein, zu dem die Bundesrepublik 1965 offizielle diplomatische Beziehungen aufnahm. Viele Juden beschrieben bis weit in die 1970er-Jahre hinein ihre Existenz auf deutschem Boden mit dem geflügelten Wort: »Leben auf gepackten Koffern«. Meistens stellte man sich Israel als den Ort vor, an dem man irgendwann die Koffer auspacken würde. Von offizieller Seite nahm die Unterstützung Israels in den Verlautbarungen der Gemeindeführungen stets eine herausragende Stellung ein, besonders markant etwa in Krisenmomenten wie dem Sechs-Tage-
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Krieg 1967. Auch der Zentralrat erklärte Israel immer wieder seine ungebrochene Solidarität und Unterstützung. Bei derartigen Gelegenheiten ließ man auch selten die substantielle finanzielle Unterstützung unerwähnt, welche die jüdischen Gemeinden in West-Deutschland Israel gewährten. Der Zentralrat empfahl 1955 den jüdischen Gemeinden sogar, von ihren Einnahmen eine Art Steuer nach Israel abzuführen. Zudem war es üblich, bei Hochzeiten, Geburten und Bar-Mitzwa-Feiern eine Israel-Spende zu leisten. Zugleich spielte Israel in vielen Kulturveranstaltungen der Gemeinden eine große Rolle und viele Juden schickten ihre Kinder dorthin: in den Kibbuz, zum Studium oder in die Armee, nicht selten mit dem Hintergedanken, dass sie dort einen jüdischen Heiratspartner finden würden. So war es für viele junge Juden in der Bundesrepublik normal, zumindest für eine Zeit in Israel gelebt zu haben. Antisemitismus begleitete jüdisches Leben auch in der Bundesrepublik. Dass er mit dem Untergang des NS-Regimes ebenfalls verschwinden könnte, war angesichts der Prägung vieler Menschen durch dieses Regime, dessen Antisemitismus noch dazu an die lange verwurzelte Tradition entsprechender Ansichten und Stereotypen anknüpfen konnte, wenig wahrscheinlich, auch wenn gerade dies in der Nachkriegszeit nicht selten angenommen wurde. Anhand von Umfragen, die die Haltung der Bevölkerung zum Antisemitismus und zu Juden relativ kontinuierlich ermittelten, lässt sich auch keine allmähliche Abnahme antisemitischer Überzeugungen feststellen; vielmehr kam es im Umfeld umstrittener Ereignisse, wie etwa der Wiedergutmachungspolitik, stets zu einem temporären Anstieg der Judenfeindschaft. Ein grundlegender Einstellungswandel gegenüber Juden fand im ersten Jahrzehnt nach der Gründung der Bundesrepublik nicht statt. Weihnachten 1959 wurde die Kölner Synagoge durch antisemitische Schmierereien geschändet, was nicht nur publizistisch breite Beachtung fand, sondern vor allem eine regelrechte Welle von Synagogen- und Friedhofsschändungen hervorrief, die schließlich Bundeskanzler Adenauer zu einer Fernsehrede gegen diese Umtriebe veranlasste.
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Zugleich gab es bereits relativ früh Versuche, gegen den verbreiteten Antisemitismus vorzugehen, etwa in den Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit, die ab 1948/49 nach USamerikanischen Vorbild bundesweit entstanden, oder in der Woche der Brüderlichkeit, die ab 1952 jährlich mit großem Aufwand begangen wurde. Obwohl derartige Einrichtungen gelegentlich zu unreflektiertem Philosemitismus neigten und oft auch den Judenmord hinter Floskeln wie »in unserer jüngsten Vergangenheit« eher verschwiegen, boten sie zivilgesellschaftliche Foren, um sich mit dem Antisemitismus der Gegenwart und Vergangenheit auseinanderzusetzen. Seit dem Krieg hatte es stets öffentliche und halböffentliche Diskussionen über die Verbrechen des NS-Regimes gegeben. In den 1950er-Jahren begann eine bewusste »Vergangenheitspolitik«, die die Wiedereingliederung selbst von nationalsozialistischen Massenmördern in die Nachkriegsgesellschaft zum Ziel hatte. Gegen Ende des Jahrzehnts artikulierte sich allerdings zuerst die Vorstellung einer »unbewältigten Vergangenheit«, wozu etwa die erwähnte Welle von Synagogen- und Friedhofsschändungen den Anlass lieferte. In der Folge gab es in Westdeutschland (und nicht mehr nur in der DDR) vermehrt kritische Stimmen zum Staatsekretär in Adenauers Kanzleramt, Hans Globke, der den maßgeblichen Kommentar zu den Nürnberger Gesetzen verfasst hatte, und zum Bundesvertriebenenminister Theodor Oberländer, der dem NS-Regime als Ostforscher sowie in verschiedenen Führungsfunktionen in der NSDAP, in der Armee und im Geheimdienst gedient hatte. Auch eine verstärkte Förderung historischer Bildung und Aufklärung wurde nun vermehrt gefordert. Seit Ende der 1950er-Jahre kam es zu einer Reihe von wichtigen und von der breiten Öffentlichkeit verfolgten Prozessen gegen einige Verantwortliche des Holocaust: den Ulmer Einsatzgruppen-Prozess von 1958 sowie den Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963-65, den etwa 20.000 Besucher verfolgten. Vor allem der Frankfurter Staatsanwalt Fritz Bauer (1903-1968) trieb maßgeblich die strafrechtliche Aufarbeitung der NS-Vergangenheit voran. Auch das spektakuläre Gerichtsverfahren gegen Adolf Eichmann,
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einem der Hauptorganisatoren des Holocaust, das 1961 in Israel eröffnet und an dessen Ende Eichmann hingerichtet wurde, schlug in der Bundesrepublik wie in der DDR publizistische Wellen. Zugleich blieb das Thema des juristischen und zivilgesellschaftlichen Umgangs mit der NS-Vergangenheit höchst umstritten: 1969 waren 67 Prozent der Bundesbürger gegen eine weitere gerichtliche Verfolgung von NS-Verbrechen. Die Juden und die politischen Veränderungen seit den 1960er-Jahren Der jüdische Bevölkerungsanteil blieb ab den 1960er-Jahren bis zur Wiedervereinigung relativ konstant: 27.000 Juden im Jahr 1970 und 28.000 1990, wobei dies allerdings nur die offiziell registrierten Mitglieder der jüdischen Gemeinden umfasste. Zudem muss beachtet werden, dass die jüdischen Gemeinden in Deutschland schon vor 1990 Zuwanderung zu verzeichnen hatten. Bereits in den 1950er-Jahren waren Juden aus Polen, Rumänien und Ungarn eingereist; in den späten 1960er-Jahren kamen einige polnische und tschechoslowakische Juden und ab den 1970er-Jahren Juden aus der Sowjetunion und dem Iran. In den 1960er- und 1970er-Jahren wandelte sich die ›innerjüdische‹ Politik nahezu ebenso dramatisch wie die allgemeine politische Landschaft der Bundesrepublik, die durch die aufkommende Studentenbewegung und später durch die neuen sozialen Bewegungen erheblich pluralisiert wurde. In den jüdischen Gemeinden war um 1968 eine neue Generation herangewachsen, welche die Ansichten und Problemlagen der älteren Generation nur noch in Ansätzen teilte. Sie fing parallel zur und beeinflusst von der deutschen wie internationalen Studentenbewegung an, die Grundlagen des politischen Lebens der Juden in Deutschland in Frage zu stellen, wie sie sich in der Nachkriegszeit allmählich herausgebildet hatten. Auch hier war der Ruf nach Mitbestimmung und Partizipation zu hören, den der SPD-Bundeskanzler Willy Brandt in seiner Regierungserklärung 1969 mit dem popu-
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lären Schlagwort »Mehr Demokratie wagen« zur politischen Maxime erhoben hatte. Für viele Ältere in den jüdischen Gemeinden waren die Ansprüche der Jüngeren oft schwer nachzuvollziehen. Wie in der allgemeinen Gesellschaft wurden hier – durchaus im Vergleich zur jüdischen Gemeinschaft im frühen 20. Jahrhundert – Generationsunterschiede politisiert. Einige Vertreter und Vertreterinnen dieser jungen Generation wie Henryk M. Broder (geb. 1946), Micha Brumlik (geb. 1947), Daniel Cohn-Bendit (geb. 1945), Dan Diner (geb. 1946) oder Cilly Kugelmann (geb. 1947) engagierten sich in der linken Protestbewegung, weil sie die Missstände der allgemeinen Gesellschaft, die verbreitete Haltung zum Nationalsozialismus und die (aus ihrer Sicht) spießige Verteidigung des Status quo nicht akzeptieren wollten. Zugleich begehrten sie auch gegen die verkrusteten Strukturen in den jüdischen Gemeinden und im Zentralrat auf. In diesem Umfeld und mit diesem Profil entstand der Bundesverband jüdischer Studenten in Deutschland (BJSD). Die älteren Funktionäre im Zentralrat wie Werner Nachmann (1925-1988), Hendrik van Dam oder Heinz Galinski versuchten der Jugend zunächst entgegenzukommen, indem sie ihrerseits neue Diskussionsforen einrichteten, etwa 1970 die Initiativgruppe für Jugendfragen oder ab 1977 die Jugend- und Kulturtage. Doch war es nicht ausreichend, nur neue Kommunikationsformen zu schaffen; auch inhaltlich wollten die Jungen eingebunden werden. Zentrale Bruchstellen zwischen den Generationen waren dabei insbesondere die Frage der »Mischehe« und die Beziehungen zu Israel. Da die Kontakte mit der nichtjüdischen Umwelt gerade bei den Jüngeren zugenommen hatten und der Heiratsmarkt unter den Juden in Deutschland begrenzt war, stellte sich die Frage der »Mischehen« erneut, die schon in der Weimarer Republik und der unmittelbaren Nachkriegszeit ein wichtiges Thema gewesen war. Zwischen 1973 und 1981 waren zwei Drittel aller Hochzeiten mit jüdischer Beteiligung interkonfessionelle Ehen, was angesichts der religiös orthodoxen Ausrichtung der meisten jüdischen Nachkriegsgemeinden fast automatisch zum Konflikt führen musste. Dass Juden, die in solchen Ehen lebten, keine
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Leitungsfunktionen übernehmen durften und dass die Kinder aus diesen Ehen nicht am Gemeindeleben teilhaben sollten, war für viele immer weniger einsichtig. Allerdings waren hier die Führungseliten nicht zum Einlenken zu bewegen: Nachmann plädierte noch in den 1980er-Jahren dafür, Juden in »Mischehen« keine Führungsämter zu übertragen. Damit blieb das Thema den Gemeinden erhalten: 1986 sollte eine Veränderung in der »Mischehen«-Politik dann einen zentralen Programmpunkt der Neuen Jüdischen Liste bilden, die bei den Frankfurter Gemeindewahlen antrat. Einen keinesfalls geringeren Streitpunkt, der zudem in der allgemeinen Gesellschaft heftig umstritten war, stellten die Beziehungen zu Israel dar. Führende junge Juden wie Brumlik und Diner beurteilten den Zionismus der älteren Generation kritisch. Für sie entwertete die in den Gemeinden herrschende Verehrung Israels die Existenz von Juden in der Diaspora (und vor allem in Deutschland) und war angesichts der politischen Ereignisse im Nahen Osten und in Israel nach 1967 kaum noch zu rechtfertigen. Viele jüngere Juden waren von der z.T. sehr scharfen Israel-Kritik beeinflusst, die sich im Umfeld der Studentenbewegung und in der radikalen Linken ausgebreitet hatte. Allerdings wurde den Aktivisten um den BJSD schnell klar, dass sie als Juden eine schwierige Position innerhalb der linken Protestbewegung einnahmen; denn in diesen Kreisen existierte ein oft kaum verhohlener Antisemitismus und radikaler Antizionismus, wie in der Folge des Sechs-Tage-Krieges immer offenkundiger wurde. Broder bewogen die Erfahrungen mit dem linken Antisemitismus dazu, 1981 öffentlich in einem Artikel in DIE ZEIT zu erklären, »Warum ich gehe«: weil er nicht länger mit den Linken gemeinsam kämpfen wollte, die das Existenzrecht Israels in Frage stellten. Der höchst umstrittene israelische LibanonKrieg im Sommer 1982 verschärfte die Kritik auf beiden Seiten. Viele jüngere Juden aus der politisierten Frankfurter Gemeinde protestierten vor der israelischen Botschaft in Bonn; allerdings taten sie dies bewusst getrennt von anderen linken Protesten, deren politische Positionen sie nicht zu teilen bereit waren.
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Die Konflikte mit jüngeren Juden hatten jedoch nicht nur inhaltliche Gründe, sie wurzelten auch in einem je unterschiedlichen Verständnis von Politik. In den Gemeinden gaben einflussreiche Honoratioren den Ton an und versuchten den Fortbestand der jüdischen Gemeinschaft durch möglichst große Staatsnähe und direkte Fürsprache in der Staatsspitze zu sichern. In gewisser Hinsicht war damit die Leitungsebene im Zentralrat und in den jüdischen Gemeinden zu einem politischen Führungsmodell aus dem 19. Jahrhundert zurückgekehrt und die Demokratisierungsschübe aus der Zeit der Weimarer Republik waren wieder verloren gegangen. Allerdings wird man hier immer in Rechnung stellen müssen, dass die jüdischen Gemeinden in der Bundesrepublik viel kleiner und – trotz aller Bemühungen und Versicherungen – letztlich auch bedrohter als in den ruhigen Jahren der Weimarer Republik waren. Dass die demokratische Kontrolle in diesem Führungsmodell zeitweise nicht ausreichend funktionierte, offenbarte schließlich der Fall Nachmann. Nach dem Tode des langjährigen Zentralratsvorsitzenden 1988 kam heraus, dass er seine herausgehobene Stellung ausgenutzt hatte, um die Zinsbeträge von auf Zentralratskontos eingezahlten Entschädigungsgeldern zu veruntreuen. Die mangelnde Kontrolle durch den Zentralrat ließ sich nur durch den auf engen Vertrauensbeziehungen basierenden Führungsstil unter Honoratioren erklären. Allerdings wird im Rückblick auch der Hauptunterschied dieses Führungsmodells zu den beschriebenen Formen im 19. Jahrhundert sichtbar: Es war für Juden – trotz ihrer viel kleineren Zahl – im Großen und Ganzen einfacher, in wichtigen Gremien und bei Entscheidungsträgern des Staates Gehör zu bekommen. Das ist als eine Art »Gabentausch« (Anthony Kauders) beschrieben worden: Für den Schutz und die Machtteilhabe, welche die jüdischen Führungspersönlichkeiten von der deutschen Politik und insbesondere von den höchsten Regierungsstellen erhielten, verteidigten sie die jüdische Präsenz in Deutschland gegenüber einem skeptischen Ausland und lobten die Entwicklung der bundesrepublikanischen Demokratie. Das hatte – gerade vor dem
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Hintergrund der politischen Vorgeschichte im Kaiserreich und in der Weimarer Republik – den unabweislichen Vorteil, dass die nichtjüdische politische Elite Westdeutschlands auf den Erhalt des Judentums und den Kampf gegen Antisemitismus verpflichtet wurde. Unter jüngeren Juden artikulierte sich dennoch Unbehagen gegen dieses Politikmodell, indem letztlich Juden als Bürgen – oder als Alibi, wie es manche böser formulierten – für die deutsche Demokratie fungierten. Wie problematisch diese enge Bindung an die politische Elite der Bundesrepublik sein konnte, war spätestens 1978 deutlich geworden, als der Zentralratsvorsitzende Nachmann einen Unterstützungsbrief an den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger schickte, der wegen einiger Todesurteile, die er als Marinerichter am Ende des Krieges erlassen hatte, in Verruf geraten war und der deswegen 1978 zurücktreten musste. Die Intervention Nachmanns wurde u.a. in dem Buch Fremd im eigenen Land kritisiert, das 1979 von Broder und Michel R. Lang herausgegeben wurde. Einige jüdische Intellektuelle wurden in diesen Auseinandersetzungen in den Gemeinden, aber auch mit der allgemeinen Politik und Öffentlichkeit zunehmend zu unabhängigen und kritischen Figuren in der politischen Landschaft der Bundesrepublik. Einen wichtigen Einschnitt in der Genese ihres neuen Umgangs mit politischen Fragen stellte der Konflikt um die Aufführung des Theaterstücks Der Müll, die Stadt und der Tod (1975) von Rainer Werner Fassbinder dar, das mit antisemitischen Klischees spielte. 1985 besetzten einige Vertreter der Frankfurter jüdischen Gemeinde – darunter der spätere Vorsitzende des Zentralrats Ignatz Bubis sowie der spätere Journalist und Fernsehmoderator Michel Friedman (geb. 1956) – in einer dramatischen Aktion die Bühne des Frankfurter Schauspielhauses, um die Uraufführung des Stückes zu verhindern. Mit diesem Akt zivilen Ungehorsams reklamierten Juden für sich das Recht, die Öffentlichkeit gegen Antisemitismus zu mobilisieren und die Verurteilung derartiger Tendenzen nicht mehr allein den Regierungsstellen zu überlassen.
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Mit Beginn der 1970er-Jahre kam es zu kurzfristigen Veränderungen im bundesrepublikanischen Antisemitismus. Über die bereits bekannten Schändungen von Friedhöfen und Synagogen hinaus waren jetzt wieder Gewalttaten gegen Personen möglich: Bombendrohungen, Brand- und Mordanschläge. Zudem hatte sich das Täterprofil verändert: Generell waren die Täter keine ExNazis mehr, sondern nach dem Weltkrieg geboren, was verdeutlichte, dass mit der Fortdauer eines gewalttätigen Antisemitismus gerechnet werden musste. Außerdem gibt es Anzeichen, dass die Täter nicht mehr ausschließlich dem rechtsextremen Milieu, sondern zumindest zeitweise auch dem Linksterrorismus entstammten, dessen Jahrzehnt nach 1968 angebrochen war. So wird vermutet, dass am 9. November 1969 eine Bombe im Jüdischen Gemeindehaus in Berlin von den linksradikalen Tupamaros WestBerlin platziert wurde, die allerdings nicht explodierte. Anfang 1970 kamen bei einem Brandanschlag auf ein jüdisches Altersheim in München sieben Menschen ums Leben; die Täter konnten nie ermittelt werden. Bei der Vorbereitung des berüchtigten Attentats auf die Olympischen Sommerspiele 1972 in München, das die palästinensische Terrororganisation Schwarzer September auf das Quartier der israelischen Olympiamannschaft ausführte und bei dem elf Israelis und ein deutscher Polizist starben, halfen deutsche Neonazis. 1980 wurden der Rabbiner und Verleger Shlomo Levin (1911-1980) und seine Lebensgefährtin Frida Poeschke (1923-1980) von einem mutmaßlichen Mitglied der rechtsextremen und terroristischen Wehrsportgruppe Hoffmann ermordet, der auch Verbindungen zum Terroranschlag auf das Münchner Oktoberfest im September 1980 nachgesagt werden. Zu diesem Zeitpunkt war die antisemitische Gewalt wieder stärker auf die bekannten rechtsextremen Formen begrenzt, was nicht heißt, dass das Phänomen des linken Antisemitismus in der Geschichte der Bundesrepublik verschwand. 1980 wurde in der SINUS-Studie zum Rechtsextremismus zudem festgestellt, dass 13 Prozent der Bundesbürger im Wahlalter über ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild verfügten, das in der Regel Antisemitismus mit umfasste. Die gewalttätige Antise-
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mitismuswelle der 1970er-Jahre rief die deutschen Sicherheitsbehörden auf den Plan. Es wurde klar, dass die jüdische Gemeinschaft staatlichen Schutz brauchte und dass dies zugleich ein elementares Interesse der demokratischen Staatsordnung und der inneren Sicherheit darstellte. Seit jenen Tagen unterliegen die jüdischen Einrichtungen einem besonderen Schutz. Zugleich lenkte man mehr Aufmerksamkeit auf die Erforschung des Antisemitismus – 1982 wurde das Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin gegründet – und auf die diesbezügliche Aufklärung an den Schulen. In dieser Phase wandelten sich allmählich die Vergangenheitsdebatten, die seit Mitte der 1980er-Jahre an Intensität zunahmen: Zum einen rückten die jüdischen Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik in den Fokus. Mit der US-amerikanischen Fernsehserie Holocaust, die Anfang 1979 ein überraschend großes Echo beim bundesrepublikanischen Fernsehpublikum hervorrief, bürgerte sich in Deutschland für die Judenvernichtung der (eigentlich nicht unproblematische) Name Holocaust ein. Zum anderen fand vor allem in den 1980er-Jahren eine Politisierung der Holocaust-Erinnerung statt, die in den folgenden Jahrzehnten eine besondere Dynamik entwickeln sollte. Zwar konnte sich der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl 1985 noch durchsetzen, als er mit seinem Staatsgast, dem USPräsidenten Ronald Reagan, einen Soldatenfriedhof in Bitburg besuchte, auf dem auch Mitglieder der Waffen-SS begraben lagen, die u.a. an Massakern an der französischen Zivilbevölkerung teilgenommen hatten. Der erst vorgesehene Besuch der KZ-Gedenkstätte Dachau wurde zudem von der deutschen Seite zunächst abgesagt; u.a. begründete dies der Regierungssprecher Peter Boenisch mit den Worten: »Das ist ja das letzte, dass man noch 40 Jahre nach Kriegsende durch KZs laufen muß.«3 Allerdings war das mediale Echo im In- und Ausland auf die Bitburg-Affäre so verheerend, dass sich Kohl gezwungen sah, über eine andere Form der Holocaust-Erinnerungspolitik nachzudenken, als er es 3
Der Spiegel vom 29. April 1985, S. 19.
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mit seinem Diktum von der »Gnade der späten Geburt« von 1984 eigentlich beabsichtigt hatte. Als 1986 der Berliner Historiker Ernst Nolte (geb. 1923) für eine Neubewertung der nationalsozialistischen Verbrechen – als Folge der vermeintlich »ursprünglicheren« Gräueltaten des sowjetischen Kommunismus – plädierte, und dafür – neben anderen Historikerkollegen – von dem Philosophen Jürgen Habermas (geb. 1929) scharf kritisiert wurde, stand das Thema erneut auf der Tagesordnung. Der sogenannte Historikerstreit, der mit breiter und lang anhaltender publizistischer Aufmerksamkeit verfolgt wurde, wirkte letztlich in die gleiche Richtung wie die Folgen der Bitburg-Affäre: In den offiziellen Debatten der Bundesrepublik entwickelte sich ein anderes Vergangenheitsnarrativ, in dem der Holocaust als zentrales Verbrechen des 20. Jahrhundert verurteilt und die jüdische Geschichte in einem veränderten, positiveren Licht gesehen wurde. 2005 wurde das Denkmal für die ermordeten Juden Europas nach langen Diskussionen und einigen Fehlplanungen, die sich bis zum Bitburg-Desaster zurückverfolgen lassen, neben dem Brandenburger Tor und dem Reichstag in Berlin eingeweiht. Spätestens damit war dokumentiert, dass das neue Vergangenheitsnarrativ sogar Teil der offiziellen Staatsräson der »Berliner Republik« geworden ist. Die gesellschaftliche Breitenwirkung dieses politischen Narrativs entstand allerdings – das darf dabei nicht vergessen werden – durch die vielen, von einzelnen gesellschaftlichen Gruppen getragenen und durchgesetzten Erinnerungsorte und -projekte, die seit den 1980er-Jahren überall in der Bundesrepublik und später auch im vereinigten Deutschland entwickelt wurden. Juden betraf diese Veränderung oft nur sekundär; sie waren in der Regel nicht an diesen Projekten beteiligt und wollten an ihnen auch nicht teilnehmen. Es war nicht ihre Erinnerungspolitik, hatten sie doch längst als Überlebende oder als deren Nachkommen ihre eigenen Erinnerungspraktiken in den Familien und den Gemeinden entwickelt. Dennoch darf angenommen werden, dass diese Veränderungen in der Erinnerungslandschaft ihre politische Position in der Bundesrepublik nicht unberührt ließen.
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Juden im wiedervereinten Deutschland Im Zuge des Mauerfalls 1989 und der deutschen Wiedervereinigung 1990 veränderte sich auch das jüdische Leben. Zunächst riefen das unerwartete Ende der DDR und die Wiedervereinigung bei Juden im In- und Ausland gemischte Gefühle hervor. Nicht nur der Holocaust-Überlebende Elie Wiesel (geb. 1928) drückte seine Ängste über die zukünftige Rolle eines erstarkten Deutschlands aus, auch israelische Regierungsmitglieder machten sich Sorgen – bei aller auch vorhandenen Begeisterung über die friedliche Revolution. Viele Juden in Deutschland hatten die deutsche Teilung als eine gerechte Strafe für die deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg angesehen und standen einem wiedervereinten Staat zumeist skeptisch bis ablehnend gegenüber. Im Lichte der Ereignisse am 9. November 1989, als in Berlin in einer Nacht die Mauer zwischen den beiden deutschen Staaten geöffnet wurde, schien die Erinnerung an dieselbe Nacht 51 Jahre zuvor zu verblassen: das November-Pogrom 1938 – und das versprach nichts Gutes für die Zukunft. Die geleistete Erinnerungspolitik, die Versicherungen der deutschen Politiker, diesen Weg fortzusetzen und die Erinnerung an den Holocaust lebendig zu halten, und vor allem die Garantien, die Deutschland mit der politischen Integration Europas einging, halfen in den folgenden Jahren etwas, die Befürchtungen zu entkräften. Zugleich sollten der Fall der Mauer und der politische Umbruch in Osteuropa noch ganz andere Folgewirkungen für die Juden in Deutschland haben. Nach dem Ende der SED-Herrschaft beschloss die frei gewählte Volkskammer der DDR im April 1990, verfolgten Juden Asyl zu gewähren, was 2.650 Juden aus der zusammenbrechenden Sowjetunion nutzten, um nach Ostdeutschland zu emigrieren. Obwohl diese Regelung zunächst nicht in den Einigungsvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR übernommen wurde, blieb das Problem der ausreisewilligen Juden aus der Sowjetunion bestehen. 1991 wurde auf der Bundesinnenministerkonferenz schließlich eine daran anschließende Regelung für das wiedervereinigte Deutschland getroffen: Emig-
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ranten jüdischer Herkunft aus der ehemaligen Sowjetunion konnten als sogenannte »Kontingentflüchtlinge« – das Modell dafür lieferte die Einwanderungsregelung für vietnamesische Boatpeople aus dem Jahr 1980 – in die Bundesrepublik einreisen und erhielten dort zunächst eine Aufenthaltserlaubnis. Von 1991 bis 2004 sind so über 200.000 jüdische Zuwanderer nach Deutschland gekommen. In vielen deutschen Städten entstanden neue jüdische Gemeinden, da die Bundesinnenministerkonferenz die gleichmäßige Verteilung der Zuwanderer über das ganze Bundesgebiet angeordnet hatte. Laut der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland ist die Zahl der jüdischen Gemeindemitglieder von fast 30.000 im Jahr 1990 auf über 100.000 2003 gestiegen. 2007 zählte der Zentralrat offiziell 108.000 Gemeindemitglieder. Allerdings wird geschätzt, dass im wiedervereinigten Deutschland heute bis zu 200.000 Juden und Jüdinnen leben, weil es unter den postsowjetischen jüdischen Zuwanderern sowie den permanent in Deutschland lebenden Israelis viele gibt, die nicht offiziell Mitglieder der Gemeinden sind. Hinter dieser Entwicklung verbirgt sich eine beachtliche Veränderung der Bevölkerungs- und Gemeindestruktur. In den jüdischen Gemeinden, die nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst das Zusammenleben von deutschen und osteuropäischen Juden organisiert hatten, stand nun eine Minderheit von »alteingesessenen« Juden mit ihren seit Jahrzehnten erprobten politischen Mechanismen, sozialen Strukturen, religiösen Riten und kulturellen Formen einer Mehrheit von Neuankömmlingen gegenüber. Aufgrund der sowjetischen Geschichte besaßen letztere oft keine oder nur rudimentäre Kenntnisse des Judentums, aber durch ihre prekäre soziale Situation als Zuwanderer waren sie auf die Hilfe der Gemeinden angewiesen. Bereits nach wenigen Jahren formierten sich die »Russen« in den jüdischen Gemeinden auch als kommunalpolitische Kraft – zuerst bei den Berliner Gemeindewahlen 1997, bei denen eine »russische« Wahlliste allerdings noch unterlag. In Politik und Gesellschaft spielen Juden als einflussreiche (Wähler-)Gruppe oder als politische wie soziale Aktivisten trotz ihrer gestiegenen Zahl weiterhin nur eine geringe Rolle; ihre sym-
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bolische Bedeutung für die Politik ist jedoch eher gestiegen. Schließlich stellt die wiedervereinigte »Berliner Republik« – ungeachtet aller andauernden Polemiken gegen derartige Bezeichnungen – de facto eine multikulturelle, multiethnische und multireligiöse Gesellschaft dar. In Berlin besaßen im Juni 2012 bei einer Gesamtzahl von 3.4 Mio. Einwohnern über 920.000 Einwohner einen sogenannten Migrationshintergrund – unter ihnen über 480.000 Ausländer, d.h. Einwohner ohne deutschen Pass. Die Geschichte der Juden als Minderheit in Deutschland und als Opfergruppe von Ausgrenzungspolitik, aber auch als Beispiel für eine lange Zeit gelungene soziale und kulturelle Integration, besitzt für die Debatten über Fremdenfeindlichkeit und über gesellschaftliche Integration eine besondere Relevanz. Das ist auch daran zu erkennen, dass mit dem rhetorischen Verweis auf den Holocaust in den bundesrepublikanischen Debatten immer wieder Politik (in der Regel von Nichtjuden) getrieben wird. Darüber hinaus können die historischen Erfahrungen von Juden viel umfassender herangezogen werden, um nach den politischen Chancen und Grenzen von Integrationsprozessen zu fragen. Dabei wird man konstatieren müssen, dass in den jüdischen Erfahrungen von Ausgrenzung und schließlich Verfolgung und Massenmord ein noch unzureichend diskutiertes Potential vorhanden ist, die politischen Zielvorgaben von Integration und Assimilation, mit denen auch heute Minderheitsgruppen konfrontiert werden, kritisch zu hinterfragen. Derartige Überlegungen und die generell andere Position von Juden in der multikulturellen Gesellschaft der Gegenwart lassen eine neue Perspektive auf »deutsch-jüdische« Identitäten im 21. Jahrhundert zu: Wenn Juden in einer Gesellschaft leben, die sie de facto mit den unterschiedlichsten Gruppen und verschiedensten Identitätskonstruktionen teilen, verliert die Frage, ob sie sich als deutsche Juden definieren, an Bedeutung. Es ist wahrscheinlich – nicht zuletzt aufgrund der kulturellen Unterschiede innerhalb der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland –, dass sich unter ihnen Identitätsvorstellungen als deutsche Juden (im emphatischen Sinne des 19. Jahrhunderts) seltener finden werden. Es ist
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vielmehr denkbar, dass demgegenüber eine diasporische Orientierung mit Loyalitäten auch zu anderen jüdischen Gemeinschaften stärker wird. Dies ist auch möglich, weil sich in der ethnisch vielschichtigen Gesellschaft der Bundesrepublik – allen xenophoben Anfeindungen zum Trotz – der assimilatorische Anpassungsdruck an die Mehrheitsgesellschaft im Vergleich zum 19. Jahrhundert verringert hat. Gleichwohl wird man einschränken müssen, dass die breite Debatte über eine »Leitkultur«, die nunmehr oft als »christlich-jüdisch« rhetorisch verpackt wird, seit einigen Jahren den Willen einiger politischer und gesellschaftlicher Gruppen dokumentiert, diesen Druck wieder zu erhöhen, wenn auch zumeist mit Blick auf muslimische Gruppen. Zugleich ergeben sich durch die ethnische, kulturelle und religiöse Pluralisierung der Bundesrepublik auch eine Reihe von Problemen und Gefährdungen für die deutschen Juden. Das Zusammenleben von Menschen in einer solchen Gesellschaft ist nicht immer einfach – und ethnisch aufgeladene Konflikte bedrohen auch Juden. Nach der Wiedervereinigung entwickelte sich in einigen Teilen der Gesellschaft eine Gewaltkultur gegenüber Ausländern, Flüchtlingen und als fremd gebrandmarkten Deutschen, die wirksam zu bekämpfen sich sowohl die Strafverfolgungsbehörden wie die Mehrheitsgesellschaft schwertun. Die Gewaltexzesse in Hoyerswerda 1991 und Rostock-Lichtenhagen 1992, als Flüchtlings- und Asylbewerberheime von einem außer Kontrolle geratenen Mob attackiert wurden, die Mordanschläge von Mölln 1992 und Solingen 1993, wo jeweils mehrere Menschen türkischer Abstammung durch Brandstiftung in ihren Häusern umkamen, aber auch die kaum mehr Schlagzeilen produzierenden, alltäglichen Gewaltakte von Neonazis und Ausländerfeinden beunruhigen Juden in besonderem Maße. Gleiches gilt für die völlig neue Dimension rechter Gewaltexzesse, die im November 2011 deutlich wurde: Die rechtsextreme Gruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) ermordete von 2000 bis 2006 neun Deutsche türkischer und griechischer Herkunft in
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verschiedenen deutschen Städten, führte 2004 ein NagelbombenAttentat in Köln aus und erschoss 2007 eine Polizistin in Heilbronn. Dass dies erst nach jahrelangem Scheitern der staatlichen Ermittlungsbemühungen, während derer noch dazu lange die Opferfamilien bzw. deren Umfeld verdächtigt wurden, mehr durch Zufall aufgedeckt werden konnte, dokumentiert auch die grundlegenden Probleme der staatlichen Institutionen und insgesamt der Gesellschaft, auf diese Gewalt richtig zu reagieren. Hinzu kommt, dass auch antisemitische Straftaten keineswegs verschwunden sind. Von den über 16.000 Straftaten und den 350 rechtsextremistischen Gewalttaten mit fremdenfeindlichem Hintergrund, die im Bericht des Bundesverfassungsschutz für das Jahr 2011 aufgelistet sind, waren über 1.100 (davon 22 Gewalttaten) antisemitisch begründet. Für viele der neonationalsozialistischen und fremdenfeindlichen Gruppen – der Verfassungsschutz verzeichnete 2010 219 und 2011 225 rechtsextremistische Organisationen – existiert weiterhin eine »Judenfrage«, auch wenn man konstatieren muss, dass andere Feindseligkeiten – insbesondere gegen muslimische Migranten oder Deutsche mit anderer ausländischer Herkunft – sehr viel häufiger geworden sind. Zugleich sehen sich Juden nicht nur in Deutschland, sondern in vielen europäischen Staaten mit einem relativ neuen Phänomen konfrontiert, dem des islamistischen Antisemitismus. Der Nahost-Konflikt und das spannungsreiche Verhältnis von Israelis und Palästinensern birgt auch für die europäischen Migrationsgesellschaften erhebliches Konfliktpotential. Obwohl die Stärke des Antisemitismus unter der muslimischen Bevölkerung in den sozialwissenschaftlichen Erhebungen gerade für die Bundesrepublik umstritten ist, kann die Existenz dieses Antisemitismus nicht geleugnet werden. Dies gilt umso mehr, als Antisemitismus und Israelfeindschaft bereits brutale Konsequenzen zeitigten: Im Oktober 2000 attackierten zwei Jugendliche – einer von ihnen aus Palästina stammend, der andere ein Deutscher mit marokkanischen Wurzeln – eine Synagoge in Düsseldorf mit Brandsätzen, glücklicherweise ohne dass jemand zu Schaden kam. Im Spätsommer 2012 griffen Jugendliche arabischer Herkunft einen Rab-
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biner und dessen kleine Tochter in Berlin tätlich an, woraufhin von jüdischer Seite empfohlen wurde, in der Öffentlichkeit die traditionelle Kopfbedeckung (Kippa) nicht mehr zu tragen. Juden befinden sich jedoch in anderer Hinsicht im gleichen Boot mit muslimischen Deutschen: Durch die generelle Zunahme von religiös motivierten Abgrenzungsformen, die sich nach dem Anschlag auf das World Trade Center in New York am 9. September 2001 vor allem in einer neuen Dimension der Islamophobie manifestiert, entstehen gesellschaftspolitische Konflikte, die Juden direkt betreffen können. Dies wurde etwa im Umfeld der Debatten um die jüdische wie muslimische Beschneidungspraxis von männlichen Kleinkindern deutlich, die im Sommer 2012 durch ein Kölner Gerichtsurteil ausgelöst wurden. In vielerlei Hinsicht gilt also das Diktum des US-amerikanischen Hochkommissars John McCloy weiterhin, dass die Entwicklung der jüdischen Gemeinschaft einen Test für die demokratische Kultur dieses Landes darstellt.
Schlussbetrachtungen Die moderne Politik- und Rechtsgeschichte der deutschen Juden wirft zweifelsohne zahlreiche historische, politische, moralische, erinnerungspolitische etc. Fragen auf, die auch für die Gegenwart von Interesse sind. Ihre Erkenntnisgewinne sind vielfältig. Die rechtliche Position der Juden in der sich wandelnden deutschen Gesellschaft unterlag häufigen Änderungen, von denen die komplette Rücknahme der Emanzipation und die Zerstörung des – nicht nur rechtlich kodifizierten – Zusammenlebens von Juden und Nichtjuden während der nationalsozialistischen Herrschaft die radikalste Variante darstellte. Gleichwohl darf nicht vergessen werden, dass die deutschen Juden in den über 230 Jahren seit Dohms Schrift Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden immerhin fast 130 Jahre gleichberechtigt mit Nichtjuden in einem Rechtsstaat lebten: im Kaiserreich, in der Weimarer Republik und der Bundesrepublik (die wenigen Juden in der DDR in dieser Rechnung einmal außen vor gelassen). Schon zuvor hatten die schrittweisen Verbesserungen der Emanzipationsgesetzgebung – etwa das preußische oder das badische Emanzipationsedikt – vielen deutschen Juden Anlass zur Hoffnung und zur Mitarbeit im deutschen Staat geliefert. Allerdings verdeutlichte dann im 20. Jahrhundert die Diskriminierungs- und Vernichtungspolitik im NS-Regime, wie fragil diese rechtliche Position dennoch war. Die moderne Politikgeschichte der deutschen Juden handelt von vielen Errungenschaften. Davon lagen einige auf ›innenpolitischem‹ Gebiet, gemeint sind die Leistungen der jüdischen Gemeinden, die ihre Rolle in der modernen Gesellschaft erst finden mussten, sich aber immer wieder als wichtige politische Ressource für die deutschen Juden erwiesen. Dies gilt etwa in der Weimarer Republik, als es zu einer Ausweitung der Sozial- und Wohlfahrtspolitik der Gemeinden kam, und im wiedervereinigten Deutschland, als die kleinen jüdischen Gemeinden einen beachtlichen Zustrom von Zuwanderern bewältigen mussten. Demgegenüber ist es schwierig, das Verhalten der Gemeinden und vor
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allem ihrer Führungselite während der NS-Herrschaft, der beginnenden Deportationen und der »Endlösung« zu beurteilen. Schuldhafte Verstrickung und tragischer Heroismus lagen hier sehr nahe beieinander. Andere Errungenschaften bezogen sich eher auf die Mitarbeit von Juden an der allgemeinen Politik. Mendelssohns Idee für die einflussreiche Schrift Dohms und seine Interventionen in die folgende Debatte halfen, die Grundlage zu legen für die europaweiten Diskussionen über die rechtliche und politische Emanzipation der Juden. Seine politische Theorie, die auf einer strikten naturrechtlichen Trennung von Staat und Religion basierte, nahm eine Argumentation vorweg, die sich dann bei jüdischen Liberalen wie Riesser im Vormärz in Reinform finden lässt: die Emanzipation der Juden als Menschenrecht. Lasker und Bamberger erlebten die Vollendung der Emanzipation im Kaiserreich – einem Staat, dessen politische, rechtliche und wirtschaftliche Grundlagen sie an so entscheidender Stelle mitformten, wie vor und nach ihnen kaum ein deutscher Jude. Erst mit dem Ausbruch des 1. Weltkriegs kamen Juden wie Rathenau wieder in wichtige Funktionen. Mit dem Kriegsende und der Revolutionsphase begann die zweite Hochphase jüdischer Politiker und Politikerinnen, die bis in die ersten Jahre der Weimarer Republik mithalfen, wichtige Grundlagen der Demokratie zu legen. Obwohl sich einzelne exponierte Juden hierbei in radikalen politischen Experimenten wie der Münchner Räterepublik hervortaten, darf nicht vergessen werden, dass die Mehrheit der Juden politisch gemäßigt eingestellt war. Auch die politische Kultur der Bundesrepublik wurde von Zentralratsvorsitzenden wie Galinski oder Bubis mitgeprägt, indem sie immer wieder die – politikgeschichtlich durchaus neuartige – Bedeutung der Erinnerung an die NS-Vernichtungspolitik und den Holocaust für politisches Handeln hervorhoben. Nicht weniger als die ebenso vielfältigen kulturellen, literarischen und wissenschaftlichen Errungenschaften der deutschen Juden, die nicht Thema dieses Buches waren, neideten ihre Feinde ihnen ihre politischen Leistungen. Es ist wohl kein historischer
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Zufall, dass auf die Hochphasen des politischen Aktivismus von Juden – im frühen Kaiserreich und im Übergang zur Weimarer Republik – jeweils eine Intensivierung der antisemitischen Ausgrenzung folgte: das Aufkommen des modernen Antisemitismus in den späten 1870er-Jahren und das Erstarken des nationalsozialistischen Antisemitismus gegen Ende der 1920er-Jahre. Zweifelsohne war das politische Handeln von Juden nicht der einzige Grund für diese komplexe Bewegung. Mehr noch: Juden waren, wenn sie ihre politischen Möglichkeiten selbstbewusst nutzten, keineswegs schuld an der politischen Feindschaft ihrer Gegner. Es war der historische Fehler der Antisemiten, politisches Handeln von Juden in Deutschland als unrechtmäßig anzusehen. Die hier präsentierte Politik- und Rechtsgeschichte lässt sich auf diese Frage der Legitimität politischen Handelns zuspitzen. Als Die Woche Ignatz Bubis 1993 als neuen Bundespräsidenten vorschlug, sollte damit ein neues Kapitel in dieser komplexen Geschichte aufgeschlagen werden. Bubis lehnte ab – und er wusste warum. Seine Zweifel sind auch bis zu seinem Tod 1999 nicht zerstreut worden; im Gegenteil, er wurde mit den Jahren immer skeptischer, ob es ihm gelingen würde, Juden und Nichtjuden einander anzunähern und letztlich selber nicht mehr als Fremder in Deutschland behandelt zu werden. Rückblickend auf den bitteren Streit, den er mit dem Schriftsteller Martin Walser (geb. 1927) nach dessen – erinnerungspolitisch äußerst fragwürdiger – Friedenspreis-Rede 1998 ausfechten musste, sah er sein Lebenswerk als gescheitert an. Bubis verfügte daher, dass er nach seinem Tod in Israel begraben werden sollte, weil er nicht wollte, dass sein Grab von antisemitischen Gewalttätern in die Luft gesprengt würde, wie dies mit der letzten Ruhestätte seines Amtsvorgängers Galinski 1998 geschah. Die Frage – kann ein bekennender Jude Staatsoberhaupt der Deutschen werden? – lässt sich gleichwohl nicht darauf reduzieren, ob die Deutschen aus ihrer NS-Vergangenheit gelernt haben und angemessen an sie erinnern – eine Frage, die mit der WalserBubis-Debatte ein weiteres Mal auf die Tagesordnung gesetzt wurde. Die Problematik hinter dieser Episode geht darüber hinaus
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und ist grundlegender, denn sie betrifft den Kern unserer heutigen multiethnischen und multireligiösen Gesellschaft: Wer ist Teil eines politischen Gemeinwesens oder darf es unter welchen Bedingungen werden? Worauf gründet sich dieses Gemeinwesen und wie organisiert es politische Meinungsbildungsprozesse? Wie verleiht es Macht an wen? Welche Gruppen repräsentieren das Allgemeinwohl und welche werden als Mitglieder einer partikularen Gruppe an den Rand des politischen Kollektivs verwiesen? Mithin: Wer darf das Gemeinwesen legitimer Weise vertreten und wer nicht? Die deutschen Juden wussten stets um die Brisanz dieser Fragen: Selbst in der stabilen Phase der Weimarer Republik, als sie nahezu alle Freiheiten und Möglichkeiten eines demokratischen Staatswesens genossen, nahm ihre Zahl in hohen Staats- und Politikämtern eher ab, auch weil die liberalen Parteien, die Juden aufzustellen bereit waren, schwächer wurden. Die deutschen Juden wurden von ihren Gegnern – und dies längst nicht nur von den offenen Antisemiten – immer wieder mit der Frage ihrer Legitimität als Akteure im politischen Prozess konfrontiert. Antisemiten verschiedenster Couleur und Radikalität liefen dagegen viel seltener Gefahr, mit ihren aggressiven Ansichten ihre politischen Ansprüche zu verwirken. Aus einer verfassungsrechtlichen Perspektive hätte die Legitimität der Juden, in der Weimarer Republik Politik mit zu gestalten, eigentlich nicht in Frage gestellt werden dürfen. Natürlich waren Juden in dieser Demokratie gleichberechtigte Mitglieder des politischen Systems – mit allen Rechten und Pflichten. Die Politikgeschichte muss jedoch konstatieren, dass die politische Wirklichkeit schon vor 1933 teilweise anders aussah. Ignatz Bubis kam für sich noch 1998 zu dem Schluss, dass es nicht immer klug ist, ein Recht, das die Verfassung den Juden in der gegenwärtigen »Berliner Republik« verbrieft, auch in Anspruch zu nehmen. Manche werden daraus einen pragmatischen Schluss ziehen: Minderheiten wie die Juden kommen an ihre Grenzen, die allgemeine Politik mitzugestalten, wenn dagegen große Teile der Bevölkerung Einspruch erheben, so berechtigt ihre Position auch
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sein mag. Dahinter verbirgt sich oft eine Art organisches Verständnis von politischer Legitimität: Politische Gemeinwesen setzen einen bestimmten Grad an Homogenität in sprachlicher, religiöser, ethnischer, sozialer und kultureller Hinsicht voraus, um funktionieren zu können. Diese Meinung ist in Deutschland bis heute weit verbreitet, auch wenn sie nur noch selten in rassischethnischer Terminologie ausgedrückt wird. In den Debatten über jüdische, muslimische, arabische, türkische, vietnamesische etc. Deutsche, die in die Politik dieses Landes streben, werden andere, freundlicher klingende Umschreibungen benutzt, die jedoch immer Zweifel aufwerfen, ob diese Personen das Recht haben, als und für ›Deutsche‹ Politik zu machen. Diese Politiker und Politikerinnen bekommen regelmäßig den »Hass der braven Bürger« zu spüren.1 Zu einer funktionierenden Demokratie gehört gleichwohl die Vielfalt der Meinungen und Standpunkte. Totaler Konsens, komplette Homogenität kann nur in einer Diktatur angestrebt werden – und bleibt auch dort zumeist unerreicht. Ein konfliktorientiertes Verständnis von politischer Legitimität müsste es also demgegenüber begrüßen, wenn das Gemeinwesen vielschichtig aufgebaut ist und den Ausgleich einer Vielzahl von Überzeugungen organisieren kann. Die oft geschmähten Ideen des Multikulturalismus haben diesen Gedanken formuliert: Vielfalt ist in komplexen Gesellschaften ein Vorteil. Die deutsch-jüdische Geschichte allgemein und ihre Politikund Rechtsgeschichte im Besonderen verdeutlichen, wie viel Innovationskraft in einer vielschichtigen Gesellschaft stecken kann: Die deutschen Juden haben ihre gesellschaftliche Minderheitenposition immer wieder genutzt, um besondere kulturelle, literarische und wissenschaftliche Kreativität zu entwickeln. Sie haben dabei nicht selten der Mehrheitsgesellschaft einen Spiegel vorgehalten, in dem diese sich kritisch reflektiert sah. Auch auf politischem Gebiet gab es dieses kritische Reflexionspotential, wie etwa an der politischen Theorie Mendelssohns, den jüdischen Vertei1
Süddeutsche Zeitung vom 29./30. Juni 2013, S. 8.
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digungsschriften gegen den Antisemitismus oder den erinnerungspolitischen Interventionen Bubis abzulesen ist. Innovationen lassen sich an der Politik- und Rechtsgeschichte der deutschen Juden ebenfalls zeigen: Erinnert sei neben Lasker und Bamberger an die verfassungsrechtliche Leistung Hugo Preuß’. Ob spezifische Diskriminierungserfahrungen besonders Juden, historisch gesehen, für politische Innovationen im sozialistischen, kommunistischen oder anarchistischen Lager prädestinierten, erscheint plausibel, bleibt aber letztlich eine offene Frage. Politische Pragmatiker werden wohl davon ausgehen, dass ein gewisses Maß an beiden Aspekten – Homogenität und Vielfalt, Konsens und Konflikt – für ein langfristig funktionierendes und breit legitimiertes Politiksystem unerlässlich ist. Der Streit darüber, welche Art und welcher Grad von Homogenität dabei gemeint ist und wie viel Konfliktpotential eine Gesellschaft sich leisten muss, wird weitergehen. Es ist keine Prophetie, wenn man darin eine Grundfrage für unser komplexer gewordenes Gemeinwesen erkennt, die uns noch lange beschäftigen wird. Für diesen Streit sind noch längst nicht alle Erkenntnispotentiale aus der deutschjüdischen Geschichte genutzt worden. In diesem Sinne liefert die Politik- und Rechtsgeschichte der deutschen Juden wichtige Einsichten, die zugleich aber auch die Gegenüberstellung von Homogenität und Konflikt problematisieren. Um den Juden die Legitimität abzusprechen, am politischen Gemeinwesen gleichberechtigt teilzuhaben, wurden stets zwei Gedankengänge – im- oder explizit – zugrunde gelegt. Die Juden wurden als Fremde gebrandmarkt und als handelnde Einheit verstanden. Wenn also ein Jude – oder, noch bemerkenswerter, ein Protestant oder Katholik jüdischer Herkunft – ein politisches Amt erhielt, artikulierten viele nichtjüdische Zeitgenossen offenkundig Zweifel, ob er nicht einem anderen politischen Kollektiv angehöre und sich eine Position anmaße, für die nur andere Personen in Frage kämen. Die moderne Geschichtsschreibung zur deutsch-jüdischen Geschichte hat jedoch herausgearbeitet, dass Juden sowohl in ihrer Selbstbeschreibung als auch in der historischen Rückschau nicht viel von Nichtjuden unterschied. Sie wa-
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ren etwas liberaler, etwas bürgerlicher, vielleicht gar etwas moderner und gebildeter als der Rest der Bevölkerung, aber sicherlich nicht undeutsch! Die Fremdheit der Juden stellte eine Zuschreibung der nichtjüdischen Umwelt dar, keine Realitätsbeschreibung, die deshalb auch nicht als Argument für ihren Ausschluss vom politischen Prozess taugte. Die zweite wesentliche Voraussetzung solcher Denkweisen bildete die Annahme, dass Juden ihre – vermeintliche oder reale – Macht einsetzen würden, um ausschließlich jüdische Interessen zu vertreten. Auch dies basierte auf der Vorstellung voneinander getrennter Kollektive, aber es unterstellte den Juden eine Art gemeinsame Handlungsmacht, eine jüdische Konspiration gegen die Nichtjuden. Die augenfälligen innerjüdischen Meinungsverschiedenheiten, die dieses Buch allein für das politische Gebiet rekonstruiert hat, verdeutlichen hingegen, dass die deutschen Juden weit davon entfernt waren, eine politische Idee oder gar eine Gegnerschaft gegen deutsche Nichtjuden zu teilen. Auch sie hingen – z.T. in einem anderen Mischungsverhältnis – den politischen Großideologien ihrer Zeitgenossen an: Liberalismus, Konservatismus, Nationalismus, Sozialismus, Kommunismus. Man wird also auch derartige Ideen jüdischer Einheit ins Reich unhaltbarer Verschwörungstheorien verweisen. Die zentralen Vorwürfe, mit denen Juden im politischen Kollektiv der ›Deutschen‹ immer wieder marginalisiert wurden, sind somit unhaltbar. In einer Zeit, in der sich dieses Kollektiv durch Migrationsprozesse faktisch noch grundlegender gewandelt hat, verdeutlicht nicht zuletzt die deutsch-jüdische Politikgeschichte, wie derartige Ausschlussprozesse funktionieren und wie wirksam sie bis in die Gegenwart sind. Die Erinnerung an die mörderischen Konsequenzen, die diese Prozesse in der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik annahmen, ist als Mahnung bis heute wichtig. Zugleich offenbart diese Geschichte, dass die Probleme, als Jude an der Politik gleichberechtigt teilnehmen zu wollen, auch in demokratischen Systemen existierten und noch immer existieren. Damit verschiebt sich auch das Interesse an antisemitischen Exklusionsmechanismen, die weniger auf das NS-Regime
und den »Zivilisationsbruch« (Dan Diner) des Holocaust hin gelesen werden, sondern ihr Erkenntnispotential für die gegenwärtigen Probleme und Chancen der Migrationsgesellschaft entfalten. Ob ein Jude – oder ein Mitglied einer anderen Minderheit im politischen Kollektiv der Bundesrepublik Deutschland – Bundespräsident werden kann, bleibt eine offene Anfrage an unser Politikverständnis und unser Gemeinwesen.
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Personenregister Adenauer, Konrad, 179, 181, 182 Adler, Max, 127 Altmaier, Jakob, 177 Arnim, Achim von, 38 Arnold, Eduard, 69, 108, 115, 124 Ascher, Saul, 39 Auerbach, Berthold, 54 Auerbach, Philipp, 169, 176-177 Auerbach, Walter, 177 Aufhäuser, Siegfried, 123 Baeck, Leo, 147, 156, 161 Balfour, Arthur James, 111, 134 Ballin, Albert, 69, 108 Bamberger, Ludwig, 13, 52, 56, 65, 69, 70, 76, 78, 80, 81, 198, 202 Barkai, Avraham, 91, 153 Bar Kochba, 104 Barth, Theodor, 84 Bauer, Fritz, 182 Baur, Erwin, 129 Beer-Hofmann, Richard, 95, 131 Ben-Gurion, David, 167 Bernhard, Georg, 72 Bernstein, Eduard, 47, 63, 67, 107, 116 Bismarck, Otto von, 55-56, 59, 63, 65, 69, 76, 77, 78-79 Blachstein, Peter, 177 Bleichröder, Gerson, 65, 69, 97 Bloch, Ernst, 170 Bloch, Joseph, 107, 127 Blumenfeld, Kurt, 96, 134 Bodenheimer, Max I., 93 Böckel, Otto, 81 Boenisch, Peter, 189 Börne, Ludwig, 44 Bonn, Moritz Julius, 124 Brandt, Willy, 183 Brentano, Clemens, 38 Breslau, Mendel, 26 Breßlau, Harry, 78 Broder, Henryk M., 184, 185, 187 Bronfman, Edgar, 173 Brüning, Heinrich, 139
Brumlik, Micha, 184, 185 Buber, Martin, 95, 131 Bubis, Ignatz, 7-10, 187, 198, 199, 200, 202 Bülow, Bernhard von, 64, 90 Cahn, Wilhelm, 69 Chamberlain, Houston Stewart, 82 Cohen, Hermann, 78 Cohen-Reuß, Max, 107, 114 Cohn-Bendit, Daniel, 184 Cranz, August, 28 Crémieux, Adolphe, 96 Davidsohn, Georg, 71 Davidsohn, Robert, 71 Dernburg, Bernhard, 115 Diderot, Denis, 24 Diner, Dan, 184, 185, 204 Dinter, Arthur, 129 Dohm, Christian Wilhelm, 24-25, 28, 30, 31, 33, 197, 198 Dreyfus, Alfred, 92 Ehrlich, Paul, 105 Eichmann, Adolf, 157, 182-183 Einstein, Albert, 124 Eisner, Kurt, 72, 114, 115, 117 Elb, Max, 102 Ellstätter, Moritz, 68 Enoch, Samuel, 42 Epstein, Curt, 169 Erzberger, Matthias, 109 Euchel, Isaac, 26 Eynern, Ernst von, 83-84 Fabian, Hans-Erich, 171 Falkenberg, Bertha, 135 Fassbinder, Rainer Werner, 187 Fehrenbach, Konstantin, 126 Fichte, Johann Gottlieb, 38 Filbinger, Hans, 187 Fischer, Eugen, 129 Fischhof, Adolf, 52 Förster, Bernhard, 78 Fränkel, David, 40 Frank, Hans, 157, 158
212
Personenregister
Frank, Ludwig, 106-107 Frantz, Constantin, 76 Frei, Norbert, 175 Frenkel, Hermann, 117 Freund, Ismar, 132 Freytag, Gustav, 84 Friedberg, Heinrich von, 69 Friedenthal, Carl Rudolph, 65, 68 Friedländer, David, 30-31, 48 Friedländer, Samuel Wulff, 48 Friedländer, Saul, 139 Friedman, Michel, 187 Friedmann, Adolf, 93 Friedrich II., 17, 35 Friedrich Wilhelm III., 36 Fries, Jacob, 39, 42 Fritsch, Theodor, 82, 108 Fuchs, Eugen, 87, 90 Fürst, Julius, 42 Fürstenberg, Carl, 69, 124 Fulda, Ludwig, 105 Funkenstein, Amos, 27 Galinski, Heinz, 171, 176, 184, 198, 199 Glagau, Otto, 76 Globke, Hans, 182 Gneist, Rudolf von, 83 Gobineau, Arthur J. de, 82 Goldschmidt, Henriette, 99 Goslar, Hans, 72, 119 Gottschalk, Andreas, 47 Gradnauer, Georg, 114 Graetz, Heinrich, 78 Güdemann, Moritz, 94 Haas, Ludwig, 66, 68, 118 Haase, Hugo, 107, 114, 115 Haber, Fritz, 105 Habermas, Jürgen, 190 Hagen, Louis, 115 Hamburger, Ernst, 119 Harrison, Early G., 165 Heilmann, Ernst, 126 Heine, Heinrich, 44 Henrici, Ernst, 78 Henschel, Moritz, 161 Herzl, Theodor, 92-93 Hess, Moses, 47, 91 Heydrich, Reinhard, 158 Heym, Stefan, 170
Heymann, Stefan, 127 Hilferding, Rudolf, 72, 118, 126, 127 Himmler, Heinrich, 158 Hindenburg, Paul von, 139, 141, 149 Hirsch, Julius, 108 Hirsch, Max, 65 Hirsch, Otto, 147 Hirsch, Paul, 114 Hirsch, Samson Raphael, 42 Hitler, Adolf, 139, 140, 141, 158 Hoffmann, David, 135 Hoffmann, Karl-Heinz, 188 Honecker, Erich, 173 Horwitz, Maximilian, 87, 90 Hugenberg, Alfred, 125 Humboldt, Wilhelm von, 35-36 Itzig, Isaak Daniel, 30 Jacoby, Johann, 43-44, 52, 56, 57, 59, 65 Jahn, Friedrich Ludwig, 104 Jellinek, Camilla, 101 Joël, Curt, 118 Jörges, Hans-Ulrich, 7 Jogiches, Leo, 115, 126 Josel von Rosheim, 19 Joseph II., 33-34, 37 Jünger, Ernst, 130 Jünger, Friedrich Georg, 130 Kaliski, Julius, 114 Kant, Immanuel, 24 Kaplan, Marion, 99 Kapp, Wolfgang, 122 Karl Alexander, 20 Kauders, Anthony, 186 Kaulla, Rudolf, 121 Kautsky, Karl, 107 Kayser, Max, 65 Kershaw, Ian, 158 Ketteler, Wilhelm von, 62 Kirchner, Peter, 173 Klages, Ludwig, 130 Kleist, Heinrich von, 38 Klemperer, Victor, 152, 169 Koch-Weser, Erich, 118 Kohl, Helmut, 7, 189-190 Krone, Heinrich, 126 Kugelmann, Cilly, 184 Laband, Paul, 105 Landauer, Gustav, 72, 110, 114, 115
Personenregister Landmann, Ludwig, 119 Landsberg, Otto, 84, 114 Lang, Michel R., 187 Langbehn, Hermann, 83 Lange, Helene, 101 Lasker, Eduard, 65, 69, 70, 76, 80, 198, 202 Lasker-Schüler, Else, 131 Lassalle, Ferdinand, 47 Lavater, Johann Caspar, 28 Lazarus, Moritz, 78, 80 Lehmann, Marcus, 42 Lenz, Fritz, 129 Lessing, Gotthold Ephraim, 24, 28 Lessing, Theodor, 72 Levi, Paul, 126, 127 Levin, Shlomo, 188 Leviné, Eugen, 114, 115 Levy-Rathenau, Josephine, 101 Liebermann, Max, 105 Liebermann von Sonnenberg, Max, 78 Liebknecht, Karl, 117 Lissauer, Ernst, 106 Löwe, Ludwig, 81 Löwenfeld, Raphael, 86, 87, 88 Löwenstein, Leo, 134 Ludendorff, Erich, 109 Luxemburg, Rosa, 72, 107, 110, 114, 115, 126, 127 Mann, Heinrich, 84 Maria Theresia, 20 Marr, Wilhelm, 78 Marx, Karl, 47 Marx, Karl, 167, 176, 179 Marx, Wilhelm, 126 Max von Baden, 115 McCloy, John, 178, 196 Melchior, Carl, 108, 120 Mendelsohn, Martin, 87 Mendelssohn, Moses, 24, 27-30, 31, 198, 201 Merker, Paul, 171 Meyer, Franz, 149 Meyer, Julius, 171, 172 Michaelis, Johann David, 25 Mommsen, Hans, 158 Mommsen, Theodor, 79, 84 Montefiore, Claude, 96
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Mosse, Rudolf, 71, 110, 124 Mosse, Werner, 108 Mühsam, Erich, 72, 114 Mugdan, Otto, 67 Nachmann, Werner, 184, 185, 186, 187 Napoleon Bonaparte, 34, 35, 36, 38, 49 Nathan, Paul, 96 Naumann, Max, 122, 133-134 Neuberger, Josef, 177 Niekisch, Ernst, 130 Nolte, Ernst, 190 Nordau, Max, 104 Oberländer, Theodor, 182 Ohrenstein, Aaron, 167 Oppenheim, Dagobert, 47 Oppenheim, Heinrich Bernhard, 56, 65, 78 Oppenheimer, Franz, 109 Oppenheimer, Joseph Süß, 20 Ossietzky, Carl von, 127 Papen, Franz von, 139 Pappenheim, Bertha, 101 Petersen, Carl, 119 Philippson, Ludwig, 42 Pieck, Wilhelm, 172 Pinner, Felix, 110 Pinsker, Leo, 91 Poeschke, Frida, 188 Preuß, Hugo, 114, 124, 202 Prinz, Joachim, 145 Quaatz, Reinhold, 125 Radek, Karl, 72 Rathenau, Emil, 69 Rathenau, Walther, 10, 69, 108, 115, 118, 124, 130, 198 Reagan, Ronald, 189 Reinhard, Max, 105 Rickert, Heinrich, 84 Ries, Alfred, 177 Riesser, Gabriel, 42, 43-44, 46, 51, 52, 56, 57, 70, 198 Riesser, Jakob, 70, 125 Rosenfeld, Kurt, 114, 127 Rosensaft, Josef, 168 Rosenzweig, Franz, 131 Roth, Alfred, 108 Rühs, Friedrich, 38, 42 Salomon, Alice, 101-102
214
Personenregister
Sandler, Aron, 93 Savigny, Carl von, 38 Schäffer, Hans, 119 Scheidemann, Philipp, 113, 114 Schiffer, Eugen, 114 Schleicher, Kurt von, 139 Schmidt, Karlheinz, 8 Schmitt, Carl, 130 Schönewald, Ottilie, 99 Scholem, Gershom, 131 Scholz, Karl, 8 Schwerin, Jeanette, 101 Segall, Jakob, 109 Seghers, Anna, 170 Seligsohn, Julius, 147 Simon, August Heinrich, 52 Simon, Hugo, 114 Simon, James, 69 Simson, Eduard, 51, 52 Singer, Paul, 66, 67 Slánský, Rudolf, 171 Sonnemann, Leopold, 56, 71, 124 Sorkin, David, 16, 41 Stahl, Friedrich Julius, 48, 51 Stalin, Josef, 127 Stinnes, Hugo, 115 Stoecker, Adolf, 77, 78, 81 Stresemann, Gustav, 125 Strousberg, Bethel Henry, 65 Süßkind, Heinrich, 127 Thälmann, Ernst, 127 Thalheimer, August, 126, 127 Tietz, Hermann, 124 Tietz, Ludwig, 133 Toller, Ernst, 114 Treitschke, Heinrich von, 78-79, 80
Toury, Jacob, 57 Ullstein, Leopold, 71, 124 van Dam, Hendrik George, 176, 184 Veit, Moritz, 56 Veit, Salomon, 48 Volkov, Shulamit, 71, 83 Voltaire, 24 Wagner-Tauber, Lina, 135 Waldstein, Felix David, 66 Walser, Martin, 199 Warburg, Max M., 69, 115, 120, 125 Weichmann, Herbert, 119 Weil, Bruno, 141 Weiß, Bernhard, 124 Weizmann, Chaim, 91 Weizsäcker, Richard von, 7 Weltlinger, Siegmund, 169, 177 Wertheimer, Wolf, 20 Wessely, Naphtali Herz, 26 Westphal, P., 82 Wiesel, Elie, 191 Wilhelm I., 77 Wilhelm II., 63, 70, 84, 85, 105 Wimmer, Willy, 7 Windhorst, Ludwig, 83 Wirth, Joseph, 126 Wolf, Joseph, 40 Wolff, Jeanette, 177 Wolff, Theodor, 72, 110, 122, 124 Wollheim, Norbert, 168, 176 Wurm, Emanuel, 114 Zehrer, Hans, 130 Zöllner, Friedrich, 78 Zuckermann, Leo, 172 Zweig, Arnold, 170