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German Pages 267 [277] Year 2013
Pedro Villas Bôas Castelo Branco Die unvollendete Säkularisierung
Staatsdiskurse Herausgegeben von Rüdiger Voigt Band 25
Wissenschaftlicher Beirat: Andreas Anter, Leipzig Paula Diehl, Berlin Manuel Knoll, Istanbul Eun-Jeung Lee, Berlin Marcus Llanque, Augsburg Samuel Salzborn, Göttingen Birgit Sauer, Wien Gary S. Schaal, Hamburg Peter Schröder, London
Pedro Villas Bôas Castelo Branco
Die unvollendete Säkularisierung Politik und Recht im Denken Carl Schmitts
Franz Steiner Verlag
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-10342-8 Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2013 Übersetzung: Markus Hedinger Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Druck: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Printed in Germany
EDITORIAL Der Staat des 21. Jahrhunderts steht in einem Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Freiheit, zwischen Ordnung und Veränderung, zwischen Herrschaft und Demokratie. Er befindet sich zudem in einem Dilemma. Internationale Transaktionen reduzieren seine Souveränität nach außen, gesellschaftliche Partikularinteressen schränken seine Handlungsfähigkeit im Innern ein. Anliegen der Reihe Staatsdiskurse ist es, die Entwicklung des Staates zu beobachten und sein Verhältnis zu Recht, Macht und Politik zu analysieren. Hat der Staat angesichts der mit „Globalisierung“ bezeichneten Phänomene, im Hinblick auf die angestrebte europäische Integration und vor dem Hintergrund einer Parteipolitisierung des Staatsapparates ausgedient? Der Staat ist einerseits „arbeitender Staat“ (Lorenz von Stein), andererseits verkörpert er als „Idee“ (Hegel) die Gemeinschaft eines Staatsvolkes. Ohne ein Mindestmaß an kollektiver Identität lassen sich die Herausforderungen einer entgrenzten Welt nicht bewältigen. Hierzu bedarf es eines Staates, der als „organisierte Entscheidungs- und Wirkeinheit“ (Heller) Freiheit, Solidarität und Demokratie durch seine Rechtsordnung gewährleistet. Gefragt ist darüber hinaus die Republik, bestehend aus selbstbewussten Republikanern, die den Staat zu ihrer eigenen Angelegenheit machen. Der Staat seinerseits ist aufgefordert, seinen Bürgerinnen und Bürgern eine politische Partizipation zu ermöglichen, die den Namen verdient. Dies kann – idealtypisch – in der Form der „deliberativen Politik“ (Habermas), als Einbeziehung der Zivilgesellschaft in den Staat (Gramsci) oder als Gründung der Gemeinschaft auf die Gleichheit zwischen ihren Mitgliedern (Rancière) geschehen. Leitidee der Reihe Staatsdiskurse ist eine integrative Staatswissenschaft, die einem interdisziplinären Selbstverständnis folgt; sie verbindet politikwissenschaftliche, rechtswissenschaftliche, soziologische und philosophische Perspektiven. Dabei geht es um eine Analyse des Staates in allen seinen Facetten und Emanationen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des In- und Auslands sind zu einem offenen Diskurs aufgefordert und zur Veröffentlichung ihrer Ergebnisse in dieser Reihe eingeladen.
Rüdiger Voigt
INHALT DANKSAGUNG .............................................................................................. 3 EINLEITUNG .................................................................................................. 5 1. GESETZ UND URTEIL ............................................................................ 15 1.1 Entscheidung: Bestimmung des Rechts versus Vorherbestimmung des Rechts ............................................................................................ 19 1.2 Norma coelitus hausta versus juristische Praxis .................................. 25 1.3 Theorie und Praxis ............................................................................... 32 1.4. Dogmen, Fiktionen, Interpretationsmethoden .................................... 36 1.5. Die Sakralisierung des Gesetzes und ihr Verfahren der Unsichtbarkeit ..................................................................................... 43 1.6. Die Freirechtsschule ............................................................................ 52 1.7. Die Entstehung des Entscheidungsbegriffes ....................................... 58 1.8. Silete Theologi! (Theologen, schweigt!) ............................................ 77 2. DER WERT DES STAATES UND DIE SÄKULARISIERUNG ............. 79 2.1. Mitteln und Vermitteln........................................................................ 79 2.2. Die Triade der Staatsphilosophie ........................................................ 80 2.3. Individuum und Kontingenz ............................................................... 83 2.4. Die Rolle des Individuums im Staat: Stirb und werde ........................ 92 2.5. Recht und Macht ............................................................................... 108 2.6. Territorium, Staat und Kirche ........................................................... 137 2.7. Entscheidung als Mittler: Dialektik der Rechtsverwirklichung ........ 153 3. DIE SÄKULARISIERUNG DES BEGRIFFS DES POLITISCHEN ...... 171 3.1. Säkularisierte theologische Begriffe in Frage gestellt ...................... 174 3.2. Säkularisierung: Übertragung oder Umbesetzung? .......................... 180 3.3. Die unvollendete Säkularisierung ..................................................... 194 3.4. Die Säkularisierung des Politischen .................................................. 195 3.5. Der Intensitätsgrad des Politischen ................................................... 200 3.6. Das Politische als Voraussetzung des Staates ................................... 217 3.7. Anthropologie, Singularität und Wiederkehr .................................... 226 3.9. Das Politische als Säkularisierung der theologischen Begriffe......... 239
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Inhalt
SCHLUSS ..................................................................................................... 253 LITERATUR ................................................................................................ 259
DANKSAGUNG Während der Niederschrift dieser Arbeit durfte ich auf die Unterstützung des IESP (Instituto de Estudos Sociais e Políticos), der CAPES (Coordenação de Aperfeiçoamento de Pessoal de Nível Superior) und des DAAD (Deutscher Akademischer Austauschdienst) zählen. Die Übersetzung dieses Buches ins Deutsche wurde ermöglicht durch das INEAC (Instituto de Estudos Comparados em Administração de Conflitos). Dass diese Übersetzung überhaupt entstand, verdankt sich der Unterstützung und dem Interesse von Prof. Dr. Rüdiger Voigt, dem ich dafür meinen aufrichtigen Dank ausspreche. Ich danke Prof. Dr. Stella Amorim, Prof. Dr. Roberto Kant de Lima und Prof. Dr. Marcelo Jasmin für ihre Hilfe und Unterstützung bei der Erstellung dieser Arbeit und Markus A. Hediger für die Übersetzung. Mein Dank geht auch an Nina, Lucas, Glaucia und Lúcio für die Liebe und Kraft, mit der sie diese Arbeit begleitet haben.
EINLEITUNG Carl Schmitt (1888–1985) gehört zur Kategorie der „verfluchten“ Autoren. Nicht zufällig wurde er als Thomas Hobbes des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Doch insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg gerieten seine Arbeiten in Vergessenheit. Erst ab den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurden seine Ideen in Deutschland hauptsächlich durch Intellektuelle der Linken nach und nach wieder aufgegriffen.1 Seither nimmt das Interesse an seinem Leben und Werk immer weiter zu. Seine Ideen rufen sowohl Zustimmung als auch Ablehnung hervor und schaffen unter den Gelehrten sowohl Freundschaften als auch Feindschaften. Der radikale Stil und die Tendenz, die politischen Bedingungen der Möglichkeit einer juristischen Ordnung bis zur letzten Konsequenz durchzudenken, führten bisweilen zu apokalyptischen Vorstellungen der Wirklichkeit.2 Gleichzeitig jedoch offenbart sein Geschick in der begrifflichen Ausarbeitung, die immer in den konkreten Umständen der Ereignisse wurzelt, eine enorme Fähigkeit, die Kontingenzen und Risse der politischen Krisen zu denken. Im Mai des Jahres 1933 trat Schmitt in die NSDAP mit dem Anspruch ein, in den Rang des wichtigsten Juristen des Dritten Reiches aufzusteigen, was ihm bald den Vorwurf des Opportunismus einbrachte.3 Am 11. Juli desselben Jahres wurde er vom preußischen Ministerpräsidenten Herman Göring zum Preußischen Staatsrat ernannt.4 Nach seiner Ernennung beginnt der Jurist, verachtenswerte Haltungen zu vertreten und seine Ideen und Schriften im Sinne des Dritten Reiches anzupassen. Unter den bedauerlichen Schriften, die das Regime zu rechtfertigen suchen, befinden sich Staat, Bewegung und Volk und Der Führer schützt das Recht aus den Jahren 1933 und 1934. Am 10. Dezember war Schmitt „jedoch durch das ‚Schwarze Korps‘ scharf angegriffen worden, und solche Attacken waren schon damals lebensgefährlich“.5 Offenbar wäre Schmitt, hätte Göring sich nicht für ihn eingesetzt, von der SS hingerichtet worden. Günther Maschke nennt einige der Sünden von Carl Schmitt, die ihn zur Zielscheibe der SS machten und auch bewusst verbreitet wurden: „Schmitts tatsächliche Ansichten über die NS-Bewegung oder über die Rassentheorien ebenso wie seine enge Bindung an den Katholizismus oder seine früheren Freundschaft mit Juden und Marxisten.“6 Den Akten des Schwarzen Korps zufolge sah man den Juristen als politische und theoretische Gefahr für den Nationalsozialismus. Der Inhalt seiner Arbeiten wich nicht nur von der nationalsozialistischen Ideologie ab, man konnte darin so1 2 3 4 5 6
Becker 2003, S. 13. Stolleis 2002, S. 102. Noack 1996, S. 184–187. Noack 1996, S. 188. Maschke 2003, S. 184. Maschke 2003, S. 185f.
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Einleitung
gar Warnungen vor der nationalsozialistischen Gefahr finden. Tatsächlich erkannte Schmitt sowohl in der bolschewistischen Bewegung als auch im Nationalsozialismus eine Bedrohung für die Weimarer Republik (1919–1933). In der 1932 veröffentlichten Schrift Legalität und Legitimität bezeichnete der Autor den „Faschismus und Bolschewismus“ als politische Feinde und wies auf die „Illegalität der Organisation der nationalsozialistischen Bewegung“ hin und erachtete „Versammlungsverbote gegen extreme Parteien“ als notwendig.7 Man sollte sich stets vor Augen halten, dass Schmitts opportunistische Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus weder seine Haltungen noch den Inhalt seiner Arbeiten während dem Dritten Reich abschwächt oder entschuldigt. Die in einigen der von 1933 bis mindestens 1936 publizierten Schriften dargelegten Meinungen verwandelten sich in eine blinde Apologie der nationalsozialistischen Ideen. Die Rezeption von Schmitt in Deutschland teilte sich und teilt sich noch immer in eine Mehrheit, die ihn endgültig verurteilt, und in jene, die ihn von unentschuldbaren Haltungen freizusprechen versuchen. Meines Erachtens sollten die von Schmitt dargelegten politischen und rechtlichen Themen weder unter dem Einfluss der Ablehnung, noch einer Faszination, die sein Denken ausübt, untersucht werden. Deshalb versuche ich – sine ira et studio – in meiner Analyse einiger seiner Argumente eine angemessene Distanz zu wahren und untersuche – ausgehend von einer Auswahl seiner Schriften – die verschiedenen Bedeutungen des Säkularisierungsbegriffs. Meine Ausgangsthese ist, dass der Säkularisierungsbegriff eine unverzichtbare Voraussetzung für das Verständnis einiger der wichtigsten Themen darstellt, denen Schmitt sich in seinen Schriften widmet – wie z.B. der Entscheidung, der Bedeutung des Staates und des Individuums und der Kriterien des Politischen. Da der Säkularisierungsbegriff in Schmitts Denken eine epistemologisch wichtige Rolle einnimmt, ist ein Verstehen dieses Begriffs unabdingbare Bedingung, wenn man begreifen will, wie der Autor auch andere Begriffe wie den Dezisionismus, den Ausnahmezustand, die Vermittlung und die Souveränität entwickelt. Die Untersuchung der der Säkularisierung zugrundeliegenden Bedeutungen ermöglicht es aufzuzeigen, wie einige zentrale Begriffe der Rationalität des modernen Denkens von Staats- und Rechtstheorien ein metaphysisches Fundament aufweisen. Ausgehend von Schmitts Interpretation der Säkularisierung hoffe ich zum Verständnis der Privatisierung der politischen Erfahrung in der Moderne beitragen und erklären zu können, wie die normative und empirische Rationalität des rechtlichen Positivismus – die Rechtstheorie des Liberalismus – eine Entpolitisierung der zentralen Begriffe der Theorie des modernen Staates bewirkt. Der Säkularisierungsbegriff weist eine beachtliche semantische Breite auf und offenbart unter anderem ein hermeneutisches Kriterium, das imstande ist, eine Kontinuität zwischen Moderne und christlicher Tradition offenzulegen. Diese Bedeutung stellt sich dem aufklärerischen Verständnis der Säkularisierung entgegen, demzufolge die Moderne sich von einer von der christlichen Tradition geprägten Erfahrung emanzipiert habe. 7
Schmitt 1998b, S. 47f.
Einleitung
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Der Fortschritt der universellen und autonomen Vernunft der Aufklärung des 18. Jahrhunderts habe die traditionellen Verhältnisse aufgehoben und die Unabhängigkeit einer zeitlichen Sphäre verwirklicht. Unter diesem Blickwinkel fänden die juristischen und politischen Begriffe des modernen Staates ihr rationales Fundament in der moralischen Vervollkommnung und im Fortschritt der historischen Entwicklung. Die Verwendung des Säkularisierungsbegriffs ist umstritten, da er auch zur Anwendung kommt, um die Diskontinuität der Moderne und konsequenterweise des Fundaments der juristischen Begriffe, die im modernen Staat in Erscheinung treten, zu legitimieren. Hans Blumenberg kann als Vertreter jener Strömung angesehen werden, die – ausgehend vom Begriff der Selbstbehauptung – die Autonomie des modernen Denkens verteidigt. In seinem Buch Legitimität der Neuzeit (1966) weist er auf diesen Aspekt hin, indem er die These der Moderne als Säkularisierungsprozess hinterfragt. Auch über die Rolle der Säkularisierung als Übertragung von Inhalten und Prinzipien aus der theologischen in die säkulare Sphäre, macht er sich Gedanken. Obwohl Blumenberg sich in seiner Studie Legitimität der Neuzeit auch gegen den von Schmitt in seiner Schrift Politische Theologie formulierten Säkularisierungsbegriff wendet, so zielt er doch hauptsächlich gegen die These, die Karl Löwith in seiner Studie Meaning in History 1949 erstmals veröffentlichte. Löwith schrieb: „the moderns elaborate a philosophy of history by secularizing theological principles and applying them to an ever increasing number of empirical facts“.8 Blumenberg weist Löwiths Interpretation, wonach die moderne Geschichte in Bezug auf das Verständnis der historischen Veränderungen als konstante Wiederherstellung einer säkularisierten theologischen Substanz eine säkularisierte Version der jüdisch-christlichen Eschatologie sei, als falsch zurück.9 Löwith erwidert, indem er Blumenbergs These der Autonomie der Moderne hinterfragt: „Autonom könnte eine Epoche nur sein, wenn sie wie aus dem Nichts mit sich selbst anfinge und nicht innerhalb und gegen eine geschichtliche Tradition.“10 Die Kontroverse zwischen den beiden Autoren ist für die Entwicklung meiner Arbeit insofern relevant, als der Säkularisierungsbegriff im Licht dieser beiden unterschiedlichen Bedeutungen gedacht werden kann, d.h. sowohl als Kontinuität als auch als Diskontinuität der Moderne. Obwohl Schmitts Säkularisierungsbegriff sich Löwiths Verständnis annähert, da letzterer eine autonome Moderne nicht anerkennt, weist er doch von diesen Autoren abweichende Bedeutungen auf – wie im Folgenden gezeigt werden soll. Tatsächlich ist es so, dass die Analyse der mehrdeutigen Ausdehnung des Säkularisierungsbegriffs und seiner unterschiedslosen Verwendung eine begriffliche Ungenauigkeit und Abnützung offenlegt. In seinem Buch Religion der Gesellschaft von 2002 führt Niklas Luhmann zum Thema Säkularisierung aus:
8 Löwith 1957, S. 19. 9 Blumenberg 1996, S. 37. 10 Löwith 1968, S. 197.
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Einleitung Heute wird dieser Begriff im wissenschaftlichen Schrifttum kaum mehr verwendet. Er gilt als unbrauchbar. Er fasst zu viele heterogene Traditionen in einem Wort zusammen.11
Obwohl Luhmann die semantische Überladung des Begriffs hervorhebt und von seinem Nichtgebrauch spricht, widmet er das achte Kapitel seines Buches eben dieser Säkularisierung und versucht darin eine Inventarisierung der verschiedenen Auffassungen dieses Begriffs. Tatsächlich ist Luhmann bestrebt, der Säkularisierung eine adäquate Behandlung zukommen zu lassen, indem er versucht, sie als Projektion von Absichten – in Auguste Comtes positivistischem Sinn – vorzustellen, ein historisches Konzept, das in den Wirbelwind der Geschichtsphilosophien des 18. Jahrhunderts und der Privatisierung der kirchlichen Güter etc. geriet. Relevant für meine Analyse ist Luhmanns Schlussfolgerung, der zufolge „der Begriff der Säkularisierung (...) nicht zu der Hypothese [führe], Religion habe in der modernen Gesellschaft an Bedeutung verloren“.12 Im Licht von Luhmanns Vorstellungen gehört: Zu den verbreitetesten Bestimmungen des Begriffs der Säkularisierung (…): dass es zur Sache individueller Entscheidung geworden ist, ob man sich überhaupt religiös engagiere, und wenn ja: in welcher Religion. Religion, sagt man, sei damit zur Privatangelegenheit geworden, von der nichts weiter abhänge als eben das private Wohlgefühl. Sie wird zur Religion à la carte.13
Aus Schmitts Perspektive eliminiert der Wandel der Religion in eine Privatsache nicht die Existenz eines metaphysischen Kerns oder den Glauben daran, dass das Private den Platz des Heiligen neu besetzen könne. Die Kultur der individuellen Befriedigung, des Konsums oder der Möglichkeit der Subjektivierung aller möglichen Erfahrungen führt auf das Thema der Säkularisierung zurück und folglich auch auf das Problem der Entleerung von überindividuellen Referenzen, die dem Handeln als Anleitung dienen. Vom Politischen her betrachtet ist es meines Erachtens wichtig, nicht die Privatisierung der kirchlichen Güter zu untersuchen, sondern die Privatisierung der Umwelt, die dem menschlichen Handeln Maß und Richtung bietet. Ich glaube, dass Luhmann Schmitt darin zustimmen würde, dass mit der Entthronung des transzendenten Gottes der antiken Metaphysik die Besetzung einer zentralen Stellung durch ein anderes Subjekt, das in der Lage wäre, eine seinem Vorgänger analoge Funktion auszuüben, nicht ausgeschlossen wird. Die Säkularisierung offenbarte so eine hermeneutische Bedeutung, deren Anwendung die metaphysische Struktur der durch eine absolute Instanz, durch einen letzten Referenzpunkt der Legitimität geschaffenen Wirklichkeit offenlegte. So gesehen wäre jede Epoche in der Lage, ihre Absichten zu projizieren, die sich gemäß der politischen Kämpfe konsolidieren und der Komplexität der Wirklichkeit mittels einer Reduktion der Kontingenz eine Ordnung geben könnten. 11 Luhman 2002, S. 278f. 12 Luhmann 2002, S. 284. 13 Luhmann 2002, S. 289f.
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Schmitt zufolge enthülle die Säkularisierung, vornehmlich ab Beginn des 19. Jahrhunderts, eine eingekapselte, d.h. eine in der Subjektivierung der zentralen Stellung durch das romantische Ich verifizierte Metaphysik. Dort könne ein subjektivierter Okkasionalismus beobachtet werden, eine Form des radikalen Relativismus, da das individuelle Sein der Mittelpunkt sei, um den herum die äußere Wirklichkeit kreise und sich entleere. Das individuelle Subjekt ist nicht mehr Teil der Geschichte, sondern macht Geschichte: Es orientiert sich nicht länger an der in der traditionellen Welt gesammelten Erfahrung, sondern verwandelt die Welt in einen Spielball im Dienste neuer Möglichkeiten für seine Experimente. Die Gelegenheit, in die Wirklichkeit zu interferieren, wird zu einer Angelegenheit der privaten Welt und verliert so seine politische oder transzendente Kraft, da nunmehr das romantische Subjekt die zentrale Stelle einnimmt und aus der Welt und allem, was in ihr geschieht, einen Anlass macht. Dadurch, dass sich die letzte Instanz von Gott weg in das geniale ‚Ich‘ verlegt, ändert sich der ganze Vordergrund und tritt das eigentlich Occasionalistische rein zutage.14
Die Resonanz solcher Besetzungen und Umbesetzungen von zentralen, von der Säkularisierung beschriebenen Stellen offenbart die Unterordnung der Transzendenzvorstellung unter die Immanenzvorstellung. Wenn Auffassungen der Immanenz sich durchsetzen, beschleunigt dies die Produktion von Kontingenz und begünstigt die Ausübung der wirklichkeitsordnenden Funktion durch ein Subjekt der letzten Instanz. Luhmann weist darauf hin, dass der Säkularisierungsbegriff nicht ohne weiteres eliminiert werden kann, denn ständig tauchen in der Gesellschaft andere Formen von Religion auf, welche die ihnen vorausgegangenen ersetzen. So führt er zum Beispiel die Ästhetisierung der Wirklichkeit in der Romantik auf, welche ihre Unfähigkeit der Form, ihren politischen Mangel zur Repräsentation einer transzendenten Idee angesichts der Pluralität individueller Wesen offenlegt. Unfähigkeit der Form bedeutet Unsichtbarkeit und Unvorhersehbarkeit. Für Luhmann wird […] die Funktion der religiösen Symbolisierung […] von der Ästhetik übernommen, zumindest mitgetragen. Zumindest für die Zeit der Romantik kann man Säkularisierung daher auch als „displacement“ auffassen, als Verschiebung religiös getönter Erwartungen in außerreligiöse, in weltliche Bereiche.15
Luhmann kommt zu dem Schluss, dass „man den Begriff Säkularisierung nicht ersatzlos streichen“ kann.16 Anders ausgedrückt: Luhmann argumentiert, dass, solange „religiöse Formen“ ersetzt oder verschoben oder soziale Ideologien projiziert würden, es nicht möglich sei, auf eine Analyse und den sorgfältigeren Gebrauch eines Säkularisierungsbegriffes zu verzichten. Der Luhmannsche Säkularisierungsansatz weist einige Ähnlichkeiten mit Carl Schmitts Säkularisierungsbegriff auf. Beide Autoren scheinen am Erklärungspo14 Schmitt 1998c, S. 19. 15 Luhmann 2002, S. 281. 16 Luhmann 2002, S. 281.
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tential des Begriffs interessiert, um eine bestimmte Haltung oder Stellung, die ein zentrales Subjekt einer bestimmten Epoche gegenüber der Welt einnimmt, zu entschlüsseln. Luhmann verwendet anstelle von „Welt“ den Begriff der „Umwelt“, um auf etwas Überindividuelles, die Umwelt Ordnendes hinzuweisen. Diese Sorge, die beide Autoren zu teilen scheinen, respektiert die Möglichkeit der Pflege einer sozialen Ordnung. Luhmann: Mit dem Säkularisierungsbegriff […] kann man die Antwort auf diese beiden Fragen zusammenfassen. Es handelt sich um eine Beschreibung der anderen Seite der gesellschaftlichen Form der Religion, um die Beschreibung der innergesellschaftlichen Umwelt.17
Sicherlich existiert eine beachtliche Distanz zwischen den Vorstellungen beider Autoren, aber es ist erkennbar, wie Luhmann, ohne Schmitt zu nennen, wichtige Fragen wieder aufgreift, die schon von Löwith, Blumenberg, Koselleck, Hermann Lübbe und Carl Schmitt diskutiert worden waren. Der Schnittpunkt zwischen dem Denken Schmitts und dem Denken Luhmanns findet sich in der Notwendigkeit, die Relationen zwischen Immanenz und Transzendenz bzw. zwischen System und Umwelt zu untersuchen. Meines Erachtens bewegt sich – wie ich zeigen werde – der Säkularisierungsbegriff im Spannungsfeld zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, zwischen Transzendenz und Immanenz und zwischen Persönlichkeit und Unpersönlichkeit. Fürs Erste beschränke ich mich darauf hervorzuheben, dass die Säkularisierung – unter anderen von Schmitt diesem Begriff zugewiesenen Bedeutungen – sich auf ein Problem der Repräsentation bezieht, das mit der Aufklärung und der Romantik in Erscheinung tritt. Das Fehlen einer rigorosen Behandlung des in Frage stehenden Themas könnte zu der naiven Annahme führen, dass alles vom Blickwinkel der Säkularisierung aus begriffen werden könnte. Um diese Frage umfassend zu begreifen, muss untersucht werden, wie die Ebenen der Transzendenz und der Immanenz sich im Verhältnis zwischen Theologie und Politik zueinander verhalten. Das Verständnis der Moderne als Erbe der jüdisch-christlichen Tradition bedingt nicht die Übertragung einer theologischen Substanz auf die säkulare Ebene der Politik. Dieser Vorwurf, den Blumenberg gegenüber Schmitt erhebt, scheint nicht zuzutreffen. Wichtig wäre auch zu wissen, ob die Hypothese der Säkularisierung der theologischen Begriffe des modernen Staates eine Übertragung von Sinn oder eine Umbesetzung von Positionen in Betracht zieht. Ich möchte aufzeigen, dass der Säkularisierungsbegriff, so wie er von Schmitt verwendet wird, sich nicht auf ungefähre Parallelen oder Überschneidungen zwischen dem Theologischen und dem Politischen, zwischen Kirche und Staat, zwischen Moral und Politik, beschränkt. Meine Forschung wurde von einer Reihe von Büchern über die Schriften Carl Schmitts inspiriert. Unter all jenen, die für meine Arbeit wichtig waren, möchte ich insbesondere folgende Studien hervorheben: Carl Schmitt und die politische Theologie von Jürgen Manemann (2002), Carl Schmitt zur Einführung von Reinhard Mehring (2001), Legitimität gegen Legalität von Hasso Hofmann (2002), 17 Luhmann 2002, S. 282.
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Die Lehre Carl Schmitts. Vier Kapitel zur Unterscheidung politischer Theologie und politischer Philosophie von Heinrich Meier (2004), Säkularisierung als Interpretationskategorie. Zur Bedeutung des christlichen Erbes in der modernen Geistesgeschichte von Ulrich Ruh (1980), Transcendenza e Potere. La Teologia Politica di Carl Schmitt von Michele Nicoletti (1990) und Genealogia della politica. Schmitt e la crise del pensiero moderno von Carlo Galli (1996). Kapitel 7 des Buches von Ulrich Ruh widmet sich ausschließlich dem Verständnis von Schmitts Erklärung, wonach alle zentralen Begriffe der Theorie des modernen Staates säkularisierte theologische Begriffe darstellten. Ruh untersucht die verschiedenen Bedeutungen des Säkularisationsbegriffes und geht dabei von der eben erwähnten Aussage Schmitts aus. Dennoch schreibt er: Der Name von Carl Schmitt wäre wohl mit ziemlicher Sicherheit nie in der Diskussion über Begriff und Problem der Säkularisierung aufgetaucht, hätte er nicht 1922 dem dritten Kapitel seiner kleinen Schrift ‚Politische Theologie‘ den programmatischen Satz vorangestellt.“18
Möglicherweise hat Ruh Recht, aber der Autor bezieht in seiner Untersuchung der Bedeutungen des Säkularisierungsbegriffes in verschiedenen Arbeiten Schmitts die erste Verwendung, die der Jurist in seiner Schrift Der Wert des Staates von dem Begriff macht, nicht mit ein. Diese wird im zweiten Kapitel der vorliegenden Arbeit vorgestellt und als unverzichtbar für das Verständnis der von Ruh zitierten Aussage erachtet. Wichtig und wertvoll war für meine Arbeit auch die Lektüre einiger brasilianischer Autoren, die sich mit Carl Schmitt auseinandergesetzt haben. In O risco político (Das politische Risiko) von 2004 untersucht Bernardo Ferreira, wie Schmitt seine rechtlichen und politischen Betrachtungen in Opposition zum Liberalismus ausarbeitet. Die von Schmitt in der Zeit von 1919 bis 1933 verfassten Schriften unterzieht Ferreira einer minutiösen Analyse hinsichtlich der Kritik des Juristen am Liberalismus. Ferreira legt dar, wie der Liberalismus eine polemische Rolle in der Erarbeitung der politischen und juristischen Grundlagen von Carl Schmitts Denken besetzt, und zeigt auf, wie der Liberalismus von einem Blickwinkel aus formuliert wird, der ihn bis zu den letzten Konsequenzen führt und ihm dabei doch erlaubt, seine eigenen Prämissen zu erkennen. Er legt außerdem dar, wie Schmitts theoretische Reflexion im Angesicht eines Feindes, eines Antagonisten Gestalt annimmt, wodurch der Jurist im Falle des Liberalismus befähigt wurde, sein eigenes Bild der politischen Welt zu entwickeln. Diese Arbeit bietet eine sorgfältige Analyse des Liberalismus und zeigt auf, wie Schmitt ihn in ein Symbol, genauer, in eine Metonymie der modernen Zeit verwandelt. Agonia, Aposta e Ceticismo (Agonie, Wette und Skeptizismus) von Renato Lessa aus dem Jahre 2003 analysiert im ersten Kapitel, das sich Schmitts politischem Realismus widmet, die Bedeutung der Ausgestaltung der Wirklichkeit im Denken des deutschen Autors. Lessa diskutiert Themen, die der Schmittschen Reflexion teuer sind, wie z.B. Romantik, Parlamentarismus und Dezisionismus. Der Kern seines Essays liegt jedoch in der Analyse der Bedingungen der politischen 18 Ruh 1980, S. 279.
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Möglichkeit von verschiedenen Auffassungen der Wirklichkeit. Dieserart überprüft er im Licht der Schmittschen Vorstellungen die Art und Weise, in der bestimmte Weltbilder in die Lage versetzt werden, sich einer konkreten Wirklichkeit aufzuzwingen. Seine Untersuchung über die ontologische Struktur der Wirklichkeit des Seins enthüllt, wie sich verschiedene Ontologien des Wirklichen, ausgehend von den vielen Möglichkeiten der Ausgestaltung der sozialen Welt, durchsetzen. Von hier aus wird sichtbar, wie es der Moderne an einem Pathos mangelt, der die Vorstellungen möglicher Wirklichkeiten beschränkt. Die Reduzierung dieser Bilder zu Repräsentationen der Immanenz führt zu einer „ontologischen Versteifung“, die sich der Kreativität und der Wahrnehmung möglicher Welten entgegenstellt. In seinem Buch Constituição e Estado de Exceção Permanente. Atualidade de Weimar (Verfassung und Staat permanenter Ausnahme. Weimars Aktualität) von 2004 untersucht Gilberto Bercovici den Kern der wichtigsten Fragen im Kontext der Krise der Weimarer Republik (1919–1933), welche die Beziehungen zwischen Staat, Recht und Wirtschaft betrafen. Bercovici rekonstruiert die Weimarer Debatten und zeigt, wie der Streit zwischen Ideen und Parteikräften über die Legitimität der beginnenden sozialen Demokratie durch die wirtschaftliche Krise noch verschärft wurde. Bercovici untersucht auch die verfassungsrechtliche Erfahrung jener Zeit, wobei er die Krise als vorausgesetzt ansieht, deren Charakter er als gleichzeitig politisch und wirtschaftlich interpretiert. Die Analyse der Debatten unter dem Blickwinkel der individuellen und sozialen Rechte, die im Weimarer Verfassungstext verankert sind, verbindet zwei Aspekte: die internen verfassungsrechtlichen Spannungen zwischen individuellen und kollektiven Rechten und die politische Positionierung der Parteien und Publizisten. In der Darstellung der Kontroverse zwischen Intellektuellen kommt den von Schmitt eingenommenen Haltungen eine herausragende Stellung zu. So bemerkt Bercovici, dass die Unvereinbarkeit der von der Verfassung eingegangenen sozialen Kompromisse im selben Maße zunahm, wie die wirtschaftliche Krise sich verschärfte, womit auch die politischen Spannungen wuchsen. Darüber hinaus verwendet er die Schmittschen Begriffe des „Ausnahmezustandes“ und des „totalen Staates“, um den Begriff des „wirtschaftlichen Notstandes“ zu formulieren. Von da an arbeitet der Autor auf der Grundlage einer Vorstellung der wirtschaftlichen Ausnahme, um eine Interpretation dessen vorzuschlagen, was er „peripheren Kapitalismus“ nennt. Bercovici untersucht die verschiedenen Bedeutungen des Nomosbegriffes bei Schmitt, wie die Landnahme, die Industrienahme und die Weltnahme. Gemäß Bercovici schließt die Errichtung eines weltweiten Wirtschaftsraumes die Konflikte ebenso wenig aus wie „einen permanenten Ausnahmezustand“ der gegenwärtigen Wirklichkeit. Unter anderem zieht er die Schlussfolgerung, dass im Prozess der „Verweltlichung“ der Wirtschaft eine politische Diktatur durch eine wirtschaftliche Diktatur ersetzt worden sei. Mein Ausgangspunkt unterscheidet sich von den oben genannten Arbeiten darin, dass ich den Säkularisierungsbegriff als zentrale Achse für meine Untersuchung verwende. Im Bestreben, die Ausarbeitung dieses Begriffs bei Schmitt auszuloten, greife ich auf zwei der ersten von dem Juristen verfassten Schriften zu-
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rück – Gesetz und Urteil. Eine Untersuchung zum Problem der Rechtspraxis von 1912 und Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen von 1914 –, um die ersten Bedeutungen des Säkularisierungsbegriffes zu untersuchen. Obwohl Schmitt den genannten Begriff in seiner ersten Jugendschrift über Gesetz und Urteil, die er nach seiner Dissertation verfasste, noch nicht verwendet, erkennt man doch, dass seine Ablehnung des juristischen Positivismus den Ausgangspunkt für seine Ausarbeitung darstellt. Außerdem zeige ich auf, dass die Bedeutungen, die der Jurist dem Säkularisationsbegriff verleiht, in einer Epoche entwickelt werden, die von einer positivistischen Kultur geprägt ist. In der Sphäre des Rechts kritisiert Schmitt den juristischen Positivismus wegen seines Versuchs, die komplexe Wirklichkeit dem normativen und empirischen Rationalismus unterzuordnen und so das Problem der menschlichen Entscheidung und seines Handelns in der Welt zu verdecken. Auch hebe ich die Tatsache hervor, dass die Entwicklung des Säkularisierungsbegriffs bei Schmitt nicht in einem Verhältnis mit den moralischen Werten des Christentums steht, sondern sich dem juristischen Positivismus entgegenstellt, dessen Theorie vom politischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts übernommen wird. Die positivistische Reduzierung des Rechts auf das Gesetz oder auf die Fakten der Wirklichkeit bewirkt, dass Schmitt sich des Problems des existierenden Bruchs zwischen dem Ideal und dem Tatsächlichen bewusst wird. In seinem Denken wird der der ontologischen Struktur innewohnende Riss von der Kontingenz dargestellt, zu deren Verständnis man durch den Widerstand gegen die Reduzierung des Rechts auf das Gesetz gelangt. Die Kritik an der Auffassung, dass sich das Recht im Gesetz erschöpfe, offenbart, dass der Positivismus den kontingenten Charakter der empirischen Realität verhüllt. Auf diese Weise verwandelt Schmitt die Kontingenz in Prinzip und Methode seiner Untersuchung, und weicht davon nicht mehr ab. Ich denke, dass mein Beitrag unter anderem in der Darstellung der Konstruktion des Säkularisierungsbegriffes besteht, die der genauen Wahrnehmung des Problems der Kontingenz entspricht, ohne den Schmitt seinen Begriff der Entscheidung nicht entwickelt hätte. Der Jurist wird sich dieses Problems sehr früh bewusst, vor allem durch seinen Versuch, den juristischen Positivismus der Vorstellungen von Immanenz, wahrgenommen in der Vergöttlichung des Willens des Gesetzgebers, in die existenzielle Wirklichkeit konkreter, von Entscheidungen abhängender Menschen zu überführen. Gerne möchte ich hervorheben, dass diese Arbeit nur dank der Nachforschungen im Staatsarchiv Nordrhein-Westfalens, in dem sich der Nachlass des Autors befindet, möglich wurde. Das Archiv, das sich in Düsseldorf in der Nähe von Plettenberg, Schmitts Geburtsort, befindet, ist eines der größten Archive Deutschlands; es besitzt 19.000 Briefe, fünfhundert Dateikarten, Hunderte von Büchern, Artikeln, Aufzeichnungen, Tagebüchern des Autors. Die beinahe achthundert Regalmeter verdanken sich Schmitts Gewissenhaftigkeit, der seinen Nachlass noch zu Lebzeiten vorbereitet hat. Die Tagebücher seiner Jugendzeit wurden 2005 veröffentlicht und enthalten viele Anmerkungen, die in der vorliegenden Arbeit verwendet wurden. Die kürzlich publizierte Korrespondenz zwischen Schmitt und
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Einleitung
Blumenberg zeigt, dass er sich mit dem Thema der Säkularisierung bis 1978 beschäftigt hat.19 Wichtig für diese Studie war zudem, dass ich im Archiv die erste Ausgabe des Buches Gesetz und Urteil fand, in welchem der Autor seinen Begriff der Entscheidung ausarbeitet. Im ersten Kapitel beschäftige ich mich mit dem Buch Gesetz und Urteil. Es zeigt auf, wie Schmitt seinen Säkularisierungsbegriff in seiner Polemik gegen den juristischen Positivismus konstruiert. Die Untersuchung des Juristen darüber, was eine korrekte Entscheidung wäre, verrät ein sakrales Verständnis des Gesetzes. Die Analyse der Beziehung zwischen Rechtstheorie und juristischer Praxis offenbart eine Immanenzvorstellung, durch welche das Recht auf das Gesetz und auf den Willen des Gesetzgebers reduziert wird. Die Unterordnung der sozialen Wirklichkeit unter das geltende Recht wird von dem Juristen in Frage gestellt. Ausgehend vom Verhältnis zwischen Gesetz und Entscheidung wird sich Schmitt der Idee der Kontingenz bewusst, die für sein Denken von entscheidender Bedeutung ist. Im zweiten Kapitel behandle ich Schmitts Arbeit über den Wert des Staates und die Bedeutung des Individuums. Schmitts Staatsphilosophie wendet sich gegen die positivistische Kultur seiner Zeit und offenbart die Bedeutung der Säkularisierung als Rechtsverwirklichung. Die Säkularisation erscheint als Prozess der Einführung einer Idee in die Welt. Im dritten und letzten Kapitel untersuche ich die Säkularisierung des Politischen. Die säkularisierende Kraft der Schmittschen Ideen richtet sich gegen den Positivismus und Liberalismus und tut dies mit dem Ziel, einem außerordentlich politischen Bereich Sichtbarkeit zu verleihen. Anstatt einen Friedensprozess zu ermöglichen, erhöht die Verleugnung der politischen Kämpfe den Intensitätsgrad der Konflikte. In diesem Kapitel behandle ich auch die von Schmitt angeführte Entsakralisierung des Politischen, um die existenziellen Antagonismen sichtbar zu machen. Ich zeige, auf welche Weise dieses säkularisierende Unterfangen die Möglichkeit einer Reduzierung der Intensität der Konflikte eröffnet.
19 Schmitt 2007b, S. 143.
1. GESETZ UND URTEIL „Ich bin aber Jurist und kein Theologe.“(Schmitt, Ex Captivitate Salus, S. 83)
In seiner ersten Arbeit, die er 1912, zwei Jahre nach Abschluss seines Doktorats, unter dem Titel Gesetz und Urteil. Eine Untersuchung zum Problem der Rechtspraxis veröffentlichte, nimmt Carl Schmitt die Untersuchung des richterlichen Urteils im Bereich der Jurisprudenz als Ausgangspunkt. Von den meisten Exegeten Carl Schmitts vernachlässigt,20 stellt diese Abhandlung über das Gesetz und das richterliche Urteil eine radikale Opposition zu den Grundlagen des juristischen Positivismus dar, der seit Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland vorherrschte. In Gesetz und Urteil, „seiner ersten größeren Abhandlung“,21 weist Schmitt das, was er als Grundgedanken des juristischen Positivismus erkennt, zurück22: die 20 In seinem Buch Carl Schmitt und Thomas Hobbes. Ideelle und aktuelle Bedeutung mit einer Abhandlung über die Frühschriften Carl Schmitts von 1972 behauptet Helmut Rumpf, dass „die jetzt in zweiter Auflage (1969) vorliegende Erstlingsschrift „Gesetz und Urteil“ von 1912 daher als rein juristische Arbeit unberücksichtigt bleiben muss“ (Rumpf 1972, S. 12). Es mutet seltsam an, dass eine zweigeteilte Arbeit, deren erster Teil sich mit Carl Schmitts Jugendschriften befasst, ohne weitergehende Erklärungen eine der ersten wichtigen Arbeiten des Juristen verwirft. Rumpf sollte in Betracht ziehen, dass just in Schmitts Polemik gegen den Rechtspositivismus einige seiner wichtigsten Begriffe in Erscheinung treten. So z.B. der Entscheidungsbegriff, der in Gesetz und Urteil ausgehend von der Kritik am juristischen Positivismus entwickelt wird. Außerdem ist Gesetz und Urteil nicht die erste Arbeit Schmitts, denn der Autor hatte bereits zwei Jahre zuvor seine Doktorarbeit Über Schuld und Schuldarten. Eine terminologische Untersuchung veröffentlicht. 21 Trotz der Unkenntnis und Nichtbeachtung von Gesetz und Urteil seitens einer Mehrheit der Schmitt-Forscher, bezeichnet Hasso Hofmann den Text als „eine seiner ersten größeren Abhandlungen“ (Hofmann 2002, S.25-26). Siehe in diesem Sinne auch Matthias Kaufmann (1989, S. 158). 22 Schmitt lehnt nicht nur den juristischen Positivismus ab, er weist auch die wichtigsten Gedanken der Freirechtsschule zurück. Matthias Kaufmann bemerkt, dass „en uno de sus primeros grandes trabajos (GU), la posición de Schmitt está determinada por una actitud de rechazo frente a la jurisprudencia de conceptos, por parte, y la teoría del derecho libre, por otra“ (Kaufmann 1989, S. 158). Die Begriffsjurisprudenz ist eine Theorie des Rechtspositivismus, die in Deutschland 1830 zu entstehen beginnt. Ihre Eigenheit besteht in einer wissenschaftlichen Sichtweise des Rechts, die sich von der Pandektistik der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts herleitet, einer deutschen Doktrin, deren Zweck der Vereinheitlichung und Systematisierung des Rechts auf der Rezeption des römischen Rechts, genauer, dem Codex Iustinianus gründete (Bobbio 1995, S. 122). Georg Friedrich Puchta (1798–1846) war der wichtigste Vertreter der Begriffsjurisprudenz, der, ausgehend vom römischen Recht, die Vorstellung des juristischen Systems und der juristischen Methode entwickelte. Trotz aller Unterschiede kann die deutsche Pandektistik als Entsprechung zur französischen École de exégèse gesehen werden. Schmitt: „In Frankreich fand die positivistische Nichtunterscheidung von Recht und Gesetz, die Identität von Droit und Loi, ihren rechtswissenschaftlichen Ausdruck
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Reduktion des Rechtsbegriffs auf die Einheit eines logischen Systems23 von Normen.24 Die Beschränkung des Rechtsbegriffs auf eine Ansammlung generischer und abstrakter Normen entfremdet ihn von der konkreten Wirklichkeit, dem er als Orientierung dienen sollte. Die Suche nach einem richtigen Kriterium für das richterliche Urteil führt den Juristen dazu, sein Augenmerk auf die Fiktionen zu richten, die der Rechtspositivismus in Dogmen verwandelt hatte. Zusätzlich denunziert er die Unverständlichkeit des positivistischen Rechtsbegriffs und legt seine Unvereinbarkeit mit der juristischen Praxis dar. Indem er ein richtiges Kriterium für das richterliche Urteil bestimmt, erhebt er es zugleich zu einem autonomen juristischen Begriff, der in der Lage ist, sich der logischen Einheit eines abstrakten Systems von gültigen Normen zu widersetzen. Indem er die Widersprüche, Hypostasen und Tautologien der wichtigsten Vorstellungen des Rechtspositivismus offenlegt, legt er zugleich einen Lösungsansatz für die Krise der deutschen Jurisprudenz vor. 25 Schon auf den ersten Blick lassen sich zwei Punkte in dieser seiner ersten Arbeit hervorheben. Der erste bezieht sich auf die Tatsache, dass Schmitt schon lange vor seinen bekannteren Arbeiten wie Die Diktatur (1921) und Politische Theologie (1922) den Entscheidungsbegriff entwickelt und dass er dabei von seiner Polemik gegen den abstrakten Normativismus des Rechtspositivismus ausgeht. Er beschränkt sich dabei auf den Bereich der Jurisprudenz, denn „die Untersuchung ist eine juristische“.26 Der zweite Punkt ist, dass Schmitt seinen Entscheidungsbegriff inmitten einer Vermittlungskrise entwickelt, die von den Gegensätzen zwischen „Geltung und Sein“, „Theorie und Praxis“ und „Gesetzgeber und Richter“ geprägt ist. Die Untersuchung des angemessenen Kriteriums für das richterliche Urteil macht dem Juristen bewusst, dass dieses weder auf der ideellen Ebene der Geltung des Sollens, noch auf der Ebene des Faktischen zu finden sei. Dies verdankt sich der Tat-
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in der École de l´exégèse, die ein halbes Jahrhundert – etwa von 1830–1880 – unbestritten geherrscht hat und trotz methodologischer und philosophischer Kritik praktisch auch heute keineswegs beseitigt ist“ (Schmitt 1993, S. 25). Obwohl der Autor den Beginn der École de l´exégèse auf 1830 datiert, wird gemeinhin angenommen, dass die Schule 1804 mit der Veröffentlichung des Code Napoléon ihren Anfang genommen habe. Wichtig ist jedoch, dass sich in den beiden erwähnten Großstaaten, in denen der Positivismus im 19. Jahrhundert vorherrschte, zeigte, dass er nur als „Funktionsmodus der staatlichen Legalität eines berufsbeamteten Richtertums, unter der Folgewirkung geschriebener Kodifikationen und auf der Grundlage einer stabilen innerpolitischen Ordnung und Sicherheit“ (Schmitt 1993, S. 25) begriffen werden kann. Karl Larenz beschreibt, wie das systematische Denken des Rechtspositivismus seine Ursprünge im Naturrecht hat, in einer juristischen Richtung also, die der Positivismus zu überholen vorgibt. In Deutschland hat die Vorstellung des Systems ihre Wurzeln jedoch auch in der Philosophie von Fichtes und Schellings deutschem Idealismus. Beide hätten die Errichtung einer Welt ausgehend von einem letzten und transzendentalen Fundament versucht (Larenz 1966, S. 33). Auch Hegel hätte zur Auffassung der Rechtswissenschaft als System durch seine Vorstellung „das Wahre ist das Ganze“ beigetragen (Hegel 1972, S. 24). Schmitt 1912, S. 58. In dieser Arbeit verwende ich den Begriff „Jurisprudenz“ im Sinn von „Rechtswissenschaft“. Schmitt 1912, S. 1.
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sache, dass der der empirischen Wirklichkeit immanente Relativismus kein Prinzip bietet, welches in der Lage wäre, das menschliche Handeln im sozialen Leben zu orientieren.27 Obwohl Schmitt sich in Gesetz und Urteil bemüht, sich nicht im Dualismus zwischen Ideal und Wirklichkeit zu verstricken, fließen die Gegensätze sowohl auf der konkreten als auch auf der intellektuellen Ebene in sein Denken ein. Gesetz und Urteil teilt sich in vier Kapitel auf: das erste trägt den Titel „Das Problem“, das zweite heißt „Der Wille des Gesetzes“, das dritte „Das Postulat der Rechtsbestimmtheit“ und das vierte „Die richtige Entscheidung“. Als Leitfaden für alle Kapitel dient die entscheidende Frage: „Wann ist eine richterliche Entscheidung richtig?“28 Die Fragestellung beinhaltet bereits die Absicht, zwei Forderungen nachzukommen, die es ihm ermöglichen sollen, der durch den Rechtspositivismus verschärften Antithese zwischen Theorie und Praxis zu entkommen. Die erste Forderung entspricht dem „starken Bedürfnis nach methodischer Klarheit“, die zweite besteht in einem „auf die Wirklichkeit des Rechtslebens gerichteten Interesse“.29 Diese beiden Forderungen, die der Suche nach einem korrekten Kriterium für das richterliche Urteil zugrunde liegen, enthüllen einen sich entfaltenden „Kampf um die Rechtswissenschaft“, der zwischen den Juristen zu Beginn des 20. Jahrhunderts geführt wird. Der Streit dreht sich um die für die Rechtstheorie am besten geeignete Methode.30 Im Widerspruch zu dem, was die positivistische Methodologie behauptet, ergibt sich für Schmitt das Problem des richterlichen Urteils aus der Tatsache, dass der Richter nicht aufgrund von generalisierenden Abstraktionen, Subsumtionen und Ableitungen handelt. Dieserart weist er sowohl die zu Beginn des 20. Jahrhunderts geltenden vom positiven Recht definierten rechtlichen Annahmen als auch die von der „traditionellen Hermeneutik“ bestimmten Interpretationsmethoden zurück. Indem er versucht, das begriffliche Instrumentarium des Positivismus zu unterhöhlen, versucht er gleichzeitig, sie zu identifizieren, um sie zu hinterfragen. Als „traditionelle Hermeneutik“ bezeichnet Schmitt die Theorie des Rechtspositivismus, die in der Begriffsjurisprudenz, die das Vorgehen der Rechtsauslegung bestimmte, ihren Ausdruck findet. Eines der Probleme, die das Schmittsche Denken in verschiedenen seiner Arbeiten begleiten, besteht in der Krise, die aus der von verschiedenen modernen Rechts- und Staatstheorien übernommenen Vorstellung der Vermittlung hervorgeht. Dieses Verständnis von Vermittlung setzt eine unmittelbare Übermittlung des Rechtsinhalts im Moment seiner Anwendung auf einen konkreten Fall voraus. In Gesetz und Urteil wird der unvermittelte Übergang von „Rechtswille“ oder „Gesetzgeber“ zum rationalen Urteil des Richters als Naivität angeprangert, die vom Glauben an eine Reihe logischer Operationen getragen wird.31 Schmitt zeigt, 27 28 29 30 31
Schmitt 1912, S. 93 und 103. Schmitt 1912, S. 1. Schmitt 1912, S. VI. Schmitt 1912, S. 12. Schmitt 1912, S. 13.
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wie die genannte Vorstellung von Vermittlung ihre Geltungsgrundlage in der Trennung zwischen Justiz und Verwaltung und in der Unterwerfung des Richters unter das Gesetz findet. Ihr Ursprung liegt in der subtilen Rezeption von Montesquieus Theorie der Gewaltenteilung im ersten Paragraphen der damaligen preußischen Gerichtsverfassung: „Der Paragraph enthält bekanntlich eine Anerkennung der Lehre von der Trennung der Gewalten, insbesondere der Unabhängigkeit der Rechtspflege von der Verwaltung“. Damit hinterfragte der Jurist die kanonische Auslegung des erwähnten Paragrafen durch die traditionelle Hermeneutik32: Ob damit auch eine Bindung des Richters an das Gesetz in der Bedeutung vorgeschrieben ist, dass der Richter nur das klare Gesetz anzuwenden hat, dass er nach dem bekannten Ausspruche Montesquieus nur als „la bouche qui prononce les paroles de la loi“ anzusehen ist, und wieweit gewisse Methoden der Gesetzesauslegung damit anerkannt sind, ist eine davon verschiedene Frage.33
Schmitts Suche nach einem korrekten Kriterium für das richterliche Urteil wird vorangetrieben von seinem Versuch, das Monopol, das der Rechtspositivismus in der Rechtstheorie bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs ausüben wird, zu untergraben. Die Herrschaft des Gesetzes, das auf dem Ideal eines Systems von Normen ohne Lücken und Widersprüche beruht, sei unfähig, dem menschlichen Handeln als Orientierung zu dienen. Die Subsumtion der Komplexität der konkreten Fälle der Wirklichkeit zu einer allgemeingültigen Form der mittels Gesetzen, Codes und Reglements ausgedrückten Norm sei unzulässig. Denn es wäre undenkbar, dass in einigen Paragraphen das vielgestaltige Leben eine erschöpfende Regelung fände, die man im konkreten Fall bloß herauszulesen hätte; und so ergab sich praktisch ein Zustand, der einen englischen Juristen34 berechtigte, den Satz von der Bindung ans Gesetz als „kindische Fiktion“ zu bezeichnen.35
Die Offenlegung der inneren Widersprüche, Fiktionen und methodischen Fehler eines Rechtsbegriffs, der sich im Willen des Gesetzes oder des Gesetzgebers erschöpft, wird als „kindische Fiktion“ dargestellt. Außerdem zeigt die innere Analyse der Funktionsmechanismen des Positivismus, dass die Manifestation der staatlichen Handlungen im legalistischen Recht Unsicherheiten hervorbringt. Die Machtlosigkeit der positivistischen Rechtstheorie offenbart sich in der Unfähigkeit, der vielfältigen sozialen Wirklichkeit leitende Gestalt und Sinn zu verleihen. In Gesetz und Urteil erscheint der Richter aufgrund seiner Unterwerfungsbeziehung, die der Rechtspositivismus ihm auferlegt, als Funktion des gesetzgebenden Organs. Die Entscheidung hingegen erscheint in der Form einer Schlussfolge32 Schmitt 1912, S. 10. 33 Schmitt 1912, S. 7. 34 Schmitt bezieht sich auf John Austin (1790–1859), Verfasser des Buches The Province of Jurisprudence aus dem Jahre 1832. In Gesetz und Urteil ist Austins Souveränitätsbegriff eine indirekte Referenz an Schmitts Diskussion über die Theorie der Rechtsbestimmtheit von Bentham. 35 Schmitt 1912, S. 8.
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rung oder eines Resultats der obligatorischen Methode der Subsumtion und Deduktion, die angeblich in der Lage ist, unmittelbar den Willen oder die Absicht des „Gesetzgebers“ zu vermitteln. Das Recht jedoch, als System von Regeln verstanden, kontrastiert mit den Forderungen der konkreten Wirklichkeit nach Entscheidungen: In den letzten Jahren ist unzähligemal auseinandergesetzt worden, wie der Richter sich keineswegs mit dem positiven Recht begnügen kann, wie die Anforderungen des Verkehrslebens häufig eine Entscheidung verlangen, obwohl sie eine besondere gesetzliche Regelung noch nicht gefunden haben, so dass der Richter etwas anderes sein muss, als der Mund, der die Gesetzesworte ausspricht, als eine Subsumtionsmaschine, ein Gesetzesautomat […].36
Wie aber soll man angesichts der wachsenden Komplexität des Soziallebens einer Forderung nach einem auf das Postulat der Rechtsbestimmung gegründeten, korrekten richterlichen Urteil nachkommen? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, stellt der Jurist die richterliche Entscheidung, die von der empirischen Wirklichkeit konkreter Fälle geleitet wird, dem Glauben an einen Rechtsbegriff gegenüber, der die vorgegebenen Fakten der Wirklichkeit als Voraussetzungen in einem apodiktischen Normensystem begreift. In diesem Kapitel gilt es nun zu zeigen, wie Schmitt ein Kriterium erarbeitet, das das richterliche Urteil nicht an den „Willen des Gesetzes“ knüpft, sondern an die Rechtsbestimmung im Bereich der „menschlichen Tätigkeit“. Der folgende Abschnitt dieses Kapitels untersucht deshalb die Entstehung des Urteilsbegriffs in Gesetz und Urteil. 1.1 Entscheidung: Bestimmung des Rechts versus Vorherbestimmung des Rechts Die Aussagen in Gesetz und Urteil richten sich gegen einige der wichtigsten Strömungen der Jurisprudenz, die im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Teilen Europas, wie z.B. in Frankreich, vorherrschten. Obwohl in diesem Werk auch eine Kritik an der Freirechtsschule zu erkennen ist, so ist sein Hauptanliegen doch die Analyse des Rechtspositivismus. In Gesetz und Urteil geht es einerseits um das Aufzeigen der Folgen der Trennung zwischen dem Recht und seiner Anwendung, andererseits um jene der Trennung zwischen Verwaltung und Justiz.37 Doch der Jurist beschränkt sich nicht auf die innere Analyse der Auswirkungen der Doktrin der Gewaltentrennung, er will in der juristischen Praxis eine unzweideutige Methode 36 Schmitt 1912, S. 9. 37 Die staatliche Gewaltentrennung ist eines der Hauptthemen, die von Schmitt untersucht wurden, da diese, nebst dem Umstand, dass sie die Grundlage der liberalen Demokratie und des Rechtspositivismus ist, den Autor an eines der größten Probleme heranführt: die Herrschaft des Gesetzes. Nur ein Staat mit Gewaltentrennung hätte eine Verfassung im Einklang mit dem Recht und wäre eine Republik, „weil nur durch die Trennung des Gesetzgebers von der Gesetzesanwendung und von der Justiz die Herrschaft des Gesetzes […] durchgeführt werden kann“ (Schmitt 2003d, S. 127). Die Herrschaft des Gesetzes ist, vom Standpunkt des Juristen aus gesehen, eine der schlimmsten Formen der Tyrannei, da es die individuelle Willkür verschleiert und die öffentlichen Interessen privatisiert.
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finden, die in der Lage wäre, eine Antwort auf die Forderung nach einer Bestimmung des Rechts zu geben. Gesetz und Urteil ist das Resultat einer Stellungnahme angesichts der methodologischen Querelen, die während der ersten Jahrzehnte des vom Verschleiß des legalistischen Positivismus geprägten 20. Jahrhunderts gängig waren. Der Streit zwischen den Juristen wurde durch die Unfähigkeit des positivistischen Begriffsinstrumentariums, die Bestimmung des Rechts durchzusetzen, zusätzlich verstärkt. Der Kampf rund um die Rechtstheorie wird dargestellt als Kontroverse um die geeignete Methode, die Vermittlung der Beziehung zwischen dem Recht, dem Staat und der wachsenden Komplexität der deutschen Gesellschaft, umzusetzen. Mit der Absicht, eine Trennung zwischen Rechtstheorie und Erfahrungsbereich der Entscheidung zu verhindern, beleuchtet Schmitt die Gegensätze zwischen Norm und Dezision, zwischen legalem Recht und juristischer Praxis und zwischen juristischer Norm und Bestimmung des Rechts. Indem er die richterlichen Urteile den verschiedenen Strömungen des Rechtspositivismus gegenüberstellt, verschiebt er den Hauptfokus der Analyse der generischen und abstrakten Begriffsrationalität auf den konkreten empirischen Fall und macht diesen so zum Kern der juristischen Problematik. Die Verschiebung des Untersuchungsgegenstandes von der juristischen Norm weg und hin zur Anwendung bedingt die Suche nach einem richtigen Kriterium für das richterliche Urteil, die jedoch nur in dem Maße möglich ist, wie die konkrete Wirklichkeit zum grundlegenden Beziehungspunkt der Untersuchung gemacht wird. Das bedeutet jedoch nicht, dass „neue Fakta konstatiert, Statistiken angehäuft und daraus auf ‚induktivem‘ Wege […] richterliche Urteile abzuleiten versucht werden“ sollen.38 Sein Ziel ist es, seine Forschung auf die empirische Wirklichkeit, auf die Praxis zu konzentrieren, um die radikale neukantische Antithese zwischen Sollen und Sein zu vermeiden. Obwohl er sie nicht ablehnt, leugnet er sie dialektisch, um sie zu überwinden. Um dieses Ziel zu verwirklichen, stellt er die Erfahrung der Rechtsanwendung ihrer theoretischen Ausarbeitung entgegen und versucht mittels der Polarisierung zwischen Gesetz und Urteil, Gesetzgeber und Richter zu zeigen, dass ein legitimes, dem Urteil angemessenes Kriterium nur von der Erfahrung der Rechtspraxis hervorgebracht werden kann: „Die Gegenüberstellung des Gesetzgebers und des Richters kreuzt sich mit der von substantieller und formaler Gerechtigkeit und weiter sogar mit der von Soziologie und Begriffsjurisprudenz.“39 In seiner Analyse der richterlichen Entscheidungen unterwirft der Jurist die Prinzipien der Theorie des Rechtspositivismus (genauer gesagt der juristischen Sicherheit), die systemische Kohärenz, die festen Regeln, die Vorhersehbarkeit und die Interpretationsmethoden einer Prüfung durch die empirische Wirklichkeit der richterlichen Urteile. Die Untersuchung der Rechtspraxis offenbart den tiefen Riss zwischen dem Gesetz und seiner Anwendung. Die Unvereinbarkeit von richterlicher Entscheidung und Gesetzesinhalt offenbart sich als Quelle der Unbe38 Schmitt 1912, S. 4. 39 Schmitt 1912, S. 103.
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stimmtheit des Rechts und folglich der Unsicherheit des Soziallebens. Wenn aber dem Positivismus zufolge das Prinzip der Rechtsbestimmtheit durch das System der geltenden Normen gewährleistet ist, was könnte dann die Unbestimmtheit des Rechts bewirken? Schmitt glaubt, dass die positivistische Vorstellung einer auf Norm und Methode gegründeten Rechtsbestimmtheit die Flucht des Rechts in das Reich des abstrakten „Sollens“ der Normen fördere. Eingeschlossen und geschützt innerhalb eines Systems von verallgemeinerbaren logischen Regeln könne das Recht die Unbestimmtheit der richterlichen Urteile zwar verbergen, nicht aber eindämmen. Anstatt jedoch den unerbittlich kontingenten Charakter des Rechts anzuerkennen, rückten die positivistischen Juristen, vom Pathos der Rechtsbestimmtheit – das von der Notwendigkeit, die Lücken, Zweifel und Willkürlichkeiten zu überwinden, durchdrungen war – verführt, die Rechtstheorie immer mehr in die Nähe der Naturwissenschaften. Aus Schmitts Perspektive löste der Rechtspositivismus das Problem der Unbestimmtheit des Rechts durch diesen Ansatz nicht. Ganz im Gegenteil: Die Aneignung des Kausalitätsprinzips und der Objektivität der Naturwissenschaften, mit dem Ziel, die Vorhersage der Fakten im Innern der normativen Struktur zu befriedigen, verwandele diese in einen leeren Rahmen. Zudem mache die Anwendung der formalen Logik zur Befreiung der juristischen Begriffe von ihren Kontingenzen aus dem Recht eine leere Tautologie. Die Norm als leere Tautologie stellt einen wichtigen Schlüssel zum Verständnis der Schmittschen Kritik am Positivismus dar. In Gesetz und Urteil wird die Tautologie dem positivistischen Ideal der Gesetzmäßigkeit zugeschrieben. Der Befund der Unzulänglichkeit des Gesetzesinhalts angesichts der konkreten Fälle der Wirklichkeit würde zu dem Versuch führen, den Gesetzesbegriff zu erweitern, ohne jedoch sich dabei von der Vorstellung der Gesetzmäßigkeit leiten zu lassen. Der Versuch, die Schwächen der Begriffsjurisprudenz – verstanden als legalistische Theorie des Rechtspositivismus – auszugleichen, ebnet jedoch einer Neuformulierung des Rechts durch andere Denkrichtungen, wie z.B. der Freirechtsschule, der soziologischen Jurisprudenz und der Interessensjurisprudenz, den Weg. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, entkommen auch diese juristischen Denkrichtungen, selbst wenn sie den Rechtspositivismus zu überwinden suchen, nicht der Logik der Anpassung des Rechts an eine Quelle, auch wenn diese außerjuristischer Natur ist. Schmitt zufolge kann das Recht nicht auf das Gesetz, auf das Faktische, auf die Gewohnheiten und Prinzipien reduziert werden, da deren Struktur kontingent ist. Die Freirechtsschule z.B. bezweifelt, dass der Rechtsbegriff sich im Gesetz erschöpft, da dieses nicht die einzige Quelle ist, aus der er seine Geltung bezieht. Je größer die Übereinstimmung zwischen Recht und Gesetz ist, desto größer ist die Reinheit oder der abstrakte Formalismus des Rechts. Der Anspruch jedoch, das Recht von allen ihm fremden Elementen zu säubern, führte es, anders als man es sich vorgestellt hatte, zu einer noch größeren Abhängigkeit von überpositiven Elementen, denn in eine leere Form lässt sich jeglicher Inhalt einfüllen.
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So wie Schmitt mit der Begriffsjurisprudenz vorgeht, so stellt er auch die soziologische Jurisprudenz und die Freirechtsschule der juristischen Praxis gegenüber. Zu diesem Zweck zeigt er, dass in Bezug auf die Rechtstheorie der Anwendung eines Gesetzes dem Anspruch, dieses den Anforderungen des bürgerlichen Verkehrs anzupassen, „zwei Kriterien der Richtigkeit eines Urteils: ‚Gesetzmäßigkeit und Angemessenheit an die Bedürfnisse des Verkehrs“ zugrundeliegen.40 Die Gesetzmäßigkeit wird jedoch als einziges Kriterium angeführt, und „so wird das Wort ‚Gesetzmäßigkeit‘ zu einer leeren Tautologie, zu einer Zusammenfassung aller faktisch wirksamen Kriterien, und um deren Berechtigung dreht sich ja alles“.41 Schmitts Schlussfolgerung zeigt, dass das Kriterium der Gesetzmäßigkeit in Verbindung mit dem Anspruch einer Ausweitung des Rechtsbegriffs jeden Inhalt oder jede Tatsache der empirischen Wirklichkeit in eine Norm oder in ein „Sollen“ verwandelt. Das vom Kriterium der Gesetzmäßigkeit geleitete richterliche Urteil offenbart in sich die Fähigkeit, das „Sollen“ zu verdoppeln und sich als Norm der Norm oder als Gesetz des Gesetzes zu entlarven. Auf diese Weise kann aufgrund der inneren Unzulänglichkeit des Gesetzes jedes Kriterium oder jede faktische Norm oder jeder empirische, Druck ausübende Umstand die richterliche Entscheidung gestalten. Die Zuweisung von Normativität42 an überpositive Inhalte, an die Macht der Fakten kann verhängnisvolle Folgen nach sich ziehen, wie z.B. die Unterwerfung unter die Willkürlichkeit der faktischen Befehlsgewalt. Für Schmitt darf sich die richterliche Entscheidung – eine Form der Kommunikation oder Manifestation des Staatswillens – nicht dem Zwang der Macht der Fakten oder der faktischen Befehlsgewalt unterwerfen. Der Jurist versteht, dass die Entscheidung sich in allererster Linie am Prinzip der Rechtsbestimmung orientiert, um von da aus ein Praxiskriterium zu suchen, das dem Sicherheitsbedürfnis, der Bildungsklarheit und der Inhaltsverwirklichung 40 Schmitt 1912, S. 40. 41 Schmitt 1912, S. 40. 42 Die Normativität ist – für sich selbst genommen – offensichtlich kein Problem, zumal sie, wenn sie von Werten ausgeht, ihnen Gestalt zu geben und sie in der Wirklichkeit umzusetzen vermag. Die normative Art, das Recht oder die bürgerliche Theorie des Rechtsstaates zu denken, habe ihr goldenes Zeitalter im 17. und 18. Jahrhundert erlebt, in denen das „Bürgertum die Kraft zu einem wirklichen System“ fand, „nämlich zu dem individualistischen Vernunftund Naturrecht, und bildete aus Begriffen wie Privateigentum und persönlichee Freiheit in sich selbst geltende Normen, welche vor und über jedem politischen Sein gelten, weil sie richtig und vernünftig sind und daher ohne Rücksicht auf die seinsmäßige, d.h. positivrechtliche Wirklichkeit ein echtes Sollen enthalten. Das war konsequente Normativität“ (Schmitt 2003d, S. 8f.). Schmitt erachtet es als ernstes Problem, dass die Normen sich nicht länger auf Werte oder Qualitäten wie Gerechtigkeit, Vernunft etc. beziehen. Dieses Problem wird mit dem Positivismus eingeführt und erleidet ein progressives Wachstum, insbesondere mit der Rechtstheorie Hans Kelsens, von der an „etwas gilt, wenn es gilt und weil es gilt. Das ist ‚Positivismus‘“ (Schmitt 2003d, S. 9). Man kommt nicht umhin zu bemerken, wie das gegenwärtige Recht noch immer stark im Positivismus verwurzelt ist, und zwar in dem Maße, in dem die an die Geltung der Norm an sich übertragene Autorität die zugrundeliegenden, asymmetrischen Machtbeziehungen zwischen Menschen verschleiert.
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des Staatswillens gerecht zu werden vermag. Er argumentiert jedoch, dass die kritischen Strömungen des Rechtspositivismus, indem sie die Theorie der Gesetzmäßigkeit oder eine andere Quelle übernähmen, dennoch im positivistischen Paradigma der Rechtstheorie verwickelt blieben. Vom Standpunkt des Juristen aus gesehen unterwirft sich die Anpassung des Rechts an das Gesetz mit ihrer Annäherung an die empirische Methode der Naturwissenschaften einem Wandel: Anstatt das Recht auf die juristische Norm zu reduzieren, reduziert sie es auf die empirischen Fakten. Diese Umkehrung verändert jedoch nicht das reduktionistische Pathos des positivistischen Rechtsverständnisses, da es, anstatt das Recht auf das Gesetz zu reduzieren, das Recht auf die Fakten der konkreten Wirklichkeit reduziert. Die leere Tautologie des auf das Prinzip der Gesetzmäßigkeit gegründeten Urteils stellt zwei Bedrohungen dar: Zum einen droht die Unterwerfung des richterlichen Urteils unter die Zwänge der empirischen Fakten oder der faktischen Gewalt. Das Prinzip der Angleichung an die Norm beraubt die korrekte oder die vom Postulat der Bestimmung der Rechtsverwirklichung kompromittierte Entscheidung eines Wertes, der fähig wäre, sich zu verallgemeinern und tatsächlich die Sicherheit im Sozialleben zu gewährleisten. Die zweite Gefahr besteht darin, dass das vorherrschende Verständnis der Angleichung – da es sich dabei um eine leere Tautologie handelt – in sich das Potential einer Anpassung an den reinen Zwang der Macht birgt. Die Anpassungsfähigkeit des Rechtspositivismus an jegliche politische Macht wird somit zu einer seiner Eigenschaften. Auch wenn der Begriff „Legalität“ in Gesetz und Urteil noch nicht verwendet wird, so entspricht das Prinzip der Gesetzmäßigkeit doch offensichtlich der Idee der Legalität. Dies zeigt die Kontinuität gewisser Themen in Schmitts umfangreichem Werk. Ein Beispiel hierfür ist die Darstellung der Spannung zwischen Rechtstheorie und Entscheidungspraxis: einer Antithese zwischen positivistischer Legalität und Legitimität oder richtigem Praxisurteil, das effektiv in der Lage ist, sich am Wert der Rechtsbestimmung zu orientieren. Schmitts Buch Legalität und Legitimität aus dem Jahre 1932 muss als Weiterentwicklung eines Themas gesehen werden, dessen Untersuchung schon in Gesetz und Urteil begonnen wurde: die Vorstellung, der zufolge es die Gesetze sind, die herrschen – und nicht die Menschen. Im erwähnten Buch erscheint diese Vorstellung der unpersönlichen Herrschaft des Gesetzes im Gesetzgebungsstaat. Diese Art von Staat ist ein von unpersönlichen […] und vorbestimmten […] Normierungen mess- und bestimmbaren Inhalts beherrschtes Staatswesen, in welchem Gesetz und Gesetzesanwendung, Gesetzgeber und Gesetzesanwendungsbehörden voneinander getrennt sind. Es „herrschen Gesetze“, nicht Menschen, Autoritäten oder Obrigkeiten.43
Die rigorose, vom Juristen erstellte Antithese zwischen juristischer Theorie und Praxis bedingt nicht die Eliminierung der Vorstellung von Gesetz, sondern den Kampf gegen seinen absoluten Charakter. Die Verleugnung des abstrakten und generischen Gesetzes durch den Dualismus von Gesetz und Urteil weist auf 43 Schmitt 1998b, S. 8.
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Schmitts dialektisches Interesse hin, den Abgrund zwischen dem Recht als Wert und der faktischen Macht der Wirklichkeit zu überbrücken. Im Verlauf verschiedener Arbeiten, in welchen er die Herrschaft des Gesetzes kritisiert, entlarvt er die willkürliche und irrationale Grundlage der Macht, die sich hinter der legalistischen Fassade des Staates verbirgt. Indem er eine Theorie der Entscheidung entwirft, die unverzichtbar ist für das Verständnis der Geltungsgrundlage der juristischen Ordnung, geht er darüber aber hinaus. Der Kampf gegen den Rechtspositivismus ist ein Markenzeichen von Schmitts Arbeiten bis mindestens 1933 und Anlass für die Erarbeitung einiger seiner wichtigsten Begriffe, z.B. von Entscheidung und Ausnahmezustand, deren Bedeutung zum ersten Mal in Gesetz und Urteil zur Sprache kommt. Obwohl der Rechtspositivismus ab 1933 nicht mehr wichtigster Gegenstand von Schmitts Kontroverse und Untersuchung ist, untersucht er ihn 1934 und 1943, sowie in der Nachkriegszeit dennoch weiterhin in Artikeln, Tagebüchern und Werken. So lässt sich z.B. eine Kontinuität feststellen zwischen den Ideen in Gesetz und Urteil und der 1934 publizierten Arbeit Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens. Nebst anderen Denkarten des Rechts untersucht er darin die normativistische Denkweise des Rechtspositivismus und nimmt die Kritik an der allgemeinen Staatslehre von Georg Jellinek wieder auf, insbesondere die Kritik an dem von Jellinek geprägten Ausdruck der „normativen Kraft des Faktischen“. Von der normativistischen Seite her hat ein Positivist des 19. Jahrhunderts, Georg Jellinek, die typische Wendung von der „normativen Kraft des Faktischen“ geprägt. Da er von der „normativen motivierenden Kraft des Rechts“ ausgeht, haben Fakten und Tatsachen, die ja zweifellos eine besonders starke motivierende Kraft ausüben, ohne weiteres auch eine „normative Kraft“. Die Formel von der „normativen Kraft des Faktischen“ ist unzählige Male nachgesprochen worden.44
Obwohl Schmitt die Kritik am Positivismus wieder aufnimmt, bemerkt er doch eine leichte Verschiebung in der Anwendung des Prinzips der Konformität, denn dieses wird nicht mehr auf den logischen Begriff des formalen Gesetzes angewandt, wie es die Begriffsjurisprudenz noch tat: Es wird jetzt benutzt, um das Recht der faktischen Macht der Wirklichkeit zu unterwerfen, die nach Ansicht des Juristen angeblich über eine normative Potenz verfügt. Diese Veränderung spiegelt einen subtilen Wandel wider, denn das Recht wird in beiden Fällen weiterhin der Normativität, oder anders gesagt, einem Sollen unterworfen. Der Unterschied besteht nun darin, dass die Normativität vom formalen Gesetz auf die Fakten der Wirklichkeit übertragen wird, als besäße sie eine ihr immanente Normalität oder Legalität. In einem Kommentar zur erwähnten Aussage Jellineks erklärt Schmitt: Rechtslogisch in sich selbst betrachtet ist sie eine bloße Wortkombination und nur eine Umschreibung der leeren Tautologie, dass der Positivismus von seinem normativistischen Be-
44 Schmitt 1993, S. 30.
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standteil her die faktische Positivität selbstverständlich immer nur als „normative Kraft“ deuten kann.45
Nach Auffassung des Juristen beabsichtigt der Positivismus in Wahrheit gar nicht, sich auf die Kraft des Faktischen zu beziehen, denn das positivistische Denken wurzelt im „Sollen“. Das heißt, dass der Positivismus sein grundlegendes Prinzip der Rechtsbestimmtheit nirgendwo sonst als im Reich der Normativität garantieren kann. Genau hier stößt der Positivismus an seine äußerste Grenze, da seine Möglichkeitsbedingung just in der „Normalität der konkreten Lage“ zu finden ist.46 Der Positivismus hat der von Normativität befreiten Kraft des Faktischen nichts entgegenzusetzen, da dies für ihn doch den Eintritt in die kontingente Ebene der Wirklichkeit bedeuten würde, in der die Umstände und Fakten mit dem Ideal der auf einer normativen Vorhersage gegründeten Rechtsbestimmtheit inkompatibel sein können. Die Brüchigkeit der positivistischen Denkweise erweist sich an der Illusion der Zuweisung eines „Sollens“, einer Normativität also an die faktische Macht, die in Wirklichkeit nichts weiter ist als faktische Macht. So gesehen, ist der positivistische Normativismus lediglich eine Angleichung an oder eine Unterwerfung unter die faktische Macht der Wirklichkeit, die sein Prinzip der Rechtsbestimmtheit der Unvorhersehbarkeit unterwerfen würde. Daher wird sich ein Positivist nicht gern auf die „positive Kraft“ des Faktischen berufen, obwohl er mit seiner Unterwerfung unter das positive Faktum der Erzwingbarkeit nichts anderes meint. Aber die Selbstenthüllung, die in der Redewendung von der „positiven Kraft des Faktischen“ läge, wäre wohl auch einem reinen Positivisten rechtswissenschaftlich unerträglich.47
Ein konsequent positivistisches Denken beschränkt sich nicht auf eine normative Ebene, denn wenn es das Recht auf der Normativität gründet, wird es von der Unsicherheit und nicht von der Rechtsbestimmtheit geleitet. Damit das Recht nicht den Winden eines normativen Meeres ausgesetzt bleibt, muss gezeigt werden, dass es die Entscheidung der souveränen Autorität ist, die der Geltung der herrschenden Norm als Grundlage dient.48 1.2 Norma coelitus hausta versus juristische Praxis Schmitt verteidigt die Ansicht, dass die Rechtstheorie die empirische Wirklichkeit der juristischen Praxis als unvermeidlichen Bewertungsgegenstand akzeptieren müsse. Hiervon ausgehend schlägt er seinen Entscheidungsbegriff vor, der darin besteht, ein Kriterium für die Rechtsanwendung zu finden, das in der Lage ist, ganz allgemein juristische Konflikte zu kontrollieren. Der Jurist beabsichtigt zu zeigen, wie das gefundene Kriterium die Anwendung auf die faktischen Vorgänge der Praxis gestattet, wie das Postulat, aus dem das Postulat abgeleitet wird, das Rechtsleben fak45 46 47 48
Schmitt 1993, S. 31. Schmitt 1993, S. 33. Schmitt 1993, S. 31. Schmitt 1993, S. 31.
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Gesetz und Urteil tisch beherrscht und nicht etwa aus irgendeiner Ätherregion von Begriffen herunterdeduziert, oder eine „norma coelitus hausta“ ist.49
Diesem Zitat liegt der säkularisierende Sinn von Schmitts Ideen zugrunde. Obwohl der Jurist den Begriff der Säkularisierung noch nicht verwendet, so ist doch eine der Bedeutungen, die er diesem später zuweisen wird, hier bereits vorhanden: die Unmöglichkeit, Begriffe von irgendeiner ätherischen oder himmlischen Sphäre abzuleiten. Die Verneinung der norma coelitus hausta zeigt, dass das Anerkennungskriterium des menschlichen Handelns nicht vom Himmel hergeleitet werden kann, sondern im irdischen Leben gefunden werden muss, im säkularen Bereich der empirischen Wirklichkeit menschlichen Handelns. Der Dualismus von „Himmel“ und „Erde“ ist nicht überwunden worden, trägt nun aber ein anderes Kleid. Die Universalität der Norm und die Eigentümlichkeit empirischer Wirklichkeit werden ebenfalls als zwei „Geltungen“ innerhalb desselben Wissensbereiches gesehen, „die einander entgegengesetzt sind“. So bemerkt der Jurist, dass es sich also nicht um den Gegensatz von Gelten und Sein, von Norm und Empirie, von abstrakt geltendem Gesetz und „täglichem Leben“, von normativer Jurisprudenz und explikativer Sozialwissenschaft handelt, sondern um den Gegensatz zweier Geltungen innerhalb desselben Wissensgebietes, von denen die eine Geltung, die der Praxis, gefunden werden soll.50
Die neukantische Antithese zwischen Sollen und Sein, zwischen Form und Inhalt, zwischen Idealität und Faktizität entspricht einem der Hauptmerkmale des „Kampfes um die Rechtswissenschaft“ im 19. und 20. Jahrhundert.51 Der zwischen Juristen geführte Streit um eine Methode oder ein Kriterium, welches imstande wäre, eine Verbindung oder Vermittlung zwischen Theorie und Praxis herzustellen, wird von Schmitt als unbefriedigend bewertet. Die Lösung des Rechtspositivismus, der Theorie und Praxis mittels einer Subsumtion der Fälle der konkreten Wirklichkeit und ihrer Angleichung an die Norm zu vereinheitlichen sucht, erzeugt Unvorhersehbarkeit, da „die meisten Argumente für die ‚Gesetzmäßigkeit‘ auf Erwägungen der Rechtsbestimmtheit hinauslaufen“.52 Dem positivistischen Dogma der Anbindung des richterlichen Urteils an die Norm entgegnet Schmitt, dass „aus dem, was geschieht, sich gewiss nicht ableiten lässt, was geschehen soll“.53 Der Jurist versteht, dass die „technische Rechtstheorie“, indem sie die Fälle der Wirklichkeit der Norm subsumiert, eine „ideelle Sicht der Praxis“ vertritt. Die Prozesse der Technisierung im Allgemeinen, so wird Schmitt vier Jahre später sagen, „wollen einen Himmel auf Erden“.54 Die juristische Praxis unterscheidet sich von der Rechtswissenschaft „dadurch, dass sein Objekt eine menschliche Tätigkeit ist“.55 In Gesetz und Urteil versucht Schmitt 49 50 51 52 53 54 55
Schmitt 1912, S. 3. Schmitt 1912, S. 4. Schmitt 1912, S. 124. Schmitt 1912, S. 60. Schmitt 1912, S. 3. Schmitt 1991b, S. 60. Schmitt 1912, S. 60.
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mit seinem Vorschlag einer angemessenen Methode für das richterliche Urteil der Krise im Bereich der Jurisprudenz, die ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vom Rechtspositivismus56 ausgelöst wurde, zu begegnen. 1943/1944 bemerkt er in seinem Vortrag Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft: Die Krisis der europäischen Rechtswissenschaft beginnt vor hundert Jahren mit dem Sieg des gesetzlichen Positivismus. Der revolutionäre Ausbruch des Jahres 1848 bezeichnet auch hier die große Wegscheide. Unsere Väter und Großväter warfen ein überlebtes Naturrecht beiseite und sahen in dem Übergang zu dem, was sie „Positivismus“ nannten, einen großen Fortschritt von der Illusion zur Wirklichkeit.57
Als Schmitt die obige Passage schrieb, hatte er sich schon seit über 30 Jahren, seit Gesetz und Urteil, mit der Krise des legalen Positivismus beschäftigt. Er tat dies vom Standpunkt der inneren Spannungen der Jurisprudenz aus, die vor einer Trennung von juristischer Theorie und Praxis stand. Die wichtigsten Faktoren, die die Krise auslösten, ortete Schmitt in den Konflikten zwischen der Monarchie und dem liberalen Bürgertum des 19. und 20. Jahrhunderts und in der deterministischen Weltsicht, die sich am Paradigma der Kausalität der Naturwissenschaften ausrichtete. Es muss zudem darauf hingewiesen werden, dass die verschiedenen, vom Rechtspositivismus angenommenen Formen ebenfalls Gegenstand der Schmittschen Kritik sind. Aus diesem Grund lehnt sich der Jurist einerseits gegen die legalistische und absolutistische Vorstellung auf, deren Anwendung in Übereinstimmung mit dem Vorrang eines unfehlbaren formal-logischen Systems erfolgt, und andererseits gegen die Sicht einer von der „normativen Macht der Fakten“ beherrschten, empirischen Welt. Nebst seinen Angriffen auf den legalistischen Positivismus und den soziologischen und psychologischen Positivismus mit ihren kausalen Rechtsverständnissen kritisiert Schmitt auch das Naturrecht. Obwohl Bernhard Windscheid58 (1817–1892) im Jahr 1854 das Ende des Naturrechts ver-
56 In Deutschland erlebt 1945 nach dem Zweiten Weltkrieg das Naturrecht eine Renaissance, was nicht bedeutet, dass der Rechtspositivismus verschwunden wäre, doch nun ist die Notwendigkeit evident, ihn in Bezug auf die Menschenrechte neu zu denken. Wie sich zeigen wird, spart Schmitt nicht an Kritik an den universellen Ansprüchen der Menschenrechte, die unilaterale Interessen verschleiern. Er zeigt auch, wie unter dem Vorwand solcher generischen Rechte, inhumane Formen der Unterwerfung anderer Völker gerechtfertigt werden. 57 Schmitt 2003b, S. 398. 58 Obwohl die Wendung, die das Ende des Naturrechts verkündet, 1848 aufkam, „fand sie ihre geflügeltes Wort in dem Satz Windscheids aus seiner Greifswalder Universitätsrede des Jahres 1854: ‚Der Traum des Naturrechts ist ausgeträumt.‘“ Auch diese Beobachtung ist interessant: „Die Stelle klingt im Zusammenhang nicht so apodiktisch-positivistisch wie der zum geflügelten Wort gewordene isolierte Satz. Sie lautet: ‚Es gibt für uns kein absolutes Recht. Der Traum des Naturrechts ist ausgeträumt, und die titanenhaften Versuche der neueren Philosophie haben den Himmel nicht gestürmt“ (Schmitt 2003b, S. 398). Nicht zufällig bezichtigt Schmitt in Gesetz und Urteil den Rechtspositivismus, insbesondere den von Hans Kelsen vertretenen, die Normen von irgendeinem himmlischen Bereich (norma coelitus hausta) abzuleiten, die somit unfähig sind, das menschliche Handeln zu leiten.
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kündet hatte, zeitigte das Gespenst des Naturrechts nach Ansicht von Carl Schmitt zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch immer seine Wirkungen. Der Rechtspositivismus hatte das absolute Gerechtigkeitsverständnis des Naturrechts ersetzt und das „Subsumtionsprinzip zum Wesen der gerechten Regelung überhaupt“ gemacht.59 Das Schmittsche Vorhaben verschiebt die zentrale Achse des Rechts der deduktiven und subsumierenden Methode, die sich an den Prinzipien der formalen Logik ausrichtet, hin zur Methode der richterlichen Urteile, die von der konkreten Wirklichkeit der juristischen Praxis geleitet werden. Die juristische Praxis umfasst den Bereich der gerichtlichen Tätigkeit, die sich der konkreten Fälle des menschlichen Lebens annimmt, die einer effektiven Bestimmung des Rechts bedürfen. Die Wirklichkeit der konkreten Fälle zum Kern des Problems zu machen, ist der Versuch, die deterministische Auffassung der Naturwissenschaften aufzulösen: sowohl im Rechtspositivismus, der diese mittels einer legalen Vorhersage in seine normative Struktur zu integrieren versucht, als auch im Naturrecht, dessen Umgang mit der Wirklichkeit vom a priori einer absoluten, vom Diktat der Vernunft bestimmten Gerechtigkeit ausgeht. Aus Schmitts Perspektive ist es nicht möglich, dass das Recht aufgrund einer auf das Ideal der Gerechtigkeit gestützten Entscheidung eine Antwort findet. „Eine Antwort auf die Frage nach der absoluten, zeitlosen Richtigkeit einer Entscheidung, die etwa aus der ‚Idee‘ der richterlichen Entscheidung abgeleitet würde, soll nicht gesucht werden; sie hätte wohl auch keinen unmittelbaren praktischen Wert.“60 Nach Ansicht Schmitts stellt sein Zugang zur Rechtspraxis einen methodologischen Fortschritt in Bezug auf die „traditionelle Hermeneutik“ dar, da dieser, indem er den Richter vom normativen Kriterium des „Gesetzeswillens“ oder des „Willens des Gesetzgebers“ befreit, ihn an ein Prinzip bindet, welches seine Geltung nicht von einer idealen Form der Norm oder von der Herrschaft der faktischen Wirklichkeit über das Recht, sondern von der Praxis bezieht.61 Schmitts Versuch zielt einerseits darauf ab, mittels einer Methode der Rechtsanwendung die Befreiung von der funktionalistischen Fessel der dem juristischen Formalismus innewohnenden Subsumtion herbeizuführen, und andererseits die Unterwerfung der juristischen Praxis unter „die normative Kraft der Fakten“ zu beenden.62 Der Jurist weist die „eindeutige“ empirische Wirklichkeit der Fakten oder der idealen Form der Norm als gültige Quelle des Rechts zurück, denn „da59 60 61 62
Schmitt 1912, S. 61. Schmitt 1912, S. 2. Schmitt 1912, S. 2. Georg Jellinek meint, dass sowohl das Recht als auch die Gesetzgebung nicht verstanden werden könnten ohne die „normative Kraft des Faktischen“. Jellinek zufolge ist das Recht bedingt durch die Wirklichkeit des „gegebenen sozialen Faktums“, da das Wirkliche eine psychologische Neigung aufweise, verpflichtend zu werden (Jellinek 1973, S. 254). Schmitt weist derartige Ideen mit der Aussage zurück: Die reellen Herrschaftsverhältnisse müssen als juristische angesehen werden (Jellinek 1973, S. 256). Schon in seinen ersten Schriften bemüht sich Schmitt, die juristischen und politischen Handlungen auf die Grundlage von Prinzipien und nicht nur auf die bloße faktische Empirie der Macht zu stützen, die in der Lage sind, diese zu legitimieren.
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rüber, ob die Entscheidung richtig ist, entscheidet die Praxis selbst“.63 Der Positivismus ist bestimmt von einem antiphilosophischen, antimetaphysischen Pathos, da er seine Darstellung der Wirklichkeit auf die gegebene Tatsache beschränkt. Indem er diese als einzig mögliche Gewissheit begreift, wird er zum Opfer seines eigenen fundamentalen Begriffs.64 Die Vorstellung der gegebenen Tatsache offenbart sich als kontrovers und als einer Pluralität von Interpretationen unterworfen, so dass ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen Rechtstheorie und naturwissenschaftlicher Methode entsteht. Dies geschieht „insbesondere, wenn induktives und deduktives Verfahren gegenübergestellt und von jenem das Heil der Jurisprudenz erwartet wird“.65 Um sich angesichts des Nichtvorhandenseins der methodologischen Einheit zu retten, Lücken der Gesetzgebung zu eliminieren und doktrinäre Kontroversen zu unterdrücken, sollte „die Jurisprudenz damit zu einer naturwissenschaftlichen Disziplin werden“.66 Das Recht, das sich in Deutschland ab Mitte des 19. Jahrhunderts von anderen Wissensbereichen zu emanzipieren suchte, indem es das traditionelle Naturrecht ablehnte, und sich von der Vormundschaft aller Arten spekulativen Denkens und insbesondere der Philosophie befreien wollte, stützte sich zunehmend auf die induktive Methode der Naturwissenschaften. Die Suche nach einem eigenen, autonomen Status, nach methodologischer Einheit und einem System, das in der Lage wäre, die Lücken zu schließen, verwandelt die Jurisprudenz so in eine Naturwissenschaft. Wenn auf induktivem Wege durch Beobachtung von Tatsachen über eine zu verifizierende Hypothese „Gesetze“ gefunden werden sollen, hat man es eben nicht mehr mit der Jurisprudenz zu tun, sondern man treibt Soziologie oder Psychologie oder Volkswirtschaftslehre usw. Aus dem Ideal „exakter Naturwissenschaft“ und dem Unvermögen, eine andere Methode wie den in den Naturwissenschaften herrschenden Induktionsschluss als berechtigtes Verfahren einzusehen, entspringen die Forderungen, die Jurisprudenz solle reine „Tatsachenwissenschaft“ werden.67
Das Problem einer in den Stand der eindeutigen Rechtsquelle erhobenen Faktizität äußert sich auf verschiedene Weise, deren kritischste jene wäre, die der faktischen Macht des in der Figur des Gesetzgebers personifizierten „Willens“ zugeschrieben wird. Die Faktizität des „wahren Willens“ der abstrakten Norm ist „weiter nichts, als der Inhalt der Fiktion“.68 Schmitt entlarvt die idealistische Sicht, die die Verwissenschaftlichung der Jurisprudenz mittels der Naturwissenschaften und der mathematischen Logik vorantreibt. Der staatliche Rechtspositivismus versucht gleichzeitig, sich jeglicher geistiger Macht69 zu enthalten und weitet seine idealis63 64 65 66 67 68 69
Schmitt 1912, S. 100. Schmitt 1912, S. 100. Schmitt 1912, S. 126. Schmitt 1912, S. 126. Schmitt 1912, S. 126. Schmitt 1912, S. 43. So meint Schmitt: „Während der staatliche Gesetzespositivismus um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in Deutschland jede Erörterung sachlicher Probleme als ‚unjuristisch‘ ablehnte und sich dadurch aller geistigen Macht beraubte, konnte auf dem Gebiet der Wirtschafts-
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tische Sicht auf die Praxis, auf den konkreten Fall, auf die Norm und auf die Interpretationsmethoden aus. Die „wissenschaftliche“ Reduzierung der Jurisprudenz auf die Ausarbeitung vordefinierter Normen im Einklang mit der Faktizität des „Gesetzeswillens“ oder des „Gesetzgebers“ ist Quelle ständiger Willkürlichkeiten, die sich in der Rechtsanwendung zeigen und so eine Unbestimmtheit erzeugen. Deshalb denunziert Schmitt die juristische Willkürlichkeit, die sich hinter einer angeblichen Rechtsbestimmtheit der systematischen Ansammlung von Normen verbirgt, die vorgängig vom faktischen repräsentativen Staatswillen definiert wurden. Schmitts grundlegender Frage nach dem Kriterium für eine richtige Entscheidung liegt deshalb die andere Frage zugrunde: Was qualifiziert eine staatliche Handlung als juristische Handlung?70 Was verwandelt die staatliche Handlung, deren Begründungsinhalt nicht von einer vorgängig gesetzten Norm abgeleitet werden kann, in eine juristische Handlung? Was macht aus dem richterlichen Urteil eine juristische Handlung? Wie man sieht, behandelt Gesetz und Urteil das Problem der Legitimität, genauer gesagt der Geltungsgrundlage einer legitimen Entscheidung, dessen Bewertungsmaßstab oder -kriterium auf einem Postulat beruht. Das legitime Urteil „verantwortet die Praxis“, d.h. die Anwendung der Norm durch die Richter auf die Wirklichkeit der konkreten Fälle. Das positive Gesetz, die Kulturnormen, die moralischen Weltanschauungen des Volkes, sind für uns nicht mehr bestimmte, feststehende Rubriken, unter die sich ein Komplex von Ereignissen einzuordnen hat, unter die subsumiert werden muss, ehe man sagen kann, eine Entscheidung sei richtig. Sie sind nicht mehr die Gefäße, in die der Richter den Tatbestand hineinschüttet.71
Im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert sah die Generation der Juristen, die dem Rechtspositivismus anhangen, in der Subsumtion der „gegebenen Fakten“ unter vorgängig bestimmte Normen das Gefühl der Rechtsbestimmtheit des Soziallebens. Die Rechtsbestimmtheit des Positivismus ergibt sich aus der Einführung einer gegebenen Tatsache in ein normativ-formales Gefäß. Die Geltungsgrundlage des korrekten Urteils beruht auf dem Postulat der Rechtsbestimmtheit. Schmitt verweigert daher der angeblichen Rechtsbestimmtheit des subsumierenden Kriteriums, das den Volksgeist und die kulturellen Normen in die Allgemeinheit der abstrakten Norm einführt, jeglichen Geltungsanspruch. Das Postulat der Rechtsbestimmtheit wird von der Praxis umgesetzt und nicht von der Garantie eines Vorrangs der Norm. Nur die wiederholte Anwendungspraxis des Rechts vermittelt dem Sozialleben die Gewissheit, dass ein Urteil in Übereinstimmung mit der Wirklichkeit des konkreten Falles gefällt werde. Die wiederholte Entscheidungspraxis in Übereinstimmung nicht mit den normativen Vorgaben, sondern mit der
und Sozialwissenschaft eine von Gustav von Schmoller geführte historische Schule die deutsche Rechts- und Staatsauffassung in bedeutendster Weise beeinflussen“ (Schmitt 2003b, S. 415). 70 Hofmann 2002, S. 33. 71 Schmitt 1912, S. 88.
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konkreten Wirklichkeit reduziert so die Kontingenz und erzeugt Vorhersehbarkeit. Die gesetzgebende Subsumtion denkt sich Fälle als möglich, und wenn sie Beispiele aus dem wirklichen Leben gibt, so gibt sie diese eben als Beispiele; so wie auch dem Gesetzgeber bei der Abfassung des Gesetzes konkrete Fälle „vorschweben“. Er geht von zahlreichen wirklichen Fällen aus, um zum Gesetz zu gelangen, unter das er zahllose als möglich gedachte Fälle subsumiert.72
Die Rechtsbestimmtheit kann nicht durch die spezifischen, konkreten Fälle erlangt werden, die von der universellen oder generischen Struktur der Norm vorausgesetzt sind. Die Subsumtion der Tatsache unter die Norm ist in diesem Sinn der Kontingenz und Unvorhersehbarkeit ausgesetzt, denn die Entstehung richterlicher Urteile erfolgt notwendigerweise unabhängig vom legitimierenden Postulat der Rechtsbestimmung. Die Norm geht von unzähligen konkreten Fällen mittels einer Typisierung aus, d.h. von der idealen Einführung der Einzigartigkeit der Fakten in die universelle Struktur der Norm. Indessen hat es „der Richter immer mit dem konkreten Fall zu tun“, denn er ist an keine ideale, vorgängig festgesetzte Form gebunden. Die Entscheidung verzichtet nicht auf die Form, denn sie ist ein Mittel – nicht ein Zweck –, das in irgendeiner Beziehung zur Einzigartigkeit des konkreten Falles stehen kann. Im Urteil ist die Feststellung der Existenz einer Beziehung zwischen Norm und konkretem, untersuchtem Fall keine Operation a priori, sondern a posteriori. Für Schmitt bedeutet dies, dass der Richter sich in allererster Linie unmittelbar bemüht, der Forderung des konkreten Falles zu entsprechen und die bedrohte Rechtsbestimmtheit zu sichern. Somit wird das Urteil unabhängig von der Abwesenheit einer legalen Vorhersage oder einer Lücke im System gesprochen, denn das Urteil ist immer den Anforderungen einer gegenwärtigen Situation verpflichtet. Das Schmittsche Denken lässt keinen Zweifel daran, dass die Beziehung des Richters zum Gesetz und zur Methode der Subsumtion von Fakten unter die normative Vorhersage (den Tatbestand) des „Gesetzgebers“ immer anachronistisch ist in Bezug auf die von den konkreten Umständen der Gegenwart gestellten Anforderungen. Deshalb „ist das Urteil oft fertig, bevor die Begründung, d.h. die juristische Ableitung aus dem Gesetz, gefunden ist“.73 Das Problem entsteht dadurch, dass die Methode der Subsumtion ihre Möglichkeitsbedingung von einem a priori ableitet, das von der konkreten Wirklichkeit unabhängig ist. Deshalb kann das subsumierende Vorgehen nicht als Kriterium für ein Urteil gelten, denn „unter ein Gesetz subsumierbar ist immer nur ein Tatbestand, nicht eine Entscheidung“.74 Hier findet sich eine grundlegende Eigenschaft des Schmittschen Dezisionismus, die zum ersten Mal in Gesetz und Urteil auftaucht und Schmitts Arbeiten bis mindestens 1933 begleitet: Das Urteil kann in einer normativen Struktur nicht vorausgesetzt werden. In diesem Sinne ist das richterliche Urteil dem Gesetz immer entgegengesetzt, nicht nur seinem Inhalt und seiner universellen Form, sondern auch 72 Schmitt 1912, S. 61f. 73 Schmitt 1912, S. 16f. 74 Schmitt 1912, S. 62.
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jeglicher subsumierenden Methode, jeglicher Interpretation gegenüber, welche seinen Inhalt einschränkt oder den Willen des „Gesetzgebers“ übersteigt. Aus normativer Sicht leitet sich das Urteil aus einem Nichts ab. Das Urteil kann vom Gesetz nicht vorhergesehen werden, noch kann es unter seinen Inhalt, noch unter seine formalen Anforderungen subsumiert werden, denn die urteilende Handlung hält sich an die Einzigartigkeit der Wirklichkeit des konkreten Falles. Für sie existieren keine Tatbestände, keine abstrakten, normativen, vom „Gesetzgeber erdachten“ Lösungen – die nichts Anderes sind als „gegebene Fakten“, d.h. Beispiele von Fakten der konkreten Wirklichkeit, die in die generalisierende Form der Norm eingeführt wurden. Aus der Sicht des vom Richter gesprochenen Urteils existieren keine von der anthropomorphen Figur des Gesetzgebers erdachten Tatbestände, sondern kontingente Fakten einer konkreten Wirklichkeit, die konkreter Antworten auf konkrete Probleme bedarf. Aus Sicht der Entscheidung ist das positive Gesetz eine tote Schrift, begraben in der Einheit eines der Komplexität der konkreten Fälle der Wirklichkeit unzugänglichen Systems. Im Gegenzug ist dem positiven Gesetz zufolge die Entscheidung, die sich an den Anforderungen der Fälle der Wirklichkeit ausrichtet, ein Unfug, der sich zu den formalen Annahmen und zu den von den Regeln der Einheit des Systems vorgesehenen Fakten völlig inkohärent verhält. Dieser Befund enthüllt eine Kluft, deren gegenüberliegende Seiten, die Rechtstheorie und die juristische Praxis, im Folgenden untersucht werden sollen. 1.3 Theorie und Praxis In Gesetz und Urteil findet sich bereits – wenn auch nur ansatzweise – einer der wichtigsten Leitgedanken, die sich durch Schmitts Arbeiten ziehen: der Dezisionismus und die Rechtsverwirklichung, deren Entstehung auf die Unsichtbarkeit und Unbestimmtheit des Rechtspositivismus zurückzuführen ist. Der Rechtspositivismus übernahm in seinem Versuch, die von der Wirklichkeit stammende Kontingenz zu reduzieren, nicht nur die „gesicherten“ Annahmen und Methoden von den Naturwissenschaften, sondern auch die Vorstellung einer als Ebenbild eines kausalen Mechanismus geformten Wirklichkeit. Das antimetaphysische Pathos und das Bild einer empirischen Welt, das von kausalen Gesetzen beherrscht wird, wurden vom Glauben an den wissenschaftlichen Fortschritt der Naturwissenschaften getragen. Angesichts der Technisierung, setzt die Reichweite der Regelmäßigkeit und Normalität des Soziallebens auf die Möglichkeit, Theorie und Praxis durch die Anwendung der adäquaten wissenschaftlichen Mittel zu vereinen. Die Abnützung des rational geprägten Naturrechts und seine Überwindung durch das legalistische, positive Recht finden in Preußen im 19. Jahrhundert statt und sind Folge der Schwächung der traditionellen Ordnung,75 der Volksaufstände und der 75 In Deutschland wurden die letzten Überreste des Feudalismus und der Privilegien des Adels mit der Verfassung der Weimarer Republik 1919 abgeschafft. Die Gerichtsbarkeit des Besitzes und die Polizeimacht der Großbesitzer waren zuvor in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts abgeschafft worden (Stolleis 2002, S. 40).
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Erstarkung des Bürgertums. Die Erosion des metaphysischen Fundaments76 der rechtsnaturalistischen Vernunft machte die Vermeidung eines unkontrollierten Anstiegs der Kontingenz, der Lücken in der Gesetzgebung und der von einer durch revolutionäre Spannungen erregten Wirklichkeit erzeugten Unsicherheiten notwendig. Der Bedeutungsverlust der Philosophie und die unablässige Technisierung des Rechts bringt Letzteres zunehmend auf Distanz zu der konkreten Erfahrung des Lebens und macht es zu einer Wissenschaft. Dieses wissenschaftliche Wissen wird von einem subjektiv errichteten Weltbild gestützt und entfremdet es von der irdischen Ebene menschlichen Tuns. Ende des 19. Jahrhunderts entfernt sich die preußische Rechtstheorie so weit von der Wirklichkeit, dass sie sich in einen ätherischen Bereich verwandelt, der seinen Sitz im himmlischen Reich der Ideen, der Spekulationen und der begrifflichen Verstiegenheit hat.77 Dieses Reich der auf das Gesetz reduzierten Jurisprudenz sollte in der Lage sein, die Wirklichkeit mittels Eliminierung ihrer Kontingenzen zu subsumieren. Die Gefahr jedoch, die von der deutschen Jurisprudenz ausgeht, wird von Schmitt im Fetisch der Mittel verortet, wie z.B. im Fall des Gesetzes, dessen Transzendenz den Zweck der Rechtsbestimmtheit vor der Wirklichkeit des Soziallebens verbirgt. Das zentrale Problem, dem sich Gesetz und Urteil widmet, liegt im Dualismus von abstrakter Form und konkreter Wirklichkeit, Innerem und Äußerem, Gesetz und Entscheidung, Theorie und Praxis. Für den Dualismus, der sich in Deutschland Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts manifestiert, gibt es verschiedene Gründe. Einerseits sah man sich vor die Notwendigkeit gestellt, das Recht angesichts der wachsenden sozialen Komplexität anzupassen, andererseits aber untergrub die Erosion der antiken Metaphysik78 den rechtsnaturalistischen 76 Siehe in diesem Sinne Schmitt, Politische Romantik 1998c, S. 68. 77 Schmitt 1912, S. 4. 78 Michele Nicoletti hebt in seinem Artikel Die Ursprünge von Carl Schmitts politischer Theorie von 1988 zu recht hervor, dass Schmitt in seinen Jugendschriften eine „‘pragmatische‘ Auffassung von der Wahrheit ist bei Schmitt eng mit der Kulturkrise des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jh. verbunden. Der Weg der alten Metaphysik, die die Wahrheit durch die Ordnung des Seins garantiert sah, scheint nicht mehr gangbar. Andererseits erweisen sich auch die Ansätze des Positivismus als unfähig, der Wirklichkeit des menschlichen Geistes wahre Autonomie zu stiften“. Nicolettis Bemerkung entspringt seiner Analyse von Schmitts Doktorarbeit Über Schuld und Schuldarten aus dem Jahre 1910, in der Schmitt die Möglichkeit zurückweist, dass ein Tatbestand „in seiner Übereinstimmung mit einer inneren oder äußeren vorausgehenden Ordnung naturrechtlicher oder metaphysischer Prägung begründet“ sei (Nicoletti 1988, S. 111.). In Gesetz und Urteil erkennt man die Kontinuität derselben Frage, da Schmitt angesichts der Abnützung der „antiken Metaphysik“ die Möglichkeit verwirft, eine Ordnung auf irgendeiner ideellen Ebene zu errichten, sei es aufgrund einer vorausgesetzten Wahrheit oder einer Annahme, die nicht in Beziehung zur Wirklichkeit steht. Schmitt verzichtet jedoch nicht auf ein Prinzip – die Bestimmung des Rechts –, das in der Lage wäre, eine konkrete Ordnung zu begründen, dieses aber müsste empirisch als effizient anerkannt oder a posteriori legitimiert sein, was jedoch nur durch den begründenden Charakter der Entscheidung möglich wäre. In diesem Sinne eines Prinzips, das sich am Zweck, sich tatsächlich zu verwirklichen, ausrichtet, fände sich der pragmatische Zug nicht nur in seinen Jugendschriften, sondern in vielen verschiedenen Arbeiten des Autors.
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Anspruch, ewige Wahrheiten über das wahre Wesen der Dinge zu verkünden. Die Emanzipierung der positiven Wissenschaften von der aufklärerischen, rationalistischen Philosophie machte die Begründung eines epistemologischen Status der unabhängigen Wissensbereiche und „Wissenschaften“ notwendig, damit ihre jeweiligen Möglichkeitsbedingungen, Grenzen und Reichweiten definiert werden konnten. In diesem Umfeld versuchte der Rechtspositivismus, der das Ende des Naturrechts verkündet hatte, sich als Wissenschaft zu etablieren. Nun also erhebt sich die Strömung des Rechtspositivismus, der die Gültigkeit des Naturrechts geleugnet hatte, in den Rang der vorherrschenden Theorie. Es stellen sich jedoch dem Rechtspositivismus im noch nicht zu einem Nationalstaat politisch vereinten Deutschland der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts andere Rechtsströmungen entgegen, wie die historische Schule von Savigny, die Freirechtsschule, die juristische Soziologie und die allgemeine Staatstheorie. Indem der Positivismus die Vorherrschaft der Methode vorantreibt, bläht er das „Sollen“ auf Kosten der Wirklichkeitserfahrung auf. Das auf das Gesetz reduzierte Recht befreit sich von der konkreten Erfahrung, um sie zu verallgemeinern und sich dabei auf abstrakte Weise auf das gesamte Sozialwesen auszuweiten. Der Abgrund, auf den sich Schmitt vor allem in seinen ersten Schriften immer wieder bezieht, ist Symptom einer fehlenden Vermittlung zwischen Rechtsbegriffen, vor allem zwischen dem Gesetzesbegriff und den Tatsachen der sozialen Wirklichkeit. Die Wirklichkeitserfahrung, in Tatbestände des Gesetzes übersetzt, ist nichts als eine leere Tautologie, denn die im Innern des Gesetzes vorhergesehene oder vorausgesetzte Wirklichkeit besteht aus bloßen erdachten Beispielen des „Gesetzgebers“. Die Frage: „Wann ist ein Urteil heute richtig?“ ist eine Frage, die die letzten Fundamente der Gültigkeit der juristischen Norm betrifft. Wer ist der Gesetzgeber? Was sind seine Quellen? Welche konkreten Bestimmungen der staatlichen Handlung machen aus ihr eine juristische Handlung? Das sind die Fragen, die Schmitt stellt und damit die Selbstgenügsamkeit der juristischen Norm zurückweist.79 Nun gilt es, den Dualismus zwischen Rechtstheorie und juristischer Praxis, zwischen Gesetz und richterlicher Entscheidung zu begreifen. Die Untersuchung des richtigen richterlichen Urteils veranlasst Schmitt nicht nur, den Dualismus von Theorie und Praxis anzuerkennen, sondern auch zu zeigen, dass man über dem Bestreben, Theorie und Praxis zu einheitlichem Zusammenwirken zu verbinden, […] übersah, wie grundverschiedene Dinge Rechtslehre und Rechtspraxis ihrer Methode nach sein müssen und wie sehr der Vorwurf der „Weltfremdheit“ von petitiones principii strotzt.80
Schmitt zufolge verschärfte der Versuch, Rechtstheorie und Rechtspraxis zu verbinden, zunehmend die Krise zwischen dem Gesetz und dem richterlichen Urteil. Die Bindung des Richters an das Gesetz, ein fundamentales Prinzip der Unabhän79 Schmitt 1993, S. 14. 80 Schmitt 1912, S. 60.
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gigkeit81 der Judikative, zwang ihn zu „komplizierten Konstrukten“ und dazu, zweifelhafte Fälle nicht zu entscheiden. Gleichzeitig aber erlaubte sie ihm nicht, Gerechtigkeit zu verweigern, und verpflichtete ihn auf den Gehorsam gegenüber der restriktiven und extensiven Interpretation, deren Zweck die Verhinderung der Abweichung vom Inhalt der juristischen Norm war. Die von der Rechtstheorie an den Richter gestellten Anforderungen setzten ihn der Unsicherheit und der Ungewissheit aus und konfrontierten ihn mit der Unverständlichkeit des Gesetzes. Angesichts dieser Situation bemerkt Schmitt, dass „komplizierte Konstrukte“, die aus der juristischen Praxis hervorgingen, notwendig waren, denn die Bindung des Richters an das Gesetz rief im Verein mit dem Rechtsverweigerungsverbot, wonach der Richter sich nicht auf Schweigen oder Dunkelheit der Gesetze berufen darf, einen „Notstand des Richters“82 hervor, einen Konflikt, der von Radbruch abschließend dargestellt ist.83
Die Nichtanerkennung des Dualismus zwischen Theorie und Praxis seitens der Verfechter des Positivismus führte zu einem noch stärkeren Beharren auf der Anwendung von wissenschaftlichen Prinzipien, um die juristischen Regeln an die Anwendung des Rechts zu binden. Doch diese Haltung führte zu einer immer stärkeren Polarisierung zwischen Gesetz und Urteil und machte den „Notzustand des Richters“ angesichts der „Unverständlichkeit des Gesetzes“ offensichtlich. Ungeachtet des Geschehens sollte die Entscheidung gemäß dem „Prinzip der Konformität“ in Übereinstimmung mit dem „geltenden positiven Recht“ erfolgen. Schmitt zufolge fände die Frage nach der richtigen Entscheidung eine einfache Antwort, wenn das Gesetz eindeutig dem Richter vorschreibt, einen ganz bestimmten Tatbestand in bestimmter Weise zu beurteilen. Wenn es etwa eine positive Gesetzesvorschrift gäbe, die dem Richter befähle, sich streng an den Wortlaut des Gesetzes und den Sprachgebrauch des täglichen Lebens zu halten und keinen Fall zu entscheiden, der nicht zweifellos durch ein Gesetz geregelt wird, so wäre danach die größte Wahrscheinlichkeit begründet, dass alle richterlichen Entscheidungen richtig würden.84
Für den Juristen aber enthielte ein derartiges Gesetz „seine eigene Widerlegung darin, dass es eigentlich darauf hinausläuft, dem Richter zu befehlen, nur dann zu entscheiden, wenn er sicher ist, richtig zu entscheiden, im Zweifel aber die Ent81 Der Dualismus und der „Notzustand“, in welchem sich die deutsche Jurisprudenz befand, hätten ihren Ursprung in der „Lehre von der Trennung der Gewalten, insbesondere der Unabhängigkeit der Rechtspflege von der Verwaltung“ in der „die richterliche Gewalt durch unabhängige, nur dem Gesetze unterworfene Gerichte ausgeübt“ wird (Schmitt 1912, S. 7). Die Gewaltenteilung führt zu einer nicht eindeutigen „Unabhängigkeit“ der Judikativen und zu einer Trennung zwischen dem Gesetz und der Motivation seines Inhalts. 82 Der Ausdruck „Notstand“ könnte Zweifel wecken, weshalb es darauf hinzuweisen gilt, dass „er sowohl für das Privatrecht, im Strafrecht, als auch für das öffentliche Recht als in der Form des Notfalls gilt“ (Bobbio 1992, S. 136). 83 Schmitt 1912, S. 9. 84 Schmitt 1912, S. 5.
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scheidung abzulehnen“.85 Selbst wenn es die Möglichkeit gäbe, dass das Recht die Praxis an ihre Prinzipien angliche, wäre „mit jenem ‚Ideal‘ einer gesetzmäßigen Praxis […] also nicht viel gewonnen, weil selbstverständlich gerade die Zweifelsfälle es sind, von denen sowohl das wissenschaftliche wie das praktische Interesse ausgeht“.86 Man sollte die Kritik an der vorherrschenden Theorie des Rechtspositivismus nicht aus den Augen verlieren, die die Zweifel durch eine Reduzierung des Rechts auf das Gesetz und folglich auch durch eine Anbindung der juristischen Praxis an die Rechtstheorie zu eliminieren vorgibt. Gleich zu Beginn von Gesetz und Urteil bringt Schmitt sein Interesse für „zweifelhafte Fälle“, für den „Notzustand des Richters“ und für die „Unverständlichkeit des Gesetzes“ zum Ausdruck. Allein schon die Untersuchung dessen, was ein korrektes Urteil wäre, bewegt ihn dazu, den „Geist des mechanischen Zeitalters“ zu denunzieren.87 Das von der Rechtstheorie dargestellte Bild der juristischen Praxis zeigte den Richter als „Maschine der Subsumtion“, als „Automaten“. Der Prozess der Technisierung des Rechts offenbarte die Verwirrung zwischen innerem Aufbau einer Welt von Ursache und Wirkung und einer Wirklichkeit, die sich nach Entscheidungen und Lösungen für ihre Probleme sehnte. Die Unklarheit in Bezug auf Subjektivität und Objektivität, Inneres und Äußeres, Sollen und Sein wird in verschiedenen Problemen sichtbar, die den Fokus auf die Unmöglichkeit richten, die juristische Praxis einer „Wissenschaft“ des Rechts zu unterwerfen. 1.4. Dogmen, Fiktionen, Interpretationsmethoden Mit der Absicht, die von der deutschen Jurisprudenz verwendeten Dogmen, Fiktionen und Methoden aufzudecken, macht Schmitt sich auf die Suche nach Antworten auf verschiedene Fragen: Worin liegt die Ursache für den Obskurantismus, in dem sich die deutsche Jurisprudenz befindet? Weshalb arbeitet die „traditionelle Hermeneutik“88 fortwährend mit Fiktionen, und weshalb verschleiert sie die Art und Weise, in der Urteile gesprochen werden? Schmitts Untersuchung der Rechtsanwendung zeigt, dass das Dogma der geschlossenen Einheit des Systems juristischer Normen eine Fiktion ist. Seine Analyse des Kriteriums für eine richtige Entscheidung in der Rechtspraxis zeigt, wie unmöglich es ist, dass eine juristische Entscheidung des konkreten Falls sich an das System juristischer Normen
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Schmitt 1912, S. 6. Schmitt 1912, S. 6. Schmitt 1991b, S. 66. Die von Schmitt kritisierte „traditionelle Hermeneutik“ entspricht der „Begriffsjurisprudenz“, die in Deutschland im 19. Jahrhundert aufkam und unter anderen von Georg Friedrich Puchta, Bernhard Windscheid und Rudolf Jehring vertreten wurde. Der Unterschiede im Denken dieser Autoren ungeachtet, stellen diese eine der ersten Strömungen des juristischen Positivismus dar, die „das Recht im Wesentlichen zwar mit dem Gesetz gleichsetzt, dieses aber als Ausdruck nicht der bloßen Willkür […] verstanden“ (Larenz 1991, S. 29). Es handelt sich hierbei um einen Positivismus, der sich auf den Willen des historischen Gesetzgebers abstützt und von vernünftigen Richtern als seinem Fundament ausgeht.
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durch generalisierende Abstraktionen, Subsumtionen und Deduktionen halte.89 Dies hat verschiedene Gründe: Zum einen hat die Gewaltentrennung, insbesondere die Unabhängigkeit der Judikative von der Verwaltung, den Richter dem Gesetz unterworfen. Den historischen Interpretationsmethoden zufolge soll der Richter sich an den „klaren Wortlaut“ des Gesetzes halten. Was aber ist der „klare Wortlaut des Gesetzes“? Angesichts einer fehlenden Erklärung im „Gerichtsverfassungsgesetz“ wendet der Jurist die Methoden der „traditionellen Hermeneutik“ an. Er bemerkt, dass, um dem Postulat einer Bindung an das Gesetz nachzukommen, der Richter mittels Subsumtion des konkreten Falles unter den „Willen des Gesetzgebers“ oder den „Gesetzeswillen“ vorgehen muss. Ebenso stellt er fest, wie der erste Paragraph des Gerichtsverfassungsgesetzes „umfangreiche Überarbeitungen der Gesetzesworte, ihre umgestaltende Durchdringung mit tausend wissenschaftlichen Begriffen, ihre Umformung zu einem System“ bewirkte und „Berge von Büchern“ hervorbrachte, „die oft auf einem einzigen Gesetzesworte lasten“.90 Schmitt zufolge ist die Beziehung zwischen Praxis und Gesetzeswortlaut nicht deutlich. Der Zugang zum „klaren Wortlaut“ des Gesetzes kann nur mittels „komplizierter Konstrukte“ erfolgen. Der Jurist untersucht die von Handbüchern und Kommentaren vorgeschlagene Methode, welche die verschiedenen Verfahren der „traditionellen Interpretation“, wie z.B. die „extensive (ausdehnende) und restriktive (einengende) Interpretation, die Analogie und den Beweis aus dem Gegenteil (argumentum e contrario)“, abwägt.91 Er bemerkt, dass die vorgeschlagene Methode ohne jeden Nachweis voraussetzt, dass „eine richterliche Entscheidung dann richtig ist, wenn das Gesetz richtig interpretiert wird“.92 Die Diskussion über die der richterlichen Entscheidung angemessene Methode hatte in Deutschland den „Kampf um die Rechtswissenschaft“ entflammt, der seinen Ausgang von den unbefriedigenden Ereignissen der herkömmlichen Auslegungsmethode nahm und in dem die „moderne“ und „freirechtliche“ Bewegung wenigstens in Deutschland zunächst nur oppositionellen Charakter trug.93
Die „moderne“ Bewegung des „Freirechts“94, deren Ideen Schmitt bis zu einem gewissen Punkt positiv gegenübersteht, hatte sich gegen die herrschende Theorie
89 Die hier kritisierte Deduktion ist die logische Deduktion, d.h. das logisch-deduktive Vorgehen, dessen Ursprung weder der deutschen idealistischen Philosophie noch Hegel zugesprochen wird, sondern dem Rationalismus des 18. Jahrhunderts, insbesondere dem Denken Christian Wolfs (Larenz 1966, S. 38). 90 Schmitt 1912, S. 9. 91 Schmitt 1912, S. 11. 92 Schmitt 1912, S. 11. 93 Schmitt 1912, S. 12. 94 Die sogenannte „Freirechtsschule“, die unter anderen von Eugen Ehrlich und Oskar von Bülow vertreten wurde, kam zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Opposition zum juristischen Positivismus auf. Ihr Grundgedanke war, dass die richterliche Entscheidung sich nicht auf eine bloße Anwendung des Rechts reduzieren ließe, da sie auch eine „juristisch-schöpferische
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des Rechtspositivismus und seine traditionelle Auslegungsmethode aufgelehnt. Die Freirechtsschule verurteilte in der „Lehre von der ‚logischen Geschlossenheit‘ des Rechts dessen Lückenhaftigkeit und Unzulänglichkeit, die ‚Armseligkeit‘ des Materials der herkömmlichen Auslegungslehre“. Der „Lehre von der logischen Geschlossenheit“ stellte die „moderne“ Freirechtsschule „die psychologische Tatsache“ gegenüber, „dass für den Richter bei der Urteilsfindung in Wahrheit gefühlsmäßige, irrationale Momente maßgebend sind, nicht aber die mühsamen, am Wortlaut des Gesetzes orientierten Deduktionen und Konstruktionen“.95 Der Vorwurf der Freirechtsschule wandte sich gegen die Methode der „traditionellen Hermeneutik“ und erklärte, dass die bisherige Methode ein unwürdiges Gaukelspiel mit Begriffen und Konstruktionen sei, dass sie den Weg verberge, auf dem in Wirklichkeit die Entscheidung gefunden sei und gefunden werden müsse: Rechtsbewusstsein, Interessenabwägung, Berücksichtigung realer Verkehrsbedürfnisse, soziale Erwägungen.96
Der Jurist stimmt der Kritik der Freirechtsschule in Bezug auf die Tatsache zu, dass es unmöglich sei, das richterliche Urteil auf die logischen Verfahren der Interpretation zu gründen. Dennoch beklagt Schmitt, dass die Freirechtsschule an einem horror vacui leide, genauer an einer Abneigung gegen die Rechtslücken. Die konstante Sehnsucht, die Rechtsquellen zu erweitern, und insbesondere der Zwang, die richterliche Entscheidung den genannten Quellen anzugleichen, gleiche die Freirechtsschule der traditionellen Hermeneutik an, die vom Rechtspositivismus beherrscht sei.97 Schmitt beschäftigt sich mit der fehlenden methodischen Klarheit und der Verwirrung, die aus der Anwendung der extensiven und restriktiven Interpretationsverfahren, aus der Analogie und dem horror vacui entstehen, mittels derer man das vorgesehene Resultat zu erreichen suchte. Die problematischsten dieser Interpretationsmethoden sind Schmitt zufolge die Verfahren der Analogie98 und des argumento e contrario.99 Die logischen Fehler und Irrtümer zeigen sich „im Wege der Analogie aus dem ‚Prinzip‘ eines Rechtssatzes in ‚logischer Konsequenz‘, im reinen ‚Verhältnis von Grund und Folge‘ eine Menge neuer Rechtssätze abzuleiten“.100 Durch dieses Verfahren wollte die „traditionelle Hermeneutik“ durch rein logische, von Begriffen ausgehende Deduktion die richtige Entschei-
95 96 97 98 99 100
Leistung“ sei. Der Ausdruck „Freirechtstschule“ sei an einer Konferenz von Eugen Ehrlich geprägt worden (1966, S. 75). Schmitt 1912, S. 12. Schmitt 1912, S. 12. Schmitt 1912, S. 39. Analogie wird hier in dem Sinne verstanden, den ihr die Begriffsjurisprudenz verliehen hat: als formal-logisches Verfahren, durch welches die Schlussfolgerung aus allgemeinen, den „Gesetzen des Denkens“ entsprechenden Normen gezogen wird (Larenz 1966, S. 301f.). Das argumento e contrario „besteht, einfach ausgedrückt, darin, aus einer annehmbaren Aussage durch die ihr entgegengesetzte Aussage zu erschließen“ (Ferraz Júnior 1994, S. 337– 339, hier aus dem Brasilianischen übersetzt). Schmitt 1912, S. 13.
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dung finden, doch man bemerkte nicht, dass, obwohl es zwar möglich war, auf dem Wege der Logik das Wissen zu ordnen, es nicht möglich war, dieses auf diesem Wege zu erweitern. Schmitt fügt hinzu, dass es zwischen Prämisse und Schluss einen Syllogismus gäbe, dass aber zwischen Schluss und Syllogismus keine sichere Beziehung existieren könne. Unter dem Einfluss des Buches Die Philosophie des Als Ob von Hans Vahinger (1852–1933) weist er auf die Irrtümer in den Verfahren der herkömmlichen Theorie hin, die immer mit logischen „Begriffen“ operierte, sie gab einmal beständig ihre in Wahrheit teleologische Betrachtung als logische aus und beging dann noch den logischen Fehler, zu glauben, das Allgemeine aus dem Einzelnen, das genus aus den species zwingend ableiten zu können.101
Das logische Verfahren des argumento e contrario, mit welchem sich Schlüsse aus dem Schweigen des Gesetzes ziehen lassen, verschleiert auch die Beziehung zwischen der richterlichen Entscheidung und dem Inhalt des Gesetzes. Schmitt bemerkt, dass diese Interpretationsmethode sich als Argument zugunsten der Gültigkeit der allgemeinen „Logik“ ausgab. Sein Widerspruch offenbarte sich im Umstand, „dass man bald analog, bald e contrario argumentierte, ohne imstande zu sein, anzugeben, welches logische Prinzip diesem Wechsel zugrunde lag“. Dieser Wechsel gründete auf einem teleologischen Fundament: „eine Zweckbetrachtung, für welche die ‚logischen‘ Argumentationen nur Werkzeuge waren, um anders gefundene Resultate zu ‚begründen‘“.102 In Bezug auf die Kritik an der traditionellen Methoden- oder Interpretationslehre, die von der Begriffsjurisprudenz – einer Strömung des juristischen Positivismus – angewandt wurde, bemerkt Schmitt, dass die Begriffe an sich steril, sinnentleerte Formen seien. So zeige sich, dass die „Rechtsbegriffe nicht ‚fruchtbar‘ sind, so wenig wie irgendein Begriff; fruchtbar ist nur der Zweck“.103 Die Begriffe gewinnen Sinn nur in ihrer praktischen Anwendung, die auf die empirische Wirklichkeit ausgerichtet ist und einen durch diese anerkannten Zweck aufweist. Der Rechtsbegriff, der von der auf das Bedürfnis der Rechtsbestimmtheit ausgerichteten Entscheidung losgelöst ist, ist ein leerer Begriff. Schmitts Orientierung im Sinne einer Anpassung der Rechtsbegriffe an einen von der Wirklichkeit anerkannten Zweck ist alles andere als trivial. Insbesondere wenn wir in Betracht ziehen, dass „die formale Begriffsjurisprudenz“ auf einer von Georg Friedrich Puchta (1798–1846) entwickelten „begrifflichen Pyramide“ beruhte: eine Pyramide, deren Spitze ein allgemeiner Begriff war, unter den sich logischerweise alle anderen subsumieren ließen.104 Die Formulierung von Begriffen mittels der von der Rechts„wissenschaft“ angewandten Technik stand also im Dienste eines Zweckes: des Postulats der „Rechtsbestimmtheit“, welches die Praxis der Theorie, d.h. den Richter dem Gesetz unterwerfen sollte. 101 102 103 104
Schmitt 1912, S. 14. Schmitt 1912, S. 14. Schmitt 1912, S. 14f. Larenz 1966, S. 34f.
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Gesetz und Urteil Das Bestreben, eine rein logische Jurisprudenz zu schaffen, einwandfreie und klare Begriffe zu bilden, die eine sichere Unterordnung jedes konkreten Falles rasch und sicher ermöglichten, entsprang diesem Postulat. Die Ängstlichkeit, mit der sich die älteste Jurisprudenz an den Wortlaut des Gesetzes hält und lieber die tollsten Rabulistereien treibt, als dass sie diesen Wortlaut antastet, entspringt dem Instinkt der Rechtsbestimmtheit, der in der (heteronomen) Sprache den Boden gefunden zu haben glaubte, auf dem die Objektivität und Bestimmtheit herrschte und den man daher nicht verlassen dürfe.105
Der Glaube an die Offenbarung einer „positiven Tatsache“ durch das geschriebene Gesetz haben Rechtswissenschaft und Theologie gemeint. Doch sie stellt eine Quelle der Unsicherheit dar, denn die Verantwortung zur Bestätigung der Information oder der Tatsache wird auf das Verfassen des Gesetzestextes übertragen. Die Objektivität oder Heteronomie beschränkt sich somit auf die schriftliche Verbreitung oder Offenbarung des „Willens des Gesetzgebers“. Sich zur Kristallisation der gegebenen, vorgängig im Gesetzestext definierten Tatsache äußernd, meint Schmitt in seinem Tagebuch, genauer im 1991 veröffentlichten Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947–1951: „Das Recht bezieht sich auf die Vergangenheit, nicht auf die Gegenwart, und ist an die Vergangenheit gebunden“. Das mit der Vergangenheit verbundene Recht sei eine „vorherbestimmte Satzung, etwas Vorgegebenes. Das ist alles schon rechtstaatlich, ‘anteceding law, regula‘“.106 Das in der Entscheidung gewonnene dezisionistische Recht entsteht erst im Augenblick der Entscheidung, und das Recht jeder konkreten Ordnung ist dauernde Gegenwart. Die Bindung an die Vergangenheit gilt also nur für die regula.107
Deshalb bemerkt Schmitt in Gesetz und Urteil: „Die Entscheidung muss begründet sein, d.h. sie muss dartun, warum sie richtig ist bei der gegenwärtigen Rechtssituation“ (Schmitt 1912, S. 69). Es sei hier darauf hingewiesen, dass der dynamische Charakter des Rechts in der Begründung der Entscheidung und nicht in der fließbandartigen Herstellung von Gesetzen liegt. 108 Diese Anmerkungen lassen insbesondere deshalb aufhorchen, weil sie auf den Gegensatz von Gegenwart und Vergangenheit, von dezisionistischem und normativistischem Recht hinweisen. Der grundlegende Gedanke, der mit der „alten Jurisprudenz“, aber auch mit dem Rechtspositivismus verbunden ist, ist sein anachronistischer Zug. Das moderne positive Recht und sein „Fortschritt“, der durch die Systematisierung und Kodifizierung der Gesetze erreicht wird, wird immer in Bezug gesetzt zu der von der gegenwärtigen Wirklichkeit abgetrennten, vorgegebenen Tatsache. Es ist interessant zu beobachten, wie das Dogma der Autorität der Offenbarung des schriftlichen Textes die normative Wissenschaft dem Recht und der Theologie annähert. Man könnte also fragen, ob „die lutheranische 105 106 107 108
Schmitt 1912, S. 90. Schmitt 1991a, S. 45. Schmitt 1991a, S. 45 Ebenfalls sei daran erinnert, dass noch heute in Brasilien von den Gesetzen nicht nur erwartet wird, dass sie sozialen Beziehungen Stabilität verleihen, sondern auch die Macht besitzen, diese zu verändern.
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Bindung an die Schrift [...] keine Bindung an die Vergangenheit ist? Enger und starrer als die regula fidei des katholischen Dogmas! Ist jede Dogmatisierung Verrechtlichung?“109 Aufgrund ihres Verständnisses von Sicherheit, die die Tatsachen der sozialen Wirklichkeit im Innern verallgemeinerbarer, normativer Strukturen kristallisiert, neigt die Vorherrschaft des Gesetzes oder der normativistischen Denkweise dazu, sich zu totalisieren. Der Glaube an das Dogma des Gesetzes führt zur Verrechtlichung der Wirklichkeit oder zur Subsumtion der Wirklichkeit unter die universelle Form des Gesetzes, was ihre Erstarrung zur Folge hat. Es ist unerlässlich hinzuzufügen, dass die Gleichsetzung von Recht und Gesetz und seine Bindung an die Vergangenheit – gerade weil das Sicherheitsgefühl auf dem Prinzip der Vorgegebenheit des Gesetzes ruht – dazu tendieren, sich in einen beschleunigten Prozess der legislativen Produktion zu verwandeln. In Abwesenheit von oder angesichts einer Bedrohung der bisweilen fragilen politischen Vereinbarungen – wie sie vom Ende des 19. bis fast Mitte des 20. Jahrhunderts in Deutschland existierten –, die die juristische Ordnung garantieren, beschleunigt sich der legislative Rhythmus. Europas Juristen des 19. Jahrhunderts konnten sich noch sicher fühlen, denn „die Methode und das Tempo der Gesetzgebung, die Vorbereitung und Entstehung der Gesetze blieben auch nach 1848, während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in enger Verbindung mit der Rechtswissenschaft“.110 Die Positivität des Rechts, die wichtigste Eigenschaft des Rechtspositivismus, deren Sinn das Recht als veränderbares Prinzip darstellt, war noch mit der wissenschaftlichen Methode kompatibel. Vom Standpunkt des legalistischen Positivismus des 19. Jahrhunderts und der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts aus betrachtet, wird dieses modifizierende Prinzip des Rechts nur in den Federstrichen des Gesetzgebers gesehen. Deshalb konnte im 19. Jahrhundert ein Großteil der Kommentare der großen legislativen Werke sich noch an der Rechtswissenschaft ausrichten: „Das Entscheidende war: die Federstriche des Gesetzgebers, die ein solches Schrifttum in Makulatur verwandelten und ein zum gleichen Schicksal prädestiniertes neues Schrifttum ins Dasein riefen, erfolgten nicht als etwas Alltägliches.“111 Bis 1914 konnte sich die vom juristischen Positivismus dominierte Rechtswissenschaft noch damit brüsten, Sprecher der objektiven Vernunft der Gesetze zu sein. Die Ausübung dieser Funktion sollte die Geltung der Gesetze sicherstellen, denn diese unterhielten keinerlei Verbindung zu den subjektiven Motivationen eines von politischen Spannungen zwischen Monarchie und Bürgertum zerrissenen Parlaments. In diesem Sinne besaß der Rechtspositivismus das Monopol auf die Interpretation des Wortlautes des Gesetzes. In Deutschland beschleunigt sich der legislative Prozess nach 1914, mit dem Krieg und in der Nachkriegszeit, mit der Inflation usw. immer mehr, und die Zeit, die dem Inkrafttreten der Normen gegeben ist, wird immer kürzer. Damit verändert sich der staatliche Rechtspositivismus in seiner Substanz: er wird zu einer legislativen Maschine, die 109 Schmitt 1991a, S. 45. 110 Schmitt 2003b, S. 401. 111 Schmitt 2003b, S. 401.
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das Produktionstempo in unvorstellbarem Ausmaß erhöht. Die Vorstellung des an die Vergangenheit gebundenen Gesetzes und des noch vom Gesetzgeber des 19. Jahrhunderts geführten Federstriches, der jedoch schon in der Lage war, ganze Bibliotheken auszulöschen, müssen dem „motorisierten Gesetz“, dem Dekret, den Übergangsregelungen und jeder elastischen Form des Gesetzes weichen. Die Beschleunigung und der Kontrollverlust des allmächtigen Gesetzes offenbaren dessen Unterwerfung unter die faktische Befehlsgewalt. Aber mit der Motorisierung des Gesetzes zur bloßen Verordnung war der Höhepunkt der Vereinfachungen und Beschleunigungen noch nicht erreicht. Neue Beschleunigungen ergaben sich aus der Marktordnung und der staatlichen Lenkung der Wirtschaft […].112
Man darf nicht vergessen, dass Schmitt in Gesetz und Urteil der Figur des Gesetzgebers die Anwendung des Rechts als Resultat der Erfahrung der juristischen Praxis gegenüberstellt. Koselleck stimmt Schmitt zu, wenn er sagt, dass das Recht, „um Recht zu sein, auf seine wiederholte Anwendbarkeit angewiesen“ sei.113 Es ist die Entscheidung, d.h. die Anwendung des Rechts auf die gegenwärtige Situation, und nicht die Ausarbeitung von Gesetzen und vorgängigen Begriffen, die die Bestimmtheit des Rechts und folglich die Vorhersehbarkeit menschlichen Handelns garantiert. Somit bedeutet Vorhersehbarkeit die Erzeugung von Erwartungen, die aus den konstanten Entscheidungen in der juristischen Praxis hervorgehen. Daher entsprechen die Sicherheit und die Stabilität nicht der Vorhersehbarkeit, die aus der Erarbeitung und Geltung der Gesetze resultiert. Das von Schmitt entwickelte dezisionistische Recht geht von seinem Widerstand gegen das vom Rechtspositivismus ausgeübten Interpretations- und Systematisierungsmonopol der Gesetze aus. Zur gleichen Zeit, da der juristische Positivismus die Macht besaß, den Wortlaut des Gesetzes zu bestimmen, betrachtete er auch seine Quelle, d.h. das mit juristischer Relevanz ausgestattete Vorgegebene als heilige Offenbarung. Deshalb waren die positiven Wissenschaften […] bisher Theologie und Rechtwissenschaft; sie hatten ein positiv Gegebenes, nämlich eine schriftliche fixierte Offenbarung. Ungeheuerliche Verwirrung, als von Menschen für Menschen gesetzte Satzungen das Wesen des Positivismus ausmachen sollten, als die angeblich voraussetzungslos exakten Naturwissenschaften den „Positivismus“ in Anspruch nahmen. Die Jurisprudenz teilt dann das Schicksal der Theologie. Jetzt öffnet sich für sie der Abgrund des Dilemmas: Theologie oder Technik.114
Dieser Abschnitt zeigt, wie der Glaube an die Tatsache, an das objektiv von der empirischen Wirklichkeit Vorgegebene die positiven Wissenschaften beeinflusst, die auf der Vorstellung gründen, dass die faktische Welt in Bezug auf die Subjekte autonom sei und deshalb objektiv erkannt werden könne. Daher begreift Schmitt, dass Theologie und Rechtswissenschaft den Glauben gemeinsam haben, dass das Vorgegebene in seiner höchsten Objektivität oder Wahrheit in der Schrift 112 Schmitt 2003b, S. 407. 113 Koselleck 2003, S. 352. 114 Schmitt 1991a, S. 75.
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offenbart oder bestätigt werde. Das gemeinsame metaphysische Fundament, welches Theologie und Rechtswissenschaft miteinander teilen, entstammt dem Glauben an die Fähigkeit der Schrift, eine objektive Tatsache – sei es nun ein Wille oder eine vorgegebene natürliche oder soziale Tatsache – zu offenbaren oder zu bestätigen. 1.5. Die Sakralisierung des Gesetzes und ihr Verfahren der Unsichtbarkeit In Schmitts Jugendschrift Gesetz und Urteil zeigt sich bereits eine der größten Herausforderungen, die sich dem Juristen im Laufe fast seines ganzen Lebens stellen wird: die Herrschaft des Gesetzes in Europa seit der Einführung des juristischen Positivismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Untersuchung der vom Staatspositivismus hergestellten Verbindung zwischen positivem Gesetz und seiner Anwendung im Bereich der juristischen Praxis macht deutlich, dass die Entscheidung gemäß dem Willen des Gesetzgebers oder des Gesetzes zu erfolgen habe. Die Analyse der Interpretationsmethoden dessen, was der „Wille des Gesetzgebers“ sei, offenbart die Gewissheit der Vermittlung dieses Willens mittels einer „richtigen“ richterlichen Entscheidung. Der Glaube an das Gesetz gründete sich jedoch auf die Illusion eines „Willens“, der vom „wirklichen Willen des Autors des Gesetzes“ oder des Willens des „konkreten empirischen ‚Gesetzgebers‘“ zum „Willen des Gesetzes“ abdriftete. In jenem Teil seiner Arbeit, den Schmitt dem „Willen des Gesetzgebers“ widmet, versucht der Autor, das dem Willen des Autors des Gesetzes oder des historischen Gesetzgebers zugrundeliegende Rätsel zu lösen und die Gründe für die Verschiebung der dem Willen des Gesetzgebers zur Verfügung stehenden hermeneutischen Verfahren hin zum Willen des Gesetzes oder des Textes zu verstehen. Das Rätsel der Verschiebung des Willens des Gesetzgebers hin zum Willen des Gesetzes kann durch eine Untersuchung der Verschiebung von der Subjektivität zur Objektivität des Willens entschlüsselt werden. Der Wille der konkreten, in Raum und Zeit verhafteten Person erhebt sich zur Größe eines unpersönlichen, objektiven Willens, der nicht nur dem Raum seiner Erfahrung entrissen ist, sondern auch den Gründen seiner Entstehung. Die Evolution der Gesetzesinterpretationsverfahren beschreibt den Prozess, durch welchen der persönliche Wille sich von seinem Schöpfer unabhängig macht, autonom in Bezug auf den Inhalt und transzendent in Bezug auf den Volkswillen wird er vom parlamentarischen Körper isoliert. Das Gesetz als autonome, objektive und unpersönliche Größe entledigt sich so der gespaltenen Willen und der politischen Fragmentierung, aus denen es entstanden ist. Dieses Gesetz findet in der Rechtswissenschaft und in der juristischen Praxis die unverzichtbaren Vertreter und Träger seiner „objektiven Vernunft“.115 Nicht zufällig zitiert der Jurist den Spruch: „Das Gesetz ist stets klüger als der Gesetzgeber.“116
115 Schmitt 2003b, S. 402. 116 Schmitt 2003b, S. 403.
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Die Methode der Gesetzesauslegung war verbunden mit der Gewaltentrennung des preußischen Staates, vor allem aber mit der Eigentümlichkeit seiner konstitutionellen Monarchie von 1848. In seiner Verfassungslehre von 1928 benennt Schmitt den Dualismus zwischen monarchischer Regierung und Volksvertretung als Eigenheit dieser Regierungsform. Der Grund für die Zwiespältigkeit der preußischen konstitutionellen Monarchie, die sich bis 1918 hielt, wird vom Juristen in der Aufschiebung der Entscheidung in Bezug auf die politische Souveränität gesehen. Die Aufschiebung der Entscheidung resultiert aus der „Alternative: entweder erlässt der Fürst auf der Grundlage des monarchischen Prinzips aus der Fülle seiner Staatsgewalt eine Verfassung – oder die Verfassung beruht auf einem Akt der verfassunggebenden Gewalt des Volks, d.h. auf dem demokratischen Prinzip“. Für Schmitt ist „der ‚Dualismus‘ dieser Verfassungen unhaltbar“, denn „innerhalb jeder politischen Einheit kann es nur einen Träger der verfassunggebenden Gewalt geben“.117 Dennoch gab es keinen Konflikt zwischen liberalem Bürgertum und Monarchie, denn „in Wirklichkeit beruhte die Verfassung trotz aller Verschleierungen und Ausweichungen entweder auf dem monarchischen oder auf dem demokratischen Prinzip“.118 Es war in Wahrheit ein zweifelhafter „dilatorischer Formelkompromiss“, durch welchen der Fürst weder auf seine verfassunggebende Gewalt verzichtete, noch die Gründung der Macht auf das Volk anerkannte. Was ermöglichte diesen „Zwischenzustand“ eines Dualismus zweier gegensätzlicher politischer Repräsentationen? Das positivistische Verständnis von Staatsrecht und Verfassung, verbunden mit einem formalen Liberalismus und gestützt von einem günstigen wirtschaftlichen und politischen Umfeld, erlaubten die Koexistenz zweier gegensätzlicher politischer Haltungen. Mit dem Glauben an den legalistischen Positivismus, d.h. „mit dem Glauben an Kodifikation und systematische Einheit entfällt aber auch der reine Normbegriff der Verfassung, wie ihn die liberale Idee eines absoluten Rechtsstaates voraussetzt“.119 Die positivistische Idee des Verfassungsbegriffs, verstanden als Normensystem, wurde ermöglicht durch das Amalgam aus juristischem Positivismus und politischem Liberalismus. Die Erosion des metaphysischen Fundaments des bürgerlichen Naturrechts, genauer seinem universalistischen und souveränen Verständnis der natürlichen Vernunft, hatte Raum geschaffen für den Übergang von der aufklärerischen Vernunft zum absoluten Charakter des positiven Gesetzes. Das letzte Fundament der liberalen Metaphysik legte eine weitere Quelle offen: Die Unveränderlichkeit und der Vorrangs des Rechts wurden durch die Überlegenheit des positiven Gesetzes als Tatsache der Wirklichkeit verdrängt. In diesem Sinne verlor „der liberale Staat des absoluten Gesetzes“ die Kraft seines absoluten Charakters nicht, den es ja dem Fundament der Überlegenheit des Gesetzes verdankte, so wie es der legalistische Positivismus verstand. Die positivistische Vorstellung der Verfassung, die sich hinter der Fassade der konstitutionellen Monarchie verbarg, erlaubte die
117 Schmitt 2003d, S. 53f. 118 Schmitt 2003d, S. 54. 119 Schmitt 2003d, S. 11.
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Erhaltung eines Zwischen- oder paradoxen Zustands. Angesichts der politischen Spaltung wurde der Zwischenzustand in theoretischer Hinsicht dadurch verschleiert, dass es liberalen Vorstellungen entsprach, eine „Souveränität der Verfassung“ zu fingieren und dadurch die politische Kernfrage nach der verfassunggebenden Gewalt zu umgehen. Praktisch, d.h. in der geschichtlichen und politischen Wirklichkeit, war dieser Zustand einer vertagten Entscheidung möglich, solange die innerpolitische wie die außenpolitische Lage gleichmäßig und ruhig blieb.120
Das Problem aber entsprang der Tatsache, dass die Souveränität den Gesetzen und nicht den Menschen zugesprochen wurde.121 Die relative politische Stabilität hatte einen objektiven und unpersönlichen Gesetzesbegriff hervorgebracht, der wie eine Brücke über den Abgrund der politischen Zersplitterung gespannt wurde.122 Das Gesetz stand also über der politischen Macht, der Staat erschien wie ein lebender Organismus und die Verfassung wie ein Geschenk des Himmels.123 In seiner Diskussion über die Abnutzung des Gesetzes klagt Schmitt den Glauben des Rechtspositivismus an, wonach „aus dem Quell des Gesetzes die Entscheidung geschöpft“ ist.124 Für Schmitt jedoch liegt die Unmöglichkeit, die Entscheidung aus dem Quell des Gesetzes zu schöpfen, genau darin, dass das Gesetz in den Status einer autonomen Größe erhoben wird. Die Losgelöstheit von den alltäglichen Problemen des gewöhnlichen Lebens und von den Gründen seiner Erschaffung könne anhand des Sinns, den ihm die traditionelle Hermeneutik zusprach, überprüft werden. Die Analyse der Exegese und Interpretation wäre ein Schlüssel, mit dem man den transzendenten Sinn, der dem Willen des Gesetzes oder des Gesetzgebers beigemessen wurde, enthüllen könne. Für die traditionelle Hermeneutik des legalistischen Positivismus die richtige Interpretation identisch mit der richtigen Entscheidung, denn darin offenbarte sich der Geist oder die verborgene Stimme des höheren Willens. Die angemessene Interpretationsmethode hätte also das unvermittelte Hören der Stimme des Gesetzgebers, deren Klang im Gesetz mitschwang, ermöglichen können. Natürlich war sich die traditionelle Hermeneutik der Schwierigkeiten bewusst, den direkten Weg zum Willen des Gesetzgebers zu finden; sie war ja zu dem Schluss gekommen, dass es angemessener wäre, die Absichten und Ziele, d.h. den „wahren Willen“ des Gesetzgebers zu „rekonstruieren“. Schon in Gesetz und Urteil hegte Schmitt den Verdacht, dass die Suche nach dem Willen des Gesetzgebers oder des Gesetzes im Text einer juristischen Norm eine Nähe zwischen Rechtswissenschaft und Theologie andeutete. Dieses Buch ist nicht nur ein unverzichtbarer Schlüssel zum Verständnis seines politischen Theologiebegriffs, sondern auch zur Bedeutung des Säkularisierungsbegriffs. Sehr früh schon bemerkt der Jurist, dass die vom antimetaphysischen Pathos, von der un120 121 122 123 124
Schmitt 2003d, S. 54. Schmitt 2003d, S. 146. Schmitt 2003d, S. 402. Schmitt 2003d, S. 55. Schmitt 1912, S. 22.
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fehlbaren Erkenntnis und von der Garantie der Rechtsbestimmtheit gekennzeichnete Rechtswissenschaft Parallelen zur Theologie aufweist. Deshalb hebt er hervor, dass „eine solche Parallele Anspruch hat auf methodologische Beachtung, weil zwischen der traditionellen juristischen Hermeneutik und der theologischen Interpretationslehre ein auch historisch nachweisbarer Zusammenhang der Methoden besteht“.125 Dieses Zitat zeigt, dass Schmitt noch vor seinen Arbeiten, die sich direkt mit dem Zusammenhang zwischen Theologie, Jurisprudenz und Politik befassten, schon Kenntnis von der bestehenden Analogie zwischen „der traditionellen juristischen Hermeneutik und der theologischen Interpretationslehre“ hatte. Sich dessen bewusst zu sein ist unverzichtbar, denn in Gesetz und Urteil denkt Schmitt zum ersten Mal vertieft über die Relevanz der Analogie als multidisziplinäres, heuristisches Verfahren nach, die weit über den häufig spitzfindigen Gebrauch hinausgeht, den die positivistische Jurisprudenz von ihr macht. Der Jurist denunziert den unangemessenen Gebrauch der Analogie, mittels welcher sich jeglicher gewünschte Inhalt von einem angeblich geschlossenen Normensystem ableiten ließe. In diesem Sinn stellte die Analogie eine List dar, die in der Lage war, die Unvollständigkeit des Regelsystems zu kaschieren oder die ständige Überschreitung der epistemologischen Grenzen der Rechtswissenschaft zu verschleiern. Deshalb versteht Schmitt, dass der angemessene Einsatz der Analogie126 zur Feststellung von Kontinuitäten, Übertragungen und Wechselwirkungen fruchtbringend sein könnte – vor allem angesichts einer beschleunigten und willkürlichen Unterscheidung der Wissensgebiete. Außerdem führte die analogische Perspektive des Wissens zu einer Entfremdung der gemeinhin hergestellten Analogien zwischen Recht und Theologie, Recht und Medizin, Recht und Biologie, Recht und Mathematik127. Zur gleichen Zeit aber, da der Rechtspositivismus Recht und Gesetz gleichsetzte, versuchte er aufgrund seiner Selbstgenügsam-
125 Schmitt 1912, S. 127. 126 In einem 1913, zur Bekanntmachung von Gesetz und Urteil geschriebenen Text, verkündet Schmitt: „Bei dem wachsenden Interesse, dessen sich rechtsphilosophische und – methodologische Fragen seit mehreren Jahren auch über die Grenzen der Fakultät hinaus erfreuen, liegt die Erwartung nahe, es würden in der Folge dieses Interesses auch für andere Gebiete der Philosophie beachtenswerte Analogien aus der Jurisprudenz hervorgehoben werden“ (Schmitt 2005f, S. 345). Diese Beobachtung ist von Relevanz, weil Schmitt ausgehend vom spitzfindigen Gebrauch, den der Rechtspositivismus von der Analogie macht, begreift, wie die Analogie als heuristische Methode eingesetzt werden könnte, wenn sie angemessen in anderen Wissensbereich verwendet würde. Später wird Schmitt die Analogie als unverzichtbares Werkzeug in seinen Untersuchungen anwenden, nicht nur um Bereich des Rechts, sondern auch der Politik, der Theologie und der Literatur. Die Analogie ist ein unerlässlicher Schlüssel zum Verständnis von Schmitts Denken, das auf seiner Suche nach den letzten metaphysischen Grundlagen der zentralen politischen Begriffe des modernen Staates immer multidisziplinärer wird. 127 So bemerkt Schmitt: „Die Jurisprudenz ist oft mit der Mathematik zusammengestellt und ihrer klaren und sichern Begriffe wegen beneidet worden, weil in ihr ‚die Erscheinung sozusagen im Raum und nicht in der Zeitfolge Gegenstand des Studiums wird, als Element eines Ganzen, eines logischen Organismus‘“ (Schmitt 1912, S. 58).
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keit, ihm Sinn und Lebenskraft mittels jeglicher Art von Analogien zu anderen Wissensbereichen zu verleihen. Nach Ansicht des Juristen ist zu beachten, dass „die Zeit des Überganges der Naturwissenschaften zu ihrer modernen Methode viele kulturhistorische Parallelerscheinungen aufweist“.128 Deshalb untersucht er die irrationalen Grundlagen der Entstehung der wissenschaftlichen Methode. Deshalb auch weist er auf die Vergleiche des Rechts mit anderen Bereichen wie der Medizin und den Naturwissenschaften hin, die „immer nur einzelne Behauptungen illustrieren können“. „Was aber die theologische Interpretation angeht, so war es den Juristen von jeher geläufig, deren Methode mit ihrer zu vergleichen.“129 Schmitt zufolge müsse die Analogie zwischen Theologie und Recht untersucht werden: „Weil hier also eine Reihe grundlegender Vorstellungen gemeinsam sind, bedeutet eine Parallele mehr als eine interessante Illustration.“130 Die Parallele zwischen Theologie und Jurisprudenz kann in der Untersuchung der Hermeneutik der Gesetzbücher und der Heiligen Schriften beobachtet werden. Die semantische Analyse der auf den „Willen des Gesetzgebers“ oder des „Gesetzes“ übertragenen Bedeutungen kann nicht unter Ausschluss der politischen Konflikte zwischen Monarchie und liberalem Bürgertum im Preußen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorgenommen werden. Die politischen Kämpfe zeigen, wie das Entscheidungszentrum der Macht, aufgrund des zwischen Bürgertum, Volksvertretern und König geschlossenen Kompromisses, keinem der Parteien direkt gehörte, sondern einer weiteren, unpersönlichen und absoluten Partei übertragen wurde: dem Gesetz. Das Gesetz herrschte absolut, doch der legale Mantel seiner indirekten und unpersönlichen Macht diente nur als Fassade, um die Abkommen und Spannungen zwischen den in der politischen Wirklichkeit involvierten Akteuren zu verhüllen. Schmitt führt verschiedene Argumente an, um den illusorischen Charakter der angewandten Verfahren aufzuzeigen, um verständlich zu machen, was der Wille des Gesetzgebers denn wäre. Er will die Unklarheit bezüglich dem wahren Willen des Gesetzesverfassers (oder des konkreten, empirischen „Gesetzgebers“) und dem „historischen Gesetzgeber“ zu entlarven. Für ihn sind die politischen Vertreter, die Träger des Willens der Regierung oder des Volkes, identisch mit den „juristischen Gesetzgebern“, die in den Gesetzeskommissionen einsaßen. Nach Ansicht des Juristen schwebt ein Wille, sei es nun der des Gesetzes oder der des Gesetzgebers, immer in der Luft und erlaubt es dem Richter angesichts der konkreten Entscheidung, so zu entscheiden, wie der „historische Gesetzgeber“ entschieden hätte. Im Grunde basierte der Glaube an eine richtige Interpretationsmethode auf der Annahme einer unmittelbaren Beziehung zwischen Richter und Gesetzgeber. Die Prämisse einer unmittelbaren Kommunikation barg das Problem der Identifikation zwischen Willen des Richters und Willen des Gesetzgebers in sich. Anders ausgedrückt: Der Richter wurde, indem er als „Mund“ des Gesetzgebers darge128 Schmitt 1912, S. 127. 129 Schmitt 1912, S. 127. 130 Schmitt 1912, S. 128.
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stellt wurde, als ein Organ des Willens des Gesetzgebers gesehen. In der Praxis führte jedoch der Zwang, so zu entscheiden, wie der Gesetzgeber entschieden hätte, zur totalen Willkürlichkeit: Die sog. Materialien des Gesetzes, die „Motive“ eines Gesetzentwurfs, die Aussprüche von Regierungsvertretern in den Gesetzeskommissionen usw. bekommen für diese „pragmatische Auffassung eine große Bedeutung, da man nicht bloß den juristischen Gesetzgeber mit dem historischen Träger dieser Funktion, sondern auch außerdem noch oft diesen historischen „Gesetzgeber“ mit dem Gesetzesverfasser zusammenwirft.131
Die Annahme des Gesetzes selbst angesichts der Unfähigkeit, dessen Urheber, Sinn, Motiv, Inhalt oder Zweck bestimmen und die im gesetzgeberischen Willen enthaltene Botschaft verstehen zu können, gründete auf dem Glauben an das Gesetz: Dem naiven Menschen ist es „ganz klar“: Gesetz ist das, was der Gesetzgeber, d.h. der, der das Gesetz „macht“, will, d.h. tatsächlich gewollt hat, und das muss sich doch irgendwie „feststellen“ lassen, indem man ihn, wenn er noch lebt, einfach fragt; ist er aber tot, so wird es freilich schwieriger, aber bei der Entwicklung moderner Geschichtsforschung immer noch nicht unmöglich, irgendetwas Neues zu entdecken.132
Bezugnehmend auf ein „Lehrbuch der juristischen ‚Hermeneutik‘“ erwähnt Schmitt eine Lektion, die der Gesetzesinterpret befolgen sollte. Das Verfahren zum Gesetzesverständnis gliche jenem, das man anwendet, wenn man einen Brief erhält: Wenn jemand einen unleserlichen Brief bekommt und ihn zu entziffern sucht, so denkt er sich in die Seele des Absenders; vielleicht kennt er dessen Charakter, dessen Art und Weise zu reden, seine Handschrift, den Zweck des Briefes und andere nützliche Anhaltspunkte für die Entzifferung, und es gelingt ihm so, den Brief zu lesen. In dieser Lage sollen sich der Gesetzesinterpret und der Richter einem unklaren Gesetz gegenüber befinden. Es käme also dahin, in dem Mienenspiel eines Abgeordneten bei der Beratung eines Gesetzes, dem Ton seiner Stimme und seinen Gebärden ernstgemeinte Interpretationsmittel zu finden.133
Im zitierten Abschnitt identifiziert Schmitt, anders als von Forschern134 seiner Arbeiten behauptet, nicht nur den Einfluss der theologischen Hermeneutik auf die 131 132 133 134
Schmitt 1912, S. 23f. Schmitt 1912, S. 24. Schmitt 1912, S. 24. Siehe diesbezüglich Heinrich Meiers Arbeit Die Lehre Carl Schmitts. Vier Kapitel zur Unterscheidung politischer Theologie und politischer Philosophie, die erstmals 1994 veröffentlicht wurde. Die Unkenntnis der frühen Schriften von Carl Schmitt wie Gesetz und Urteil und das Unvermögen, die formelle Bedeutung, die die Analogie in seinen Arbeiten annimmt, zu begreifen, führt zu großen Missverständnissen, wie z.B. jenem anzunehmen, dass „Die Politische Theologie […] den Glauben an die Wahrheit der Offenbarung“ voraussetze. (Meier 2004, S. 40). Das Desinteresse an Schmitts ersten Arbeiten mag unter anderem daran liegen, dass sich in ihnen keinerlei Hinweis auf eine religiöse Grundlage oder auf den Versuch, die Bereiche des Rechts und der Politik zu theologisieren, finden lässt. Ganz im Gegenteil: Der Autor verurteilt die Allmacht des Gesetzgebers und die heilige und absolute Bedeutung, die
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Jurisprudenz, er verurteilt auch deren Anwendung. Andererseits aber ist sich der Jurist der Relevanz der von der Theologie ausgeübten Rolle im Bereich der juristischen Untersuchung bewusst. Die Beziehung zwischen Theologie und Jurisprudenz erlaubt es – und dies in einer „Zeit der Technisierung“ –, die Existenz eines heiligen Sinns, der den dieser Welt immanenten Gesetzen zugeschrieben wird, zu enthüllen. Zum „Lehrbuch der juristischen ‚Hermeneutik‘“ bemerkt Schmitt, dass für dessen Autor die „theologische und juristische Interpretation ohne weiteres dasselbe“ sei.135 Obwohl Schmitt auch anmerkt, dass die im Lehrbuch erwähnten Interpretationsmittel wohl kaum in der juristischen Praxis zur Anwendung kämen, „eine Berufung auf das, was den Redaktoren des Gesetzes ‚vorgeschwebt‘ hat“ in den Entscheidungen jedoch häufig vorkäme.136 Hier liegt der fundamentale Aspekt der Säkularisierung, der sich durch einen Großteil von Schmitts Werk zieht: Die herrschende Vorstellung des Gesetzes, die vom juristischen Positivismus monopolisiert wurde, entzieht der richterlichen Entscheidung die Verantwortung und überträgt sie auf eine transzendentale, zunehmend unpersönliche Größe. Die Übertragung der Entscheidungsverantwortung auf einen unpersönlichen und abstrakten Normativismus bewirkt einen Sinnverlust und verhindert den Aufbau einer stabilen politischen und juristischen Form. Der Kampf gegen die Inhaltsverschiebung der Entscheidung auf den rätselhaften Willen des Gesetzgebers offenbart den säkularisierenden Sinn von Gesetz und Urteil. Diese Auffassung von Säkularisierung kann verstanden werden als Anklage gegen die Unsichtbarkeit des Gesetzes und folglich als Notwendigkeit, die Entscheidung von ihren normativen Voraussetzungen zu emanzipieren. Meines Erachtens besteht kein Zweifel an der Tatsache, dass die Übertragung der Entscheidung von Menschen aus Fleisch und Blut auf den Willen des Gesetzes dem Handeln in der Wirklichkeit des menschlichen Lebens die Verantwortung entzieht. Das Resultat dieser Übertragung hat den fortschreitenden Verlust von Sinn zur Folge, der in der Lage wäre, den existentiellen Fragen des menschlichen Lebens als Maßstab zu dienen. In diesem Sinne darf man nicht aus dem Auge verlieren, dass „täglich Entscheidungen gefällt werden, die man unmöglich als Aussprechen des bewussten Willens des Gesetzgebers betrachten konnte. Abweichungen davon wurden aber auf seinen mutmaßlichen Willen zurückgeführt, ebenso wie die Ergebnisse einer Interpretation des Gesetzes“.137 Die Abwesenheit einer Verantwortung des Richters gründete auf der Annahme, dass „die Interpretation keine neuen Inhalte schaffe, sondern bloß die vorhandenen enthülle“.138
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dem Gesetz zugesprochen wird. Außerdem setzt er sich für die Säkularisierung des Rechts ein, indem er die Aufmerksamkeit vom Gesetz weg und auf die Entscheidung hin lenkt. Meines Erachtens verpflichtet die Untersuchung von Gesetz und Urteil gewisse Interpretationen von Schmitts Arbeiten zu einer vorsichtigen Überarbeitung. Dies trifft z.B. auf die Interpretation von Heinrich Meier zu, der als Ausgangspunkt seiner Untersuchung offenbar Schmitts Katholizismus hernimmt und nicht von den vom Autor dargestellten Ideen ausgeht. Schmitt 1912, S. 24. Schmitt 1912, S. 25. Schmitt 1912, S. 25. Schmitt 1912, S. 25.
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In der Theorie des Willens des Gesetzgebers versuchte man zwar den Willen des historischen Gesetzgebers zu ermitteln, „in der Praxis aber konstruierte man den idealen Gesetzgeber, der immer nur das Vernünftige will und den historischen Gesetzgeber beiseiteschiebt“.139 Obwohl Schmitt in Gesetz und Urteil seine Analyse noch nicht direkt auf die politischen Umstände des Objektivierungs- und Abstraktionsprozesses lenkt, wurde – wie bereits angemerkt – der direkte politische Konflikt zwischen Monarchie und liberalem Bürgertum durch einen Kompromiss umgangen. Der Zwischenzustand, der durch den bis 1918 gültigen Kompromiss eingeführt wurde, war gekennzeichnet von der Übertragung der Macht an die Gesetze der Verfassung und folglich durch die Erhebung der grundlegenden politischen Entscheidung über das Subjekt der verfassungsgebenden Macht. Der Kompromiss zwischen Krone und Parlament verschleierte, indem es die Verhüllung des Subjektes der verfassunggebenden Macht bewirkte, auch den Willen des persönlichen Gesetzgebers, so dass nur der Wille des Gesetzes blieb: […] das beliebteste Argument gegen die Beachtung des faktischen historischen Willens des Gesetzgebers ist heute der Hinweis darauf, dass es im Deutschen Reich gar keinen persönlichen Gesetzgeber gibt. Man spricht daher heute meist nur noch vom Willen des Gesetzes.140
Im Deutschen Reich kam anstelle des persönlichen, verfassunggebenden Willens des historischen Gesetzgebers der unpersönliche Wille des Gesetzes auf. Was den „Willen des Gesetzgebers“ betrifft, stellt Schmitt eine Zurückhaltung seitens der positivistischen Juristen fest, die juristischen Inhalte so zu behandeln, „als wären sie der Wille des Gesetzgebers“. Von Schmitts Standpunkt aus gesehen stellt die Fiktion an und für sich gar kein Problem dar, denn in demselben Maße, in dem man sich ihrer bewusst wird, besteht auch die Möglichkeit, die Interpretationstheorie zu verbessern. Doch das Fehlen eines solchen Bewusstseins oder das Kaschieren dieses fiktiven Verfahrens im Sinne einer „Als-ob-Betrachtung“ führt zu einer Verwandlung des „als ob in ein denn“. So verwandelt sich die Fiktion in ein Dogma. Angesichts des angeblichen Vormarsches der „Willenstheorie“ verabschiedete man sich vom „Willen des Gesetzgebers“ und erreichte eine nächste Phase: den „Willen des Gesetzes“. Diese Phase, gekennzeichnet durch den „neuen Ausdruck des Willens des Gesetzes“, habe den Richter oder den Gesetzesinterpreten von der Pflicht befreien sollen, seine Interpretation auf die Absichten des Gesetzgebers mittels Analyse der Materialien, der Kommissionssitzungen usw. auszuweiten. Wie Schmitt bemerkt: „Gesetz wird ja auch nur das, was als Gesetz publiziert wird. Die Materialien eines Gesetzes, die Beratungen der Kommissionen, irgendwelche Privatmeinungen sind schon deshalb kein Gesetz.“141 Die neue Phase der „Willenstheorie“ wollte die Unmöglichkeit aufzeigen,
139 Schmitt 1912, S. 26. 140 Schmitt 1912, S. 26. 141 Schmitt 1912, S. 27.
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[…] den realen, psychologischen Willensinhalt eines bestimmten Menschen, etwa Justinians oder Friedrichs des Großen, in irgendeinem bestimmten Zeitraum zu ermitteln; geradezu absurd wird dieses Unternehmen, wenn es sich um den „Willen“ einer gesetzgebenden Versammlung […] handelt.142
Die Theorie des Gesetzeswillens, die sich vom subjektiven Willen des Gesetzgebers auf den objektiven Gesetzeswillen verschob, wurde deshalb auch objektive Gesetzestheorie143 genannt. Dieser Theorie zufolge besaß der Wille des Gesetzes einen teleologischen Charakter, dessen Erkenntnis nur durch einen „vernünftigen Menschen“ erreicht werden konnte.144 Für Schmitt aber gibt es keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen den objektiven und subjektiven Theorien, denn die objektive Gesetzestheorie läuft, ebenso wie die vom „Willen des Gesetzgebers“ auf eine Konstruktion des vernünftigen Gesetzgebers heraus, und es ist wahrhaftig gleichgültig, ob man seinen Argumentationen das Siegel „zweifelloser Wille des Gesetzgebers“ oder das „zweifelloser Wille des Gesetzes“ aufdrückt, wenn die Kompetenz eines „Willens“ noch gar nicht klar ist.145
Keine der beiden Interpretationstheorien konnte sich von der Vorstellung eines „schwebenden Willens“ lösen, eines immer wahren und vernünftigen Willens, der über dem Interpreten oder Richter schwebte,146 eines Willens, der sich seinerseits selber durch eine richtige Interpretation legitimierte. Das Problem bestand darin, dass „die Klarstellung des gänzlich verschwommenen Begriffes ‚Willen‘ ebenso notwendig gewesen [wäre], wie die glänzende Attacke auf das Gespenst ‚Gesetzgeber‘. Diesen war man los, der ‚Wille‘, das schlimmere Gespenst, war geblieben“.147 Im selben Maße, in dem man – wie der Rechtspositivismus des Übergangs vom 19. zum 20. Jahrhundert – nicht davon ablässt, einem gespenstischen oder einem dem Menschen äußerlichen Willen Sinn zuzusprechen, ist es auch nicht möglich, den säkularisierenden Charakter der Entscheidung zu begreifen. Die Verantwortung, die Folgen und der Sinn der Entscheidung können nicht einem Gespenst oder einem allmächtigen Gesetzgeber, der auch noch im 21. Jahrhundert 142 Schmitt 1912, S. 27. 143 Binding, Wach und Kohler waren die bekanntesten Vertreter der objektiven Interpretationstheorie und meinten, dass die „herrschende Meinung“ den „objektiven Gedankeninhalt der Gesetzes“ für maßgebend erklärt und so versucht hätte, den subjektiven Inhalt der Untersuchung des Willens des Gesetzgebers zu eliminieren (Schmitt 1912, S. 30). Das Gesetz wurde nicht länger als fixierter und unabänderlicher Inhalt gesehen, sondern als „konstante lebendige Kraft“. Schmitt zufolge ist „der Wille, den die Rechtsanwendung zu erfüllen vorgibt, […] ihr eigenes Sekret; dass endlich mit dem Wort ‚Organismus‘ nichts klar gemacht ist“ (Schmitt 1912, S. 27–36). Die Vertreter der objektiven Gesetzestheorie glaubten an eine im Gesetz enthaltene Vernunft, die in der Rückführung auf einen allgemeinen Begriff verstanden werden konnte (Larenz 1966, S. 47–50). 144 Schmitt 1912, S. 30. 145 Schmitt 1912, S. 31. 146 Schmitt 1912, S. 32. 147 Schmitt 1912, S. 30.
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die Juristen zu bedrängen scheint, zugesprochen werden. Die Entscheidung, deren Grundannahme die Kontingenz der menschlichen Existenz ist, entspringt den konkreten menschlichen Wesen selbst. Der Objektivierungsprozess des Gesetzes gründete auf der Überzeugung, der zufolge das Gesetz selbst eine Ordnung enthielt, der der Richter zu gehorchen hatte. Die traditionelle Hermeneutik bemerkte nicht, dass „die Auslegung, sie mag eine erklärende, ausdehnende, einschränkende, ändernde sein, einen neuen Rechtssatz hervorbringt“.148 Schmitt beklagt die Illusion eines Glaubens, dem zufolge die Interpretationsverfahren den wahren Willen des Gesetzes oder des Gesetzgebers erfassen könnten. Aus seiner Sicht wird der Gesetzgeber „konstruiert, nicht rekonstruiert. Der Jurist, der ein System schafft, formt alte Gedanken um und führt neue ein“.149 So machte er deutlich, dass jede Auslegung eine kreative Tätigkeit darstellt, denn es ist unmöglich, den Willen oder den Inhalt eines Gesetzes zu rekonstruieren. Seine Kritik an der Unzulänglichkeit der „konstruktiven“ Methode beruht auf der Einschränkung der Sprache, der angewandten „Wörter und Ausdrücke“. Seiner Meinung nach „wird der Gesetzgeber wie der Mann auf dem Mond konstruiert“.150 Indem die Auslegungsmethoden einen unabhängigen, rationalen Sinn im Entscheidungswillen des Menschen suchten, entfernten sie sich von der Wirklichkeit: Die heutigen Interpretationsmethoden haben sich im Laufe der Jahrhunderte, unabhängig von dem Ziele, eine richtige richterliche Entscheidung zu finden, aus der Zusammenwerfung theologischer, philologischer und historischer Auslegungsmethoden in Verbindung mit Folgerungen aus der Beamtenstellung eines Richters, also aus ganz heterogenen Elementen herausgebildet […].151
Später wird der juristische Positivismus den methodologischen Synkretismus von jeglichen rechtsfremden Elementen zu befreien suchen. Auf diese Weise wird er noch abstrakter werden und sich noch weiter von der Vorstellung einer auf der Erfahrung gründenden Entscheidung entfernen. 1.6. Die Freirechtsschule Einige der Einwände, die Schmitt gegen die von der Begriffsjurisprudenz entwickelte „traditionelle Hermeneutik“ erhebt, decken sich mit jenen der Freirechtsschule. Die Übereinstimmungen beschränken sich jedoch auf die erwähnten „logischen Auslegungsmethoden“, die von der Gesetzesauslegung übernommen wurden. Anders als man zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Gesetz und Urteil noch annahm, unterscheiden sich Schmitts Ideen wesentlich von jenen der Freirechtsschule. Der Autor geht sogar so weit anzudeuten, dass die Vertreter jener Bewegung, wie z.B. Eugen Ehrlich, in Wahrheit Anhänger des Naturrechts seien. 148 149 150 151
Schmitt 1912, S. 33. Schmitt 1912, S. 33. Schmitt 1912, S. 37. Schmitt 1912, S. 38.
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Die von der Freirechtsschule empfundene Notwendigkeit, die Lücken des juristischen Systems durch die von überpositiven Inhalten abgeleiteten Normen zu schließen, schien das Naturrecht wiederzubeleben. Nach Ansicht von Schmitt stolpert die Freirechtsschule durch die Erweiterung der Rechtsquellen152 in dieselbe Falle des Rechtspositivismus, da sie die Übereinstimmung zwischen richterlicher Entscheidung und den Normen anstrebte, die von idealisierten Vorstellungen abgeleitet waren. Nun, wenn also einerseits die Unsicherheit der Jurisprudenz just im Bestreben der „traditionellen Hermeneutik“ lag, die juristische Praxis der Theorie des legalistischen Positivismus mittels eines „Prinzips der Gesetzesmäßigkeit“ zu unterwerfen, so suchte die Freirechtsschule die Entscheidung in Einklang mit objektiven, dem Gesetz äußerlichen Kriterien zu bringen. Außerdem befreite der Vorschlag der Freirechtsschule, die Entscheidung in Übereinstimmung mit einem dem Gesetz fremden Prinzip (wie dem „Rechtsgefühl“) zu bringen, die richterliche Entscheidung nicht vom normativen Ideal, das weiterhin an die Methode der Subsumtion gebunden war. Sowohl die Begriffsjurisprudenz als auch die Freirechtsschule reduzieren die Entscheidung auf eine Anwendung der richtigen Subsumtion: Im ersten Fall wird die richterliche Entscheidung der entsprechenden gesetzlichen Norm unterworfen; im zweiten wird sie einer „überpositiven“ oder außerjuristischen Dimension unterworfen, deren Quelle „moralischen Werten“ oder „kulturellen Normen“ entspringt. Die Freirechtsschule konfrontiert die Vorstellung eines logischen Systems und einer Theorie der Gesetzesmäßigkeit mit der Vorstellung der „Gemüter“, denen eine Reihe von Empfindungen entspricht, die vom inneren Raum des Bewusstseins abgeleitet werden. Obwohl die richterliche Entscheidung ihren Ursprung in der Subjektivität und in der Freiwilligkeit des Richters hat, offenbart sich in ihr auch ein „Rechtsgefühl“. Diese Auffassung ist ein Aspekt, der in den metajuristischen Grundlagen der richterlichen Urteile essentiell anwesend ist – genauso wie die „Kulturnormen“ und die „moralischen Wertanschauungen des Volkes“.153 Das positive Gesetz wäre also nur eine von vielen Quellen der Jurisprudenz, wobei ihr Wert angesichts der individuellen und sozialpsychologischen, der empirisch in der Entscheidung beobachtbaren Elemente abgeschwächt würde. Schmitt zufolge war all dies nicht ohne Spitzfindigkeit. So führte die Feststellung der Unzulänglichkeit des Gesetzes zur Ausweitung der Quellen, ohne jedoch 152 Schmitt verwendet den Ausdruck „fiat justitia, pereat mundus“, um zu zeigen, wie die Freirechtsschule ähnlich der Naturrechtsströmung handelte, indem sie die Entscheidung an eine idealisierte Sicht der überpositiven Quellen zu binden suchte. Schmitt bemerkt in ironischem Ton: „Es ist möglich, heute vom Naturrecht zu reden, ohne für einen Ideologen oder Phantasten gehalten zu werden, und der Satz ‚fiat justitia, pereat mundus‘, der nur ein besonders wirksamer Ausdruck des Ideals der Quellenmäßigkeit aller Entscheidungen ist, hat an Beliebtheit und motivierender Kraft verloren und gilt nicht einmal mehr als Entschuldigung“ (Schmitt 1912, S. 16). Die dem Ausdruck zugrundeliegende Idee, der zufolge Gerechtigkeit getan werden müsse, selbst wenn die Welt zugrundegeht, weckt die Erinnerung an die verbundenen Augen der Justitia. 153 Schmitt 1912, S. 88.
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eine Eliminierung des kausalen Mechanismus der Entscheidungsbegründung zur Folge zu haben. Die Begründung der Entscheidung unter Verweis auf eine beliebige Quelle verzerrt die Rolle der Begründung, da „die Begründung des Urteils mit der kausalen psychologischen Erklärung des Urteilens nicht zu verwechseln“ ist.154 Dieser Punkt ist von herausragender Bedeutung, da Schmitt bereits 70 Jahre vor Arbeiten wie jener von Chaïm Perelman155 auf die Notwendigkeit einer Begründung von richterlichen Entscheidungen hinwies. Es ist bemerkenswert, wie der Jurist schon in einer technisch-positivistischen Zeit hervorhob, dass „die Begründung zu dem Urteil gehört“.156 Der synthetische Charakter der Erklärung darf nicht den ihr zugrundeliegenden Sinn verschleiern: Die Begründung der Geltung einer Entscheidung darf nicht in einem geschlossenen Normensystem gefunden werden. Das Ergebnis einer Entscheidung unterwirft sich keinen Annahmen, seien diese nun logischer, psychologischer, sozialer oder moralischer Natur. Die Entscheidung leitet sich nicht von einer abstrakten Begriffswelt ab, sondern ruht in der irdischen Wirklichkeit der konkreten Erfahrung. Hier bemerkt man Schmitts Bemühen, die Idee der Rechtsbestimmung der abstrakten Begriffe der Theorie des Rechtspositivismus zu säkularisieren und sie für die kontingente Ebene des wirklichen Lebens fruchtbar zu machen. Es ist nicht zu übersehen, dass seit der Einführung der Doktrin der Gewaltentrennung die verfassunggebenden Motive des Gesetzes sich nicht nur vom Inhalt seiner Entstehung ablösen, sondern auch von seiner Anwendung. Gesetz und Urteil zeigt, dass die Garantie der Bindung des Richters an das Gesetz die Unterwerfung des Willens der Staatsautorität unter die in der Beliebigkeit der richterlichen Entscheidung sichtbaren Willkürlichkeit und Unvorhersehbarkeit verhüllt. In seinen Tagebucheinträgen des Jahres 1912, bemerkt der Jurist: Man übersieht, dass das Gesetz durch die Publikation sich vom Gesetzgeber losreißt und nunmehr durch den systematischen Zusammenhang, in welchem seine einzelnen Rechtssätze zu einander und zu dem bereits geltenden Recht aufzufassen sind, so selbständig als der publizierte Wille der gesetzgebenden Gewalt heraustritt, dass der Wille und die Einsicht der eigentlichen Verfasser des Gesetzes gleichgültig wird.157
Das Zitat ist Folge der Untersuchung der Beziehung zwischen Form und Inhalt und zwischen Wissen und Leben, in der Schmitt auch den Neukantianismus Stammlers untersucht. Schmitt beobachtet, dass die Einsicht aus neukantianischer Perspektive dem Inhalt gegenüber gleichgültig ist. Der formale Charakter der neukantianischen Einsicht erlaubt es, einen Dualismus von Form und Materie, von Einsicht und Leben herzustellen.158 Trotz des neukantianischen Einflusses auf 154 155 156 157 158
Schmitt 1912, S. 18. Siehe diesbezüglich Perelmann 2000, S. 210f. Schmitt 1912, S. 18. Schmitt 2005g, S. 81. 1912 schrieb Schmitt in sein Tagebuch: „Das lebendigste Objekt, worauf das Erkennen sich richtet, hört auf zu leben, soweit es begriffen ist. Die Wahrheit verkörpert sich nur im unlebendigen logischen ‚Sinn‘. Ein Dualismus, der dadurch zwischen Leben und Wissenschaft entsteht, ist niemals aufzuheben. Seine Aufhebung würde zugleich die Wissenschaft selbst
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Schmitts erste Schriften ist die Unabhängigkeit bemerkenswert, mit der Schmitt sich diese Ideen aneignet, vor allem, um den bestehenden Dualismus von abstrakter Form des Gesetzes und Willensinhalt, von Methode der Gesetzesanwendung und Ergebnis der Entscheidung hervorzuheben. Schmitts Kriterium der richtigen Entscheidung entspringt weder der Existenz des Gesetzes, noch dem Rechtsgefühl und ebenso wenig der Kulturnorm, sondern der Rechtspraxis und ihren Folgen. Zudem bietet die kausale psychologische oder soziologische Erklärung der Entscheidung kein Kriterium und keinen Wert, die in der Lage wären, sich inmitten des Wirbelsturms der Tatsächlichkeit der Wirklichkeit hervorzuheben und das Postulat der Rechtsbestimmung zu erfüllen. Darüber hinaus ist die Ableitung der Entscheidung von psychologischen oder soziologischen Erklärungen im Grunde das Resultat einer auf „subjektiven ‚persönlichen‘ Wertungen hinzielenden Tätigkeit“ des Richters, es sind „‚voluntaristische‘ Vorgänge“, die bei „der Begründung des Urteils“ hervorgehoben werden.159 Einer der Hauptgründe der Rechtsunbestimmtheit liegt in der Unfähigkeit, zwischen Innerem und Äußerem zu unterscheiden. Anders ausgedrückt: Jene Aspekte, die sich in der inneren Geisteswelt des Individuums abspielen, werden als Tatsachen einer äußeren Wirklichkeit angesehen. Somit wird das Rechtsgefühl des Richters zu einer Quelle von Schlussfolgerungen aus Werten gemacht, die fähig sein sollen, das Handeln anzuleiten: „daraus die Notwendigkeit der bedeutenden richterlichen Persönlichkeit ableiten zu wollen, wäre ein Missverständnis, das der Verwechslung persönlicher Wertung mit der Verwertung und Darstellung von Werten entspränge.“160 Der Rechtsgegenstand und die Entscheidung sind äußerliche, sichtbare Fakten oder Phänomene, die in der Lage sind, sich zu äußern und so eine verständliche Form auf der Ebene der Wirklichkeit anzunehmen. Was sich aber im Innern des Bewusstseins abspielt, darf nicht mit den äußeren Manifestationen der gegenwärtigen Wirklichkeit verwechselt werden. Schmitts Anliegen, den Dualismus von Theorie und Praxis, Innerem und Äußerem und Gesetz und Entscheidung hervorzuheben, richtet sich auch gegen den Glauben an eine Kausalitätsbeziehung, deren Effekt darin besteht, die Unterschiede zwischen Bewusstseinsinnerem und Wirklichkeitsäußerem zu verwischen. Deshalb konnte der Positivismus behaupten, dass das Gesetz ist, weil es Gesetz ist. In diesem Fall gilt Schmitts Kritik sowohl der Freirechtsschule als auch der Begriffsjurisprudenz. Dennoch kann man sich fragen, ob das Postulat, von welchem sich das von Schmitt untersuchte Kriterium der richtigen Entscheidung herleitet, nicht eine individuelle Idee ohne äußeren Zuspruch sei. Die Antwort wird in vernichten. Ihr Wesen beruht geradezu auf dieser Spannung zwischen Leben und logischem Sinn, und ebenso wird ein Dualismus von Leben und Denken in jeden, der Wissenschaft treibt, hineingebracht“ (Schmitt 2005g, S. 86). Diese Anmerkungen entstehen in Folge des Studiums von Stammlers Arbeit, dem Schmitt sich widersetzt und so ein unabhängiges Denken in Bezug auf die einflussreiche Schule des Neukantianismus offenbart, von der Stammler ein wichtiger Vertreter war. Siehe in diesem Sinne Larenz, Metodologia de la Ciencia del Derecho (1966, S. 19). 159 Schmitt 1912, S. 98. 160 Schmitt 1912, S. 98.
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der Praxis gegeben, d.h. sie wird als von der Praxis akzeptiertes, von der Rechtsanwendung angeleitetes Postulat betrachtet. Obwohl die Freirechtsschule die Interpretationsmethoden der traditionellen Hermeneutik kritisierte, behielt sie die Methode der Subsumtion bei. Wenn die Subsumtion unter das Gesetz nicht zum richtigen Ergebnis führte, lag der Fehler – dieser „Schule“ zufolge – im Gesetz, so dass das Gesetz geändert werden müsste, um das gewünschte Resultat zu erzielen: Das ist die leitende Idee der Freirechtsschule. Indem sie ein freies, „überpositives“, etwas aus moralischen Werturteilen oder „Kulturnormen“ entnommenes Recht neben das „positive“ Recht stellt und so unter gesetzlichen Entscheidungen etwas anderes versteht, als die herkömmliche Methode, hält sie formal das Kriterium der Gesetzlichkeit aufrecht und bewegt sich auf demselben Wege, wie die traditionelle Interpretationslehre, die ja auch den Inhalt des Gesetzes erweitern wollte und nur nicht den erwünschten Erfolg damit hatte.161
Dieses Zitat zeigt, dass die Freirechtsschule dieselbe Richtung wie die positivistische Strömung der Begriffsjurisprudenz verfolgte, da sie sich wie diese formell an das legalistische Kriterium der Angleichung der Entscheidung an eine vorgängig festgesetzte Idee hielt. Aus ihrer Sicht war es gleichgültig, dass die Idee sich jenseits des „Willens des Gesetzgebers“ oder des „Gesetzes“ befand. Der geheimnisvolle und unergründliche Charakter der geheimen Absicht dieses „Willens“ zwang sowohl die Begriffsjurisprudenz als auch jeglichen Gegner dieser Strömung zur Untersuchung und folglich zur Konstruktion des Gesetzesinhalts. Die Freirechtsschule hatte das positivistische Paradigma des Rechts nicht zu unterhöhlen, ja nicht einmal zu erschüttern vermocht. Im Gegenteil, ihr Anspruch der Erweiterung der Rechtsquellen führte zur Subsumtion der Wirklichkeit unter die Konstruktion verschiedener Auffassungen von Wirklichkeit. Das Beharren auf dem idealen Kriterium der Rechtsquelle erhielt die Idee der Entscheidung als Subsumtion des konkreten Falles unter die entsprechende ideale Quelle der Auslegung aufrecht. Zudem hatte sich ihre Kritik der logischen Auslegungsmethoden nicht gegen die Hauptquelle der Willkürlichkeit der richterlichen Entscheidung gerichtet: gegen die Vorherrschaft der subsumierenden Methode162 also, die sich zum Selbstzweck erhoben und sich der richtigen Entscheidung gleichgestellt hatte. Die Methode der Subsumtion war nicht aufgegeben worden, denn so wie der 161 Schmitt 1912, S. 40. 162 Schmitts Kritik an der Methode der Subsumtion steht in Zusammenhang mit seinem Bemühen, die Illusion, das „fetischisierte Gesetz“ aufzudecken (Schmitt 1912, S. 25). Die Annahme, dass die universelle Form des Gesetzes in der Lage sei, in sich die komplexe Wirklichkeit aufzunehmen, leistet der Unbestimmtheit des Rechts Vorschub, die der Positivismus zu vermeiden suchte. Die Anerkennung der Vorstellung des Positivismus, die richtige Entscheidung sei die Entscheidung in Übereinstimmung mit dem Recht, führte zu dem Missverständnis, dass man „daraufhin die ‚Gesetzmäßigkeit‘ als Kriterium der Richtigkeit aufstellte und damit den bekannten logischen Fehler beging, aus der Gleichheit der Prädikate auf die Gleichheit der Subjekte zu schließen. Der Schluss: Gesetzmäßige Entscheidungen sind richtig, also müssen die Entscheidungen gesetzmäßig sein, steht auf einer Stufe mit dem: alle Kaukasier sind Menschen; wenn daher die Eskimo Menschen sein sollen, müssen sie Kaukasier sein“ (Schmitt 1912, S. 88).
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Positivismus sah auch die Freirechtsschule in ihr die fundamentale Garantie der positivistischen Rechtsbestimmtheit. In dem Maße, in dem die Verwendung der Subsumtionsmethode zum Synonym der richtigen Entscheidung wurde, wurde auch die Entscheidung des konkreten Falles an eine zweite Ebene übertragen. Die Subsumtion ist offensichtlich kein Problem an und für sich, denn sie kann als Werkzeug zur Erreichung eines bestimmten Zweckes eingesetzt werden. Indem aber die richtige Entscheidung als angemessene Subsumtion der Tatsache unter eine vorgängige Norm verstanden wurde, wurde die Subsumtion zu einem Selbstzweck. Dieserart ruhte die Legitimität einer Entscheidung via Subsumtion in ihrer Übereinstimmung mit dem Prinzip des Vorrangs. Die Geltungsbedingung der Entscheidung entsprang der Befriedigung eines a priori durch die Subsumtion. Die Subsumtion als Endzweck einer richterlichen Entscheidung setzt eine unmittelbare Verbindung zwischen Rechtstheorie und juristischer Praxis, zwischen einer in der universellen Struktur der Normen vorausgesetzten Tatsache und der Entscheidung einer Tatsache der Wirklichkeit voraus. Damit wird Subjektivität mit Objektivität, das Einzelne mit dem Allgemeinen, die Mittel mit dem Zweck verwechselt: Die Subsumtion unter eine (gleichgültig welche) Norm ist nicht mehr Schluss und Ziel der Entscheidungsgründe, sondern das Mittel zur Rechtsbestimmtheit. Das, woran sich die Entscheidung legitimiert, liegt nicht vor ihr (als positives Gesetz, als Kulturnorm, oder Norm des freien Rechts), sondern ist (mit Hilfe des positiven Gesetzes, der Kulturnorm oder der Norm des freien Rechts) erst zu bewirken.163
Dieser Abschnitt bedarf einiger vertiefender Bemerkungen. Zunächst zeigt Schmitts Anliegen, sich an der juristischen Praxis und nicht am Gesetz zu orientieren, dass jegliche juristische, moralische oder kulturelle Norm nur durch die Entscheidung Sinn erhält. Aus seiner Sicht ist es die Entscheidung, die Energie und Leben erzeugt und dem toten Buchstaben des Gesetzes Sinn verleiht. Zweitens legitimiert sich die Entscheidung nicht durch etwas vorgängig Gegebenes (wie z.B. das Gesetz), denn Legitimität leitet sich nicht von der Legalität ab. Die Legitimität kann nicht durch die bloße Bekanntgabe eines Gesetzes vorausgesetzt oder unter es subsumiert werden. Aus Schmitts Sicht wird die Legitimität nicht a priori durch das Gesetz hergestellt, sondern erst a posteriori durch die Entscheidung erreicht. Damit dies aber auch eintrifft, müssen die Wirkungen der Entscheidung in der konkreten Welt das Postulat der Rechtsbestimmtheit erfüllen. Es ist nicht die vorgängig fixierte Existenz eines Gesetzes, welche es automatisch legitimiert, sondern die empirische Beobachtung der Übereinstimmung der Entscheidungswirkungen mit dem Postulat der Rechtsbestimmtheit. Deshalb meint Schmitt, dass die Entscheidung begründet werden müsse, denn ihr Zweck ist es, zu überzeugen. Drittens führt Schmitt mit seinem Entscheidungsbegriff einen dynamischen Faktor der Konkretisierung des Rechts ein, der das statische positive Gesetz er-
163 Schmitt 1912, S. 97f.
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setzt.164 Er warnt vor dem Fehler, die Mittel zum Zweck zu machen, da die Norm – sei sie nun juristisch oder von irgendeiner anderen Art – und die Methode der Subsumtion lediglich Werkzeuge seien. Man habe „das Mittel, Rechtsbestimmtheit zu erreichen (bald die ‚Logik‘, bald die ‚Konstruktion‘, bald die ‚freirechtliche Norm‘) für Selbstzweck gehalten“.165 Schmitts Entscheidungsbegriff schließt die Beiträge des juristischen Denkens wie z.B. das positive Gesetz, die Kulturnormen, die moralischen Überzeugungen, das Rechtsgefühl und die Auslegungsmethoden, nicht aus. Der Jurist widersetzt sich jedoch der Haltung, diese Elemente als Selbstzweck zu sehen, denn genau auf diesem Weg löst sich die Norm von der Wirklichkeit. Er bemerkt, dass die überzeugende richterliche Entscheidung weder auf Rechtsgefühl noch auf Kulturnormen, moralische Werte und Auslegungsmethoden verzichtet. Der Richter kann bei der Urteilsbegründung auf alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel zurückgreifen. Die Rolle der Rechtstheorie besteht nicht darin, die juristische Praxis irgendwelchen Dogmen zu unterwerfen, sondern sie mit Begriffen, interpretativen Verfahren und Werkzeugen zu unterstützen. Ihr Zweck ist nicht, Instrumente zur Entscheidungsfindung als Endzweck anzubieten, sondern Mittel zur Legitimation der Entscheidung, die das Recht verwirklicht, zur Verfügung zu stellen. Auch das von der Rechtstheorie entwickelte begriffliche Instrumentarium ist kein Selbstzweck, sondern ein Mittel, dessen Funktion darin besteht, zu der auf den konkreten Fall ausgerichteten Urteilsbegründung beizutragen. 1.7. Die Entstehung des Entscheidungsbegriffes Aus der Schmittschen Perspektive ist die Entscheidung keine logische Schlussfolgerung aus vorgängig festgesetzten juristischen Bestimmungen. Ebenso wenig kann sie von den Inhalten logischer Konstruktionen abgeleitet werden oder aus den Überzeugungen eines Volkes, von sozialen Gewohnheiten oder von der Vorstellung von vom Recht befreiten Normen gefolgert werden, wie es die Freirechtsschule vertrat: Weder der Gedanke der „Gesetzmäßigkeit“, d.h. der Quellenmäßigkeit einer Entscheidung, noch der ihrer Gerechtigkeit oder Kulturgemäßheit oder Vernünftigkeit können also der Rechtspraxis ihr Kriterium liefern.166
Schmitts Entscheidungsbegriff enthält die Idee einer Nicht-Ableitung oder einer Deduktionsunmöglichkeit. Daher muss gefragt werden, weshalb die Entscheidung von keiner Norm – welcher Art auch immer – im engen oder weiteren Sinne abgeleitet werden kann. Wie entsteht die Entscheidung? Was ist ihr Referenzpunkt? Worauf gründet sich die Entscheidung? Im dritten Kapitel von Gesetz und Urteil, das den Titel „Das Postulat der Rechtsbestimmtheit“ trägt, untersucht Schmitt Grenze und Reichweite des Geset164 Schmitt 1912, S. 88. 165 Schmitt 1912, S. 95. 166 Schmitt 1912, S. 70.
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zes in der juristischen Praxis. Er zeigt auf, dass jedes positive Gesetz ein zufälliges, kontingentes Element, einen unbestimmbaren Inhalt enthält: „Von ganz seltenen Ausnahmen abgesehen, enthält jedes Gesetz ein solches Moment, das ein Zivilist vielleicht als aleatorisches bezeichnen würde.“167 Der Jurist untersucht verschiedene Arten juristischer Normen und kommt zu dem Schluss, dass alle Normen hinsichtlich ihres Inhalts einen Moment der Willkür enthalten. Seine Analyse offenbart auch, dass nicht nur der Inhalt juristischer Normen, sondern auch das Recht als Ganzes ein Moment der Gleichgültigkeit und der Willkür aufweist: einen blassen, dunklen oder unsichtbaren Zug. Die reinste juristische Norm, deren Inhaltsbestimmung willkürlich ist, wird von jenen Polizeiverordnungen dargestellt, die eine Reihe von Verkehrsregeln umfassen. Schmitt argumentiert, dass es im Fall der Verkehrsregeln völlig gleichgültig ist, ob man nach links oder rechts ausweicht. Wichtig ist, dass man weiß, wohin man ausweichen darf und dass man z.B. darauf vertrauen können muss, dass allgemein nach rechts ausgewichen wird. In seinen Überlegungen zu den Verkehrsregeln wirft der Jurist auch die Frage auf, ob die Polizeiverordnungen vielleicht nicht einfach Verkehrsgewohnheiten sanktioniert hätten, die möglicherweise schon lange praktiziert worden seien. Diese Gedanken zu den Verkehrsregeln bereiten die zentrale Formulierung seines Entscheidungsbegriffes vor: Aber die Gewohnheit selbst beruht ihrem Inhalt nach nicht auf der Überlegung, dass es nützlicher, moralischer oder gerechter sei, nach rechts auszuweichen, vielmehr ausschließlich darauf, dass überhaupt eine Entscheidung gegeben werden muss.168
Die Gewohnheit scheint ihre Geltungsgrundlage in der Notwendigkeit einer Entscheidung zu haben, denn es muss „überhaupt eine Entscheidung gegeben werden“. In jeder juristischen Norm, jedem positiven Gesetz, jeder Verkehrsregel oder Entscheidung ist ein zufälliges Element vorhanden, „zufällig in dem Sinne, dass eine Erkenntnis der Zusammenhänge zwischen den wirksamen Bedingungen, also eine kausale Erklärung, unmöglich ist“.169 Ausgehend von der Vorstellung der in der Norm vorhandenen Zufälligkeit oder Unvorhersehbarkeit versucht Schmitt, das mechanistische Band des Kausalitätsprinzips zu zerstören, durch welches die Rechtstheorie in ihrem Bemühen, die angebliche Einheit des Rechts zu erhalten, die juristische Praxis zu kontrollieren suchte. Das Argument des Juristen aber, für den Recht und Gesetz, Praxis und Theorie sich absolut voneinander unterscheiden, reicht noch weiter, denn die Zufälligkeit oder der willkürliche Charakter der juristischen Norm erstreckt sich auch auf das Recht als Ganzes: Ein solches Moment inhaltlicher Willkür ist in allem Recht enthalten und es lässt sich eine Linie denken, die von jener Polizeiverordnung betreffend das Ausweichen über die formellen Bestimmungen des bürgerlichen und die besonders zahlreichen des Prozessrechts zu den
167 Schmitt 1912, S. 48; ein „Zivilist“ ist nach juristischer Diktion ein Rechtswissenschaftler, der sich in erster Linie mit dem Zivilrecht befasst. 168 Schmitt 1912, S. 48. 169 Schmitt 1912, S. 49.
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Gesetz und Urteil Strafgesetzen geht, die in voller Übereinstimmung mit den moralischen Anschauungen an einen Tatbestand eine schwere Strafe knüpfen.170
Die hier angesprochene Linie zeigt, dass sich die Willkürlichkeit in absteigender Ordnung von der reinsten Sorte der Polizeiverordnungen der Verkehrsregeln über das zivile Prozessrecht bis zu den Strafgesetzen in Inhalten unterschiedlicher Bereiche manifestiert. Die Gesetze des Strafrechts stellen den am wenigsten willkürlichen Typ dar, da seine juristischen Normen Werte schützen, deren Gehalt in voller Übereinstimmung mit den moralischen Anschauungen steht. Wenn nun aber eine volle Übereinstimmung zwischen Inhalt und Norm, genauer zwischen Tatbestand und moralischen Anschauungen einer Gesellschaft gegeben wäre, wo genau wäre die Willkürlichkeit des Inhalts des Strafrechts zu finden? Schmitt meint, dass in diesen Fällen „das Moment der Willkür sich wieder bei den Festsetzungen der Strafrahmen geltend macht“. Es sei schwierig, inhaltlich zu begründen, „dass das Höchstmaß einer Gefängnisstrafe fünf Jahre sind“.171 Im Strafrecht findet sich das Moment der Willkür also in der relativen Entscheidung, die das Strafmaß betrifft. Was aber wäre der extreme Gegenpol der Willkür der Verkehrsregeln? Wäre es die reine Entscheidung, eine Entscheidung, die vollkommen befreit wäre von Willkür und Unbestimmtheit? Die Suche nach dem Gegenpol der rein willkürlichen oder abstrakten Entscheidung führt ebenfalls in das Strafrecht. So meint der Jurist: Den äußersten Gegenpol jener Beziehung könnte man in der Todesstrafe auf Mord erblicken, denn in dieser absoluten Strafe drückt sich das Rechtsbewusstsein wenigstens eines Teiles der Rechtsgenossen so eindeutig aus, dass hier über der inhaltlichen Bestimmtheit der Entscheidung die abstrakte Bedeutung der Entscheidung an sich ganz unbeachtlich erscheint.172
Dieses Zitat zeigt den offensichtlichen Gegensatz von der inhaltlich vollkommen bestimmten Entscheidung und der absolut abstrakten Entscheidung. Erstere, die Todesstrafe für Mord, ist im Gewissen eines Teils der Gesellschaft verwurzelt, die die „abstrakte Bedeutung“ der Entscheidung praktisch verhüllt. Die Polarisierung beider Arten von Entscheidung zeitigt aber noch nicht das gewünschte Resultat, d.h. einen Gegenpol, denn die Entscheidung, die von ihrem Inhalt her absolut bestimmt ist (die Todesstrafe), „ist noch nicht der äußerste Punkt jener Linie; denn die abstrakte Bedeutung des Entschiedenseins (die natürlich von der rechtlichen Sanktion einer Norm zu unterscheiden ist) bleibt auch hier bestehen“.173 Der Versuch, die zwei Extreme jener Skala zu finden, auf der sich einerseits die rein abstrakte (willkürliche) Entscheidung befindet und andererseits die inhaltlich komplett bestimmte Entscheidung, führt zu keinem definitiven Ergebnis. Es bleibt jedoch das Bemühen, einen rigorosen Gegensatz von Abstraktem und Konkretem, von Unbestimmtheit und Bestimmtheit, von Unsichtbarem und Sichtbarem herauszuarbeiten. Die Darstellung der beiden Gegenpole dient nicht nur der Messung 170 171 172 173
Schmitt 1912, S. 49. Schmitt 1912, S. 49. Schmitt 1912, S. 49. Schmitt 1912, S. 49.
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der Irrationalität des Rechts, sondern auch der dialektischen Überwindung des Problems des Dualismus in der Praxis. Es ist wichtig, den Wert zu unterstreichen, den Schmitt der abstrakten Entscheidung zumisst, denn im selben Maße, in dem sie auf keinen Gegenpol trifft, lässt sich auch auf ihre Vorherrschaft im Rechtsbereich schließen. Die Frage rund um die abstrakte und die konkrete Entscheidung wird in der Auseinandersetzung Schmitts mit Georg W. Friedrich Hegel deutlich. Der Philosoph meinte, dass es möglich sei, das Entschiedensein, d.h. den konkreten Charakter der Entscheidung, in das Zentrum der Problematik des Rechts unter dem Blickwinkel der richterlichen Entscheidung zu rücken. Für Schmitt war Hegel der einzige Autor, der diesem Problem der konkreten Entscheidung – oder der „Positivierung des Rechts durch die Anwendung der Norm auf das Besondere“ – gesonderte Aufmerksamkeit widmete. Schmitt zieht Hegels Werk Grundlinien der Philosophie des Rechts aus dem Jahre 1821 heran, um zu untersuchen, wie der Philosoph den irrationalen Aspekt der richterlichen Entscheidung behandelt. Im Paragraphen 213 seiner Grundlinien der Philosophie des Rechts schreibt Hegel: Außer der Anwendung auf das Besondere, schließt aber das Gesetztsein des Rechts die Anwendbarkeit auf den einzelnen Fall in sich. Damit tritt es in die Sphäre des durch den Begriff unbestimmten Quantitativen (des Quantitativen für sich oder als Bestimmung des Werts bei Tausch eines Qualitativen für sich oder als Bestimmung des Werts bei Tausch eines Qualitativen gegen eines andern Qualitativen). Die Begriffsbestimmtheit gibt nur eine allgemeine Grenze, innerhalb derer noch ein Hin- und Hergehen stattfindet. Dieses muss aber zum Behuf der Verwirklichung abgebrochen werden, womit eine innerhalb jener Grenze zufällige und willkürliche Entscheidung eintritt.174
Im zitierten Abschnitt bemerkt der Philosoph, dass das Gesetzsein – oder die Existenz des Rechts, das in die abstrakte Form des Gesetzesbegriffs eingeführt wird – die Anwendung des Rechts auf den „individuellen Fall“ beinhaltet und somit die Idee der Konkretisierung oder der Positivierung des Rechts enthält. Dennoch hat die generische und abstrakte Form des Begriffs im Allgemeinen und des Gesetzesbegriffs im Speziellen einen Preis zu zahlen, damit das Gesetzsein sich auf der Ebene des einzelnen Falles verwirklichen kann. Die Übertragung der universellen Form der Norm auf die Wirklichkeit des einzelnen Falles bewirkt einen Riss, in welchem sich eine „zufällige und willkürliche Entscheidung“ zeigt. Schmitt pflichtet Hegel bei, wenn dieser sagt, dass die Entscheidung in diesem Falle „zufällig und willkürlich“ sei. Dennoch stellt sich für den Juristen nicht nur die Entscheidung selbst als zufällig und willkürlich heraus, da das positive Gesetz oder die Norm selbst, die ihre Universalität der Form verdankt, eine Indifferenz gegenüber dem Inhalt offenbart. Dies bedeutet, dass, während in Hegels Philosophie des Rechts der Übergang von der universellen Form des Gesetzesbegriffs zur individuellen Wirklichkeit einen Bruch bewirkt, Schmitt in Gesetz und Urteil den Riss nicht nur in der Anwendung der juristischen Norm auf den konkreten Fall er-
174 Hegel 1972, S. 189.
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kennt, sondern auch in der Einführung des Besonderen in die generische Form der Norm. Ich habe bereits angemerkt, dass Schmitt auch die Subsumtion der Tatsache unter die generische Norm ablehnt, da dieses Verfahren die Existenz eines „idealen Gesetzes“, oder eines Ganzen, das in der Lage ist, die vielfältige Wirklichkeit in sich aufzunehmen, a priori voraussetzt. Der Jurist, der in Gesetz und Urteil unter anderen Autoren auch Max Weber, Rudolf Stammler, Rudolf Sohm und Aristoteles erwähnt, beschäftigte sich, wie auch aus seinen Tagebucheinträgen aus dem Jahre 1912 hervorgeht, auch mit der Beziehung zwischen Materie und Form, zwischen Abstraktem und Konkretem, zwischen Idee und Leben. Seines Erachtens führte die vom Positivismus hergestellte Beziehung zwischen Form und Inhalt zur Hypostase des Gesetzes. Der Glaube, dass die Bedeutung des Rechts sich in der Form finde, drückt sich am deutlichsten im positiven Gesetz aus, das verfasst und offiziell dem Publikum vermittelt wird. Dieses Gesetzesideal ignoriert jedoch das Moment seiner Entstehung, in welcher die ursprüngliche Einführung von Inhalt aus bestimmten Quellen in die Form dem Gesetz ein übermäßiges Gewicht verleiht. Dieses Übergewicht ergibt sich aus der angeblichen Einführung der Partikularität der Fakten in die generalisierende Struktur der Form. Im Innern der universellen Struktur der Gesetzesform nehmen die Fakten der Wirklichkeit einen generischen und abstrakten Sinn an, wodurch sie ihre Eigenheiten und Besonderheiten verlieren. In diesem Sinne meint Schmitt: Das geschriebene positive Gesetz, das in bestimmter Weise publiziert wird, ist von diesem Gesichtspunkt aus das Ideal eines Gesetzes, und wie sehr dieser Gesichtspunkt im Rechtsleben als der maßgebende empfunden wird, zeigt der Umstand, dass praktisch heute ein solches Gesetz als Gesetz schlechthin bezeichnet wird. Das Moment abstrakter Regelung, das unter Bezugnahme auf den bestimmten „Quellen“ entstammenden Inhalt der Regelung ein „aleatorisches“ genannt wurde, ist es, das dem geschriebenen Gesetz das große faktische Übergewicht gibt […].175
Das „faktische Übergewicht“, das sich der formalen Struktur der juristischen Norm oder dem Ideal des Gesetzes verdankt, offenbart ein gewisses Maß an Unbestimmtheit, die der normativen Ebene inhärent ist. Der Raum der Unbestimmtheit oder Beliebigkeit des Rechts ist jedoch in den Augen des Juristen noch größer, wie aus dem Dialog mit Hegels Philosophie des Rechts hervorgeht. In Schmitts Auseinandersetzung mit Hegel merkt man, wie der Jurist, anders als der Philosoph, einen Riss feststellt, der von der Indifferenz des Inhalts der Norm bis zur Willkürlichkeit der Entscheidung im einzelnen Fall reicht. Was für Hegel also nur eine Sphäre des unbestimmten Quantitativen des Rechtsbegriffes war, ist für Schmitt die qualitative Eigenheit allen Rechts. Es ist interessant, wie Hegel sich bemüht, den Raum der Irrationalität des Rechts in der Gegenüberstellung von Allgemeinem und Besonderem und auch des Allgemeinen und der Individualisierung in der Anwendung des Gesetzes einzuschränken:
175 Schmitt 1912, S. 50.
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In dieser Zuspitzung des Allgemeinen, nicht nur zum Besondern, sondern zu Vereinzelung, d. i. Zur unmittelbaren Anwendung, ist es vornehmlich, wo das rein Positive der Gesetze liegt. Es lässt sich nicht vernünftig bestimmen, noch durch die Anwendung einer aus dem Begriff herkommenden Bestimmtheit entscheiden, ob für ein Vergehen eine Leibesstrafe von vierzig Streichen oder von vierzig weniger eins, noch ob eine Geldstrafe von fünf Talern oder aber von vier Taler und dreiundzwanzig usf. Groschen, noch ob eine Gefängnisstrafe von einem Jahre oder von dreihunderundvierundsechzig usf. Oder von einem Jahre und einem, zwei oder drei Tagen das Gerechte sei. Und doch ist schon ein Streich zuviel, ein Taler oder ein Groschen, eine Woche, ein Tag Gefängnis zuviel oder zuwenig, eine Ungerechtigkeit. – Die Vernunft ist es selbst, welche anerkennt, dass die Zufälligkeit, der Widerspruch und Schein ihre, aber beschränkte, Sphäre und Recht hat und sich nicht bemüht, dergleichen Widersprüche ins Gleiche und Gerechte zu bringen; hier ist allein noch das Interesse, dass überhaupt bestimmt und entschieden sei, es sei, auf welche Weise es (innerhalb einer Grenze) wolle, vorhanden. Dieses Entscheiden gehört der formellen Gewissheit seiner selbst, der abstrakten Subjektivität an, welche sich ganz nur daran halten mag, dass sie, innerhalb jener Grenze, nur abbreche uns festsetze, damit festgesetzt sei, – oder auch an solche Bestimmungsgründe, wie eine runde Zahl ist, oder als die Zahl Vierzig weniger Eins enthalten mag.176
Wie man aus der zitierten Stelle ersehen kann, erkennt Hegel nur einen begrenzten Raum der Unbestimmtheit oder der Irrationalität im Recht: Er anerkennt „dass die Zufälligkeit, der Widerspruch, und Schein ihre, aber beschränkte, Sphäre und Recht hat.“ Der begrenzte Raum der Nicht-Vernünftigkeit beschränkt sich auf die Entscheidung und „dieses Entscheiden gehört der formellen Gewissheit seiner selbst“. Dies ist genau der entscheidende Punkt, an dem die Meinungen des Juristen und des Philosophen auseinandergehen. Schmitt hebt diese Differenz hervor, wenn er seinen Text Gesetz und Urteil mit der hier zitierten Stelle von Hegel vergleicht: Der fundamentale Unterschied der Ausführungen des Textes und dieser Sätze Hegels ist der, dass jene die „formelle Gewissheit seiner selbst“ (die natürlich auch von Hegel nicht mit der rechtlichen Sanktion oder der Rechtskraft einer Entscheidung zusammengeworfen wird) nicht als eine Art Frei- und Passiergewicht der Rechtsnorm oder der Entscheidung betrachten, als etwas, das in irgend einem „nicht vernünftigen“ Zusammenhang mit dem Recht steht und seine räumlich zu denkende Abgegrenztheit hat, sondern als Element und Ingredienz aller rechtlichen Erscheinungen, das für die begriffliche Betrachtung isoliert und zum Ausgangspunkt der methodischen Untersuchung genommen werden kann.177
Wenn bei Hegel die „formelle Gewissheit seiner selbst“ der „abstrakten Subjektivität“ zugehört und sich lediglich innerhalb jener irrationalen Grenze einschränken kann, beschränkt sich bei Schmitt die „formelle Gewissheit seiner selbst“ räumlich nicht auf einen „‚nicht vernünftigen‘ Zusammenhang mit dem Recht“, sondern ist „Element und Ingredienz aller rechtlichen Erscheinungen“. Dies ist wahrscheinlich eine der wichtigsten Passagen in Gesetz und Urteil, da die „formelle Gewissheit seiner selbst“, die bei Hegel die Bruchstelle zwischen der Rationalität des Universellen der Norm und dem Besonderen markiert, für Schmitt „Ingredienz der Erscheinung“ allen Rechts ist. Der Riss, die „nicht vernünftige“ 176 Hegel 1972, S. 189f. 177 Schmitt 1912, S. 50.
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Sphäre des Rechts, die für Hegel ein vorübergehendes, zu ertragendes Gewicht darstellt, ist für Schmitt die Geltungsgrundlage allen Rechts. Deshalb behauptet der Jurist, dass die „formelle Gewissheit seiner selbst“, oder der „nicht vernünftige“ Riss des Rechts, als Element „isoliert und zum Ausgangspunkt der methodischen Untersuchung genommen werden kann“.178 Es scheint mir wichtig darauf hinzuweisen, dass in Gesetz und Urteil die Themen der Norm und des Ausnahmezustandes schon präsent sind, ohne welche Schmitt seinen Entscheidungsbegriff nicht hätte entwickeln können. Das NichtVernünftige, die Unbestimmtheit des Rechts, die Indifferenz auf Inhaltsebene sind alles Elemente, die den Bruch mit der Rationalität des legalistischen Positivismus kennzeichnen und „Ingredienz aller rechtlichen Erscheinungen“ sind. Zwei Aspekte bezüglich dieses Risses oder Bruchs oder, wie der Jurist sich ausdrückt, der „nicht vernünftigen“ „Ingredienz“ des Rechts müssen beachtet werden: Der erste findet sich im Dualismus von juristischer Theorie und Rechtspraxis. Der Dualismus geht aus der Krise der deutschen Jurisprudenz hervor und ergibt sich aus dem Bruch zwischen Gesetz und Entscheidung. Die Anerkennung des Dualismus, der Krise also oder des Bruchs, geschieht mittels der Untersuchung der Praxis, die den „Notzustand des Richters“ und folglich die ständige Abweichung der richterlichen Entscheidung von den Gesetzen offenbart. Die positivistische Theorie oder die Gesetze werden der Wirklichkeit der Praxis unterzogen, und so werden die Abweichungen, die Kontingenzen der Wirklichkeit sichtbar, d.h. die Normalität eines Regelsystems, das durch die Krise unverständlich geworden ist. Es sind die zufälligen, unvorhersehbaren Elemente, die das Interesse und die Methode anleiten sollen, denn sie enthüllen die wirklichen Faktoren, die die Normalität aufrechterhalten, wie dies bei der Entscheidung der Fall ist. Der Zugang zum Verständnis der Wirklichkeit liegt in der Kontingenz, in der Ausnahme. Deshalb bestimmt die Ausnahme und nicht die Regel oder Regelmäßigkeit Schmitts Denken. Die Fassade der Normalität der positiven Normen hängt von der „Normalität der konkreten Lage“ ab.179 Der zweite Punkt: Der Bruch zwischen Gesetzesnormalität und Wirklichkeit der Praxis stellt nicht nur einen Aspekt dar, den der Jurist zur Kenntnis nimmt, er integriert ihn in sein Denken. Der Bruch wird als epistemologisches Element, als „Ausgangspunkt“ seiner methodologischen Untersuchung aufgenommen. Später wird der Begriff des Ausnahmezustandes in seinem Werk Politische Theologie einen spezifischeren Sinn annehmen und auf unzweideutige Art angewandt, ohne jedoch die Bedeutung zu verlieren, die der Jurist ihm zuvor schon zugewiesen hatte. Man darf nicht vergessen, dass Schmitt in seiner Untersuchung den „Gegenpol“ zur abstrakten Entscheidung nicht findet, da es ihn nicht gibt. Die abstrakte Entscheidung ist, in welchem Ausmaß auch immer, an jeder „juristischen Erscheinung“ beteiligt. Ungeachtet der Unterschiede, die beide Autoren dem Ausmaß der Irrationalität zuschreiben, findet Schmitts abstrakte Entscheidung in He178 Schmitt 1912, S. 50. 179 Schmitt 1993, S. 33.
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gels Philosophie des Rechts ihre Entsprechung in der „formellen Gewissheit seiner selbst“. Doch auch hier muss auf einen Unterschied hingewiesen werden: Hegels Gewissheit seiner selbst gehört der Subjektivität an, während die Entscheidung bei Schmitt der „Begründung“ zugerechnet wird. Dieser Punkt verdient unsere Aufmerksamkeit, da bei Hegel der „peripherische Bruch“, der aus der Subjektivität hervorgeht, von der Notwendigkeit der Verwirklichung des Universellen ausgehalten werden muss180. Bei Schmitt hingegen muss die Subjektivität der Entscheidung, obwohl der Autor einen „zentralen Riss“, d.h. die Unbestimmtheit in allem Recht erkennt, eingegrenzt werden, da die Entscheidung aufgrund ihrer Unvorhersehbarkeit ansonsten nicht richtig oder legitim ist. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, die Entscheidung zu begründen, die in Übereinstimmung mit dem Postulat der Rechtsbestimmtheit empirisch anerkannt oder legitimiert werden muss. Dennoch ist es unabdingbar darauf hinzuweisen, dass die Notwendigkeit, die Entscheidung zu begründen, sich aus der Obskurität oder Indifferenz des Gesetzes ergibt. Die Unsichtbarkeit, die Irrationalität und die Willkürlichkeit, die in jedem juristischen Phänomen beobachtet werden können – und die der Sicherheitszwang des Positivismus um jeden Preis mittels komplizierter wissenschaftlicher Konstruktionen zu eliminieren oder zu verschleiern versucht – stellen für den Juristen eine Erweiterung auf eine nicht nur philosophische, sondern auch soziologische Sichtweise des Rechts dar. Diese philosophische und vor allem soziologische Erweiterung des Verständnisses der Jurisprudenz erlaubt es, juristische Begriffe aus dem Blickwinkel der Kraft einer kontingenten Wirklichkeit zu betrachten. Sie erlaubt zu beobachten, wie die positive Rechtstheorie die Rechtswissenschaft von der kontingenten Dynamik der den Kämpfen, Spannungen und Unregelmäßigkeiten zugrundeliegenden Wirklichkeit zu trennen versucht. Die Überführung der juristischen Begriffe auf die soziologische Ebene der juristischen Praxis zeigt, wie sich die Entscheidungen in Bezug auf die „Ätherregion“ der normativen Rechtstheorie von einem Nichts ableiten: Aus Sicht des Gesetzes ist die Entscheidung ex nihil. Die richterliche Entscheidung hat ihren Ursprung nicht in den geheimen Absichten des Willens des Gesetzes oder des Gesetzgebers. Sie wird auch nicht mittels Aneignungsmethoden des Gesetzesinhalts induziert, ebenso wenig durch die Anwendung des formalen Kriteriums des Prinzips der höheren hierarchischen Kompetenz. Was also wäre Schmitt zufolge denn nun eine richtige Entscheidung? Vom Inhalt normativer Rechtsgrundsätze her betrachtet entspringt die Entscheidung dem Nichts. Für Schmitt wird das Nichts durch die Unbestimmtheit, durch die Indifferenz des normativen Inhalts dargestellt. Es ist bemerkenswert, dass der Entscheidungsbegriff in Schmitts Denken von der Feststellung der Unsichtbarkeit und Unbestimmtheit der theoretischen Universalität der abstrakten Gesetzesform ausgeht. Dennoch gilt es zu verstehen, was das Kriterium einer richtigen oder legitimen Entscheidung wäre. Die Entscheidung ist richtig, wenn sie, trotz ihrer inhaltlichen Indifferenz, auf überprüfbare Weise bestimmbar wird. Was ist dies für eine Formulierung, die das Unbestimmte in Bestimmtes, das Un180 Hofmann 2002, S. 31.
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verständliche in Verständliches und Beliebigkeit in Vorhersehbarkeit zu verwandeln vermag? Eine richterliche Entscheidung ist heute dann richtig, wenn anzunehmen ist, dass ein anderer Richter ebenso entschieden hätte. „Ein anderer Richter“ bedeutet hier den empirischen Typus des modernen rechtsgelehrten Juristen.181
Angesichts der augenscheinlichen Einfachheit der Formel, mit der Schmitt das Kriterium der richtigen Entscheidung definiert, scheint es mir notwendig, hier einige Anmerkungen anzufügen. Zunächst einmal offenbart der Vorschlag des Autors einen Bruch mit dem positiven Gesetz und seiner Auffassungsmethoden –, die Resultat seiner Antithese von Rechtstheorie und juristischer Praxis ist. Zweitens zeigt die Notwendigkeit, so zu entscheiden wie ein „anderer Richter ebenso entschieden hätte“, wie Schmitt angesichts der Öffnung des Positivismus in Bezug auf ständige Abweichungen, Missbräuche und Willkürlichkeiten, die aus der Subjektivität der richterlichen Entscheidungen hervorgehen, seine Formulierung an der Idee der Ausübung orientiert. Diese Vorstellung der Ausnahme kann an der Tatsache abgelesen werden, dass der Richter sich nicht am Gesetz orientieren darf, sondern einzig daran, wie ein anderer Richter sich verhalten hätte, da jede Entscheidung einen Bruch in Bezug auf das Gesetz impliziert. Aus der Unfähigkeit des positiven Gesetzes, das Band zwischen Gesetz und Entscheidung und folglich die verständliche Anwendung des Rechts durch die Praxis zu erhalten, entsteht die Ausnahme182 als Aufhebung des Gesetzes angesichts seiner Ohnmacht: Soweit das positive Recht die Rechtsbestimmtheit zu garantieren imstande ist und eine eindeutige Praxis hervorruft, ist die „Gesetzmäßigkeit“ der Entscheidung ein Beweis ihrer Richtigkeit. Sobald aber außerhalb des positiven Gesetzesinhaltes gelegene Elemente diese Praxis erschüttern und das Gesetz in seiner tatsächlichen Geltung, wenn auch auf dem Wege einer „Interpretation“, abzuändern vermögen, entfällt diese Kongruenz zwischen „Gesetzmäßig-
181 Schmitt nennt ausdrücklich den juristisch gebildeten Juristen. Der Hinweis ist insofern wichtig, als Schmitt den „empirischen Typus“, d.h. den Berufsrichter vom Geschworenen unterscheidet. Die Entscheidungen der Geschworenen sind „keine Entscheidungen, von denen man sagen könnte, sie seien in der Rechtspraxis ergangen“. Diese Unterscheidung findet ihre Rechtfertigung darin, dass das von Schmitt vorgeschlagene richtige Kriterium einer richterlichen Entscheidung nicht von einer Urteilsbegründung absehen kann. Die Entscheidungen von Geschworenen „bedürfen ja faktisch keiner Begründung, weil sie (der Idee nach) einen solchen Resonanzboden im Volke finden, dass ohne weiteres eine allgemeine Überzeugung sie trägt“ (Schmitt 1912, S. 86 und S. 71). 182 Micheli Nicoletti interpretiert die Entstehung des Themas der Ausnahme so, dass es „legata all´atmosfera di crisi che domina la cultura tedesca ed europea del periodo, ma nel pensiero questa tematica si trasforma lentamente da crattere storico di un’epoca determinata a luogo di rivelazione di una dimensione strutturale, costitutiva della realtà“ (Nicoletti 1990, S. 25). Hasso Hofmann zufolge orientiert sich Schmitt „methodisch prinzipiell am Ausnahmefall“ (Hofmann 2002, S. 31).
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keit“ und Richtigkeit der Entscheidung und ein gegen den Sinn des Gesetzes ergangenes Urteil kann trotzdem richtig sein.183
Schmitt war sich schon in Gesetz und Urteil des polemischen Charakters seiner vorgeschlagenen Methode bewusst, die die Legitimität eines „gegen den Sinn des Gesetzes ergangenen Urteils“ im Ausnahmezustand oder unter Umständen, unter denen „außerhalb des positiven Gesetzesinhalt gelegene Elemente“ die Praxis und das Gesetz erschüttern und keine „tatsächliche Geltung“ mehr aufweisen, anerkannte. Die Formel, die dem Richter vorschreibt, so zu entscheiden, wie „ein anderer Richter entschieden hätte“, verrät eine Auffassung des Entscheidungsbegriffs, die es dem Richter erlaubt, gegen das positive Gesetz zu entscheiden: Der Vorteil der vorgeschlagenen Formel für die Lösung der schwierigen Frage des contralegem-Judizierens ergibt sich schon hinreichend daraus, dass die Richtigkeit der richterlichen Entscheidung nicht aus einem im Gesetz enthaltenen Willen und Befehl abgeleitet und damit eine Selbständigkeit der Frage nach der Richtigkeit gegenüber dem Streit um das Wesen des Rechtssatzes (ob Imperativ oder Urteil) erreicht wird.184
Schmitt verteidigt nicht die richterliche Entscheidung gegenüber dem Recht, sondern gegenüber der Unverständlichkeit und Unzulänglichkeit des positiven Gesetzes. Die Entscheidung contra legem stützt sich auf das Recht, genauer auf das Postulat der Rechtsbestimmtheit, auf welches sich auch Schmitts Vorschlag abstützt. Dieser Auffassung zufolge erzeugt das Gesetz weder die Rechtsbestimmtheit noch die juristische Sicherheit. Nur die Entscheidung kann sich am regulativen Prinzip der Rechtsbestimmtheit orientieren und sich dem Ideal der juristischen Sicherheit annähern. Es ist interessant, wie Schmitt in seiner Verteidigung der Entscheidung gegen das Gesetz – diesem heiligen Symbol des Positivismus – Kritiken an seiner Formulierungen zuvorkommt: Die große Bedenklichkeit, die dieser Anerkennung eines contra-legem-Judizierens entgegengehalten wird, beruht nur auf der bisherigen falschen Problemstellung und läuft immer auf Erwägungen der „Rechtssicherheit“ hinaus, die aber doch hier gerade zum Fundament genommen wurden.185
Die Entscheidung gegen das Gesetz leitet sich von der Notwendigkeit ab, das Recht angesichts der Unbestimmtheit des Inhalts des positiven Gesetzes zu bestimmen. Schmitts Methode will die „richtige“ Antwort auf die bis dahin „falsche Problemstellung“ der „Rechtssicherheit“ geben. Dazu aber muss die Entscheidung vom „idealen Gesetzgeber“ auf den „empirischen Richter“ übertragen werden. Die auf die bloße Existenz des Gesetzes oder auf seine richtige Auslegung und Anwendung reduzierte Vorstellung von Rechtssicherheit förderte die Unsicherheit, die aus den willkürlichen richterlichen Urteilen hervorging. Zum einen anerkennt die von Schmitt verteidigte Formel der Entscheidung „wie auch ein anderer 183 Schmitt 1912, S. 112f. 184 Schmitt 1912, S. 115f. 185 Schmitt 1912, S. 113.
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Richter entschieden hätte“ die Existenz von Abweichungen, d.h. von Entscheidungen gegen das Gesetz, die sich an der effektiv geltenden juristischen Praxis orientieren, zum andern aber verlangen solch abweichende Urteile, dass sie mit klaren und überzeugenden Argumenten begründet werden. Die Entscheidungen contra legem sollen zu verwirklichenden Faktoren der „Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit“ des sozialen Lebens werden.186 Der Jurist will jedoch mit seinem Kriterium der richtigen Entscheidung nicht das positive Gesetz unterhöhlen. Ganz im Gegenteil: Seine Formel will die Autorität des Gesetzes erhalten, und zwar indem sie es zu einem unter anderen Mitteln zur Unterstützung der Urteilsbegründung macht. Die Entscheidung gegen das Gesetz hat die Verwirklichung des Rechts zum Ziel. Ihre Absicht ist es, die Erfüllung der gegenseitigen sozialen Erwartungen, deren Sinn den Handlungen als Orientierung dient und die Kontingenz reduziert, zu garantieren. Somit sind richterliche Entscheidungen gegen das Gesetz unzulässig, wenn sie nicht begründet werden. Das Urteil kann durch alle möglichen Arten von Mitteln gerechtfertigt werden, deren Geltung von der juristischen Praxis anerkannt ist. Meines Erachtens entbehrt diese Auffassung von Entscheidung nicht der Normativität, sie weist jedoch auf eine Verschiebung der rein theoretischen Normativität auf eine in der anerkannten Erfahrung verwurzelten Normativität hin. Die konkrete Normativität der Schmittschen Entscheidung offenbart ihre Dynamik in der Fähigkeit, auf die von den juristischen Grundsätzen nicht vorhergesehenen Umstände der Wirklichkeit zu reagieren. Die Entscheidung, die auf verschiedene „Erscheinungen des Rechtslebens“ eine Antwort bietet, darf nicht auf die Rechtfertigung ihrer Entscheidungsfindung durch Kriterien verzichten, die in der juristischen Erfahrung verwendet werden. Das heißt jedoch keineswegs, dass die Entscheidung von Präzedenzfällen eines Gerichtes oder höherer Instanzen abgeleitet werden müsse, denn damit wäre dasselbe Missverständnis gegeben, das von der „traditionellen Hermeneutik“ und der Freirechtsschule praktiziert wurde: die Unterwerfung des richterlichen Urteils unter einen vorgängig festgesetzten juristischen oder außerjuristischen Grundsatz. Der vom Juristen vorgeschlagenen Entscheidungsmethode zufolge hat der dem konkreten Fall nächste Richter Vorrang vor jenen, die einer höheren Instanz angehören. Deshalb ist Schmitt gegen die Majoritätsbeschlüsse der Kollegien einer höheren Instanz, die auf dem Prinzip der Mehrheit beruhen und den monokratischen Richter, d.h. den Richter der ersten Instanz an dieses binden. Schon in Gesetz und Urteil, zwanzig Jahre vor der Publikation seines bekanntesten Werkes Legalität und Legitimität, hinterfragt Schmitt die Legitimität einer auf dem Mehrheitsprinzip abgestützten Entscheidung und widerspricht der Vorstellung, dass das quantitative Kriterium der Richterzahl die Wahrscheinlichkeit, zu einer objektiven Entscheidung zu gelangen, erhöhe. Das „Ideal der Massenabstimmung“ verhindert nicht, dass die Entscheidung von der Subjektivität und Persönlichkeit gebildet wird, die sich „in außerjuristischen Kategorien“ bewegen.187 186 Schmitt 1912, S. 73. 187 Schmitt 1912, S. 73f.
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Im Gegenzug will Schmitts Methode die Entscheidung vom legalistischen Automatismus emanzipieren und sie mittels der Argumentation veräußerlichen. Die Entscheidung beschränkt sich nicht darauf, eine subjektive Antwort auf einen konkreten Fall zu liefern, denn „es muss sich immer um eine heteronome Wertung handeln“.188 Man kann sich Schmitts Formel auch als pragmatische Version von Kants kategorischem Imperativ denken: Die Entscheidung muss vorhersehbar und berechenbar sein, sie muss jener Maxime folgen, der zufolge es möglich sein muss, sie als allgemeine Regel zu akzeptieren. Deshalb darf sich die Entscheidung, die von einem Richterkollegium getroffen wird, nicht auf ein hierarchisches oder quantitatives Kriterium stützen. Die Entscheidung eines Kollegiums entspricht nicht der Formel des Juristen, denn „für eine theoretische Bearbeitung des positiven Rechts, für ein wissenschaftliches System, ist der bloße Gedanke an eine Mehrheit, ein Kollegium ein Unding“.189 Keine Instanz, keine Sphäre der juristischen Macht darf sich vor der Notwendigkeit der Objektivierung verstecken: „Auch der Instanzenzug enthält den Hinweis auf die Objektivität, die Proklamierung strengster Heteronomie und Verneinung alles Subjektivistischen.“190 Die kollektive Entscheidung des Gerichts, wie sie am Instanzenzug zu beobachten ist, bringt Schmitt zufolge keine Vorteile. Ganz im Gegenteil: Das formale Mehrheitsprinzip setzt sich über die Notwendigkeit der Entscheidungs- oder Vereinbarungsbegründung hinweg. Präzedenzfälle, kollektive Entscheidungen und Vereinbarungen können zwar verwendet werden, sie dürfen aber nicht die erstinstanzliche richterliche Entscheidung binden. Der „empirische Typus des Richters“ der Praxis (nicht der Theorie) ist der Einzelrichter. Während die Richter des Gerichts vom Referenten über den zu richtenden Sachverhalt unterrichtet werden, befindet sich der monokratische Richter näher am konkreten Fall und bietet eine höhere Wahrscheinlichkeit, ein überzeugendes Urteil zu fällen, das die betroffenen Parteien zu überzeugen vermag. In Gesetz und Urteil bemüht sich Schmitt sichtlich, das Subjekt der Entscheidung zu definieren. Wer ist das Subjekt der Entscheidung? Welches Subjekt wäre zu einer von einer exzessiven Subjektivität unbelasteten Entscheidung fähig? Schmitts Richter ist, wie wir gesehen haben, der einzelne, rechtsgelehrte Richter. Die richtige richterliche Entscheidung, die sich an dem Grundsatz „wie ein anderer Richter entschieden hätte“ orientiert, steht in einer engen Beziehung zur Methode der Rechtspraxis und ist in der Lage, „die in Wirklichkeit wirksamen Normen“ zu verwenden, die „die Rechtsbestimmtheit begründen und bewirken“.191 Deshalb darf der Richter „in keinem Punkte der Entscheidung […] einem absolut freien Ermessen, seiner partikularen Subjektivität, seiner persönlichen Überzeugung als solcher folgen“.192 Die richtige Entscheidung orientiert sich am „anderen Richter“. Der „andere Richter“ ist keine ideale Konstruktion. Wer aber ist dieser 188 189 190 191 192
Schmitt 1912, S. 73. Schmitt 1912, S. 76. Schmitt 1912, S. 76. Schmitt 1912, S. 114. Schmitt 1912, S. 79.
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Richter? Schmitt meint dazu: „Der ‚andere Richter‘ ist eben der normale juristisch gebildete Richter; wobei das Wort ‚normal‘ im quantitativ-durchschnittlichen Sinne gebraucht ist; nicht als Bezeichnung eines Idealtypus, nicht qualitativteleologisch“.193 Die Figur des „anderen Richters“ bezweckt, den Fokus auf die Existenz einer Reihe durchschnittlicher, konkreter Richter, die über praktisches Wissen verfügen, zu lenken, um den idealen Gesetzgeber oder den „Willen des Gesetzes“ aus dem Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Schmitt setzt dem „Idealtypus des Gesetzgebers“ den „empirischen Richter des normalen Richters“ entgegen. Der Dualismus von Theorie und Praxis, der in Gesetz und Urteil hervorgehoben wird, wird soweit verschärft, bis er in einen Antagonismus zwischen „idealer Konstruktion des Gesetzgebers“ und der Figur des empirischen Richters, zwischen dem unfehlbaren Wissen der formalen Logik der „Wissenschaft“ und der „richtigen“ Entscheidung der praktischen Weisheit mündet. Schmitt pflichtet Aristoteles zu, der die praktische Weisheit als Vermögen zu entscheiden, nicht unter einem bestimmten Aspekt, sondern unter all jenen, die zu einem guten Leben im Allgemeinen beitragen, sieht. Der empirische Richter ist ein „Mensch, der in der Lage ist nachzudenken, besitzt praktische Vernunft“. Wenn man die Vorstellungen beider Autoren vergleicht, wird deutlich, dass Entscheidung oder Reflexion nur da möglich ist, wo auch Kontingenz, Bruch oder Ausnahme ist. Das positivistische Bemühen, die Theorie an die Praxis zu binden, verfolgte den Zweck, mittels begrifflicher Formulierungen die Kontingenz der Wirklichkeit aus dem juristischen Leben zu verdrängen. So sollten Kausalität oder Normativität die Kontingenz, das Gesetz die Ausnahme, die Wissenschaft das Leben und das Sollen das Sein verdecken. Deshalb stimmt Schmitt dem Verständnis Aristoteles zu, demzufolge „niemand Dinge überlegt, die nicht auch anders sein können, ebenso wenig solche, die zu tun ihm nicht möglich ist“.194 Hier wird die Vorstellung deutlich, der zufolge die Kontingenz Voraussetzung jeder Entscheidung ist. In Gesetz und Urteil war Schmitt der Ursprung des Kontingenzbegriffs bekannt, den Niklas Luhmann mehr als siebzig Jahre später in seinem Buch Soziale Systeme, das 1984 erstmals publiziert wurde, erwähnt: „Historisch geht diese Begriffsfassung auf Aristoteles zurück.“195 Schmitt würde Luhmann in seiner Beschreibung dessen, was er unter dem Begriff der Kontingenz versteht, wohl beipflichten: Der Begriff wird gewonnen durch Ausschließung von Notwendigkeit und Unmöglichkeit. Kontingent ist etwas, was weder notwendig ist noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist. Der Begriff bezeichnet mithin Gegebenes (Erfahrenes, Erwartetes, Gedachtes, Phantasiertes) im Hinblick auf mögliches Anderssein; er bezeichnet Gegenstände im Horizont möglicher Abwandlung. Er setzt die gegebene Welt voraus, bezeichnet also nicht das Mögliche überhaupt, sondern das, was von der Realität aus gesehen anders möglich ist. In diesem Sinne spricht man neuerdings auch von 193 Schmitt 1912, S. 79. 194 Aristoteles 2011, S. 201. 195 Luhmann 1984, S. 152.
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„possible worlds“ der einen realen Lebenswelt. Die Realität dieser Welt ist also im Kontingenzbegriff als erste und unauswechselbare Bedingung des Möglichseins vorausgesetzt.196
Es ist die Opposition zum Positivismus und zur Säkularisierung des Entscheidungsbegriffes, die dem Juristen, ausgehend von der Kritik an der traditionellen Hermeneutik, die Bedeutung des aristotelischen Begriffs der Kontingenz bewusst machte. Doch Schmitt widerspricht dem Philosophen in Bezug auf die Möglichkeit des Richters, sich in Situationen, in denen das abstrakte und generische Gesetz – das universelle Gesetz – seine Unfähigkeit angesichts konkreter Fälle offenbart, in die Lage des Gesetzgebers zu versetzen. Obwohl Aristoteles das Problem der Kontingenz durch seine Sichtbarmachung in der Diskussion über die Grenzen der Anwendung des universellen Gesetzes angesichts einer konkreten Situation verdeutlicht hatte, so habe der Philosoph doch nicht das Ausmaß des Bruches zwischen Theorie und Praxis, zwischen Gesetz und Urteil, zwischen Gesetzgeber und Richter begriffen. Warum? Aristoteles glaubte, dass der Richter angesichts der Ohnmacht des Gesetzes in der Lage wäre, sich in die Lage des Gesetzgebers zu versetzen und zu verkünden, was dieser verkündet hätte, wenn er anwesend gewesen wäre. Diese Vorstellung – die auch heute noch weit verbreitet ist – ist von Schmitt aus gesehen naiv, denn sie setzt ein Verhältnis der Unmittelbarkeit zwischen Richter und Gesetzgeber oder eine direkte Übertragung der Worte des Gesetzgebers auf die Sprüche des Richters voraus. So meint Aristoteles: Wo es nun nötig ist, allgemein zu sprechen, dies aber nicht auf richtige Weise möglich ist, da nimmt das Gesetz die Regel, die meistens richtig ist, durchaus wissend, dass dies fehlerhaft ist. Und doch ist das Gesetz deshalb nicht weniger richtig. Denn der Fehler liegt nicht im Gesetz, auch nicht beim Gesetzgeber, sondern in der Natur der Sache. Denn so ist nun einmal die Handlungsmaterie beschaffen. Wenn nun das Gesetz allgemein spricht, aber ein einzelner Fall eintritt, der vom allgemeinen Gesetz nicht erfasst wird, dann ist es richtig, dort, wo der Gesetzgeber eine Lücke lässt und den Fall durch die allgemeine Formulierung verfehlt, dies zu berichtigen – indem man sagt, was auch der Gesetzgeber selbst gesagt hätte, wenn er da gewesen wäre, und was er in das Gesetz aufgenommen hätte, wenn er es gewusst hätte.197
Nun, die Behauptung einer Identität zwischen Richter und Gesetzgeber stellt eine Hypostase dar, die die Übertragung einer Substanz voraussetzt, die auf dem Weg der Worte des Gesetzgebers zum Mund des Richters unverändert erhalten bleibt. Die Meinungsverschiedenheit zwischen Schmitt und Aristoteles unterscheidet sich nicht allzu sehr von Schmitts Einschränkungen zu der von Hegel untersuchten Vorstellung des Risses. Obwohl der deutsche Philosoph den Riss in der Übertragung des Gesetzes auf die Entscheidung des einzelnen Falles individualisierte, erachtete dieser den Riss nur als peripherisch, so dass er durch die Vermittlungen des Geistes hätte geheilt werden können. Hier wird das Gewicht deutlich, das Schmitt dem Problem der Kontingenz in seinem Denken beimisst, denn für ihn stellt jede Entscheidung einen Bruch mit dem Gesetz dar, weshalb sie immer contra legem oder ex nihil ist. Genau deshalb kann der Richter nicht so entschei196 Luhmann 1984, S. 152. 197 Aristoteles 1973, S. 189.
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den wie der Gesetzgeber, „wenn er anwesend wäre“. Der Richter kann nur so entscheiden wie auch „ein anderer Richter entschieden hätte“.198 Die erwähnte Formel macht den Bruch deutlich, denn es ist der Richter und nicht der Gesetzgeber, der mit der konkreten Situation konfrontiert wird. Nur der Richter kann die konkreten Umstände der Möglichkeit einer Anwendung des Gesetzes kennen. Wenn also einerseits bei Aristoteles eine analogia entis in der ontologischen Identität zwischen Gesetz und Richter erkannt wird, sieht Schmitt andererseits aufgrund des unentrinnbaren Bruches zwischen Sollen und Sein einen Gegensatz zwischen Gesetz und Entscheidung, zwischen Gesetzgeber und Richter. In Politische Theologie zeigt der Jurist klar auf, wie jede Objektivierung oder Übertragung einer Idee auf die konkrete Wirklichkeit einen Aggregatszustand darstellt und von einer auctoritatis interpositio abhängt. Anders ausgedrückt: Es schaltet sich eine Autorität zwischen Idee und Wirklichkeit, um diese zu konkretisieren, ohne aber jemals den ursprünglichen Zustand der Idee auf die Wirklichkeit zu übertragen. Diese ist dazu verdammt, zu einem Aggregatszustand zu werden.199 Schmitt setzt einen Entscheidungsbegriff, der sich immer an der Idee der Rechtsbestimmtheit ausrichtet. In seiner Arbeit Der Wert des Staates aus dem Jahre 1914 wird diese Idee vom Autor Rechtsverwirklichung genannt. Es ist interessant, dass seit den Jugendschriften im Denken des Autors die Vorstellung der praktischen Vernunft präsent ist, deren Lehre zeigt, dass der Richter die Souveränität besitzt, konkrete Fälle zu entscheiden. Dies ist von höchster Bedeutung für das Verständnis seines Souveränitätsbegriffes, den Schmitt in seinen Werken Die Diktatur und Politische Theologie untersucht, insbesondere im Hinblick auf die Begriffe der „kommissarischen Diktatur“200 und des „situationellen Rechts“.201 Die Sicht eines auf ein geschlossenes, von der Kausalität bestimmtes Regelsystem reduzierten legalistischen Positivismus verschleierte die Dimension der Entscheidung, der Wahl und der Verantwortung eines Handelns in dieser Welt, indem es vorgab, die Kontingenz der Wirklichkeit zu eliminieren. Die Rechtstheorie im Deutschland des 19. Jahrhunderts und der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts hatte versucht, der Jurisprudenz einen wissenschaftlichen Charakter zu verleihen, der in keinerlei Beziehung zum praktischen Wissen stand, denn „die praktische Vernunft verhandelt über menschliche Dinge“.202 „Von der technischen Rechtslehre, der Verarbeitung des Gesetzesstoffes, unterscheidet“ sich das Praxiswissen „dadurch, dass sein Objekt eine menschliche Tätigkeit ist“.203 Die Vehemenz, mit der Schmitt die „menschliche Tätigkeit“ der Praxis der positivistischen Gesetzestheorie, die das Recht als vom Himmel abgeleitete Norm (norma coelitus hausta) begriff, entgegensetzt, weist auf den ersten säkularisierenden Sinn der Ideen des Autors hin. 198 199 200 201 202 203
Schmitt 1912, S. 71. Schmitt 2004b, S. 37. Schmitt 1994f, S. 3. Schmitt 2004b, S. 19. Aristoteles 1973, S. 346. Schmitt 1912, S. 60.
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Die norma coelitus hausta ist der Grundsatz, den Schmitt verwendet und dessen Sinn eine Analogie mit dem Dualismus von Himmel und Erde, Geistlichem und Zeitlichem, Unsichtbarem und dem Sichtbarem offenbart. In Gesetz und Urteil erscheint der Dualismus in der Form einer Antithese zwischen Theorie und Praxis, zwischen Sollen und Sein, genauer zwischen der vom Ideal abgeleiteten Norm und der Entscheidung der menschlichen Tätigkeit in der Praxis. Die ideale Ebene der Norm erhebt sich mit ihrer Veröffentlichung zur autonomen Bedingung und löst sich so vom praktischen Raum der menschlichen Erfahrung. In dem Maße, in dem sie sich von ihrem Urheber, ihrem Fundament und ihrer Motivation loslöst, verwandelt sich das Gesetz – in dem Verständnis, das ihm der Rechtspositivismus verleiht – in eine leere Form, die sich auf einen blinden Glauben stützt. Anders ausgedrückt: Das Gesetz leitet sich nicht mehr von der Autorität eines menschlichen Wesens ab, sondern von der Einhaltung der angemessenen Form seiner Erstellung. Schmitt erklärt diesen Prozess im Detail, wenn er von den drei Phasen spricht, die eine Auslegung des Gesetzes durchläuft: In der ersten Phase besteht das Gesetz im Willen des Gesetzgebers; in der zweiten im Willen des Gesetzes; in der dritten geht der Wille verloren, und es bleibt das Gesetz. Die Phasen, die das Gesetz durchläuft, offenbaren seinen enigmatischen Charakter. Das Gesetz verwandelt sich in ein Rätsel, und folglich wird die Wirklichkeit des menschlichen, unter ein System von Gesetzbüchern subsumierten Lebens immer unsichtbarer oder unverständlicher. Schmitt spielt die juristische Praxis – den Bereich der Tätigkeit konkreter Menschen –, die Kontingenz, die Entscheidung und die Begründung gegen die positivistische Rechtstheorie aus. Die so herbeigeführte Kollision kündet den säkularisierenden Sinn von Gesetz und Urteil an, eine Unsichtbarkeit, die aus der dialektischen Bewegung hervorgeht, in der Gesetz und Anwendung aufeinanderprallen und so die Unverständlichkeit der Rechtstheorie offenlegen. In dieser Bewegung ist auch das Bestreben zur Überwindung des Dualismus durch die Verwirklichung der Rechtsbestimmtheit in der Entscheidung zu erkennen. In diesem Kapitel muss noch auf zwei Probleme hingewiesen werden: Zum einen kann die Entscheidung nicht auf den konkreten Fall beschränkt werden; wie wir gesehen haben, sollte sie, wenn auch nur teilweise, in der Lage sein zu objektivieren, damit sie generalisiert und vorhersehbar werden kann. Zum andern wurde die Arbeit – trotz der Anerkennung, auf die Gesetz und Urteil erhielt – noch im Jahr ihrer Veröffentlichung kritisiert, weil man glaubte, dass der vom Autor formulierte Vorschlag denselben Fehler enthielt, den man der Freirechtsschule vorwarf: Die Formel, die die Entscheidung des Richters an das Postulat der Rechtsbestimmtheit bindet, würde auch die Entscheidung an ein Ideal binden. Ich werde mich beider genannter Probleme annehmen und dabei mit dem zweiten beginnen. 1912 schrieben Georg Jellinek und Felix Holldack Rezensionen zu Gesetz und Urteil, die im Archiv für öffentliches Recht bzw. in den Kant-Studien veröffentlicht wurden. Obwohl ihr Ton im großen Ganzen ein lobender ist, erwähnen beide Rezensionen auch einen problematischen Aspekt der Arbeit. Jellinek erkannte in Schmitts Formel eine Variation der Freirechtsschule. Die Konstruktion der Figur des durchschnittlichen „anderen Richters“ sei eine Art der Rechtsquellenerweite-
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rung und der Bindung der Entscheidung des Richters an die Entscheidung des empirischen Richters. So wie auch die Freirechtsschule vorgeschlagen hatte, dass der Richter seine Normen von überpositiven Inhalten wie Würde und Glauben und guten Gewohnheiten ableiten sollte, so beabsichtige auch Schmitt, den Richter dem Grundsatz des empirischen Richters zu unterwerfen. Holldack hinterfragt in demselben Sinne: „Und treibt nicht das Postulat der Rechtsbestimmtheit letzten Endes wieder der Unterordnung unter eine der Entschließung zeitlich und logisch frühere Norm zu?“204 Zunächst muss darauf hingewiesen werden, dass die Kritik beider Autoren dasselbe Problem betrifft, denn die Formel des „anderen Richters“ oder des empirischen Typus des Richters, den Schmitt vorschlägt, leitet sich, wie wir weiter oben gesehen haben, vom Postulat der Rechtsbestimmtheit ab. Des Weiteren verlieren Jellinek und Holldack eine fundamentale Frage aus den Augen: Schmitts Entscheidungsbegriff leitet sich nicht von juristischen Grundsätzen oder überpositiven, a priori festgesetzten Inhalten ab, denn dies würde bedeuten, dass es unmöglich wäre, die Entscheidung zu legitimieren. Die Legitimität existiert Schmitt zufolge nicht vor dem Eintreten eines konkreten Falles der Wirklichkeit. Drittens fixiert das Postulat der Rechtsbestimmtheit, auf welches sich der Richter stützt und von welchem sich das Kriterium des durchschnittlichen Richters herleitet, den Inhalt der Entscheidung. Anders ausgedrückt: Die Formel „wenn es möglich ist anzunehmen, dass ein anderer Richter gleich entschieden hätte“ bestimmt keinen Inhalt, wie dies die Freirechtsschule tat, indem sie Inhalte wie Kulturnormen, Treu und Glauben und gute Gewohnheiten zu fixieren suchte. Schmitts Postulat der Rechtsbestimmtheit leitet die Entscheidung an, sich in Übereinstimmung mit den von der Praxis angebotenen Mitteln zu legitimieren. Der Jurist hat die Kritiken vorhergesehen. Deshalb hob er hervor, dass der Richter, der mit dem Anspruch antritt, richtig zu entscheiden, die Überzeugungen eines anderen Richters weder entschlüsseln noch subsumieren müsse: Das wäre ja der alte Irrtum, der in der „Gesetzmäßigkeit“ das Kriterium der Richtigkeit einer Entscheidung sieht. Sondern er hat sich zu bemühen, dass seine Entscheidung der tatsächlich geübten Praxis entspricht und, wenn er von einer herrschenden Meinung abgeht, dies immer noch mit so einleuchtenden Argumenten tut, dass die Abweichung im Bereich der Voraussehbarkeit und Berechenbarkeit liegt.205
Das andere, oben erwähnte Problem bezieht sich auf die Tatsache, dass Schmitt nicht will, dass der Richter seine Entscheidung auf den konkreten Fall beschränke, sondern eine allgemeine Entscheidung suche: „Der Richter will mit den Entscheidungsgründen erst eine allgemeine Entscheidung für den konkreten Fall schaffen; seine Entscheidungsgründe sollen zu einer allgemeinen Überzeugung erst hinführen.“206 Es ist bemerkenswert, dass die Entscheidung des Richters hinreichend überzeugende Gründe finden muss, damit sie im Hinblick auf ihre Vorhersehbar204 Holldack 2005, S. 375. 205 Schmitt 1912, S. 78. 206 Schmitt 1912, S. 97.
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keit verallgemeinert werden kann. Zwei Aspekte können in der Argumentation des Juristen erkannt werden: Der erste respektiert die Erstrangigkeit des Richters, denn da es unmöglich ist, die Entscheidung von einem Gesetz abzuleiten, fällt dem Richter die Verantwortung zu, der Erste zu sein, der das Recht in Bezug auf den konkreten Fall bestimmt. Das geschieht keineswegs im positivistischen Sinn der Anwendung einer allgemeinen Norm auf den konkreten Fall. Ganz im Gegenteil: In Wirklichkeit ist der Richter der Einzige, der in der Lage ist, für den konkreten Fall das Recht zu bestimmen. Während der Gesetzgeber sich diesen vorstellen muss, wird der Richter mit dem konkreten Fall konfrontiert. Der zweite Aspekt liegt in der Unmöglichkeit, dass die gesetzgebende Macht das menschliche Handeln anleite, da es aus der Sicht der Praxis eine Fiktion ist, eine Trennung zwischen Ausarbeitung und Anwendung des Gesetzes herbeiführen zu wollen. Die Lage des Notstandes, den Schmitt in Bezug auf die Richter beklagt, spiegelt das Problem der Umsetzung staatlicher Handlungen wider, deren Krise ihren Ursprung in der fehlenden Vermittlung zwischen der Legislative, Judikative und Exekutive hat. Die von der liberalen Demokratie angewandte positivistische Rechtstheorie verschärfte die Krise des preußischen Staates, als man die Lösung des Problems in einer indirekten Macht zu sehen glaubte: in der Legislative. Das fundamentale Prinzip des Vorrangs des Gesetzes verleitete sie zu immer anachronistischeren Antworten auf die von der Wirklichkeit erzeugten Zwänge. Dies führte zur immer schnelleren Schaffung von Gesetzen und verwandelte den Staat in eine Gesetzgebungsmaschine. Die Unzulänglichkeit dieser Art von Staat verwandelte ihn – da Gesetze immer von Entscheidungen konkreter Menschen und nicht von juristischen Normen ausgehen – in einen Staat von Verordnungen. In seiner Darlegung der Unmöglichkeit, einen konkreten Fall auf positivistischem Wege einer allgemeinen Norm zu entscheiden, stellt sich Schmitt in Gesetz und Urteil bereits gegen Hans Kelsen, der zu einem seiner größten intellektuellen Widersacher werden sollte. Bezugnehmend auf Kelsens Buch bemerkt Schmitt: Ein jüngst erschienenes Buch hat mit eindrucksvoller Konsequenz den Unterschied zwischen soziologischer und juristischer, kausal-explikativer und normativer Betrachtungsweise hervorgehoben und betont, dass die Verwendung substantieller Zweckmomente bei der Konstruktion eines formalen Rechtsbegriffes der „gröbste aller methodischen Fehler“ sei. Aus der Problemstellung vorliegender Untersuchung ergibt sich ihre Stellungnahme zu diesen Ausführungen. Die Methode der Rechtsanwendung ist das Thema, nicht die wissenschaftliche Verarbeitung des positiven Rechts oder die Konstruktion juristischer Begriffe. Infolgedessen sind ihre methodischen Voraussetzungen auch andere als die der Theorie des geltenden Rechts, die bei einer Nichtbeachtung alles dessen, was nicht aus dem Gesetz begrifflich zu deduzieren ist, ihrem Wesen nach mit der Methode einer Praxis nichts zu tun haben kann. Es ist daher kein Einwand gegen die Ansichten jenes Buches daraus abzuleiten, wenn es wichtige (und aktuelle) Fragen der Methodik einer Rechtspraxis gar nicht erklären will, sondern ihnen gegenüber offen seine Inkompetenz ausspricht und sich damit begnügt, zu bemerken, in der Frage des richterlichen Ermessens oder dergleichen höre alle juristische Konstruktion auf.207
207 Schmitt 1912, S. 56.
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Schmitt suchte die polemische Auseinandersetzung mit Kelsen in Bezug auf das Problem der Rechtsanwendung, weil er überzeugt war, dass der Autor von Hauptprobleme der Staatslehre, das 1911 erschienen war, den bestehenden Dualismus von Methode der Rechtstheorie und Methode der juristischen Praxis nicht erkannte. Die Ideen von Kelsens Werk lagen noch auf der Linie des traditionellen Rechtspositivismus, denn sein Kriterium für die Richtigkeit einer Entscheidung lag in der Anwendung des positiven Gesetzes. Kelsen sah selbst noch in der beliebigen, von der Verwaltung oder von der Justiz getroffenen Entscheidung eine Konkretisierung einer generischen oder abstrakten Norm, so dass er es nicht für notwendig erachtete, ihren Inhalt zu begründen. Es galt lediglich zu wissen, ob der Inhalt einer Entscheidung von einer juristischen Norm abgeleitet war, da „dieser Inhalt prinzipiell nur aus den positiven Gesetzen hergeleitet“ werden kann.208 Während Kelsen also nur einen quantitativen Unterschied zwischen der generischen Norm und der auf einen konkreten Fall angewandten Entscheidung sah, sah Schmitt eine qualitative Differenz, da es für ihn zwischen Norm und Entscheidung einen Riss gab. So versucht er, anhand der Untersuchung der richtigen Entscheidung einen Weg zu finden, um die Handlungen des Staates zu legitimieren, die nicht von vorgängig festgesetzten juristischen Grundsätzen bestimmt sein dürfen. Bei Kelsen hingegen konnte die Entscheidung des Richters, die eine generische Norm für den Einzelfall konkretisierte, auf die Tätigkeit des Staatsorgans zurückgeführt werden. Somit stellt jede Handlung, in der die Verwirklichung eines juristischen Grundsatzes erkannt wird, den Ausdruck des Staatswillens dar. Schmitt untersucht im Gegensatz dazu jedoch die richtige Entscheidung im Bereich der Praxis, denn der Richter kann sich bei der Begründung des Inhalts einer Norm nicht auf den Willen des Staates stützen. Wie wir gesehen haben, ist der Richter jene Autorität, die das Recht für den konkreten Fall bestimmen muss, wodurch der Gesetzgeber das Monopol der Rechtschöpfung verliert. Es gibt keine mögliche logische und rationale Vermittlung zwischen den Absichten des Staates und der konkreten Wirklichkeit. Deshalb verschiebt Schmitt die Achse des Entscheidungszentrums von der gesetzgebenden Macht zur richterlichen Entscheidung. Der von Schmitt in Gesetz und Urteil eingeführte Entscheidungsbegriff ist keineswegs eine Apologie auf den rechtlichen Aktivismus, seine Grundlage bleibt aber dennoch die Gewaltentrennung des rechtsliberalen Staates. Immer wieder bringt Schmitt das Problem der Gewaltenteilung und immer auch das Problem der Trennung von Verwaltung und Justiz zur Sprache, um gleichzeitig sowohl den absoluten Charakter der gesetzgebenden Gewalt als auch das Gesetz als Quelle der Unsichtbarkeit oder Unbestimmtheit zu denunzieren. Schmitts Entscheidungsbegriff, der in Gesetz und Urteil im Umfeld der Krise der deutschen Jurisprudenz in Erscheinung tritt, wird im Laufe der Zeit von Organen, Funktionen oder Berufen immer unabhängiger werden. Die Grundlage der Entscheidung ist die Kontingenz der menschlichen Existenz. Die Konstruktion einer stabilen Ordnung des menschlichen Lebens kann nicht der Autorität und der Verantwortung der Gesetze, sondern nur dem konkreten Menschen übertragen werden. 208 Schmitt 1912, S. 57.
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1.8. Silete Theologi! (Theologen, schweigt!) Im Vorwort zu dem Buch Der Begriff des Politischen, das er 1963 verfasste, schreibt Schmitt: „Das Wort Silete theologi!, das ein Jurist des Völkerrechts am Beginn der staatlichen Epoche den Theologen beider Konfessionen zugerufen hat, wirkt immer noch weiter.“209 Der erste Sinn von Schmitts Säkularisierungsbegriff erscheint erstmals in seinem Kampf gegen den juristischen Positivismus. Es geht dabei nicht um einen Kampf gegen die Theologen, sondern gegen die „aktuellen“ Vertreter der unsichtbaren oder indirekten Gewalten, deren Glaube an die Technisierung die Legalität in einen Selbstzweck verwandelt: Seit dem 19. Jahrhundert ist die Lage der europäischen Rechtswissenschaft durch die Aufspaltung des Rechts in Legalität und Legitimität bestimmt. Die Gefahr, die heute dem rechtswissenschaftlichen Geist Europas droht, kommt nicht mehr aus der Theologie und nur noch gelegentlich aus einer philosophischen Metaphysik, sondern aus einem entfesselten Technizismus, der sich des staatlichen Gesetzes als seines Werkzeuges bedient. Jetzt hat sich die Rechtswissenschaft nach einer anderen Seite hin zu behaupten. Der wissenschaftliche Jurist ist kein Theologe und kein Philosoph, er ist aber auch keine bloße Funktion eines irgendwie „gesetzten“ Sollens und seiner Setzung von Setzungen. Wir haben uns also gegen eine subalterne Instrumentalisierung zu wehren, wie wir uns in anderen Zeiten gegen die Abhängigkeit der Theologie gewehrt haben.210
Meines Erachtens ist diese Passage ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis von Schmitts Arbeiten. Sein Inhalt basiert auf der Tatsache, dass das Recht in seinem Glauben an die Technik und den Fortschritt die existentielle Dimension des Konflikts und eindeutige Unterscheidungen, die das menschliche Tun anleiten, verleugnet. Das Fehlen von Sinn, Relativismus und Nihilismus sind Folge der unsichtbaren oder indirekten Gewalten, die von einer positivistischen Sicht des Rechts und des Staates monopolisiert wurden. Die Teilung des Rechts in Legalität und Legitimität hat ihren Ursprung im Konflikt zwischen Monarchie und liberalem Bürgertum und in der Gewaltentrennung von Justiz, Verwaltung und Exekutiven. Hinter der Theorie der Gewaltentrennung stehen auch die Konflikte, die den Platz der alten Unterscheidung von den unsichtbaren und sichtbaren Gewalten, von Himmel und Erde und von indirekten und direkten Gewalten besetzten. In Gesetz und Urteil wird diese Unterscheidung aus dem Blickwinkel einer Gegenüberstellung von Theorie und Praxis, von Gesetz und Entscheidung betrachtet. Die Gesetzestheorie und die Entscheidung der juristischen Praxis werden einander gegenübergestellt. Schmitt führt einen Kampf gegen die Vertreter des juristischen Positivismus, die ab dem 19. Jahrhundert das Monopol der Gesetzesauslegung und der Ausarbeitung juristischer Begriffe erobern, welches der Kontrolle des „Sollens in dieser Welt entspricht. Der Glaube an die Technisierung des Rechts führt zum „Dogma Gesetz ist Gesetz“.211
209 Schmitt 2002b, S. 15. 210 Schmitt 2003b, S. 422. 211 Schmitt 2003b, S. 419.
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Mit der Gewaltenteilung und der vom juristischen Positivismus beherrschten, begrifflichen Ausarbeitung wird das Gesetz – im selben Moment, da es sich von seinen Grundlagen und Urhebern und von seiner Geschichte trennt – allmächtig. Die indirekte Gewalt des Gesetzes wird allen Gewalten auferlegt. In seinem Kampf gegen das Gesetz und gegen die Willkür der monarchischen Macht vergaß Schmitt, so erinnert er sich, einen Schutz gegen die Allmacht des Gesetzes zu errichten. Angesichts seiner Abstraktion und Universalisierung erscheint das Gesetz als autonome und von der Wirklichkeit seiner Anwendung losgelöste Form, als würde es sich selbst erschaffen und auf sich selbst anwendbar sein, somit sowohl den Befehl als auch die Entscheidung in sich enthaltend. Von der Wirklichkeit, jeglichem Sinn und den Menschen losgelöst, verwandelt sich das Gesetz in eine unsichtbare Macht. In diesem Sinn näherten sich ab dem 19. Jahrhundert in Deutschland die Juristen als Vertreter des Rechtspositivismus den Theologen von einst an. Im nächsten Kapitel soll der Sinn der Säkularisierung als Verwirklichung des Rechts in Schmitts Arbeit über den Staat und das Individuum, die zwei Jahre nach Gesetz und Urteil veröffentlicht wurde, diskutiert werden.
2. DER WERT DES STAATES UND DIE SÄKULARISIERUNG 2.1. Mitteln und Vermitteln In einer Fußnote des Buches Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen212 gibt uns Schmitt einen wichtigen Hinweis zum Verständnis jenes Sinns, den er dem Säkularisierungsbegriff erstmals in seinen Werken zuweist: „Die Idee tritt immer als ein fremder Gast in Erscheinung“.213 Der Eintritt einer Idee in den Bereich der Wirklichkeit verlangt die Vermittlung einer letzten Entscheidungsinstanz. Ohne die Wirkung einer vermittelnden Instanz bleibt die Idee ohne Schutz und wird so zur leichten Beute der Kräfteverhältnisse der sozialen Wirklichkeit. In ihrer Abwesenheit, in der Unmittelbarkeit, stellt die Hingabe des Individuums an die Idee nicht nur eine Bedrohung für die juristisch-politische Schöpfung, sondern auch für die ontologische Existenz des Menschen dar. Das Hin und Her zwischen Vermittlung und Unmittelbarkeit geschieht in Zeiten, in denen der Zerfall des Staates sich in seiner Unfähigkeit offenbart, dem menschlichen Verhalten ein äußeres Maß oder einen äußeren Sinn zu verleihen. Die Phasen der Unvermitteltheit sind gezeichnet von Fanatismus und Terror, Relativismus und Subjektivität. Gemäß Schmitt führt die Zerstörung der Institution Staat dazu, dass die Zeiten der Unmittelbarkeit in einem von den Lichtern der Aufklärung und vom Triumpf der Objektivität des Positivismus eingehauchten Nihilismus münden. Am Schluss von Der Wert des Staates sagt Schmitt: Es gibt Zeiten des Mittels und Zeiten der Unmittelbarkeit. In diesen ist die Hingabe des Einzelnen an die Idee etwas den Menschen Selbstverständliches; es bedarf nicht des straff organisierten Staates, um dem Recht zur Anerkennung zu verhelfen, ja, der Staat scheint, nach dem Ausspruche Angelus Silesius, wie eine Wand vor dem Lichte zu stehen.214
Im Tagebuch, in dem Schmitt nicht nur Ereignisse des Alltags seines Privatlebens festhielt, sondern auch intellektuelle Themen aller Art skizzierte – auch während 212 Wie Schmitts Tagebuch aus der Zeit von Oktober 1912 bis Februar 1915 und eine Rezension, die der Autor zwecks Bekanntmachung seiner Arbeit 1914 verfasste, zeigen, ist Der Wert des Staates „1913 geschrieben, Anfang 1914 erschienen“ (Schmitt 2005e, S. 347). 1916, zwei Jahre nach der Veröffentlichung, wurde die Arbeit als Habilitationsschrift zugelassen. Die Schrift wurde von der Straßburger Universität angenommen, wo Schmitt 1916 auch seinen ersten Lehrstuhl erhielt (Noack 1996, S. 26 und Mehring 2001, S. 30). 213 Schmitt 2004a, S. 76. Hier zitiert Schmitt Goethe, auf den der Jurist verweist, um die intellektuellen Positionen zu kritisieren, die den in der direkten Hingabe des individuellen Subjekts an die Idee vorgenommenen Unvermitteltheiten positiv gegenüberstehen, denn die Wirkung, soll sie in die empirische Welt eintreten, bedarf empirischer Mittel (Schmitt 2004a, S. 76). 214 Schmitt 2004a, S. 107.
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Der Wert des Staates und die Säkularisierung
dem Verfassen von Der Wert des Staates – zitiert er ein Gedicht von Angelus Silesius (1624–1677): Weg mit dem Mittel, weg, Soll ich mein Licht erschauen, So muss man keine Wände Vor mein Gesichte bauen.215
In Zeiten, in denen er verlangt, dass die vom Staat symbolisierte „Zwischenwand“ umgeworfen wird, herrscht die Pluralität der Einzelinteressen vor, „der Fanatismus des Rechts“, die Herabsetzung und das Elend der Menschen, und man hört lediglich den Schrei: „fiat justitia, pereat mundus!“216 Der Staat ist das einzige politische Subjekt, das in der Lage ist, eine Idee in die Welt zu setzen und sie gegenüber den Machtverhältnissen der konkreten Wirklichkeit zu vertreten. Die Idee braucht den Staat, denn, wie Schmitt 50 Jahre später in Die Tyrannei der Werte sagen wird: sie tritt immer als fremder Gast in die Erscheinung. Anders kann wohl auch der Wert nicht wirklich werden. Die Idee bedarf der Vermittlung, und wenn sie in nackter Unmittelbarkeit oder in automatischem Selbst-Vollzug in die Erscheinung tritt, dann ist der Schrecken da und das Unglück fruchtbar.217
Das Thema der Verwirklichung einer Idee in der Welt gehört in den Bereich der Säkularisierung, mit der sich Schmitt, wie aus dem Briefwechsel des Juristen mit dem Philosophen Hans Blumenberg hervorgeht, bis zu seinem Lebensende beschäftigt hat.218 In diesem Kapitel geht es um die Bedeutung der Beziehung zwischen dem Recht und der politischen Entscheidungsinstanz: dem Staat. Das Recht wird hier vorgestellt als eine Idee, die als „fremder Gast“ in der realen Welt symbolisiert wird. Doch die Idee muss in der Wirklichkeit sichtbar werden, weil sonst die menschliche Existenz in einer von Gott verlassenen Welt sich selbst überlassen bleibt.219 Im Folgenden werde ich versuchen, diese Fragen zu beantworten. 2.2. Die Triade der Staatsphilosophie In seinem 1914 veröffentlichten Buch Der Wert des Staates220 wird die zentrale Rolle deutlich, die der Staat in Schmitts Denken einnimmt. Schon in der Einlei215 Das Gedicht findet sich in Schmitts Tagebuch, unter dem Eintrag zum 31. Oktober 1912 (Schmitt 2005h, S. 34). 216 Schmitt 1964, S. 59. 217 Schmitt 1967b, S. 62. 218 In einem der letzten Briefe, die Schmitt am 28. Januar 1978 an Blumenberg schrieb, weist der Jurist nicht nur auf sein Buch Tyrannei der Werte hin, sondern legt dem Brief auch ein Exemplar des Werkes bei. Das Buch behandelt unter anderen auch das Thema der Säkularisierung (Schmitz/Lepper 2007, S. 156f). 219 Schmitt 2005c, S. 452; 1967b, S. 43. 220 Bezüglich dieses Werkes betont Helmut Rumpf, dass „der Gedankengang des Verfassers auf einen philosophischen Hintergrund deutet, in dem sich Vorstellungen des katholischen Natur-
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tung nennt der Autor die Reihe „Recht, Staat, Individuum“, anhand derer er das Ergebnis seiner Untersuchung vorstellt. Der Staat nimmt hier eine zentrale Stellung ein, da er in der Lage ist, eine Verbindung herzustellen zwischen der ideellen Welt des Rechts und der Welt der empirischen Wirklichkeit, der das Individuum angehört. Die Begriffe, die im Zentrum der Staatstheorie des Autors stehen, werden in sequentieller Abfolge definiert: Das Recht, als reine, wertende, aus Tatsachen nicht zu rechtfertigende Norm stellt logisch das erste Glied dieser Reihe dar; der Staat vollstreckt die Verbindung dieser Gedankenwelt mit der Welt realer empirischer Erscheinungen und repräsentiert das einzige Subjekt des Rechtsethos; das Individuum aber, als empirisches Einzelwesen, verschwindet, um vom Recht und dem Staat, als der Aufgabe, Recht zu verwirklichen, erfasst zu werden und selbst seinen Sinn in einer Aufgabe und seinen Wert in dieser abgeschlossenen Welt nach ihren eigenen Normen zu empfangen.221
Die Triade „Recht, Staat, Individuum“ wäre also die einzig mögliche Lösung, um der von der Kontingenz geprägten Wirklichkeit entgegenzutreten, die sich in der Diskontinuität zwischen Idee und Wirklichkeit, zwischen „Sein“ und „Sollen“, zwischen Geltung und Faktizität ausdrückt. Das an der Idee222 des Rechts ausgerichtete Konstrukt des Staatsbegriffs hat seinen Ursprung in der Anerkennung eines radikalen Dualismus, der auch im Bild eines Abgrundes zwischen zwei Welten seinen Ausdruck findet. Auf der einen Seite des Abgrunds befindet sich das Recht als Welt des „Sollens“, das Ideale, die reine Form, das Universelle. Auf der gegenüberliegenden Seite befindet sich die Welt des „Seins“, die empirische Wirklichkeit, das Relative, dem das Individuum zugehört. Der Staat erscheint als Verbindungsglied,223 als Brücke, die diese extremen Gegensätze durch die Verwirklichung der Rechtsidee im Bereich der konkreten Wirklichkeit verbindet. Die zentrale Stellung des Staates besteht in seiner Rolle als Vermittler, der das einzige Subjekt vertritt, das in der Lage ist, das Ideal auf der realen Ebene zu objektivieren. Anders ausgedrückt: Nicht das Individuum, sondern der Staat ist das einzige Subjekt, das fähig ist, Träger der Rechtsidee zu sein und sie in der empirischen Welt der Tatsachen zu verwirklichen. Wer die von Schmitt vorgeschlagene Definition des Staates verstehen will, muss die Bedeutung berücksichtigen, die der Säkularisierung zukommt, genauer, rechtsdenkens und scholastischer Ontologie mit ihrer Unterscheidung zwischen Sein und Wesen (ens und essentia) mit Gedanken des deutschen Idealismus mischen“ (Rumpf 1972, S. 15). 221 Schmitt 2004a, S. 10. 222 Siehe diesbezüglich Der Wert des Staates (2004, S. 98f.) und Politische Theologie (2004, S. 35-37). 223 Obwohl Schmitt in Der Wert des Staates die Unüberbrückbarkeit des Abgrundes zwischen dem Idealen und dem Realen hervorhebt, beharrt er dennoch auf der Möglichkeit einer Brücke oder einer Überwindung, was paradox erscheint. Doch handelt es sich hierbei nur um ein vermeintliches Paradox, denn die Herstellung einer Verbindung zwischen dem Recht (dem ideellen Bereich) und der Wirklichkeit (dem faktischen Bereich) überwindet die Kontingenz nicht, erlaubt es aber, sie mittels einer Vermittlung, die in sich die Entscheidung und die Vertretung einschließt, zu verringern.
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dem Bemühen um die Verwirklichung der Idee in der empirischen Welt. Diese Bedeutung entspringt just dem Nichtvorhandensein einer a priori vorgegebenen Relation zwischen „Sollen“ und „Sein“, zwischen der Idee des Rechts und der Macht.224 Die erste Bedeutung, die Schmitt der Säkularisierung zuschreibt, resultiert aus der Dichotomie zwischen Recht und Macht. Auf den ersten Blick erscheint die Säkularisierung als Möglichkeit, eine scharfe Unterscheidung aufzustellen und Abwesenheiten, Unterbrechungen und Trennungen zu entlarven, die im Reiche des „Seins“ vorhanden sind. Das Recht als Reinheit und Ideal ist eine leere Form, eine Norm. Diese kann niemals aus der Natur, der Geschichte, der Empirie, der Ethik und den bloßen Kräfteverhältnissen hergeleitet werden. Das Recht wird von Schmitt als Norm behandelt, doch in einem dem Rechtspositivismus antagonistischen Sinn. Wie bereits im vorhergehenden Kapitel aufgezeigt wurde, versucht der Positivismus jeglichen metaphysischen Sinn zurückzuweisen, indem er das Recht auf das Gesetz beschränkt und es auf die Manifestation eines objektiven Willens der faktischen Befehlsgewalt reduziert. Für Schmitt ist das Recht, das – im Gegensatz zum Positivismus – logisch dem Staat vorausgeht, eine transzendente Form, sinnentleert und substanzlos. Anders als der juristische Positivismus sieht der Jurist das Recht als ideelles Prinzip, als Norm, die nirgends eine Legitimation findet. Das Recht ist also ein „Sollen“, das unfähig ist, sich unmittelbar zu verwirklichen. Genau hier liegt der säkularisierende Sinn von Schmitts Studie Der Wert des Staates: Nur die politische Entscheidung führt die Idee des Rechts in die empirische Wirklichkeit ein. Die politische Staatsentscheidung, Dreh- und Angelpunkt der erwähnten Triade, konstituiert sich in der Vermittlung, in der Brücke, die die reine Idee des Rechts in die konkrete Wirklichkeit des irdischen Lebens überführt. Wie Schmitt es ausdrückt: In der Mitte dieser Dreiteilung steht der Staat. Aus der Entgegensetzung der Norm und der realen empirischen Welt folgt die Stellung des Staates als Übergangspunkt der einen Welt zur andern. In ihm als Konstruktionspunkt, wird das Recht als reiner Gedanke zum Recht als irdischem Phänomen.225
Es wird deutlich werden, dass das politische Handeln des Staates, das die reine Rechtsidee in konkretes Recht, genauer: in „irdisches Recht“ verwandelt, der ersten Bedeutung entspricht, die Schmitt dem Begriff der Säkularisierung innerhalb seines Gesamtwerkes zuschreibt. Diese Auffassung von Säkularisierung findet sich im innersten Kern seiner Arbeiten wieder, denn es behandelt das fundamenta224 Carlo Galli meint, dass „il punto centrale dell’argomentazione schmittiana, insistentemente ripetuto nel corso del libro, è infatti l’assenza di un rapporto garantito a priori fra universale e particolare, fra teoria e prassi, fra Idea del diritto e potere; il diritto nella sua purezza immediata e ideale non è per Schmitt ‚Giustizia‘ ma, essenzialmente, norma“ (Galli 1996, S. 317). Genau in dieser Abwesenheit, in der Trennung kausaler und natürlicher Bindungen, offenbart die Regelmäßigkeit der sozialen Wirklichkeit das politische Handeln, was einen wichtigen Aspekt im Verständnis der Idee der Säkularisierung darstellt. 225 Schmitt 2004a, S. 56.
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le Problem der Souveränität, die über den Weg der Säkularisierung eine Form für die Wirklichkeit durch die Verbindung von Rechtsidee und höchster faktischer Macht, die durch den Staat vertreten wird, zu bieten versucht. 2.3. Individuum und Kontingenz Das Individuum, das in Schmitts Staatsphilosophie als „empirisches Einzelwesen“ vorgestellt wird, gewinnt nur in dem Maße Sinn, in dem auch der Staat zwischen den Welten des „Seins“ und des „Sollens“ vermittelt, d.h., in dem er sich der Aufgabe der Rechtsverwirklichung annimmt. Sowohl der Staat als auch das Individuum sind empirische Wesen, die der faktischen Wirklichkeit angehören und einen Wert nur vom Standpunkt der Rechtsidee her zugesprochen bekommen. Nur wenn es möglich ist, die empirischen Wesen (Staat und Individuum) und ihre Handlungen auf eine ideale, normative und folglich in Bezug auf die Faktizität transzendente Perspektive zu verweisen, nimmt die konkrete Wirklichkeit Form an. In anderen Worten, die vielseitige Wirklichkeit verwandelt sich so in eine Einheit, die sich effektiv an Wertungen ausrichtet. In diesem Sinne erlaubt die logische Präzedenz der Rechtsidee gegenüber der empirischen Welt der Fakten, der sowohl der Staat als auch das Einzelwesen angehören, nicht nur den Bruch zwischen dem Idealen und dem Realen aufzudecken, sondern zeigt auch, dass dieser Bruch die wahre ontologische Struktur der Wirklichkeitswelt enthüllt. Durch die Gegenüberstellung von faktischer Wirklichkeit und idealer Perspektive des Rechts will Schmitt in erster Linie das von dem kausalen Funktionieren der sozialen Wirklichkeit dargestellte Bild unterlaufen. In dieser Darstellung der „realen sozialen Welt“ erscheinen das Recht und die Werte als bloße Spiegelung226 der Kräfteverhältnisse der sozialen Segmente. In der mechanistischen Sichtweise der objektiven 226 In Römischer Katholizismus und Politische Form bemerkt man, wie diese Auffassung von Recht und Wirtschaft als Reflex der Kraftverhältnisse an eine Epoche gebunden ist, die den Triumpf der empirischen Objektivität heiligt. Diese Epoche kennt keine andere Erscheinungsform als die durch die Technik vermittelte. Indem Schmitt die Bedrohung darlegt, die aus der Verbindung des wirtschaftlichen Denkens mit dem Technizismus hervorgeht, analysiert er die ernsten Folgen dieser Verbindung im Bereich der politischen Vertretung, denn die Forderung nach der realen Präsenz der Dinge reduziert die Form oder die Idee der Vertretung auf bloße Reflexe, auf Spiegelungen und Projektionen und verhindert so eine Kontinuität des Sinns. Zum einen treibt diese Projektion die Verdinglichung, den Materialismus, den ungebremsten Konsum voran. Zum andern stellt sie den Verlust der Idee der Menschlichkeit dar, die Abwesenheit von Unterscheidungen und einer Wertehierarchie, die in der Lage wäre, dem Leben wirkliche Würde zu verleihen (Schmitt 1984, S. 34f.). Der Werteverlust führt zu einer Gesellschaft, in der die rationalistische Produktionslogik nicht zwischen der Herstellung chemischer Waffen und der Herstellung von Schuhen unterscheidet. Das mechanische Bild der Wirklichkeit „in der modernen Wirtschaft entspricht einer aufs äußerste rationalisierten Produktion ein völlig irrationaler Konsum. Ein wunderbarer rationaler Mechanismus dient irgend einer Nachfrage, immer mit demselben Ernst und derselben Präzision, mag die Nachfrage seidene Blusen oder giftige Gase oder irgend etwas anderes betreffen“ (Schmitt 1984, S. 24f.). Der objektive, technische Rationalismus eliminiert die Möglichkeit von Unterscheidungen, die von den Wertungen des subjektiven Charakters abhängen.
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Wirklichkeit der sozialen Welt existieren keine Brüche, sondern lediglich Kontinuitäten, die von den Kausalitätsgesetzen geleitet werden. In der Folge stellt der Jurist seine Absicht vor, durch dialektische Polarisierungen die Aufteilung dieses mechanischen Bildes der Wirklichkeit zu provozieren, um den Abgrund, der sich zwischen „Sein“ und „Sollen“, zwischen Recht und Macht und zwischen Form und Inhalt auftut, sichtbar zu machen. Nur die Bewusstmachung des der Welt des Seins inhärenten Dualismus macht die Kontingenz verständlich. Folglich kann die Idee sich nur in der Kontingenz, im Bruch, in der Krise zeigen, während in der direkten Kontinuität oder in den unvermittelten Auffassungen, mit denen die positivistische Sichtweise operiert, die Ideen und Fakten, Recht und Macht, Wissenschaft und Leben identifiziert werden. Nur die Diskontinuität erlaubt somit das Erkennen der Abwesenheit der Idee und ermöglicht die politische Repräsentation, damit die Wirklichkeit konfiguriert werden kann. Wie wir schon im ersten Kapitel gesehen haben, richtet sich Schmitts Polemik gegen die positivistische Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts. Seine Ideen hinterfragen die Geltungsgrundlagen einer historischen Periode, die Schmitt als „mechanistisches Zeitalter“ bezeichnet.227 Er widersetzt sich der Weltanschauung, die im Bild eines auf ein System mechanischer Bestimmungen reduzierten Soziallebens gründet. Deshalb enthüllt er Klüfte, Unterbrechungen und Kurzschlüsse, die dem Ursprung der Kräfteverhältnisse, die angeblich durch das Kausalitätsprinzip untereinander verbunden sind, zugrundeliegen. In der Diskontinuität, in der Relativität der faktischen Wirklichkeit kann man die Willkür der Kontinuitätsverbindungen sichtbar machen, die den Ursachen und Wirkungen zugeschrieben werden, und die falsche Darstellung der Wirklichkeit denunzieren, in der sich die Grenzen zwischen Innen und Außen, zwischen Subjektivität und Objektivität verwischen. Die Feststellung der ontologischen Diskontinuität der Welt der Wirklichkeit des Seins, die sich einerseits in der Form der Rechtsidee, andererseits in der Faktizität der Wirklichkeit zeigt, ist der Zweck der ersten Verwendung des Säkularisierungsbegriffs in Der Wert des Staates. Der semantische Inhalt des Säkularisierungsbegriffs kann nur im Lichte des Dualismus, der zwischen Ideal und Realität, Innen und Außen besteht und der von der objektiven Rationalität des Positivismus verdeckt wird, begriffen werden. Nur so kann sein begrifflicher Kern in der Einführung der Wirklichkeitsvorstellung verstanden werden. Indem Schmitt das Recht in den Status einer transzendenten Idee erhebt und so dessen Autonomie gegenüber der Faktizität offenlegt, versucht er aufzuzeigen, dass die Welt des Seins nicht in sich geschlossen ist. Der Transzendenz der Rechtsidee kommt die Aufgabe zu, zu zeigen, dass das Recht nicht nur eine Bestimmung der Macht ist, sondern dass auch die Macht von der Rechtsidee bestimmt werden kann. Doch nur der Staat kann als Medium zur Verwirklichung der Rechtsidee dienen, da „der Staat einen begründeten Wert hat, ein Selbstvertrauen, welches den Punkt bezeichnet, an dem sich hier Theorie und Praxis berühren, weil 227 Schmitt 2004a, S. 12.
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die Theorie der Praxis in die Praxis der Theorie übergeht“.228 Es besteht meines Erachtens kein Zweifel daran, dass Schmitt mit seiner Staatstheorie eine Intervention in der Wirklichkeit versucht.229 Das Rechtsideal verwandelt sich in Rechtsstaat, d.h., in einen Status oder eine Lage, in der die politische Macht immer in der Sphäre des Rechts ausgeübt wird. Somit befände sich das Recht nicht im Staat, sondern der Staat im Recht.230 Diese Auffassung von Rechtsstaat hat nichts mit jener des Liberalismus gemein, sondern gründet auf einer Staatsform, die in die Wirklichkeit interveniert, ohne aber der durch das Recht zugesprochenen Legitimität zu entkommen, deren Konkretisierung durch den Staat selbst verwirklicht wird. Wenn Schmitt in Der Wert des Staates die Bedeutung des Individuums diskutiert, nimmt er sich, ausgehend von der kartesianischen Maxime cogito ergo sum, erstmals des Problems der Erschütterung der traditionellen Ontologie an.231 Das Nachdenken über die normativen Konstrukte, die durch die Zerstörung der Einheit des Seins,232 des ego cogitans und des cogitare hervorgerufen wurden, bewegen den Autor dazu, die von Kant vorgeschlagene transzendentale Lösung zu hinterfragen. Der Verlust der Einheit des Seins, hervorgerufen durch die Trennung zwischen Sein und Denken, hätte zu normativen Konstrukten geführt und so eine Spekulation über die überindividuellen Prinzipien hervorgerufen. Die Suche nach einem überindividuellen Prinzip, das in der Lage wäre, dem menschlichen Verhalten eine äußere Ordnung zu verleihen, führt jedoch ins Innere: in die autonome 228 Schmitt 2004a, S. 16f. 229 In diesem Sinne befindet sich Schmitt in völliger Übereinstimmung mit Hegel, was das Ziel der Philosophie betrifft, ihren Namen der Liebe zum Wissen ablegen zu können und wirkliches Wissen zu sein“ (Hegel 1979, S. 14). 230 Schmitt 2004a, S. 52. 231 Hugo Ball macht diesbezüglich in dem Artikel Carl Schmitts Politische Theologie, 1924 erstmals veröffentlicht, einige wichtige Bemerkungen. In ihm behandelt Ball Schmitts bis dahin veröffentlichte Werke. In seiner Analyse des Buches Politische Romantik nimmt sich Ball einer fundamentalen Fragestellung an und unterstreicht, dass, nach der Erschütterung der traditionellen Ontologie, die mit Descartes ihren Anfang nahm, es notwendig sei, darauf zu achten, was den Platz Gottes einnehmen würde. An der Stelle der göttlichen Transzendenz der alten Metaphysik erschienen nicht nur der Mensch, sondern auch das Volk und die Geschichte (Ball 1983, S. 103). Siehe auch die Seiten 64 bis 68 in Schmitts Politische Romantik. 232 Kierkegaards Aussage über das „moderne Drama“ scheint mir sehr ergiebig für das Verständnis des Verlustes der Einheit des Seins, angesichts dessen die menschliche Existenz sich von einem Telos trennt, denn der moderne Mensch hat sich vom Schicksal getrennt, dramatisch emanzipiert; er erforscht sich selber und lässt das Schicksal im Bewusstsein des Dramas zur Handlung kommen. Unter diesen Bedingungen sind Ding und Manifestation die freie Handlung des Helden, der auf seinen Schultern alle Verantwortung trägt (Kierkegaard 1979, S. 269). Die Emanzipierung der Lebensschicksale der Menschen übergibt ihnen die Verantwortung für ihre Entscheidungen und Wahlen. Meines Erachtens wäre das Individuum, dargestellt als empirisches Einzelwesen, das von der Innerlichkeit seiner mentalen Welt absorbiert ist, für Schmitt außerstande, politische Verantwortung zu übernehmen, so dass er sie auf die Herrschaft der Gesetze transferiert, seien diese nun historische oder juristische. Dies bietet Raum für Missgeschicke und Unsicherheiten, denn – wie der Jurist immer wieder bemerkt – sind es immer Menschen, die die Menschen regieren.
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Ethik des Subjektes. Die Überindividualität im Individuum, das für Schmitt ein „kontingentes, empirisches Einzelwesen“ ist, zu begründen, hieße, die Errichtung einer dem privaten Subjekt äußeren Ordnung der Fragmentierung oder der Privatisierung der Seinswirklichkeit zu überlassen. Eine politisch-juristische Form der menschlichen Koexistenz kann nicht vom Innern einer individuellen Ethik bestimmt sein. Das Resultat wäre fatal. Warum? Was geschähe mit dem Glauben des freien Menschen in seinem Innern, der sein eigenes Handeln bestimmen kann? Was geschähe, wenn dieser Glaube auf die äußere Ebene der Handlungen projiziert würde? Man kann sich leicht vorstellen, wie er vernichtet würde, sobald er sich mit der Objektivität der Wirklichkeit der Kräftekonflikte konfrontiert sähe. Die Anerkennung der Würde des Individuums kann nicht aus dem Innern des Individuums selbst hervorgehen, ebenso wenig aus der faktischen Befehlsgewalt. Auf dem Wege der Unmittelbarkeit, der direkten Hingabe des individuellen Subjektes an die Idee der Verpflichtung, wäre es unmöglich, eine Einheit oder eine Verbindung zwischen Ethik und Recht, zwischen Recht und Autonomie zu erreichen. Die Hingabe des Individuums an die Idee der ethischen Verpflichtung, a priori und bedingungslos an die Vernunft geknüpft, würde in der Naivität einer vorgegebenen Harmonie zwischen Moral und Recht münden und so die Autonomie und die Heteronomie auf dasselbe Prinzip zurückführen. Für Schmitt, der einen unüberbrückbaren Abgrund sieht, lässt sich die Heteronomie mit der Autonomie auf keinem Wege vereinigen, die Äußerlichkeit nicht mit der Innerlichkeit, das Nichts kann sich nicht zum Etwas emporläutern, das Konkrete „zielt“ nicht auf das Abstrakte. Keine Umschreibung, keine Bildlichkeit hilft über die Unvereinbarkeit hinweg.233
Aus Sicht des juristischen Denkens kann das Individuum nicht Subjekt „der transzendentalen Einheit der juristischen Apperzeption“ sein, sondern „höchstens ‚Gegenstand‘“234. Das Individuum als empirisches Einzelwesen ist unsichtbar, ein Umstand, der sich der Inexistenz der Freiheit außerhalb der durch den Staat verwirklichten Rechtsidee verdankt. Schmitts grundsätzlichste Meinungsverschiedenheit in Bezug auf die Definition der Universalität eines rationalen Subjekts, die von der Theorie der kantischen Erkenntnis entwickelt wurde, betrifft den widerrechtlichen Übergriff auf jeglichen Sinn einer äußeren Wirklichkeit. Die Entontologisierung der Wirklichkeit und die Universalisierung des Privatraumes führen zum Verlust von letzten Grenzen und Werten und löst so jedes regulative Prinzip im Nihilismus auf. Die Auslieferung des Menschen an die Sicherheit des Ichs führt zu einer Ablösung von der äußeren Wirklichkeit und führt ihn in eine Art des Autismus, der ihn unfähig macht, mit dem Problem einer Wirklichkeit umzugehen, die von einer unförmigen, kontingenten und komplexen Natur geprägt ist. Aus der politischen Perspektive einer effektiven Einführung einer juristi233 Schmitt 2004a, S. 68. 234 Schmitt 2004a, S. 69.
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schen Ordnung befindet sich die Rechtsidee nie auf dem Weg zu einer autonomen Ethik des privaten Subjektes. Die Konstellation privater Urteile über das Gute, das Gerechte und die Freiheit ist der schlagende Beweis für die Unmöglichkeit, ein universelles Prinzip im Innern, in der Einmaligkeit des Privatmenschen zu finden. Die Schmittsche Diagnose der Zerstörung der Einheit des Seins führt deshalb zu einer enormen Sorge um die Sicherheit, da die alte Metaphysik die Ordnung des Seins nicht mehr garantiert. Weder Gott noch die letzte, vom Rationalismus geprägte Phase des Naturrechts, noch der Positivismus wären deshalb in der Lage, dem menschlichen Verhalten Sinn und Richtung zu verleihen. Dem in die Innerlichkeit der Subjektivität235 geworfenen Menschen wäre so die Sicherheit des Seins, der Sinn des Lebens, die Bedeutung der Existenz in der Wirklichkeit des Seins genommen. Obwohl Schmitt Descartes erst fünf Jahre später in seiner Arbeit Politische Romantik (1919) direkt erwähnt, untersucht er doch einige der Folgen der kartesianischen Wende, die die Erkenntnis der äußeren Wirklichkeit der inneren Sichtweise des Subjektes unterwirft. Der Jurist widersetzt sich dem und behauptet, es sei gleichgültig, ob das Tun, von dem aus die Existenz abgeleitet würde, das Denken sei, denn man könne ja irgendeine beliebige Handlung oder Tätigkeit anführen. Er argumentiert, dass aus einer psychologischen Perspektive der Einwand erhoben worden sei, „dass das Tun, aus dem die Existenz gefolgert wird, gleichgültig sei“. Der Irrtum des cogito ergo sum liege darin, dass „gerade vom Denken und nicht von irgendeiner beliebigen Beschäftigung gesprochen werde“. Er unterstreicht, dass „der Einwand insoweit richtig ist, als der Schluss auf die empirische Existenz meiner Einzelheit aus der Empirie meines Denkens nicht zu entnehmen ist“.236 Die Aporie der Existenz kann nicht auf das Denken reduziert werden, denn aus dem bloßen Denken kann die lebendige Existenz des Ichs nicht abgeleitet werden. Schmitt – der, wie sein Tagebuch aus den Jahren 1913 bis 1915 zeigt, sich bereits mit dem Denken Kierkegaards237 (1813–1855) beschäftigte – weist 235 Schmitt, der in Politische Romantik die metaphysischen Grundlagen der Privatisierung der äußerlichen Wirklichkeit durch die Innerlichkeit des romantischen individuellen Subjekts untersucht, erwähnt, was die gegenrevolutionären Autoren als Ursprung der durch die Romantik vertieften Krise sahen: „Sie sahen in der Romantik die Konsequenz jener Auflösung, die mit der Reformation beginnt, im 18. Jahrhundert zur Französischen Revolution führt und sich im 19. Jahrhundert in Romantik und Anarchie vollendet. So entsteht das ‚Monstrum mi den drei Köpfen‘: Reformation, Revolution und Romantik“ (Schmitt 1998c, S. 10). 236 Schmitt 2004a, S. 88. Siehe auch Schmitts Tagebuch aus der Zeit von Oktober 1912 bis Februar 1915, in dem er dieselbe Idee entwirft, um sie später wahrscheinlich in Der Wert des Staates auszuarbeiten (Schmitt 2005h, S. 50). 237 Am 3. Oktober 1914 hält Schmitt in seinem Tagebuch fest: „Ich aß zu Abend, trank Tee (Schneider kam zum Glück nicht), las Kierkegaard, Stadien auf dem Lebensweg. Es ist im höchsten Sinn genial; alles in eine glänzende Formulierung gebracht. Alles genial objektiviert und systematisiert.“ Im Eintrag des nächsten Tages findet sich ein Hinweis auf die Lektüre des Buches Begriff der Angst (Schmitt 2005k, S. 216f.). Diese Hinweise beseitigen endgültig die Zweifel der Exegeten bezüglich des Zeitpunkts, an dem sich Schmitt mit Schriften des Existentialismus zu beschäftigen begann. In ihrem herausragenden Artikel Politischer Expressionismus über Schmitt, meint Ellen Kennedy, dass Schmitt „Kierkegaard im Sommer
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auf die Ohnmacht der objektiven Wahrheit der Wissenschaft und der Universalität der Vernunft hin, um die Frage der menschlichen Existenz zu klären. Acht Jahre später238 richtet Schmitt in seiner Politischen Theologie die Aufmerksamkeit auf die Existenz einer Lebensphilosophie hinter der Fassade der natürlichen und sozialen Ordnung der Dinge. Diese bricht aus dem starren Bruch der mechanistischen Ordnung der Normalität der juristischen Ordnung hervor und enthüllt so, im Lichte einer Grenzsituation der Ausnahme,239 die Dimension der Entscheidung, des Sinns und der Transzendenz. Im Gegensatz zum kontemplativen und unmittelbaren Denken des „ich bin“, offenbart die Entscheidung ihre offen säkularisierende Dimension gegenüber der Verantwortung der politischen Intervention in dieser Welt. Im Gegensatz zum kontemplativen Denken setzt die souveräne politische Entscheidung der mechanischen Kausalität der sozialen Wirklichkeit ein Ende. In Der Wert des Staates weist Schmitt die Ableitung des Ichs aus dem Denken zurück, da dies zur falschen Annahme einer Reduktion der Existenz auf den Begriff führe. Diese Formulierung findet ihre deutlichste Darstellung in der von Carl Schmitt in der Studie Politische Romantik durchgeführten Untersuchung über die Folgen des Gegensatzes von Sein und Denken, über das Warum der Irrationalität der Wirklichkeit, die aus der Erschütterung der traditionellen Ontologie hervorgeht. Meines Erachtens ist es unverzichtbar zu beachten, dass die Jugendschrift Der Wert des Staates, obwohl sie nicht die Metaphysik der Romantik und ihre politische Situation in der konkreten Wirklichkeit untersucht, Schmitts Kritik am Rationalismus des modernen Denkens vorwegnimmt. In dieser Arbeit denunziert Schmitt den vom cogito ausgehenden Prozess der Subjektivierung der Wirklichkeit und die Unmöglichkeit von Kants Lösung, aber er bietet auch einen politischen Vorschlag zur Eindämmung seiner „Egozentrizität“. Er schlägt vor, dass das Individuum „trotz seiner Egozentrizität zum Mitarbeiter an einem großen Werke“ werde.240 In seinem Werk Politische Romantik legt Schmitt das Problem wie folgt dar: 1918, las, als er an ‚Politische Romantik‘ arbeitete“ (Kennedy 1988, S. 244). Wichtig ist hier vor allem der Hinweis, dass der Existentialismus schon in Schmitts ersten Arbeiten präsent war, was sich direkt auf die Diskussion über Handlung, Entscheidung, Kontingenz und Säkularisierung auswirkt. Angesichts einer transzendenzlosen Welt scheint Kierkegaards Entscheidung für Gott Schmitts Interesse an einer Reflexion über die Notwendigkeit der Legitimität einer höchsten irdischen Macht zu wecken. 238 Acht Jahre nach Der Wert des Staates (1914) wird die bekannte Arbeit Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität veröffentlicht. Diese Untersuchung zum Begriff der Souveränität steht in direkter Verbindung mit der zentralen Achse der Schmittschen Reflexion über die Säkularisierung und wird deshalb auch im nächsten Kapitel behandelt. 239 Ausnahme bedeutet hier den Bruch zwischen der Regularität der juristischen Ordnung und der kontingenten Wirklichkeit, die eine Extremsituation der normativen Unbestimmtheit erreicht. Dieser Bruch macht das Subjekt der eminent politischen Entscheidung sichtbar, das gegenüber der Regularität der juristischen Ordnung transzendent ist. Indem die Ausnahme die Grenze und die beschränkte Reichweite der Normativität festlegt, legt sie auch die souveräne Entscheidung bloß, auf der die juristische Ordnung ruht (Schmitt 2004b, S. 11-21). 240 Schmitt 2004a, S. 97.
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Mit der Philosophie des Descartes begann die Erschütterung des alten ontologischen Denkens; ihre Argumentation cogito, ergo sum, wies den Menschen an einen subjektiven und internen Vorgang, an sein Denken, statt an die Realität der Außenwelt. Das naturwissenschaftliche Denken der Menschen hörte auf, geozentrisch zu sein und suchte den Mittelpunkt außerhalb der Erde, das philosophische Denken wurde egozentrisch und suchte den Mittelpunkt in sich. Die moderne Philosophie ist von einem Zwiespalt zwischen Denken und Sein, Begriff und Wirklichkeit, Geist und Natur, Subjekt und Objekt beherrscht, den auch die transzendentale Lösung Kants nicht behoben hat […].241
Kant habe es nicht geschafft, dem denkenden Geist die Wirklichkeit der Außenwelt zurückzugeben, denn die Essenz der Wirklichkeit könne nicht durch die Reduktion der Objektivität des Denkens auf objektiv gültige Formen begriffen werden.242 Die Auslieferung des Menschen an die Innerlichkeit seines Denkens hatte ihn von der Wirklichkeit, der er zuvor angehört hatte, getrennt und so das eliminiert, was „die höchste und sicherste Realität der alten Metaphysik“ gewesen war, „der transzendente Gott“.243 Wie in der Politischen Romantik scheint Schmitt auch in Der Wert des Staates den Ursprung des modernen Denkens als etwas zu begreifen, das von Descartes ausgeht, der eine Ausweitung der Subjektivität und damit gleichzeitig eine Reduktion und Entleerung der Wirklichkeit des Seins bewirkte. Die Wirklichkeit wird, vom Standpunkt des Rationalismus und des modernen Empirismus aus gesehen, immer abstruser. Deshalb weist die Säkularisierung in Der Wert des Staates auch einen hermeneutischen Charakter auf, und zwar in dem Sinne, dass sie den strukturellen Bruch der ontologischen Wirklichkeit des Seins enthüllt. Trotz einiger bemerkenswerter Ähnlichkeiten zwischen den Arbeiten Politische Romantik (1919) und Der Wert des Staates sei hier eine kurze Bemerkung angebracht. Wenn wir die Behandlung, die Schmitt dem Denken Descartes und Kants zukommen lässt, im Hinblick auf den Verlust der Einheit des Seins vergleichen, wäre der Schluss möglich, dass Schmitt Hannah Arendt zugestimmt hätte, die in Kant den Urheber des entscheidenden Schlags gegen das alte ontologische Denken sah. Um die Beziehung zwischen Staat, Recht und Individuum angesichts des erwähnten Schlages zu untersuchen, richtet Schmitt den Fokus auf den Dualismus von Rechtsidee und Wirklichkeit, um eine konkrete Form zu finden: Es handelt sich hierbei nicht nur um eine transzendente Form, sondern auch um eine Form, die die Wirklichkeit durch die Rechtsverwirklichung zu ordnen vermag. So offenbart sich seine Staatsphilosophie als Denken, das sich der Unsicherheiten und Ängste der durch die Enteignung der Einheit des Seins bedrohten Wirklichkeit annimmt. Auf den Glauben an das ich denke antwortet Schmitt, indem er diesen durch ein es denkt in mir ersetzt. Mit dieser Änderung bezweckt er die Restrukturierung der Überindividualität der Erkenntnistheorie des Subjekts, um so die Aus241 Schmitt 1998c, S. 62f. 242 Siehe diesbezüglich die interessante Arbeit Politische Theologie als politische Theorie von José María Beneyto aus dem Jahre 1983, S. 66f. Im Archiv von Carl Schmitt sieht man, dass der Jurist das Buch gelesen hatte, das sich mit vielen Anmerkungen versehen in der Bibliothek des Nachlasses des Autors befindet. 243 Schmitt 1998c, S. 68.
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lieferung an die Innerindividualität zu unterlaufen. In der empirischen und vielfältigen Innerindividualität ist ein überindividuelles Prinzip nicht zu finden. Die Transzendenz eines Prinzips existiert im Innern der Relativität von empirischen Einzelwesen nicht. Mit dem Ausdruck es denkt in mir versucht Schmitt, dem Neukantianismus, der damals in Mode war, entgegenzutreten, denn sein Gehalt übersetzt die „überindividuelle Gültigkeit jeder richtigen Norm und der Bedeutungslosigkeit des Einzelnen ihr gegenüber“.244 Die politische, in der heteronomen Form des es denkt in mir zusammengefasste Forderung offenbart den Anspruch des Juristen, ein überindividuelles Bewusstsein zu konstruieren. Dem Bereich, der sich außerhalb der individuellen Subjektivität befindet, deren offen eingestandene Zentralität die äußere Wirklichkeit privatisiert und ihre Eigenschaften fragmentiert, soll Geltung, Sinn und Richtung verliehen werden. Wenn also einerseits die Übertragung der Handlungsanweisung an das private Bewusstsein – die Unterwerfung des äußeren Rechts unter die innere Moral – jedes einzelne Individuum in eine richtende moralische Instanz verwandelte, so droht andererseits der Konflikt zwischen der Veräußerlichung des privaten Urteils und der objektiven Wirklichkeit die Individualität des Seins zu zerstören. Aus der Schmittschen Perspektive ist das Individuum nicht das Maß aller Dinge, noch kann es das sein, denn das Fundament des Staates ruht auf einer Einheit, die nur auf der ideellen Ebene existieren kann, genauer, in der Idee des durch seine Repräsentation, durch seine äußere Manifestation an die souveräne Entscheidung gebundenen Rechts. Der innere Weg der geheimen individuellen Sphäre aber geht nicht von einer Einheit, sondern von der Konstellation von Urteilen, von diffusen Idealen des Sollens eines privaten Bewusstseins aus. So wird eine Trennung zwischen Innerem und Äußerem vollzogen. Die daraus gezogene Lektion besteht in der […] Konsequenz, dass das Recht nicht aus der Ethik abgeleitet werden kann, die Feuerbach in einen Gegensatz zu Kant stellt – welcher Gegensatz nicht durch Feuerbach, der die Trennung deutlich ausspricht, sondern durch Kant, der die Einheit nicht deutlich genug darstellt, vielfach verwischt wird.245
Schmitts Vorschlag zielt nicht auf die Zerstörung des Individuums, sondern auf die Sichtbarmachung der Unmöglichkeit der Konstruktion einer juristischen Ordnung, die auf der Vernunft des Subjekts der kantischen Erkenntnistheorie gründet. Ohne Einführung einer juristischen Ordnung durch die souveräne politische Entscheidung ist es unmöglich, auf rationale Weise das Recht und den Staat zu erschaffen. Das Individuum wäre ein mysteriöses, unvorhersehbares Wesen, dessen Wissen nicht ausreicht, damit es als rationales Wesen betrachtet werden könnte, zumal außerhalb der Bedingungen der politischen Form des Staates. Von diesem Standpunkt aus gesehen, kann man behaupten: 244 Schmitt 2004a, S. 88. 245 Schmitt 2004a, S. 18.
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Das Recht beruht auf einer rein verstandesmäßigen, logischen Konsequenz und ist so sehr Sache des verständig berechnenden Intellekts, dass, nach Kants Ausdruck, auch eine Schar von Teufeln einen Staat gründen könnte, wofern sie nur die nötige Intelligenz haben.246
Einer der wichtigsten von Schmitt angeführten Argumente gegen Kants politischen Liberalismus findet sich in der Unmöglichkeit des Individuums, Träger einer autonomen Ethik zu sein. Besäße er sie, entkäme er niemals dem Zustand der Natur, denn die Einheit der Idee des Rechts kann nur durch den Staat erhalten werden. Dieser repräsentiert den einzigen Träger einer autonomen Ethik, denn er ist in Wahrheit die letzte Instanz, der einzige Richter, der die Teile transzendieren und äußerlich entscheiden kann, was richtig und was falsch ist und was jedem Einzelnen zukommt. Schmitt zufolge hat Kant trotz seiner Ablehnung der ethischen Autonomie des Staates im Grunde nie die Doktrin des Widerstandsrechts anerkannt, da die Ergebnisse seiner Doktrin immer auf der Prämisse einer maximalen staatlichen Instanz beruhten, die eine dem privaten Willen äußere juristische Ordnung bestimmt. Schmitt legte diese Argumente 1929 an einer Rede in Halle im Rahmen eines von der Kant-Gesellschaft organisierten Kongresses dar: Wenn der „irdische Gott“ von seinem Throne stürzt und das Reich der objektiven Vernunft und Sittlichkeit zu einem „magnum latrocinium“ wird, dann schlachten die Parteien den mächtigen Leviathan und schneiden sich aus seinem Leibe jede ihr Stück Fleisch heraus. Was bedeutet dann noch „Staatsethik“? Der Stoß trifft nicht etwa nur die Staatsethik Hegels, die aus dem Staat den Träger und Schöpfer einer eigenen Ethik macht […]; er trifft auch die Staatsethik Kants und des liberalen Individualismus. Wenn diese auch den Staat nicht als Subjekt und Träger einer autonomen Ethik ansieht, sondern ihre Staatsethik vor allem darin besteht, den Staat an ethische Normen zu binden, so geht sie doch – mit Ausnahme einiger radikaler Anarchisten – bisher immer davon aus, dass der Staat eine oberste Instanz und der maßgebende Richter über das äußere „Mein und Dein“ ist, durch den der bloß normative und daher richterlose Naturzustand – ein status justitia (genauer judice) vacuus, in welchem jeder Richter in eigener Sache ist – überwunden werde. Ohne die Vorstellung vom Staat als einer überragenden Einheit und Größe sind alle praktischen Ergebnisse Kantischer Staatsethik widerspruchsvoll und hinfällig. Das gilt am deutlichsten für die Lehre vom Widerstandsrecht. Trotz aller vernunftrechtlichen Relativierung des Staates hat Kant ein Widerstandsrecht gegen den Staat gerade aus dem Gedanken der Einheit des Staates abgelehnt.247
Von Platon bis Hegel hat man versucht, das Problem der Staatsethik, das Schmitt in der Bindung einer höchsten Macht an die Verwirklichung des Rechts sieht, zu ergründen und zu lösen. Im Folgenden werden wir sehen können, dass der Preis, der für die Erschaffung eines überindividuellen Bewusstseins bezahlt werden muss, eine höchste politische Macht ist. Dennoch rechtfertigt sich der maximale Charakter dieser Macht in der Verpflichtung ihrer Legitimität, die von dem Bemühen, Macht und Recht zu verbinden, garantiert wird.
246 Schmitt 1998c, S. 115. 247 Schmitt 1994h, S. 152.
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2.4. Die Rolle des Individuums im Staat: Stirb und werde In Der Wert des Staates zitiert Schmitt, ohne Goethe und dessen Gedicht Selige Sehnsucht namentlich zu erwähnen, den Vers stirb und werde, dessen Inhalt Schmitts Vorschlag für das Individuum in der Errichtung des Staates zusammenfasst. Dem Zitat geht folgende Aussage voraus: Aber das Wesentliche ist hier, dass in dem bewussten Denken die Hingabe an die Gesetze und Werte des richtigen Denkens liegt, wodurch das zufällige Einzelindividuum verschwindet, um teilzunehmen an einem außerindividuellen Wert, der allein das zum wertenden gewordene Prädikat „Sein“ verdient.248
In Schmitts Staatskonstrukt muss das Individuum verschwinden, um dann neu zu erscheinen, denn das Individuum erhält seine Existenz nur durch den Sinn, der ihm durch die Institution einer von der staatlichen Instanz eingesetzten juristischen Ordnung zugesprochen wird. Diese ist das Subjekt des Rechts, denn nur eine höchste Kraft ist in der Lage, sich der Rechtsidee zu verpflichten. Auf diese Weise übt der Staat eine Art Vermittlung aus zwischen dem Individuum, d.h., zwischen dem empirischen Einzelwesen, und der Rechtsidee, und verhindert so die Unmittelbarkeit, d.h., die direkte Hingabe des Individuums an die Idee der Pflicht. Von dieser Perspektive aus gesehen wird, wenn die Unmittelbarkeit – zwischen Individuum und Idee – nicht verhindert wird und das Individuum sich als Rechtssubjekt konstituiert (wie es die Neukantianer wollten), die Möglichkeit einer Konstruktion einer überindividuellen Ordnung ausgeschlossen. Schlimmer noch, das private Individuum wird zur Beute, die den Konflikten der sozialen Kräfte ausgesetzt ist. Deshalb ist das „Verschwinden“ des empirischen Einzelwesens nichts Anderes als eine Metapher für die Notwendigkeit, dem Einzelwesen eine Rolle zuzuweisen, durch die es einen sichtbaren Sinn, eine Existenz in der Sphäre der Staatsform gewinnt. Diese Rolle besteht in einer dem Einzelwesen zugewiesenen Aufgabe, die Teil einer größeren Aufgabe ist, zu der sich der Staat – und nicht das Individuum – verpflichten kann: die Verwirklichung des Rechts. Dies ist das „Stirb und werde“ des Schmittschen Vorschlags: Der Staatsbegriff weist dem empirischen Einzelwesen eine Aufgabe zu und erlaubt so seine Erschaffung, sein Werden als Individuum durch eine in einen größeren, überindividuellen Sinn eingebetteten Aufgabe. Dieser überindividuelle Sinn wird manchmal dominiert von einem überindividuellen Rhythmus einer auf ein Prinzip gegründeten Ordnung. Das Prinzip offenbart die Konstruktion einer dem inneren Raum der privaten Sphäre, der der Mensch ausgeliefert wurde, äußerlichen Ordnung. Mehr noch, der Rhythmus repräsentiert die Kontinuität der äußeren Ordnung, ihre Abfolge und Regelmäßigkeit, deren Ursprung nicht im Innern des Einzelwesens liegt. Es verwundert daher nicht, dass das Ideal der Materie der Schmittschen Staatsform, ähnlich Platons Staat, vom Staatsbeamten repräsentiert wird: der Staat dient nicht den privaten Zwecken des Individuums, sondern das Individuum ist Diener des Staates. Dieser steht seinerseits in Diensten der Rechtsverwirklichung 248 Schmitt 2004a, S. 88.
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und bietet sich als Vehikel der Säkularisierung an. Dem Individuum eine Funktion zuzuweisen bedeutet, ihn als Teil des staatlichen Rhythmus einzubinden, der seinerseits von der Aufgabe bestimmt ist, der Wirklichkeit einen Sinn zu verleihen. Im Gegenzug stellt die ethische Autonomie – aufgrund derer das Individuum in der Lage wäre, seinen eigenen Willen in Übereinstimmung mit dem universellen Gesetz der Freiheit zu definieren – eine Bedrohung dar. Die Unmittelbarkeit, oder die Hingabe des Individuums an die innere ethische Pflicht, an die universelle gesetzgebende Instanz, die sein Handeln bestimmt, würde seine Freiheit erdrücken. Sobald sein auf das Ideal der Autonomie gegründetes Handeln sich in der Wirklichkeit manifestierte, würde er seiner Freiheit beraubt und zur Geisel der Gewalt der faktischen Macht. Schmitts Bezugnahme auf Goethes „stirb und werde“ weist auf die Bedrohung hin, die von der Unmittelbarkeit ausgeht: die Hingabe des Individuums an die aus seiner Innerlichkeit, seiner Autonomie hervorgehenden Ideen. Das Gedicht beginnt mit einem Lobgesang auf die Geschöpfe, die sich nach der tödlichen Flamme des Lichts sehnen. Die Beschreibung einer unkontrollierbaren Anziehungskraft des Lichts evoziert das Bild eines Tieres: des Falters. Nach Beschreibungen sukzessiver Fortpflanzungen und der Kontinuität der Existenz erfüllt sich das Schicksal des Falters in den Flammen des Lichts. Am Ende des Gedichts beschwört Goethe eine Grabesstimmung herauf, eine pessimistische Aura, denn jener, der diesen Prozess des „Sterben und Werdens“ nicht durchläuft, ist ein trübsinniges Leben vorbehalten, er verbleibt als „trüber Gast auf der dunklen Erde“. Ich interpretiere dieses Gedicht als Metapher für das menschliche Leben, in dem das Licht für die Ideen steht, denen sich die Individuen hingeben, um ihre Schicksale selber zu bestimmen. Der verbrannte Schmetterling ist ein Bild für jenes tragische Ende, das den isolierten Individuen bestimmt ist, die im Lichte der Idee der Selbstbestimmung handeln. Das stirb und werde, d.h., das Bewusstsein, „dass der einzelne Mensch als Tatsache nichts bedeutet, sondern etwas werden muss“,249 indem er sein privates Gewissen, die innere Kontrolle seines „rationalen“ Handelns, zurücklässt, symbolisiert die Möglichkeit, dass das Einzelwesen zu einem Teil einer überindividuellen Sache werde, einer äußeren Ordnung, die ihm einen Wert zumisst. Schmitts Interpretation des Gedichts, auf welches er sich auch in seinem Glossarium (1991) bezieht, sieht die Unterwerfung unter die Idee der Selbstbestimmung, die a priori von der Vernunft beherrscht wird, als Ausschluss des Bemühens, eine Überindividualität zu erreichen, die so die Existenz der Einzelwesen verdunkelt und sie der Gefahr aussetzt. In einer von Gott verlassenen Welt, in der jeder Mensch seinen subjektiven Orientierungskriterien ausgeliefert ist, kann nur die überindividuelle Staatseinheit diesen Einzelwesen einen Sinn verleihen und so ihre Auslöschung durch die Antagonismen der sozialen Gruppen verhindern. Doch wirft die Annahme der Hypothese einer konkreten Verwirklichung von Schmitts Staatsphilosophie auch eine Frage auf: Wäre das Individuum, das im Innern dieser Staatsform lebt – nachdem 249 Schmitt 2004a, S. 89.
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es den Prozess des stirb und werde durchlaufen und einen Sinn für seine Existenz gewonnen hat – nicht den Launen und der Willkür eines autoritären Staatskonstrukts ausgeliefert? Besorgt um die Beliebigkeit und die Ängste, die sein Vorschlag eines Staates hervorrufen könnten, hebt Schmitt in Bezug auf den Staat hervor: Das Individuum wird nicht sein Spielball, er verleiht keine Würden nach Gutdünken, sondern immer nur in Erfüllung der Gesetze, auf denen seine eigene Würde beruht. Seine Autorität ist nicht ein Faktum, vor dessen furchtbarer Unerklärlichkeit man erschrecken müsste, sondern ein Sinn, der erkannt und bewusst werden kann.250
Die individuelle Freiheit im Innern des von Schmitt vorgeschlagenen Staates ist nicht unbegrenzt, denn „von einer Freiheit des Individuums zu sprechen, an der der Staat eine Grenze habe, ist missverständlich“. Es gibt eine von Gesetzen eingeschränkte Freiheit, denen auch der Staat selbst unterworfen ist, da, obwohl seine Autorität nicht aus dem Individuum, so doch aus dem Recht hervorgeht. „Der Staat greift nicht von außen wie ein deus ex machina in die Sphäre des Individuums ein.“251 Die Interventionen des Staates müssen immer auf der Rechtsidee gründen, denn dies ist der einzige Weg, Gewalt und Willkür zu verhindern. Außerhalb des Rechts besitzt der Staat keine Dauerhaftigkeit und ist unfähig, dem Menschen Sinn zu verleihen und sein Handeln zu orientieren. Deshalb weist der Jurist das eindeutige Verständnis des Rechtsstaates, das diesen auf die Vorstellungen des politischen Liberalismus reduziert, in dem der Staat von Gesetzen regiert wird, zurück. Der von Schmitt vorgeschlagene Begriff des Rechtsstaates findet seinen fundamentalen Kern in der von der Objektivierung des Rechts orientierten politischen Entscheidung. Die von dem Autor vorgestellte Staatsauffassung interveniert in die Wirklichkeit, um sie gemäß den Rechtsregeln zu verändern. Für den Juristen impliziert die Intervention in die Wirklichkeit auch die effektive Konkretisierung seiner Staatstheorie in der Sphäre der Wirklichkeit. Hugo Ball hat vielleicht eine der wichtigsten Bemerkungen über Schmitts Arbeiten gemacht, als er erklärte, dass „Ideen das Leben beherrschen“.252 Für Schmitt gibt es keine Theorie ohne die Voraussetzung einer Folge und Möglichkeit, d.h., sein Staatsbegriff setzt die Verwirklichung seiner Idee in der empirischen Welt voraus. Diese Voraussetzung offenbart die Tendenz zur Verwirklichung einer konsequenten Idee. Sollte sich diese Idee jedoch nicht verwirklichen, gibt es keine Möglichkeit, eine Staatsmacht von irgendeinem anderen Machtfaktor zu unterscheiden, da die Zuweisung von Sinn ihren Ursprung im idealen Charakter des Rechts hat. Der Erfolg von Schmitts Staatsphilosophie hängt von der Säkularisierung der Idee ab, genauer, von einer Form, die in der Lage ist, zu widerstehen und sich inmitten der Vielfalt und der erdrückenden faktischen Kraft der Wirklichkeit zu erhalten. Man muss im Blick behalten, dass die Voraussetzung für den von der Idee ausgeübten
250 Schmitt 2004a, S. 96f. 251 Schmitt 2004a, 98f. 252 Ball 1983, S. 100.
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Einfluss ihre Verwirklichung und ihr Schutz vor jenen Kräften ist, die auf ihre Umsetzung reagieren. Die „Verwirklichung des Rechts“, die in Der Wert des Staates zum semantischen Kern der Säkularisierung gehört, ist das Mittel, durch welches das Rechtsideal in die Welt gesetzt wird, um da eine konkrete, sichtbare Form anzunehmen. Diese widersetzt sich der abstrakten und leeren Idee, die in der Staatsinstanz das handlungsfähige empirische Subjekt sieht, das ihre Konkretisierung vollziehen kann. Dies ist ein konsequenter Idealismus, in dem die Ideen ihre Form kraft einer speziellen Art der Vermittlung gewinnen: die durch die politische Macht verwirklichte Repräsentation. Diese juristische Form von Manifestation eines Sinnes erfolgt mittels der politischen Entscheidung über die Kontingenz, die aus der Diskontinuität zwischen den Ideen des Rechts und der Macht entsteht. Die Voraussetzung der durch die Ideen über das reale Leben ausgeübten Herrschaft entwickelt sich im Gegensatz zur Weltanschauung, die von der strengen mechanistischen Kausalität geprägt ist. Die Betonung auf den Ideen, die eine reale und kontinuierliche Form annehmen, schafft die Kontingenz nicht ab. Die Existenz des Staates ist Folge des unerschütterlichen Charakters der Kontingenz, die zwar vermindert werden kann, aber nie aufhört zu existieren, denn in ihrer Gegenwart wird die Idee des Rechts sichtbar. Diese verwirklicht sich nie zur Gänze, so dass die Ideen nie zu Tatsachen werden, da sie ja sonst nicht dargestellt werden könnten. Es gibt keine Idee außerhalb der Kontingenz, so wie es auch keine Entscheidung in der absoluten Sicherheit der mechanistischen Kausalität gibt. Schmitt bemerkt, dass die Theorie, genauer die des Staates, nur in der Möglichkeit besteht, in die Wirklichkeit zu intervenieren – ansonsten würde sich der Autor im positivistischen Determinismus verheddern, dem er seinen Säkularisierungsbegriff ja entgegenstellt. Die Schmittsche Methode der Säkularisierung offenbart die Kontingenz, die vom positivistischen Determinismus verdeckt worden war. Die säkularisierende Mäeutik fördert, indem sie die Gleichsetzung von Idee und Wirklichkeit, Subjektivem und Objektivem, Recht und Macht auflöst, somit eine rigorose Heteronomie, um die Kontingenz zu beleuchten. In diesem Sinne wird deutlich, dass die Rolle, die der Dualismus in Schmitts Denken spielt, die eines dialektischen Antagonismus ist, durch welchen sich die Gegensätze verschärfen und die Unterscheidungen klarer hervortreten. Für Schmitt ist Staat der Status253 einer politischen Macht, deren Existenz sich im Handeln überprüfen lässt, das sich an einer bemerkenswerten idealen Dimen253 In seinem Artikel Staat als konkreter, an eine geschichtliche Epoche gebundener Begriff behandelt Schmitt den Staat aus einer ganz anderen Perspektive als in Der Wert des Staates. Er untersucht hier, ausgehend von einer konkreten politischen Situation, die Entstehung seiner räumlichen Dimension. Es scheint mir, als nähme, anders als in Der Wert des Staates, in dem der Status als von der Rechtsidee gestiftete Eigenschaft erscheint, im genannten Artikel die räumliche Dimension eine wichtigere Rolle ein. So meint der Autor: „Es soll keineswegs geleugnet werden, dass das Wort ‚Staat‘ schon durch Macchiavelli in das politische Vokabularium der europäischen Völker eingeführt worden ist. Auch haben die vielfältigen Bedeutungen des Wortes Status und bei der deutschen Wortbildung sicher auch Anklänge raumhafter
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sion ausrichtet, die andere sozialen Mächte übersteigen kann. Das von Schmitt entworfene Staatskonstrukt bezieht seine Kraft aus der Idee des Rechts, die es in allen seinen Handlungen vertritt und symbolisiert, so dass diese nie aufhört sich zu legitimieren. Somit besteht die Verwirklichung der Idee des Rechts in einer Entscheidung, die diese Idee nie zur Gänze verwirklicht, so dass dieses Ideal sich in der Spannung seiner Effektivierung nie erschöpft. Das Bewusstmachen dieser Unmöglichkeit einer totalen Verwirklichung des Ideals verhindert eine Gleichsetzung von Idee und Wirklichkeit und somit auch den Sinnverlust. Anders als die Vermittlung des modernen Rationalismus verwirklicht sich die Idee nie zur Gänze auf der Ebene der Wirklichkeit. Es ist just die Tatsache, dass die Idee sich nie zur Gänze erschöpft, die ihre Autonomie angesichts des Faktischen und ihre Herrschaft über den Staat in allen seinen Elementen sichert. Die Verwirklichung des Rechts erfolgt immer mit einem Verlust, mit einer Trennung zwischen Rechtsnorm und ihrer Verwirklichung. Somit erscheint der Staat in der Spannung zwischen der Idee des Rechts und seiner – niemals vollkommenen – Verwirklichung als Sinnstifter der Wirklichkeit der Welt des Seins. Anders ausgedrückt: Der Staat ist der Träger des Sinns, der der faktischen Wirklichkeit die juristische Form verleiht. Es sei hier darauf hingewiesen, dass Schmitt in seinem Bemühen, eine Instanz zu finden, die das Rechtsideal gleichzeitig sowohl einzusetzen als auch ihr Träger zu sein vermag, „die strengste Heteronomie aller rechtlichen Normen“ postuliert.254 Die Notwendigkeit, auf eine strenge Unterscheidung zwischen Innerem und Äußerem, zwischen Autonomie und Heteronomie explizit hinzuweisen, bedarf einiger Abwägungen. Erstens bedeutet das Individuum als autonomes Subjekt die Universalisierung des Subjektes. Schmitt erachtet Kants Rechtstheorie als unangemessen, da diese dem Individuum eine „gesetzgebende Instanz“ zuspricht, die auf einer Ethik gründet, die sich mit dem Recht verbinden ließe, so dass Autonomie und Heteronomie gleichgesetzt würden. Die Verantwortung der Begründung einer Ethik kann nicht auf das Individuum übertragen werden, das der Jurist als empirisches Einzelwesen begreift. Dem dem Individuum immanenten Relativismus kann keine Form, kein Wert, kein regulatives Prinzip entnommen werden. Dieser kann nur einer Idee entstammen, die sich der Faktizität und der Vielfältigkeit der Materie des Einzelwesens oder des konkreten Individuums gegenüber als immun erweist, d.h., die transzendent ist. „Das leibliche konkrete Individuum ist, wenn die Betrachtung sich nicht über die materielle Körperlichkeit erhebt, eine gänzlich zufällige Einheit, ein zusammengewehter Haufen von Atomen, dessen Vorstellungen wie Stadt und Stätte mitgespielt“. Indessen stimmen die Arbeiten darin überein, dass der Staat in beiden als „souveräne Entscheidung“ in Erscheinung tritt. Für Schmitt ist das Entscheidende, dass „die Überwindung der feudal-ständischen Rechtsanschauungen durch eine eindeutige, höchste, souveräne Entscheidung und damit der neue europäische Maß- und Ordnungsbegriff ‚Staat‘ zu der politischen Situation gehören, die in der Souveränitätslehre des französischen Juristen Bodinus ihren existentiell adäquaten Ausdruck fand“ (Schmitt 2003c, S. 377f.). 254 Schmitt 2004a, S. 10.
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Gestalt, Individualität und Einzigkeit keine andere sind, wie die des Staubes, der vom Wirbelwind zu einer Säule gefügt wird.“255 Die Reduktion des Individuums auf eine „gänzlich kontingente Einheit“ will ihn nicht seiner Würde berauben, sondern hervorheben, dass „das Kriterium der Individualität in einer Norm [liegt], der einer Norm entnommen ist. Der Wert im Recht und in dem Mittler des Rechts, im Staat, bemisst sich demnach nur nach den Normen des Rechts, nicht nach den Dingen, die dem Einzelnen endogen sind“.256 Schmitts Bemühen, die bereits erwähnte „Egozentrizität“ der Philosophie des individuellen Subjekts zu unterlaufen, geht dahin, das Zentrum des Subjekts des Rechts des Individuums zum Staat hin zu verschieben.257 In Der Wert des Staates finden sich in der Relativierung des Individuums bereits die Anfänge der Zurechtweisung der vom Rationalismus der Aufklärung beeinflussten Rechts- und Staatsdoktrinen,258 die ein auf eine angeblich transzendente Vernunft gegründetes „Wollen“ auf den individuellen Willen übertragen. Im Laufe verschiedener späterer Arbeiten wird der Jurist die Folgen des Prozesses untersuchen, durch welche sich nach und nach ein „rationales Wollen“ im Individuum offenbart und so die Auswirkungen einer Privatisierung der Grenzen der äußeren Ordnung offenbart. Die Zuweisung eines höchsten „rationalen Wollens“ an das Individuum beginnt mit dem „Glauben an das private ‚Ich‘“. In diesem Sinne verweist Schmitt auf Fichte und bemerkt, dass der Philosoph aufzuzeigen versuchte, dass „der Glaube an das ‚Ich‘ erst der wahre Gottesglaube [sei] und der einzige Weg, vom Zeitlichen loszukommen“.259 Für den Juristen jedoch ist der „Glaube an das individuelle Ich“, an das „Sei du selbst“, unfähig und zu kraftlos, um allein den Relativismus der zeitlichen Sphäre, der empirischen Welt zu leugnen und eine juristische Ordnung zu begründen. Das Werk der Rechtsverwirklichung, das nur von der Staatsinstanz umgesetzt werden kann, könne sich nicht in den geheimen Beschlüssen einer individuellen gesetzgebenden Instanz aufrechterhalten, deren Objektivierung von einer Vernunft abhängt, deren Konstruktion in Wahrheit dem Individuum exogen ist. So warnt der Jurist: Wird die Einsicht in das Wesen des Staates konsequent fortgeführt, so erscheint zwar das Individuum und das, was es im Staate wird, als eine neue Konstruktion, aber diese schwebt durchaus nicht in der Luft und ist kein Willkürakt des Staates.260
Schmitt verwirft den Individualismus, der sich in der Selbstdarstellung des „modernen Menschen“, der seine Zeit hat, manifestiert. 255 256 257 258
Schmitt 2004a, S. 101. Schmitt 2004a, S. 101. Schmitt 2004a, S. 97. Perelman zufolge ist das, was den positivistischen Standpunkt zu begründen scheint, das, was dank Erfahrung und Beweisen in der Lage ist, gewisse Fakten und Aussagen, Logiken und Mathematiken festzustellen, solange die Werturteile kontrovers bleiben – ohne dass es möglich wäre, eine rationale Methode zu finden, die es erlaubt, einen Konsens betreffend dieser Werturteile zu erreichen“ (Perelman 2000, S. 136). 259 Schmitt 2004a, S. 88f. 260 Schmitt 2004a, S. 96.
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Der moderne Mensch in seinem normalen empirischen Typus ist der Ansicht, seine Zeit sei eine „freie“, skeptische, autoritätsfeindliche und überdies eine individualistische Zeit, sie habe das Individuum erst eigentlich entdeckt und zu Ehren gebracht und uralte Traditionen und Autoritäten überwunden.261
Der Jurist hält das individualistische und freie Selbstverständnis seiner Zeit für unvereinbar mit dem damals herrschenden Skeptizismus der Naturwissenschaften. Der Skeptizismus der wissenschaftlichen Sicht des Positivismus zeigt sich in der Unfähigkeit, mit den grundlegenden Werten umzugehen, die seiner Methode unzugänglich sind. Aus der Sicht des Skeptizismus sind das Individuum und die Freiheit unbegreifliche Werte. Die Tendenz des Skeptizismus, das Verstandesurteil angesichts absoluter Prinzipien zu suspendieren, misstraut einer universellen Vernunft, die verwendet wird, um den Werterelativismus der menschlichen Erfahrung zu verdecken. Schmitt fährt in der Beschreibung seiner Zeit fort: Eine Zeit, die sich skeptisch und exakt gibt, kann sich nicht in demselben Atem individualistisch nennen; weder der Skeptizismus noch die exakten Naturwissenschaften vermögen eine Individualität zu begründen; sie können bei dem einzelnen Individuum als einer letzten, nicht weiter zu erklärenden oder zu bezweifelnden Tatsache so wenig stehen bleiben, wie bei einem persönlichen Gotte.262
Ebenso wenig wie ein persönlicher Gott kann auch das Individuum nicht als „letzte Tatsache“ genommen werden. Beide entziehen sich der wissenschaftlichen Perspektive des Positivismus. Individuum und Gott wären in diesem Sinne unbeweisbar, da sie unerforschlich sind für eine positivistische Wissenschaft, die die „äußere“, messbare Welt und die „innere“, geistige Welt von demselben kausalen Prinzip ausgehend erklärt. Letzte Werte, ewige Ideen, absolute Prinzipien können rational von der wissenschaftlichen Methode nicht begriffen werden, da sie auf Erfahrung und Beweis gründet. Außerdem hängt die Vorstellung sowohl des Individuums als auch eines persönlichen Gottes von der Möglichkeit ab, sich von der weltlichen Ebene der empirischen Relativität zu entfernen, d.h., die erkennbaren Objekte vom phänomenologischen Bereich zu abstrahieren.263 Diese Abkehr zugunsten einer Perspektive, die die Spannung des Gegensatzes zwischen dem Ideellen und dem Realen, dem Subjektiven und dem Objektiven fokussiert, gefährdete die Gültigkeit des Kausalitätsprinzips, das der Positivismus als Erklärungsmodell für die natürliche Welt übernommen hatte und deren Herrschaft sich auch auf die soziale Welt ausgeweitet hatte. In diesem Sinne wird auch verständlich, wes261 Schmitt 2004a, S. 11. 262 Schmitt 2004a, S. 11f. 263 In Politische Romantik nennt Schmitt Descartes und Hobbes als Vertreter des 17. Jahrhunderts eines abstrakten Rationalismus, der ein mechanistisches Verständnis der Welt vertritt. Die charakteristische Trennung – die nicht nur bei Descartes, sondern in einer ganz besonders interessanten Weise bei Hobbes auftritt – zwischen Phänomenalismus, der die Welt als bloße Erscheinung ansieht, und Materialismus, der nur körperliche Bewegungen akzeptieren kann, wird überwunden. Denken und Sein werden zu Attributen derselben ewigen Substanz (Schmitt 1998c, S. 64).
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halb Schmitt immer wieder den methodischen Dualismus der monistischen Sichtweise des Positivismus, die die Unterscheidungen zwischen Idee und Realität verwischt und das „Sollen“ mit dem „Sein“ verwechselt, entgegenstellt. Diese Zeit, die sich zwar als individualistisch darstellte, war unfähig, den Individualismus zu begründen, da la cultura positivistica non esalta il valore dell’individuo e la sua originalità, essa pretende di spiegare nello stesso modo l‘„esterno“ come l‘„interno“ togliendo ogni residuo di mistero: come non si ferma di fronte al mistero di Dio, così non si ferma neppure di fronte al mistero dell’individuo.264
Eine positivistische Ära ist nicht in der Lage, mit dem Mysterium eines Gottes oder des Individuums umzugehen, dessen Freiheitsgrund ihr unerklärlich ist, da diese auf dem unbedingten moralischen Gesetz des menschlichen Willens gründet.265 Anders ausgedrückt: Diese Freiheit kann nur durch die Abstraktion der persönlichen Unterschiede zwischen rationalen Wesen erreicht werden. Kant zufolge ist diese Freiheit jene, die uns, wenn sie auf das letzte Objekt der praktischen Vernunft angewendet wird, d.h., auf die Verwirklichung der Idee des moralischen Zweckes, unweigerlich zum heiligen Mysterium führt. Schmitt lehnt die Übertragung des überindividuellen Gewissens auf das individuelle Subjekt ab, die damals in der Erkenntnistheorie üblich war und die, vom Neukantianismus unterstützt, eine Antwort auf die breite Herrschaft des Positivismus in zahlreichen Wissensbereichen suchte. Der Jurist pflichtet Kant bei, wenn er sagt: „Auch das Individuum, das von irgend einer Staatstheorie zum Wertmittelpunkt gemacht wird, muss sich mit seinem Wert legitimieren, denn von ‚Natur‘ hat nichts einen Wert […].“266 Er ergänzt die Passage mit einem Zitat Kants, um zu erklären, dass nichts einen Wert hat als den, „welchen ihm das Gesetz bestimmt“.267 Dem Juristen zufolge kann „die Einheit, die in der Individualität liegt und ihren Wert ausmacht, […] immer nur ein geistiges Band sein, das in normativer Betrachtung gewonnen wird“.268 Somit kann der Wert in keinem Fall von der autonomen Gesetzgebung eines rationalen Wesens bestimmt werden, denn das Recht kann immer nur von einer höchsten Macht, dem Staat, ausgehen. Schmitts abweichende Ansicht in Bezug auf Kant und einige seiner Anhänger269 zielt darauf ab, die Autonomie des individuellen Subjektes der Konstruktion des Rechtsstaates abzulehnen. Sein wichtigstes Argument beruht auf der Un-
265 266 267 268 269
Kant 2004b, S. 805. Schmitt 2004a, S. 98. Kant 2004c, S. 69. Schmitt 2004a, S. 14. Bei den angesprochenen Anhängern des Neukantianismus, dessen Rechtstheorie Schmitt in Der Wert des Staates zu widerlegen suchen, handelt es sich um Nartorp, Stammler und Cohen (Schmitt 2004a, S. 63).
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möglichkeit, den Willen eines „empirischen Einzelwesens“ in den Stand einer „universellen gesetzgebenden Instanz“ zu erheben. Der Jurist weist die Möglichkeit zurück, einen Staatsbegriff zu erarbeiten, der auf der Autonomie des Willens eines rationalen Individuums beruht, der nicht dem Einzelwesen der empirischen Wirklichkeit entspricht: Daher darf aber auch das Subjekt der Autonomie in der Kantischen Ethik nicht das empirische, zufällige, der Sinnenwelt angehörende Individuum sein, weil es durch kein Interesse an das Gesetz gebunden ist, und die Fähigkeit, Subjekt der Autonomie zu werden, sich nicht aus empirischen Tatsachen, sondern aus seiner Vernunft ergibt.270
Das Subjekt der Autonomie der Kantischen Ethik ist also unfähig, eine zentrale Stellung in Schmitts Staatsphilosophie einzunehmen, deren Aufgabe in der Verwirklichung des Rechts oder in der Einführung einer juristischen Ordnung in der konkreten Wirklichkeit besteht. Deshalb hinterfragt der Jurist Kants Rechtstheorie, in der der Philosoph das Individuum als universelle autonome Instanz projiziert. Die Kantische Forderung, dass der Mensch immer selbst ein Zweck sei und nie zum Mittel werden dürfe, gilt daher nur, solange die Voraussetzung der Autonomie erfüllt ist, d.h. nur für den zum reinen Vernunftwesen gewordenen Menschen, nicht für ein Exemplar irgendeiner biologischen Gattung.271
Schmitt glaubt nicht an die juristische Konstruktion des Staates, die auf einem „empirischen, zufälligen, der Sinnenwelt angehörenden Individuum“ beruht. Kants Forderung bewegt sich außerhalb der politischen und existentiellen Möglichkeitsbedingungen, da das empirische Einzelwesen, um ein rationales Wesen zu werden, „die eigene subjektive empirische Wirklichkeit verneinen“ müsste.272 Doch das Individuum gehorcht nicht den eigenen Gesetzen der Vernunft, weil das Subjekt ein dem empirischen biologischen Wesen der Spezies des Homo sapiens exogenes Konstrukt ist.273 Obwohl man, von der Analyse der Arbeit Der Wert des Staates ausgehend, über die Existenz einer anthropologischen Auffassung diskutieren und über deren Verbindung mit der von Schmitt vorgeschlagenen politischen Form spekulieren könnte, halte ich das für etwas verfrüht. Es gibt zwar jene,274 die auf der Grundlage von Der Wert des Staates solche Annahmen aufgrund seiner Anerkennung des konkreten Staates, nämlich die
270 271 272 273 274
Schmitt 2004a, S. 89. Schmitt 2004a, S. 89. Schmitt 2004a, S. 89. Schmitt 2004a, S. 65. Ich beziehe mich auf das Buch von Helmut Quaritsch, Positionen und Begriffe Carl Schmitts, 1995, S. 38f.
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[…] unerhörte Leistung, ein Meer zügellosen und bornierten Egoismus und rohester Instinkte wenigstens äußerlich eingedämmt und unschädlich gemacht und selbst den einflussreichsten Bösewicht wenigstens zur Heuchelei gezwungen zu haben […].275
unterstützen. Obwohl die Passage von der Bosheit, vom „zügellosen Egoismus“ und „rohesten Instinkten“ spricht, zeigt sich in Der Wert des Staates, dass dies weder für alle Menschen, noch als in Zeit und Raum unabänderlich gilt. Es handelt sich hierbei nicht um eine dem Menschen immanente Natur. Schmitt weist vehement die Möglichkeit zurück, dass sich die Bosheit des Menschen oder die Perversion eines Einzelwesens von einer Essenz oder der menschlichen Natur ableiten lasse. Zudem gibt es in der vom Juristen vorgestellten Auffassung des Individuums keinerlei Art von Naturalismus oder Unveränderlichkeit, sondern nur die Behauptung seines enigmatischen und unvorhersehbaren Charakters. Es ist zwar richtig, dass Schmitt wiederholt behauptet, dass es unmöglich sei, das Recht von einer individuellen Ethik herzuleiten, da die individuelle Einheit zufällig sei. Die Zufälligkeit bedeutet in diesem Fall Unvorhersehbarkeit, Kurzlebigkeit, Beschränktheit des individuellen Wesens. Deshalb die Anerkennung, dass das Individuum in bestimmtem Umfang unergründlich ist, insbesondere wenn man versuchen sollte, es vom Standpunkt einer Essenz her zu erforschen. Der Egozentrismus des Individuums hängt, wie die von der Reformation ausgehende Auflösung der römischen Kirche und die Erschütterung der alten ontologischen Einheit des Seins, mit den politischen und sozialen Umständen der historischen und geistigen Wirklichkeit zusammen. Es muss beachtet werden, dass just aufgrund der Kontingenz des empirischen Einzelwesens diesem keine zwingende Bosheit oder Güte zugeschrieben werden kann. Es ist die Aufblähung der Privatsphäre des Individuums, die den Raum der konkreten Wirklichkeit hat schrumpfen lassen und so das Verhältnis Mensch-Welt verdunkelt hat.276 Aus der politischen und säkularisierenden Perspektive ist nur das sichtbar, was aufgrund der Dialektik der Repräsentation einer Idee von einer äußeren Ordnung abhängt: die öffentliche, nicht die private Sphäre.277 Wenn die äußere Wirklichkeit auf das Private oder auf das Kriterium der privaten Subjektivität reduziert bleibt, kann sie sich in alles verwandeln, nur nicht in eine politische Ordnung. In diesem Sinne begreift er, dass Gleichheit oder Freiheit nicht Attribute der individuellen Vernunft sind, sondern durch die objektivierten staatlichen Normen zugeschriebene Qualitäten. Die Gleichheit ist kein Attribut der empirischen Wirklichkeit oder der Natur, sondern der ideellen Ebene des vom Staat eingesetzten Gesetzes, und ist niemals eine Eigenschaft, die der Essenz der Vernunft, die angeblich den Einzelwesen zu275 Schmitt 2004a, S. 85. 276 In diesem Sinne warnt Koselleck vor der zunehmenden Trennung der technisch-industriellen Welt zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont. Die Subjektivierung, die Privatisierung der äußeren Wirklichkeit vergrößert in dem Maße, in dem es den Erfahrungsraum verkleinert, auch zugleich das Gewicht der Zukunft und erweitert den Erwartungshorizont (Koselleck 2000, S. 12). 277 Schmitt 2003d, S. 208.
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kommt, immanent wäre. Schmitt hat nie behauptet, dass es eine perverse oder gütige menschliche Natur gebe, die immer und überall zu finden wäre, sondern eher die Irrationalität jener, die nicht innerhalb der politischen Form des Staates leben. Der Autor ist nicht den gängigen Analysen der politischen Anthropologien gefolgt, die zum Einen die Vernunft mit der Güte und zum Andern die Unvernunft mit der Bosheit verwechseln, als ob es von der Irrationalität her möglich wäre, zu einer eindeutigen Erklärung dessen zu gelangen, was Vernunft, Bosheit usw. sei. Diese Verwirrung erschwert die Analysen, denn sie überträgt Moral- und Gefühlsurteile auf das politische Denken, was jedoch nicht dessen existentielle Dimension bestimmt. Jede Analyse stellt eine Wertung dar, aber sie reduziert sich nicht notwendigerweise auf das moralische Urteil, das das Verständnis von Schmitts Rechts- und Staatstheorie zu trüben vermag, deren Charakter untrennbar an die existentielle Dimension des Menschen gebunden ist. In Schmitts Reflexion über den Staat scheint mir ein pragmatischer Zug vorhanden zu sein.278 Die Unmöglichkeit einer letzten Erkenntnis über das Wesen der menschlichen Natur offenbart sich im kontingenten Charakter der Wirklichkeit. Einen Begriff der menschlichen Natur in Schmitts Denken einzuführen, hieße ausgerechnet einem Determinismus zu folgen, den der Autor zum Gegenstand seiner Kritik macht. In die konkrete Wirklichkeit eine Idee der Notwendigkeit einzuführen, bedeutete ein Denken, das in der Kontingenz, im Bruch, in der Krise seinen Ausgangspunkt hat, aufs Äußerste zu verzerren. Wenn diesem Denken eine Prämisse zugrundeliegt, so ist es die der Kontingenz, ohne die man nicht von einem Dezisionismus sprechen könnte. Deshalb richtet sich das Denken des Autors auf den Kampf gegen jegliche Form der Geschichtsphilosophie und des Determinismus und gegen Mechanismen, die eine Unabhängigkeit von der existentiellen menschlichen Dimension der politischen Wahl und des politischen Handelns behaupten. Obwohl Schmitt die menschliche Existenz von jeglichen Naturalismen befreit, so macht er doch keinen Hehl aus seiner Vorliebe für jene politischen Theorien, die die menschliche Bosheit hervorhoben, die er jedoch nicht als moralisches Problem begreift. In Der Begriff des Politischen wird der Mensch als gefährliches Wesen begriffen, doch verdankt sich dies der existentiellen und keineswegs der substantiellen Dimension der Menschen. Die Kontingenz des empirischen Einzelwesens, das, wie wir gesehen haben, auch als „Haufen von Atomen“ bezeichnet wird, versucht Licht auf die Unsicherheit und Dunkelheit der empirischen Einzelwesen zu werfen. Ich erachte es als schweren Irrtum, nicht nur in Bezug auf Der Wert des Staates, sondern auch in Bezug auf Der Begriff des Politischen – in dem der Autor die
278 Ich teile Nicolettis Auffassung, wonach: „Il considerare la cattiveria come un‘ ‚ipotesi‘ e non come una conoscenza certa e definitiva, si accorda d’altra parte con l’approccio epistemologico schmittiano incline al pragmatismo: posto che la natura umana nella sua essenza è inconoscibile, occorre agire come se l’uomo fosse cattivo. Si tratta, potremmo dire, di una finzione, consapevole, di uso pratico“ (Nicoletti 1990, S. 126).
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bekannte, aber oft missverstandene Unterscheidung zwischen Freund und Feind279 einführt – von einer menschlichen Natur oder von einem anthropologischen Pessimismus zu sprechen. Was diese Frage angeht, teile ich die Ansicht von Helmut Quaritsch nicht, die er in seiner Arbeit Positionen und Begriffe Carl Schmitts aus dem Jahre 1995 darlegt. Quaritsch äußert sich zur „antiindividualistischen Rechtsund Staatstheorie“, die Schmitt in Der Wert des Staates ausarbeitet. Quaritsch erklärt, dass „hinter diesem pessimistischen Menschenbild das Dogma von der Erbsünde [steht]. Die Erbsünde aber ist nun einmal der Dreh- und Angelpunkt des anthropologischen Glaubensbekenntnisses von Carl Schmitt, es fließt unmittelbar und kaum verhüllt in seine Staatstheorie ein“.280 Es ist von außerordentlicher Wichtigkeit zu betonen, dass diese Aussage seit der Erstveröffentlichung des Buches Die Lehre Carl Schmitts – Vier Kapitel zur Unterscheidung von Politischer Theologie und Politischer Philosophie von Heinrich Meier im Jahre 1994 zu einem missverstandenen Topos wurde. Obwohl ich mich unter Punkt 3.7. des dritten Kapitels näher mit dieser Frage auseinandersetzen werde, lohnt es doch, hier vorgreifend zu sagen, dass es sich hierbei um ein Missverständnis handelt. Schmitt postuliert ganz deutlich keine ontische Übertragung zwischen Theologie und Politik und stellt ebenso wenig eine Verbindung her, über die sich Inhalte aus der theologischen Sphäre in die politische übertragen ließen. Ganz im Gegenteil: Wie wir sehen werden, sucht er die Dimension des Politischen zu säkularisieren, da diese noch immer von theologischen und normativen Verbindungen verdunkelt sei und so deren Verständnis erschwere.281 Meier und Quaritsch ziehen nicht in Betracht, dass Schmitt in seinen Arbeiten eine strukturelle Analogie zwischen theologischen und politischen Begriffen vorschlägt. Nicht einmal Hans Blumenberg, einer der schärfsten Kritikers der Politischen Theologie und des Schmittschen Säkularisierungsbegriffs, erkannte diesen Sinn, sondern meinte einen metaphorischen und instrumentellen Charakter der von Schmitt verwendeten biblischen Bilder identifizieren zu können. So stellen Quaritsch und Meier eine naive Verbindung zwischen Schmitts Katholizismus und seiner politischen Theorie her. Damit verlieren beide Autoren den fundamentalen Aspekt der Analogien, die in dieser Arbeit noch untersucht werden sollen, aus den Augen. Für Schmitt resultieren Individuum und Staat aus einer Konstruktion, deren Wert, Sinn und Sichtbarkeit von einer Zuweisung von Sinn abhängen. Dem Juristen zufolge nimmt die empirische Wirklichkeit der Macht der Fakten nur aus der Sicht der Rechtsidee, d.h. aus der Sicht eines Kriteriums der autonomen und unabhängigen Anerkennung des faktischen Relativismus Sinn an. Was bedeutet das? Aus rechtlicher Sicht werden die Elemente und Fakten der empirischen Wirklichkeit des Seins nur in dem Maß verständlich und sinnvoll, als es möglich ist, diese auf transzendente Ideen zu verweisen, d.h. letztere der Faktizität der konkreten 279 Über Schmitts Begriffspaar Freund-Feind hat Reinhart Koselleck einige wichtige Seiten geschrieben, auf denen er seinen epistemologischen Sinn darlegt (Koselleck 2000, S. 258). 280 Quaritsch 1995, S. 38. 281 Schmitt 2002b, S. 63.
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Welt zu überlagern. Die Verständlichkeit und der Sinn der Wesen der empirischen Wirklichkeit als Individuum und Staat verlangen die Feststellung der Diskontinuität zwischen Ideellem und Realem, zwischen Recht und Macht. Wie wir im ersten Kapitel gesehen haben, geht die Entscheidung als Begriff im Denken von Carl Schmitt aus dem Konflikt zwischen Theorie und Praxis hervor. Ausgehend vom Antagonismus zwischen Rechtstheorie (Rechtsidee) und juristischer Praxis (Rechtsverwirklichung) entsteht die Bewusstseinsmachung des Handelns, des Entscheidens, das sich am Prinzip der Rechtsbestimmtheit angesichts einer entscheidenden Handlung orientiert, die effektiv in der Lage ist, Unterscheidungskriterien für die Fakten der Wirklichkeit bereitzustellen. Ohne eine politisch-juristische Form, die ihm einen Wert zuweist, ist das „empirische Einzelwesen“ – so wie jede andere Art faktischer Macht – sinnlos. Gemäß Schmitt kann der Wert des Individuums nur unter dem Gesichtspunkt der Rechtsidee erlangt werden, d.h. aus der Perspektive einer transzendenten Idee, die derart durch den Staat konkretisiert wird, dass sie eine Kontinuität des Sinns der faktischen Wirklichkeit herstellt. Die Absicht des Staates, der seiner Meinung zufolge aus der Sicht der Rechtsphilosophie konstruiert wird, ist es nicht, „den Einzelnen zu vernichten, sondern […] aus ihm etwas zu machen“.282 Damit das Individuum vor der Realität der empirischen Welt uns seiner faktischen Relationen der Macht geschützt werden kann, muss er mittels einer Macht, die Ideale, Werte und Sinn zu repräsentieren in der Lage ist, durch die juristische Form erhalten werden. Die Vorstellung des Individuums existiert nur auf der ideellen Ebene, und seine Verwirklichung kann nur mittels einer Repräsentation durch eine einzige Macht existieren, deren staatliches Siegel sich aufgrund ihrer Verwirklichung in einer Rechtsfunktion offenbart. Der Autor beharrt darauf, dass eine politische Macht von der Größe des Staates sich nicht durch das Kriterium der Quantität, der Kraft und der Gewalt bestimmt, sondern durch die Qualität. Letzten Endes liegt jeder Machtanalyse eine Anerkennung zugrunde, die von ihrer Identifizierung mit der beobachteten Tatsache verdunkelt wird. Für den Juristen ist es nicht möglich, die Elemente der empirischen Wirklichkeit, die als wertwürdig erachtet werden, auf verbindungslose Ideen als staatliche Einheit, die Trägerin einer idealen Rechtsperspektive ist, zu verweisen. Das Individuum besteht aus einem Begriff, der von den in einem vom Staat verwirklichten Recht vorgefundenen Werten gebildet wird.283 Deshalb behauptet Schmitt, dass sowohl Individuum als auch Staat aus dem Recht hervorgehen:
282 Schmitt 2004a, S. 10. 283 Es ist offensichtlich, dass Schmitts Staatsphilosophie den Vertragstheorien, die einen politischen Körper auf der Grundlage des Konsenses atomisierter Individuen aufbauen wollen, keinerlei Platz einräumt. So meint Schmitt: „Der Fehler der Vertragstheorie war daher nicht die Konstruktion eines Vertrages, sondern die Annahme empirischer Individuen als Vertragsparteien“ (Schmitt 2004a, S. 106).
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Somit ist nicht der Staat eine Konstruktion284, die Menschen sich gemacht haben, er macht im Gegenteil aus jedem Menschen eine Konstruktion. Die große, überpersönliche Organisation ist nicht von Einzelnen als ihr Werk geschaffen; sie fügt sich nicht in die Reihe von Mitteln und Zwecken von noch so vielen Menschen ein; es ist nicht denkbar, dass der Egoismus der Menschen, aus sich selbst über sich selbst herauswachsend, ein übermenschliches Gebilde für seine Zwecke als Mittel errichtet hätte, um dann von dessen Erhabenheit sofort ins Nichts zurückgeschleudert zu werden.285
Die Subjektivität des empirischen Einzelwesen eignet sich nicht als Verbindungsglied zwischen dem Ideellen und dem Realen, um eine juristische Ordnung zu begründen. Die Elemente der empirischen Wirklichkeit gewinnen an Wert nur in dem Maß, in dem ihnen auch ein Sinn oder eine Funktion von einer Instanz, die die faktische Welt transzendieren kann, zukommt und so eine Vermittlung zwischen Idee und Wirklichkeit erlaubt. Außerhalb der Vermittlung, d.h. außerhalb der Aufgabe der Verwirklichung der Idee, ist es nicht möglich, den Wert eines Individuums zu bestimmen. Schmitt postuliert die „strengste Heteronomie aller rechtlichen Normen“, „nicht, um den Einzelnen zu vernichten, sondern um aus ihm etwas zu machen“.286 Die von ihm geforderte Heteronomie verdankt sich dem Irrtum der Rechts- und Staatstheorien, die Bildung einer Rechts- und Staatseinheit vorauszusetzen, die von der inneren Perspektive der Ethik eines rationalen Individuums ausgeht. Die vom Autor geforderte Heteronomie ist auch Ergebnis des Irrtums der Rechtsdoktrin Kants und seiner Anhänger. Diese weist er zurück, weil sie die Bindung des Rechts an die innere Perspektive der Ethik des Subjekts postuliert. Sowohl diese als auch die positivistische Sicht, die als Reduktion des Rechts auf das mechanische Funktionieren der sozialen Beziehungen definiert wird, führte zur Verwechslung von Sichtbarem und Unsichtbarem, von Innerem und Äußerem. Deshalb ist die Forderung einer Trennung […] keineswegs eine singuläre, nur bei philosophierenden Juristen auftauchende Meinung, sie beherrscht vielmehr die Anschauungen vieler Jahrhunderte 284 Die Definition des Staats als Konstruktion des Rechts – und folglich nicht des Individuums – offenbart die Kraft, die der Kontingenz in Schmitts Denken zukommt. Diese Staatsphilosophie unterscheidet sich nicht nur vom Naturalismus der aristotelischen Politik, in der der Staat als natürliche Entwicklung erscheint und aufgrund seines Vorranges vor den Familien und den Menschen definiert wird. Schmitts Konstrukt entfernt sich auch vom modernen Rechtsnaturalismus, der, trotz seiner unterschiedlichen Auffassungen, des Öfteren einen gemeinsamen Boden in der Vernunft des Individuums und im Vertrag als Ausgangspunkt für die Gründung eines politischen Körpers findet. Mit Ausnahme von Hobbes, der nicht von der Vernunft, sondern von der Angst ausgeht und diese zum grundlegenden Gefühl in der Konstruktion des Leviathans erhebt, gründen verschiedene rechtsnaturalistische Autoren ihre politischen Vorschläge auf die menschliche Vernunft. Eine grundlegende Unterscheidung zwischen Schmitt und Hobbes findet sich in einem unmissverständlichen Aspekt des Vergleichs zwischen Der Begriff des Politischen aus dem Jahre 1927 und Hobbes Leviathan: Während der englische Philosoph von dem Bild des isolierten Menschen ausgeht, um die politische Macht zu begründen, erachtet Schmitt das Politische als Voraussetzung des Staates, was einer extremen Maßnahme von Verbindungen und Trennungen menschlicher Kollektivitäten entspricht. 285 Schmitt 2004a, S. 93. 286 Schmitt 2004a, S. 10.
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und müsste sich schon aus der Unterscheidung von äußerer und innerer Freiheit und der Unmöglichkeiten, das Sichtbare mit dem Unsichtbaren, Zeitliches und Ewiges unter einen Begriff zu bringen, leicht schließen lassen.287
Von den Autoren, die von der inneren Ethik des Subjekts, von seiner Autonomie gegenüber dem Recht ausgehen, verlangt Schmitt, dass sie sich nicht in die „reale Welt“ einmischten, denn die Konstruktion einer politischen und juristischen Ordnung finde ihr letztes Fundament nicht im Individuum. Recht und Staat finden ihre Grundlage und Grenze nicht in der individuellen Einheit: Weder das Recht noch der Staat enden im Individuum. […] Es gibt einen Heiligen, aber keinen Gerechten in der Wüste. Wenn, nach Luthers Wort, die Juristen „sich in das Reich Christi nicht mengen“ sollen, so sollen auch die Ethiker wenigstens die methodische Autochthonie des Reiches der Welt gelten lassen.288
Schmitts Staatstheorie setzt einen Dualismus voraus, einen Antagonismus zwischen dem „Sollen“ des Rechts und dem „Sein“ der empirischen Macht, eine dialektische Konfrontation nicht des Individuums mit dem Recht, sondern des Rechts mit dem Staat als empirischer Macht. Deshalb ist die Triade der Schmittschen Staatstheorie „Recht, Staat, Individuum“ das Ergebnis des Dualismus zwischen Recht und Macht, wobei das Individuum als solches nur in dem Maße in Erscheinung tritt, als es seinen Sinn von einer Aufgabe her bekommt, die ihm der Staat zuweist, der, in der Konfrontation mit dem Recht, sich durch seine Verwirklichung legitimiert. Staat und Individuum erhalten ihren Wert deshalb nur in der Sphäre des Einsatzes für die Säkularisierung des Rechts. Der von Schmitt vorgeschlagene Staat bezieht seine Autorität nicht aus der Ethik des individuellen Subjekts, aus der objektiven Vernunftmäßigkeit, aus dem faktischen Willen, sondern aus der Verwirklichung einer die Empirie transzendierenden Idee. Seine Absicht ist in keinerlei Hinsicht despotisch, noch will er das Individuum vernichten. Die staatliche Instanz, deren höherer Sinn in ihrer Fähigkeit liegt, sich über die Parteien zu erheben, hängt von ihrer Bindung an eine Idee ab, die gegenüber der der empirischen Wirklichkeit immanenten Aufsplitterung immun ist. Die juristische Ordnung der empirischen Wirklichkeit beruht auf einer metapolitischen Haltung, die als überparteiliche politische Tätigkeit begriffen wird. Der Staatsbegriff des Juristen beabsichtigt nicht, die individuelle Existenz abzuschaffen, sondern ihr mittels einer Aufgabe einen würdigen Sinn zu verleihen: Durch die Zurückführung des Wertes des Individuums auf seine Aufgabe und deren Erfüllung ist daher nicht die Würde des Einzelnen vernichtet, sondern erst der Weg zu einer gerechtfertigten Würde gezeigt. Die Vernichtung des Individuums, die der hier zu erwartende Einwand meint, kommt nicht vom Recht und dem ganz in der Verwirklichung des Rechts aufgehenden
287 Schmitt 2004a, S. 18. 288 Schmitt 2004a, S. 18f.
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Staate her, sondern von dem Machtkomplex Staat, von der Tatsächlichkeit, der durch einen Kampf der Macht mit der Macht zu begegnen ist.289
Schließlich stimme ich in dieser Arbeit in Bezug auf die von Schmitt formulierte Beziehung zwischen Staat und Individuum der folgenden Aussage Helmut Rumpfs zu: Die Begründung, die der jugendliche Carl Schmitt für dieses Verhältnis von Staat und Individuum gibt, ist dem heute in der westlichen Welt vorherrschenden politischen Denken fremd und kaum noch verständlich. Sie ist aber auch vom nationalsozialistischen wie vom kommunistischen Kollektivismus gleich weit entfernt, denn weder ein Mythos vom Volk noch die Herrschaft einer Klasse oder das Ziel einer klassenlosen Gesellschaft waren es, die nach der These dieser Schrift das Individuum dem Staat im Range unterordnen.290
Obwohl ich mit Rumpfs Würdigung einig gehe, scheint mir, dass dieser Autor einen grundlegenden Aspekt von Schmitts politischer Philosophie übersieht: die Erschütterung der traditionellen Ontologie, die aufgrund des kartesianischen und kantischen Denken erfolgte, die es dem Menschen erlaubt, den Platz Gottes einzunehmen. Diese Wendung bedeutet einen Verlust von Transzendenz, von einer letzten Bestimmung und grundlegenden Prinzipien; sie bedeutet eine Bedrohung für die Institution einer politischen und juristischen Ordnung des menschlichen Verhaltens. Die Verschiebung des Zentrums des geistlichen Lebens, dargestellt als Ablösung Gottes durch den Menschen, bedeutet eine Wendung hin zur Innerlichkeit, zur Unsichtbarkeit, zum Relativismus, letztlich hin zur Unmöglichkeit der Erschaffung einer überpersönlichen Ordnung, die in der Lage wäre, die Vernichtung des Individuums selbst zu verhindern: Als Folge dieser politischen Philosophie kann das Individuum nicht die Grenze des Individuums selbst sein, denn die Immanenz, die Abwesenheit der Hierarchie oder der Transzendenz bietet sich nicht als Bremse dessen an, was Schmitt in anderen Arbeiten als homo homini homo bezeichnen wird291: „homo homini homo, das bedeutet: das letzte Hindernis der Menschwerdung des Menschen ist der Mensch selbst.“292 Die zentrale Stellung, die von der Innerlichkeit des Individuums eingenommen wird, mündet in einem Sinnverlust und in einer Entleerung der externen Bezüge, die für die Konstruktion einer politischen Ordnung notwendig sind. Der Verlust äußerer Grenzen bedeutet, wie bereits erwähnt, die Auslieferung des Menschen an die private Sphäre der geheimen Subjektivität. Die zentrale Stellung, die vom inneren Ich eingenommen wird, wird verstanden als Vergöttlichung des Menschen, dessen Utopie in der Existenz außerhalb seiner Voraussetzungen der konkreten Existenzmöglichkeiten besteht.293
289 Schmitt 2004a, S. 106f. 290 Rumpf 1972, S. 13. Rumpf bezieht sich hier auf Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen. 291 Schmitt 1991a, S. 149, 271 und 273. 292 Schmitt 1991a, S. 273. 293 Schmitt 1991c, S. 31.
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2.5. Recht und Macht Im ersten Kapitel von Der Wert des Staates behandelt Schmitt die Beziehung zwischen Recht und Macht. Der Autor richtet sich dabei gegen die monistische Überzeugung des Positivismus, die dazu neigt, das Denken als Reflex der empirischen Wirklichkeit und sein Ideal als Produkt des sozialen Lebens darzustellen. Schmitts Forderung nach der Bewahrung der „Autochthonie des Reiches der Welt“ übersetzt sich in die Unmöglichkeit, das Ideale vom Realen, genauer das Recht von der Macht abzuleiten, oder, wie wir in Gesetz und Urteil sahen, die Unmöglichkeit, „das Sollen vom Sein abzuleiten“. Die „Autochthonie der Welt“ entspringt dem unentrinnbaren Dualismus, der unerbittlichen Trennung zwischen dem Ideal und der Wirklichkeit. Deshalb zitiert Schmitt Fichtes Spruch: „Leben ist ganz eigentlich Nichtphilosophieren, Philosophieren ist ganz eigentlich Nichtleben.“294 Die eigensinnige Form, für die er sich durch die Antithese zwischen Idealität des Rechts und Wirklichkeit der Macht einsetzt, ergibt sich aus verschiedenen Gründen. Zum Einen gründet eine Staatstheorie nicht auf parteipolitischen Interessen.295 Zum Andern entstammt der Wert einer politischen Institution nicht historischen Umständen oder solchen von Regierungen, Verbänden, Mehrheitsmeinungen, oder von der allgemeinen Vertragstheorie oder von natürlichen Gesetzen, sondern von der Vorstellung des Staates als Idee, als realem Ausdruck eines Ideals. Des weiteren besteht Schmitts Dualismus, wie bereits im vorausgehenden Kapitel gezeigt, in einem Antagonismus zwischen „Sein“ und „Sollen“, in welchem auch die konstante Anwendung einer dialektischen Methode beobachtet werden kann, die ganz andere Folgen zeitigt als jene von Hegel.296 Schließlich resultiert die ideelle Perspektive, mit der Schmitt das Recht der Macht entgegenstellt, in der Kritik, die der Autor an seine Zeit richtet und deren wichtigstes Merkmal eine von der Abwesenheit des Geistes und der Seele gezeichnete Gesellschaft ist. Der Mangel an Geist im Deutschland der Anfänge des 20. Jahrhunderts wird wie folgt dargestellt: Das Zeitalter der Maschine, der Organisation, das mechanistische Zeitalter, wie es Walther Rathenau in seiner „Kritik der Zeit“ genannt hat – in einem Buch, das so zeitgemäß ist, dass man das Zeitalter danach als das der „Kritik der Zeit“ benennen könnte –, das Zeitalter, das durch die Objekte seiner Sehnsucht und Schwärmerei zeigt, was ihm fehlt, dessen Kultur, so wie sie faktisch herrscht, in der selbst auf die Gebiete des geistigen Lebens, der Kunst und Wissenschaft expandierenden Vorstellung des „Betriebes“ kulminiert, das Zeitalter der Geldwirtschaft, der Technik, der Regiekunst, der absoluten Mittelbarkeit und der allgemeinsten Berechenbarkeit, die sich bis auf die literarischen Produktionen erstreckt – ist höchstens per antiphrasin, wie sie sich aus den unerschöpflichen Worten und Reden, die darüber gemacht werden, ergibt, ein individualistisches Zeitalter zu nennen.297
294 Schmitt 2004a, S. 16. 295 Schmitt 2004a, S. 45. 296 Vergleiche in diesem Sinne auch die Arbeit von Galli, die eine sorgfältige Unterscheidung zwischen der Hegelschen und Schmittschen Vermittlung vornimmt (Galli 1996, S. 27). 297 Schmitt 2004a, S. 12f.
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Die mechanistische Vorstellung einer Zeit, die als „Betrieb“ dargestellt wird, der sich auf alle kulturellen Bereiche mittels seiner Expansion auf die „Gebiete des geistigen Lebens“ erstreckt, ist das Resultat des blinden Vertrauens in die Technik. Die absolute Kontrolle über die Mittel, die Übernahme der kausalen und quantitativen Erklärungen der sozialen Verhältnisse, das Zusammenrücken von Handlung und Reflektion,298 kurz, die Reduzierung der Erkenntnis auf die empirische Rationalität der Naturwissenschaften, die Aufhebung der Kontingenz durch die durchkalkulierte Planung sind nur einige der Eigenschaften der genannten Zeit. Die Darstellung des Betriebes offenbart eine Welt, die von sich aus und durch sich selbst funktioniert, einen Automatismus oder eine „absolute Mittelbarkeit“ des politischen und sozialen Lebens. Wie kann man eine Zeit, die sich begierig zeigt, in zunehmendem Maße die verschiedensten Bereiche des sozialen Lebens dem Kalkül des kodifizierten Rechts zu unterwerfen, individualistisch nennen? Die Ausgestaltung eines sozialen Korpus als Resultat der juristischen Berechnung spiegelte die Annahme einer Eliminierung der Unsicherheiten sowohl im öffentlichen als auch im privaten Raum wider. Die Technifizierung des Rechts, die sich auf den Ausschluss der Kontingenzen richtete, ließ, indem sie sich be-
298 Am 31. Oktober 1912 hält Schmitt in seinem Tagebuch eine Bemerkung fest, in der er seine Zeit kritisiert und darin das Problem der Mittelbarkeit, genauer, der „über den Zweck gesetzten Mittel“ hervorhebt. Im vorausgehenden Kapitel habe ich das Problem der Mittel erwähnt, die zum Zweck in sich selber werden, wie es im Bereich der juristischen Normen geschieht. In der erwähnten Bemerkung nimmt die Kritik jedoch einen soziologischen Zug an. Es ist jedoch wichtig hervorzuheben, dass Schmitts Verurteilung der Mechanisierung seiner Zeit auch eine stille Sorge bezüglich der Folgen enthält, die eine Beschleunigung bewirken. Dies wird in der Passage deutlich, in der der Autor das Fehlen der Zeit für die Reflexion erwähnt. Die Beschleunigung, die er im Zusammenrücken von Handlung und Reflexion ausmacht, erhöht das Risiko der Kontingenz, der Unvorhersehbarkeit. Auf die Beschleunigung der Zeit wird Schmitt später mit dem katechon antworten, ein Thema, mit dem er sich bis zum Ende seines Lebens beschäftigen sollte. Vorerst lohnt es sich, seiner Bemerkung zu folgen: „Wir leben im Zeitalter der Reklame, der Manager, der Zeitungen, der Verleger, des Geschwätzes. Niemand kommt mehr zu sich selbst, überall drängen sich andere dazu. Das Zeitalter der Mittelbarkeit. Nur scheinbar ist es Zweckhaftigkeit, Mechanismus; es ist im wahrsten Sinn das Zeitalter der Zwecklosigkeit. Wir setzen das Mittel über den Zweck, wir erfinden immer wieder neue Mittel zu unserem Zweck; und kommen nicht mehr zur Besinnung. So drängen sich die Buchhändler zwischen den Künstler und den Dichter und werfen sich als Selbstzweck auf; so der Verlag zwischen den Künstler und das Publikum, so der Techniker zwischen das Bedürfnis und den, der es befriedigen will und schafft Mittlerzwecke, damit wir die letzten Zwecke vergessen und damit die letzten Dinge sich verflüchtigen“ (Schmitt 2005h, S. 34). Die durch die Technisierung herbeigeführte Verflüchtigung der „letzten Zwecke“, der „letzten Dinge“ stellt eine wiederkehrende Sorge in Schmitts Arbeiten dar, da sie zum tragischen Ende des Verlustes der Unterscheidungen, der Grenzen und der Möglichkeit, der Kontingenz entgegenzutreten und sie zu verwalten, führt. Der Verlust der letzten Zwecke führt zur Unvorhersehbarkeit, zum Nihilismus. Ein anderer Aspekt, den es hervorzuheben gilt, ist die Tatsache, dass der Autor von einem nur scheinbaren Mechanismus spricht, so dass es in seinen Augen die Möglichkeit zu geben scheint, diesen Mechanismus, der die als Maschine begriffene künstliche Welt beherrscht auseinanderzunehmen und so ihr metaphysisches oder theologisches Fundament wieder zugänglich zu machen.
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mühte, die menschlichen Beziehungen in juristische Kausalzusammenhänge zu verwandeln, wenig Raum für die Manifestation der individuellen Existenz. Hier wird schon eine im politischen Liberalismus verschleierte despotische Aura sichtbar, die die verschiedensten Sphären des Lebens der autonom funktionierenden Herrschaft des Gesetzes299 zu unterwerfen sucht. Theologie und Technik scheinen sich im auf den Glauben zu treffen, der in den durch die juristische Kodifizierung der menschlichen Beziehungen ermöglichten Determinismus gesetzt wird. In Schmitts Worten klingt das so: „Keine Zeit hat ein solches Bedürfnis nach Kodifikationen und Subsumtionen gehabt.“300 Im Übrigen sieht er kaum Platz für die Individualität angesichts des Kapitalisten, „dessen Seele die Seele seines Kapitals ist“.301 Auf diese Gesellschaft der Kultur des Materialismus, der Mechanisierung, der Abwesenheit der Seele, des monistischen Positivismus, reagiert Schmitt mit den Worten: Wer die moralische Bedeutung der Zeit ahnte und gleichzeitig sich als Kind der Zeit wusste, konnte nur Dualist werden. Ein kluger Kritiker der Zeit fand den Gegensatz von Mechanik und Seele.302
In Schmitts Denken erweist sich der Dualismus als wahres Pathos.303 Es handelt sich hierbei nicht nur um eine Auffassung von Wirklichkeit, sondern um das ein299 Es muss darauf hingewiesen werden, dass Schmitt in verschiedenen Arbeiten (wie z.B. in Legalität und Legitimität aus dem Jahre 1932) diese Hypostase ablehnt, derzufolge die Gesetze und nicht die Menschen regierten. In Der Wert des Staates ist es der Staat, der in seiner Beschaffenheit als oberste empirische Instanz die Gesetze verwirklicht. Das spätere Denken bezüglich der genannten Staatsphilosophie wird immer konkreter, so dass das Subjekt der Entscheidung durch die Rechtsinstitution nicht notwendigerweise im Innern der staatlichen Form gesehen wird. Meines Erachtens nimmt die Kontingenz in diesem Fall eine noch wichtigere Rolle in Schmitts Denken ein, da es in dem Maße dynamischer wird, als es nun in der Lage ist, die Krise intensiver aufzunehmen und sie außerdem mittels politischer Ideen, die für eine Verwirklichung geeignet sind, zu bekämpfen. Damit bedeutet die Tatsache, dass sein Denken noch konkreter und existentieller wird, keineswegs eine Abkehr von der ideellen Dimension, denn es existiert eine konstante Spannung im existentiellen Charakter des Menschen, um Ideen in der Praxis zu verwirklichen oder, wie Schmitt sich ausgedrückt hätte, sie zu säkularisieren, indem sie in die konkrete empirische Welt eingeführt werden. 300 Schmitt 2004a, S. 13. 301 Schmitt 2004a, S. 91. 302 Schmitt 1991b, S. 63. Walther Rathenau verwendet den Gegensatz „zwischen Mechanik und Seele“ in seiner Arbeit Kritik der Zeit aus dem Jahre 1912. In seinen Jugendschriften verweist Schmitt unzählige Male auf Rathenau. Man findet diese Verweise in Schattenrisse, in Nordlicht und manchmal auch in seinem Tagebuch. Diesbezüglich lohnt sich die Lektüre der anregenden Arbeit von Ellen Kennedy, die Schmitts Begriff des Politischen im Licht seiner Kulturkritik und seiner metaphysischen Aspekte untersucht, wie z.B. die Bewegungen des Expressionismus und des Dadaismus, denen Carl Schmitt zu Beginn des 20. Jahrhunderts angehörte (Kennedy 1988, S. 235f und 241). 303 Am 3. Oktober 1913 hält Schmitt bezüglich seiner Lektüre des Buches des katholischen Theologen Ignaz Döllinger (1799–1890) in seinem Tagebuch fest: „Döllinger über gnostische Sekten gelesen, meinen Dualismus mit großem Interesse wiedergefunden“ (Schmitt 2005j, S. 103).
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zige Mittel, auf eine Zeit, die sich in sich selbst geschlossen glaubt und dem Fortschritt der ihr immanenten Gesetze ergeben ist, auf ihr individualistisches Selbstverständnis zu reagieren. Der Dualismus, der, wie wir im ersten Kapitel gesehen haben, das Denken des Autors strukturiert, ist auch der einzige Ausweg zur Konfrontation mit einer Wirklichkeit, in der die Willkürlichkeit verschleiert und die Verantwortung für das politische Handeln auf das mechanische Funktionieren der Gesetze übertragen wird. Es sei hier noch darauf hingewiesen, dass der Dualismus eine Form der Wirklichkeitsbewertung darstellt, in welcher sich das Denken mittels der Konfrontation ausgestaltet; sie ist Ausdruck eines Antagonismus, dessen Intensivierung es erlaubt, einen letzten Grund – den Bruch oder den ursprünglichen Konflikt –, der die Überzeugungen stützt, zu erreichen. Dem Dualismus kommt die zentrale Rolle zu, das mechanistische Bild, dessen Bewegung sich auf das soziale Leben erstreckt und in einer von den menschlichen Handlungen und Entscheidungen unabhängigen Verbindung von Ursache und Wirkung sichtbar wird, zu verhindern. In Der Wert des Staates wird der Säkularisierungsbegriff zunächst als Gegenüberstellung von Idee und Wirklichkeit dargestellt, deren Absicht es ist, den unüberbrückbaren Bruch zwischen Recht und Macht in den Blick zu rücken, indem die Kausalitätszusammenhänge aufgelöst werden und der Automatismus des Positivismus, der politische Entscheidungen und Handlungen als Gesetzeswillen darstellt, erschüttert wird. In der Unmittelbarkeit des Positivismus existieren keine Lücken zwischen der gesetzeskonformen Entscheidung und ihrem auf die Wirklichkeit übertragenen Inhalt. In der Unmittelbarkeit der Rechtsverwirklichung ist implizit die Existenz des Gesetzes selbst enthalten. Ich erinnere hier an die Diskussion im vorhergehenden Kapitel, in der die Entscheidung – deren Voraussetzung die Kontingenz ist – an das Bild des Richters als Mund des Gesetzes gebunden war. In Der Wert des Staates kehrt der Richter als Automat wieder, aber nun als Teil eines viel breiteren Prozesses der Technifizierung wie der angestrebten Substitution der politischen Entscheidung durch die technische Planung und das wirtschaftliche Kalkül. Die Technifizierung und die Mechanisierung machen es unmöglich, sich auf Ideen zu beziehen und Unterscheidungen aufgrund einer Wertehierarchie zu treffen. Die Verwandlung von Mitteln in Zwecke, die Auflösung eines vertikalen Wertesystems und die Autorität im horizontalen System der Rationalität der Berechnung und der logischen und mathematischen Operationen mündet im Verlust von Sinn und Grenze. Elf Jahre nach der Publikation von Der Wert des Staates wird dieser Prozess der Immanenz, dargestellt vom selbständigen Funktionieren und von der Selbstgenügsamkeit, der sich auf das geistige Leben erstreckt und alle Bereiche des Lebens wie Politik, Recht und Kunst umfängt, in Römischer Katholizismus und Politische Form im Jahre 1925 folgendermaßen dargestellt: Fast in jedem Gespräch kann man beobachten, wie tief die naturwissenschaftlich-technische Methode heute das Denken beherrscht, wie zum Beispiel in den herkömmlichen Gottesbeweisen der Gott, der die Welt regiert wie der König den Staat, unbewusst zum Motor gemacht wird, der die kosmische Maschine antreibt. Bis in ihre letzten Atome ist die Phantasie des
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modernen Großstadtbewohners erfüllt von technischen und industriellen Vorstellungen und projiziert sie ins Kosmische oder Metaphysische. Die Welt wird für diese naive mechanistische und mathematische Mythologie zu einer riesigen Dynamomaschine.304
Zu Beginn des ersten Kapitels versucht Schmitt mittels einer Untersuchung der Beziehung zwischen Recht und Macht eine Definition des Staates. Die Beziehung zwischen Recht und Macht stellt eine der zentralen Fragestellungen der Arbeit Der Wert des Staates dar, denn darin drückt sich das Problem der Antithese zwischen ideeller und realer Perspektive dar, das auch die der Säkularisierung in der genannten Arbeit zugeschriebene Bedeutung deutlich macht. Schmitts Kontroverse richtet sich gegen zwei verschiedene Theorien, gegen die „Machttheorie“ und gegen die utilitaristische Theorie. Die Machttheorie versucht, das Recht als Ausdruck der Kräfteverhältnisse zwischen den verschiedenen Gesellschaftsgruppen zu erklären. Die utilitaristische Theorie ihrerseits betrachtet das Recht als Funktion eines Interesses. Der „Machttheorie“ zufolge wäre das Recht das bloße Ergebnis der Kraft, die ein Mensch oder eine soziale Gruppe über eine andere ausübt, d.h. das Recht könnte als Ausdruck „historischer Ereignisse“ angesehen werden und es wäre egal, ob die ausgeübte Herrschaft als rein physische oder psychische Kraft begriffen würde: Die großen Fische, die nach dem bekannten Wort das Recht haben, die kleinen zu fressen, und die sozial herrschende Klasse, die durch die Nachwirkungen einer vor Jahrhunderten erfolgten Unterwerfung der Ureinwohner eines Landes in den Stand gesetzt ist, die Gesetze in ihrem Inhalt zu bestimmen, haben beide nur Recht, weil sie die Macht haben.305
Für Schmitt aber ist diese Theorie, die die Macht als den das Recht bestimmenden Faktor darstellt, von einem grundlegenden Standpunkt aus gesehen unzureichend, um klare Unterscheidungen zu treffen. So hebt der Autor hervor: Die Macht des Mörders gegenüber seinem Opfer und die Macht des Staates gegenüber dem Mörder sind für die Machttheorie nicht dem Wesen nach verschieden, sondern nur in ihrer durch eine historische Entwicklung bedingten äußerlichen Erscheinung, in ihrem Umfange, ihrem Eindruck auf die Masse der Menschen.306
Die physische Gewalt ist kein geeignetes Mittel, um die Macht des Staates von der Macht einer bewaffneten Horde zu unterscheiden. Hier offenbart sich Schmitts Bestreben, ein Fundament für die Geltung der staatlichen Macht zu untersuchen. Die faktische Befehlsgewalt bietet kein Kriterium, das in der Lage wäre, die Autorität der Staatsmacht zu legitimieren. Aus einer rein empirischen Perspektive betrachtet, bleibt die Untersuchung dessen, was den Staat gegenüber anderen Mächten als verschiedene Macht qualifiziert, ergebnislos. Die Beobachtung äußerer Phänomene der empirischen Wirklichkeit des Seins findet keine Grundlage, sie vermag keine Auswertung der Werte oder der Normen vorzunehmen. Die Auffas304 Schmitt 1984, S. 21f. 305 Schmitt 2004a, S. 22f. 306 Schmitt 2004a, S. 23.
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sung der Wirklichkeit als empirisches Phänomen bietet nur Fakten, nicht aber Argumente und Grundlagen für das Verständnis der Legitimation einer politischen Macht. Wenn sich also die physische Gewalt nicht als ausreichendes Kriterium für eine Definition der staatlichen Macht eignet, könnte man sie ersetzen, indem man das Fundament des Staates auf die „Überzeugung der Mehrheit“ oder auf der Ausübung der Stimmkraft jener abstützte, die den Staat bilden. Für Schmitt verändert die Ersetzung der bloßen Ausübung physischer Gewalt durch das Prinzip der „Annahme durch eine Mehrheit“ jedoch die unmittelbare Erklärung des Rechts durch die Macht nicht in substantieller Weise. Das quantitative Kriterium des Mehrheitsprinzips „beruhe auf der psychischen Tatsache des Einverständnisses mit der Mehrzahl und stempele die faktische Überlegenheit zur Autorität, die Macht zum Recht“.307 Die „Machttheorie“, die im Recht den Spiegel der „Meinung der meisten“ oder der „Übereinstimmung“ der Mehrzahl der Menschen sieht, bleibt gefangen in den Verwicklungen an der Oberfläche der faktischen Dynamik der Ereignisse. Eine Dynamik, in der lediglich das quantitative Maß der Macht gilt, sei diese nun physisch oder psychisch, sei sie von Vielen oder Wenigen ausgeübt, vermag kein qualitatives Kriterium hervorzubringen, das in der Lage wäre, das soziale Leben zu strukturieren. „Das Recht ist somit für die Machttheoretiker nur ein Teil des Seins, nicht weiter und nicht anders zu erklären, nicht anders zu rechtfertigen als irgend ein Sein […].“308 Das „besondere Interesse“ der Machttheorie für das Recht verdankt sich daher „seiner unmittelbaren Bedeutung für die Menschen und ihr Zusammenleben“. Das Recht wäre demnach ein der Wirklichkeit des Seins immanentes Element, „ganz eingefügt in den Mechanismus des faktischen Geschehens, aus dem es an keiner Stelle heraustritt“.309 In seiner Polemik mit der Machttheorie, weist Schmitt warnend darauf hin, dass jedes Denken, das das Recht als etwas Gegebenes erachtet, schlussendlich dazu führt, dass es dem Gesetze der Kausalität [unterliegt] wie alles, was da ist. Wird das Recht zur Macht, so verflüchtigt sich jede andere Erklärung wie eine kausale ins Nichts, und jede Ursache, die eine Wirkung hervorruft, wird insofern zur Macht und damit wieder zum Recht. Auch wenn die Tatsache, in die der Regress vom Grunde des Rechts letzthin mündet, noch so weit in die Vergangenheit zurückgeschoben wird, verbleibt dieser Gedankengang ganz in der Theorie, die lediglich konstatieren und erklären, nicht aber rechtfertigen oder begründen will und kann.310
Ähnlich wie in seiner Arbeit Gesetz und Urteil, in der Schmitt das richtige Kriterium für eine richterliche Entscheidung ausarbeitet, untersucht er auch in Der Wert des Staates ein Maß oder ein Kriterium, das in der Lage wäre, eine Legitimitätsgrundlage für die Staatsmacht zu bieten. Des Weiteren sollten wir nicht vergessen, dass die Gegenüberstellung von Recht und Macht, sowie die von Theorie 307 308 309 310
Schmitt 2004a, S. 23. Schmitt 2004a, S. 24. Schmitt 2004a, S. 24. Schmitt 2004a, S. 25.
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und Praxis, mittels eines Antagonismus den kontingenten und zufälligen Charakter der empirischen Wirklichkeit aufzuzeigen versucht. In Gesetz und Urteil entwickelt Schmitt seinen Entscheidungsbegriff ausgehend von der Krise der Rechtstheorie und der Rechtspraxis. Im ersten Kapitel haben wir gesehen, wie die Kontingenz, dargestellt als Bruch, sowohl „Methode als auch Zutat“ ist, die seine Untersuchung leitet. Die Polarisierung zwischen Recht und Macht verfolgt die AbAbsicht aufzuzeigen, dass das mechanistische Bild des sozialen und juristischen Lebens den zufälligen Charakter der Machtverhältnisse verdeckt. Einer der wichtigsten Punkte von Schmitts Anliegen ist es jedoch, das idealistische Fundament, auf das sich die positivistische Kultur stützt, verständlich zu machen. Das Bild der Wirklichkeit, deren kausale Gesetze unabhängig von den Ideen und Handlungen des Menschen funktionieren, findet seine Darstellung in der mechanistischen Welt. Es muss klargestellt werden, dass für Schmitt angesichts der unüberbrückbaren Trennung zwischen realer und ideeller Perspektive nur die ideelle Perspektive den Platz einer Perspektive der Kontinuität einnehmen kann. Doch die veräußerlichte Idee muss sich über dem Abgrund der Kontingenz halten, was ihre Repräsentation verlangt und von keinerlei Instanz geleistet werden kann. Die Konfrontation zwischen Recht und Macht untersucht diese Instanz: Was ermöglicht es, eine politische Tat als gerecht zu qualifizieren? Was erlaubt es, eine Handlung einer staatlichen Institution von der Tat einer kriminellen Organisation zu unterscheiden? Der Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung ist von der Handlung eines menschlichen oder übermenschlichen Wesens unabhängig. Dieses von der menschlichen Entscheidung oder Handlung autonome mechanistische Bild wird von Naturgesetzen wie der Evolution beherrscht. Die Antwort kann nicht von der „Meinung der Menschen“, vom Konsens der Mehrheit der Menschen gegeben werden. Schmitt will zeigen, dass aus der Sicht der Rechtstheorie der Hinweis auf die „Meinung der meisten“, der „anständig und billig denkenden Menschen“ sich auf etwas bezieht, „das nicht aus eigener Autorität gilt, sondern nur einen Inhalt bezeichnet, der dem entspricht, was sein soll“.311 Die äußere Manifestation eines quantitativen Inhalts ist lediglich ein Indiz für einen Wert. Das quantitative Kriterium der Meinung der meisten ist lediglich ein Hinweis auf die Wirklichkeit einer psychologischen Tatsache, die nur festgestellt werden kann. Die Anwendung eines quantitativen Maßes bleibt ein Verweis auf die Kraft, die von der Mehrheit der Menschen bestimmt wird. Für Schmitt kann das Recht jedoch nicht aufgrund der bloß faktischen Eigenschaft definiert werden, wie dies bei der physischen oder psychischen Kraft, die von einer Mehrheit ausgeübt wird, der Fall ist, sondern nur aufgrund eines Prinzips, das sich über die Fakten erheben kann. Die Legitimität der Meinung der größten Zahl leitet sich nicht von der Quantität ab, sondern vielmehr von einem Wert, dessen Geltung nicht von der Anerkennung abhängt, die ihm von irgendeinem Menschen zuerkannt wird, auch wenn es sich dabei um einen „anständig und billig denkenden Menschen“ handelt. Der Konsens der Mehrheit der Menschen „wäre nicht Geltungsgrund, vielmehr Indiz 311 Schmitt 2004a, S. 25.
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für einen Wert“.312 Die Verschärfung des Gegensatzes zwischen Recht und Macht, die Schmitt anstrebt, will aufzeigen, dass jede Tatsache der Wirklichkeit eine Wertung verbirgt. Für Schmitt ist die grundlegende Frage jedoch nicht zu wissen, ob es Recht oder Macht ist, was in der Welt vorgeht,313 sondern „ob das Recht aus Tatsachen abgeleitet werden kann“. Auch die Anerkennung des Rechts durch die Menschen ist lediglich eine Tatsache und es fragt sich eben, ob Tatsachen ein Recht zu begründen vermögen. Wird die Frage verneint, so ist der Gegensatz zweier Welten gegeben. Wird das Recht der Macht gegenüber selbständig und unabhängig, so folgt daraus ein Dualismus, der den Antithesen von Sollen und Sein, von normativer und genetischer, kritischer und naturwissenschaftlicher Betrachtung entspricht.314
Wiederholt weist Schmitt in seinen Arbeiten auf die Notwendigkeit hin, die Spannung zwischen der ideellen und der realen Perspektive, die sich, um genau zu sein, zwischen Recht und Macht offenbart, als Dualismus zu betrachten. Der Dualismus weist einen deutlich epistemologischen Charakter auf und offenbart zwei Eigenschaften. Die erste Eigenschaft betrifft die Notwendigkeit, diesen Dualismus anzuerkennen. Die Anerkennung des Bruchs der phänomenologischen Wirklichkeit ist der einzige Weg, die Ideen zu erkennen, die ihr Sinn zu verleihen versuchen. Es ist interessant, dass Schmitts Denken schon in den ersten Schriften von der Ausnahme ausgeht, die hier als Kontingenz und Zufälligkeit begriffen wird, um zu verstehen, was den Staat von anderen Manifestationen der Macht unterscheidet. Es sei darauf hingewiesen, dass die kontingente Struktur der Wirklichkeit a priori kein „Sein“ und „Sollen“ voraussetzt; die dualistische Gestalt stellt zum einen den einzigen Weg dar, mit der Kontingenz umzugehen, und zum andern die Erkenntnis der durch die Ideen ausgeübten Einflusses, ohne dabei die Notwendigkeit der Objektivität zu ignorieren. Die Objektivität erscheint in Schmitts Jugendschriften als wahres Pathos315, der in der Opposition zu einer positivistischen Kultur begriffen wird. Die Annahme, derzufolge derselbe Mechanismus sowohl die innere geistige Welt als auch die äußeren Ereignisse bestimmt, reduziert alles auf eine faktische Dimension und verwandelt so die Ideen in einen Reflex der Äußerlichkeit der realen Tatsachen. Schmitt will das Bild einer konkreten Wirklichkeit im Spiegel des Positivismus und des Liberalismus entlarven. Dieses stellt einen technischen Fortschritt dar, dessen Ausbreitung Konflikte überwindet und die politische Entscheidung durch die Selbstregulierung der Wirtschaft ersetzt. Die Kon312 Schmitt 2004a, S. 26. 313 Man darf nicht vergessen, dass der Vorrang, den Schmitt dem Recht, verstanden als reine, dem Staat und dem Individuum vorgehende Idee, einräumt, logisch und ahistorisch ist und somit seine hermeneutisch-subjektive Methode und nicht eine historisch-objektive Tatsache betrifft. Ansonsten könnte man dem Irrtum verfallen, einen ontologisch geprägten Rechtsnaturalismus oder ein von der Natur vorgegebenes Sollen zu meinen. 314 Schmitt 2004a, S. 26. 315 Am 26. November 1912 findet sich in Schmitts Tagebuch folgender Eintrag: „Bei mir ist das Bedürfnis zu Objektivität, systematischer Betrachtung und Verarbeitung so stark, dass es mich allem wirklichen Leben entfremdet“ (Schmitt 2005h, S. 53).
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struktion dieses Bildes, in dem die Ideale des Positivismus und des Liberalismus verschmelzen, muss enttarnt werden, denn es verbirgt die Kämpfe, Spannungen und politischen Entscheidungen, die es konstruieren. Dies gipfelt in der Substitution der Legitimität durch die Legalität und verhüllt so den politischen Charakter der menschlichen Existenz. In der zweiten Eigenschaft des Dualismus, besteht in Schmitts politischer und juristischer Theorie die einzige Möglichkeit, die Probleme der Wirklichkeit als Verhältnis zwischen Macht und Recht zu erfassen, darin, sie in die Dialektik, in die Polarisierung zwischen gegensätzlichen Elementen zu führen. Deshalb, und obwohl er die Bedeutung von Hegels Dialektik anerkennt, wendet er sie in Der Wert des Staates nicht an, um eine Antithese zwischen dem Individuum und dem Staat, sondern zwischen der faktischen Macht und dem idealen Recht herzustellen. Die die von ihm angewandte dialektische Methode, obwohl von der Dialektik Hegels beeinflusst, sollte mit dieser nicht verwechselt werden. Während für den Philosophen die dialektischen Mittelbarkeiten die aufgrund der Oppositionen erlittenen Verluste wiedergutmachen, führt die Polarisierung zwischen der ideellen Dimension des Rechts und der faktischen Dimension der Macht für den Juristen immer zu einem Verlust. Der Verlust des Ideals bedeutet einerseits die Präsenz der Kontingenz, ohne die die Wirklichkeit sinnlos bleibt, und andererseits den Preis, der für die Verwirklichung der Idee in der Welt bezahlt werden muss. Es sei hier wiederholt, dass die Errichtung einer Brücke zwischen Rechtsideal und wirklichem Leben die Kontingenz niemals ganz aufhebt, aber es erlaubt, der Wirklichkeit eine Form zu verleihen. Die Form durchdringt die Wirklichkeit mittels relativ unversehrter Ideen, d.h. die in der Lage sind, ihre Homogenität angesichts der parteipolitischen Kämpfe der vielfältigen Wirklichkeit zu bewahren.316 Schmitts dialektischer Gegensatz kann nur durch Größen realisiert werden, die in der Lage sind, sich gegenseitig zu konfrontieren. In diesem Punkt weicht Schmitt von Hegel ab, der den Staat dem Individuum entgegensetzt: Der Staat ist […] das einzige Subjekt des rechtlichen Ethos, der Einzige, der eine Pflicht zum Recht im eminenten Sinn hat; das konkrete Individuum dagegen wird vom Staate gezwungen, und seine Pflicht wie seine Berechtigung sind nur der Reflex dieses Zwanges. Die Antithese ist die von Recht und Staat, nicht von Recht und Individuum, und der Hegelsche Satz, dass das Recht die Einheit zwischen unpersönlicher Regel und dem Individuum sei, ist im Sinne dieser Ausführungen dahin abzuändern, dass das positive Recht die Einheit zwischen der unpersönlichen, überempirischen Regel und dem Staate ist. Das empirische Individuum scheidet ganz aus; der Staat als Macht und daher als Nicht-Recht steht dem Rechte gegenüber, um es zu verwirklichen.317
Das Individuum hat nicht die Kraft, seine empirische Wirklichkeit zu leugnen, so dass die Polarisierung nur zwischen Staat und Recht erfolgen kann. Da das Recht eine ideale, reine und transzendente Perspektive darstellt, kann es sich nicht selbstverwirklichen. Die Schmittsche Dialektik setzt dem Recht nicht das Recht 316 Schmitt 2004a, S. 79. 317 Schmitt 2004a, S. 86.
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entgegen, sondern die Macht. Deshalb ist der Staat der einzige mit Kraft und Fähigkeit ausgestattete Vertreter der empirischen Welt. Er stellt das einzige Subjekt der empirischen Welt dar, das nicht nur in der Lage ist, politisch zu handeln, sondern auch Verantwortung für seine Taten zu übernehmen. Anders ausgedrückt, ist er fähig, sein Handeln an Prinzipien auszurichten und folglich Parteifragen, Machtverhältnisse und persönliche Interessen zu transzendieren. Der Staat ist die einzige Kraft, die in der Lage ist, sich mit der Verwirklichung des Rechts zu konfrontieren und damit jeden anderen Verband, Betrieb oder menschliche Gruppierung von dieser Verantwortung auszuschließen. Der letzte Teil des Zitats verlangt besondere Vorsicht, denn Schmitt behauptet da, dass das Recht nur mit einer staatlichen Größe konfrontiert werden kann. Der Staat wird jedoch als „Nicht-Recht“ begriffen und das bedeutet, dass das Recht nicht notwendig ist, um Recht zu verwirklichen. Hier scheinen mir zwei Punkte von Bedeutung zu sein. Der erste betrifft die Unmöglichkeit, dass das Recht sich selbst verwirkliche, so wie auch die Norm nicht auf sich selbst angewendet wird. Hier findet sich implizit die Kritik am unmittelbaren Denken, das aus der Geltung des Rechts seine eigene Verwirklichung ableitet. Der zweite, vielleicht noch wichtigere Punkt besteht in der Tatsache, dass der von Schmitt gedachte Staat eine juristische Ordnung herzustellen beabsichtigt, deren Einführung eine politische Handlung erfordert: eine aus der normativen Sicht des Rechts unvorhersehbare und unverständliche souveräne Entscheidung, denn um diese Entscheidung erkennen zu können, bedarf es der realen Situation, die der Sicht des Sollens unzugänglich ist. Hier ahnt man schon die Konfrontation zwischen dem Normativen und dem Existentialismus, der – des abstrakten Charakters von Der Wert des Staates ungeachtet – verhindert, dass seine Staatsphilosophie zu einer Ansammlung leerer Formulierungen, zu Abstraktionen ohne Verpflichtung in Bezug auf die Säkularisierung oder die Verwirklichung des Rechts wird. Es ist außerordentlich wichtig zu erkennen, dass eine politische Ordnung sich nur als solche in dem Maße bestimmt, in dem eine klare Unterscheidung zwischen Recht und Macht getroffen und die Macht so gezwungen wird, zu einer Funktion des Rechts zu werden.318 Hier findet sich schon eine Annäherung an das Problem der Souveränität, das Schmitt in seinen Arbeiten Die Diktatur (1921) und Politische Theologie (1922) behandelt. In seiner Analyse des Verhältnisses zwischen Recht und Macht tritt Schmitt der Auffassung entgegen, die das Recht mit dem geltenden positiven Recht gleichsetzt. Der Jurist widerspricht der Position, die die Rechtsidee auf das geltende positive Recht reduziert. Er meint: „Die Sphäre des Rechts kann dabei nicht mit dem Gebiet des positiven, tatsächlich geltenden Rechts, abgeschlossen sein“.319 Die Gleichsetzung des Rechts mit dem positiven Recht heißt, den Gegensatz zwischen Recht und Wirklichkeit verleugnen. Dies darf nicht unbeachtet bleiben, denn die Reduktion des Rechts auf die Tatsache verschleiert die kritische, 318 Siehe diesbezüglich die Seiten 28-33 von Reinhard Mehrings Arbeit Carl Schmitt zur Einführung aus dem Jahre 2001. 319 Schmitt 2004a, S. 26.
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normative und wertende Dimension des Rechts. Wenn alles Recht auf das positive Recht reduziert würde, gäbe es keinen Platz für die Argumentation noch für deren Beweisführung. Es gäbe somit auch keine Erkenntnis: Soll das Recht aber zur Macht, das heißt zu einer bloßen Tatsache werden, so kann es sich an keiner Stelle über die Tatsächlichkeit erheben; in jeder einzelnen Rechtsausführung darf nicht von Schlüssen und Argumenten, sondern nur von Fakten gesprochen werden und alles, was je als „Gründe“ einer Entscheidung vorgebracht wurde, löst sich in ein großartig verschleiertes argumentum ab utili auf.320
Wenn das Recht zu Macht wird, wird die Möglichkeit, den Relativismus der faktischen Welt zu transzendieren, ausgeschlossen. Ohne die Transzendenz der juristischen Prinzipien, d.h. einer ideellen Dimension, gibt es kein Argument und keinen Schluss und jede Entscheidung wird zur bloßen faktischen Befehlsgewalt. Hinter der Behauptung der Tatsächlichkeit der Macht verbirgt sich jedoch ein Nützlichkeitsargument, denn die Nützlichkeit ist immer Manifestation eines Werturteils. Der Nützlichkeitswert ist das Resultat der Verwechslung einer Aussage über die Wirklichkeit mit der tatsächlichen Wirklichkeit. Das Nützlichkeitsargument kann sich angesichts seiner Unfähigkeit zur Form aufgrund seines Relativitätszustands, d.h. aufgrund seiner Herkunft aus einem empirischen Einzelwesen, vor der Tatsächlichkeit nicht erheben. In Gesetz und Urteil hatte sich Schmitt bemüht zu zeigen, dass die richterliche Entscheidung nicht das Ergebnis einer Subsumtion oder einer syllogistischdeduktiven Operation ist. Das von einem Richter gesprochene Urteil ist nicht das Ergebnis der idealerweise der Entscheidung der Tatsache vorausgehenden direkten Übertragung der Tatsache (oder der Lösung). Schmitt versuchte den Bruch im Übergang der idealen Ebene der Norm zur konkreten Wirklichkeit im Moment der Gesetzesanwendung aufzuzeigen. Dieser Bruch jedoch, genauer, die Kontingenz, bestand für ihn nicht nur in einem vorübergehenden Moment, nicht nur in einer peripheren Situation im Rechtsbereich, sondern war ein zentraler Aspekt, der in allem Recht anwesend war. Im vorausgehenden Kapitel habe ich hervorgehoben, wie Schmitt einen Bruch zwischen dem Idealen und dem Privaten, dem Abstrakten und dem Konkreten, der Form und dem Inhalt voraussetzt. Daher entsteht die Entscheidung aus einem normativen Nichts, d.h. aus einem Moment der Indifferenz jeglichen normativen Inhalts. Die Notwendigkeit, zum vielleicht wichtigsten Aspekt von Gesetz und Urteil zurückzukehren, begründet sich in der Kontinuität des Schmittschen Unterfangens, die Rechtsidee mittels einer Entscheidung zu säkularisieren oder, anders ausgedrückt, das Recht in die komplexe politische und soziale Wirklichkeit einzuführen. Diese Bedeutung der Säkularisierung in Schmitts Arbeiten, die auch „Rechtsverwirklichung“ genannt wird, kann nur durch die politische Macht des Staates realisiert werden. Wenn in Gesetz und Urteil das Entstehen des Themas der Entscheidung an die Gestalt des Richters gebunden war, so wird in Der Wert des Staates die Entscheidung, genauer: die politische Handlung, durch welche sich das Recht verwirklicht, 320 Schmitt 2004a, S. 27.
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in der Sphäre des Staatsrechts untersucht. Die Untersuchung der juristischen Praxis wird in Der Wert des Staates anhand der Diskussion über die unerschütterliche Spannung in der Verwirklichung der idealen Rechtsdimension durch die politische Handlung entwickelt. In beiden Arbeiten, vor allem aber in Der Wert des Staates, entsteht der Sinn der Säkularisierung in enger Verbindung mit der Legitimität, da die Souveränität der politischen Macht sich nur durch das Paradox legitimieren lässt, dass ihre Handlungen zwar an Ideen gebunden sind, aber auch fähig sind, sich von den Ideen zu lösen, um diese zu erhalten. Die Legitimität dieser Staatstheorie, die eine Form beansprucht, macht sich in der Eigentümlichkeit des politischen und gleichzeitig juristischen Seins bemerkbar und findet ihre Entscheidungsmitte durch die Verwirklichung des Rechtsideals in der staatlichen Institution. Das Risiko, dass die juristische Form sich nur als politische Form – eines durch die Rechtsidee legitimierenden Sinns enthoben – darstellen könnte, macht sich in der Unmöglichkeit, eine Unterscheidung zwischen Geltung und Tatsächlichkeit zu treffen, bemerkbar. Das hieße jedoch, dem gleichen Irrtum verfallen, dem auch der juristische Positivismus verfällt, wenn er das Recht aus der Macht ableitet. Die Begründung, wonach jedes Recht positiv ist, weil es sich aus dem tatsächlichen Willen einer politischen Macht ableitet, ist genau das, was Schmitt vermeiden will. Schmitt ist sich dieses Problems bewusst: Wer die Behauptung aufstellt, alles Recht sei notwendig positiv, wer die Begründung des Rechts mit den positives Recht „erzeugenden“ Vorgängen abschließt, bekennt sich damit eben zur Machttheorie und verneint den unvereinbaren Gegensatz von Recht und Tatsache, und den Satz: non potest detrahi a jure quantitas.321
Schmitts Versuch, der politischen Macht Würde, Wert oder Legitimität zu verleihen, ist Folge der Krise des juristischen Verständnisses von Staat,322 der Bedrohung, dass die juristische Ordnung durch die staatliche Macht mittels physischen oder psychischen Zwangs hergestellt werde. Die Notwendigkeit, den logischen Vorrang eines in Bezug auf die Macht reinen, wertenden und qualitativen Rechts verfolgt nicht die Absicht, eine Metaphysik oder ein Naturrecht wiederherzustellen. Das Anliegen, das Recht von seiner empirischen, quantitativen und relativistischen, in der Form einer tatsächlich geltenden Grundlage übersetzten Begründung zu befreien, beruht auf der Notwendigkeit, die politische Handlung einer Macht gemäß dem normativen Kriterium des „Sollens“ anzuleiten. Das Recht kann nicht auf eine Tatsache oder auf ein „Sein“ reduziert werden, das nur durch die Erfah321 Schmitt 2004a, S. 27. 322 Dieses Problem ist eng mit der Abnützung der dynastischen Legitimität verwandt (Mehring 2001, S. 29). Das Vakuum, das durch die Unmöglichkeit einer auf Blutverwandtschaft basierenden Nachfolge entsteht, bewirkt eine Krise der politischen Repräsentation. Hasso Hofmann interpretiert den logischen Vorrang des Rechts, dessen Absicht den Staat zu einer Funktion des Rechts erhöbe, sowohl in Kelsens als auch in Schmitts Denken als eine Kontinuität der Bildung und als neue Betonung des Nachdenkens über die staatliche Souveränität. Diese wurde „wegen seiner Akkommodation an das monarchische Prinzip diskreditiert“. So würde der Souveränität des Staates einen neue neutralisierende politische Funktion verliehen (Hofmann 2002, S. 41).
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rung, Wahrnehmung oder Beweisführung begriffen werden kann. Die Existenz der faktischen Wirklichkeit kann nicht durch die Sinne nachgewiesen oder begriffen werden, da diese nicht in der Lage sind, Bewertungen vorzunehmen. Die Kenntnis der Fakten oder eines Willens ist der sensorischen Fähigkeit unzugänglich, woraus sich die Notwendigkeit einer Grundlage der wertenden Geltung ergibt. Deshalb meint Schmitt: Eine Tatsache lässt sich nicht weg demonstrieren, ein Wille lässt sich nicht dadurch als vorhanden erweisen, dass er als vernünftig und richtig erwiesen wird. Für keinen sind Kants Angriffe auf den ontologischen Gottesbeweis wichtiger als für den Juristen.323
Hier erscheint weniger Descartes als vielmehr Kant, der der alten Metaphysik den tödlichen Stoß verleiht, indem er die ontologische Einheit, in der sich Sein und Denken, Essenz und Existenz vereinigt sahen, sprengt. Der kantische Angriff gegen den ontologischen Gottesbeweis versuchte die Vorstellung zu eliminieren, dass das, was ich rational hervorbringe, auch sein soll.324 Schmitt erachtet die Erschütterung des ontologischen Gottesbeweises als unverzichtbar für die positivistischen Juristen seiner Zeit, die, indem sie den Triumpf der objektiven empirischen Vernunft feierten, das „Sollen“ mit dem „Sein“, das Recht mit der Macht, die juristische Norm mit dem Willen der tatsächlichen Befehlsgewalt verwechselten. Der juristische Positivismus stellt sich in diesem Sinne als eine Form der politischen Theologie dar, indem er die Transzendenz des Sollens zu einem immanenten Teil der Natur der Wirklichkeit machte. Die Eingliederung des Sollens in die empirische Wirklichkeit verwandelte das göttliche Sein in einen kausalen Mechanismus der Natur und verlieh dem Recht eine kontemplative Haltung, da das Funktionieren der – von der menschlichen Handlung unabhängigen – Kausalgesetze auf das soziale Leben ausgeweitet hatten. Schmitt verwendet die Dialektik, um das der „Machttheorie“ immanente Kausalitätsprinzip zu unterlaufen. Er sucht aufzuzeigen, dass diese Theorie, indem sie Recht und Macht miteinander verbindet, außer der kausalen keine Erklärung bieten könne. Der kausale Mechanizismus verhinderte jedwede Form einer Bewertung des Rechts und beraubte es so seines Sinns: Die Theorie, die das Recht an irgendeinem Punkte mit der Macht zusammenbringt, müsste konsequent auf jede andere als eine kausale Erklärung verzichten, alles Recht und alle Rechtsnorm in ein Spiel treibender oder hemmender Kräfte auflösen, bei dem eine Bewertung oder ein Pathos der Billigung und Missbilligung sinnlos wäre – oder nicht einmal sinnlos, da in dieser Qualifizierung bereits wieder eine Missbilligung enthalten ist.325
Sicherlich bietet der Determinismus einer kausalen Kette keine Möglichkeit, ein Urteil der Billigung in Bezug auf die Wirkung einer Ursache zu bewerten oder zu treffen. Wie aber kann diese Billigung oder Missbilligung gleichzeitig „sinnlos“ sein und – aufgrund der in ihr enthaltenen Missbilligung – doch einen Sinn ha323 Schmitt 2004a, S. 27. 324 Arendt 1993, S. 20. 325 Schmitt 2004a, S. 28.
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ben? Es handelt sich hierbei um ein scheinbares Paradox oder um einen scheinbaren Widerspruch, denn in jeder Aussage über die Wirklichkeit ist eine Wertung oder Entwertung, ist ein Wert enthalten. Die Auswahl eines bestimmten Phänomens der Wirklichkeit stellt immer auch eine Wertung dar. Die Schmittsche Dialektik versucht, indem sie Macht und Recht einander entgegensetzt, die für den Positivismus – den der Autor auch „Machttheorie“ nennt – typische Verwechslung zwischen einem über die Wirklichkeit getroffenen Urteil mit der Wirklichkeit selbst aufzudecken. Das dialektische Verfahren des Dualismus, das der Idee die Wirklichkeit entgegensetzt, gehört mit zum Sinn, den Schmitt der Säkularisierung zuschreibt. Was ich hier aufzuzeigen versuche, ist, dass Schmitt, angesichts des Mechanizismus der positivistischen Zeit, anders als Hobbes nicht gegen einen religiös geprägten Determinismus angeht, der aus der Interpretation der Heiligen Schriften hervorgeht. Schmitt kämpft gegen eine andere Art des Determinismus: gegen jenen nämlich, den eine „Zeit des Positivismus“ hervorgebracht hat, die hauptsächlich am Ende des 19. Jahrhunderts in Europa ihre Wurzeln schlägt und sich mindestens bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs erstreckt. Es ist notwendig zu erkennen, dass die Vorstellung des Positivismus trotz seiner Krisen und Kontroversen auch heutzutage noch immer als Gespenst umgeht, vor allem in der Form einer technizistischen Sichtweise des Rechts. Die Übertragung der Entscheidungen der „westlichen Demokratien“ auf den Willen des Gesetzes ist ein Echo der mechanischen Sichtweise, die auf dem quantitativen Kriterium und der Naturalisierung des Legalitätsprinzips beruht, deren Wirkungen die politischen Entscheidungen und Handlungen überdecken. Der wachsende Glaube an den von der Unmittelbarkeit zwischen Individuum und Ideen, Handlung und Reflexion, Recht und Macht geprägten Technizismus hat seinen Ursprung im Vertrauen auf den empirischen Rationalismus. Mit der Absicht, diese Form des Rationalismus zu untergraben, für die das Recht aus der Macht hervorgeht, meint der Jurist: Es ist nämlich möglich, aus der Definition des Rechts als Macht eine Bewertung herauszuhören, die an dem Begriffe der Macht zu hängen scheint, indem jede, wenigstens jede relativ dauernde und beständige Macht als berechtigt und begründet – nicht bloß erklärlich – aufgefasst wird.326
Jeder Definition des Rechts als Macht liegt eine Bewertung zugrunde. Daher enthält auch jede Aussage über die politische Macht, die zumindest relative Dauer besitzt, ein Urteil, das nicht dem „Sein“, sondern dem „Sollen“ zugehört. So versucht Schmitt zu zeigen, dass jeder Versuch einer Beschreibung des Rechts als Wirkung einer faktischen Macht ein Urteil als Aussage über das „Sein“ enthält, während in Wahrheit jede Aussage sich immer auf den Bereich des „Sollens“ bezieht. Hier erkennt man Schmitts Bemühen, die Hypostasen und Tautologien zu unterlaufen, um so aufzuzeigen, dass die auf die Macht bezogenen Aussagen Bewertungen darstellen – und nicht Inhalte einer Substanz. Das Symptom der Un326 Schmitt 2004a, S. 29.
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mittelbarkeit des Subjekts des Urteils und der äußeren Manifestation des untersuchten Objekts offenbart sich in der Abwesenheit einer Unterscheidung zwischen natürlicher Welt und der reinen Wahrnehmung der Dinge. Werte, Prinzipien, Begründungen, Bewertungen widersprechen in dieser unmittelbaren Sicht nicht dem Universum der faktischen Machtverhältnisse. Die von dem Wort „Macht“ hervorgerufenen Assoziationen enthalten immer eine Wertung oder „ein Moment anerkennenden Respekts, wodurch es möglich wird, das Recht zu einer besonderen Art Macht“ zu machen.327 Das Fehlen von Unterscheidungen zwischen einer Erklärung des konkreten sozialen Lebens und wertenden Postulaten kann z.B. in der Theorie der natürlichen Auslese und im Utilitarismus festgestellt werden. Was Schmitt zufolge den Menschen auf lange Sicht verpflichten könne, sei eine Wertungsgrundlage oder ein Wertungsurteil, nicht weil es mächtiger, sondern weil es besser sei. Die „bessere Einsicht“ ist aber nicht Resultat einer empirischen Auslese. Der Jurist betont: Am Schlusse kann es nur die bessere Einsicht sein, die als solche die Menschen zwingt, nicht weil sie die mächtigere, sondern weil sie die bessere ist. Darin liegt aber die Begründung aus einer Bewertung, die keine empirische mehr ist. Die Bewertung wird auch nicht dadurch ausgeräumt, dass nur die Einsicht die bessere genannt wird, die als Ergebnis einer Auslese im Kampf der Meinungen und im Laufe der Zeit überlegen bleibt; denn jede evolutionistische Selektionstheorie muss schon deshalb von Werten ausgehen und Werte voraussetzen, weil in der Behauptung einer ziellosen Entwicklung eine contradictio in adjecto liegt.328
Der Autor wendet sich auch gegen die utilitaristische Vorstellung, die in allem Recht ein Spiel der Interessen sieht. So meint er: „Das Wort Interesse enthält den Gegensatz zu jeder Norm und soll ausdrücklich im Tatsächlichen, Erfahrungsgemäßen, verbleiben; tritt es in der Definition des Rechts auf, so soll damit die Norm, die jenseits aller Interessen liegt, eliminiert werden.“329 Das Interesse vernichtet das Recht, denn seine konkrete Partikularität verhindert die Transzendenz des „Sollens“ angesichts der phänomenologischen Welt. Schmitt versucht, das der utilitaristischen Sichtweise zugrundeliegende wertende System aufzudecken, demzufolge das Ungerechte einen Affront gegenüber einem Interesse darstellt, indem es als „rein empirische Tatsache“ erscheint. Dieser Theorie zufolge „muss erst ein Interesse verletzt sein, ehe die Menschen auf den Gedanken kommen, es zu schützen“. Das heißt, dass erst ein Mord geschehen müsste, bevor man zum Schluss kommt, dass das Leben ein geschütztes Interesse sei, und „es eine Norm gebe, nach der der Mord etwas Verwerfliches ist“.330 Dem Gedankengang des Juristen weiter folgend, wäre der Prototyp jeder juristischen Handlung eine defensive Haltung gegen jede Art von Angriff, „die sich von der instinktiven Rachsucht des Wilden zur sozialen Verteidigung emporläutert und veredelt“. In diesem Fall jedoch wird das Motiv des Bewusstmachens 327 328 329 330
Schmitt 2004a, S. 29f. Schmitt 2004a, S. 32. Schmitt 2004a, S. 32. Schmitt 2004a, S. 32f.
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der Norm mit der Geltungsgrundlage verwechselt, und „die Theorie läuft auf eine kausale Erklärung der Norm aus der psychischen Tatsache der Gewöhnung hinaus“. Der Jurist verneint vehement, dass eine Norm ihren Geltungsgrund in einer kausalen Erklärung des psychischen Aspekts finden könne. Er argumentiert, dass die „Vorstellung der Interessenverletzung, die in solchen Ausführungen obwaltet und allein den Schein der Leichtverständlichkeit bewirkt, jedoch stets ein normatives Element enthält, das entweder in dem ‚Interesse‘ oder in der ‚Verletzung‘ gefunden wird“.331 Hier handelt es sich um einen grundlegenden Punkt in Schmitts Denken, denn das „Interesse“ und die „Verletzung“ sind empirische Elemente, Umstände, die sich je nach der konkreten Wirklichkeit ändern. Das Recht kann nicht aus einem wie auch immer gearteten Interesse hervorgehen. Während das Recht seinen Ursprung in der Entscheidung nach der transzendentalen Form der Norm hat, ist das Interesse empirisch, kontingent, prekär und von der Heterogenität seines Inhaltes geprägt. Dem Recht ist es gleichgültig, ob das Interesse ein individuelles oder kollektives ist, denn die Interessen sind variable Inhalte, die sich den konkreten Fällen gemäß verändern. Interessen gehören der Relativität der empirischen Sphäre an und sind daher unfähig, sich in einer logisch-metaphysischen Form zu konstituieren.332 Schmitts Rechtsauffassung kann der Wirklichkeit nur in dem Maß eine Richtung geben, in dem sie in der Lage ist, sich ihr entgegenzustellen, um nachträglich die der Wirklichkeit inhärente Diskontinuität zu überlagern. Das Recht kann ein Prinzip nur objektivieren333, wenn es in Bezug auf den Relativismus der auseinandergehenden Interessen autonom ist. Das Problem des Interesses liegt nicht in seinem Inhalt, ebenso wenig in dem, der die Verletzung erleidet, denn „nicht jeder ist taugliches Subjekt eines Interesses; es wird rechtlich nicht als Verletzung der Interessen des Tieres betrachtet, wenn es geschlachtet wird“.334 Daraus ergibt sich in diesem Gedankengang die entscheidende und für jede Untersuchung des Verhältnisses zwischen Recht und Politik unverzichtbare Frage, „wer darüber entscheidet, ob eine Interessenverletzung vorliegt, der angeblich Verletzte oder eine höhere Instanz“.335 Nur eine höhere Instanz wäre in der Lage, darüber zu entscheiden, welches Interesse aus der Sicht der Rechtsidee relevant ist. An dieser Stelle müssen nun zwei Punkte erwähnt werden, die für die von Schmitt formulierte Idee der Säkularisierung wesentlich sind. Der erste bezieht sich auf die höhere Instanz und auf die Entscheidung und bildet den semantischen Kern der Säkularisierung. Die Verwirklichung eines Ideals in der Sphäre des Wirklichen – der Prozess der Objektivierung – definiert das, was der Jurist unter Säkularisierung versteht. Dieses in die politische staatliche Tätigkeit der sinnstiftenden Einführung von Ideen in 331 Schmitt 2004a, S. 33. 332 Schmitt 1994l, S. 53. 333 Schmitt hält fest, dass „die Sachlichkeit, in deren Anerkennung die Anerkennung der Objektivität liegt, sich nur aus der Norm ergibt; sie ist also, so paradox es vielen klingen mag, das Gegenteil einer bloßen Tatsächlichkeit“ (Schmitt 2004a, S. 98), 334 Schmitt 2004a, S. 33. 335 Schmitt 2004a, S. 33.
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der Welt übersetzte Unternehmen kann mittels der Entscheidung stattfinden. Die politische Handlung der Entscheidung kann nur von der Höhe einer Macht aus erfolgen. Die Frage nach demjenigen, das über Recht und Unrecht, über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit entscheidet, bildet die zentrale Achse des Schmittschen Dezisionismus. Die Entscheidung über die Interessensverletzung kann nicht auf die Forderung eines, zweier oder hunderter Individuen übertragen werden, sondern steht einer höheren Instanz zu, die die geltende Norm bestimmt. Ich glaube nicht, dass es möglich ist, diese Frage auf eine rein autoritäre Auffassung von Staat zu reduzieren, denn das Denken des Autors richtet sich nicht an der Institution der Zwangsmaßnahme aus, sondern an der Untersuchung einer juristischen Form, die in der Lage wäre, den Relativismus der empirischen Wirklichkeit mittels Regeln anzuleiten. Das Rechtsverständnis als Interesse besitzt keine Form, weshalb es unfähig ist, eine der Sphäre der Parteikämpfe transzendente Einheit herzustellen. Die Norm aus dem Interesse abzuleiten ist gleichbedeutend mit dem vielgenannten Vergleich von dem Baron von Münchhausen, der sich selbst am Schopfe aus dem Sumpf zieht, [und der] nicht etwa den trifft, der die Norm vom Interesse unabhängig machen will, sondern gerade den, der sie aus dem Interesse ableitet, das er der Norm unterwirft.336
Die Definition des Rechts als aus einem Privatinteresse abgeleitete Norm führt zur Vereinzelung, zur Privatisierung des normativen Sinns und schließt so die Möglichkeit einer Gestaltung der sozialen Wirklichkeit aus. Die Anspielung auf den Baron von Münchhausen hebt die Unmöglichkeit hervor, die Geltungsgrundlage des Rechts dem Interesse zu entnehmen, dessen Charakter fragmentarisch und prekär und demzufolge unfähig ist, eine Form anzunehmen. Diese setzt eine Einheit voraus, die von der Idee herrührt, deren Konkretisierung von der Höhe einer Macht ausgeht. Unten, im „Sumpf“ der Spiele der Interessen, lösen sich die Ideen auf. Die Untersuchung der juristischen Form, die fähig ist, als Trägerin von Ideen auf der realen Ebene zu dienen, ohne sich in der Heterogenität aufzulösen, entspricht dem Anliegen der Objektivierung. Dieser Weg wird in einer bestimmten Vorstellung münden, die im Gegensatz zur Zeit des Triumpfs der empirischen Objektivität des Positivismus im Allgemeinen steht. Insbesondere der juristische Positivismus setzt Recht und Macht oder Recht und Interesse gleich, da nur die empirische Behauptung des Rechts ihm Gültigkeit verleiht. Das Recht ist hier bloßer Ausdruck des Interesses des Stärkeren. Somit fragmentiert der Positivismus den Versuch einer Einheit oder einer Kontinuität des Sinns, eine Ausrichtung der Wirklichkeit an der Repräsentation von Ideen. Der Verzicht einer Entscheidung für die juristische Anpassung der Wirklichkeit bedeutet, das normative Rechtsideal im Relativismus des Interesses der Stärkeren aufzulösen. Deshalb stellt Schmitt auch die Frage nach der Objektivierung des juristischen Denkens oder nach dem
336 Schmitt 2004a, S. 33.
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normativen Ideal dem kollektiven Interesse entgegen. Mit dem Ziel, die utilitaristische Theorie zu verwerfen, schlägt er vor: Denkt man sich den Menschen in einer Gemeinschaft und spricht man davon, dass in einem konkreten Falle eine Interessenverletzung gegeben sei, auf welche die Gemeinschaft reagiere, so ist dem verletzten Einzelnen das Urteil abgenommen. Die Gemeinschaft urteilt aber nicht über das eigene Interesse oder das subjektive des einzelnen, im konkreten Falle Verletzten, sie gibt sich nie als Richterin in eigener Sache, sondern beruft sich auf die „objektive“ Norm.337
Das Beispiel wirft Licht auf das Bemühen, aufzuzeigen, dass die Form der Veräußerung der Rechtsidee, d.h. einer Norm, nicht in der subjektiven Sphäre des Einzelinteresses oder im kollektiven „Recht“ der Gemeinschaft ruhen kann. Wäre das Interesse der Gemeinschaft oder einer Allgemeinheit bestimmend für die Entscheidung des bestehenden Interessenkonfliktes, dann wäre dieses Interesse ebenso das Interesse der Allgemeinheit. Das Recht dieser Gemeinschaft wäre „in Wahrheit nur Macht“, denn im Falle einer Interessenverletzung eines Mitglieds wäre sie eine von der Verletzung betroffene Partei, die ihr Interesse durchsetzt.338 Die Autorität, die Schmitt aus seinem Staatsbegriff zu entnehmen versucht, entstammt dem Recht und nicht den in einen Interessenkonflikt involvierten Parteien. Entwickelt als logisch vorgehende Idee wirkt das Recht durch die Vermittlung der staatlichen Entscheidung als transzendentes Prinzip, das ein Maß für die Dinge bietet, in unserem Fall also für das Gerechte und Ungerechte. Bisher hat der Jurist nur danach gefragt, ob die von der Gemeinschaft geschützten Interessen auch würdige Interessen wären oder ob eine Überlegenheit des allgemeinen Interesses vor dem Privatinteresse bestünde. Doch „der Grund der Überlegenheit der Gesamtinteressen [ist] nicht aus dem bloßen Interesse zu deduzieren“.339 Daher zielt Schmitt auf die Entlarvung des wertenden Fundaments der Definitionen des Rechts als Macht oder Interesse. Deshalb verstärkt er den unüberbrückbaren Antagonismus zwischen Recht und Macht, um aus dieser Polarisierung die letzten Konsequenzen zu ziehen. Die Verschärfung des Gegensatzes zwischen „allgemeinem Interesse“ und „Einzelinteresse“, zum Beispiel, enthält Wertungen, die es erlaubten, „die Macht zum Recht zu erheben“. Die Verstärkung der Kollision zwischen Interessen oder Mächten erreicht einen Punkt, an dem die Kraft aufhört sich zu manifestieren und einer Begründung Platz macht, womit man in die juristische Sphäre der Wertung eintritt. Deshalb sagt der Jurist, dass „die Definition des Rechts da beginnt, wo die Macht gleichgültig wird“.340 Der Moment der Gleichgültigkeit ist der Punkt, an dem die Kraft sich in Recht verwandelt. Die Verstärkung des dialektischen Antagonismus verfolgt in erster Linie die Absicht, die Unvereinbarkeit zwischen Recht und Macht aufzuzeigen und, zweitens, den Moment deutlich herauszustellen, in dem die Macht 337 338 339 340
Schmitt 2004a, S. 33. Schmitt 2004a, S. 34. Schmitt 2004a, S. 34. Schmitt 2004a, S. 34.
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oder das allgemeine oder private Interesse sich aufgrund anderer als quantitativer oder physischer Gründe zu erhalten vermag, indem Begründungen, Argumenten, kurz, Legitimitätsgründen Platz gemacht wird. Keine politische Institution kann ihre Dauerhaftigkeit durch die Durchsetzung faktischer Macht garantieren. Drittens würde sich hinter der Definition der Macht als Negation des Rechts der Zweck verbergen, diese als legitim darzustellen. In jeder Verneinung der Berechtigung des Rechts, wie sie in der Definition als Macht enthalten ist, versteckt sich das Unterfangen, dafür die Berechtigung der Macht darzutun; die Definition erniedrigt nicht das Recht, sondern erhebt die Macht, sie war nur möglich, weil vorher die Macht schon als Recht gedacht war.341
Diese Formulierung beabsichtigt aufzuzeigen, dass in jeder Definition der Macht als Negation des Rechts eine Qualifizierung der Macht enthalten ist und dass jeder Versuch einer Definition der Macht den Zweck ihrer Begründung oder Legitimierung offenbart. Die Qualifizierung der Macht setzt eine Bewertung voraus, was den logischen Vorrang des Rechts in Bezug auf die Macht beweist. Deshalb sagt Schmitt in seiner Arbeit Politische Theologie, dass die Macht dem Recht nichts beweise, und er würde wohl Rousseau darin zustimmen, dass das Wort Recht der Kraft nichts hinzufügt.342 Nun, die Macht, als physische Kraft begriffen, beweist dem Recht nichts und das Recht fügt der Kraft nichts hinzu, weil der Kraft nachzugeben einen Akt der Notwendigkeit darstellt und nicht des Willens.343 Die Durchsetzung der Macht durch physische Kraft oder die Kraft der Waffen ist weder berechtigt noch legitim, denn die Unterwerfung durch Zwang ist im Mechanismus der Kausalitätsgesetze der tatsächlichen Wirklichkeit gefangen. Schmitts Argumentation versucht, „die Theorie, die das Recht als Tatsache erklärt“, oder als faktische Kraft, zu unterlaufen, denn die Kraft besitzt in sich selbst keinen Sinn.344 Wie wir schon gesehen haben, ist es nicht möglich, Recht und Macht, Idee und faktische Wirklichkeit gleichzusetzen, da diese positivistische Haltung, indem sie die objektive Realität der Idee vorzieht, der Wirklichkeit jeden Sinn raubt. Rousseaus Erklärung, wonach „die Pistole des Banditen auch eine Macht“ ist, wird von Schmitt in seiner Politischen Theologie zitiert, um zu zeigen, dass, ohne Verweis auf eine Idee, jede Macht unverständlich ist. Wenn die Macht nicht auf etwas außerhalb ihrer selbst verweist, wie auf die Rechtsidee, ist es nicht möglich festzustellen, ob die Pistole dem Banditen oder dem Staat gehört. Somit versucht Schmitt nicht nur, die Reduktion des Rechts auf die Macht zu untergraben, sondern auch die Trennung zwischen Recht und Macht zu verschärfen. Die Betonung des Dualismus zwischen Idee und Wirklichkeit verdankt sich der Notwendigkeit, klare Unterscheidungen zwischen dem Gesetzlosen und dem Gesetzestreuen tref341 Schmitt 2004a, S.34f. 342 Im selben Sinne unterstreicht Rousseau auch, dass die faktische Macht, die ein Mensch über seinesgleichen ausübt, keinerlei Recht bewirkt (Rousseau 1973, S. 32). 343 Rousseau 1973, S. 32. 344 Schmitt 2004a, S. 34.
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fen zu können. Das Beharren auf dem unüberbrückbaren Abgrund zwischen Recht und Macht will zeigen, dass die vermittelnde Funktion der staatlichen Entscheidung zwar eine Verbindung herzustellen, niemals aber das Recht auf die Macht zu reduzieren vermag, ohne diese ihres Sinns zu berauben. Meines Erachtens ist nun deutlich geworden, dass das Recht der Macht Sinn verleiht, in einer Weise, dass darin die Idee der Legitimität enthalten ist. Ohne Legitimität oder Verweis auf die Idee ist eine Sichtbarkeit der Machtverhältnisse nicht zu haben. Die objektive Wirklichkeit der tatsächlichen Befehlsgewalt wäre unsichtbar, denn aus Schmitts Perspektive erfordert deren Verständnis die Anerkennung eines Bruches, der es ihr erlaubt, Recht und Macht voneinander zu unterscheiden und sie so mittels der Rechtsidee anzuerkennen. Dennoch sollte man nicht vergessen, dass, wenn das Recht der Macht Form oder Sichtbarkeit verleiht, das Recht auf ein Moment der Wirklichkeit der Macht angewiesen ist, um verwirklicht werden zu können. Am 23. Mai 1948 hält Schmitt in seinem Notizbuch fest, dass in der positivistisch-empirischen Interpretation der Einheit von Idee, Sein und Macht „die Quelle aller Verirrungen und Entmenschlichungen“ liegt.345 Dies zeigt, dass sich der Autor auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Untersuchung des Positivismus befasste. Der Irrtum der positivistischen Auffassung besteht darin, dass sie die Macht als Phänomen, als eine Einheit von Idee, Sein und Macht begreift, was er als schwerwiegend erachtet, da in der empirisch-positivistischen Interpretation Idee und Sein auf die Macht oder die sichtbare Kraft reduziert bleiben. Die wichtigste Folge dieser im Primat der Kraft verankerten Weltsicht kann in der automatischen Annahme beobachtet werden, ohne jegliche Unterscheidung also all dessen, was sich in der Sphäre der objektiven Wirklichkeit abspielt. Alles wird aus dieser Perspektive automatisch angenommen. Wenn es nicht möglich ist, zwischen Recht und Macht zu unterscheiden, wird alles begründbar: Jede Situation der Wirklichkeit enthält ihre Begründung in sich, sei sie nun menschlich oder unmenschlich. Das Prinzip der Anpassung erscheint somit als grundlegende Eigenschaft des Positivismus, der, indem es die sichtbare Kraft über die unsichtbare Idee erhebt, sich sofort der faktischen Macht beugt, da sie ja über keine Unterscheidungskriterien verfügt. Die Anerkennung jeglicher faktischen Wirklichkeit oder die Forderung nach der empirischen Anwesenheit der Macht setzt das soziale Leben einem erhöhten Kontingenzgrad und der willkürlichen Fluktuation der faktischen Macht aus. In seiner Arbeit Politische Theologie aus dem Jahre 1922 nimmt Schmitt in seiner Behandlung des Problems der Souveränität nochmals die Diskussion über das Verhältnis zwischen Macht und Recht auf. In Übereinstimmung mit der Studie Der Wert des Staates wiederholt er, dass das grundlegende Problem der Souveränität in der Verbindung zwischen höchster faktischer Gewalt und Recht liegt. Zurückgreifend auf die Aussage, wonach „die Macht dem Recht nichts beweist“ muss hinzugefügt werden, dass die reine Manifestation der faktischen Kraft nicht in der Lage ist, einen Sinn einzusetzen, der das menschliche Verhalten anleiten 345 Schmitt 1991a, S. 153.
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kann. Die Dichotomie zwischen Recht und Macht wird in der Politischen Theologie in der Untersuchung des Souveränitätsbegriffs, der nicht von der Rechtsidee losgelöst werden kann, nochmals verschärft. Die Betonung auf der Trennung zwischen Recht und Macht widersetzt sich den Rechts- und Staatstheorien, die die Souveränität als Ergebnis oder Folge der juristischen Ordnung begreifen. Der Souveränitätsbegriff, so wie ihn Schmitt in Der Wert des Staates entwirft, entspringt nicht der juristischen Ordnung, sondern setzt diese erst durch die Verwirklichung des Rechts ein. In der Beziehung zwischen Recht und Macht ist es nicht das Recht, das der Macht gegenüber verpflichtet ist, sondern umgekehrt. Das Recht und mit ihm auch die juristische Ordnung gehören einer ideellen Dimension an und treten deshalb nicht aus eigener Kraft in die Wirklichkeit ein. Im Gegenteil, nur eine Kraft der empirischen Wirklichkeit kann eine juristische Ordnung erschaffen. Nun, wenn also eine Kraft der Wirklichkeit das Recht konkretisiert, hört diese auf, nur Kraft zu sein, da sie sich als souverän erweist, da sie angesichts einer Konstellation anderer faktischer Kräfte als einzige offenbart, die fähig ist, die Faktizität der Macht zu leugnen. Diese Negation zieht den Ausschluss aller anderen faktischen Mächte aus der Entscheidung über die Verwirklichung des Rechts nach sich. Die Negation der faktischen Befehlsverhältnisse entstammt einer Macht, die über ausreichende Kräfte verfügt, um die Verwirklichung des Rechts zu bewirken. Hier neutralisiert die Negation andere Mächte durch den Ein- oder Ausschluss in oder aus der eingesetzten juristischen Ordnung. Ein anderer Aspekt der Trennung zwischen Recht und Macht ist, dass es Situationen gibt, in denen das Recht negiert werden muss, um das Recht zu garantieren. In diesem Fall zielt die Negation im dialektischen Sinn auf die Aufhebung des Rechts, um es sicherzustellen. Der politische Souveränitätsbegriff kann nicht außerhalb der Rechtstheorie untersucht werden, da die Rechtsidee der politischen Macht Legitimität verleiht. Daher die Unmöglichkeit, den modernen Souveränitätsbegriff als bloßes Kraftmonopol zu begreifen. Hasso Hofmann behauptet, dass in der Erklärung Schmitts, das Recht sei souverän, das heißt, „für eine nicht weiter ableitbare, logisch-autonome Ordnung, eine Fortbildung und eine neue Akzentuierung des Gedankens der Staatssouveränität […] im Sinne seiner ursprünglichen politischen Neutralisierungsfunktion“ liege.346 In diesem Sinn bedeutete die Unterwerfung unter die physische Macht nicht die Souveränität einer politischen Macht, da die erzwungene Unterwerfung der Wirkung einer Notwendigkeit entspräche. Außerdem widerspricht die aus der Kraft abgeleitete Notwendigkeit der Idee eines „Sollens“ der Norm. Erst nach der Unterscheidung zwischen Recht und der durch eine souveräne Entscheidung eingesetzten Macht kann die rohe Gewalt der Macht neutralisiert werden. Man könnte im Gegenzug nun argumentieren, dass das Recht sich der Gewalt unterwerfen könnte. Doch die empirische Anwesenheit der bewaffneten Gewalt würde jede Möglichkeit einer Repräsentation oder einer juristischen Form, durch welche sich das Abwesende einstellt und so die juristische Kontinuität der staatlichen Form sicherstellt, ausgeschlossen. Die Kontinuität hängt von der Idee ab, 346 Hofmann 2002, S. 41.
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genauer, vom Subjektiven, das objektiv wird, ohne sich jedoch komplett zu verwirklichen. Die rohe, unmittelbare Gewalt verlangt der Wirklichkeit keinen Grund, keine Begründung und viel weniger noch einen Sinn ab: Sie gründet auf der absoluten Objektivität. Nun, die reine faktische Gewalt verlöre aufgrund ihrer Sinnlosigkeit ihre Kontinuität, denn Sinn stellt sich nur durch klare Unterscheidungen wie der Dichotomie zwischen Recht und Macht, „Sollen“ und „Sein“ ein. Schmitt verbindet die Souveränität mit der Rechtsidee: „Kein Lebensbereich – weder die Familie noch die Religionsgemeinschaft, weder die wissenschaftliche Forschung noch die innerparteiliche Pflege politischer Einflusslinien – findet ohne Recht zu einer dauerhaften sozialen Ordnung“.347 Der Eintritt in die argumentative und begründende Sphäre bedeutet die Erhöhung der Gewalt der faktischen Macht in die wertende Sphäre, in die Legitimität durch eine Entscheidung der Unterwerfung unter das Recht. Im Moment der Indifferenz in Bezug auf die eigene physische Gewalt, erhebt sich die empirische Macht zu einer Funktion des Rechts. Dieser Moment stellt die Möglichkeit dar, den Staat als eine Qualität, als eine Idee zu begreifen, außerhalb derer er ein magnum latrocinium wäre. Für jede prinzipielle, nicht politische Untersuchung, der es auf die philosophische Erkenntnis, nicht auf Parteiziele und –zwecke ankommt, gibt es keinen andern als den in seiner Idee erfassten Staat, der sich zu dem, was in der Welt der Tatsachen mit dem Namen „Staat“ belegt wird, nicht als Abstraktion, sondern als sein Sinn verhält, ohne den der konkrete Staat nur eine gewalttätige Macht sein würde, unberechtigt und irrational, von der sich nur sagen ließe, dass sie ein „Wille“ sei, ein Terrorismus, an den wir uns gewöhnt haben und von dem einige zu profitieren wissen, ein magnum latrocinium mit dem idealen Ziel, sich zur Versicherungsgemeinschaft emporzuentwickeln.348
Die Aussage, dass es keinen anderen Staat als „den in seiner Idee erfassten Staat“ gäbe, warf Fragen auf und gab Anlass zu Kritiken und Ironien in Bezug auf den von Schmitt entwickelten Staatsbegriff. Die effektive und praktische Reichweite seiner Staatstheorie wurde bezüglich der Möglichkeit, „von der Theorie der Praxis zur Praxis der Theorie“ zu werden, hinterfragt. Diese Bedenken finden sich auch in einer Rezension von Der Wert des Staates, die von Ludwig Waldecker verfasst und 1916, zwei Jahre nach der Veröffentlichung der Habilitationsschrift des Juristen, in der Quartalszeitschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft veröffentlicht. Waldecker verurteilt den überaus abstrakten Charakter der Arbeit und bedauert das Fehlen von Beispielen aus dem politischen Alltag und dem Staat. „Die Theorie des Verf. stellt die Tatsachen des Lebens einfach auf den Kopf.“349 Der hohe Abstraktionsgrad in Der Wert des Staates ist unbestritten. Doch Waldeckers Kritik stützt sich ausgerechnet auf die damals vorherrschende positivistische Sicht, gegen die Schmitt sein Argument der „Rechtsverwirklichung“ entwickelt. Waldecker stand der majoritären Auffassung des Rechts, die es auf einen bloßen Reflex der Kräfteverhältnisse des sozialen Lebens reduzierte, nicht 347 Luhmann 2008, S. 7. 348 Schmitt 2004a, S. 45. 349 Waldecker 2005, S. 381.
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fern. Aus Schmitts Perspektive schließt diese Sicht die Möglichkeit aus, einen Staat vom Recht ausgehend zu errichten, was zugleich die einzige Möglichkeit der Kontinuität wäre, die Legitimität einer politischen Gewalt zu begründen. Die Rechtsidee als Produkt eines Spiels zwischen Kräften schließt die Kontingenz aus dem sozialen Leben aus und damit auch das Recht als Prinzip der Veränderung oder der konfigurierenden Verwirklichung einer sozialen Ordnung. Der in seiner Idee begriffene Staat verfolgt das Ziel, eine konkrete Form zu erreichen, deren Entsprechung in einem Sinn liegt, der durch die Verwirklichung einer empirischen Kraft, einer als Trägerin des Sinns in dieser faktischen Welt von den anderen verschiedenen politischen Macht sichtbar wird. Waldecker hatte in seiner Rezension den säkularisierenden Sinn in Schmitts Arbeit nicht bemerkt: das Bemühen, einen Sinn oder eine Rechtsidee in der faktischen Welt einzuführen. Die Säkularisierung, oder die Verwirklichung des Rechts durch den Staat, hat die Kontingenz zur Voraussetzung, denn da, wo das Recht nur Mimesis der faktischen Befehlsgewalt ist, gibt es weder Veränderung, noch Verwirklichung, noch Gestaltung der Wirklichkeit. Indem Waldecker Schmitt vorwirft, er stelle die Tatsachen auf den Kopf und verkehre die Ordnung der Dinge, versucht er, Hegels Einfluss auf Schmitts Staatsphilosophie hervorzuheben. Der von Schmitt eingeführte Staatsbegriff überwindet mittels der Mittelbarkeit die Brüche im Bereich der Wirklichkeit nicht, wie dies in Hegels Rechtsphilosophie der Fall ist. Für Schmitt erfolgt die politische Entscheidung zur Verwirklichung der Idee in der Realität immer auf Kosten der Idee selbst. Oder anders ausgedrückt: Die Idee wird nie ganz verwirklicht. Die relative Verwirklichung der Idee verschärft immer den Abgrund – die Kontingenz – zwischen Ideellem und Realem, zwischen der Norm und dem konkreten Fall. Gerade aber wegen der Kontingenz, der Abwesenheit und der Lücken ist es möglich zu repräsentieren. Gäbe es die völlige Mittelbarkeit, wäre die Möglichkeit gegeben, mittels der Dialektik die Idee verlustfrei zu objektivieren und so die Überbleibsel und Zufälle zu eliminieren, wäre kein Raum für die Repräsentation, deren Voraussetzung die Diskontinuität und die Abwesenheit ist. Die Form entwickelt sich ausgehend von der durch den Kontrast hergestellten Sichtbarkeit, die zwischen Idee und Tatsächlichkeit unterscheidet und aus dem von der Idee zugewiesenen Sinn besteht. Die Form gestaltet die Idee und verleiht ihr Kontinuität. Die Form ist eine Art der Repräsentation, die von einer höheren Macht der konkreten Wirklichkeit abhängt. Der als Idee begriffene Staat stellt eine Gewalt der Wirklichkeit dar, die, indem sie als Trägerin einer Idee agiert, in Wahrheit nicht nur andere Gewalten neutralisiert, sondern gegenüber ihrer eigenen gleichgültig wird. Hier darf der säkularisierende, mit der Neutralisierung der physischen Gewalt verbundene Charakter nicht unbeachtet bleiben. Ohne die Neutralisierung der physischen Gewalt kann kein Sinn, keine juristische Ordnung in der Wirklichkeit eingeführt werden. Die Verwirklichung des Rechts hängt von der Neutralisierung der physischen Gewalt ab. Der Staat, das Mittel der Verwirklichung des Rechts, verhält sich in der tat-
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sächlichen Welt wie ein Sinn, ohne den er rohe Gewalt ist, ein magnum latrocinium. Die Vorstellung der Staatlichkeit entsteht aus der Neutralisierung der Gewalt der Macht – des Konfliktes der Kräfte –, die eine Entscheidung voraussetzt und zwischen Gewalt und Recht, zwischen „Sein“ und „Sollen“ unterscheidet. Daher also die Möglichkeit einer Orientierung durch die Entscheidung des „Sollens“. Nun ist es aber dies, was die Repräsentation ermöglicht, so dass immer eine minimale Distanz zwischen Idee und Wirklichkeit notwendig ist. Die Verwirklichung des Rechts durch seine Repräsentation erlaubte nur ein mit Gewalt ausgestattetes Rechtssubjekt der empirischen Welt, das aber seinen Sinn von dem Recht, von der Norm ableitet, wobei die physische Gewalt ein Hilfsmittel nicht des Rechts, sondern der konkreten Macht darstellt. Dieser Sinn der Säkularisierung, der staatlichen Repräsentation – gebunden an die Bedingungen von Zeit und Raum, von Sinn, und somit von der physischen Gewalt verschieden – widerspricht nicht dem Sinn von Säkularisierung, der sich in Der Nomos der Erde aus dem Jahre 1950 findet. In dieser Arbeit erscheint die Säkularisierung als Idee der Neutralisierung der politischen Macht der Kirche, klarere Unterscheidungen zu treffen.350 Der Staat repräsentiert einen Sinn, der in der Lage ist, zwischen Innerem und Äußerem zu unterscheiden und konstituiert sich als Quelle einer zentralen Gesetzgebung, von der ausgehend zwischen korrekter Form der Konfliktlösungen und apokryphen Formen unterschieden wird, die ausgeschlossen werden müssen. Eine der grundlegenden Unterscheidungen in der Behandlung der Säkularisierung in den beiden Arbeiten betrifft die Frage des territorialen Raums, der eine zentrale Stellung im Nomos der Erde einnimmt, wie sich zum Beispiel an der Verwendung der Maxime cuius regio, eius religio sehen lässt. Obwohl in Der Wert des Staates die Bedeutung des Territoriums nicht vergessen wird, so erscheint es darin doch nicht als fundamentale Referenz in der Unterscheidung dessen, was ein Staat ist. Obwohl Schmitt die Unmöglichkeit unterstreicht, eine Verbindung zwischen Recht und Macht herzustellen, versucht er doch eine Beurteilung der Fähigkeit des Quantitativen, der empirischen Wirklichkeit zur Repräsentation oder „sich […] aus eigener Kraft über die Art des Summierten zu erheben“.351 Er fragt sich, ob es einen Punkt gebe, an dem die Quantität in Qualität umschlägt. Diese noch immer sehr abstrakte Analyse ist wichtig, um die Macht der Repräsentation des liberalen, auf das quantitative Kriterium gegründeten Staates zu untergraben, wie der Autor in seinem Aufsatz Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus erklärt.352 In Der Wert des Staates ist die quantitative Repräsentation, bestimmt durch das graduelle Verfahren der Addition, nicht in der Lage, sich in eine Norm zu verwandeln, da die Norm von individuellen und kollektiven Interessen unabhängig sein muss. Die Summe der Interessen ist nicht in der Lage, ei-
350 Schmitt 1997, S. 97. 351 Schmitt 2004a, S. 35. 352 Schmitt 1996b, S. 35.
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ne Kontinuität des Sinns zu gewährleisten. Die Repräsentation der Qualität durch die Quantität erlaubt es nicht, einen Wert zu bestimmen. Es liegt nahe, gerade hier davon zu sprechen, dass es einen Punkt gibt, an dem die Quantität in die Qualität umschlägt. In den Fällen jedoch, in denen man eine derartige Verwandlung annehmen könnte, handelt es sich immer nur darum, dass die Ausdehnung der Quantität als Erscheinungsform, als Symbol oder Indiz einer Qualität aufgefasst wird und die große oder imponierende Masse in ihrem Eindruck auf den Betrachter auf etwas Außerweltliches, Außermenschliches und Zeitloses verweist. Die psychologische Wirkung großer Räume und zeitlicher Ausdehnungen, die Erhabenheit von Kolossalbauten, sind Beispiele solcher Darstellungen der Qualität durch die Quantität. Damit ist aber das Wesen nicht geändert, denn das Sinnlose kann nie in einen Sinn, das Wertfremde nie in einen Wert emporwachsen.353
Die Manifestation der Qualität durch die Quantität bietet nur ein Symbol, ein Zeichen oder Indiz einer Qualität, die nicht über die Empirie hinauswachsen und ihr folglich auch keine konkrete juristische Form verleihen kann. Der psychologischen Wirkung der großen Räume, der Kolossalbauten und der zeitlichen Ausdehnungen zum Trotz ist die Manifestation dieser Formen nicht zur Repräsentation fähig.354 Da lediglich ein Sinn, der quantitative, repräsentiert werden kann, so groß seine Summe auch sein mag, kann dieser nie etwas Überempirisches oder Überindividuelles werden. Es gilt hier hervorzuheben, dass die Kategorie der Kontinuität, die Schmitt als juristische Kategorie behandelt, von einer politischen Handlung der Repräsentation abhängt. Die Kontinuität findet sich in der von der Leere erzwungenen politischen Handlung, in der bestehenden Trennung zwischen Rechtssphäre, d.h. zwischen Qualität oder Norm und quantitativer, empirischer Wirklichkeit. Nachdem Gott unfähig geworden ist355 und die alte Metaphysik ihre Macht verloren hat, kann man nicht länger auf die Ewigkeit zählen, um dem irdischen Leben einen Sinn zu verleihen. Mittels der Analogie jedoch bleibt die Möglichkeit, eine Sinnkontinuität zu erreichen. Die strukturelle Analogie zwischen Ewigkeit und Kontinuität stützt sich, angesichts des Fehlens eines theologisch-metaphysischen Fundaments für die Dauerhaftigkeit, auf die staatliche Entscheidung, 353 Schmitt 2004a, S. 35f. 354 Ich sehe in dieser Frage der Repräsentation eine Verbindung zu der civitas Dei von Augustinus, in der die Idee der Repräsentation als Mittelbarkeit erscheint. In seiner Analyse der Stadt Gottes und der Stadt der Menschen beobachtet Augustinus in Bezug auf die Stadt Gottes, dass es auf der Erde tatsächlich Schatten und ein prophetisches Bild jener Stadt gab, mehr Zeichen als Vorstellung (Augustinus 2003b, S. 174). Schmitt interessiert sich für das Prinzip der Transzendenz. Die repräsentative Form erhebt sich über das Einzelne nur, wenn sie von der Einheit einer Idee – und nicht von Zeichen und Symbolen, die diffuse Merkmale der Vielfalt der Empirie sind, – ausgeht. 355 Schmitt vergleicht, Stahl zitierend, das Problem der Kontinuitätskrise einer staatlichen Ordnung mit dem Verlust des Glaubens an das ewige Reich: „Würde man einem Menschen, der vom Staate nichts wüsste, die in unzähligen Richtungen stürmende Bewegung des Volkslebens vormalen, das stete Anwogen gegen den Staat […], er würde an die Möglichkeit des Staates weniger glauben, als jetzt die meisten an das ewige Reich“ (Stahl apud Schmitt 2004a, S. 31).
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sich der von ihr selbst erschaffenen juristischen Norm zu verpflichten. Diese bietet eine von den politischen Veränderungen der empirischen Wirklichkeit unabhängige Kontinuität.356 Schmitt scheint nicht daran zu zweifeln, dass die Kontinuität aus einer juristischen Kategorie besteht, die den Platz des theologischen Prinzips der Ewigkeit eingenommen hat. Die Kontinuität357 wird nur durch die reine Form, Norm oder den entsprechenden Wert erreicht, die oder der sich über die Relativität der Summen, über die Relativität der empirischen Welt zu erheben vermag. Aus der Sicht des Juristen gibt es einen Parallelismus zwischen der himmlischen Ewigkeit und der Endlichkeit der zeitlichen Sphäre einerseits und zwischen dem Qualitativen und dem Reich des Faktischen andererseits. Schmitt macht deutlich, dass eine Qualität über das kontinuierliche Addieren von Quantitäten nicht erreicht und so folglich auch keine Kontinuität hergestellt werden kann. Ein allmählicher Übergang des Quantitativen, des empirischen Reiches in die qualitative Sphäre des normativen Bereichs kann die beiden Seiten des Abgrundes nie miteinander verbinden. Das Zitat aus einem Gedicht von Theodor Däubler vermittelt einen Eindruck der erwähnten Analogie: „Die Ewigkeit ereilt sich nicht auf eigener Leiter.“358 In der Natur können keine Unterscheidungen getroffen werden, in der natürlichen Wirklichkeit dann das Ungerechte vom Gerechten, das Rechte vom Unrechten nicht unterschieden werden: Aus der Betrachtung der Natur, zu der auch das Zusammenleben der Menschen gehört, soweit es lediglich eine Angelegenheit der konstatierenden und erklärenden Sozialwissenschaften ist, kann sich kein Recht ergeben. Nur die Aufstellung einer Norm begründet den Unterschied von Recht und Unrecht, nicht aber die Natur. Die Sonne scheint über Gerechte und Ungerechte.359
Der Hinweis auf die Sonne, die über Gerechten und Ungerechten gleichermaßen scheint, gibt den Naturalismus einer Weltsicht wieder, die eine historische und soziale Wirklichkeit annimmt, die ihren eigenen Gesetzen ausgesetzt ist. Diese Auffassung von Wirklichkeit – sei sie nun juristischer, physischer, wirtschaftlicher oder biologischer Art – offenbart ihren unmissverständlichen Charakter darin, dass sie sich selbst regiert. Diese Sicht der Wirklichkeit setzt die Unmöglichkeit einer externen Intervention voraus, da keine transzendente Ursache die Abläufe der ihr immanenten mechanischen Regelmäßigkeit verändern kann. 356 Schmitt 2004a, S. 73. 357 Unter anderen Bedeutungen, die in Schmitts Arbeiten dem Säkularisierungsbegriff zugewiesen werden, findet sich auch die der Umbesetzung (Schmitt 1996b, S. 86). Deshalb verstehe ich dies in meiner vorliegenden Arbeit so, dass die durch die Rechtsidee ermöglichte Kontinuität als säkularisierende Form des theologischen Prinzips der Ewigkeit begriffen werden kann. Die strukturelle Analogie zwischen theologischer Ewigkeit und juristischer Kontinuität leitet sich vom säkularisierenden Dualismus ab, der die Diskontinuität zwischen dem Ideal und dem Realen offenbart. 358 Schmitt 2004a, S. 36. 359 Schmitt 2004a, S. 36.
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Der säkularisierende Sinn von Schmitts Auffassungen in seinen Arbeiten Der Wert des Staates und Gesetz und Urteil widersetzt sich dieser kontemplativen, passiven Haltung, die, indem sie objektiv die Gesetze der Phänomene der empirischen Wirklichkeit zu begreifen sucht, die menschlichen Handlungen und Entscheidungen verdeckt. Oder anders ausgedrückt: Die Notwendigkeit der Eliminierung der Kontingenz führt zur Verdunklung einer normativen Dimension des Sinns und der Werte, der Handlung, der Entscheidung und der Begründung, die nur dank der unabänderlichen Diskontinuität zwischen Ideal und Realem existieren. Die souveräne politische Entscheidung besteht im Ausdruck des Bruches zwischen Ideal und Wirklichkeit und zeigt so auf, dass das politische Handeln der Kontingenz nicht entrinnen kann. Im Gegenteil: Es kann ihr nur entgegentreten, so dass Schmitts Denken seine Kraft aus der Würde bezieht, die der Kontingenz zugesprochen wird. Es ist absolut unverzichtbar zu verstehen, dass die politische und juristische Dimension von Schmitts Denken aus der Säkularsierung hervorgeht. Dieser säkularisierende Sinn macht zunächst die Kontingenz sichtbar, indem er sie der dualistischen Struktur der Wirklichkeit aussetzt. Es geht hierbei nicht um den Gegensatz von Altar und Thron, sondern von Idee und Wirklichkeit, Recht und Macht. Sobald der Dualismus die Kontingenz begreifbar macht, macht sich der Druck nach einer politischen, souveränen Entscheidung bemerkbar, die in der Lage ist, sich mit der normativen Kontinuität des Rechts zu verbinden, um der Wirklichkeit Sinn zu verleihen. Ohne die politische Entscheidung zur Einführung einer juristischen Norm „scheint die Sonne über Gerechten und Ungerechten“, und die Wirklichkeit verbleibt ohne Sinn. In Der Wert des Staates entsteht der Sinn der Säkularisierung aus der antagonistischen Beziehung zur Definition des Rechtsbegriffs des juristischen Positivismus. Die mechanistische, unmittelbare Auffassung des Rechts wurzelt unter anderem in der Einführung einer Vorstellung von Zweck in den Rechtsbegriff. Für Schmitt entspricht die Einführung eines teleologischen Prinzips oder eines Selbstzwecks einem animistischen, anthropomorphen Verfahren, der auf die existentielle Schwierigkeit hinweist, die Kontingenz in der Erkenntnis der Wirklichkeit zu ertragen. Die Einführung einer Vorstellung des Zwecks in der Definition des Rechts eliminierte die politische Energie der lebenswichtigen Prinzipien, indem sie Wille und Verwirklichung in dem abstrakten Bereich des Rechts immanente Mächte verwandelte. Doch Schmitt zufolge gehören Wille und Verwirklichung nicht der Welt des „Sollens“, sondern der Welt des „Seins“ an. Die Einführung des Zweckbegriffs in die Definition des Rechts bedeutet die Zuweisung eines Moments von Verwirklichung und Wille an die normative Sphäre der ideellen Welt des Rechts. Schmitt hebt hervor: Eine Aufnahme des Zweckes bedeutet die Hereinbeziehung der Verwirklichung des Rechtes in seine Definition, womit ein Moment der Realität und, um die Formulierung der Antithese
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zu gebrauchen, ein Moment der Macht in die Definition einer reinen, von jeder Tatsache und Erfahrung unabhängigen Norm gelangt.360
Hier wird die säkularisierende Dimension im Denken des Autors deutlich, da die Verwirklichung des Rechts ja nicht der Norm immanent ist und somit auch nicht von einer ideellen Ebene abgeleitet werden kann. Die vom Willen des Rechts automatisch vorausgesetzte Verwirklichung wird von der Säkularisierung bekämpft, deren dualistisch-antagonistischer Sinn zeigt, dass die Verwirklichung des Rechts nicht unabhängig von einer menschlichen Tätigkeit ist und einer verantwortlichen Entscheidung bedarf. Das Bemühen aufzuzeigen, dass das Recht nur durch die politische Entscheidung verwirklicht werden kann, die aus der praktischen Welt der Wirklichkeit hervorgeht, erinnert auch an die Diskussion des vorhergehenden Kapitels. In diesem Kapitel bemühe ich mich – unter anderem – aufzuzeigen, wie Schmitt nachzuweisen versuchte, dass norma non coelitus hausta. Indem der Autor die Unmöglichkeit offenlegt, dass die Norm nicht vom Himmel oder vom reinen Idealismus der Rechtswelt abgeleitet werden kann, versucht er die Aufmerksamkeit auf die Rechtsbestimmung durch die juristische Entscheidung zu lenken. Die Entscheidung bestimmt nie nur den Inhalt der Norm, noch ist der Richter ein bloßer Automat oder Sprecher des Gesetzes. Die richtige Entscheidung wird vielmehr durch eine dem Reich des Seins der Praxis zugehörenden Handlung realisiert. Die juristische Praxis, beruhend auf dem Prinzip der Rechtsbestimmung, findet sich in der Lage, sie in der Sphäre der konkreten Wirklichkeit zu verwirklichen. Im ersten Kapitel dieser Arbeit habe ich zu zeigen versucht, wie die Verteidigung der richterlichen Entscheidung contra legem, mit der Absicht, die juristische Ordnung zu erhalten, den Bruch zwischen abstrakter Norm und konkreter Wirklichkeit ins Zentrum des Schmittschen Denkens hebt. In Der Wert des Staates ist das Subjekt der Entscheidung für die Verwirklichung des Rechts die staatliche Instanz. Mit der dualistischen Struktur der Schmittschen Säkularisierung, in der der Abgrund zwischen Recht und Macht offenbar wird, wird zu zeigen versucht, dass der Wille zur Rechtsverwirklichung dem Gebiet der Praxis zugehört. Die Norm kann kein Wollen, keinen Zweck tragen; Träger eines Zweckes kann nur eine Realität sein, die vielleicht ihre Aufgabe in der „Verwirklichung“ des Rechts sieht, aber gerade deswegen vom Rechte, soweit vom Zweck die Rede ist, begrifflich streng zu trennen ist. Die Frage nach dem Zweck ist nicht die Frage nach dem Wesen des Rechts, sondern die nach dem Subjekt des im Recht zu findenden Ethos.361
Die Norm ist reine Form, eine transzendente Idee des Rechts,362 deren Reinheit es erlaubt, die Diskontinuität zwischen Rechtsidee und empirischer Wirklichkeit zu 360 Schmitt 2004a, S. 39. 361 Schmitt 2004a, S. 39f. 362 Die Transzendenz des Rechts und der unüberbrückbare Abgrund, der es von der faktischen Wirklichkeit trennt, wird in dem Maß deutlich, in dem „das Reich des Rechts keine faktischen Grenzen hat, denn die Tatsächlichkeit hat nur Grund und Folge, nicht aber Werte, nicht ein Oben und ein Unten“ (Schmitt 2004a, S. 41). Die reine Form des Rechts besitzt einen hie-
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verschärfen. Mehr noch, so wird die wichtigste Unterscheidung in Schmitts Denken begreiflich: die Diskontinuität zwischen Recht und Rechtsverwirklichung – eine unüberwindbare Diskontinuität, denn die reine Form des Rechts enthält keine Elemente der Wirklichkeit des Seins, die für die Konstruktion einer konkreten Form notwendig sind: Der Zweck, die Subjektivität, der Wille, die Entscheidung und die Verwirklichung, sind keine Eigenschaften des Sollens. Das Sollen des Rechts ist nicht mit einem Motor ausgerüstet, der es in dieser Welt verwirklicht: „Das Recht kann sich aus sich selbst heraus nicht verwirklichen.“363 Sein reines Reich verwirklicht sich nicht in dieser Welt der Wirklichkeit des Seins. Die Unüberwindbarkeit des Abgrunds zwischen dem Recht und seiner Verwirklichung stellt die Unmöglichkeit seiner absoluten Mittelbarkeit dar, nicht aber die seiner Konfrontation. Wie aber mit dem Problem umgehen, wenn „in jedem Hinweis auf einen Willen, auf etwas, das verwirklicht werden soll, ein Durchbrechen der Grenze liegt, die das Recht von der Wirklichkeit trennt“?364 Wer ist das Subjekt des Rechts? Die Norm kann nicht Subjekt einer Einwirkung oder Verwirklichung und somit nicht Subjekt eines Wollens, nicht Träger eines Zweckes sein; das Recht ist nicht Wille, sondern Norm, nicht Befehl, sondern Gebot, demgegenüber der einzelne Mensch als Gegenstand der Welt der Wirklichkeit später kommt.365
Das Beharren auf der Widerlegung der Übertragung der Handlung oder der Verwirklichung auf die Norm offenbart Schmitts hartnäckiges Bemühen, den Willen, das Handeln auf die Autorität eines der Wirklichkeit angehörenden Subjekts zurückzuführen. In Der Wert des Staates bedeutet Säkularisierung, zu zeigen, dass „das Recht abstrakter Gedanke ist, der nicht aus Tatsachen abgeleitet und nicht auf Tatsachen einwirken kann, Subjekt des auf die ‚Verwirklichung‘ des Rechts gerichteten Wollens kann nur eine Realität sein“.366 Wie ich im Laufe dieses Kapitels zu zeigen versucht habe, ist das Subjekt des Rechts der Staat. Doch es muss beachtet werden, dass diese Wirklichkeit kontingent ist, denn vielleicht sieht er seine Aufgabe in der Rechtsverwirklichung. Die Säkularisierung, genauer die Aufgabe, das Recht in die Welt zu setzen, ist gewiss nichts Vorherbestimmtes, denn sie hängt von einer souveränen politischen Handlung ab. Es handelt sich hierbei um das Auftreten oder um die Konstruktion einer Instanz der Wirklichkeit, die in der Lage ist, die Aufgabe der Rechtsverwirklichung zu begreifen. Nun, damit diese Aufgabe „vielleicht“ begriffen wird, ist es zunächst erforderlich, angesichts des kausalen Determinismus eine Entscheidung bezüglich der Trennung
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rarchischen Wert der Transzendenz im Gegensatz zum horizontalen Charakter des Reiches des Seins. Diese Vorstellung ist wichtig für das Verständnis der Repräsentation des Wertes des Rechts durch den Staat, denn ein Ideal kann nur von der Höhe einer Macht, von oben nach unten, repräsentiert werden. Schmitt 2004a, S. 40. Schmitt 2004a, S. 40. Schmitt 2004a, S. 42. Schmitt 2004a, S. 42.
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zwischen den Vorstellungen von Wirklichkeit, Recht und Macht zu treffen. Erst von dieser Entscheidung aus spaltet sich die Vorstellung der Realität ab und offenbart so, dass das „Sollen“ oder das Recht nicht auf das „Sein“ reduziert werden kann. Mit dem säkularisierenden Gegensatz wird der kausale Mechanizismus durchbrochen, der das Sein aus dem Sollen folgert und so die Kontingenz durch die Trennung zwischen Ideal und Realem zum Leuchten bringt. 2.6. Territorium, Staat und Kirche Die Untersuchung der Geltungsgrundlage einer empirischen staatlichen Macht führt Schmitt zur Frage in Bezug auf die Notwendigkeit des Territoriums für die Definition des Staates: Gehört das Territorium zum Staatsbegriff? Auf welcher Grundlage könnte das Territorium zu einem essentiellen Element des Staates erhoben werden? „Wenn die ganze Erde einmal einem einzigen Staate unterworfen wird“? Und: „Bleibt ein ‚Zukunftsstaat‘, wenn er verwirklicht ist, ein Staat?“367 Angesichts der Überbewertung der natürlichen Wirklichkeit als Quelle einer Staatstheorie, geht der Jurist so weit, sich zu fragen, ob Biber oder Ameisen in der Lage wären, einen Staat zu gründen.368 Diese Fragen zeugen in erster Linie von Schmitts Unzufriedenheit über die „unendliche Literatur“ über den Staat. Wieder besteht eine der aufgezeigten grundlegendsten Schwierigkeiten in der Methode, genauer im Weg, der zurückgelegt wird, um zu einem Staatsbegriff zu gelangen. Die Anwendung eines induktiven, „exakten“ Verfahrens, das von der Empirie einen Staatsbegriff abzuleiten versucht, wird in Frage gestellt. Schmitt hinterfragt die Geltung der Sphäre der empirischen Wirklichkeit als Notwendigkeit für die Analyse der konstitutiven Elemente des Staatsbegriffes. Die Weihung der Empirie als höchste Quelle der wissenschaftlichen Erkenntnis über den Staat führt dazu, dass der Staat und das Recht als konkrete Fakten behandelt werden, die in einer Kausalbeziehung eingeschlossen sind. So aber wird die Heterogenität dieser Elemente aus den Augen verloren. Der Staatsbegriff wäre so das Ergebnis einer Abstraktion, die auf der Grundlage gesammelter empirischer Daten beruht. Schmitt zeigt sich jedoch befremdet von der Unterordnung historischer Ereignisse unter den Zweck der kausalen Erklärung. Er vermutet eine Verwechslung zwischen dem vom empirischen wissenschaftlichen Verfahren erzeugten Staat und dem Anspruch eines idealen Staates. Er vermutet des Weiteren, dass die verschiedenen Schriften über den Staat häufig einen bestimmten Staat im Sinne hätten. Die unendliche Literatur über das Thema wäre unendlich verständlicher und erquicklicher, wenn sie nicht in der großen Mehrzahl, namentlich der politischen Schriften, immer nur bestimmte Staaten im Auge hätte und nicht beständig einen höchst undeutlichen, von einigen
367 Schmitt 2004a, S. 48. 368 Schmitt 2004a, S. 54.
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empirischen Phänomenen abgezogenen […] Staatsbegriff mit einem idealen Staate durcheinander würfe.369
An zweiter Stelle untersucht Schmitt die Bedeutung des Territoriums als ein für die Definition des Staates notwendiges Element. Hier gilt es hervorzuheben, dass die relative Gewichtung des territorialen Elementes nicht seine Bedeutung verleugnen will, sondern das Gewicht, das ihm zugemessen wird. Die Negierung des essentiellen Charakters des Territoriums wird wie folgt formuliert: Wird als Begründung für die Essentialität des Territoriums die Tatsache angeführt, dass es keinen empirischen Staat gebe, der kein Territorium habe, so müsste jeder Begriff eines Gegenstandes der körperlichen Welt diese Körperlichkeit aufnehmen, obwohl gerade das sein Spezifisches nicht ausmacht.370
Mit dieser ironischen Bemerkung will Schmitt unterstreichen, dass die Materie, die Körperlichkeit, die Ebene des Tatsächlichen die Eigenart keines Objektes, viel weniger noch die des Staates, dessen Spezifisches in Prinzipien liegt, offenbaren kann. Meines Erachtens ist es unverzichtbar, Schmitts Gedankenschritte in dieser Diskussion nachzuzeichnen, denn die Analyse des Territoriums führt zur Anerkennung einer anderen Referenzgröße, die zum Staatsbegriff gehört: jener der Zeit. Diese Referenz ist keineswegs trivial, denn die empirische Methode, die damals in Mode war, richtet sich nicht auf die Zeit zur Untersuchung eines dauerhaften Prinzips. Sie konzentriert sich im Gegenteil auf die Beobachtung des Staates als politische Macht, die im Moment anwesend ist. Das Lob auf die Objektivität, auf die Anwesenheit der momentanen politischen Macht, auf den status quo, distanziert sich von der Idee eines dauerhaften Staates in dieser konkreten Welt. Das empirische Verfahren, von Schmitt auch „induktiv ‚exaktes‘“ Verfahren genannt, ist in der Forderung nach der tatsächlichen Anwesenheit der untersuchten staatlichen Macht gefangen, was den Forschungshorizont auf die Einzigartigkeit der konkreten Fälle einengt. Auf der anderen Seite verurteilt Schmitt auch das von diesem Verfahren angewandte selektive Kriterium, da es „das Kriterium der Auswahl, nach dem sich die Weglassung der ‚gleichgültigen‘ und die Beibehaltung der ‚wesentlichen‘ Momente bestimmt, nicht anzugeben vermag“.371 Die Auswahl des „Wesentlichen“ und des „Gleichgültigen“, dessen, was für die Untersuchung beibehalten und was von ihr ausgeschlossen werden soll, offenbart bereits eine Normativität, wodurch die angebliche Exaktheit hinfällig wird. Schon der Ausgangspunkt der Auswahl jeglicher Art von Objekten schränkt das Argument der Exaktheit, der reinen Objektivität ein, die auf der axiologischen Neutralität beruht. Die Auswahl des Studienobjekts stellt immer eine wertende Tätigkeit dar und verunmöglicht so eine wertfreie Haltung sine ira et studio. Außerdem entspricht der Ausschluss des „Gleichgültigen“ durch die Auswahl dem Ausschluss der Kon369 Schmitt 2004a, S. 45. 370 Schmitt 2004a, S. 47. 371 Schmitt 2004a, S. 46.
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tingenz, die den Kern von Schmitts Rechts- und Staatstheorie ausmacht. Der Ausschluss der Kontingenz entspricht den beobachteten Unmittelbarkeiten im positivistischen Monismos, der das Sollen vom Sein ableitet und so Idee und Wirklichkeit miteinander verwechselt. Diese Verwechslung verdeckt die Distanz zwischen Ideal und Realem und verhindert so die Funktion der Mittelbarkeit der staatlichen Instanz. An diesem Punkt der Arbeit gilt es jedoch, den Fokus auf die Bedeutung der Zeitkategorie für die staatliche Form zu richten, denn „es ließe sich statt der Bezugnahme auf das Territorium, den Raum, ebenso gut eine solche auf die Zeit in den Begriff des Staates aufnehmen, womit eine Kontinuität verlangt ist, bei welcher der Raum nur als Mittel dient, um sie durchzusetzen und sicher zu stellen“.372 Der Staat zwingt seine Form der räumlichen Wirklichkeit auf und bestimmt ihren Rhythmus,373 ihre Kontinuität angesichts der Fluktuationen der konkreten historischen Ereignisse. Dank der Verbindung mit der Rechtsidee drückt der Staat dem territorialen Raum seinen Rhythmus auf. Indem er seine Kontinuität der Wirklichkeit, sein Sein der konkreten Welt aufzwingt, bedient sich der Staat des Raumes und ordnet ihn seiner Dauer unter. Das Sein, die Existenz des Staates, existiert nur in der Idee der durch das Recht gegebenen Kontinuität. Daher die Behauptung, dass „das Recht nicht aus dem Staat, sondern der Staat aus dem Recht zu definieren, der Staat nicht Schöpfer des Rechts, sondern das Recht Schöpfer des Staates ist: das Recht geht dem Staate vorher“.374 Nur die Erkenntnis, dass die Zeit ihre Dauer in der Rechtsidee findet, kann aus dem Zustand, aus dem Moment, aus einer politischen Situation eine Kontinuität in der Wirklichkeit machen. Diese Kontinuität in der Wirklichkeit heißt Staat und wird konstant durch die Entscheidungen, die das Recht verwirklichen sollen, aktualisiert und repräsentiert. Die Forderung nach Dauer einer politischen Macht besteht im unverzichtbaren Wert, den Schmitt in Der Wert des Staates seinem Staatsbegriff zuweist. Nun, genau in der Einführung der Forderung nach Kontinuität im Staatsbegriff offenbart sich die säkularisierende Funktion der staatlichen Macht. Schmitt will keinen idealen Staat begründen, der auf einem leeren Normativismus ohne Resonanz auf der Ebene der empirischen Wirklichkeit beruht. Das Hauptanliegen 372 Schmitt 2004a, S. 47. 373 Schmitt versuchte sich bereits an der Rechtsidee als einer Vorstellung der Kontinuität, indem er diese als „Rhythmus“ bezeichnete. Dies wird aus einem Tagebucheintrag ersichtlich, den er an einem Sonntag im November 1912 machte, zu einer Zeit also, in der er möglicherweise bereits mit der Niederschrift von Der Wert des Staates begonnen hatte: „Das Recht ist der Rhythmus der Wirtschaft, ohne den sie ein wüstes Rechtloses wäre […]“ (Schmitt 2005h, S. 45). Hier ist das Recht als Idee anwesend, die den Kurs der wirtschaftlichen Beziehungen zu bestimmen vermag, und nicht umgekehrt. Die Wirtschaft stellt den kontingenten und unvorhersehbaren Charakter der tatsächlichen Kräfte der empirischen Wirklichkeit dar. In Römischer Katholizismus und Politische Form aus dem Jahre 1922 verzichtet Schmitt auf eine genauere Untersuchung der Beziehung zwischen Recht und Wirtschaft. Der oben zitierte Tagebucheintrag zeigt – noch – keine direkt gegen den politischen und wirtschaftlichen Liberalismus gerichtete Kritik, sondern richtet sich vielmehr an verschiedenen Punkten gegen die vom Positivismus geprägte technizistische Zeit. 374 Schmitt 2004a, S. 50.
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des Autors besteht vielmehr darin, die Idee der Kontinuität, die von der Form der Normativität des Rechts bereitgestellt wird, in eine Wirklichkeit der konkreten, empirischen Welt zu verwandeln. Somit kann die Säkularisierung, die partielle Objektivierung der Rechtsidee durch den Staat, ihr Subjekt, angesichts der Heterogenität der Interessen, die die Dauerhaftigkeit eines politischen Körpers in der konkreten Wirklichkeit verhindern, ein homogenes Mittel bereitstellen. Mehr noch, die Vorstellung der Kontinuität beruht auf der Überzeugung, dass die Einheit nur in der Idee existiert, deren Dauer durch den Staat repräsentiert wird. In der Abwesenheit der Mittelbarkeit, der Repräsentation des durch den Willen des Staates verwirklichten Ideals, bleibt die Wirklichkeit sich selbst, d.h. der Relativität der einzelnen konkreten Fälle, der faktischen Befehlsgewalt überlassen. Schmitt: „Für eine bloß faktische Gewalt gibt es nur konkrete einzelne Fälle, nicht aber einen zu vernünftiger Einheit zusammengefassten Willen; nur punktuelle Äußerungen einer blinden Macht, nicht aber Kontinuität.“375 In Schmitts Staatsbegriff spielt der Ansatz des Territoriums eine zentrale Rolle. Die Analyse dieses Ansatzes führt direkt zur Essenz, die die Staatsphilosophie des Autors begründet. In seiner Kritik der induktiven Methode, mittels derer eine Staatstheorie entwickelt wurde, unterstreicht er, dass das Territorium den einen Staat nicht vom andern unterscheidet, da alle nebeneinander im territorialen Raum stünden. Die Ausformulierung des Problems führt zum ersten Mal zu einer für das Verständnis der vom Autor vorgestellten staatlichen Institution unverzichtbaren Analogie: zur Analogie zwischen Kirche und Staat. Schmitt drückt es folgendermaßen aus: Soll aber das Begriffserfordernis des Territoriums den Staat von andern Gebilden menschlicher Zusammengehörigkeit, die auch eine Kontinuität aufweisen, beispielsweise von einer Kirche, unterscheiden, so beginnt mit einer solchen Konstatierung erst die eigentliche Betrachtung des Staates […].376
Das Kriterium des Territoriums eröffnet die Möglichkeit, den Staat zu unterscheiden – nicht von einem anderen Staat, der ebenfalls die territoriale Voraussetzung einfordert, sondern von anderen Gebilden menschlicher Zusammengehörigkeit, die eine Kontinuität aufweisen, wie dies bei der Kirche der Fall ist. Die Kirche erweist sich für den Staat als fundamentale Referenz. Die Parallele zwischen Kirche und Staat erlaubt es, das für das Wesen des Staates konstitutive Element zu enthüllen. Die Tatsache, dass es sich bei der Kirche nicht um einen Staat handelt, kann – über die Negation – die Grundlage der Essenz des Staates hervorheben. Die von Schmitt vorgeschlagene Reflexion beabsichtigt, ausgehend von der „Zurückweisung des Anspruchs der Kirche auf ein Territorium“, „den Wesensunterschied zwischen Kirche und Staat“ zu unterstreichen. Schmitt fragt sich, ob das Kriterium des territorialen Anspruchs aufrechterhalten würde, wenn die ganze Erde einem einzigen Staat unterworfen wäre. Er erklärt, dass 375 Schmitt 2004a, S. 52. 376 Schmitt 2004a, S. 47.
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dieser Zustand immerhin im Bereich der empirischen Möglichkeit liegt, die Frage ist daher nicht unberechtigt oder unsinnig, trotzdem vermag jene „exakte“ Methode sie nicht zu beantworten und nicht einmal zu unterscheiden, ob das von ihr ermittelte Begriffserfordernis eines Territoriums aus der bloßen Tatsache eines Nebeneinanderbestehens mehrerer Staaten folgt, oder aus der besonderen Art der Gewalt, welche die Herrschaft des Staates von der einer Kirche oder eines anderen Verbandes spezifisch unterscheidet.377
Die von der Römisch-Katholischen Kirche ausgeübte Herrschaft verdankt sich der historischen Verwirklichung eines Ideals, das in ihrer Form des konkreten Gemeinschaftsverbundes sichtbar ist: in ihrer Fähigkeit, die civitas humana zu repräsentieren. Die von der Kirche erreichte Einheit bezieht ihre Autorität nicht von der irdischen Relativität, vom Territorium, sondern von ihrer Repräsentation der Transzendenz einer Idee angesichts der Materie des menschlichen Lebens. Die Aneignung des Staatsbegriffs mittels der empirischen Pluralität hingegen kann die kontinuitätsstiftende Idee nicht in der Unsicherheit, in der Unmittelbarkeit, auf der Ebene der faktischen Gleichheit finden. Die Analogie zwischen Kirche und Staat bedarf einiger Anmerkungen: Zum einen handelt es sich bei der hier als Vergleichsmodell angeführten Kirche um die katholische Kirche. Zum andern wird diese Institution als vom Staat grundverschieden angesehen. Die Analogie erlaubt es nicht, politische Formen von religiösen Inhalten abzuleiten. Die politische Form wird in einer zur Theologie analogen Weise bestimmt. Die Analogie zwischen Kirche und Staat findet ihre Grundlage in der Annahme einer strukturellen Ähnlichkeit zweier sozialer Gemeinschaften und in der Entsprechung zwischen der kosmischen und der sozialen Welt.378 Gemäß Koslowski bezieht sich die Analogie nicht auf die Form oder die Essenz einer Sache, sondern auf eine Relation, wie z.B. die Relation Gott–Welt. Es handelt sich hierbei um eine perfekte Ähnlichkeit zweier Relationen zwischen komplett unterschiedlichen Dingen, was es nicht erlaubt, irgendeine Art der Deduktion zu bestimmen. Analogien leiten keine politischen Formen von religiösen Inhalten ab, sie können sie aber konstituieren und, ausgehend von Reflexionen über theologische Fragen, politische Formen hinzufügen. Im strengen Kontrast zwischen Kirche und Staat wird das essentielle Fundament sichtbar, das sie unterscheidet. Der wesentliche Unterschied zwischen beiden Institutionen verhindert die Möglichkeit irgendeiner Übertragung von theologischen Inhalten auf die säkulare Sphäre. Doch erlaubt sie eine strukturelle Analogie, wodurch es möglich wird, hierarchische Prinzipien, Formen der Mittelbarkeit, Repräsentationen von Ideen in der Wirklichkeit zu identifizieren, die nicht nur für das Verständnis dessen, was der Staat sei, hilfreich ist, sondern auch für dessen Errichtung. Schließlich erlaubt der Gegensatz zwischen Kirche und Staat auch die Beobachtung, dass, obwohl die Kirche einen Anspruch auf ein Territorium zurückweist, sie doch eine Kontinuität in dieser Welt aufrechterhält. Diese Reflexion, die sich an der römisch-katholischen Doktrin ausrichtet, verfolgt zwei Ziele: Das erste besteht im Hinweis auf die Wichtigkeit der Beziehung 377 Schmitt 2004a, S. 48. 378 Koslowski 1983, S. 34.
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zwischen Kirche und Staat. Es geht hier nicht um die Übertragung eines Inhalts, eines katholischen Dogmas oder sonst eines Sinns auf die zeitliche Sphäre des Staates, sondern darum, zu zeigen, dass die Kirche als Modell dienen kann, als Paradigma, nicht nur für das Verständnis des Staates, sondern auch im Dienste seiner Konstruktion. Mehr noch, es ist möglich, ausgehend von einer Reflexion über die letzten Fundamente einer Ordnung, zwischen beiden Institutionen eine formale Analogie herzustellen, die es erlaubt, eine strukturelle Identität zu erkennen. Schmitts Denken zufolge gibt es im Parallelismus zwischen Gott und Staat eine gemeinsame Struktur: die Transzendenz, nicht die ontologische Transzendenz Gottes, sondern die Transzendenz einer zeitlichen Autorität, genauer, die Transzendenz eines sterblichen souveränen Subjekts aus Fleisch und Blut. Der sterblichen, souveränen Autorität kommt ein transzendenter Platz, eine transzendente Form in dieser Welt zu. Es handelt sich hierbei um eine konkrete Form, die der Verwirklichung des Ideals in der empirischen Sphäre entspricht. Schmitts Polemik richtet sich nicht gegen den Altar, gegen die unsichtbare Macht der Theologie, sondern gegen die positivistische Metaphysik, die, indem sie das Funktionieren der natürlichen Ordnung mit der normativen Ordnung des menschlichen Lebens verwechselt, die Kontingenz dieser Welt zu bannen versucht. So entledigt sie das menschliche Leben der Möglichkeit, die Wirklichkeit durch die sichtbare, souveräne politische Entscheidung zu gestalten. Schmitts zweites Ziel findet sich in der Absicht, die Ohnmacht der „Exaktheit“ der empirischen Methode aufzuzeigen. Das Eingeständnis ihrer Ohnmacht beweist sich in der Annahme einer „Beziehung zwischen dem Staat und der Kirche“. Deshalb erforscht der Autor den paradoxen Charakter des Ergebnisses dieser Methode und weist darauf hin, dass der durch die „exakte Feststellung“ erworbene Staatsbegriff immer „neben dem Merkmal eines Territoriums stets das einer höchsten Gewalt“ aufstellt.379 Somit ist dieser Staatsbegriff immer dem Einwurf ausgesetzt, nicht in der Lage zu sein, eine höchste Macht abzuleiten, da „es demnach mehrere hundert höchste Gewalten auf der Erde gibt“.380 Die Relativität der Empirie bietet keine Einheit, kein Ideal, ohne welches sich der Platz der Transzendenz angesichts der Faktizität nicht besetzen lässt. An dieser Stelle argumentiert Schmitt, dass man sich den Umgang der katholischen Doktrin in Bezug auf die Verhältnisse des Rechts zum Staat zum Vorbild nehmen sollte. Was hier zur Diskussion steht, ist nicht die Notwendigkeit eines katholischen Staates, sondern eines Staates, der in der Lage ist, ein grundlegendes Unterscheidungsprinzip in Bezug auf andere politische Gewalten zu bestimmen, so wie es auch nur eine einzige Römisch-katholische Kirche gibt. Aus der Sicht der Kirche ergibt sich, „dass der Staat als solcher nirgends existiert“, da „es in Wirklichkeit nur einzelne Staaten gibt, die lediglich Produkte der Geschichte sind“.381 Hier ist implizit eine weitere Analogie enthalten: So wie die Kirche ihre Autorität nicht aus der Relativität der zeitlichen Welt bezieht, so bezieht auch der Staat seine Au379 Schmitt 2004a, S. 48. 380 Schmitt 2004a, S. 48. 381 Schmitt 2004a, S. 49.
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torität nicht aus der Empirie – und folglich auch nicht aus dem Territorium. Die Autorität des Staates ist kein Resultat der Vielfalt, der faktischen Fluktuation, sondern der Einheit des Rechtsideals. Die politische Macht, die ein dauerhafter Staat sein will, hängt von einer metaphysischen Stütze ab – nicht von Gott, der ja unfähig geworden ist, sondern von der Rechtsidee –, durch die die staatliche Form zu einer konkreten Form findet: die Repräsentation eines Ideals in der konkreten Wirklichkeit. Das empirische Reich ist der Repräsentation unfähig. Wenn ein faktischer Machtkomplex nicht in der Lage ist, durch die Negation der Tatsächlichkeit zu transzendieren, ist er zu einer kurzlebigen Existenz verdammt. Die Kirche dagegen, die nach ihrer Lehre die einzige Kirche ist und keine andere neben sich anerkennen kann, selbst also die Verwirklichung eines Ideals repräsentiert, befindet sich eben dadurch in einem unendlichen Vorteil gegenüber dem einzelnen Staat, der hundert andere Staaten als gleichberechtigt neben sich anerkennt und eine Überlegenheit über die Relativität des Zeitlichen nicht einmal prätendiert.382
Das Zitat zeigt, wie für Schmitt die Römisch-katholische Kirche per definitionem die einzige Kirche ist, die in der Lage ist, ein Ideal – die civitas Dei – in der Sphäre der weltlichen Wirklichkeit zu repräsentieren. Die Kirche ist dank ihrer Position „perfekt“, in welcher Ideal und Wirklichkeit zusammenfallen, während der Staat aufgrund seiner unvermeidlichen Vielfalt unvollkommen ist.383 Hierin liegt der grundlegende Unterschied zwischen Kirche und Staat, zwischen der societas perfecta384 und der societas imperfecta begründet: in jener fallen Ideal und Wirklichkeit zusammen, in diesem finden sie sich getrennt. Dieser Unterschied macht es dem Staat unmöglich, Kirche zu sein und wie eine solche zu handeln. Im Gegensatz zur Kirche erscheint der Staat nicht als Träger eines Ideals auf Erden und ist viel weniger noch in der Lage, eine civitas Dei zu repräsentieren. Für den Staat, der nur in dieser kontingenten Welt und nicht zusätzlich noch in einer anderen existiert, befindet sich das Ideal unmittelbar abwesend – im Gegensatz zur Person Christi, deren Anwesenheit die Verkörperung des Ideals ist.385 Die Un382 Schmitt 2004a, S. 49. 383 „Der durch eine Abstraktion aus hundert unvollkommenen Dingen gewonnene Begriff kann nicht den Begriff eines Vollkommenen ergeben, nicht ‚den‘ Staatsbegriff, der philosophischen Erörterungen zugrunde zu legen ist“ (Schmitt 2004a, S. 50). Die „hundert unvollkommenen Dinge“ spielen auf die empirische Wirklichkeit an, der der Staat unterworfen ist. Die Diskussion führt dahin, dass der Staat die Wirklichkeit durch seinen Bezug auf etwas, das außer ihm ist, transzendieren muss: die Rechtsidee. 384 Siehe diesbezüglich Schmitts Artikel Absolutismus aus dem Jahre 1926 (1995a, S. 95-101). 385 Carlo Galli unterstreicht, dass „questo Ideale deve certamente essere, come qui si afferma, immediatamente assente; quindi, non è la Persona di Cristo, che è anzi un ‚eccesso‘ incompatibile con la rappresentazione statutale“ (Galli 1996, S. 322). In Wahrheit ist also nicht die Person Christi das Ideal, sondern seine Inkarnation, während der Staat das Ideal repräsentieren und nicht verkörpern muss, ansonsten die Verkörperung des Ideals die Unterscheidung zwischen Idee und Wirklichkeit und folglich die Repräsentation der Idee nicht mehr zuließe. G. L. Ulmen zufolge hat Schmitt die Staatstheologen, deren sterblicher Gott nur im juristischen Sinne transzendent war, entdeckt (Ulmen 1996, S. xvi). Diese Vorstellung ist insofern relevant, als Christus mehr als Beispiel für die Transzendenz und die Mittelbarkeit
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vollkommenheit macht die Situation deutlich, in der der Staat sich befindet: in einer kontingenten Wirklichkeit, in der die Idee nur durch ihre Abwesenheit anwesend ist. Es ist diese Unvollkommenheit, verschärft durch die Abwesenheit eines in der ontologischen Trennung zwischen den ideellen und realen Dimensionen wahrgenommenen Ideals, die es dem Staat erlaubt, sich für die Repräsentation der Idee zu entscheiden. Es sei also darauf hingewiesen, dass die Kirche nur ein Modell ist, das aufgrund seiner essentiellen Unterschiedenheit nur als Beispiel386 für die Fähigkeit zur Repräsentation und zur unfehlbaren Entscheidung dient. Schmitt erkennt eine Analogie zwischen der Struktur der Unfehlbarkeit und Legitimität der päpstlichen Entscheidung und der Entscheidung des Staates, die nicht willkürlich oder nur auf einem Willen oder auf einer Laune beruhen darf, sondern repräsentativ sein muss für das durch den Staat verwirklichte Recht. Die Kirche wird als Referenz für einen idealen, aber auch realen Staat dargestellt, der eine Einheit bewirkt, deren Einheit auf ein Territorium verzichtet: Der konkrete Staat hat sich bei der Frage nach dem idealen Staat, der immer nur Einer sein kann, beständig den Vergleich mit der Empirie gefallen zu lassen, während die Kirche, bei der Ideal und Wirklichkeit nach der eigenen Position zusammenfallen, selbst als der ideale Staat, die civitas Dei auftritt, so dass sie gleichzeitig jedes Argument der philosophischen Begründung eines idealen Staates für sich und gegen den konkreten Staat ins Feld führen kann. Gibt es nur Eine Kirche, so ist die Kirche notwendig vollkommen; gibt es hundert Staaten, so ist der einzelne, konkrete Staat notwendig unvollkommen.387
Die Römisch-katholische Kirche dient als konkretes Modell eines Repräsentationsprinzips, durch welches ein Ideal in der Welt verwirklicht wird. Eine Idee in eine Welt zu setzen, die von einer grundlegend unförmigen Wirklichkeit geprägt ist, deren Kontingenz, Materie und Vielfalt nicht auf Rationalisierungen388 redudient, als für die Verkörperung eines Ideals, da Schmitt zufolge eine Idee sich niemals vollkommen verkörpert oder nie zur Gänze auf die Wirklichkeit übertragen wird. Im Folgenden wird diese Arbeit zeigen, wie die Übertragung eines Ideals auf die wirkliche Ebene immer ein Ergebnis bewirkt, das von der ursprünglichen Idee verschieden ist, so dass diese sich niemals ganz verwirklicht. 386 Ich pflichte hier Galli bei, der berechtigterweise auf die Tatsache hinweist, dass der „il cattolicesimo serve in realtà a Schmitt soltanto come ‚punto di vista‘ e come esempio – sempre solo analogico, e non direttamente imitabile nella sua specificità – di capacità rappresentativa e della necessaria non arbitrarietà della decisione, come via per raggiungere ed enucleare la struttura teoretica dell’origine della politica ‚laica‘, secolarizzata“ (Galli 1996, S. 322). 387 Schmitt 2004a, S. 49. 388 Unter Rationalisierung verstehe ich hier zum Beispiel die Hegelsche dialektische Mittelbarkeit, durch die die Partikularität des Bewusstseins der subjektiven Erfahrung sich zum universellen Bewusstsein aufschwingt und sich so in einer Form der absoluten Mittelbarkeit konstituiert. Bei Hegel löst sich das Problem der Kontingenz durch die dialektische Mittelbarkeit, während das Problem sich für Schmitt nicht erledigt, sondern weiterhin als ständige Spannung bestehen bleibt, der entgegengetreten werden muss. Bei Hegel wird der nicht rationale Ursprung der Politik der Idee unterworfen und stellt somit ein Moment der dialektischen Negativität des absoluten Geistes dar (Galli 1996, S. 24–26)
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ziert werden können, ist eine schwere Aufgabe. Die Kirche kann dem Staat zeigen, dass die Verwirklichung eines Ideals in der weltlichen Sphäre sich nur durch die Repräsentation einer höheren Macht konkretisieren lässt. Für Schmitt beraubt die Mechanisierung der sozialen Wirklichkeit, die eine Verbindung zwischen der Gesamtheit aller Fakten und der kausalen Erklärung herstellt, die Wirklichkeit ihrer Fähigkeit zur Form oder zur Repräsentation, da diese die Idee verlangt, und nicht die objektive Anwesenheit von realen, konkreten und sichtbaren Dingen. Die empirische Überlegenheit einer als selbstevidente Objektivität, als automatisch anwendbare Gesetze und als eine sich selbst regulierende Wirtschaft begriffenen Wirklichkeit bedarf keiner souveränen politischen Handlung, keiner staatlichen oder überindividuellen Intervention und viel weniger noch einer Entscheidung zur Repräsentation. Diese Wirklichkeit kennt keine Kontingenzen, Ausnahmen, Brüche. Wenn Warenherstellung und Personenverkehr, wenn Angebot und Nachfrage von Konsumgütern und die juristische Reglementierung eine ihrem Funktionieren immanente Rationalität aufweisen, weshalb wollte man da der Wirklichkeit noch eine Form verleihen? Der Anspruch, der Wirklichkeit eine Form zu geben, bedeutet, diese zu orientieren, zu ordnen, ihr einen Sinn zu verleihen, Zeichen und Botschaften anzubieten, den Sinn der Abwesenheiten zu erklären, Antinomien389 zu umfassen, in der Errichtung einer juristischen Ordnung die Möglichkeit von Brüchen einzuschließen und diese niemals zu verleugnen. Die Annahme der Kontrolle des Unvorhersehbaren durch dessen Ausschluss, der Eliminierung der Zufälligkeit durch ihre Verleugnung, der Entfernung der Irrationalität durch ihre Unangemessenheit erhöht das Risiko und die Unverständlichkeit der Wirklichkeit. Die Kontingenz der Wirklichkeit des menschlichen Lebens kann nicht abgeschafft werden. Die tatsächlich vorhandene Möglichkeit eines Ausnahmezustandes, eines gewaltsamen Konflikts, eines Krieges kann nicht auf die empirische Rationalität oder auf eine wie auch immer gestaltete universelle Vernunft reduziert werden, da sie ein existentieller Aspekt der conditio humana ist, und als solcher muss ihr mittels einer politischen Handlung begegnet werden, die der Rechtsidee verpflichtet ist. Die Repräsentation, die Säkularisierung, die Verwirklichung eines Ideals in der Welt betrachtet die Wirklichkeit aus der Perspektive der Abwesenheit „einer transzendenten prästabilierten Harmonie“390. Schmitt zufolge gibt es keine „prästabilierte Harmonie“, denn Recht und Macht sind nicht dasselbe. Im Gegensatz zur Überzeugung des juristischen Positivismus ist der Staat, solange er nur faktischer Befehlswille ist, nicht Träger der Autorität und der Legitimität, denn diese Eigenschaften befinden sich außerhalb des Staates, d.h. in der Rechtsidee: Der Staat schafft nicht willkürlich das Recht und muss deshalb seine eigene Einheit von der Idee ableiten. Der Staat ist ein Zustand, ein Moment, dessen Sein sich nur 389 Zweifellos sind für Schmitt die Antinomien keine natürlichen Vorgaben, die in den Fortschritt der aufklärerischen, kantischen Vernunft verstrickt sind. Sie sind vielmehr Spannungen, Brüche und Widersprüche des sozialen Lebens, die vom complexio oppositorum des römischen Katholizismus umfangen werden (Schmitt 1984, S. 24). 390 Schmitt 2004a, S. 51.
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im Recht findet. Das Sein des Staates ist im Recht und leitet seine eigene Einheit von der juristischen Idee ab. Für den Staat ist die Einheit der juristischen Idee Ursprung, Form und Zweck. Es gibt keine Kontinuität, wenn das Recht im Staate ist, aber wenn der Staat im Recht ist, gibt es Einheit: Das Recht ist für den Staat, um einen Ausdruck des hl. Augustinus (de civ. Dei II. 11. c. 24) zu verwerten, origo, informatio, beatitudo. Darum gibt es keinen andern Staat als den Rechtsstaat und jeder empirische Staat empfängt seine Legitimation als erster Diener des Rechts. Dafür ist er aber auch das einzige Rechtssubjekt im eminenten Sinne, denn er ist der einzige Träger des im Recht zu findenden Ethos.391
Die zitierte Formel des heiligen Augustinus stammt aus dem 24. Kapitel des elften Buches des zweiten Teils des Werkes Civitas Dei. Gegen die Heiden. Das elfte Buch handelt von den Ursprüngen der Städte. Im genannten Kapitel schreibt Augustinus über die Beziehung zwischen Gott und der civitas Dei. Augustinus erklärt diese Beziehung, wenn er sagt, dass die heilige Stadt verwirklicht wurde gemäß der Güte des Schöpfers. Wenn wir unter Güte den Heiligen Geist verstehen, enthüllt sich die gesamte Dreieinigkeit in seinen Werken. Von ihnen kommen Ursprung, Form und Seligkeit der heiligen Stadt, der seligen Stadt der heiligen Engel.392 Obwohl Schmitt sich mit dieser Passage nicht näher befasst und sich auf die kurze Formel beschränkt, so bietet sie doch einen Hinweis darauf, wie einige der in Der Wert des Staates dargelegten Ideen entschlüsselt werden können. Schmitt verwendet die Beziehung zwischen Gott und der heiligen Stadt als analoge Referenz für die Behandlung der Beziehung zwischen Recht und Staat. Das Recht bedingt origo, informatio und beatitudo, die durch die souveräne Entscheidung des Staates verwirklicht werden. Zunächst sei festgehalten, dass die vom Autor angewandte Analogie eine Parallele zwischen Theologie und Politik herzustellen, und nicht eine religiöse Form oder Inhalt auf die politische Sphäre der civitas hominis zu übertragen oder von dieser abzuleiten sucht. Die Analogie bezieht sich nicht auf den grundlegenden Unterschied zwischen geistlicher und zeitlicher Sphäre. Sie entspricht einerseits der Struktur einer Beziehung, in der Gott Mensch wird, um den Glauben zu begründen, und andererseits dem Staat, der sich an die transzendente Rechtsidee bindet, um diese zu säkularisieren, d.h. um das Recht in der konkreten Wirklichkeit zu verwirklichen. Die strukturelle Identität in beiden Beziehungen offenbart sich in der Mittelbarkeit, die von oben nach unten, und nicht von unten nach oben erfolgt.393 Zweitens: Eine falsche Interpretation des Problems könnte den Anschein einer Übertragung oder Säkularisierung erwecken, durch die die ewige Freude der heiligen Stadt auf die Stadt der Menschen übertragen würde. Schmitt hat nicht vor, das der civitas Dei inhärente Paradies des ewigen Lebens auf die zeitliche Welt zu 391 Schmitt 2004a, S. 57. 392 Augustinus 2003b, S. 45. 393 Schmitt 2005c, S. 448.
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übertragen. Im Gegenteil: Er widersetzt sich der mechanistischen Sicht seiner Zeit, die den Himmel auf Erden errichten will.394 Der paradiesische Glaube an die totale Sicherheit der Selbstregierung der irdischen Welt, deren Funktionieren die souveräne politische Handlung unterdrückt, ist eine Hypostase. Die Idee einer der ihr immanenten Regelhaftigkeit überlassenen Welt vergrößert den Abgrund zwischen Idee und Wirklichkeit und katalysiert folglich auch die Krisen. Drittens: Schmitt hält fest, dass die ideale Struktur, die das Ewige im Zeitlichen zu offenbaren erlaubt, nicht anders ist als jene, die dem Staat in der Wirklichkeit Kontinuität verleiht. Die Lehre, die er daraus zieht, ist, dass sowohl die göttliche Ewigkeit im Zeitlichen als auch die staatliche Kontinuität in der Wirklichkeit nur in der Repräsentation existiert: Ewigkeit und Kontinuität haben ihren origo und ihre informatio nur in der abwesenden und unsichtbaren inhärenten Idee, die aber durch die Repräsentation gegenwärtig und sichtbar wird. Obwohl Schmitt dies in Der Wert des Staates nicht explizit sagt, scheint seine Triade Recht–Staat–Individuum von der Analogie mit der Heiligen Dreifaltigkeit Vater– Sohn–Heiliger Geist inspiriert zu sein.395 Ich möchte mich hier nicht weiter darüber auslassen, was sich Augustinus zufolge unter dem Schleier des dunklen Ausdrucks, d.h. im geheimen Zeichen der Dreieinigkeit befindet. Es ist jedoch wichtig darauf hinzuweisen, dass einige Kritiker auf dem Ende der politischen Theologie bestanden, da das trinitarische Prinzip die auf den Analogien zwischen Theologie und Jurisprudenz aufbauenden Interpretationen und Konstruktionen gefährdete. Eines der Argumente hinterfragte das Mysterium der Heiligen Dreifaltigkeit, da diese einen Polytheismus, eine Abwesenheit der Einheit offenbarte. In diesem Sinne wäre der Sohn nicht GottMensch, und die Dreifaltigkeit würde aufgrund ihres enigmatischen Charakters zum Gegenstand von Streitigkeiten, da sie die Analogien Gott/Staat, Monotheismus/Monarchie aufheben könnte.396 Was es hier aufzuzeigen gilt, ist, dass aus Schmitts Perspektive eine Analogie existiert zwischen der Form der Mittelbarkeit der Theologie, genauer, zwischen „Jesus Christus, dem Menschen, dem Mittler zwischen Gott und den Menschen“,397 und der Politik, d.h. dem Staat, dem Mittler zwischen Recht und Individuum. So, wie nur durch den Willen des fleischgewordenen Gottes das Wort 394 Schmitt 1991b, S. 60. 395 Vgl. Augustinus 2003b, S. 44. 396 Ich verweise auf den interessanten Artikel Politischer Monotheismus oder Trinitätslehre. Zu Möglichkeit und Unmöglichkeit einer christlichen politischen Theologie von Peter Koslowski aus dem Jahre 1983. Auf der Grundlage, dass Gott sich der Heiligen Schrift zufolge ein einziges Mal und unwiderruflich offenbart hat, meint der Autor, dass damit jede andere Offenbarung ausgeschlossen sei. Koslowski zufolge schließt die politische Theologie deshalb den Monotheismus nicht aus, weil die Dreifaltigkeit Gottes nicht der Schöpfung der Wesen entspricht“ (Koslowski 1983, S. 28–36). Augustinus war sich der Schwierigkeit bewusst, die die Lehre der Dreifaltigkeit enthält (vgl. Augustinus 2003b, S. 44). In diesem Sinne, d.h. durch die Hinterfragung der Dreifaltigkeit, wäre es also schwierig, die Unmöglichkeit der von Schmitt in seiner politischen Theologie verwendeten strukturellen Analogien zu postulieren. 397 Siehe diesbezüglich Augustinus, erster Teil, Civitas Dei, S. 356, 2003.
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verwirklicht wird (Joh. 1:14), so ist es auch nur durch den Staat möglich, das Recht zu verwirklichen. Die Säkularisierung durch die politische Handlung der höchsten Macht ist unverzichtbar, wenn vermieden werden soll, dass das Recht auf den leeren, im Dienst der sozialen Interessengruppen eines Konflikts stehenden Normativismus reduziert werde. So findet sich der von Schmitt entwickelte Staatsbegriff, der auf der Intervention zur Verwirklichung einer Idee gründet, in einer zu einem Gott, der in dieser Welt interveniert, analogen Position. Deshalb folgert Schmitt: „Der Begriff des Staates bekommt so für das Recht eine genaue analoge Position, wie sie der Gottesbegriff,398 der aus der Notwendigkeit einer Verwirklichung des Sittlichen in der realen Welt entspringt, für die Ethik einnimmt.“399 Im vorhergehenden Kapitel habe ich darauf hingewiesen, wie in Gesetz und Urteil der Parallelismus zwischen Theologie und Jurisprudenz Schmitts Aufmerksamkeit erregt hatte. Im oben aufgeführten Zitat spricht der Jurist erstmals explizit die strukturelle Analogie zwischen Staats- und Gottesbegriff an. In der von Schmitt vorgestellten Parallele, nimmt sein Staatsbegriff gegenüber dem Recht eine Stellung ein, die jener analog ist, die vom kantischen Gottesbegriff400 gegenüber der Ethik eingenommen wird. Der deutsche Philosoph hebt die praktische Vernunft an die Stelle, die vom Gottesbegriff – verstanden als höchster, und folglich begründender und ordnender Wille – eingenommen wird. Obwohl Schmitt sich auf die kantische Vorstellung der strukturellen Analogie bezieht und sogar durch sie inspiriert wird, meint er, dass es der „Analogie des Kantischen Primates der praktischen Vernunft oder (der) […] Vorherrschaft des Willens vor dem Intellekt“ nicht gelingt, „die Selbständigkeit und Geschlossenheit der logischen Regeln“ zu berühren.401 Das praktische, verwirklichende Prinzip der kantischen Ethik stellt keine Verbindung mit dem Recht her, da es aus dem Gehorsam gegenüber dem bloßen, faktischen Willen irgendeiner gesetzgebenden Macht hervorgeht.402 Doch gilt es
398 Siehe Kant (2004e, S. 234). 399 Schmitt 2004a, S. 58f. 400 In seinen Bemerkungen über Schmitts Staatsbegriff, bemerkt Nicoletti, dass „se da un lato lo stato appare semplice servitore del diritto cui spetta un costante primato rispetto ad ogni realtà empirica, dall’altra esso assume una posizione esclusiva nella realizzazione dell’ordine giuridico tale da rendere il suo ruolo simile a quello del Dio kantiano nei confronti dell‘etica“ (Nicoletti 1990, S. 48). 401 Schmitt 2004a, S. 55. 402 Dies ist einer der Gründe, weshalb Schmitt in seinen Arbeiten Kant wiederholt kritisiert. Der Rechtsdoktrin des deutschen Philosophen gelingt es nie, eine Verbindung durch das praktische Prinzip der Vernunft mit dem Recht herzustellen. Aufgrund der Tatsache, dass die praktische Vernunft sich ihr eigenes Recht, das den Willen bestimmt, zuschreibt, stößt sie in der äußeren Welt auf keine Resonanz, und das Individuum schuldet damit irgendeiner Macht Gehorsam. Kants Rechtstheorie legitimiert letzten Endes jede politische Macht, denn da es keine Verbindung zwischen ethischem Recht und juristischer Pflicht gibt, „der jetzt gegebenen Gewalt gehorchen zu sollen: ihr Ursprung mag sein, welcher er wolle“. Auf diese Weise verneint er das Widerstandsrecht, da er erkennt, dass „der Untertan dieser Ungerechtigkeit zwar
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Schmitts Interesse für die strukturelle Behandlung zu verstehen, die der deutsche Philosoph der Analogie zukommen lässt. Wenn Kant eine Analogie zwischen dem Vorrang der praktischen Vernunft oder eines gesetzgebenden Willens Gottes und der Ethik herstellt, erachtet Schmitt den Staat als in einer zum kantischen Gott analogen Position, d.h. eines transzendenten Willens, der das Recht in der konkreten Welt verwirklicht. Der Schmittsche Staat verhält sich so zum Recht, wie der kantische Gott sich zur Ethik verhält. Staat und Gott erscheinen hier als höchster Wille zur Verwirklichung eines Zweckes. Auch wenn beide Autoren die Analogie mit komplett anderen Absichten verwenden, so stimmt Schmitt doch dem strukturellen Sinn zu, den Kant ihr zuweist. In der Annahme, dass er den zu seiner Zeit gängigen Sinn der Analogie verlässt, weist Kant darauf hin, dass „eine solche Erkenntnis die nach der Analogie ist, welche nicht etwa, wie man das Wort gemeiniglich nimmt, eine unvollkommene Ähnlichkeit zweener Dinge, sondern eine vollkommene Ähnlichkeit zweener Verhältnisse zwischen ganz unähnlichen Dingen bedeutet“403. Nun, Gott und die praktische Vernunft sind, Kant zufolge, komplett voneinander verschieden, offenbaren aber eine „perfekte Ähnlichkeit“ in der strukturellen Identität ihrer Relationen. Die Beziehung Gottes zu der Welt ist die eines höchsten Wesens, dessen Wille die Ursache der Welt ist. Die praktische Vernunft hingegen bietet eine zu ersteren identische Beziehung: jene nämlich eines höchsten Willens, der die „moralidade no mundo real“ verwirklicht. Die zur Diskussion stehende Analogie besteht in einer strukturellen, begrifflichen Analogie, von deren Beziehung ein praktisches Prinzip eines höheren, gesetzgebenden Willens abgeleitet wird. Wie Kant es ausdrückt: Vermittelst dieser Analogie bleibt doch ein vor uns hinlänglich bestimmter Begriff von dem höchsten Wesen übrig, ob wir gleich alles weggelassen haben, was ihn schlechthin und an sich selbst bestimmen könnte, denn wir bestimmen ihn doch respektiv auf die Welt und mithin auf uns, und mehr ist uns auch nicht nötig.404
Die praktische Vernunft besetzt in ihrer Beziehung zur Ethik dieselbe Position, die der Gottesbegriff in Bezug auf den Staat besetzt. Es ist interessant zu beobachten, wie Kant sich bemüht, den Inhalt des Inhalts, die Essenz des Gottesbegriffs selbst nicht zu definieren. Für diese Analogie reicht die Definition eines höheren Wesens oder eines höheren Willens aus, denn Kant will verhindern, dass menschliche Eigenschaften auf diese Analogie übertragen werden. Sein Bemühen, einen Anthropomorphismus zu verhindern, zielt darauf ab, eine transzendente Struktur zu erhalten, die dem gesetzgebenden Willen a priori ist. Ich kann mir jedoch nicht vorstellen, wie ein Anthropomorphismus – eine von der conditio humana unablösbare Eigenschaft – verhindert werden sollte, auch wenn es sich um die Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis von Dingen der sinnlichen Welt handelt. Dennoch hält Kant daran fest, dass es sich hierbei um die Beschwerden (gravamina), aber keinen Widerstand entgegensetzen“ darf (Kant 2004d, S. 438) 403 Kant 2004e, S. 233. 404 Kant 2004e, S. 233.
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Übertragung von Prädikaten der sinnlichen Welt auf ein grundlegend verschiedenes Wesen handelt. Mit anderen Worten: Der Anthropomorphismus betrifft die sinnliche Welt, während die praktische Vernunft einer metaphysischen Dimension zugehört. Die Unverständlichkeit der Essenz des Gottesbegriffs entspricht dem Umstand, dass das Argument der Analogie nicht auf einer ontologischen Übertragung beruht, sondern nur auf einer strukturellen Beziehung. Die Überlegungen des deutschen Philosophen werden schließlich zu einer Reflexion über den Deismus und den Theismus führen. Der Theismus setzt einen persönlichen Gott voraus, der gleichzeitig Schöpfer und Herrscher der Welt ist, Ursprung aller Dinge und deshalb in der Lage, direkt in der konkreten Wirklichkeit der Welt zu handeln und mit ihr zu interagieren. Im Gegensatz dazu behauptet der Deismus ein höheres Wesen, eine letzte Ursache, ein transzendentes Prinzip, dem es aber nicht gegeben ist, direkt in den Angelegenheiten der Welt zu intervenieren. Für Kant entspricht die reine, spekulative Vernunft dem Deismus: „Der deistische Begriff ist ein ganz reiner Vernunftbegriff“, denn sein spekulativer Charakter entspricht einer Idee, die in der Lage ist, ein Ding darzustellen, das in sich alle Wirklichkeiten enthält.405 Kants Analogie zwischen Gott und der reinen Vernunft – die in sich selbst praktisch ist – ist nicht in der Lage, in der realen Welt eine Moral einzuführen, denn die Reduktion Gottes auf einen Begriff und die Annahme des Deismus neutralisiert die Möglichkeit eines Handelns, das eine Moral oder irgendeine Idee in der Welt verwirklichen könnte. Nun, diese kantische Analogie bedeutet die Neutralisierung oder die Entleerung einer praktischen Dimension des souveränen politischen Handelns auf der Ebene der phänomenologischen Welt. Hierin liegt einer der wichtigsten Gründe der Krise der modernen politischen Theorie, zumal die Vernichtung des theistischen Gottes in dieser Analogie mit der konkreten politischen Wirklichkeit die Entfernung des souveränen politischen Subjekts bedeutet. Aus Schmitts Perspektive, wird „Gott selbst […] in der Metaphysik des Deismus im 18. Jahrhundert aus der Welt herausgesetzt und gegenüber den Kämpfen und Gegensätzen des wirklichen Lebens zu einer neutralen Instanz“.406 Die kantische Analogie wird von Schmitt als ein Faktor und gleichzeitig als Hinweis auf den Versuch interpretiert, eine souveräne politische Handlung in der Welt durch die Unterhöhlung ihrer Transzendenz und durch den Verlust seiner persönlichen Eigenschaft auszuschließen. So wird Gott „ein Begriff und hört auf, ein Wesen zu sein“.407 Aus Kants Perspektive kann jedoch nur eine deistische Analogie den Anthropomorphismus verhindern, der als Übertragung der menschlichen Attribute, genauer der Eigenschaften der sinnlichen Welt auf die reine Vernunft begriffen wird. Obwohl Schmitt ebenso wie Kant die Analogie als strukturelle Identität von Beziehungen zwischen zwei unterschiedlichen Dingen anerkennt, zielt seine Verwendung der Analogie ganz klar auf die strukturelle Affinität, die zwischen theo405 Kant 2004e, S. 230. 406 Schmitt 2002b, S. 89. 407 Schmitt 2002b, S. 89.
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logisch-metaphysischen Begriffen und Begriffen der Staatsdoktrin besteht. Es existiert also eine klare strukturelle Analogie zwischen Theologie und Politik, deren gemeinsame Struktur in der Mediation zwischen idealer und realer Welt sichtbar wird. Zwei Aspekte müssen hier beachtet werden: Der erste ist, dass diese Denkweise, die der Autor ab 1922 als politische Theologie bezeichnet, nicht die Absicht verfolgt, die politische Macht zu sakralisieren408. Nicoletti bemerkt hierzu: La „teologia politica“ fin dall’inizio non esprime la sacralizzazione del potere o la politicizzazione della religione, cioè l’appiattimento e la strumentalizzazione di una dimensione a favore dell’altra, quanto piuttosto la mediazione necessitata dalla distanza tra le due realità.409
Diese Aussage trifft insofern zu, als es die grundlegende Schwierigkeit in Der Wert des Staates als die Distanz zwischen der idealen und der realen Wirklichkeit begreift, die einen Zwang410 auf die Mediation ausübt, eine Brücke über den Abgrund zu bauen; und um ihre Effizienz sicherzustellen, fordert sie eine absolute und exklusive Macht, durch die das Ideal sichtbar wird. Meines Erachtens ist diese Bemerkung korrekt und begreift Schmitts Bemühen, eine Form für die Wirklichkeit durch die mühsame Aufgabe der Objektivierung oder durch den Versuch, das Ideal im Realen sichtbar zu machen, zu finden. Eine Frage, die Nicoletti jedoch nicht zu beantworten scheint, ist jene, ob Schmitt zufolge die Mediation sich nur auf die Entscheidung des Rechtssubjektes, d.h. des Staates, bezieht, oder ob sie auch die Idee der Repräsentation umfasst, durch welche die Idee Sichtbarkeit erlangt. Nun, der Schlüssel zur Aufklärung dieser Frage über die Bedeutung der Mediation ist im Sinn zu finden, den die Säkularisierung annimmt. Dieser Sinn schließt nicht nur die Entscheidung zur Verwirklichung des Rechts ein, sondern auch das Prinzip der Repräsentation, welches Schmitt anhand der Analogien zwischen theologisch-metaphysischen und politischen Begriffen ausarbeitet. Diese Analogien haben einen hermeneutischen Charakter, sie stellen aber auch eine Instrumentalisierung der kanonischen Rechtsprinzipien dar, die auf das Denken der praktischen Politik gerichtet sind. Dies bedeutet keine Nachahmung, sondern die Möglichkeit, die politische Dimension der
408 Ganz im Gegenteil: andere Arbeiten wie Politische Theologie und Der Begriff des Politischen zeigen, wie Schmitt die politische Sphäre zu säkularisieren sucht, indem er das Politische auf die existentielle Dimension der konkreten Antagonismen zurückführt. 409 Nicoletti 1990, S. 49. 410 In seinem Aufsatz Zur politischen Anthropologie Carl Schmitts bemerkt auch Friedrich Balke die ständige Konfrontation mit der Entscheidung, der die menschliche Existenz aufgrund der Bewusstmachung ihrer Kontingenz ausgesetzt ist. In einer Bemerkung über den Prozess der von Max Weber beschriebenen Entzauberung der Welt, über die Relativierung des Weltbildes, die zu einem Verlust der „natürlichen Legitimität führt, sagt er: „Der Mensch wird sich selbst mit einem Schlage kontingent, sieht sich in einem Horizont des Auch-anders-seinKönnens gestellt und damit einem permanenten Entscheidungsdruck ausgesetzt, da er niemals alle sich aufdrängenden Alternativen realisieren kann“ (Balke 1990, S. 40).
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Entscheidung zu denken, ohne sich dabei in den Antinomien der von dem aufklärerischen Rationalismus definierten Begriffe zu verstricken. Die Rolle, die in Schmitts Denken der Analogie zwischen Theologie und Politik zukommt, erlaubt eine Kritik der politischen Begriffe der Doktrin des modernen Staates. Ihre Anwendung verfolgt auch die Absicht, die juristischen und politischen Argumente bezüglich der Säkularisierung des Politischen zu untermauern. Die strukturelle Analogie zwischen theologisch-metaphysischen Begriffen und den Begriffen der Staatsdoktrin weist nicht nur eine heuristische Dimension auf, sondern dient auch Schmitts Staatstheorie als Prinzip der Intervention in der politischen Wirklichkeit. Meines Erachtens erhebt die politische Intervention in der Wirklichkeit durch die Säkularisierung eines Ideals die Säkularisierung zu etwas, das mehr ist als ein bloßes Werkzeug zum Verständnis der Wirklichkeit. In diesem Sinne nimmt der Säkularisierungsbegriff schon in Der Wert des Staates einen Sinn an, der den epistemologischen Sinn als Erkenntnismodus mittels des dialektischen Antagonismus, der die in der Wirklichkeit vorhandenen Brüche aufzeigt, übersteigt. Es handelt sich um einen Begriff, der nicht nur das verkörpert, was der Normativität entflieht – wie Krisen, Brüche, Konflikte –, sondern auch den Status postuliert, ein politischer Prozess der konkreten Intervention in der Wirklichkeit zu sein. Diese Intervention wird auch im Sinn deutlich, der dem Staat zugeschrieben wird: Der Sinn des Staates besteht demnach in seiner Aufgabe, Recht in der Welt zu verwirklichen und auf sie in dieser Richtung einzuwirken. Warum er die höchste Gewalt ist, folgt aus dieser Aufgabe; warum er die höchste Gewalt sein muss, ergibt sich aus der Richtung seiner Aufgabe, da die Einwirkung auf die Welt der Phänomene eine faktische Macht zur Voraussetzung hat.411
Obwohl Schmitt hier den Begriff Säkularisierung noch nicht explizit genannt hat, enthüllt diese Passage doch den säkularisierenden Eifer seiner Vorstellungen. Der Staat verwirklicht das Recht nicht durch eine einzige politische Handlung, sondern durch kontinuierliches Handeln, d.h. als Handeln in dieser Welt „in dieser Richtung“. Das Handeln zur Verwirklichung der Rechtsidee durch den Staat spiegelt die konstante Spannung zwischen der idealen Dimension, die aufgrund ihrer Subjektivität unverständlich ist, und ihrer Übertragung auf die reale, verständliche Sphäre wider. Das Handeln in der Welt der Phänomene setzt nicht die allmächtige Idee einer juristischen Norm voraus, die sich selbst verwirklicht und auf sich selbst anwendet, sondern eine faktische Macht: Die Rechtsnorm geht nie eine Verbindung mit der Wirklichkeit ein, ihr kann daher nicht ein Zwang oder eine Erzwingbarkeit als Begriffsmerkmal zugeschrieben werden. Die richtige Stelle, an die der Zwang und die Wirkung gehört, ist der Staat als der Mittler des Rechts, dessen Sinn darin liegt, Recht zu verwirklichen.412
411 Schmitt 2004a, S. 58. 412 Schmitt 2004a, S. 70f.
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Wichtig ist hier, dass die faktische Macht eine absolute Macht darstellt, in den Worten Schmitts „eine höchste Macht“, die das einzige Subjekt des Ethos des Rechts, der einzige Träger der Pflicht seiner Verwirklichung ist. Dies ist insofern wichtig, als die Idee, die die Wirklichkeit verwandelt, eine vermittelnde Anstrengung verlangt, die von der souveränen politischen Entscheidung abhängt. Der Primat einer Macht in Bezug auf alle übrigen Mächte der empirischen Wirklichkeit begründet sich nicht in seiner Ausübung von Zwang. Natürlich kann sie diesen Zwang ausüben, doch „die Autorität des Staates liegt trotzdem nicht in der Macht, sondern im Recht, das er zur Ausführung bringt“.413 Deshalb sagt Schmitt in Römischer Katholizismus und Politische Form: „Kein politisches System kann mit bloßer Technik der Machtbehauptung auch nur eine Generation überdauern. Zum Politischen gehört die Idee, weil es keine Politik gibt ohne Autorität und keine Autorität ohne ein Ethos der Überzeugung.“414 2.7. Entscheidung als Mittler: Dialektik der Rechtsverwirklichung Um die Mittelbarkeit zu verstehen, die durch den Staat verwirklicht wird, müssen ihr inneres Funktionieren und ihre Folgen untersucht werden. Die von der staatlichen Entscheidung verwirklichte Mittelbarkeit stellt eine Verbindung her zwischen den beiden Seiten des Abgrundes und bewirkt so eine Trennung auf diesen beiden Seiten. Auf der einen Seite befindet sich die juristische Norm – die ideelle Dimension – die, indem die durch den Staat hergestellte Verbindung überschritten wird, von einem empirischen Moment durchdrungen wird und so eine Aufteilung erleidet. Auf der andern Seite tritt der Staat als Mittler des Rechts in die empirische Welt – die reale Dimension – ein und sieht sich so genötigt, seinen Mechanismus von Absichten und Zwecken anzupassen. Schmitt erklärt das Problem wie folgt: Dadurch aber, dass der Staat die Verbindung herstellt zwischen dem Recht und der empirischen Welt, fließt in die durch den Staat proklamierte Rechtsnorm, die durch den Staat als Medium hindurchgegangen ist und so eine spezifische Modifikation erlitten hat, ein Moment des Empirischen mit ein. Das ganze Gebiet des empirischen Rechts zerfällt dadurch in zwei Komplexe. Der Staat, der Mittler des Rechts, tritt handelnd in die Welt ein und muss sich dort nach deren Mechanismus von Mittel und Zweck einrichten. In demselben Augenblick, in dem er die empirische Welt benutzt, um etwas Bestimmtes aus ihr zu machen, wirkt diese auf ihn zurück mit der Macht, wie sie das Material über den Künstler, die gegebenen Eigenschaften des Dieners über den Herrn haben. Die Welt stellt ihn in den Zusammenhang ihrer Relationen, und erreicht, dass er, um auf sie einzuwirken, Äußerungen eines lediglich empirischen Willens von sich geben muss.415
Der Eintritt des Staates in die empirische Welt erhöht die Spannung zwischen der Handlung, die er ihr aufzuzwingen sucht, um sie zu verändern, und der Reaktion der empirischen Welt auf den Staat. Das Resultat dieser Mediation – eine Rolle, 413 Schmitt 2004a, S. 71. 414 Schmitt 1984, S. 28. 415 Schmitt 2004a, S. 75f.
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die durch die Entscheidung ausgeübt wird – durch den Staat ist die Teilung der empirischen Wirklichkeit, die aus der Spannung der staatlichen Handlung hervorgeht, die die Wirklichkeit zu gestalten sucht. Diese reagiert ihrerseits auf den Versuch des Staates, indem sie ihm ihre Funktionsweise entgegensetzt. Auf der anderen Seite, in der ideellen Sphäre des Rechts, erfolgt auch eine Teilung. Daraus entsteht, wie Schmitt verkündet, ein dem Recht „endogener Dualismus“: der Dualismus zwischen abstraktem und staatlichem Recht.416 Dieser Dualismus bestimmt die Struktur jeder juristischen, empirischen und einzelnen Vorschrift. Die Entscheidung des Staates in der Sphäre des Idealen oder der Rechtsidee bewirkt eine Spaltung, durch die das Recht aufgetrennt wird: einerseits in das abstrakte, in seiner Beziehung zum Staat als originär und beherrschend definiertes Recht, wobei es gleichzeitig Reflex der konkreten Manifestation des staatlichen Willens in der empirischen Wirklichkeit ist, andererseits in das staatliche Recht, verstanden als vermittelndes, auf einen Zweck ausgerichtetes Recht. Dieses Recht befindet sich, was das originäre Recht angeht, nicht in einer Beziehung von Mittel und Zweck. Es ist von grundlegender Bedeutung hervorzuheben, dass dieses staatliche Recht, das auf einen Zweck ausgerichtet ist, die empirische Welt als Wirkungsraum begreift: Die reale Welt besteht aus dem effektiven Raum der souveränen politischen Handlung, der die Aufgabe zukommt, das Ideal zu verwirklichen: Auf der einen Seite steht demnach das Recht, das vor dem Staate da war und als Gedanke unabhängig von ihm ist, das in seiner Beziehung zum Staat als herrschendes, originäres, in seiner Beziehung zu den konkreten Willensäußerungen, die sein Abglanz in der empirischen Welt sind, als abstraktes Recht bezeichnet werden kann; auf der andern Seite das staatliche Recht, als dienendes, zweckbestimmtes, vermittelndes Recht, das nicht zu dem originären Recht im Verhältnis von Mittel und Zweck steht, dessen Zweckhaftigkeit vielmehr in seiner Aufnahme der empirischen Welt als des Wirkungsfeldes beruht.417
Die zentrale Achse von Schmitts politischer Philosophie besteht darin aufzuzeigen, dass die Forderung nach einer Idee oder der Anspruch, dass die Macht sich auf der Grundlage einer Idee oder eines originären Rechts legitimiert, nicht ausreicht. Zunächst gilt es, „die empirische Welt als Wirkungsfeld“ anzuerkennen. Dann ist das Bewusstsein erforderlich, dass die Verwirklichung einer Idee in der empirischen Welt, der Kampf um seine Externalisierung und Repräsentation ein schwieriges Verfahren darstellt, das von Opfern und Brüchen geprägt ist, die aufgrund der Dynamik der Objektivierung unvermeidlich sind. Ein weiterer Punkt ist, dass diese Tätigkeit eine eminent politische Handlung darstellt, da sie das Äußere nicht der Idee der vielfältigen Welt des Innern der Einzelwesen zu unterwerfen sucht, sondern sich bemüht, die äußerliche Wirklichkeit zu gestalten – für sie eine Form zu finden, was bedeutet, sie zu säkularisieren und sie durch die politische Praxis der an Ideen ausgerichteten Handlung sichtbar zu machen. Die Ontologie einer möglichen Welt ist, falls keine höchste Entscheidung zugunsten ihrer effektiven Verwirklichung auftritt, nur ein Traum. So gesehen sind die abstrakten juris416 Schmitt 2004a, S. 79. 417 Schmitt 2004a, S. 76f.
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tischen Normen, durch die der Staat sich manifestiert, Bilder einer möglichen Welt, die darauf ausgerichtet sind, die Wirklichkeit zu gestalten. Aus Schmitts Perspektive jedoch müssen die Ideen teilweise – da ihre Übertragung auf die äußere Welt immer mit einem Verlust verbunden ist – die Wirklichkeit verkörpern oder sich in sie verwandeln, was ohne die von der souveränen Entscheidung vermittelte politische Tätigkeit oder, wie der Jurist sich ausdrückt, ohne den „Akt souveräner Entscheidung“ nicht möglich ist.418 Eine der Spannungen in Schmitts juristischem und politischem Denken besteht in der Herausforderung, die Beziehung zwischen Recht und Macht bis zu ihren letzten Konsequenzen zu Ende zu denken. Diesem Bemühen liegt die Aufgabe der politischen Philosophie zugrunde: zu verhindern, dass die Macht nicht nur eine willkürliche Macht und das Recht nicht nur ein abstrakter Normativismus, eine leere und kraftlose Form sei. Aus dieser Perspektive sieht man einerseits das Beharren darauf zu zeigen, dass die Herrschaft der Dinge einer souveränen politischen Entscheidung bedarf. In der Normalität, in der Routine ist dies jedoch aufgrund der Tendenz, die Herrschaft der Dinge oder der Gesetze als etwas Natürliches, als etwas der faktischen Natur der historischen Ereignisse Inhärentes zu betrachten, keineswegs evident. Dieser Haltung tritt Schmitt mit einem politischen Denken entgegen, das die Krisen in sich aufzunehmen vermag. Es handelt sich nicht um einen dramatischen Stil, sondern um ein Denken, das angesichts des Hin und Her des menschlichen Lebens, das von der unausweichlichen, realen Möglichkeit, dass die Ordnung aus dem Ruder laufen kann, geprägt ist, nicht klein beigibt. Andererseits betont Schmitts Staatsphilosophie die Unverzichtbarkeit der politischen Handlung, da die Ideen sich nicht selbst anwenden, sie fallen nicht vom Himmel und sind logisch nicht ableitbar. Das Problem besteht darin, dass die Verwirklichung der Rechtsidee immer eine Entscheidung bedingt, deren eigene Struktur die Norm zwischen abstraktem, originärem Recht und seiner Verwirklichung spaltet. Die Unterscheidung zwischen abstraktem Recht und staatlichem Recht wird von Schmitt in seiner Arbeit Die Diktatur (1921) im Rahmen seiner Diskussion über die Rechtsnorm und die Rechtsverwirklichungsnorm wieder aufgenommen. Ihre Bedeutung bezieht sich auf die Nicht-Reduzierbarkeit eines Teils der Norm auf die konkrete objektive Wirklichkeit. Das bedeutet, dass in der normativen Struktur des staatlichen Rechts ein nichtstaatliches und originäres Rechtselement vorhanden ist. Es gibt in der Struktur der juristischen Norm oder jeden Rechtssatzes einen originären, „Naturrecht ohne Naturalismus“ genannten Aspekt. Schmitt erläutert den Ausdruck wie folgt: Das, was den Rechtssatz determiniert und ihn z.B. von einem polizeilichen Reglement unterscheidet, beruht auf dem Element originären, nichtstaatlichen Rechts, dessen nähere Bestimmung nicht Aufgabe dieser Abhandlung ist und von dem (um einmal auf die Gefahr einer Pa-
418 Schmitt 2004a, S. 79.
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radoxie prägnant zu sein) nur gesagt werden soll, dass es als ein Naturrecht ohne Naturalismus auftreten muss.419
Der Ausdruck „Naturrecht ohne Naturalismus“ war Grund von Missverständnissen und Zweideutigkeiten. Einige sahen in Schmitt einen Rechtsnaturalisten, Andere erkannten darin einen Positivismus. Der Autor beschwert sich über diese Falschauslegungen im Vorwort zu Die Diktatur.420 Der genannte Ausdruck dient ihm als Synthese seiner Ideen, da er den säkularisierenden Charakter seiner Absicht deutlich macht. Doch man darf durchaus fragen, was der Ausdruck „Naturrecht ohne Naturalismus“ zu bedeuten habe. Dem Juristen zufolge muss „innerhalb jedes einzelnen empirischen Rechtssatzes die Scheidung“ der Rechtsidee von den Momenten, die sich auf ihre Verwirklichung und Anwendung beziehen, getroffen werden.421 Zwischen Rechtsnorm und ihrer Verwirklichung gibt es immer eine Unterscheidung, denn in der Verwirklichung oder Anwendung der Norm ist etwas vom nichtstaatlichen Recht enthalten, das trotz seines Abglanzes sich nicht verwirklicht und sich nicht auf die empirische Tatsächlichkeit reduziert. Die Nicht-Reduzierbarkeit des Ideals im Realen wird von Schmitt sehr ernst genommen, da sie die Struktur der Entscheidungstheorie und das Problem der Säkularisierung betrifft. Das Naturrecht ohne Naturalismus offenbart also eine autonome Dimension jeden Rechtssatzes, einen nichtstaatlichen Aspekt des Rechts, der sich nicht verwirklicht, so dass er nicht zu einem konkreten positiven Recht wird. Der Schlüssel zum Verständnis des Ausdrucks „Naturrecht ohne Naturalismus“ scheint mir in der Tatsache zu liegen, dass die Entscheidung zur Rechtsverwirklichung immer eine Unterscheidung, eine Teilung zwischen Idee und Wirklichkeit, zwischen Ideal und seiner Verwirklichung, zwischen dem, was transzendent, und dem, was der empirischen Welt immanent wird, bedingt. Die Entscheidung führt zum Opfer der Idee im Namen ihres Übergangs von etwas Subjektivem zum etwas Objektiven, in einen neuen Zustand also. Es gibt aber immer etwas, das nicht von der Vermittlung einer höchsten politischen Macht erfasst wird. Dieses Etwas, ein originäres, nicht reduzierbares Element oder Prinzip, ist der Teil der Norm, der nicht verwirklicht werden kann, ihr idealer Teil also. Hier spielt die Frage der Repräsentation hinein, denn in Carl Schmitts Sicht verlangt die Repräsentation Transzendenz, etwas, das nicht immanent wird oder das sich nicht auf die bloße empirische Faktizität oder auf die Notwendigkeit einer permanenten Objektivität reduzieren lässt. Die empirische Immanenz, die Fakten oder selbst das positivierte, externalisierte Recht ist nicht zur Repräsentation fähig, da sie zu etwas Konkretem, Anwesenden geworden ist. Im Gegensatz zu jenem Teil des Rechts, der in der konkreten Wirklichkeit verkörpert wurde oder zu dieser selbst geworden ist, kann jener Teil des Rechtssatzes, das nichtstaatliche Element, eine sichtbare Form annehmen. In anderen Worten verkörpern Schmitt zufolge die Ideen die Wirklichkeit nicht zur Gänze, sie können nicht zur Gänze auf eine kon419 Schmitt 2004a, S. 77. 420 Schmitt 1994f, S. XX. 421 Schmitt 2004a, S. 77.
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krete Objektivität reduziert werden: Der Triumpf der absoluten Objektivität, so wie sie vom Technizismus der mechanischen Zeit bewirkt wurde, kann nicht die Oberhand behalten. Deshalb hebe ich deutlich hervor, dass die Kontinuität, die Dauer einer politischen Macht oder, wie Hobbes422 sich ausdrückte, „die künstliche Ewigkeit des Lebens“ des Staates oder seiner Seele nur in der Form und nicht in der vergänglichen Materie zu finden sein kann. Nur die Idee, die Form, kann sich über die Tatsächlichkeit der Wirklichkeit erheben und Kontinuität erlangen. Dies zeigt sich an der zentralen Bedeutung, die der Entscheidung in Schmitts Denken zukommt. Aus diesem Grunde betrifft die Anwendung oder Übertragung einer Idee oder einer juristischen Norm auf einen konkreten Fall die in einen Rechtsstreit involvierten Parteien. Jener Teil der juristischen Norm, der sich konkretisiert, ist relevant, hat aber nur einen beschränkten Einfluss auf die genannten Parteien, da er unfähig ist, sich ihnen entgegenzustellen und eine Kontinuität zu erlangen, da er bereits faktische Wirklichkeit geworden ist. Es trifft zu, dass für Schmitt jedes Recht situationelles Recht ist. Man sollte jedoch nicht aus den Augen verlieren, dass der Teil des Rechtssatzes, der nicht auf die faktische Wirklichkeit reduziert werden kann, transzendent ist und somit durch die Repräsentation einer politischen Macht, die auf einer anderen Grundlage als der der physischen Macht entscheidet, sichtbar werden kann. Entscheidung bedeutet immer auch eine Loslösung des normativen Inhalts von der zu verwirklichenden Idee, so dass diese Idee, obwohl sie die Beschlussfassung orientiert, sich nie ganz verwirklicht, dennoch aber Wirkungen in der Wirklichkeit erzielt. Somit gibt es in der Struktur jeder Entscheidung eine Ausnahme. Schon in Gesetz und Urteil hatte Schmitt gesagt, dass „jede psychische Tätigkeit selbstverständlich auf einem voluntaristischen Vorgang beruht; jede Entscheidung auf einem Werten und Wollen“.423 Die Entscheidung ist nicht nur gegenüber jenem Teil der Idee autonom, der sich in der Wirklichkeit verwirklicht hat, sondern auch in Bezug auf die originäre Idee, die sich nicht verwirklicht. Deshalb ist es meines Erachtens von grundlegender Bedeutung zu verstehen, dass der Staat die partielle – und niemals die vollständige – Inkarnation des Rechtsideals durch die andauernde Ausübung der Entscheidungstätigkeit sein muss. Das bedeutet, dass das Bemühen um die Verwirklichung der Idee einer konstanten Spannung zwischen unsichtbarer Idee und kon422 Einer der zentralsten Gedanken in Hobbes’ Leviathan besteht in der Untersuchung des Verhältnisses zwischen Materie und Form, das die Kontinuität oder die Unsterblichkeit des Staates definieren könnte. Der Leviathan, dem Hobbes’ Werk seinen Titel verdankt, besitzt eine so große Ausstrahlungskraft, dass der Rest des Titels normalerweise überschattet wird. In seiner Gänze lautet der Titel Leviathan oder Die Materie, Form und Macht eines kirchlichen und staatlichen Gemeinwesen. Ausgehend von der Analyse verschiedener institutioneller Regierungsformen, kommt Hobbes zum Schluss, dass „of all these forms of government, the matter being mortal, so that not only monarchs, but also whole assemblies die, it is necessary for the conservation of the peace of man that as there was order taken for an artificial man, so there be order also taken for an artificial eternity of life“ (Hobbes 1983, S. 119). Die künstliche Ewigkeit existiert nur in der Idee. 423 Schmitt 1912, S. 99.
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kreter Wirklichkeit ausgesetzt ist. Daraus lässt sich schließen, dass die souveräne politische Macht, die der Aufgabe der Verwirklichung juristischer Normen in der empirischen Welt verpflichtet ist, sich der Struktur der souveränen Entscheidung – der Trennung zwischen Idealem und Realem –, der Möglichkeit, die Wirklichkeit der Welt zu gestalten, verdankt. Die Möglichkeit einer Veränderung424 der Wirklichkeit der empirischen Welt durch die Entscheidung verdankt sich der Rechtsstruktur, aber auch der eigenen Wirklichkeit, die in sich den Dualismus zwischen Abstraktem und Konkretem enthält. Hier sei an das vorhergehende Kapitel erinnert, in dem beschrieben wird, wie Schmitt in Gesetz und Urteil in seiner Auseinandersetzung mit Hegels Rechtsphilosophie im Gegensatz zum Philosophen zu dem Schluss kommt, dass der Bruch im Recht diesem nicht peripher, sondern zentral ist. Der Gegensatz zwischen Theorie und Praxis offenbart den Bruch, der im Recht existiert. Dieser Bruch, obwohl am Recht ausgewiesen, offenbart einen der Wirklichkeit inhärenten Zug: Zwischen jedem Konkretum und jedem Abstraktum liegt eine unüberwindliche Kluft, die durch keinen allmählichen Übergang geschlossen wird. Daher ist es notwendig, dass in jedem positiven Gesetz dies Moment des bloßen Festgestelltseins zur Geltung kommt, wonach es unter Umständen wichtiger ist, dass überhaupt Etwas positive Bestimmung wird, als welcher konkrete Inhalt dazu wird. Diese inhaltliche Indifferenz – und damit ist der Zusammenhang mit den Ausführungen meiner Abhandlung „Gesetz und Urteil“ gegeben – ergibt sich aus dem Verwirklichungsbestreben des Staates.425
Der Abgrund, die Kluft „zwischen jedem Konkretum und jedem Abstraktum“ kann nicht überwunden werden. Doch die einander gegenüberliegenden Seiten dieser Kluft können durch eine Art der Mediation verbunden werden, die aus einem „Akt der souveränen Entscheidung“ besteht. Doch wirft auch dieser Fall eine existentielle Frage auf, die eine Vernunft, die in der Lage wäre, auf der Grundlage der menschlichen Natur die Unveränderlichkeit und Ewigkeit zu konstruieren, verhindert. Die Notwendigkeit, die Wirklichkeit mittels der Idee zu verändern und sie mittels eines souveränen Akts zu repräsentieren, zeigt bereits die Vorstellung einer Grenze für das Handeln der Normen und der in aller Verwirklichung des Rechts anwesenden Ausnahme. Deshalb bemerkt Schmitt: „Das Aufgeben der zeitlosen Richtigkeit und die Rezeption eines Momentes inhaltlicher Differenz sind […] das Opfer, das gebracht werden muss, weil mit den Mächten der realen Erscheinungswelt paktiert wurde.“426 424 Schmitt erklärt, dass „der Rechtsgedanke, der einer Umgestaltung der Wirklichkeit zur Richtschnur dienen soll, positiv werden muss, d.h. sein Inhalt wird durch einen Akt souveräner Entscheidung gesetzt, er wird zur Satzung und in konkreter Fassung ausgesprochen“ (Schmitt 2004a, S. 79f.). Der Umstand, dass die Idee für die Veränderung der Wirklichkeit positiv, d.h. verwirklicht sein muss, setzt eine „konkrete Fassung“, d.h. eine konkrete Form voraus. Die konkrete Form ist nur aufgrund der dualistischen Struktur der Norm möglich. Anders ausgedrückt ist der Staat aufgrund der Form, der juristischen Norm angesichts der Gewalten der Wirklichkeit in der Lage, zu schützen. 425 Schmitt 2004a, S. 80. 426 Schmitt 2004a, S. 81.
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In der Formel „Naturrecht ohne Naturalismus“ kann eine deutliche Provokation gegenüber dem juristischen Positivismus erkannt werden, der das Recht auf seine faktische Manifestation reduziert. Die Negierung des Naturalismus des Naturrechts zielt darauf ab, die Nicht-Existenz der unveränderlichen menschlichen Natur und einer eindeutigen objektiven Wirklichkeit zu behaupten. Der Sinn der Formel besteht darin, die Begrenzung des Rechts auf eine Bewegung der konkreten, reinen Objektivität abzulehnen. Außerdem muss hervorgehoben werden, dass ein Attribut „ohne Naturalismus“, wie Nicoletti richtigerweise betont, „esclude la prospettiva, teologicamente o razionalmente fondata, di una natura umana eterna ed oggettiva, da incarnare negli ordinamenti concreti“.427 Der Abschnitt, in dem Schmitt erstmals den Ausdruck Säkularisierung verwendet, übt die Funktion einer Synthese von Schmitts Denken in verschiedenen Arbeiten aus: [Es] ist noch auf ein Phänomen aufmerksam zu machen, dessen Erörterung füglich den Schluss der Ausführungen über Staat und Recht bildet: sobald irgendwo das Bestreben einer Verwirklichung von Gedanken, einer Sichtbarmachung und Säkularisierung auftritt, erhebt sich gleich, neben dem Bedürfnis nach einer konkreten Entscheidung, die vor allem, und sei es auch auf Kosten des Gedankens, bestimmt sein muss, das Bestreben nach einer in derselben Weise bestimmten und unfehlbaren Instanz, die diese Formulierung gibt.428
In dieser Passage wird nicht nur der Säkularisierungsbegriff zum ersten Mal – im umfangreichen Gesamtwerk Carl Schmitts – verwendet, sie nennt auch alle zentralen Elemente, die den Sinn dieses Begriffs ausmachen. Einerseits ist da von einem „Bestreben einer Verwirklichung von Gedanken“ die Rede, von einem Bemühen „einer Sichtbarmachung“ jener Idee, die in Schmitts Staatsphilosophie der Rechtsidee entspricht. Andererseits nennt der Autor das Auftreten des Moments der „konkreten Entscheidung“ und das Bestreben einer „Instanz“, die unfehlbar ist. Das Bestreben einer Verwirklichung von Ideen, die Sichtbarkeit, die Entscheidung und die Instanz bilden den semantischen Inhalt der Säkularisierung und definieren die Säkularisierung ausgehend von ihrem Verhältnis zum Recht. Es ist bemerkenswert, dass die Betonung auf dem Bestreben der Verwirklichung, indem die Idee sichtbar gemacht wird, sich nicht ohne ein Subjekt und ohne eine aufgrund ihres Primats gegenüber anderen Mächten der empirischen Wirklichkeit absolute Instanz verwirklicht. Das Bemühen, einer Idee Sichtbarkeit zu verleihen, entspringt einem in der Wirklichkeit existierenden Bruch, einem Vakuum, der Abwesenheit der Idee, deren Verwirklichung von ihrem Übergang in die Wirklichkeit durch die Entscheidung einer höchsten Macht abhängt. Diese Entscheidung wird nicht durch irgendein empirisches Einzelsubjekt getroffen, das unmittelbar der Idee, ihrer Selbstbestimmung verpflichtet wäre, sondern durch ein empirisches Subjekt, das sich mit der äußeren Idee, dem empirischen Relativismus der Wirklichkeit verbinden kann – durch eine Instanz also, die zu einer Entscheidung fähig ist, die auf die Verwirklichung eines überindividuellen Ideals, auf die 427 Nicoletti 1990, S. 51. 428 Schmitt 2004a, S. 81f.
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Veränderung der Wirklichkeit ausgerichtet ist. Die Säkularisierung nimmt so den Sinn einer Idee an, die sich in der Wirklichkeit verkörpert, um sie zu verändern. Diese Rechtsidee repräsentiert die Formulierung eines Bildes, mit dem die Absicht verfolgt wird, die politische und soziale Wirklichkeit ausgehend von der Übertragung oder Mediation zu gestalten, die die faktische Macht in der Sphäre der konkreten Wirklichkeit verwirklicht. Die politische Entscheidung, die fähig ist, ein Ideal zu verwirklichen, kann nur von einer höheren Instanz ausgehen und die sich strukturell in einer Jesus Christus analogen Lage befindet, da sie von oben nach unten erfolgt. Die Mediation der Idee hängt von einem Subjekt ab, dessen Statur und Kraft ihre Übertragung in die Wirklichkeit erlauben. Diese Übertragung ist ein Prozess der Objektivierung durch die vermittelnde Subjektivierung des Subjekts der höheren Instanz. Entscheidung und Instanz müssen unfehlbar sein in dem Sinne, dass sie nicht auf einen willkürlichen Willen reduziert werden, sondern sich mit einem Prinzip, mit einer Idee verbinden, deren Verwirklichung von einem homogenen Medium abhängt. Es muss jedoch in Betracht gezogen werden, dass die Einführung einer Idee in der Welt, um dieser eine Richtung, eine juristische Ordnung zu verleihen, ein Opfer bedingt, denn die Übertragung der Idee in die Wirklichkeit geschieht immer auf Kosten des Denkens. Die unsichtbare Idee muss die Mediation des souveränen Rechtssubjekts über dem Abgrund der Kontingenz durchlaufen. Diese Mediation oder Säkularisierung bedingt eine politische Entscheidung, die in dieser Spannung die Idee opfert, um sie sichtbar zu machen. Die Einführung der Idee in der Welt hängt von der Subjektivierung des Ideals durch das Rechtssubjekt ab. Die Subjektivierung, der Prozess der Mediation, bedingt die Sichtbarmachung des Unsichtbaren auf Kosten des Denkens, denn die Idee verwirklicht sich nicht vollständig, sie verkörpert sich nicht vollständig in der Wirklichkeit. In Schmitts Arbeit Sichtbarkeit der Kirche aus dem Jahre 1917 wird deutlich, dass das Verfahren der Objektivierung, um das Unsichtbare sichtbar zu machen, von der Transzendenz der Macht abhängt. So behauptet Schmitt: Eine Veranstaltung zur Geltendmachung des Unsichtbaren im Sichtbaren muss im Unsichtbaren wurzeln und im Sichtbaren erscheinen, der Mittler steigt hernieder, weil die Vermittlung nur von oben nach unten, nicht von unten nach oben erfolgen kann, die Erlösung liegt darin, dass Gott Mensch (nicht dass der Mensch Gott) wird.429
Hier sieht man, wie die in Der Wert des Staates dargestellte Struktur der Säkularisierung ihre analoge Struktur in der Rolle findet, die von einem Gott ausgefüllt wird, der Mensch wird – keinesfalls aber von einem Mensch, der Gott wird. Es gilt noch hervorzuheben, dass die Säkularisierung hier nicht im negativen Sinn einer Besetzung der Stelle Gottes durch ein als absolute Instanz erachtetes Individuum erscheint, wie Schmitt in seiner Arbeit Politische Romantik verdeutlicht, sondern durch eine irdische Instanz letzter Entscheidung. Die hier zitierte Passage zeigt, dass die Mediation eine Entscheidung ist, deren transzendente Struktur aus 429 Schmitt 2005c, S. 448.
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dem Übergang vom Unsichtbaren ins Sichtbare hervorgeht, „von oben nach unten“, aus dem Übergang von der Subjektivität einer letzten Autorität in die Objektivität eines Ideals in einer unförmigen und kontingenten Wirklichkeit. Dieser Übergang findet niemals problemlos statt, so dass „im Wort der Gedanke seine Sichtbarkeit gewinnt, wie ein Lufthauch erst dadurch zum Ton wird, dass man ihn durch die Enge eines Rohres treibt“.430 Nur die durch die staatliche Entscheidung vermittelte Transzendenz kann der Unbestimmtheit der konkreten Wirklichkeit eine Einheit verleihen. Die der unförmigen Wirklichkeit durch den Staat verliehene Einheit wird aus der Einheit der Rechtsidee bezogen. Die in Schmitts Der Wert des Staates durch den Staat besetzte Stelle ist jener Einheit ähnlich, die durch die Mediation Gottes in der Arbeit Die Sichtbarkeit der Kirche hergestellt wird: „Die Einheit Gottes nimmt in der Geschichtlichkeit einer Vermittlung durch sterbliche Menschen die Form einer Rechtsnachfolge an, nur so kann sie sich in der Zeitlichkeit sichtbar machen.“431 Die Sichtbarkeit, die Gott durch die Kirche erreicht, ist nicht mit der konkreten Kirche deckungsgleich. Das bedeutet, dass die Kirche nicht ihrem konkreten Repräsentanten entspricht. Das ist ein relevanter Punkt in Schmitts Staatstheorie, denn er illustriert eine Unterscheidung zwischen einer wirklichen Sichtbarkeit und der faktischen Konkretheit. Meines Erachtens befindet sich Carl Schmitts politisch-juristische Reflexion in völliger Übereinstimmung mit dem Hobbesschen Anspruch, ein Mittel zu finden, um das Leben des Staates432 durch Analogien zum juristischen Sinn der hierarchischen, von der römisch-katholischen Doktrin erarbeiteten Struktur künstlich zu verewigen. In Der Wert des Staates zeigt Schmitt durch das Erschließen einer bestimmten Bedeutung des Fiktionsbegriffs, wie sowohl die Jurisprudenz als auch die Theologie die Souveränität, „mit welcher […] die rechtlichen Anschauungen sich dem bloß Tatsächlichen gegenüber verhalten haben“,433 offenbaren. Der Fiktionsbegriff wird im Sinne Vahingers als „bewusst falsche Annahme“ verwendet. Das „ganze große Gebiet der Fiktion“, im Recht kaum beachtet, bietet eine Analyse des Realen, ohne dieses jedoch unmittelbar als etwas in sich selbst begründetes anzusehen, was es erlaubt, es aus einem idealen Standpunkt aus zu betrachten: Die Fiktion kann „der ‚Tatsache‘ Gehör schenken und sie zur Vergleichung heranziehen, ohne dass sie eine selbständige Bedeutung erhielte“.434 Die Realität ist nicht statische, eindeutige oder reine mechanische Regelmäßigkeit, sie beschränkt sich nicht auf die Manifestation äußerer Tatsachen. Die Öffnung der Wirklichkeit, die Zerstörung ihrer rein faktischen Fassade kann sich nicht der Wahrnehmung eines inneren, auf die äußere Ebene der Handlung gerichteten Verfahrens der Absicht eines Individuums entziehen.
430 431 432 433 434
Schmitt 2005c, S. 451. Schmitt 2005c, S. 451. Siehe diesbezüglich Hobbes 1985, S. 247. Schmitt 2004a, S. 101. Schmitt 2004a, S. 101f.
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Schmitt hatte sich schon in seiner Doktoratsthese Über Schuld und Schuldarten aus dem Jahre 1910 der inneren Entwicklung angenommen, durch die eine Absicht eines Einzelsubjekts zu einer äußeren Handlung wird. Obwohl Schmitt den Begriff der Säkularisierung nicht erwähnte, untersuchte er ihn bereits, und zwar in dem Maße, in dem er, durch die Analyse des Vorsatzes und der Schuldarten, die Objektivierung einer Absicht zu begreifen suchte. Indem er das Verfahren untersuchte, durch das eine – aufgrund ihrer Subjektivität unsichtbare – Absicht oder Vorsatz sich in der Wirklichkeit manifestiert, suchte er bereits mit der mechanischen Sichtweise des Positivismus zu brechen. In seiner Untersuchung der Schuldarten versuchte er zu verstehen, welche Handlungen durch den Staat bestrafbar sind, d.h. welche Handlungen Objekte darstellen, denen ein juristisch relevanter Sinn zukommt. Er folgerte, dass das, „was gar nicht äußerlich zur Erscheinung kommt, ungestraft bleibt, aber was so zur äußerlichen Erscheinung kommt, das beurteilen wir nicht nach Maßgabe seiner Erscheinung, sondern nach der innerlichen geistigen Bewegung, aus der es entsprossen ist“.435 Die äußere Objektivierung oder Manifestation der Schuld erschien ihm nicht als Wirkung einer Ursache, sondern als Verwirklichung des Willens eines Menschen, die einen bestimmten Zweck verfolgt: „Schuld ist die konkrete, den Zwecken des Rechtes nicht entsprechende Zwecksetzung eines zurechnungsfähigen Menschen, bei dem das Bewusstsein der Pflichtwidrigkeit möglich war.“436 In Der Wert des Staates wird die Fiktion zu einem wichtigen Mittel, um die Wirklichkeit vom Standpunkt der Entwicklung eines inneren Prozesses des Subjektes eines Ideals aus zu begreifen oder zu befragen. Nun sollte man nicht meinen, dass der Jurist daran interessiert gewesen wäre, jede Art innerer Entwicklung der mentalen Welt auszubreiten. Wäre dies nicht der Fall, hätte er keine Unterscheidung zwischen Verbrechen und Strafe getroffen. In seinen Augen ist das Verbrechen nicht eine säkularisierte Art von Sünde, da es ja keine Übertragung von theologischer Moral auf die zeitliche Sphäre gibt. Der Schmittsche Säkularisierungsbegriff wird nicht als eine Analogia Ens begriffen437, sondern als Verwirklichung einer Idee in der Welt durch die höchste politische Gewalt der empirischen Wirklichkeit. Auf diese Weise ist es unmöglich, das Verbrechen außerhalb der Existenz des politischen Staatskörpers zu definieren, der die letzte Entscheidungsinstanz ist, deren durch eine Handlung verwirklichter Zweck juristisch relevant ist. Die „Schuld“ ist etwas Innersubjektives – ob ein Zustand oder ein einzelner Vorgang, wird sich nachher zu zeigen haben. […] Für das geltende Recht kommt nur die in die sinnfällige Erscheinung getretene Schuld in Betracht; was in der Seele verborgen bleibt, kümmert das Recht nicht; cogitationis poenam nemo patitur […].438
435 Schmitt 1910, S. 30. 436 Schmitt 1910, S. 92. 437 Eine Analogia Ens ist eine Analogie, die eine Substanz oder Essenzvon einem Bereich auf einen anderen überägt. 438 Schmitt 1910, S. 28.
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Diese Passage sei gerade einigen Kritiker von Carl Schmitt, die den juristischen und politischen Charakter seines Denkens durch Behauptungen, seine Gedanken hätten ein moralisches oder ethisch-religiöses Fundament, zu desavouieren suchen, zur Lektüre empfohlen. Die Kenntnis von Schmitts ersten Jugendschriften erlaubt es, mit einigen Irrtümern seiner Interpreten aufzuräumen, die in ihren Deutungen von Schmitts katholischen Wurzeln439 ausgehen. Zweifellos besteht ein Zusammenhang zwischen seinem Denken und dem römischen Katholizismus, doch dieser ist rein methodischer Natur. In Der Wert des Staates wird die Wirklichkeit als äußere Manifestation untersucht, es wird aber nicht unterlassen, diese mit einem inneren Geschehen zu konfrontieren, das auf einem von einem Willen auf die Verwirklichung einer Kontinuität ausgerichteten Anspruch basiert. Gerade deshalb spricht Schmitt den Antinaturalismus als Willen an, der angesichts der spezifischen Ereignisse und typischer Fakten „über die zufällige Tatsache den Sieg davonträgt“440, Gültigkeit erlangt. Es geht hier darum, in der Jurisprudenz eine der Theologie analoge Struktur zu finden, um ihr in der Sphäre der Wirklichkeit Kontinuität zu verleihen. Auf seiner Suche nach der Langlebigkeit des Staates untersucht der Jurist juristische Institute, die mit der Idee der Unsterblichkeit verbunden sind, durch die eine Willensveranlagung Wirkungen in der Wirklichkeit zeitigt: Der deutlichste Fall aber ist die Art der Unsterblichkeit, die das Recht durch das Rechtsinstitut der Vererbung geschaffen hat und die in diesem elementarsten Phänomen des Rechtslebens die Überlegenheit über naturgeschichtliche oder biologische Kategorien beinahe demonstrativ zu Tage treten lässt.441
Das Testament ist ein bemerkenswertes Beispiel für die Kontinuität eines Sinns, durch die der Erblasser seine künstliche Ewigkeit durch die Rechtskonstruktion findet: die juristische Person.442 Das überzeugendste Beispiel jedoch liefert „die römisch-katholische Lehre mit ihrer Konstituierung des charisma veritatis durch bloße Verleihung des Amtes, womit das Amt nicht mehr auf dem charisma beruht, sondern die Verleihung konstitutiv für das charisma wird“.443 Gegenüber der Verleihung des Amts sind die persönlichen Eigenschaften des konkreten Individuums irrelevant, denn „ciò que diventa costitutivo della soggettività non è l’individualità concreta ma l’atto istitutivo di quella“.444 Schmitts Auffassung von Charisma unterscheidet sich wesentlich von jener Max Webers, da dem Individuum, welches das Amt besetzt, die juristische Subjektivität zugesprochen wird, um durch diese 439 Hasso Hofmann weist zu Recht darauf hin, dass „es zwar richtig ist, dass Schmitt, von Hause aus Katholik, sowohl in der hier behandelten Schrift über den Wert des Staates wie auch später auf die Bedeutung des Katholizismus für die Methodik der Rechtswissenschaft hingewiesen hat, aber eben nur auf die Bedeutung für die Methodik“ (Hofmann 2002, S. 50). 440 Schmitt 2004a, S. 102. 441 Schmitt 2004a, S. 102f. 442 Schmitt 2004a, S. 104. 443 Schmitt 2004a, S. 102. 444 Nicoletti 1990, S. 60.
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Institution die willkürliche Ausübung der Macht durch das konkrete Individuum zu verhindern. So meint Schmitt: Dieser Gedanke, der übrigens zum jus divinum der Kirche gehört, ist ein im eminenten Sinne juristischer (und antiindividualistischer): dem Amte gegenüber, das die konkrete Person verwaltet, dürfen deren konkrete, persönliche Eigenschaften nicht geltend gemacht werden, und der Satz, dass Gott, wem er ein Amt gibt, auch den nötigen Verstand verleiht, ist nicht nur soziologisch, sondern auch juristisch von Interesse und überall anerkannt.445
Die Fiktion erlaubt die ideale Konstruktion einer juristischen Person, die fähig ist, die Wirklichkeit zu beeinflussen, das konkrete Individuum in ein Rechtssubjekt umzugestalten. Denn „das Wort Fiktion enthält nur den Hinweis auf einen Vergleich mit der Außenwelt und erklärt nicht die juristische Person für ein Lügenoder Willkürgebilde, während das einzelne menschliche Individuum das einzig ‚wahre‘ Rechtssubjekt ist“.446 Schmitt bemüht sich mittels der juristischen Konstruktion, die Veränderung der konkreten Person in einen „wahren Träger des Rechts“ zu finden. Die Hingabe an die Fiktion hat nicht nur die Kontinuität einer Idee in der Wirklichkeit im Auge, sondern will ebenso das konkrete Individuum in ein Ideal einbinden, das ihn über die Willkürlichkeit der Einzelinteressen erhebt. Meines Erachtens begreift Schmitt die juristische Person in demselben Sinne, den Hobbes in seinem Leviathan darlegt. Der englische Autor meint, dass „a person is he whose words or actions are considered, either as his own, or as representing the words or actions of an other man, or of any other thing to whom they are attributed, whether Truly or by Fiction“.447 Anhand der Analyse der Fiktion oder juristischer Konstruktionen versucht Schmitt die Idee der Repräsentation zu entwickeln. Wie Nicoletti bemerkt, tut er dies, indem „si ponga a livello antropologico ed è relativo alla scissione tra la dimensione etico-religiosa e quella politico-giuridica“,448 denn die ethisch-religiöse Vorstellung beinhaltet einen naturalistischen, zeitlosen, dem politischen Körper vorgehenden Sinn, so dass die Idee einer politischen und juristischen Subjektivität nur durch einen Staat eingeführt werden kann. So wird die Bedeutung der Fiktion als Künstlichkeit verständlich, die die konkrete Person mit Verantwortung ausstattet, mit einem Bewusstsein für einen Sinn, der jedem partikularistischen Relativismus der empirischen Welt transzendent ist. Schmitt zufolge ist „die ‚fiktive‘ juristische Person das Urbild aller Persönlichkeiten im Recht“.449 Der Autor betont den antinaturalistischen, antimaterialistischen und mechanischen Charakter der fiktiven Person, die nur durch die politische Entscheidung zu einer Existenz findet. Es handelt sich um eine Verwirklichung, die nie auf den inneren Prozess eines Subjekts der konkreten Wirklichkeit verzichten kann. 445 446 447 448 449
Schmitt 2004a, S. 102. Schmitt 2004a, S. 103. Hobbes 1983, S. 96. Nicoletti 1990, S. 61. Schmitt 2004a, S. 104.
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Die Schlussfolgerung der Schmittschen Triade „Recht, Staat und Individuum“ lässt sich in der Säkularisierung synthetisieren, deren Sinn in der Entscheidung einer höheren Instanz liegt, eine unsichtbare Idee sichtbar zu machen, um einer unbestimmten Wirklichkeit Einheit zu verleihen. Es wird eine Bewegung zwischen dem Fehlen einer juristischen Ordnung und ihrer Aktualisierung durch die Verwirklichung des Rechts ausgemacht. Die Säkularisierung besteht demnach im schwierigen und andauernden Verfahren, eine Idee auf die konkrete Wirklichkeit zu übertragen, in der Beschreibung eines Prozesses der Verwirklichung des Rechtsideals, das sich niemals in der konkreten Wirklichkeit erschöpft. Die Säkularisierung eines Ideals setzt eine kontingente Wirklichkeit voraus und hängt immer von einer souveränen politischen Entscheidung ab. Säkularisierung bedeutet Rechtsverwirklichung, einen konstanten Entscheidungs- und Repräsentationsprozess. Sie besteht aus folgenden Elementen: höhere Instanz – Entscheidung (Mediation) – Repräsentation (Sichtbarmachung des Unsichtbaren). Ich muss Carlo Galli widersprechen, der – anders als Nicoletti – in der staatlichen Entscheidung, so wie sie in Der Wert des Staates dargestellt wird, keine vermittelnde Funktion, sondern eine Repräsentation sieht. Die politische Entscheidung des Staates zur Verwirklichung des Rechts besteht aus einer Mediation, die zwei Aspekte umfasst: Zum einen besteht sie aus einer Entscheidung, die auf einen konkreten Fall der Wirklichkeit ausgerichtet ist. Da die Entscheidung jedoch nie den Inhalt einer Norm zur Gänze auf die Wirklichkeit überträgt, bedingt sie immer eine Ausnahme, einen auf den normativen Inhalt bezogenen Bruch. Dies führt zum zweiten Aspekt, denn der Bruch ist der Entscheidungsstruktur selbst inhärent, die die Norm in eine staatliche und in eine Norm der Rechtsverwirklichung spaltet. Genau dies erlaubt es dem Staat, sich als eine politische Form der Repräsentation des Rechts zu begreifen. Der Staat erscheint als eine politische Macht, die auf der Basis eines Prinzips entscheidet: des ständigen Bemühens um die Rechtsverwirklichung. Die Repräsentation beruht auf der permanenten Anstrengung der erneuten Aktualisierung der Rechtsidee, die über eine Bewertung oder eine Subjektivität zu einer Objektivität findet und so eine überindividuelle Wirklichkeit gestaltet. Nun gilt es noch zu zeigen, dass die in der Verfassunglehre (1928) dargestellte Repräsentation dem Sinn nicht unähnlich ist, den Schmitt in Der Wert des Staates der Säkularisierung zuspricht: Repräsentieren heißt, ein unsichtbares Sein durch ein öffentlich anwesendes Sein sichtbar machen und vergegenwärtigen. Die Dialektik des Begriffes liegt darin, dass das Unsichtbare als abwesend vorausgesetzt und doch gleichzeitig anwesend gemacht wird. Das ist nicht mit irgendwelchen beliebigen Arten des Seins möglich, sondern setzt eine besondere Art Sein voraus. Etwas Totes, etwas Minderwertiges oder Wertloses, etwas Niedriges kann nicht repräsentiert werden. Ihm fehlt die gesteigerte Art Sein, die einer Heraushebung in das öffentliche Sein einer Existenz fähig ist. Worte wie Größe, Hoheit, Majestät, Ruhm, Würde und Ehre suchen diese Besonderheit gesteigerten und repräsentationsfähigen Seins zu treffen. Was nur Privatsache und nur privaten Interessen dient, kann wohl vertreten werden; es kann seine Agenten, Anwälte und Exponenten finden, aber es wird nicht in einem spezifischen Sinne repräsentiert. Es ist entweder real gegenwärtig, oder es wird durch einen abhängigen Beauftrag-
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ten, Geschäftsträger oder Bevollmächtigten wahrgenommen. In der Repräsentation dagegen kommt eine höhere Art des Seins zur konkreten Erscheinung.450
Ähnlich wie die Säkularisierung in Der Wert des Staates, erscheint die Repräsentation in der Verfassungslehre als Sichtbarmachung des Unsichtbaren. Das Unsichtbare wird als abwesend vorausgesetzt, da die politische Einheit in der unförmigen und kontingenten, konkreten Wirklichkeit nicht existiert. Während Schmitt in Der Wert des Staates darauf beharrt, dass die konkrete Wirklichkeit unfähig ist zur Form und zur Repräsentation, bemerkt er in der Verfassungslehre, dass das Volk nicht in seiner „natürlichen Existenz“ repräsentiert wird.451 Ebenso wenig können die Einzelinteressen, die Einzelwesen oder das empirische Einzelwesen in einem spezifisch politischen Sinn repräsentiert werden. In der Repräsentation, so wie sie in der Verfassungslehre vorgestellt wird, „kommt eine höhere Art des Seins zur konkreten Erscheinung“.452 In Der Wert des Staates kann sich nur eine höchste Instanz der Seinswirklichkeit für die Mediation zwischen der Rechtsidee und der Wirklichkeit entscheiden. Es ist interessant zu sehen, wie in der Verfassungslehre auch die Notwendigkeit nach einem gesteigerten und repräsentationsfähigen Sein erscheint. Schmitts wiederholte Sorge, darauf hinzuweisen, dass nur ein in der Wirklichkeit existierendes, erhöhtes Wesen zur Repräsentation fähig ist, ist angesichts des Technizismus, dessen Ausbreitung selbst den Staat in Mitleidenschaft zieht, berechtigt. Der Technizismus löst jegliche Hierarchie, Autorität und transzendente Idee in der Immanenz und im Nihilismus auf. Das Hobbessche Bild des Staates als Maschine oder als machina machinarum war zu Beginn des 20. Jahrhunderts Wirklichkeit geworden, und die progressive Mechanisierung verwandelte ihn in ein zweckbefreites Instrument oder in einen technischen Apparat. Ohne Prinzip, Zweck und folglich auch ohne Grenzen, verwandelt sich die staatliche Maschine in einen Apparat oder in ein Werkzeug im Dienste der Einzelinteressen. Deshalb erklärt Schmitt, dass man „vor Automaten und Maschinen nicht repräsentieren [kann], sowenig wie sie selber repräsentieren oder repräsentiert werden können, und wenn der Staat zum Leviathan geworden ist, so ist er aus der Welt des Repräsentativen verschwunden“.453 Der Verlust der transzendenten politischen Idee, durch die der Staat seinen Sinn erhält, verwandelt ihn in ein technisches Medium und beraubt ihn eines der privaten Sphäre äußeren Zwecks. Angesichts der Technifizierung, des Transzendenzverlusts, des Werteverlusts, wendet Schmitt seinen Säkularisierungsbegriff in seiner Arbeit Theodor Däublers Nordlicht (1916) auf ganz andere Weise als in Der Wert des Staates:
450 451 452 453
Schmitt 2003d, S. 209. Schmitt 2003d, S. 212. Schmitt 2003d, S. 210. Schmitt 1984, S. 36.
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Die wichtigsten und letzten Dinge waren ja schon säkularisiert. Das Recht war zur Macht geworden, Treue zur Berechenbarkeit, Wahrheit zur allgemein anerkannten Richtigkeit, Schönheit zum guten Geschmack, das Christentum zu einer pazifistischen Organisation.454
Die Säkularisierung erscheint in abschätziger Form als Verlust der letzten Bezugspunkte, als Verschiebung der Repräsentationen der Transzendenz zu Repräsentationen der Immanenz. Die Beschreibung, durch die das Recht zu bloßer Gewalt wird, zeigt, dass die Säkularisierung die Krise zu erkennen erlaubt, durch die die ihres Sinns beraubte Gewalt zu einer nihilistischen Wirklichkeit wird. Meines Erachtens wird die Säkularisierung hier in einem außerordentlich wichtigen Sinn verwendet, wenn auch auf weniger originelle Weise als in Der Wert des Staates: als Rechtsverwirklichung. Schließlich sei darauf hingewiesen, dass die Abwesenheit eine strukturelle Eigenschaft der von Schmitt als dualistisch begriffenen Wirklichkeit, das Fehlen eines Repräsentationsprinzips enthüllt und so die Notwendigkeit455 einer Rechtsidee offenbart. Die abwesende und unsichtbare Wirklichkeit übersetzt die Unfähigkeit dieser Welt, sich als selbstgenügende, in sich geschlossene Kapsel selber zu erklären. Die Kapsel wird im Moment der Krise oder einer Extremsituation aufgebrochen, in einem Moment, in dem die der eingekapselten Welt inhärente Regelmäßigkeit eine Abwesenheit erleidet, durch die bis dahin verdeckte Trennung zwischen Idee und Wirklichkeit evident wird. Die Wirklichkeit erwacht aus ihrer eingekapselten oder autistischen Haltung, und das Fehlen wird offensichtlich – damit aber auch die Idee einer Veranlagung zur Verwirklichung der Idee. In der Abwesenheit, im Hiatus, im Abgrund zeigt sich nicht nur das Ungenügen der Immanenz der konkreten, kontingenten Wirklichkeit, sondern auch die Idee und ihre Notwendigkeit, sich in der Wirklichkeit – nie zur Gänze – zu verkörpern. Das Erscheinen der Idee aus der Abwesenheit und Unsichtbarkeit öffnet die Wirklichkeit für die Säkularisierung, die als Bemühen der souveränen politischen Handlung zur Verwirklichung des Ideals begriffen wird. Diese Handlung besteht aus der Mediation und Ordnung der dualistischen Struktur der Wirklichkeit, sie verleiht ihr eine Einheit, die nicht die Überwindung der Abwesenheit bedeutet, sondern eine Mediation, die in der Lage ist, die Widersprüche und Gegensätze der konkreten Wirklichkeit zu ordnen. So entwickelt Schmitt in seiner Arbeit Römischer Katholizismus und Politische Form die Idee der complexio oppositorum: ein aggregierendes Prinzip, das die extremen Gegensätze zu umfassen vermag. Die Fähigkeit, einen Komplex extremer Gegensätze zu umfassen, beruht demnach auf einem Willen zur Entscheidung, deren Verwirklichung der unförmigen und nicht auf die Hegelschen dialektischen Mediationen reduzierbaren Wirklichkeit eine aggregierende Form verleiht. Die Formulierung dieses Begriffs, der ausgehend 454 Schmitt 1991b, S. 61. 455 „Notwendigkeit“ sei hier nicht im Sinne eines Determinismus verstanden, sondern als Veranlagung zur Verwirklichung, die in Grenzsituationen ausbricht, oder, wie Schmitt später sagen wird, in Extremsituationen des normativen Scheiterns, das durch die Idee der Ausnahme übersetzt wird. Wird dieser Aspekt ignoriert, wird der Säkularisierungsbegriff seines Sinns als Rechtsverwirklichung beraubt, die von einer souveränen politischen Handlung abhängt.
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von der Analogie zwischen politischer Entscheidung und dem vom kanonischen Recht entwickelten Dogma der Unfehlbarkeit der päpstlichen Entscheidung ausgearbeitet wird, hat ihre Wurzeln in Der Wert des Staates. Eine letzte Frage betrifft die mögliche Kritik an der erwähnten Arbeit. Um der konkreten, vom Rationalismus des juristischen, wirtschaftlichen und technischen Positivismus geprägten Wirklichkeit ein Zeugnis ihres Ungenügens und ihrer Unfähigkeit zur Form, der Illusion einer ihr inhärenten Selbstbestimmung, auszustellen, muss Schmitt immerzu die Spannung zwischen Recht und Macht radikalisieren. Erst nach der äußersten Verschärfung des Gegensatzes zwischen Idee und Wirklichkeit kann er seinen Säkularisierungsbegriff vorschlagen. Sein Denken, genauer sein Säkularisierungsbegriff scheint außerhalb einer Extremsituation der Krise oder der Ausnahme überflüssig zu sein. Volker Neumann weist darauf hin, dass ein Topos der Kritik an der Methode Carl Schmitts benennt die Radikalisierung der Spannung zwischen Idee und Wirklichkeit.456 Schmitts Denkweise wird als „durchtriebene Argumentationstechnik“ bezeichnet, die auf die Vernichtung ausgerichtet ist, wie sie ab 1919 in Bezug auf die Institutionen der Weimarer Republik stattfand. Diese Form der Argumentation, im Zusammenspiel mit einem auf die Denunziation gerichteten Stil, wie z.B. in Bezug auf die Widersprüche der liberalen Demokratie, führe zu einer Verschärfung, die sich in der „überintensiven Helle“ der Ideen ausdrückt. Die radikale Verschärfung der Spannung zwischen Idee und Wirklichkeit bewirke oder verschärfe letzten Endes die Krisen. Dies zeige, dass die Schmittsche Methode Opfer ihrer eigenen Überzeugungen sei, wonach die Ideen die Wirklichkeit bestimmten. Neumann diskutiert diesen Topos der Kritik an Schmitts Methode, sieht darin aber keinen problematischen Aspekt. Im Gegenteil: Er meint, dass die Schmittschen Diagnosen, im Licht der Idee formuliert, die pathologischen Züge der Wirklichkeit entlarvten, nichts anderes seien als „Verfallsdiagnosen“, die dem radikalen Denken gemein sind, inklusive den studentischen Bewegungen der Linken, die sich der Gefahr aussetzen, um „Modifikationen der Rechtsform“ vorzuschlagen.457 Schmitts Methode leitet sich von einem Denken ab, das sich als eminent politisches Denken begreift. Politisch zu denken heißt, immer in einer bestimmten konkreten Situation eine Haltung gegen einen geistigen und gleichzeitig existentiellen Feind einzunehmen. Somit handelt es sich tatsächlich um eine Überzeugung, der zufolge die Ideen, die in der Wirklichkeit intervenieren sollen, verschärft werden müssen, damit sie die notwendige polemische Intensität erreichen. Ohne diese Anhebung der Intensität zwischen Idee und Wirklichkeit wäre es fast unmöglich, derart klar und deutlich darzulegen, wie die positivistische Kultur die Idee auf die faktische Wirklichkeit reduziert. Wenn es uns möglich wäre, Schmitt zu seinen eigenen Bedingungen zu verstehen, glaube ich, dass wir zeigen könnten, dass der Jurist den zentralen Kern der Krise der positivistischen deutschen Kultur zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht 456 Neumann 1988, S. 560. 457 Neumann 1988, S. 561.
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ganz trifft. Die Verwirklichung des Rechts, so wie sie uns durch den Sinn der Säkularisierung vorgestellt wird, setzt eine normale faktische Situation voraus. Obwohl der Autor die Krise in ihrer höchsten Intensität aufzuzeigen und dem Staat eine zentrale politische Rolle zuzuweisen versucht, erklärt er nicht, wie sich die staatliche Instanz, die, von bestimmten Umständen ausgehend, der unförmigen Wirklichkeit eine Rechtsform verleihen und sie ordnen kann, politisch konstituiert. Anders ausgedrückt, die im Text vorgestellte Krise des Wertes des Staates und der Bedeutung des Individuums erreicht noch nicht die radikale Situation einer extremen Ausnahme, die stark genug ist, damit die Idee eine politische Resonanz erzeugen und von da aus die Wirklichkeit verändern können. In gewissem Sinne widerspricht diese Kritik der vorhergehenden, die dem Juristen vorwirft, die Spannung zwischen Idee und Wirklichkeit aufs Extremste zu radikalisieren, um politische Veränderungen zu bewirken, wenn auch auf die Gefahr und die Verantwortung hin, die Krise zu verschärfen. Schmitts politisches Denken lehrt uns, dass eine politische Ordnung nur in der tiefen Krise, im Grenzfall, in extremen Situationen begründet werden kann, die in der Lage wären, eine „normale Situation“ hervorzubringen. Nur danach ist es möglich, das Recht zu verwirklichen. Wird die Säkularisierung so verstanden, setzt sie die Neutralisierung der Konflikte voraus, um dann das Recht in eine Welt voller Spannungen einzuführen. Angesichts der extremen Situationen einer Revolution oder eines Bürgerkriegs lässt sich das Recht nicht verwirklichen. Ich denke, dass Schmitt den Sinn des Säkularisierungsbegriffs erweitert, um der Nuancen Herr zu werden, die sich in einem begrifflichen Denken, das die Krisen offenlegen und gleichzeitig Veränderungen in der Wirklichkeit bewirken will, offenbaren. Das Erbe des Denkens, das sich methodisch an der Krise orientiert – wie wir im ersten Kapitel anhand der Entscheidung und der Kontingenz gesehen haben, besteht unter anderem in der angeblichen Fähigkeit zur Mediation der Intensität des Druckes der Antagonismen zwischen menschlichen Wesen. Diese Antagonismen sind nicht nur existentieller, sondern auch geistiger Natur. Diese Fragen erfordern eine gesonderte Betrachtung, die wir im folgenden Kapitel unternehmen wollen. Doch beharre ich darauf, dass die Arbeit Der Wert des Staates die Grundlage zum Verständnis der politischen Theologie des Autors bietet.
3. DIE SÄKULARISIERUNG DES BEGRIFFS DES POLITISCHEN In den vorangehenden Kapiteln habe ich aufzuzeigen versucht, wie Carl Schmitts erste Arbeiten eng mit der Vorstellung der Säkularisierung verknüpft sind. Die wichtigsten von Schmitt behandelten Themen und Begriffe können auf eine Untersuchung des Säkularisierungsbegriffs nicht verzichten. Staat, Entscheidung, Ausnahme, Repräsentation, Souveränität, politische Theologie, Liberalismus, Demokratie, Positivismus, etc. bleiben ohne eine Erklärung der Haltung Schmitts gegenüber dem Säkularisierungsbegriff unverständlich. Die Säkularisierung ist die begriffliche Achse, deren Verständnis die von den Antagonismen der konkreten Erfahrung des Menschen ausgehende Ausarbeitung der politischen Begriffe des modernen Staates zugänglich macht. Obwohl darin der Begriff der Säkularisierung noch nicht auftaucht, habe ich im ersten Kapitel eine der Bedeutungen des Begriffs, die sich in der Opposition zum juristischen Positivismus offenbart, zu erklären versucht. Ich habe dargelegt, dass die Entwicklung der Säkularisierung nicht in einer Konfrontation mit der Religion, mit Theologen, Päpsten und noch viel weniger als Anspruch auf ein theologisches Fundament für die Welt des säkularisierten Rechts erfolgt. Die Konfrontation richtete sich viel mehr gegen die wichtigsten Vorstellungen des juristischen Positivismus des 19. und 20. Jahrhunderts, vor allem gegen die Erhöhung des Gesetzes und des Gesetzgebers zu einer Gott analogen Stellung. In dieser Konfrontation stellte Schmitt der positivistischen Rechtstheorie einen Entscheidungsbegriff gegenüber, um den Bruch, die in der Rechtssphäre im Allgemeinen existierende Kontingenz, zu entlarven. Die Säkularisierung offenbart sich in dem Maße, in dem der Bruch zwischen Gesetz und Entscheidung sichtbar wird. Der festgestellte Bruch einer Spaltung zwischen den Begriffen der Rechtstheorie und dem Erfahrungsraum ihrer Anwendung durch die Entscheidung wirft Licht auf die Kontingenz als zentrales Element des Rechts, von dem aus Schmitt seinen Entscheidungsbegriff ausarbeitet. Die Kontingenz, die später als Ausnahme begriffen wird, wird zum wichtigsten Prinzip seiner Epistemologie. Es ging ihm also nicht darum, einen Bruch zwischen der geistlichen Macht der Kirche und der zeitlichen Macht der Politik aufzuzeigen, sondern darum, klar zu machen, dass der juristische Positivismus und die positivistische Wissenschaft im Allgemeinen den Platz der Theologie einnahmen. Der juristische Positivismus besaß nicht das Monopol über die Interpretation der heiligen Texte, sondern über die Hermeneutik der juristischen Texte. Ich habe zu zeigen versucht, wie der Autor das quasi-religiöse Verständnis, das der Positivismus vom allmächtigen Gesetzgeber hatte, und die Selbstanwendung der Gesetze durch die Konstruktion eines Entscheidungsbegriffs bekämpfte. Im zweiten Kapitel habe ich den Standpunkt vertreten, dass die Säkularisierung sich in Schmitts Arbeit über den Wert des Staates grundsätzlich in zweierlei Bedeutungen manifestiert: Einerseits enthüllt sie die ontologische Struktur einer zwischen Idee und Tatsächlichkeit hin und hergerissenen Wirklichkeit, anderer-
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seits nimmt sie die Bedeutung der Verwirklichung der Rechtsidee in der konkreten Wirklichkeit an. Die Darlegung der Bedeutung des Säkularisierungsbegriffs als Verwirklichung einer Idee in der Welt und als Bemühen, sie mittels der politischen Entscheidung zur Repräsentation sichtbar zu machen, war Gegenstand der Untersuchung des zweiten Kapitels. Meines Erachtens liegt die Relevanz dieser Bedeutung in der Tatsache, dass die Verwirklichung einer Idee in der konkreten Wirklichkeit nur durch eine politische Entscheidung erfolgt, die von einem Subjekt einer absoluten Instanz getroffen wird. Die im ersten und zweiten Kapitel untersuchten Bedeutungen des Säkularisierungsbegriffs, so wie er in den beiden Jugendschriften Gesetz und Urteil und Der Wert des Staates verwendet wird, sind der Mehrheit der dem Thema der Säkularisierung und der theologischen Politik gewidmeten Interpreten unbekannt und werden von diesen ignoriert. In dieser These vertrete ich den Standpunkt, dass die Bedeutung der Säkularisierung, einschließlich jene der Aufnahme der Kontingenz als epistemologisches Element im Denksystem des Autors, in keinem direkten Bezug zu Schmitts katholischem Ursprung steht. Es trifft zwar zu, dass seine ersten Arbeiten Gebrauch machen von symbolischen Analogien zwischen Theologie und Jurisprudenz, von begrifflichen Analysen des kanonischen Rechts, und ausgehend von der Inkarnationslehre der christlichen Tradition ein Prinzip der juristisch-politischen Mediation und Repräsentation ausarbeiten, doch findet sich keinerlei Begründung politischer oder juristischer Art, die sich auf die christlichen Dogmen und Gesetze stützte. Ganz im Gegenteil: Wie ich in diesem Kapitel aufzeigen will, besteht die Absicht des Autors in der Säkularisierung des Politischen. Sowohl in seinem Buch Politische Theologie als auch in dem Werk Der Begriff des Politischen benutzt Schmitt den Säkularisierungsbegriff nicht, um eine theologische Politik aufzudecken oder zu begründen, sondern um das Politische zu entsakralisieren. Ich setze mich mit einigen Arbeiten auseinander, in denen behauptet wird, dass die Voraussetzung des von Schmitt ausgearbeiteten Begriffs des Politischen der katholische Glauben sei. Nach Ansicht einiger dieser Arbeiten beruht der Kern von Schmitts Denken auf seinem Glauben an die Erbsünde und an die Offenbarung Jesu Christi. Schmitts erste Arbeiten belegen aber, dass sein Ausgangspunkt nichts mit seiner Hingabe an den Katholizismus zu tun hat. Schmitt hat nie die Absicht gehabt, die Jurisprudenz den moralischen Grundlagen des Katholizismus unterzuordnen. Schmitts Kampf richtet sich vielmehr gegen den Liberalismus und den Positivismus, deren Verleugnung der modernen politischen Erfahrung einen Verlust von Grenzen, von klaren Unterscheidungen, von Werten, der Hierarchie und die Instabilität und Unvorhersehbarkeit der politischen und sozialen Ordnung zur Folge hat. Das Fundament der juristischen Begriffe der politischen Erfahrung wird nicht von prozessualen Formen her gedacht, die zu einem Konsens führen, sondern wird vom Dissens her, vor allem von Antagonismen, genauer von Konflikten zwischen geistigen und zeitlichen Mächten her gedacht. Schmitts politische Theologie will mittels des Säkularisierungsbegriffs zeigen, dass die zentralen politischen Begriffe der modernen Staatstheorien in sich eine polemische Bedeutung und gleichzeitig eine dualistische Struktur aufweisen, die eine Interpretation des Be-
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griffs der Souveränität anbieten, deren Reminiszenz sich in verschiedenen Staatstheorien zeigt. Schmitt zufolge liegt jeder modernen politischen Theorie ein Verständnis der menschlichen Natur zugrunde. Ich will deshalb in diesem Kapitel die Schmittsche These untersuchen, die die Säkularisierung der Begriffe der modernen Politik als von einem anthropologischen Kern ausgehend interpretiert. Ich werde die polemische Bedeutung und die dualistische Struktur untersuchen, die einige Begriffe der Doktrin des modernen Staates prägen. Meine These ist diese: Der in Schmitts Politische Theologie vorgestellte Säkularisierungsbegriff kann nicht von jenem losgelöst werden, der in Der Begriff des Politischen zur Anwendung kommt. Im vorangehenden Kapitel habe ich gezeigt, dass für Schmitt der Wert des Staates nur mittels einer als logische Voraussetzung des Staates begriffene Rechtsidee verstanden werden kann. Der Vorrang der Idee in Bezug auf die Macht des Staates diente dazu, eine Wirklichkeitsstruktur aufzudecken, die ontologisch zwischen Ideal und Wirklichkeit, zwischen Recht und Staat hin und hergerissen ist. In diesem Teil der Arbeit gilt es nun zu zeigen, dass die Voraussetzung des Staates nicht mehr als Rechtsidee gedacht wird, die den Hiatus zwischen Ideal und Realem aufzeigt und so eine politische Handlung zugunsten der Verwirklichung des Rechtsideals bewirkt. Das Politische liegt dem modernen Staat zugrunde, was – trotz der Unterschiede – die in Der Wert des Staates dargelegte Auffassung von Schmitt nicht aufhebt, sondern ergänzt. Wenn der Staat das Politische voraussetzt, muss man fragen, was dann die Grundlage des Politischen sei. In dieser Arbeit will ich eine Hypothese darlegen, die eine Antwort auf die Frage nach der Voraussetzung des Politischen versucht. Ich nehme vorweg, dass die in den Säkularisierungsbegriff übersetzte politische Theologie die Voraussetzung der Doktrinen des modernen Staates ist. Anders ausgedrückt: Der Begriff des Politischen setzt den Säkularisierungsbegriff nicht nur aus einer historischen Perspektive, sondern auch in seiner begrifflichen Struktur voraus. Dieses Kapitel soll aufzeigen, wie die durch die Verleugnung des politischen Konflikts bewirkte Entpolitisierung der modernen politischen Erfahrung durch die Verschleierung der existenziellen Konflikte das Risiko der Kontingenz erhöht. Und wie der Säkularisierungsbegriff die nicht nur von der positivistischen Haltung, sondern auch von der politischen Kultur des Liberalismus verleugnete politische Dimension verständlich zu machen versucht. Der Säkularisierungsbegriff gewinnt Form und Bedeutung in der Konfrontation mit dem Positivismus und dem Liberalismus. Die zentrale Stelle, die der Säkularisierungsbegriff in Schmitts Denken einnimmt, wird kritisch diskutiert. Meines Erachtens ist dieser Begriff aufgrund seiner hermeneutischen Reichweite in der Lage, die Genese der modernen politischen Begriffe zu beschreiben, ihre polemische Bedeutung aufzudecken und ihre Schwierigkeit, einige der Aporien des menschlichen Daseins anzugehen, deutlich zu machen. Der erste Teil dieses Kapitels widmet sich der polemischen Bedeutung des Säkularisierungsbegriffs und seiner dualistischen Struktur. Der zweite Teil versucht aufzuzeigen, dass die Säkularisierung ein für das Verständnis
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des Politischen unverzichtbarer Begriff ist. Der dritte Teil untersucht, wie der Begriff des Politischen nicht auf die Staatsidee reduziert werden kann. Im vierten und letzten Teil wird die Ansicht vertreten, dass die Säkularisierung des Begriffs des Politischen als Möglichkeit zur Eingrenzung der Konflikte verstanden werden kann. Es soll gezeigt werden, dass die Säkularisierung eine politische Waffe darstellt, die zur Reduzierung der Kontingenz eingesetzt werden kann, deren erster Schritt in der Anerkennung der Kontingenz besteht, um von da aus ihre Eingrenzung zu unternehmen. Schmitts Säkularisierung erhebt sich gegen die liberale und positivistische Theologisierung des Politischen. Der liberale und positivistische Schleier, der das Politische verbirgt, bewirkt eine Verringerung der realen Möglichkeit der Errichtung einer dauerhaften politischen und sozialen Ordnung, die in der Lage wäre, die Antagonismen, die die menschliche Existenz prägen, zu bändigen. 3.1. Säkularisierte theologische Begriffe in Frage gestellt Wenige Arbeiten von Carl Schmitt haben solch eine Kontroverse ausgelöst wie seine Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität und Der Begriff des Politischen. Beide Werke, die erstmals 1922 bzw. 1927 veröffentlicht wurden, zeugen von dem Bemühen, die Sphäre des Politischen zu säkularisieren. Die synthetischen Formulierungen, die prägnante begriffliche Ausgestaltung und vor allem die politische Aktualität der in diesen Arbeiten untersuchten Probleme zeichnen das Bild eines Denkens, das in seinem Wesen zutiefst polemisch war. Dieses Denken scheint auch Meinungsverschiedenheiten unter seinen Interpreten provoziert, zu Verwirrung geführt und die Bedeutung seiner politischen Ideen verdunkelt zu haben. Wie ernst das Problem ist, zeigt sich insbesondere im Fall des Säkularisierungsbegriffs, dessen Verzerrung ein Verständnis der wichtigsten Begriffe des Autors, vor allem des Begriffs des Politischen, verhindert. Was ist das Verhältnis zwischen Carl Schmitts politischer Theologie und seinem Begriff des Politischen? Weshalb ist der Säkularisierungsbegriff so wichtig für das Verständnis seiner juristischen und politischen Auffassungen? Hier gilt es nun, diese Fragen zu untersuchen, ohne dabei aber die zentrale Fragestellung dieses Kapitels aus den Augen zu verlieren: Schmitts Bestreben, die Säkularisierung des Politischen voranzutreiben. Das dritte Kapitel seines Buches Politische Theologie eröffnet Schmitt mit den provozierenden Worten: „Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe.“458 Der Philosoph Hans Blumenberg, einer der größten Gegner und schärfsten Kritiker seines Säkularisierungsbegriffs, bezieht sich auf diese Aussage, wenn er sagt, dass er „nicht nur der Tatsachenbehauptung nach, die er enthält, sondern auch den Folgerungen nach, die er inauguriert, die stärkste Form des Säkularisierungstheorems“ ist.459 Obwohl Blumenberg Schmitts Formulierung als die „stärkste Form des Säkularisierungstheorems“ be458 Schmitt 2004b, S. 43. 459 Blumenberg 1996, S. 102.
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zeichnet, wirft er ihm vor, seine wahre Absicht zu verbergen, deren wahrer Sinn sich in seiner Behandlung der „Theologie als Politik“460 offenbare. Das würde bedeuten, dass Schmitt eine durch eine angebliche begriffliche – durch die Säkularisierung garantierte – Übertragung ermöglichte theologische Semantik verwendet, um seinen politischen Bedürfnissen entgegenzukommen. Blumenberg lehnt die Legitimität des von Schmitt entwickelten Säkularisierungsbegriffs ab. Er hebt hervor, dass keine Übertragung von Bedeutungen aus der theologischen in die politische Sphäre stattfinde, dass aber eine theologische Metaphorik zur Anwendung komme, um das Bedürfnis nach Legitimität der Politik zu stillen. Das illegitime Vorgehen des Juristen offenbare sich in der Auswahl der angeblich in einem theologischen Repertoire vorhandenen Elemente, die seine politischen Argumente und Vorschläge legitimieren sollen. Folgt man diesem Gedankengang, wäre das theologische Fundament, aus dem Schmitt, ausgehend von einem Säkularisierungsprozess, seine Legitimitätsreserven zur Begründung seiner These der Genese der Moderne bezieht, ein ungedeckter Scheck. Der heftigen Kritik Blumenbergs zufolge fungiert Schmitts Säkularisierungsbegriff lediglich als Werkzeug, genauer „als ‚Hilfsmittel‘ der Legitimitätsthematik“.461 In der hitzigen Debatte zwischen Schmitt und Blumenberg geht es im Grunde um das Problem der Beziehung zwischen der transzendenten und der immanenten Ebene, zwischen dem Göttlichen und dem Weltlichen, um die Spannung zwischen dem Geistigen und dem Zeitlichen, kurz, um die Argumente der Selbstgenügsamkeit oder des Ungenügens, der Rationalität oder Irrationalität, der Legalität oder Legitimität der Moderne. Während Blumenberg versucht, der Moderne durch die auf die Autonomie der Vernunft gegründete Vorstellung der Selbstbestimmung Legitimität zu verleihen, sieht Schmitt nicht nur den modernen europäischen Staat als Ergebnis eines Säkularisierungsprozesses, sondern behauptet auch das Vorhandensein einer Struktur, die der Projektion eines metaphysischen Weltbildes und der entsprechenden Form seiner politischen Organisation gemeinsam ist.462 Für Schmitt ist Blumenbergs Bestreben, die Legitimität der Moderne mit der Vorstellung der novitas zu verbinden, ein rhetorischer Kunstgriff, denn „von einer sich selbst ermächtigenden Neuheit her ist die Ablehnung jeder Rechtfertigungsbedürftigkeit durchaus folgerichtig“.463 Blumenberg, dessen Attacken, die sich unter anderem gegen Karl Löwith, Reinhart Koselleck und Carl Schmitt richten, tatsächlich konsistenter zu sein scheinen, als die Argumente zugunsten einer autonomen Moderne, schießt gegen den Juristen: „Politische Theologie ist metaphorische Theologie.“464 Auf der anderen Seite, weist Schmitt den Philosophen auf die Unvereinbarkeit des Titels mit der seinem Buch Legitimität der Neuzeit verliehenen Richtung hin. Die Neuzeit könne aufgrund der in diesem Ausdruck enthaltenen historischen Schuld nicht mit dem Hinweis auf eine „Legitimität“ gerechtfer460 461 462 463 464
Blumenberg 1996, S. 108. Blumenberg 1996, S. 110. Schmitt 2004b, S. 50f. Schmitt 1996c, S. 89. Blumenberg 1996, S. 112.
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tigt werden. Blumenberg habe der Herausforderung, die Tradition und die semantischen Übertragungen auf den Begriff der Legitimität zu überwinden, ein enormes Gewicht aufgebürdet, denn seit über einem Jahrhundert würde dieser Begriff mit dem Monopol der dynastischen Legitimität gleichgesetzt, deren Rechtfertigung sich auf Dauer, Alter, Gebräuche und Sitten stützte.465 Für Schmitt emanzipiert Blumenbergs Versuch, die „Säkularisierung als eine Kategorie historischen Unrechts“ durch die Enthüllung ihrer „Übersetzungen und Umbesetzungen“466 zu verurteilen, die Neuzeit nicht von ihrem Erfahrungsraum. Das Bestreben des Philosophen, die historische Kategorie der Säkularisierung durch die Legitimität der Neuzeit zu überwinden, resultierte im Problem des historischen Unrechts: die Unvereinbarkeit der Bedeutung der Legitimität mit der Idee des Neuen. Anders ausgedrückt konfrontiert Schmitt Blumenberg mit dem Problem des Anachronismus: ein beachtlicher Irrtum für jemanden, der die Interpretation des Säkularisierungsbegriffs als „historisches Unrecht“ disqualifiziere. Außerdem sei es widersprüchlich, Anspruch auf die „Legitimität“ der Selbstbestimmung der Neuzeit auf der Grundlage einer autonomen Vernunft zu erheben, ohne auf die Geschichte des Begriffs der Legitimität zu verweisen, was in Schmitts Augen sicherlich eine Lektüre von Max Webers Soziologie erfordern würde. Dem
465 Schmitt 1996c, S. 86. 466 Blumenberg verteidigt die absolute Unmöglichkeit, dass die Kategorie der Säkularisierung eine Übertragung von Inhalt der theologischen auf die politische Sphäre bedeuten könnte. Dem Autor zufolge findet zwischen diesen Sphären lediglich eine Umbesetzung der unbesetzt gebliebenen Stellen statt. Blumenberg: „Was in dem als Säkularisierung gedeuteten Vorgang überwiegend, jedenfalls bisher mit nur wenigen erkennbaren und spezifischen Ausnahmen, geschehen ist, lässt sich nicht als Umsetzung authentisch theologischer Gehalte in ihre säkulare Selbstentfremdung, sondern als Umbesetzung vakant gewordener Positionen von Antworten beschreiben, deren zugehörige Fragen nicht eliminiert werden konnten“ (Blumenberg 1996, S. 75). Der Säkularisierungsbegriff als Umbesetzung war mindestens seit seiner Arbeit Politische Romantik aus dem Jahre 1919 bekannt. Das Frage-Antwort-System erinnert an die Question-Answer-Logic, die von R. G. Collingwood in The New Leviathan (1942) entwickelt wurde. Schmitt kannte diese Collingwoodsche Methode und erachtete sie trotz einiger Vorbehalte als geeignet, um das, was die historische Spezifität einer bestimmten Zeit wäre, zu begreifen. Diese Methode, die auf dem Muster Frage-Antwort-Gedanken beruht, ist für die Säkularisierung insofern wichtig, als sie durch die Einzigartigkeit der Fragen jeder Epoche verhindert, die Säkularisierung als Phänomen zu begreifen, das sich in der Übertragung einer historischen Konstante offenbart. Dies ist ein wichtiger Punkt, um eine ahistorische Interpretation des Säkularisierungsbegriffs zu überwinden. In einem Kommentar über Collingwoods Methode bemerkt Schmitt, dass „der Ansatz vortrefflich [war], doch blieb der englische Philosoph selbst viel zu tief in dem Wissenschaftsbegriff des englischen 19. Jahrhunderts stecken, als dass er über eine psychologisch-individualistische Deutung des FrageAntwort-Problems hinausgekommen wäre“ (Schmitt 1955a, S. 151). Dieses Zitat ist wichtig, weil es die Grenzen des Säkularisierungsbegriffs aufzeigt. Obwohl Schmitt schon, wie wir in den ersten beiden Kapiteln dieser Arbeit gesehen haben, in seinen frühesten Arbeiten das Problem des Bruches zwischen Idee und Wirklichkeit, genauer der Kontingenz gegen die Ahistorizität des Positivismus ins Feld führt, vermittelt der Begriff doch manchmal den Eindruck einer Übertragung einer Substanz aus der Theologie auf die Politik.
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Juristen zufolge wäre es nicht möglich, den Begriff der Legitimität467 von dem Raum konkreter Erfahrungen zu lösen. Deshalb verweist er Blumenberg auf die Notwendigkeit, die verschiedenen Bedeutungen, die dem Begriff in verschiedenen Kontexten zukommen, zu überprüfen. 1970 glaubte sich Schmitt berechtigt zu sagen – und ich glaube, dass er bis heute Recht behalten hat –, dass die Legitimität die Bedeutung einer „Gesetzeskonformität“ angenommen habe, d.h. dass die Legitimität als Legalität, als etwas Rational-Legales verstanden werde. Deshalb ruft der Jurist das Fehlen einer Auseinandersetzung mit Max Webers Soziologie in der Arbeit des Philosophen in Erinnerung. Er bemerkt, dass der Philosoph die Neuzeit auf der Grundlage der Legalität zwar rechtfertigen könne, nicht aber durch die „Konterbande alter Begriffe und Umbesetzungen“, wie er dies im Falle des Begriffs der Legitimität getan habe.468 Der Streit zwischen dem Juristen und dem Philosophen weist auf einen spezifischen, für das Verständnis von Schmitts Säkularisierungsbegriff besonders interessanten Punkt hin: Finden in Bezug auf die theologische und politische Sphäre Übersetzungen oder Umbesetzungen der Positionen statt? Sind die von Schmitt vorgeschlagenen Analogien formeller oder ontologischer Natur? Diese Fragen sollen im Folgenden untersucht werden und können einiges zur Aufklärung der inneren Aporien des Schmittschen Begriffs beitragen. Auf den ersten Blick unterscheidet sich Blumenbergs Kritik469 nicht so sehr von jener von Karl Löwith, für den die These der politischen Begriffe als säkularisierte theologische Begriffe in Wirklichkeit Schmitt als Vorwand dienten, seinen politischen Überzeugungen eine solide theoretische Basis zu verleihen. Verbarg sich hinter der Fassade des Säkularisierungsbegriffs etwa ein Geheimnis? Gemäß Löwith, „was Schmitt vertritt, ist eine Politik der souveränen Entscheidung“.470 Ausgehend von der These einer theologischen Wurzel der säkularisierten politischen und juristischen Begriffe versuchte Schmitt ganz einfach historisch und theologisch eine dezisionistische Politik zu rechtfertigen, um über sie je nach Umständen, die eine souveräne politische Entscheidung bewirkten, zu verfügen. Löwith zufolge habe Schmitt die „Essenz“ des Begriffs des Politischen in Opposition zur romantischen Bewegung des 19. Jahrhunderts entwickelt, deren Verhalten der Jurist als okkasionalistisch bezeichnet. Der Okkasionalismus weist auf eine Haltung gegenüber der Welt hin, der zufolge das romantische Subjekt die Welt und
467 In einer drei Jahre vor Politische Theologie II (1970) verfassten Arbeit, in der Carl Schmitt auf Blumenbergs Kritiken an seinem Säkularisierungsbegriff antwortet, schreibt er über den Begriff der Legitimität. In diesem Artikel, der den Titel Clausewitz als politischer Denker trägt, untersucht er die Verwendung des Begriffs der Legitimität im Plural und im Singular: „Aber das Wort Legitimität war nun einmal ein ganzes Jahrhundert hindurch einer bestimmten Art, nämlich der dynastischen Legitimität, vorbehalten, und in der unter- oder halbbewussten Weiterwirkung dieses Monopols bleibt der Sprachgebrauch beim Singular“ (Schmitt 1967a, S. 484). 468 Schmitt 1996c, S. 87f. 469 Siehe dazu Blumenberg 1996, S. 103. 470 Löwith 1960, S. 100.
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alles, was in ihr ist, als reine Gelegenheit begreift.471 Löwith kehrt die Fragestellung jedoch um und behauptet, dass die Romantik,472 gegen die Schmitt seine politische Idee der Entscheidung richtet, das bis anhin verschleierte Antlitz des Schmittschen Dezisionismus reflektiere: ein als okkasionalistisch qualifizierter Dezisionismus. Dem Philosophen zufolge, charakterisiert „mit dieser Romantik […] Schmitt nicht zuletzt auch sich selbst, weil sein eigener Dezisionismus ein okkasioneller ist“.473 Die Säkularisierung der politischen Begriffe der modernen Staatsdoktrin enthielte also eine versteckte Apologie auf einen reinen Entscheidungsbegriff, denn „der Inhalt [ergibt sich] nur aus der zufälligen occasio der jeweils gegebenen politischen Situation“.474 So gesehen verlöre Schmitts politische Entscheidung ihre Kraft, da nicht der Souverän über die Aufhebung einer juristischen Ordnung entscheiden würde, sondern die occasio; die Kontingenz oder die Ausnahme entschiede an Stelle der zuständigen Autorität. Schmitts Entscheidungsbegriff wäre eine leere Form, die den Umständen schwebend folgt. Indem Löwith dem Schmittschen Dezisionismus einen okkasionalistischen Charakter zuschreibt, kehrt er den vom Juristen beabsichtigten Zweck seines Begriffs der politischen Entscheidung um: Die souveräne politische Entscheidung übt nicht mehr – so wie von Schmitt beabsichtigt – ihre Rolle zur Begrenzung der Kontingenz mittels der Wiedereinführung oder Gründung einer juristischen Ordnung aus, sondern unterwirft das politische und soziale Leben der Kontingenzialität. Anders ausgedrückt wird Löwith zufolge die soziale Wirklichkeit durch Schmitts Dezisionismus an die kontingente Hand des Zufalls gegeben. Für jemanden, der die souveräne Entscheidung als konstitutive Quelle der politischen Einheit begreift, hätte die Kritik nicht härter ausfallen können. Blumenberg und Löwith sind natürlich nicht die Einzigen, die Schmitts Säkularisierungsthese in Bezug auf die angebliche theologische Wurzel der modernen politischen Begriffe hart kritisieren. Doch die Angriffe von Blumenberg und Karl Löwith auf Schmitts aus der Perspektive der Säkularisierung begriffene politische Theologie sind beispielhaft. Ein Großteil der Literatur, die sich diesem Thema widmet, hat sie als wichtige Referenz in der Diskussion über Schmitts politische Theologie übernommen. Meines Erachtens kommt den Schriften von Blumenberg und Löwith das Verdienst zu, die inneren Aporien in Carl Schmitts Argumentation untersucht zu haben. Die vor allem von Blumenberg aufgezeigten Widersprüche in Schmitts Säkularisierungsbegriff wurden von Schmitt überdacht.475 471 Schmitt 1998c, S. 18. 472 Zum Verhältnis zwischen Liberalismus und Romantik, siehe Bernardo Ferreira, O risco do político, 2004. 473 Löwith 1960, S. 97. 474 Löwith 1960, S. 100. 475 Hans-Georg Flickinger ist der Meinung, dass Schmitt in seiner Politischen Theologie II, die fast ein halbes Jahrhundert nach Politische Theologie verfasst wurde, Blumenbergs Kritik in Bezug auf die Unmöglichkeit einer Übertragung oder einer Reproduktion von theologischen Inhalten auf die säkulare Sphäre eingearbeitet habe. Schmitt hätte dies, d.h. die Umbesetzung an Stelle der Übertragung, „akzeptiert“. Meines Erachtens trifft Flickingers Bemerkung nur
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Jene Arbeiten über den Juristen, die von seinem katholischen Ursprung oder seinem Beitritt zur NSDAP im Jahre 1933476 ausgehen, definieren ein erhellendes Interpretationsmuster bezüglich der dem Argument äußeren Aspekte, stellen aber meines Erachtens eine kausale Verbindung her, die die im Denken von Carl Schmitt vorhandenen Widersprüche aus den Augen verliert. Dies trifft auf die Haltung von Heinrich Meier zu, der in dieser Arbeit bereits erwähnt wurde und dessen enormes Echo eine paradigmatische interpretative Achse konsolidierte, um die sich andere Arbeiten drehen.477 Es gibt jedoch einen rein formalen Konvergenzpunkt in seiner Arbeit Die Lehre Carl Schmitts: Der Begriff des Politischen setzt die politische Theologie voraus. Obwohl die vorliegende Arbeit dem unverzichtbaren Charakter der politischen Theologie zustimmt, schlägt sie eine der Meinung Meiers entgegensetzte Bedeutung vor und unterscheidet sich auch in ihren Begründungen. Der genannte Autor verwendet Schmitts politische Theologie als Schlüssel zum Begriff des Politischen. Doch begreift er das Problem der Begründung des Begriffs des Politischen bei Schmitt nicht auf der Grundlage des Säkularisierungsbegriffs, der meines Erachtens unverzichtbar ist. Meier stützt seine Studie auf einem spezifischen Aspekt ab: Schmitts Glaube an den Katholizismus. Seiner Ansicht bestimmt Schmitts Religiosität den Weg zum Verständnis der säkularisierten theologischen Begriffe, rechtfertigt sie die Verwendung biblischer Texte und bietet ihm die Erbsünde (Genesis 3.15) und die biblische Offenbarung Jesus Christi als letzte Grundlage für den Begriff des Politischen. In diesem Sinne zerstöre – wie Meier schreibt – die „Verleugnung der Erbsünde“ „alle soziale Ordnung“.478 Schmitts blinder Glaube an den Katholizismus sei entscheidend für das Verständnis seiner politischen Theologie, die folgzum Teil zu, da Schmitt, wie man aus der Arbeit Politische Romantik aus dem Jahre 1919 ersehen kann, bereits die Umbesetzung von Stellen im Prozess der Säkularisierung untersucht hatte. Die Schwierigkeit besteht jedoch darin, dass die Säkularisierung nicht nur als historischer oder soziologischer Prozess erscheint, sondern auch als Sichtbarmachung einer metaphysischen Struktur einer Wirklichkeit, die immer auf ein Absolutes verweist, auf ein Zentrum oder auf eine höchste Instanz (Schmitt 1998c, S. 16–19). Der Platz dieser Instanz kann von verschiedenen weltlichen Faktoren besetzt werden (Schmitt 1998c, S. 18). Doch wie Nicoletti zutreffend bemerkt, „questa sostituzione non significa eliminazione dell’instanza suprema“ (Nicoletti 1990, S. 96). Für Flickinger wäre die Säkularisierung der theologischen Begrifflichkeit der Ort, an dem Schmitts Überzeugungskraft und mit ihr auch der objektive Kern des Begriffs des Politischen zu finden sei (Flickinger 1990, S. 70f.). 476 Paul Noacks Studie Carl Schmitt. Eine Bibliographie ist eine sorgfältige Analyse von Schmitts Werdegang und zitiert auch verschiedene Einträge des Tagebuchs des Juristen aus der Zeit zwischen 1933 und 1936 (Noack 1996, S. 166–187). 477 Dies gilt z.B. für Wolfgang Palavers Arbeit Die Mythischen Quellen des Politischen: Carl Schmitts Freund und Feind-Theorie aus dem Jahre 1998. Obwohl sich Palaver darin von Meiers Auffassungen zu distanzieren sucht, unterstützt er dessen Interpretation des Begriffs des Politischen in Bezug auf Schmitts katholische Wurzeln. Es ist richtig, dass Palavers Studie in einem gewissen Sinn die strikte Kausalverbindung zwischen der Voraussetzung des Katholizismus und dem Begriff des Politischen aufhebt, indem er die Quellen des Begriffs des Politischen als Mythen und nicht als Dogmen des Katholizismus behandelt. 478 Meier 2004, S. 29.
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lich weder theoretisch noch wissenschaftlich sei, da sie auf den Dogmen des Katholizismus gründe.479 Meines Erachtens wird Schmitts Katholizismus von Meier überbewertet, der, indem er Schmitts Religiosität ein übermäßiges Gewicht zuschreibt, seine politischen, soziologischen und juristischen Ansprüche auf Fragen der moralischen Theorie und der Dogmen der christlichen Moral reduziert. So entpolitisiert er Schmitts Denken, da diesem eine Reflexion in der Sphäre der politischen Theorie abgesprochen und ausschließlich als Theologie dargestellt wird. Die Notwendigkeit, zu Schmitts ersten Arbeiten zurückzukehren, dient nicht zuletzt dazu zu zeigen, dass in ihnen der Katholizismus kaum erwähnt wird, und wenn doch, dann als Untersuchungsgegenstand des institutionellen Charakters der katholischen Kirche und nicht, um die politische Wirklichkeit den Dogmen des katholischen Glaubens unterzuordnen und sie darin unterzubringen. Die Verwendung von biblischen Themen, die Analogien zwischen Theologie und Jurisprudenz machen aus Schmitt noch keinen Theologen. Es geht ihm nicht darum, eine politische Religion zu begründen, sondern der modernen politischen Reflexion die in der westlichen jüdisch-christlichen Tradition angesammelten Erfahrungen nicht vorzuenthalten. Wichtig ist auch der Hinweis darauf, dass der Jurist an einer Reflexion des soziologischen Aspekts der christlichen Religion interessiert war – nicht nur als einer sozialen Ideologie, sondern auch als einer Glaubensform, die in der Lage ist, Institutionen – wie z.B. die Kirche – zu konkretisieren –, um sie zum Vergleich als Modell für die Staatstheorie zu verwenden. Des Weiteren bietet die spezifische Rationalität des römischen Katholizismus Begriffe – wie z.B. jenen der Mediation und der Unfehlbarkeit der päpstlichen Entscheidung –, deren Struktur für die Untersuchung der Bildung des modernen Staates fruchtbar sein kann. Es ist richtig, dass Schmitt politische Begriffe ausgehend von diesen Prinzipien analysiert und formuliert, was aber nicht bedeutet, dass er im Versteckten versuchte, das Politische zu theologisieren. Schmitts erste nach seiner Doktorarbeit verfasste Schrift lässt keinen Zweifel daran, dass er weder von der Religion noch von der Theologie ausgeht, um den Staat und die Politik zu untersuchen, sondern von der Kritik am juristischen Positivismus, dem er die Idee der juristischen Entscheidung gegenüberstellt. Hans Blumenbergs Haltung scheint mir interessanter zu sein als die von Heinrich Meier, da er zu Recht nicht nur auf die Unmöglichkeit einer Übertragung theologischer Inhalte auf politische Begriffe, sondern auch auf den metaphorischen Zug der politischen Theologie hinweist. Dies unterscheidet sich von jenen Interpretationen, die sich auf das Argument von Schmitts Glaube an den Katholizismus stützen. 3.2. Säkularisierung: Übertragung oder Umbesetzung? In Schmitts Buch Politische Theologie weist der Säkularisierungsbegriff zwei Bedeutungen auf: eine historische und eine hermeneutische. Die historische Bedeu479 Meier 2004, S. 56.
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tung480 führt die Begriffe des modernen Staats auf seinen polemischen Charakter481 zurück, der in verschiedenen Kontexten festgestellt wird und durch den der Säkularisierungsbegriff seine semantische Reichweite vergrößert. Dieser Begriff gewinnt im Lauf der historischen Entwicklung nicht nur verschiedene polemische Bedeutungen, er enthält auch einen hermeneutischen Charakter, durch den die metaphysische Struktur der Wirklichkeit aufgedeckt werden kann. Für Schmitt weist jede historische Wirklichkeit, so wie jede Weltvorstellung, einen metaphysischen Kern auf, der einer letzten Instanz, einer absoluten Mitte entspricht.482 Das zeigt sich in Schmitts folgender Formulierung: Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe. Nicht nur ihrer historischen Entwicklung nach, weil sie aus der Theologie auf die Staatslehre übertragen wurden, indem zum Beispiel der allmächtige Gott zum omnipotenten Gesetzgeber wurde, sondern auch in ihrer systematischen Struktur, deren Erkenntnis notwendig ist für eine soziologische Betrachtung dieser Begriffe.483
Diese Passage ist eine Antwort auf die Doktrinen des modernen Staates, die ihm den Begriff der Souveränität vorenthalten wollen. Der angeblich theologische Ursprung der politischen und juristischen Begriffe der Theorie des modernen Staates kann auf zweierlei Weise aufgezeigt werden: Die erste offenbart sich im historischen Verlauf, in dem eine Übertragung der theologischen auf die politische Sphäre beobachtet werden konnte. Die Verwandlung eines allmächtigen Gottes in einen allmächtigen Gesetzgeber ist ein Beispiel für diese Übertragung. Die zweite, die hermeneutischer Art ist, weist eine strukturelle Affinität auf, die mittels einer Analogie zwischen theologischen und politischen Begriffen festgestellt werden kann. Die Analyse dieser strukturellen Affinität zwischen Theologie und Politik macht die Tatsache verständlich, wonach die Wissensbereiche über eine gemeinsame Struktur verfügen: das metaphysische Weltbild. Schmitt zufolge schließt jedes Denken ein metaphysisches Verhalten gegenüber der Welt ein, die vermittels Bildrepräsentationen und –projektionen wahrgenommen wird. Dadurch versucht er deutlich zu machen, dass der Säkularisierungsprozess, obwohl er heilige Repräsentationen und Bilder der Welt abschafft, nicht den Verlust einer metaphysischen Haltung bedeutet: 480 Politische Begriffe müssen in Übereinstimmung mit ihrer historischen Bedeutung verstanden werden, genauer: ausgehend von einer spezifischen historischen Situation, die sich immer auf einen konkreten Antagonismus bezieht. Das bedeutet, dass die politischen Begriffe außerhalb ihrer konkreten Konfliktsituation, die ihren semantischen Kern bilden, unverständlich bleiben. Sollten wir uns also dem Verständnis der konkreten historischen Bedeutung eines Antagonismus verweigern, werden die politischen Begriffe so gesehen zu „leeren Abstraktionen“ (Schmitt 2002b, S. 30f.). 481 Jan Assmann macht auf zwei Bedeutungen des Säkularisierungsbegriffs aufmerksam. Die eine weist einen polemischen Charakter auf, da er einen „betreibenden Sinn“ hervorrufe, und die andere ist deskriptiv und steht mit der Soziologie von Schmitts Begriffen in Beziehung (Assmann 2002, S. 20f.). 482 Schmitt 1998c, S. 17. 483 Schmitt 2004b, S. 43.
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Viele Arten metaphysischer Haltungen existieren heute in säkularisierter Gestalt. Für den modernen Menschen sind weithin an die Stelle Gottes andere, und zwar irdische Faktoren getreten: die Menschheit, die Nation, das Individuum, die geschichtliche Entwicklung […]. Die Haltung hört dadurch nicht auf, metaphysisch zu sein. Das Denken und Empfinden jedes Menschen behält immer einen bestimmten metaphysischen Charakter; Metaphysik ist etwas Unvermeidliches und […] man kann ihr nicht dadurch entgehen, dass man darauf verzichtet, sich ihrer bewusst zu werden.484
Keine historische Wirklichkeit kann sich von einem metaphysischen Kern befreien. Die Säkularisierung nimmt hier die Bedeutung einer Ersetzung und nicht einer Übertragung an. Sie bezieht sich hier auf die Ersetzung der von Gott besetzten Position durch irdische Faktoren, was jedoch nicht das Verschwinden einer metaphysischen Wurzel bedeutet. Jede Projizierung eines Bildes hat mit der politischen und sozialen Wirklichkeit eine metaphysische Struktur gemein. Sowohl die historische Wirklichkeit als auch eine Weltvorstellung offenbaren ein metaphysisches Bild, das auf einem letzten Legitimitätsfaktor beruht, sei dieses nun von einem göttlichen oder irdischen Element dargestellt. Die Struktur der historischen Wirklichkeit und des Weltbildes geht von einem Zentrum oder von einer absoluten Instanz aus, die durch andere Elemente ersetzt werden kann: Wohl aber kann das, was die Menschen als letzte, absolute Instanz betrachten, wechseln, und Gott kann durch irdische und diesseitige Faktoren ersetzt werden. Das nenne ich Säkularisierung, und davon ist hier die Rede, nicht von den ebenfalls sehr bedeutungsvollen, aber im Vergleich hierzu äußerlichen Fällen […].485
Säkularisierung bedeutet also eine Ersetzung von Bildern, deren Auflösung von traditionellen Repräsentationen nicht die Eliminierung eines metaphysischen Fundaments bedeutet. Zum einen resultiert das Erscheinen des modernen Staates und seiner politischen und juristischen Begriffe als Folge eines Säkularisierungsprozesses, der ausgehend von der Neutralisierung der religiösen Konflikte des 16. und 17. Jahrhunderts begriffen wird. Zum andern wird die Säkularisierung als sukzessive Ersetzung metaphysischer Bilder dargestellt. Anders ausgedrückt: Die Säkularisierung offenbart, dass die Wirklichkeit trotz ihrer historischen Veränderungen eine Struktur bewahrt, die eine absolute Instanz enthält, die in Bezug auf bestimmte Weltbilder und –auffassungen kontinuierlich ersetzt wird. So gesehen, wird die ontologische Struktur der Wirklichkeit von den Weltdarstellungen gestaltet, die eine zentrale Position besetzen. Oder anders ausgedrückt: Die Eigenschaften der Wirklichkeit werden den Glaubensprojektionen angepasst, die einen zentralen Platz, oder den „letzten Legitimationspunkt“ für ihre Darstellungen besetzen. Im 17. Jahrhundert war der theistische Gott der sicheren Wirklichkeit der alten Metaphysik entthront worden, und für den von Schmitt entwickelten Säkularisierungsbegriff war
484 Schmitt 1998c, S. 18. 485 Schmitt 1998c, S. 18.
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wichtiger als der Streit der Philosophen […] die Frage, wer seine Funktionen als höchste und sicherste Realität und damit als letzter Legitimationspunkt in der historischen Wirklichkeit übernahm. Zwei neue diesseitige Realitäten traten auf und setzten eine neue Ontologie durch, ohne auf die Beendigung der erkenntnistheoretischen Diskussion zu warten: die Menschheit und die Geschichte. Völlig irrational, wenn man sie mit der Logik der rationalistischen Philosophie des 18. Jahrhunderts betrachtet, aber objektiv und evident in ihrer überindividuellen Geltung, beherrschten sie in realitate das Denken der Menschheit als die beiden neuen Demiurgen.486
Die sukzessive Umbesetzung der zentralen Position durch verschiedene Weltbilder findet ihre Dynamik in den zwischenmenschlichen Konflikten, wie z.B. in der Französischen Revolution, die von den universellen Idealen der Aufklärung inspiriert war. Die Darstellung eines universellen Menschheitsbildes und einer allgemeinen, auf den Fortschritt ausgerichteten Geschichte bezieht ihre Kraft aus einer metaphysischen Weltvorstellung. Die Ersetzung Gottes durch unmittelbare Darstellung der Menschheit und der Geschichte eliminiert nicht den theologischen oder metaphysischen Rest, da jeder Epoche ein metaphysischer Kern zugrunde liegt. Obwohl der persönliche, theistische Gott entthront ist, üben Menschheit und Geschichte weiterhin eine demiurgische Rolle aus. Von einem Glauben dieser Art beherrscht, lassen sich die Menschen, wie z.B. die Jakobiner, zum Fanatismus hinreißen, und die revolutionären Kämpfe nehmen eine religiöse Bedeutung an. Schmitt bemerkt, dass, angesichts des revolutionären Geistes der Jakobiner, die Politik eine religiöse Angelegenheit wird, das politische Organ ein Priester der Republik, des Gesetzes, des Vaterlandes. Gegen jeden politischen Dissidenten, jede abweichende Meinung wütete das Jakobinertum mit blutigem Eifer. Sein Zelotismus hatte religiösen Charakter, der neue Kult der Freiheit, der Tugend oder des „höchsten Wesens“ war seine natürliche Folge. […] Jeder politische Feind […] war […] ein Atheist.487
Der Säkularisierungsbegriff erlaubt es, das Phänomen der Entpolitisierung und die Neutralisierung der Doktrinen des modernen Staates – wie z.B. das Verständnis von Staat, das auf den Prinzipien der liberalen Demokratie beruht, – des 19. und 20. Jahrhunderts zu verstehen, die den Staat seines politischen Sinns zu berauben suchten. Schmitt zufolge erfolgt die Entpolitisierung der Doktrinen des modernen Staates durch den Versuch, den politischen Sinn der Souveränität durch „Immanenzvorstellungen“ zu ersetzen.488 Durch die Analyse der Vorstellung, die sich eine bestimmte Epoche von der Welt macht, kann die Form ihrer politischen Ordnung und die Entwicklung ihrer entsprechenden Begriffe erkannt werden, denn „das metaphysische Bild, das sich ein bestimmtes Zeitalter von der Welt macht, hat dieselbe Struktur wie das, was ihr als Form ihrer politischen Organisation ohne weiteres einleuchtet“.489
486 487 488 489
Schmitt 1998c, S. 68. Schmitt 1998c, S. 69. Schmitt 2004b, S. 53. Schmitt 2004b, S. 50.
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Die Säkularisierung offenbart eine Sukzession von Darstellungen der Immanenz, die sich in bestimmten Auffassungen wie Selbstverwaltung, Selbstregulierung und autonomes Funktionieren äußern. Die Wirklichkeit wird beherrscht von Weltbildern, in denen die politischen Handlungen, die Verwirklichung des Rechts, die Souveränität und die politische Entscheidung überflüssig sind, da die Welt davon unabhängig funktioniert und sich selbst reguliert. In den Darstellungen der Immanenz sind die politischen Handlungen nutzlos, da die politische, soziale und wirtschaftliche Welt autonom funktioniert und einen eigenen Motor besitzt. In diesen Darstellungen, wie dies z.B. für den Liberalismus gilt, „erwartet [man], das öffentliche Leben werde sich selbst regieren“.490 Die Vorstellungen der Immanenz, wie sie durch die Analogie zwischen Theologie und Politik aufgezeigt werden, haben Ausstrahlung und Pantheismus und Deismus gemein, deren Ausdruck sich anstelle der menschlichen Handlungen in der unsichtbaren Hand, die den Markt reguliert, und anstelle der souveränen politischen Entscheidungen in der Herrschaft der wirtschaftlichen Gesetze erkennen lässt. Somit brauchen „weder die Menschen noch die Dinge […] eine ‚Regierung‘, wenn man den Mechanismus des Ökonomischen und Technischen seiner immanenten Gesetzmäßigkeit überlässt“.491 In der Politischen Theologie erscheint die Bedeutung von Schmitts Säkularisierungsbegriffs in Opposition zum aufklärerischen Verständnis von Säkularisierung. Die aufklärerische Säkularisierung, auch Säkularismus genannt, führt dem Juristen zufolge zur Ersetzung von Darstellungen der Transzendenz durch Darstellungen der Immanenz. Diese Ersetzung beabsichtigte also, die Kontingenz aus dem menschlichen Leben zu verbannen. Für Schmitt geschieht dadurch das genaue Gegenteil, denn in der Unverständlichkeit und in der Wahrnehmung der Kontingenz offenbart sich die Verantwortung des politischen Handelns und Entscheidens in der Welt. Das bedeutet nicht, dass seine politische Theorie die Kontingenz nicht einzudämmen versuchte, um die Stabilität der juristischen und sozialen Ordnung zu garantieren. Sein Säkularisierungsbegriff bezweckt, die Darstellungen der Immanenz aufzudecken und ihre Demiurgen zu entlarven. Die Zurschaustellung der Subjekte, die das absolute, die Wirklichkeit strukturierende Zentrum besetzt halten, findet seinen klarsten Ausdruck im bürgerlichen „apolitischen“ Individuum, in der auf den Fortschritt ausgerichteten Geschichtsphilosophie und in der universalistischen Vorstellung der Menschheit.492 In seinen Arbeiten Politische Theologie und Der Begriff des Politischen zeigt Schmitt, dass das Politische nicht auf die Dimension der Immanenz, die die Kontingenz ausschließt, um ein System des autonomen Funktionierens zu konstituieren, reduziert werden kann. Die Nicht-Reduzierbarkeit des Politischen offenbart sich in seinem transzendenten Charakter493, der eine Lebensphilosophie enthüllt, 490 491 492 493
Schmitt 1984, S. 47. Schmitt 1984, S. 60. Schmitt 1998c, S. 78. Der transzendente Charakter des Politischen offenbart sich in der Tatsache, dass die existentiellen Antagonismen (die politische Dimension) keinem Set von Regeln untergeordnet werden
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deren existenzialistisches Verständnis jeder positivistischen oder liberalen Normativität entgeht. In Gesetz und Urteil hatte Schmitt, indem er die Notwendigkeit einer Entscheidung zur Rechtsbestimmung aufzeigte, die Kontingenz oder den Bruch zum epistemologischen Prinzip seiner Untersuchung erhoben. In der Politischen Theologie übernimmt die Kontingenz oder der Bruch die Idee der Ausnahme als epistemologisches Werkzeug, um die rationalistischen immanenten Vorstellungen zu unterlaufen, für die die Normalität der juristischen Ordnung und das autonome Funktionieren der sozialen Ordnung eine vorgegebene Harmonie darstellt. Deshalb bemerkt der Jurist: Die Ausnahme ist interessanter als der Normalfall. Das Normale beweist nichts, die Ausnahme beweist alles; sie bestätigt nicht nur die Regel, die Regel lebt überhaupt nur von der Ausnahme. In der Ausnahme durchbricht die Kraft des wirklichen Lebens die Kruste einer in Wiederholung erstarrten Mechanik. Ein protestantischer Theologe, der bewiesen hat, welcher vitalen Intensität die theologische Reflexion auch im 19. Jahrhundert fähig sein kann, hat es gesagt: „Die Ausnahme klärt das Allgemeine und sich selbst. Und wenn man das Allgemeine richtig studieren will, braucht man sich nur nach einer wirklichen Ausnahme umzusehen. Sie legt alles viel deutlicher an den Tag als das Allgemeine selbst. Auf die Länge wird man des ewigen Geredes vom Allgemeinen überdrüssig; es gibt Ausnahmen. Kann man sie nicht erklären, so kann man auch das Allgemeine nicht erklären. Gewöhnlich merkt man die Schwierigkeit nicht, weil man das Allgemeine nicht einmal mit Leidenschaft, sondern mit einer bequemen Oberflächlichkeit denkt. Die Ausnahme dagegen denkt das Allgemeine mit energischer Leidenschaft.“494
Die Subjekte und Begriffe, wie z.B. das bürgerliche Individuum, die progressive Philosophie oder der universalistische Menschheitsbegriff, die die alte Funktion des persönlichen, theistischen Gottes der alten Metaphysik besetzen und ausüben, können mit Grenzfällen oder kritischen Situationen nicht umgehen, da die normative Rationalität der allgemeinen Gesetze diese Situationen nicht voraussieht. Das große Problem, das sich durch einen wichtigen Teil von Schmitts Werk zieht, offenbart sich im Kampf gegen die Verleugnung der Kontingenz, die, wie ich bereits erwähnte, in der Politischen Theologie eine spezifischere Bedeutung annimmt. In dieser Arbeit warnt der Jurist: „Der Rationalismus der Aufklärung verwarf den Ausnahmefall in jeder Form.“495 Es ist von grundlegender Wichtigkeit, im Auge zu behalten, dass das liberale und positivistische Bestreben, die Kontingenz, genauer die Ausnahme aus der Welt zu schaffen, der Eliminierung des fundamentalen politischen Kerns entspricht, der vom Souveränitätsbegriff umfasst wird. Deshalb bezeichnet der Jurist diesen als Grenzbegriff. Der Ausnahmefall oder die extreme Kontingenz ist die Extremsituation, in der sich der höchste Punkt des Politischen, die Souveränität, offenbart: können, seien diese nun moralischer, juristischer oder wirtschaftlicher Natur. Das Politische transzendiert jede Normierung, deren Generalisierung den existentiellen Charakter des Konfliktes verhüllt. 494 Schmitt 2004b, S. 21. Bei dem von Schmitt in diesem Zitat erwähnten „protestantischen Theologen“ handelt es sich um Kierkegaard. 495 Schmitt 2004b, S. 43.
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Denn Grenzbegriff bedeutet nicht einen konfusen Begriff, wie in der unsauberen Terminologie populärer Literatur, sondern einen Begriff der äußersten Sphäre. Dem entspricht es, dass seine Definition nicht anknüpfen kann an den Normalfall, sondern an einen Grenzfall.496
Der Grenzfall des Krieges zum Beispiel offenbart das jus belli, oder das Recht, über das Leben der Mitglieder des politischen Verbandes zu verfügen.497 In der Normalität, im geregelten Funktionieren der juristischen Ordnung, ist die Souveränität unsichtbar, aber im Grenzfall zeigt sie die eigentliche Struktur der Wirklichkeit und die Essenz des Rechts, das aus ihrer Entscheidung hervorgeht. Doch mit der Aufklärung tritt ein deistisches Weltbild auf, dessen strukturelle Identität im Staat des liberalen Rechts, das keinerlei Ausnahme oder Übertretung der der Natur inhärenten Gesetz erlaubt, erkannt werden kann: Denn die Idee des modernen Rechtsstaates setzt sich mit dem Deismus durch, mit einer Theologie und Metaphysik, die das Wunder aus der Welt verweist und die im Begriff des Wunders enthaltene, durch einen unmittelbaren Eingriff eine Ausnahme statuierende Durchbrechung der Naturgesetze ebenso ablehnt wie den unmittelbaren Eingriff des Souveräns in die geltende Rechtsordnung.498
Die deistische Theologie oder Metaphysik, „die das Wunder aus der Welt verweist“ und den Bruch der natürlichen Gesetze nicht anerkennt, findet ihre Analogie oder Entsprechung im Rechtsstaat, der die Souveränität verleugnet, die über die Ausnahme entscheidet, um in die Wirklichkeit zu intervenieren. Die transzendente Souveränität durchbricht die der Normalität der Gesetze des Rechtsstaates inhärente Regelmäßigkeit auf dieselbe Weise, in der das Wunder in die natürlich Ordnung der Dinge einbricht. Ausnahme, Entscheidung und Intervention weisen eine strukturelle Affinität zur Vorstellung eines transzendenten Gottes, der sich über die Welt stellt, auf, in derselben Weise, in der die Person des Souveräns sich über den Staat stellt.499 Die Ersetzung der Darstellung der Transzendenz durch Vorstellungen der Immanenz hat in der Sphäre der Rechts- und der Staatstheorie den metaphysischen Kern, der dem Gesetz oder dem Willen des Gesetzgebers500 im von der positivistischen Kultur und dem juristischen Positivismus dominierten 19. Jahrhundert einen heiligen Charakter verlieh, nicht verlassen. Schmitt zufolge ist es diese Dynamik der Kämpfe und der Ideale, die zur Ersetzung eines theistischen Gottes durch einen deistischen Gott führten.501 Anders 496 497 498 499 500
Schmitt 2004b, S. 13. Schmitt 2002b, S. 46. Schmitt 2004b, S. 43. Schmitt 2004b, S. 53. Wie ich im ersten Kapitel aufgezeigt habe, hat Schmitt den dem Gesetz zugewiesenen Charakter des Heiligen bereits in seiner Jugendschrift Gesetz und Urteil untersucht. 501 Die Begriffe des theistischen und des deistischen Gottes werden von Schmitt als die Darstellung zweier verschiedener, einander entgegengesetzter Bilder begriffen. Während der erste Begriff für einen persönlichen Gott steht, der die Welt erschafft und regiert, steht der zweite für einen unpersönlichen Gott, der, obwohl er die Welt erschaffen hat, in sie nicht interveniert. Diese Gottesdarstellungen entsprechen den Bildern der Transzendenz bzw. der Immanenz. In demselben Maß, in dem die Darstellung der Transzendenz ihre analoge Struktur in
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ausgedrückt: Die Ersetzung der Darstellungen der Transzendenz durch Darstellungen der Immanenz bewirkt die Unsichtbarkeit oder Unverständlichkeit der politischen Macht, deren „Desontologisierung“502 sie auf die normative Unpersönlichkeit eines Sollens reduziert. So nimmt die einst von einem persönlichen Souverän verkörperte politische Macht die abstrakte Form des Gesetzes an. Doch hinter der Fassade des Gesetzes sind es weiterhin konkrete Menschen, die über konkreten Menschen herrschen. Die Darstellungen der Immanenz weisen einen Parallelismus zu der Form der politischen Ordnung auf, die bestrebt ist, das Persönliche durch das Unpersönliche, das Subjektive durch das Objektive, die Ausnahme durch die Normalität zu ersetzen, und negieren so das Politische. Die komplexe Wirklichkeit der Welt wird unter der Einförmigkeit und Regelmäßigkeit einer der Welt inhärenten Ordnung subsumiert. In seiner Darstellung des romantischen Geistes, deren Träger das liberale Bürgertum ist, bietet Schmitt ein interessantes Bild dafür an, was mit den Darstellungen der Immanenz der Welt des liberalen Normativismus und des Positivismus, die, indem sie die Entscheidung verleugnen, die Gelegenheiten, d.h. die Kontingenz erhöhen, geschehen könnte: Aus immer neuen Gelegenheiten entsteht eine immer neue, aber immer nur occasionelle Welt, eine Welt ohne Substanz und ohne funktionelle Bindung, ohne feste Führung, ohne Konklusion und ohne Definition, ohne Entscheidung, ohne letztes Gericht, unendlich weitergehend, geführt nur von der magischen Hand des Zufalls, the magic hand of chance.503
Schmitt ist der Ansicht, dass der Versuch, das Politische mit seinem transzendenten, persönlichen und souveränen Charakter zu leugnen oder zu verhüllen, die Menschen der magischen Hand der Kontingenz ausliefern könne. In der Verdunkelung des Politischen enthüllt die Säkularisierung ihre Bedeutung der Immanenz und macht so die Kontingenz sichtbar. Diese Bedeutung wird auch von Luhmann erkannt: „Mit Säkularisierung wird schließlich die Invisibilisierung der Hand Gottes und das ‚le monde va de lui-même‘ registriert“.504 Das Bemühen der liberalen Demokratie, das Politische zu verdrängen, verhindert weder die Ausübung der politischen Macht noch die Hervorbringung ihrer Folgen. Doch in Schmitts Augen der sozialen und politischen Ordnung findet, deren Souverän eine persönliche Autorität ist, die in die konkrete Wirklichkeit zu intervenieren vermag, weist die Vorstellung der Immanenz einen machtlosen Souverän auf, der wie ein König, der zwar herrscht, aber nicht regiert, nicht in der Lage ist, zu regieren (Schmitt 2004b, S. 51–55). 502 Ich verwende Desontologisierung hier im Sinne einer Privatisierung oder einer Entleerung der Eigenschaften der Wirklichkeit des Seins durch einen intensiven Prozess der Subjektivierung oder Auslieferung des individuellen Subjekts an das Innere seines Denkens. Die Desontologisierung eines souveränen, persönlichen und überpersönlichen, mit Autorität ausgestatteten Subjekts sei Schmitt zufolge im 17. Jahrhundert mit der „kartesianischen Wende“ erfolgt. Dieser Prozess bewirkt eine Flucht aus dem Sein ins Sollen und „je mehr es rein normativistisch wird, [führt es] zu einer immer schärferen Trennung von Norm und Wirklichkeit, Sollen und Sein, Regel und konkretem Sachverhalt“ (Schmitt 1993, S. 15). 503 Schmitt 1998c, S. 19f. 504 Luhmann 2002, S. 285.
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verbannt der Versuch, ihren transzendenten und persönlichen Charakter zu verschleiern, sie auf die Ebene des Geheimen und macht sie so unsichtbar, d.h. er entfremdet sie. Das Problem der Negierung des Politischen besteht darin, dass die Macht hinter den Kulissen weiterhin ausgeübt wird, konzentriert in den Händen weniger Männer, die „mit überlegener Bosheit unsichtbar die Geschichte der Menschen lenken […] mit dem säkularisierten Glauben an eine Providenz“.505 Der Glaube an das den irdischen Faktoren (wie der Geschichte) immanente Heil, führt Schmitt zu der Aussage: „Wir sind hilflos in der Hand einer Macht, die mit uns spielt.“506 Die Verhüllung oder die Unsichtbarkeit des Politischen kann in das Bild des Sieges des Schicksals über die politische Handlung, des Triumpfes der Unvorhersehbarkeit über das Vorhersehbare übersetzt werden. Die Desontologisierung oder Privatisierung der Eigenschaften der Wirklichkeit hat Schmitt zufolge mit der kartesianischen Wende eingesetzt, doch erst mit der „Säkularisierung Gottes zum genialen Subjekt“507 den Höhepunkt erreicht. Indem das geniale, romantische Subjekt508 Gottes Stelle einnahm, machte er die Welt zu einer Gelegenheit, zu einer Möglichkeit für Experimente, und löste durch die Subjektivierung jede äußere Referenz einer Wirklichkeit, die fähig gewesen wäre, ihn zu führen, auf. In einer der für Schmitts Säkularisierungsbegriff wichtigsten Passagen schreibt er: „Metaphysik [ist] der intensivste und klarste Ausdruck einer Epoche.“509 Es sei hier noch darauf hingewiesen, dass die heuristische Bedeutung des Säkularisierungsbegriffs die verschiedenen metaphysischen Stützen, die die Wirklichkeiten verschiedener Epochen gestalten, enthüllt. Schmitt behandelt das Thema der Säkularisierung auch in seinem Vortrag Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen, den er 1929 in Barcelona hielt und der 1932 in der zweiten Auflage seines Buches Der Begriff des Politischen veröffentlicht wurde. In diesem Vortrag versucht er eine Interpretation der europäischen Geschichte vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. In dieser Zeit, so sagt er, habe sich der „europäische Geist“ in „vier großen, einfachen und säkularen Schritten“ von einem „zentralen Bereich“ zu einem anderen verschoben. Jedes Jahrhundert entspreche einem geistigen Zentrum. Vom theologischen Zentrum des 16. Jahrhunderts habe sich der Geist zum metaphysischen Zentrum im 17. Jahrhundert, im 18. Jahrhundert dann zum humanitär-moralischen Zentrum und im 19. Jahrhundert schließlich zum wirtschaftlichen Zentrum verschoben.510 Im Vorwort aus dem Jahre 1934 zur Politischen Theologie von 1922 macht Schmitt deutlich, dass jede Verschiebung des europäischen Geistes nur im Licht des Prozesses der Säkularisierung begriffen werden kann: „Das große Problem der einzelnen Stufen des Säkularisierungsprozesses – vom Theologischen über das Metaphysische zum Moralisch-Humanen und zum Ökonomischen – habe ich in mei505 506 507 508 509 510
Schmitt 1998c, S. 88. Schmitt 1998c, S. 88. Schmitt 1998c, S. 165. Diesbezüglich siehe Ferreira 2004, S. 79f. Schmitt 2004b, S. 51. Schmitt 2002b, S. 80.
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ner Rede über ‚Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen‘ […] behandelt“.511 Man muss im Blick behalten, dass dieser Säkularisierungsprozess nichts mit einer Geschichtsphilosophie zu tun hat. Der Jurist lässt keinen Zweifel daran, dass er nicht jede Verschiebung des von seiner Einzigartigkeit geprägten geistigen Zentrums zu einem allgemeinen Gesetz der Geschichte der menschlichen Entwicklung erhebt. Es geht nicht um den linearen Verlauf eines Fortschritts, auch nicht um einen Rhythmus der globalen Kulturgeschichte, ebenso wenig um das historische Verzeichnis der Dekadenz des europäischen Geistes. Der Autor gibt unumwunden zu, dass er nicht von Chinesen, Ägyptern oder Indern sprechen könne, sondern nur über die säkularen Schritte des europäischen Geistes von einem zentralen Bereich zum andern.512 Die Herausbildung der europäischen Kultur der letzten Jahrhunderte könne auf jeden der Inhalte der zentralen Bereiche zurückgeführt werden: „Alles, was den Inhalt unserer Kulturentwicklung ausmacht, [steht] unter der Nachwirkung solcher Schritte.“513 Die Verschiebungen dieser Zentralgebiete beziehen sich auf die konkrete Tatsache, dass die führenden Eliten Europas sich in den vergangenen Jahren verändert haben, so wie es auch ständig ihren Argumenten und Überzeugungen, ihren geistigen Interessen und Handlungsprinzipien ergangen war, die die Massen mobilisiert hatten. Obwohl Schmitt jede Vorstellung von Immanenz ablehnt, wie dies zum Beispiel auf die Darstellung der Geschichte als humanitären Fortschritt zutrifft, erachtet er die Neutralisierung der Konflikte des 19. und 20. Jahrhunderts durch den modernen europäischen Staat als beachtenswerten Fortschritt. Diese Zeit wird heroisch genannt: Klar und besonders deutlich als einmalige geschichtliche Wendung ist der Übergang von der Theologie des 16. zur Metaphysik des 17. Jahrhunderts, zu jener nicht nur metaphysisch, sondern auch wissenschaftlich größten Zeit Europas, dem eigentlichen Heroenzeitalter des okzidentalen Rationalismus.514
Diese Passage ist relevant, da Schmitt hier meines Erachtens auf jene Bedeutung der Säkularisierung zurückkommt, die der Neutralisierung der politischen Macht der Kirche oder jener Theologen entspricht, die um die säkulare Herrschaft kämpften. Die Entpolitisierung der theologischen Macht und die Suche nach einem neutralen Zentralgebiet im Übergang von der theologischen zur metaphysischen Epoche im 17. Jahrhundert stellen den wichtigsten Schritt im Säkularisierungsprozess dar. Hier findet die Genese der westlichen Neuzeit und im Speziellen des modernen europäischen Staates statt. Inmitten all der Kontroversen zwischen Juristen und Theologen war die Formulierung und Anwendung von säkularisierenden Prinzipien, wie z.B. cuius regio, eius religio, Jesus is the Christ, oder auctoritas, non veritas facit legem, unverzichtbar für die Neutralisierung der 511 512 513 514
Schmitt 2002b, S. 81. Schmitt 2002b, S. 81. Schmitt 2002b, S. 81. Schmitt 2002b, S. 82.
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religiösen Kriege. Ganz unmissverständlich verwendet Schmitt in einigen seiner Arbeiten, wie z.B. in Der Begriff des Politischen, diese Bedeutung des Säkularisierungsprozess, um die politische Sphäre sichtbar zu machen. Seine Absicht ist es, jene Bedeutung von Säkularisierung zu rehabilitieren, durch die Autoren wie Jean Bodin und Thomas Hobbes einer politischen Domäne Verständlichkeit verliehen haben. Der Säkularisierungsprozess erlebt seine glorreiche Zeit im 17. Jahrhundert, doch gleich darauf erleidet er eine immer intensivere Verschiebung hin zu Immanenzvorstellungen der Wirklichkeit. Die Ersetzung von religiösen Bildern durch weltliche, säkulare Bilder oder irdische Faktoren mündet in einer zunehmenden Technifizierung. Die Technik ist jedoch nicht entseelt, denn sie besitzt noch immer eine metaphysische oder geistige Stütze, die auf dem Glauben, den jede Epoche in Bezug auf die Welt hat, beruht. Durch die sukzessive Darstellung von Weltbildern löst sich der letzte Legitimitätspunkt oder das Zentrum, das einen metaphysischen Kern enthält, der fähig ist, die Wirklichkeit zu strukturieren oder die Konflikte zu ordnen, nicht auf. Das 20. Jahrhundert wird, streng genommen, als Zeit der Technik charakterisiert, die durch die Verschiebung des 19. Jahrhunderts, das auch die technisch-wirtschaftliche Zeit genannt wird, ihren Anfang nahm. Der in der genannten Arbeit vorgestellte Säkularisierungsprozess weist zwei Eigenheiten auf. Die erste wird durch die wiederholten Gegensätze zwischen „Freund-Feindgruppierungen“ definiert, so dass es zu einem regelmäßigen Wechsel zwischen Antagonismen und Neutralisierungen kommt.515 Ein neutrales Zentralgebiet, das aufgrund von Antagonismen Konflikte erzeugt, wird verlassen, bis ein Gebiet gefunden wird, das diese Konflikte neutralisieren kann: „Immer wandert die europäische Menschheit aus einem Kampfgebiet in neutrales Gebiet, immer wird das neu gewonnene neutrale Gebiet sofort wieder Kampfgebiet und wird es notwendig, neue neutrale Sphären zu suchen.“516 Die Freund-Feindgegensätze wie auch der Staat beziehen ihr Fundament aus einem geistigen Zentrum: „Vor allem nimmt auch der Staat seine Wirklichkeit und Kraft aus dem jeweiligen Zentralgebiet, weil die maßgebenden Streitthemen der Freund-Feindgruppierungen sich ebenfalls nach dem maßgebenden Sachgebiet bestimmen.“517 Es ist unverzichtbar zu verstehen, dass die wesentlichen Vorstellungen und die Bedeutungen der geistigen Sphäre der Menschen „existenziell und nicht normativ“ sind.518 Deshalb verändern sich Begriffe und Vorstellungen fortwährend, und man muss sich an ihre Bedeutungen erinner, damit man eine Ahnung von den existentiellen Umständen bekommt, die sie hervorgebracht haben. Der zweite Aspekt betrifft die Abnutzung der Transzendenzvorstellungen, die angesichts der Interessenkonflikte und Kämpfe gegenüber den Immanenzvorstellungen an Boden verlieren. Dieser Prozess verhindert die Vergöttlichung der Technik jedoch nicht. Schmitt denunziert die fortschreitende Ausbreitung des 515 516 517 518
Schmitt 2002b, S. 86 und 89. Schmitt 2002b, S. 89. Schmitt 2002b, S. 86. Schmitt 2002b, S. 84.
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Glaubens an die Technik schon in seinen ersten Schriften und meint, dass es unverzichtbar sei, immer zu überprüfen, wer sich ihrer Mittel bediene. Der blinde Glaube an ihre Neutralität und an ihr Funktionieren führe zu der Illusion, dass der Mensch die technischen Mittel einsetze, während es jedoch die Technik selbst sei, die den Menschen beherrsche. Die Ersetzung von Transzendenzvorstellungen durch Immanenzvorstellungen bedeute keineswegs die Abnutzung einer metaphysischen Grundlage. Von allen Phasen – der theologischen, der metaphysischen, der humanitär-moralischen und der technischen – erachtet er die technische als die gefährlichste, da diese zur Herrschaft der Mittel über die Zwecke führe. Die technische Ära sei, so Schmitt, aufgrund ihrer reinen Immanenz nicht in der Lage, dem menschlichen Verhalten eine Richtung vorzugeben und offenbart sich deshalb als Quelle des Nihilismus. Wie wir im zweiten Kapitel gesehen haben, bedeutet dies, dass es ohne eine transzendente Vermittlung keine Gestaltung der Wirklichkeit gibt. Das humanitär-moralische Zentralgebiet hat die fortschreitende Technifizierung und die Entpolitisierung durch den Glauben an die moralische Vervollkommnung des Menschen verstärkt. Aus der Sicht des blinden Glaubens an die technischen Mittel ist kaum zu erkennen, dass der technische Fortschritt nicht eine moralische Vervollkommnung nach sich zieht. In seinem Vortrag Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen, den er 1955 an der Universität von Murcia hielt, weist Schmitt in seinen Ausführungen zum Kalten Krieg auf die Immanenzvorstellung hin, die der durch den Sieger aufgezwungenen Einheit entspricht: Das wäre die Einheit, die zwar den großen Massen als eine Art irdischen Paradieses einleuchtet, vor der aber heute selbst schon manchem angelsächsischem Intellektuellen schaudert, weil er die eben erwähnte Aufsplitterung des Fortschrittbegriffes und die Diskrepanz von technischem und moralischem Fortschritt erkennt oder wenigstens wittert. Jeder sieht, dass der große moralische Fortschritt andere Wege geht als der technische Fortschritt, sowohl bei den Machthabern, die planen und sich dabei der modernen Wissenschaft bedienen, wie bei den Eliten und den Massen, die auf das große Erntefest der Planung hoffen.519
Schmitts kontroverse Aussage über die theologische Wurzel aller juristischen und politischen Begriffe findet ihre Erklärung im Säkularisierungsprozess, den er in diesem Vortrag diskutiert und der auf der metaphysischen Vorstellung beruht, die eine bestimmte Zeit sich von der Welt macht. Dies kann an den Überzeugungen einer Epoche beobachtet werden, die von den Interessen und Prinzipien der Führungseliten beeinflusst werden, die sich als ein geistiges Zentrum legitimieren und den anderen politischen Begriffen und Vorstellungen Orientierung geben. Somit gibt es ein geistiges Zentrum, das sich durch das metaphysische Bild, das der Beziehung zwischen Eliten und Massen entspricht, legitimiert. Entweder lassen sich die Massen von den Ideen, Vorschlägen und Interessen der regierenden Eliten verführen, oder aber es findet eine Polarisierung der Beziehungen statt, deren politische Intensivierung zu neuen Freund-Feindgruppierungen und zur Suche nach einem neuen geistigen Zentrum führt. Das metaphysische Fundament dieser Über519 Schmitt 1995h, S. 504.
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zeugungen kann sich abnutzen, doch diese projizieren sofort ein neues Bild, welches sich als neues geistiges Zentrum, das die Wirklichkeit neu ordnet, verfestigt. Wenn das geistige Zentrum oder Gebiet zum Gegenstand politischer Kämpfe wird, verschiebt es sich. Der theologische Ursprung aller säkularisierten Begriffe der Theorie des modernen Staates erklärt sich auch dadurch, dass es immer ein metaphysisches Fundament gibt, einen derart starken Glauben, dass er ein Weltbild verfestigen kann: Wie gesagt: alle Begriffe und Vorstellungen der geistigen Sphäre: Gott, Freiheit, Fortschritt, die anthropologischen Vorstellungen von der menschlichen Natur, was Öffentlichkeit ist, rational und Rationalisierung, schließlich sowohl der Begriff der Natur wie der Begriff der Kultur selbst, alles erhält seinen konkreten geschichtlichen Inhalt von der Lage des Zentralgebietes und ist nur von dort aus zu begreifen.520
Schmitts Interpretation beschreibt die europäische Geschichte als einen Säkularisierungsprozess, der – mit Ausnahme der heroischen Periode des Übergangs vom 16. zum 17. Jahrhundert – als Abfolge von immer intensiveren Immanenzvorstellungen dargestellt wird, deren Sinn einen Verlauf zum „technischen Tod des Menschen“ evoziert. Schmitt weigert sich, eine Geschichtsphilosophie zu verwenden, die in Richtung eines Aufstiegs und Abstiegs verläuft. Trotz der Radikalisierung in seiner Verwendung nihilistischer Bilder, glaube ich nicht, dass der Jurist einer auf den Kopf gestellten Philosophie anhing. Es trifft zwar zu, dass eine kontinuierliche Abfolge gefährlicher Immanenzvorstellungen erfolgte, aber es ist möglich, diese zu bekämpfen, sie zu entlarven und ihnen Widerstand zu leisten. Die Immanenzvorstellungen führen nicht notwendigerweise zum Fall der Menschheit. Meines Erachtens besteht die Möglichkeit, dass eine souveräne Entscheidung diesen in die Dekadenz führenden Prozess unterbrechen und eine stabile politische und juristische Ordnung wiederherstellen oder schaffen kann. Wenn Schmitt an die Unvermeidbarkeit einer beschleunigten Dekadenz der modernen Geschichte geglaubt hätte, hätte er kaum das paulinische Bild des katechon521 verwendet, dessen Bedeutung eine Entschleunigung des historischen Rhythmus bedingt. Um die Dominanz jener durch das Bild einer progressiven und linearen Geschichte hervorgebrachten Kraft, die die Gegenwart im Namen der Verwirklichung einer vorgegebenen Zukunft auffrisst, zu vermeiden, setzt Schmitt ihr die Figur des katechon entgegen. Der Jurist sieht in ihr einen „entscheidenden geschichtsmächtigen Begriff“, der aus dem „Glauben, dass ein Aufhalter das Ende der Welt zurückhält“, hervorgeht.522 Die Rolle, die von dieser Geschichtsfigur ausgeübt wird, besteht darin, den durch die aufklärerische Geschichtsphilosophie in Gang gesetzten Niedergang der Gegenwart aufzuhalten und durch einen Souverän – den „Aufhalter“ – den Erhalt einer offenen Zukunft zu sichern. Es ist jedoch entscheidend hervorzuheben, dass der katechon in den Augen des Juristen seine Analogie 520 Schmitt 2002b, S. 86. 521 Das Bild des katechon ist dem Zweiten Brief an die Thessaloniker (2:6) entnommen. Siehe auch Schmitt, Der Nomos der Erde (1997, S. 28–36) 522 Schmitt 1997, S. 29.
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in der Kraft einer souveränen Entscheidung findet, die in der Lage ist, die eschatologischen Kräfte der Geschichte zu entschleunigen und die ihr immanente Legalität aufzuheben. So wird es möglich, sich den Umständen der Gegenwart zu widmen, ohne sich von einem aufgeblähten Erwartungshorizont erdrücken zu lassen. Gegen die aufklärerischen und positivistischen Vorstellungen führt Schmitt jene Bedeutung des Säkularisierungsbegriffes ins Feld, die in jener historischen Zeit entwickelt wurde, in der der moderne europäische Staat das Monopol der politischen Entscheidung errungen hatte. Diese Bedeutung kann reaktiviert werden, denn der säkularisierende Kampf ist noch nicht zu Ende. Diese Bedeutung, die in der Lage ist, die Theologen zum Schweigen zu bringen, die religiösen Konflikte zu neutralisieren und das Politische sichtbar zu machen, muss rehabilitiert werden. Meines Erachtens bedeutet diese Rehabilitierung keinen Anachronismus im von Hans Blumenberg bereits erwähnten Sinn, sondern ein Bestreben, den Erwartungshorizont auch für andere Möglichkeiten einer politischen, stabilen Gestaltung offenzuhalten. Schmitts Feinde – in einem gewissen Sinn noch immer Theologen – sind nicht die Päpste oder Bischöfe von gestern, sondern die Positivisten und Liberalen seiner Zeit, die das Politische mit ihrer deistischen Metaphysik verdecken. Für diese gehört die Religion nicht mehr jenen, die sie haben, sondern jenen, die über das wirtschaftliche Monopol verfügen.523 Dem Juristen zufolge wurde die säkularisierende Bedeutung des metaphysischen 17. Jahrhunderts durch die Durchsetzung einer Geschichtsphilosophie, die den Fortschrittsgedanken einem der Welt inhärenten Prozess einschreibt, eliminiert. Die aufklärerische Säkularisierung verwandelte das heilige Geschichtsbild in eine auf die Zukunft und das menschliche Verhalten zugunsten eines grenzenlosen Fortschritts gerichtete Weltsicht. Das Problem besteht darin, dass im Namen eines auf die Zukunft gerichteten telos die ganze Einzigartigkeit der gegenwärtigen politischen Situation in die Vergangenheit verbannt wird. Das Versprechen des Fortschritts in dieser Welt erzeugt die Illusion einer Selbsterschaffung des Menschen außerhalb der Sphäre seiner konkreten politischen Erfahrung. Die Bedeutung der Säkularisierung im 17. Jahrhundert, die die unsichtbaren (geistigen) Mächte den sichtbaren (zeitlichen) Mächten unterwarf, wurde durch die aufklärerische Säkularisierung vernichtet. Der politische Kampf beeinflusst einen Prozess der Ersetzung von Transzendenzvorstellungen durch Immanenzvorstellungen – und wird durch diesen beeinflusst: die Ersetzung des souveränen Staates durch das Individuum, durch die Geschichte. Aus Schmitts Perspektive führte die aufklärerische Vorstellung der Säkularisierung die sichtbare Macht in die unsichtbare Macht zurück, deren Kraft darin besteht, dass sie in verdeckten Handlungen beruht, die das Politische verdrängen, indem sie es durch die technisch-wirtschaftliche Herrschaft ersetzen. Der Übergang von der theologischen Zeit des 17. Jahrhunderts in die der humanitär-moralischen Vervollkommnung verschob die Heilsachse in diese Welt und untergrub die Transzendenzvorstellungen. Ohne ein Minimum an Vorstellungen, die sich durch die 523 Schmitt 2002b, S. 87.
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staatliche Gewalt über den Relativismus der Wirklichkeit erheben, gibt es keine politische Kontrolle über die Kontingenz oder das Schicksal. Das Bild einer der Transzendenz gegenüber verschlossenen Welt besteht aus einer Welt ohne Kontingenz, ohne Einmaligkeit historischer Tatsachen, ohne Fehlbarkeit der Herrschaft des Menschen über Menschen. Eine Welt ohne Kontingenz besitzt keinen existenziellen Sinn, da alles auf autonome Prozesse reduziert werden kann. In ihrem Monismus eliminieren die immanentistischen Überzeugungen die dualistische Auffassung, die von einer Spannung zwischen Idee und Wirklichkeit ausgeht, in der die Idee nicht auf Fakten und die Philosophie nicht auf Geschichte reduziert werden kann. Die metaphysische Stütze der moralisch-humanitären Vervollkommnung verwandelte die Geschichte, indem sie das Paradies auf Erden versprach, in eine Utopie. Schmitt stellt der in der Aufklärung begonnenen und vom Positivismus fortgeführten Säkularisierung die säkularisierende Bedeutung der Zeit der heroischen Figuren wie Jean Bodin und Thomas Hobbes entgegen. Der Glaube, der aus einem grenzenlosen wissenschaftlichen Fortschritt entsteht, verdunkelt die Herrschaft des Politischen, indem er sie der „Religion der Technizität“ unterwirft.524 Schmitt will das Politische begreifbar machen. Für ihn bedeutet die Möglichkeit, die Bedeutung der Sichtbarkeit der säkularen Herrschaft wiederherzustellen, dass die Frage der Säkularisierung noch nicht entschieden ist, und auch noch nicht entschieden sein kann, da es sich um einen unvollendeten Prozess handelt. 3.3. Die unvollendete Säkularisierung Der kurze Überblick über einige Deutungen von Schmitts politischer Theologie führt uns zur Ausgangsfrage zurück: Welches sind die säkularisierten theologischen Begriffe der modernen Staatsdoktrin? Der Säkularisierungsbegriff weist in seiner dualistischen Struktur einen Gegensatz zwischen geistigen und zeitlichen Mächten, zwischen sichtbaren und unsichtbaren Mächten auf. Reinhart Koselleck zufolge tauchte der Begriff zum ersten Mal im Französischen auf, wo er vor allem die Bedeutung einer „Überführung eines Ordensgeistlichen in den weltlichen Status“ hatte.525 Der Übergang des Ordensgeistlichen zum secularis habe seine Bedeutung bis heute bewahrt. Es wird gesagt, dass „dieses Gegensatzpaar ‚saecularis‘ – ‚regularis‘ […] grundlegend für das Verständnis des kanonischen Rechts bis heute“ sei.526 Schmitt kannte diese Bedeutung sehr wohl, die nicht nur die Elastizität und Vielseitigkeit der hierarchischen Struktur der Kirche aufzeigt, sondern in sich die Vorstellung eines Übergangs vom kontemplativen ins aktive Leben enthält. Dieser Übergang, der nicht nur die juristische Geschmeidigkeit und Rationalität der Organisation der kirchlichen Macht verrät, zeigt auch das Interesse der geistlichen Macht an einer politischen Intervention in säkularen Bereichen. Mit der Überführung des ordentlichen Priesters in einen weltlichen Priester weitet 524 Schmitt 2002b, S. 93. 525 Koselleck 2003, S. 180. 526 Strätz 1994, S. 796.
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das juristische Institut seinen semantischen Gehalt während den Friedensverhandlungen von Westfalen und Osnabrück, die den Religionskriegen ein Ende setzten, aus. In diesem Kontext nahm das erwähnte Institut mit der Übertragung der kirchlichen Güter auf den Staat eine neue Bedeutung an. Die Kirche, die durch ihre indirekte und unsichtbare Macht im Zentrum der politischen Ereignisse Einfluss ausübte, wird aus dem Bereich der weltlichen Herrschaft, über den der Staat seinen Monopolanspruch geltend gemacht hatte, entfernt. Koselleck zufolge bezog „in beiden Fällen, im kanonischen wie im politisch-rechtlichen Sinne, […] der Begriff der Säkularisation seinen konkreten Sinn aus der Opposition geistlich /weltlich“.527 Der Hinweis auf die allmähliche semantische Ausweitung des Säkularisierungsbegriffs will keine Inventarisierung der verschiedenen, durch diese Kategorie akkumulierten Bedeutungen vornehmen, sondern lediglich aufzeigen, dass Schmitt seinen Begriff des Politischen ausgehend von der konkreten Opposition zwischen den geistlichen Mächten der Kirche und der weltlichen Macht des Staates entwickelt. Von der konkreten Wirklichkeit der theologisch-politischen Konflikte, aus denen der moderne Staat hervorgeht, leitet Schmitt die grundlegende Lektion ab, der zufolge die geistigen Mächte, seien sie nun die der Theologie, des Liberalismus, des Positivismus, der Romantik oder des humanitär-moralischen Pazifismus, als politische Gewalten der konkreten Wirklichkeit angesehen werden müssen. Die Erschütterung der Einheit der römisch-katholischen Kirche steigerte die Intensität der konkreten Konflikte, die von den Kämpfen zwischen den direkten und indirekten, den sichtbaren und unsichtbaren Mächten um die Ausübung der politischen Gewalt geprägt waren, bis ins Äußerste. Der Verlust der kirchlichen Autorität, des Deutungsmonopols der Heiligen Schriften und der Ausbruch der Konfessionskriege im 16. und 17. Jahrhundert offenbarten, wie Ideen, Begriffe und Unterscheidungen Werkzeuge der indirekten, geistigen Macht sind.528 3.4. Die Säkularisierung des Politischen Um Schmitts Einsatz zugunsten der Säkularisierung des Begriffs des Politischen begreifen zu können, muss man verstehen, wie der Jurist einige Gedanken von Thomas Hobbes interpretiert und wiederaufnimmt. Niemand habe besser als Hobbes begriffen, „dass Begriffe und Distinktionen politische Waffen, und zwar spezifisch Waffen ‚indirekter‘ Gewalten sind“.529 Der politische Charakter der „indirekten“ Gewalt wird in den konkreten Oppositionen der Wirklichkeit in einer Grenzsituation wie z.B. im Fall eines religiösen Bürgerkrieges offensichtlich. Der englische Philosoph machte deutlich, dass jede Kontroverse zwischen dem Geistlichen und dem Zeitlichen sich in dem Maße in einen politischen Kampf verwandelt, in dem sie zu einer existenziellen Frage wird, die nur durch die Antwort entschieden werden kann, wem das Entscheidungsmonopol zusteht. Die Beobach527 Koselleck 2003, S. 181f. 528 Hobbes 1990, S. 11, 40 und 144. 529 Schmitt 2003a, S. 26.
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tung dieser existenziellen Frage, die in einer Extremsituation des Kampfes um den Erhalt des Lebens gestellt wurde, erlaubt es, eine eminent politische Bedeutung anderer Inhalte, die diese ausgelöst haben, davon zu unterscheiden. Schmitt meint bei Hobbes die Erkenntnis zu finden, dass der Kampf zwischen den Menschen seine Basis aus den verschiedensten Inhaltsbereichen zu beziehen vermag. Wenn der Kampf aber einen höheren Grad erreicht, wird er existenziell und genau da, in seinem extremsten Ausmaß, erzeugt er eine spezifisch politische Spannung. Schmitts Interpretation von einigen Hobbesschen Gedanken ist von grundlegender Wichtigkeit für das Verständnis des Säkularisierungsbegriffs des Politischen, der dem Juristen zufolge nicht nur von Hobbes angestoßen worden sei, sondern auch fortgeführt werden müsse. Die erwähnte Deutung offenbart, dass der extreme Grad, den das Politische im Szenarium der religiösen Bürgerkriege erreicht, seine Intensität aus den geistlichen Mächten, genauer aus den theologisch-moralischen Argumenten bezieht. Schmitt stimmt Hobbes darin zu, dass das Politische, verstanden als existenzielle Dimension des Konflikts, von den theologischen Fundamenten befreit werden muss, die es ins Übermäßige steigern und so die Unterscheidung zwischen Freund und Feind unmöglich machen. Der theologisch-moralische Schleier verdeckt den existenziellen, poltischen Sinn. Nur die säkularisierende Enthüllung führt zur Anerkennung des Konflikts zwischen menschlichen Gruppierungen. Diese Konflikte gehören der existenziellen Sphäre und nicht dem theologischen, göttlichen oder moralischen Bereich an, der den Feind stigmatisiert und kriminalisiert. Hier muss auf eine Schwierigkeit hingewiesen werden, die in Bezug auf das Verständnis von Schmitts Säkularisierungsbegriffs auftauchen kann. Obwohl der Autor eine methodische oder formale Beziehung zwischen Theologie und Politik anerkennt, widersetzt er sich doch vehement einem moralischen oder theologisch-moralischen Fundament politischer Begriffe. Das theologisch-moralische Fundament verdeckt das Politische mit seinen normativen und verallgemeinernden Tendenzen, wenn es von seinem existenziellen und kontingenten Charakter abstrahiert. Dies vermindert den Intensitätsgrad des Politischen nicht, sondern verstärkt ihn, da auf diese Weise die höchste Ebene der Kontingenz erreicht wird, die sich dann in Konflikten zwischen menschlichen Gruppierungen äußert. Die Kontingenz verstärkt sich maßlos, wenn die Konflikte überdeckt werden. Diesbezüglich meint Schmitt: Der methodische Zusammenhang theologischer und politischer Denkvoraussetzungen ist also klar. Aber die theologische Unterstützung verwirrt öfters die politischen Begriffe, weil sie die Unterscheidung gewöhnlich ins Moraltheologische verschiebt oder wenigstens damit vermengt und dann meistens ein normativistischer Fiktionalismus oder gar ein pädagogischpraktischer Opportunismus die Erkenntnis existenzieller Gegensätzlichkeiten trübt.530
Dieses Zitat zeigt, wie Schmitt einerseits eine formale oder methodische Beziehung zwischen theologischen und politischen Prämissen anerkennt, andererseits aber der Überzeugung ist, dass das Politische und seine Begriffe säkularisiert oder vom normativen Fiktionalismus der Moraltheologie, die den existenziellen Cha530 Schmitt 2002b, S. 64.
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rakter der Antagonismen verdunkelt, unterschieden werden müssen. Man muss beachten, dass der von Schmitt verwendete Säkularisierungsbegriff die Moral vom Politischen trennen will, weil die Moral eine universelle Eigenschaft aus der Bedeutung existenzieller Konflikte extrahiert. Deshalb kommt Schmitt auf die säkularisierende politische, in Hobbes Leviathan verkörperte Idee zurück, um die Bedeutung zu bekämpfen, die die Säkularisierung in der Aufklärung annimmt. Diese Bedeutung, die von Hermann Lübbe auch Säkularismus genannt wurde, offenbart sich Schmitt als universalisierende Moral, deren Absicht es ist, die Kontingenz aus der Welt zu verbannen und damit das Politische zu verleugnen. Sicherlich stimmt Lübbe Schmitt zu, wenn er sagt, dass die aufklärerische Säkularisierung, genauer der Säkularismus die Bedeutung einer „Verbannung Gottes aus dem öffentlichen und privaten Leben“ und einer „Vergötzung der menschlichen Natur“ habe. Der Säkularismus, so meint Lübbe, „ist hervorgegangen aus der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, erhielt dann von der Französischen Revolution seine strikten Impulse und wurde vom Liberalismus des 19. Jahrhunderts übernommen und gefördert“.531 Die Bestimmung des Politischen ist gemäß Schmitt Folge der Unmöglichkeit der exorbitanten Konflikte, die durch die universalisierende moralische Hefe erzeugt werden. Für den Juristen ist die effektive Säkularisierung, die Rationalisierung oder die Vermenschlichung der Gegensätze deshalb nur mittels der Anerkennung der Gegensätze als etwas Existenziellem möglich. Von da aus erachtet er es als möglich, die extreme politische Intensität, die aus den moralisierenden theologischen Doktrinen hervorgeht, zu erkennen und zu neutralisieren. Für Schmitt ist Hobbes weder ein großer Mathematiker, noch ein Physiker, noch ein Philosoph im Sinne einer Theorie dieser Naturwissenschaften. Seine wissenschaftliche Leistung gehört ganz in die philosophia practica. Er hat erkannt, dass jeder Streit zwischen geistlich-kirchlicher und weltlich-politischer Zuständigkeit in demselben Augenblick ein politischer Streit wird, in dem er sich zu einer Frage der konkreten Selbstbehauptung steigert, so dass er durch noch so scharfsinnige Distinktionen von Geistlich, Weltlich und Gemischt (res mixtae) nicht entschieden wird, sondern nur formal, d.h. durch die Beantwortung der formalen Frage: Quis judicabit?532
Wir wollen uns auf den zentralen Aspekt konzentrieren, den Schmitt den Hobbesschen Lehren zuschreibt. Der englische Philosoph habe bemerkt, dass aus der Sicht der römischen Kirche die größte Macht immer die geistliche Macht sei. Die Zuständigkeit der Antwort auf die Frage, wer entscheide, wer interpretiere, wer Recht spreche, steht immer dem Inhaber der geistlichen Macht zu. Meines Erachtens ist diese Feststellung alles Andere als trivial, denn die Konstituierung einer juristischen Ordnung hängt von der Bestimmung der letzten Distinktionen ab, von denen aus man zwischen Recht und Gesetz, Freund und Feind, Krieg und Frieden, Verbrechen und Sünde unterscheiden kann. Der dritte und vierte Teil von Hobbes Leviathan zeigt, dass seine Hermeneutik der Heiligen Schrift in der beharrenden 531 Lübbe 2003, S. 132. 532 Schmitt 2003a, S. 166.
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Frage zusammengefasst werden kann: Woher beziehen die Schriften ihre Autorität? Dieser Sorge liegt die Frage nach dem, der darüber entscheidet, was heilig oder profan, göttlich oder dämonisch, gütig oder häretisch usw. ist, zugrunde. Hier wird das Problem des Monopolanspruchs der Entscheidung über Authentizität, Wahrheit oder begriffliche Definition zu einer eminent politischen Frage darüber, wer die Autorität besitzt. Um die Säkularisierung des Politischen zu verwirklichen reicht eine Zwang ausübende Gewalt nicht aus. Fehlt eine Autorität, die bestimmt, welchem Zweck sie dient, wird diese Gewalt Schmitt zufolge zu einem rein technischen Mittel. Mehr noch, diese Frage gehört zum Politischen, da es eine Frage von existentieller Wichtigkeit ist, zwischen Freund und Feind, Krieg und Frieden, Zivilbevölkerung und Kriegsführendem, Heiligem und Profanem, Wahrheit und Falschheit zu unterscheiden. Schmitts grundlegende Lektion, die er von seinem Meister Hobbes lernt, ist, dass die größte Macht nicht jener der zeitlichen Autorität, sondern der geistlichen Autorität entspricht. Diese besitzt das Monopol der letzten Entscheidung – auch primäre Entscheidung genannt –, wie sich am Beispiel der Unterscheidung von Freund und Feind ersehen lässt. So wird unmissverständlich deutlich, dass es unmöglich ist, die politische Sphäre ohne das Monopol der letzten Entscheidungsinstanz zu säkularisieren. Für die säkulare Sphäre der politischen Macht reichen die legitimen Gewaltmittel nicht aus, denn ihre Emanzipation hängt von einer letzten Entscheidungsinstanz ab, deren Zuständigkeit traditionell der geistlichen Macht gehörte. Schmitt meint: Alle metaphysischen, moral-theologischen, naturrechtlichen und kanonistisch-juristischen Distinktionen der römischen Kirche hatten diese Frage schließlich immer damit beantwortet, dass es die geistliche Gewalt ist, der als der höheren Gewalt auch die Beantwortung des Quis judicabit? zusteht. Vor allem die Unterscheidung von direkt- und indirekt-geistlichen Angelegenheiten bedeutete im praktischen Ergebnis, dass die geistliche Gewalt entschied, sobald ihr existentielles Interesse an der konkreten Sache stark genug war. Die epochale Bedeutung des Thomas Hobbes besteht darin, den rein politischen Sinn des geistlichen Entscheidungsanspruchs begrifflich klar erkannt zu haben.533
Die Konflikte zwischen geistlicher und zeitlicher Gewalt offenbaren nicht nur den politischen Charakter der Unterscheidungen, Vorstellungen und Begriffe der geistlichen Gewalt, sondern machen auch deutlich, dass sie die wichtigste Gewalt ist, weil sie die Bedeutung der wichtigsten Begriffe des Politischen bestimmt, wie dies zum Beispiel für das Begriffspaar Freund und Feind gilt. Die Sphäre des Politischen wird nur sichtbar durch die Verstaatlichung der letzten Entscheidung, durch die Unterordnung der geistlichen unter die zeitliche Gewalt. Hier wird deutlich, dass ohne die Kontrolle der geistlichen oder intellektuellen Gewalt, die hier verstanden wird als Bestimmung der letzten Unterscheidungen, eine politische Ordnung nicht emanzipiert werden kann und die menschlichen Handlungen nicht regiert werden können. Die Lektion über die geistliche Macht, die Schmitt von
533 Schmitt 2003a, S. 166f.
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Hobbes lernt, ist unverzichtbar für die Entwicklung des Begriffs des Politischen als heuristisches Unterscheidungskriterium dessen, was tatsächlich politisch sei. Schmitt verwendet zum Beispiel das genannte fundamentale Kriterium der geistlichen Gewalt in seiner 1932 veröffentlichten Analyse des 19. Artikels Völkerrechtliche Formen des modernen Imperialismus. In dieser Arbeit untersucht er den nordamerikanischen Imperialismus und versucht zu erklären, wie man eine Ausweitung der Macht als „wirtschaftlich“ oder „pazifistisch“ durch das Monopol der Unterscheidungen und der Bestimmung von Begriffen begründen könne. Seines Erachtens bewahrt dieser Imperialismus eine Reminiszenz aus dem 19. Jahrhundert, die in der Antithese zwischen Wirtschaft und Politik ersichtlich ist. Die Antithese oder der Gegensatz zwischen „Wirtschaft“ und „Politik“ wird begriffen, als ob wirtschaftliche Expansion und Ausbeutung in sich „apolitisch“ und „pazifistisch“ wären.534 Die zentrale Achse der Analyse des Juristen zeigt, dass jede Ausweitung von Macht sich auf das Prinzip der Legitimität stützt, die ein ganzes Inventar von rechtlichen Begriffen und Formeln, von Redensarten, von Schlagworten [ist], das sind nicht nur „ideologische“ Vortäuschungen und dient nicht nur Propagandazwecken, sondern ist nur ein Anwendungsfall der einfachen Wahrheit, dass alle Tätigkeit des Menschen irgendeinen geistigen Charakter trägt und auch die Politik, eine imperialistische so gut wie irgendeine geschichtlich bedeutungsvolle Politik, keinesfalls sozusagen ihrer Natur nach etwas Ungeistiges ist.535
Die Analyse des Imperialismus enthüllt den politischen Charakter, der sich hinter der Fassade juristischer, moralischer und wirtschaftlicher Begriffe verbirgt. Indem Schmitt diese Begriffe auf die Autorität zurückführt, die diese mittels der Entscheidung und der Interpretation bestimmt, folgert er: Bei jenen entscheidenden politischen Begriffen kommt es eben darauf an, wer sie interpretiert, definiert und anwendet; wer durch die konkrete Entscheidung sagt, was Frieden, was Abrüstung, was Intervention, was öffentliche Ordnung und Sicherheit ist. Es ist eine der wichtigsten Erscheinungen im rechtlichen und geistigen Leben der Menschheit überhaupt, dass derjenige, der wahre Macht hat, auch von sich aus Begriffe und Worte zu bestimmen vermag. Caesar dominus et supra grammaticam: der Kaiser ist Herr auch über die Grammatik. Der Imperialismus schafft sich seine eigenen Begriffe, und ein falscher Normativismus und Formalismus führt nur dahin, dass am Ende niemand weiß, was Krieg und was Frieden ist.536
Der wahre Inhaber der souveränen Macht besitzt das Monopol über die Bestimmung des semantischen Inhalts des politischen Vokabulars. Er definiert die Bedeutung der Begriffe und Wörter im Licht der politischen Umstände, er entscheidet darüber, was Krieg und Frieden, wer Zivilbevölkerung oder Soldat ist, über Auf- oder Abrüstung, über Sicherheit oder Unsicherheit. Es besteht kein Zweifel darüber, dass das Subjekt der Souveränität das Monopol über Interpretation, Definition und Anwendung der politischen Begriffe analog zur höchsten Autorität der 534 Schmitt 1994k, S. 185. 535 Schmitt 1994k, S. 185. 536 Schmitt 1994k, S. 202.
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früheren römischen Kirche besitzt. Wer die geistige Herrschaft hat über die begriffliche Definition hat auch die wahre politische Macht. Dem Juristen zufolge verfügt der Imperialismus nicht nur über kriegerische Macht, sondern ist auch im Besitz der mächtigsten geistigen Waffe: die Entwicklung der eigenen Begriffe durch konkrete Entscheidungen, die bestimmen, wer Freund, wer Feind sei. Zum Schluss gilt es noch, einen kurzen Vergleich anzustellen. In Der Wert des Staates spricht Schmitt dem Subjekt der absoluten Machtinstanz eine Würde zu, doch „er steht nicht über dem Recht, so wenig wie über der Grammatik“.537 Es mag offen bleiben, ob das Subjekt der Souveränität über der Grammatik steht oder nicht. Meines Erachtens besteht kein Zweifel daran, dass Schmitts Souverän sich über die Grammatik erhebt, denn er ist es, der über die grundlegenden politischen Begriffe entscheidet. Außerdem sei daran erinnert, dass in der genannten Jugendschrift des Autors die Unterordnung der absoluten Machtinstanz unter das Recht, oder unter die Grammatik, logisch ist. Die Entscheidung über die Rechtsverwirklichung kann sogar dem Gesetz widersprechen, wenn die Stabilität der juristischen Ordnung auf dem Spiel steht. Indem Schmitt den Begriff der Souveränität ausgehend vom Monopol der letzten Entscheidung über fundamentale politische Fragen begreift, könnte er nie den Aussagen Kants in Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? zustimmen. Dem Philosophen zufolge, kann der Souverän – Friedrich II. von Preußen (1712– 1786) – seine höchste Macht nicht über die Gesetze stellen und sich ebenso wenig in „die Schriften, wodurch seine Untertanen ihre Einsichten ins Reine zu bringen suchen“ einmischen. Trotz seiner Erklärung weist Kant den Souverän auf die Gefahr hin, „wenn er seine oberste Gewalt so weit erniedrigt, den geistlichen Despotism einiger Tyrannen in seinem Staate gegen seine übrigen Untertanen zu unterstützen“.538 Schmitts grundlegendes Problem liegt in der Denunzierung der Falschheit und der Heuchelei der Verleugnung durch den Status quo des politischen Charakters, indem es eine Unsicherheit bezüglich der Hauptfrage auslöst: Wer entscheidet? Dieser Aspekt darf keinesfalls übersehen werden, denn hier liegt der entscheidende Zugang zum Verständnis der Formulierung des Begriffs des Politischen als Unterscheidungskriterium und nicht als Inhalt.539 3.5. Der Intensitätsgrad des Politischen Das Politische unterscheidet sich von der Politik, weil es nicht eine Substanz, eine Regierungsform oder eine Reihe von Zielsetzungen darstellt, sondern ein Kriterium, eine Maßnahme: „Die Unterscheidung von Freund und Feind hat den Sinn, den äußersten Intensitätsgrad einer Verbindung oder Trennung, einer Assoziation oder Dissoziation zu bezeichnen […]“540. Schmitt führte das Kriterium des Inten537 538 539 540
Schmitt 2004a, S. 95. Kant 2004f, S. 59. Schmitt 1994h, S. 158. Schmitt 2002b, S. 27 [Hervorhebung durch den Verfasser].
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sitätsgrades in der zweiten Auflage von 1932 seines Buches Der Begriff des Politischen ein, um diesen deutlicher zu machen, was ihm jedoch zahlreiche Kritiken eintrug.541 Die Beschreibung des Politischen als äußersten Grad eines Kampfes bedeutete nicht, dass die Unterscheidung von Freund und Feind eine absolute Feindschaft oder einen totalen Krieg erzeugt, sondern vielmehr, dass das Politische auf der Unmöglichkeit einer extremen Radikalität des Konflikts beruht. Für Schmitt bedeutet die Säkularisierung des Politischen die Loslösung von einer theologischen oder humanitären Moral. Die Enttheologisierung des Politischen enthüllt eine säkularisierte Sphäre der existenziellen Feindschaft, die von einem moralischen Fundament befreit ist, das den Gegensatz bis ins Äußerste verschärfte und seine Eingrenzung unmöglich machte. Meines Erachtens bezieht der Jurist das genannte Vermittlungskriterium aus seiner Beobachtung der äußersten Intensität der Radikalität der europäischen religiösen Bürgerkriege, die die Herrschaft des säkularen Reiches aus seinem Innern zu verbannen vermochte. In Behemoth or the long Parliament542 schlägt Hobbes eine Maßnahme vor, um den Intensitätsgrad der extremen Gegensätze der religiösen Kriege, die England verwüsteten, zu messen: If in time, as in place, there were degrees of high and low,543 I verily believe that the highest of time would be that which passed between the years of 1640 and 1660. For he that thence, as from the Devil’s Mountain, should have looked upon the world and observed the actions of men, especially in England, might have a prospect of all kinds of injustice, and all kinds of folly, that the world could afford, and how they were produced by their *dams* hypocrisy and self-conceit, whereof the one is double iniquity, and the other double folly.544
Hobbes hatte bemerkt, dass der Wahnsinn der zivilen und religiösen Auseinandersetzungen nicht nur durch die sichtbaren Waffen hervorgerufen wurde, sondern dass auch die Ideen, die „unverständlichen Unterscheidungen“ und Begriffe den Intensitätsgrad der Kämpfe bis ins Äußerste steigern konnten.545 Die politische Intensität der Ideen, Begriffe und Unterscheidungen konnte aus jeglichem Inhalt heraus entstehen, ob dieser nun theologischer, moralischer, juristischer oder wirtschaftlicher Natur war. Hobbes identifizierte die politischen Unterscheidungen der indirekten oder unsichtbaren Mächte mit solcher Klarheit, dass er sie auf dem Titelblatt seines Leviathans (1651) darstellen ließ.546 Die konkrete Wirklichkeit der blutigen Kämpfe zwischen den geistlichen und zeitlichen Mächten, die Europa 541 Noack 1996, S. 118f. 542 Schmitts Nachlass im Hauptarchiv von Nordrhein-Westfalen enthält auch eine unvollständige Ausgabe des 1682 in London veröffentlichten Behemoth, the history of the causes of the civil Wars of England. Es handelt sich wahrscheinlich um eine der ersten Fassungen des Hobbesschen Textes und enthält verschiedene Anmerkungen Schmitts. 543 Dieses Zitat deutet darauf hin, dass Hobbes schon Gewissheit besaß darüber, dass die Konstruktion eines politischen Körpers inmitten eines übermäßig erhöhten politischen Intensitätsgrades, der zur Erniedrigung und Verteufelung des Feindes führte, nicht möglich war. 544 Hobbes 1990, S. 1 [Hervorhebungen durch den Verfasser]. 545 Hobbes 1990, S. 40. 546 Schmitt 2003a, S. 26.
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zerstörten, zeigt, wie tödlich die Begriffe und Unterscheidungen der geistlichen Macht waren. Nicht zufällig beharrt Schmitt auf diesem Punkt in seiner Arbeit über den englischen Philosophen und merkt an: „Hobbes hat die Begriffe und Distinktionen als Waffen des politischen Kampfes erkannt. […] Es gibt keinen zweiten Philosophen, dessen Begriffe soviel Wirkung, wenn auch zugleich soviel auf seinen eigenen Gedanken zurückschlagende Fehlwirkung gehabt haben.“547 Die große Lektion, die Schmitt von Hobbes lernt, ist „die des großen Lehrers im Kampf gegen alle Arten der indirekten Gewalt“. Genau „darin vollendet sich seine für uns heute erkennbare und fortwährend fruchtbare Leistung“.548 Meines Erachtens kann es keinen Zweifel daran geben, dass Schmitt diese „fortwährend fruchtbare Leistung“ fortführen will: diesen säkularisierenden Kampf gegen die unsichtbaren Mächte, die die polemische Bedeutung der politischen Begriffe der modernen Staatstheorie verhüllen. Günther Maschke berichtet, dass Carl Schmitt „zeitlebens Gegner jeder Form von potestas indirecta“ war.549 Die Säkularisierung, verstanden als Kampf gegen die indirekten oder unsichtbaren Gewalten, die sich die politische Herrschaft anmaßten, ist für ein der konkreten Situation verpflichtetes Denken ein unvollendeter Prozess, der auch nie vollendet sein wird. Solange es Verdunkelung, Verleugnung oder Verwirrung in Bezug auf die Existenz von Konflikten zwischen Menschen gibt, müssen diese Gewalten säkularisiert oder sichtbar gemacht werden. Der religiöse Bürgerkrieg darf nicht als Erinnerung eines vergangenen Terrors angesehen werden, sondern muss als gegenwärtige Erkenntnis der Möglichkeit eines extremen Konfliktes angesehen werden, dessen Neutralisierung eine Unterscheidung von Freund und Feind erlaubt. Schmitts Schriften über Hobbes550 sind der stärkste Beweis für die Überzeugung des Juristen, dass
547 548 549 550
Schmitt 2003a, S. 130f. Schmitt 2003a, S. 131. Maschke 2003, S. 187. Der deutsche Soziologe Helmut Schelsky bemerkt in seinem Buch Thomas Hobbes. Eine politische Lehre aus dem Jahr 1981: „Wichtiger erscheint mir zu sehen, dass Hobbes nicht nur wissenschaftlich-akademisch der ‚Lieblingsautor‘ Carl Schmitts war, sondern dass er dessen intellektuelles und persönliches Schicksal im Verhältnis zur Staatsmacht teilte: Indem er die Absolutheit des jeweiligen Souveräns stützte, ihn aber zugleich normativen, rechtlichen und philosophischen Regelungen seiner Machtausübung unterwerfen wollte, wurde er als eine Art wissenschaftlicher Winkelried zum herausgestellten Gegner der intellektuellen Opposition und fiel gleichzeitig den angeblich unterstützten Herrschenden durch seine normative Folgerichtigkeit auf die Nerven. Dies sicherte ihm Verfolgung und Kritik von beiden Seiten, aber wahrscheinlich auch seinen Platz in der geistigen und politischen Geschichte unserer Zeit. Das geistige und politische Bild dieses Gelehrten wird immer umstritten bleiben; man wird ihm in seinen Widersprüchen noch am gerechtesten werden, wenn man ihn geistes- und politikgeschichtlich als den ‚deutschen Hobbes‘ des 20. Jahrhunderts begreift“ (Schelsky 1981, S. 5).
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alle geschichtliche Erkenntnis Gegenwartserkenntnis ist, dass sie von der Gegenwart ihr Licht und ihre Intensität erhält und im tiefsten Sinne nur der Gegenwart dient, weil aller Geist nur gegenwärtiger Geist ist, haben uns seit Hegel viele, am besten Benedetto Croce gesagt.551
Der säkularisierende Sinn, der Hobbes Leviathan zugeschrieben wird, wird von Schmitt als fundamentale Frage seiner „gegenwärtigen“ Zeit gedeutet: die Säkularisierung, die Sichtbarkeit und die politisch-existentielle Dimension des menschlichen Lebens. Die Frage wird, wie ich in den ersten Kapiteln zu zeigen versucht habe, nach und nach seit seinen frühesten Schriften herausgearbeitet und wird immer expliziter formuliert und angegangen. Die Untersuchung des Gegensatzes zwischen Gesetz und Entscheidung, Recht und Gewalt, Staat und Macht konzentrierte sich in den ersten Arbeiten auf das Problem der Kontingenz, die nicht nur nicht verleugnet werden kann, sondern auch Möglichkeitsbedingung für das Verständnis der Struktur der konkreten Wirklichkeit ist. Im Begriff des Politischen versucht Schmitt aufzuzeigen, dass die Verleugnung des Konflikts die Kontingenz bis ins Extreme anheben kann. Die Anerkennung der Möglichkeit eines äußersten Gegensatzes ist die Bedingung für seine Eingrenzung. Schmitt hat sich während nahezu seines ganzen Lebens der Säkularisierung des Politischen gewidmet, deren Sinn sich in der Konfrontation mit den unsichtbaren Mächten äußert, die das Politische durch seine Unterwerfung unter die Moral, die Wirtschaft und das Recht verdunkeln. Der Glaube an die Technik offenbart sich in der Form einer extremen Religiosität, deren blinder Glaube an eine absolute Entpolitisierung die Konflikte weiter intensiviert.552 Die von Schmitt der Säkularisierung zugewiesene Bedeutung unterscheidet sich sicherlich von jener, die ihr im Leviathan von Hobbes zugeschrieben wird, vor allem, was den zu bekämpfenden Feind angeht. Schmitts „Gegenwart“ verlangt nicht mehr den Kampf gegen die presbyterianische kirchliche Macht oder gegen jene, die von Päpsten, Bischöfen oder falschen Propheten ausgeübt wurde, die die säkulare Herrschaft der sichtbaren politischen Macht bedrohten. Schmitts konkrete Wirklichkeit verlangt den Kampf gegen die „apolitischen“ Kräfte, die das Politische leugnen oder verdrängen wollen. Gewiss ging es nicht mehr darum zu zeigen, dass die päpstliche Macht der Exkommunikation eine mächtige politische Waffe darstellt, die in der Lage wäre, das säkulare politische Schicksal zu lenken, indem sie den Feind des Reiches Christi bestimmte. Schmitts Aufgabe ist es vielmehr, zum Beispiel zu zeigen, dass wirtschaftliche Embargos, das Verbot des Krieges, die Verwandlung des Feindes in einen Geschäftskonkurrenten und die Entmilitarisierung weiterhin einen politischen Charakter aufweisen. Schmitt zufolge versuchen die heutigen geistigen, apolitischen Mächte das Politische mittels eines Gegensatzes zwischen Ethik und Wirtschaft zu verleugnen. Dieser erlaubt es, jede Frage unter den Begriff des Privatbesitzes, unter die Vorstellung des humanitären Fortschritts und unter die Entwicklung technischer Mittel zu subsumieren. Die Vermischung von Politik, Moral, Wirtschaft und 551 Schmitt 2002b, S. 79. 552 Schmitt 2002b, S. 94.
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Recht ist voller Euphemismen und Formeln, die die reale Möglichkeit eines äußersten Gegensatzes zwischen Menschen abzuschwächen versuchen. Ich denke, dass die Frage, auf die Schmitt eine Antwort sucht, sich nicht so sehr von jener von Hobbes unterscheidet, zumindest was die Notwendigkeit betrifft, die indirekten Gewalten zu bekämpfen. Der deutsche Jurist und der englische Philosoph feuern ihre politischen Waffen – den Begriff des Politischen bzw. den Leviathan – gegen die Verdunkelung des säkularen Bereiches in der Sphäre des Politischen „occasioned by the disorders of the present time“ ab.553 Obwohl beide Autoren Krieg erlebt haben, wäre der Hinweis vielleicht interessant, dass Schmitt, anders als Hobbes, auch in Friedenszeiten eine ständige Sorge um die Untersuchung der Qualität der „Situation juristischer Normalität“ zeigt, da diese gegenüber der realen Möglichkeit eines Kampfes nie immun sei. Die Überzeugung des Fehlschlusses einer Herrschaft allgemeiner Normen zwang ihn, sich an die politischen Umstände der Beziehungen der Gewalten der Macht zu halten. Aus Schmitts Perspektive ist das Versprechen der Verbannung des Krieges aus dem menschlichen Leben ein Schwindel der falschen, säkularisierten Prophezeiungen, die in der Gestalt von Vorhersagen daherkommen, die den progressiven, auf die Propaganda der Seligkeit auf Erden ausgerichteten Geschichtsphilosophien entstammen. Das Streben nach Komfort und einem besseren Leben werde durch die Überwindung der Politik durch den Glauben an den zukünftigen Fortschritt554 garantiert. Die Übernahme des Politischen durch die Manipulation ande553 Hobbes 1985, S. 728. Hugo Ball zeigt auf, wie Schmitt der Kategorie jener Autoren zuzurechnen ist, deren intellektuelle Haltung er kritisiert: „Es ist unrecht zu geigen, während Rom brennt, aber es ist ganz in der Ordnung, ‚die Theorie der Hydraulik zu studieren‘, während Rom brennt“ (Ball 1983, S. 100). Meines Erachtens besteht eines der Probleme in Schmitts Denken darin, dass Rom nie aufhört, Feuer zu fangen. Schmitts politische Ideen brechen in sich zusammen, wenn es keinen Brand mehr gibt, den es zu löschen gilt. 554 Schmitts Säkularisierungsbegriff richtet sich auch gegen solche Manifestationen der indirekten Gewalt, deren formale Analyse die bürgerliche, marxistische und positivistische Geschichtsphilosophie eint. Es muss jedoch beachtet werden, dass der Jurist den Glauben an solche progressiv geprägten Geschichtsphilosophien als säkularisierte Formen der jüdischchristlichen eschata [griechisch: Die letzten Dinge] ansah (Schmitt 1950b, S. 928). Siehe auch Koselleck, Zeitschichten (2003, S. 183). Der Unterschied zwischen dieser aufklärerischen und auch positivistischen Bedeutung der Säkularisierung und der säkularisierenden Bedeutung des Schmittschen Begriffs des Politischen besteht darin, dass sowohl die aufklärerische als auch die positivistische Bedeutung die Verwandlung jeder konkreten historischen Erkenntnis in ein allgemeines Gesetz des historischen Weltenlaufs fordern. Jede Erkenntnis unterwerfe sich einer dieser Welt inhärenten Legalität. Die Bedeutung, die der Jurist der Säkularisierung zuschreibt, versucht hingegen diese generischen Abstrahierungsformen durch den Grenzfall zu unterlaufen und so den zwischenmenschlichen Antagonismus, der sich hinter den Geschichtsphilosophien versteckt, aufzudecken. Das Bestreben der Aufklärung und des Positivismus, die Transzendenzvorstellung durch die Auffassung einer dieser Welt immanenten Legalität oder eines Funktionalismus zu eliminieren, verhüllt ihren transzendenten Charakter, da weder die Geschichte, noch die Natur, noch die Wirtschaft, noch das Recht den Menschen regieren. Schmitt glaubt, dass jede soziale und politische Ordnung einen minimalen transzendenten Rest bewahren muss, ohne den sie sich nicht konstituiert. Anders ausgedrückt: Jede Vorstellung einer politischen Souveränität schließt ein Minimum an Transzen-
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rer Glaubensformen, die auf „apolitischen“ Ideen gründen, kann im Fall der bürgerlichen Geschichtsphilosophie abgelesen werden. Dennoch bleibt die Frage: Wer sind die neuen Feinde der politischen Theologie und des Begriffs des Politischen von Carl Schmitt? Auf diese Frage antwortet der Jurist: „Die alten Gegner, die ‚indirekten Gewalten‘ von Kirche und Interessenorganisationen, sind in diesem Jahrhundert in moderner Gestalt als politische Parteien, Gewerkschaften, soziale Verbände, mit einem Wort als ‚Mächte der Gesellschaft‘ wiedererschienen.“555 Das Problem derartiger Formen sozialer Organisation besteht in der Unmöglichkeit, sie im Innern des Systems der parlamentarischen Repräsentation zu integrieren, was Minderheiten und eine Vielzahl von Interessen ausschließen würde. Wie ich noch zeigen werde, rührt eines der wichtigsten Probleme, die der Jurist aus dem 19. Jahrhundert ableitet, aus der Verwicklung von Staat und Gesellschaft her. Diese Fusion führt zum Verlust von Unterscheidungen und zur Unmöglichkeit, den Staat klar von anderen Verbänden zu unterscheiden. Der soziale Pluralismus führt zum Verlust der politischen Einheit, der letzten Unterscheidungen, die durch das Monopol der politischen Macht des Staates getroffen werden. Die Formen der indirekten Gewalt lösen das Politische in der Wirtschaft, in der technischen Organisation, im Betrieb, in der Selbstregulierung des Sozialen auf. Schmitt protestiert gegen die Unterwerfung des Politischen unter das Wirtschaftliche und unter die Herrschaft der Moral: Heute ist nichts moderner als der Kampf gegen das Politische. Amerikanische Finanzleute, industrielle Techniker, marxistische Sozialisten und anarcho-syndikalistische Revolutionäre vereinigen sich in der Forderung, dass die unsachliche Herrschaft der Politik über die Sachlichkeit des wirtschaftlichen Lebens beseitigt werden müsse. Es soll nur noch organisatorischtechnische und ökonomisch-soziologische Aufgaben, aber keine politischen Probleme mehr geben.556
Hobbes wurde von Schmitt als „Pionier der Säkularisierung“ verehrt, da seine Ideen zur Gründung des modernen europäischen Staates beigetragen haben. Schmitt schreibt über den englischen Philosophen jedoch auch: „Aber während er die natürliche Einheit von geistlicher und weltlicher Macht verteidigte, riss er gleichzeitig durch den Glaubensvorbehalt der privaten Innerlichkeit einen Gegensatz auf, der neuen, gefährlicheren Arten und Formen indirekter Gewalten die Bahn frei machte.“557 Die Tür, die Hobbes dem privaten Glauben offenließ, würde später die Treibkraft der Zerstörung des Staates durch sein eigenes Inneres werden. Der Glaubensvorbehalt „wurde zum Todeskeim, der den mächtigen Levia-
denz, ein Minimum eines Glaubens, der eine Ordnung legitimiert, mit ein. Ich habe versucht, diese Frage im zweiten Kapitel zu erhellen, indem ich die Notwendigkeit einer Begründung der politischen Autorität auf einer transzendenten Idee diskutierte, wie dies z.B. für die Rechtsidee gilt, damit eine Legitimierung und eine Erhöhung der Staatsmacht angesichts der Kräfte der Wirklichkeit garantiert werden kann. 555 Schmitt 2003a, S. 116. 556 Schmitt 2004b , S. 68; vgl. auch 1950a, S. 38. 557 Schmitt 2003a, S. 140 und 127 [Hervorhebung durch den Verfasser].
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than von innen her zerstört und den sterblichen Gott zur Strecke gebracht hat“.558 Es musste nicht viel Zeit vergehen, damit die Unterscheidung von Bekenntnis und Glaube, von Äußerem und Innerem, sich in einen Gegensatz zwischen sichtbaren und unsichtbaren Gewalten, zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten, verwandelte und bis schließlich der Glaubensvorbehalt, bis dahin auf einer zweiten Ebene angesiedelt, die Machtsituation umkehrte. Von da an unterwarf die dem privaten, geheimen Bereich entstammende, mit dem liberalen Bürgertum verbundene unsichtbare Macht auf indirekte Weise den öffentlichen Raum des Politischen.559 Die Umkehrung, durch die der geheime Bereich des Privaten sich über den öffentlichen Bereich stellt, bewirkt die Entleerung des öffentlichen Bereiches der Macht und erzeugt ein Problem der Repräsentation: Wenn aber die öffentliche Macht nur noch öffentlich sein will, wenn Staat und Bekenntnis den innerlichen Glauben ins Private abdrängen, dann begibt sich die Seele eines Volkes auf den „geheimnisvollen Weg“, der nach innen führt. Dann wächst die Gegenkraft des Schweigens und der Stille. In dem Augenblick, in dem die Unterscheidung von Innen und Außen anerkannt wird, ist die Überlegenheit des Innerlichen über das Äußerliche und damit die des Privaten über das Öffentliche im Kern bereits entschiedene Sache. Eine öffentliche Macht und Gewalt mag noch so restlos und nachdrücklich anerkannt und noch so loyal respektiert werden, als eine nur öffentliche und nur äußerliche Macht ist sie hohl und von innen her bereits entseelt.560
Die innere Trennung des Staates in Inneres und Äußeres führt zur Polarisierung: zwischen der liberalen Moral und der absolutistischen Politik, zwischen der Gewaltenteilung und der Unsichtbarkeit der souveränen Macht, zwischen der parlamentarischen Wahrheit und der dezisionistischen Exekutive, zwischen sozialem Pluralismus und politischer Einheit: Wer sich auf den Gegensatz von Innerlich und Äußerlich überhaupt einlässt, hat damit die letztliche Überlegenheit des Innerlichen gegenüber dem Äußerlichen, des Unsichtbaren gegenüber dem Sichtbaren, des Stillen gegenüber dem Lauten, des Jenseits gegenüber dem Diesseits bereits anerkannt.561
Hier wird die Unmöglichkeit der politischen Form einer staatlichen Macht festgestellt: „Es gibt […] keinen Staat ohne Repräsentation.“562 Die politische Repräsentation existiert im Innern des privaten Raumes nicht, denn Repräsentation kann nur in der Sphäre der Öffentlichkeit vor sich gehen. Es gibt keine Repräsentation, die sich im geheimen und unter vier Augen abspielt, keine Repräsentation, die „Privatsache“ wäre. Damit sind alle Begriffe und Vorstellungen ausgeschlossen, die wesent-
558 559 560 561 562
Schmitt 2003a, S. 86. Schmitt 2003a, S. 88 und 93. Schmitt 2003a, S. 94. Schmitt 2003a, S. 95. Schmitt 2003d, S. 206.
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lich in die Sphäre des Privaten, des Privatrechtlichen und des bloß Ökonomischen gehören, als Begriffe wie Geschäftsführung, Wahrnehmung und Vertretung privater Interessen usw.563
Vom politischen Standpunkt aus gesehen handelt der liberale Staat als eine „unsichtbare“ Person, denn er dient den wirtschaftlichen Interessen wie eine Firma, die die privaten Interessen vertritt.564 So wird die politische Repräsentation des liberalen Staates unmöglich und erleidet eine Umkehrung, die sich in der Verwendung von Wörtern und Begriffen der Privatrechtssprache äußert. Das Zeichen der Wende im Bereich der Repräsentation politischer Institutionen offenbart sich darin, dass öffentliche Dinge durch die Sprache des Privatrechts bezeichnet werden. Die Einzelrechte und –interessen unterwerfen allmählich das öffentliche Recht. Schmitt zufolge entspricht der Verlust der Referenz auf ein Äußeres, Überindividuelles dem Fehlen einer „politischen Einheit des Volkes“. Die Repräsentation einer politischen Einheit ist nur durch die Mediation einer transzendenten Idee möglich, denn auf der empirischen Ebene existiert die Einheit aufgrund ihrer immanenten Vielfalt und ihres Relativismus nicht. Die Idee der Einheit eines Volkes nimmt nur in der Person eines Souveräns Gestalt an, nie aber in der Unpersönlichkeit des Gesetzes, dessen Abstraktion und Allgemeinheit den persönlichen Charakter und die politische Verantwortung dessen, der die tatsächlichen Entscheidungen trifft, verhüllt. Es ist eine typische Eigenheit der indirekten oder unsichtbaren Macht, dass das liberale Bürgertum Politik in der Sicherheit des privaten Raumes durch die Übertragung der Verantwortung auf das Gesetz, auf den Gesetzgeber, auf die Moral und auf die öffentliche Meinung macht. Das Parlament, dargestellt als geschlossener Raum, in dem unendliche Debatten und Sitzungen stattfinden, ist die Bühne der indirekten Gewalt. Die Aufrechterhaltung seines repräsentativen Charakters beruht auf dem Glauben, dass seine geheimen Sitzungen, Abkommen und Verhandlungen, Komitees, parlamentarische Untersuchungskommissionen öffentliche Tätigkeiten darstellten.565 Das Fehlen einer der Repräsentation angemessenen juristischen Form hat ihre Wurzeln in der Ersetzung des Absoluten, das in der Person des Souveräns seinen Platz hatte, durch das Absolute des einzelnen Individuums. Diese Verschiebung des Absoluten hin zum privaten Sitz des individuellen, relativen Subjekts, das von jeglichen heteronomen Referenzen getrennt ist, ist der Platz, an dem die Fragmentierung der politischen Erfahrung der juristischen Form und des Prinzips der Repräsentation einsetzt. Der absolute Sinn hat in dem Moment, da das Bürgertum, das aus dem privaten Bereich auftaucht, das Zentrum der Macht besetzt, nicht aufgehört zu existieren. Der Unterschied ist, dass jetzt die Betonung auf den privaten Dingen zu liegen kommt, auf dem Privatbesitz, und so eine zunehmende Verdinglichung auslöst. Aus der Perspektive von Carl Schmitt bewahrt sich ein heiliger Charakter oder ein theologisches Überbleibsel, wenn ein Glaube absolut wird. In seiner Diskussion über die Repräsentation des bürgerlichen Liberalismus 563 Schmitt 2003d, S. 208. 564 Schmitt 2004b, S. 44 und 66. 565 Schmitt 2003d, S. 208.
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bemerkt der Jurist: „keine Repräsentation, die ‚Privatsache‘ wäre.“ Der Ursprung des Problems der Repräsentation liegt in der Freiheit religiösen Glaubens. Für Schmitt kann die Religion zur Bedrohung werden, denn wenn das Religiöse im privaten Bereich angesiedelt wird, wird das Private zu einer in religiösem Sinne heiligen Sache: Wenn das Religiöse das Private ist, so ist infolgedessen auch umgekehrt das Private religiös geheiligt. Beides lässt sich nicht voneinander trennen. Das Privateigentum ist heilig, gerade weil es Privatsache ist.566
Von hier aus kann man verstehen, wie „Immanenzvorstellungen“ entstehen, die von dem Glauben ausgehen, der den privaten Raum des Individuums zu einer absoluten Instanz erhebt. Schmitt untersucht die Unterwerfung des Staates und der Politik unter die liberale Moral und versucht die Entpolitisierung auf der Grundlage ihrer metaphysischen Prämissen zu verstehen. Diese Prämissen sind die für die Entleerung der politischen Substanz der Wirklichkeit durch die wirtschaftlichen Kategorien und Vorstellungen des Privatrechts verantwortlichen Faktoren. Das Verständnis der Prämissen des bürgerlichen Liberalismus kann an der Analogie zwischen seinen Begriffe, Ideen und der Form seiner politischen Organisation und der romantischen Kultur des 19. Jahrhunderts beobachtet werden. Die Analogie enthüllt die Beziehung zwischen der romantischen Kultur des 19. Jahrhunderts und den politischen und sozialen Investitionen des Liberalismus. Schmitts Aussage: „Der Träger der romantischen Bewegung ist das neue Bürgertum“567 weist darauf hin, dass die liberalen Handlungen und vor allem die liberalen Motivationen sich am Glauben an die Ideale der Romantik ausrichten. Das Problem der Romantik besteht jedoch darin, eine Definition ihrer Eigenschaften zu finden, denn einer ihrer grundlegenden Züge ist ihre der labyrinthischen Existenz, dem Fehlen einer Form und Repräsentation zugeschriebene Unbestimmtheit.568 Dieser Mangel an Form offenbart sich in der spezifischen Fähigkeit, Bindungen und Beziehungen zu irgendeinem Punkt oder irgendeiner Richtung aufzulösen, die von der Wirklichkeit festgeschrieben sind. Ein typisch romantisches Verhalten richtet sich nie an einer sicheren Orientierung aus, sondern lässt sich von der Gelegenheit bestimmen, äußere Elemente in Möglichkeiten der subjektiven Erfahrung und des Konsums zu verwandeln. Die romantische Haltung, die sich am Okkasionalismus ausrichtet, löst jede kausale Verbindung mit der Wirklichkeit auf und verwandelt alles in einen Lyrismus. einer der Kerne der romantischen Bewegung liegt im Ästhetizismus, der verstanden werden könnte als eine Form der Privatisierung oder der Entleerung der Qualitäten oder Substanzen der Wirklichkeit, die zur Auflösung der externen Referenzen, der Kausalitätsbeziehungen, Fixpunkte und der Dauerfaktoren führt. Die romantische Haltung wird durch die occasio dargestellt, d.h. durch die Verwandlung von 566 Schmitt 1984, S. 48f. 567 Schmitt 1998c, S. 14. 568 Schmitt 1998c, S. 10.
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allem in eine Gelegenheit für das romantische Subjekt, dessen Haltung darin besteht, das, was ihm äußerlich ist, zu subjektivieren. Der Erfahrungsraum der Wirklichkeit ist eine unerschöpfliche Quelle von Möglichkeiten, die dem Subjekt zu Dienste stehen. Die Gelegenheit ist eine Anhäufung unendlicher Möglichkeiten.569 Hier taucht das Problem der Anhebung der Kontingenz, die im Nihilismus, in einem unbegrenzten Weltbild des romantischen ludus globi mündet und das Carl Schmitt bereits in seinen Jugendschriften behandelt hat, wieder auf.570 Die Unterwerfung der Welt unter die Anhäufung unbegrenzter Möglichkeiten führt zum Nihilismus, denn in einem Universum, in dem alles Gelegenheit ist, wird nichts, keine Möglichkeit, Wirklichkeit, denn nur die Entscheidung kann die Möglichkeiten reduzieren und der Wirklichkeit eine Form verleihen. Die Unentschiedenheit oder die Aufhebung der Entscheidung durch den Okkasionalismus ist ein unendliches romantisches Drama, das sich auch in den endlosen Gesprächen des Parlaments des liberalen Bürgertums abspielt. Die Haltung des romantischen Subjekts, die die Welt der bloßen Gelegenheit unterordnet, findet ihren stärksten Ausdruck in der Erhebung des liberalen Individuums zur absoluten Instanz der sozialen und politischen Ordnung. Die Romantik ist also Schmitt zufolge ein subjektivierter Okkasionalismus, der seine analoge Manifestation im liberalen bürgerlichen Subjekt findet, der, ausgehend von der Universalisierung des Privatraums, unfähig ist, der Wirklichkeit eine politische Form zu verleihen. Die liberale Metaphysik bezieht ihren geistigen Kern oder ihr letztes Fundament aus den Ideen der romantischen Bewegung, die romantische Idee eines ewigen Gesprächs, das eine Entscheidung ewig aufschiebt. Schmitt benutzt die Worte des spanischen Diplomaten Donoso Cortés571, um das liberale Bürgertum als „la clasa discutidora“ zu charakterisieren.572 In seiner Analyse der Arbeit Der Begriff des Politischen bemerkte Leo Strauss richtigerweise: „Der Liberalismus hat das Politische negiert; er hat es damit nicht aus der Welt geschafft, sondern nur verdeckt; er hat dazu geführt, dass vermittelst einer antipolitischen Redeweise – Politik getrieben wird“.573 Die liberale Metaphysik, d.h. der bürgerliche Glaube an die kulturelle Bildung, an den ungehobelten Charakter der Menschen, aber an den erziehbaren Charakter der Massen, an den Diskurs als Meinungsbildung, kann das Politische nicht verleugnen. Für Schmitt ist der Diskurs der Ausdruck einer ewigen Suspendierung einer ewigen Diskussion, was zu einer immer akuteren Krise führe.574 Die Haltung des liberalen Bürgertums gegenüber einer Extremsituation wird auf ironische Weise dargestellt, denn angesichts der existentiellen Frage: „Christus oder Barrabas, mit einem Vertagungsantrag oder der Einsetzung einer Unter569 Schmitt 1998c, S. 79. 570 Schmitt 1998c, S. 110. 571 Zur Beziehung zwischen Carl Schmitt und Donoso Cortés, siehe die Studie von Renato Lessa, Agonia, Aposta e Ceticismo. Ensaios de filosofia prática (2003, S. 29f.) 572 Schmitt 2004b, S. 66. 573 Strauss 1998, S. 100. 574 Schmitt 2004b, S. 61 und 67.
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suchungskommission zu antworten“.575 Die Aufhebung der fundamentalen politischen Entscheidung und folglich die Übertragung der Verantwortung sind Eigenschaften, die vom liberalen Bürgertum nicht getrennt werden können, das glaubte, dass die moralische Vervollkommnung mit der öffentlichen Verwendung der Vernunft käme. Der Fortschritt der aufklärerischen Vernunft findet seine Zeichen in den vitalen Aspekten des Liberalismus: Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Bildung. Für Schmitt aber endet der Glaube an die Herrschaft der Meinung als Zentrum der Wahrheitsbildung darin, dass diese von wirtschaftlichen Interessen und individuellen und parteilichen Vorteilen beherrscht wird. Die öffentliche Meinung erzeugt die Illusion einer Identität zwischen Liberalismus und Demokratie. Im Übrigen habe der Liberalismus die Verwandlung der Gesellschaft in eine Demokratie der Massen überhaupt nicht bemerkt. Die Pressefreiheit, das Diskussionsund Ausdrucksmittel der öffentlichen Meinung ist, stellt ein autonomes Reich der Wahrheitsenthüllung dar. Doch bald schon werden die Hauptprinzipien der Bildung und der freien Meinungsäußerung der rigorosen Zensur durch die bürgerliche Moral unterworfen. Der heilige Raum des Privaten wird zum Gegenstand einer ständigen Kontrolle, und die Freiheit wird einer ununterbrochenen Überwachung unterworfen. Schmitt greift die Ideen von Hobbes wieder auf, um der Säkularisierung des Politischen eine Kontinuität zu verleihen. Doch auch wenn er einerseits dem englischen Philosophen als Pionier des Säkularisierungsprozesses huldigt, so glaubt er andererseits auch, dass Hobbes durch einen Prozess der Technifizierung und der Neutralisierung den Weg für eine neue Verdunkelung der Herrschaft des Politischen bereitet habe: Für unseren Zusammenhang – die geistige Verortung Hobbes‘ – bleibt jetzt noch die wichtigste Frage zu klären: seine Stellung in dem Prozess der sogenannten Säkularisierung, in der fortschreitenden Entchristlichung und Entgöttlichung des öffentlichen Lebens. Es war ein Prozess stufenweiser Neutralisierungen, die schließlich bei dem methodischen Atheismus und der „Wertfreiheit“ der Wissenschaft endeten und das Zeitalter einer wissenschaftlichtechnisch-industriellen Zivilisation herbeiführten.576
Für Schmitt ist die von Hobbes verteidigte Neutralisierung der theologischen Gewalten von unschätzbarem Wert. Hobbes neutralisierender Positivismus ist nicht der Positivismus des technischen und industriellen Fortschritts. Hobbes Positivismus verschließt sich nicht der Transzendenz und damit auch nicht der Kontingenz. Das bedeutet, dass sein Positivismus der Auffassung eines autonomen Funktionierens der Macht keinen Raum gibt, denn die Macht, so weist Schmitt mit Verweis auf den englischen Philosophen selber hin, leitet sich nicht von einem ihr immanenten autonomen Mechanismus ab, weil „subjection, command, right and power are accidents, not of powers but of persons“.577 Dieses Zitat von Hobbes fragmentiert jegliche der Welt immanente Auffassung, denn es offenbart, dass 575 Schmitt 2004b, s. 66. 576 Schmitt 2003a, S. 160f. 577 Hobbes 1985, S. 601.
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Macht, Entscheidung und Befehl kontingent sind, genauer, dass sie von Menschen sind, wodurch deutlich wird, dass sein Positivismus nicht neutral ist und ebenso wenig im Nihilismus endet. Hobbes Positivismus ist der Transzendenz, der Entscheidung der souveränen Person gegenüber offen. Dies wurde ganz richtig von Giuseppe Antonio di Marco in seiner Unterscheidung zwischen Hobbes Positivismus und dem wissenschaftlichen Positivismus der Naturwissenschaften festgestellt: Con quel positivismo scientifico-naturalistico, neutrale in senso tecnico-funzionalistico, presente parimenti nel suo pensiero, Hobbes, sta anche all’origine di un processo di secolarizzazione che, nel suo sviluppo, va a finire in un positivismo ateo e nichilista, presunto neutrale, il quale è i’opposto del postivismo hobbesiano, che non occulta il suo fondamento decisionistico, né esclude l’apertura alla trascendenza.578
Schmitt anerkennt Hobbes Verdienst, den Säkularisierungsprozess, der ein wahrer „Fortschritt“ gewesen sei, in Gang gesetzt zu haben, andererseits aber habe der englische Philosoph auch Raum gelassen, um den Staat in ein bloßes technisches Instrument, in eine Maschine zu Diensten der Partikularinteressen zu verwandeln. Dennoch reduziert Hobbes juristischer Positivismus die Transzendenz des persönlichen und dezisionistischen Charakters der Macht nicht auf die Immanenz der technisch-funktionalistischen Macht. Hobbes säkularisierende Auffassung, die von Schmitt wieder aufgenommen wurde, besteht in der Unterwerfung der geistlichen Macht der Entscheidung unter das Subjekt der Souveränität der zeitlichen Macht. Das Grundlegende an Schmitts Perspektive ist, dass Hobbes so die Säkularisierung, d.h. die Neutralisierung der indirekten oder unsichtbaren Macht der Theologie begonnen hatte. Schmitt zufolge ist sein säkularisierender Kampf eine geschichtliche Voraussetzung des modernen europäischen Staates. Die säkularisierende Wirkung der Neutralisierung der theologischen Politik der Kirche schuf die Bedingungen für das staatliche Monopol des Politischen, aber auch die Bedingungen für dessen Zerstörung: den geheimen Raum des Privaten. Der Zweck von Schmitts Säkularisierungsbegriff, in dem er Freundschaft und Feindschaft als ein vom Begriff des Politischen untrennbares Kriterium bestimmt, ist es, die Feindschaft durch die Neutralisierung der absoluten Feindschaft zu relativieren. Die Quelle dieser Feindschaft beruht in der Innerlichkeit des Glaubens, der, einmal nach außen gekehrt, den fanatischen Hass des Bürgerkriegs auslöste. Der theologische, im intimen individuellen Forum erhalten gebliebene Rest bildet aus Schmitts Sicht ein gefährliches politisches Geheimnis, den Dünger einer spezifischen Ausdrucksform der Feindschaft: die absolute Feindschaft. Genau deshalb postuliert Schmitt eine Sphäre des Politischen, in der die Feindschaft relativiert und von ihrem religiösen Charakter getrennt werden kann, da „wohin man immer das Religiöse stellt, es zeigt überall seine absorbierende, verabsolutierende Wirkung, und wenn das Religiöse das Private ist, so ist infolgedessen auch das Private religiös geheiligt“.579 Das Fehlen einer scharfen Trennung von Innerem 578 Marco 1999, S. 97. 579 Schmitt 1984, S. 48.
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und Äußerem führt zu einem Amalgam aus privatem und öffentlichem Raum und zudem zu der Tendenz, das Öffentliche den Überzeugungen von Einzelwesen, insbesondere der Inhaber des Kapitals und ihrer Produktionsmittel, zu unterwerfen. Aus Sicht der Bedeutung von Schmitts Säkularisierungsbegriff, wie sie in Der Begriff des Politischen dargestellt wird, sind die Manifestationen der unsichtbaren Mächte des privaten, „apolitischen“ Raumes, deren indirekte, verhüllte, subtile Ausübung, die klare Begriffe, scharfe Unterscheidungen und Grenzen auflösen, reale und konkrete politische Ausdrucksweisen. Die indirekte und verhüllte Ausübung der politischen Macht durch den sozialen Boykott, die wirtschaftlichen Embargos, die Kriminalisierung der politischen Feinde durch die Ethik, die Wirtschaft und das Recht sind für Schmitt nicht anders als die Art und Weise, in der die kirchliche Macht von der Exkommunikation Gebrauch machte.580 Diese unsichtbare Macht, die liberal-positivistische Matrix, fördert die Verhüllung der konkreten Wirklichkeit, der historischen Einmaligkeit, des politischen Moments der Gegenwart durch universelle Prinzipien, deren Ziel die Schaffung allgemeiner Gesetze der Geschichte ist, denen sich niemand entgegenstellen kann. Sollte sich jemand diesen Manifestationen der unsichtbaren oder indirekten Macht widersetzen, wird er zum Bösewicht der Menschheit oder zum absoluten Feind des Fortschritts der Menschheit, der den Geschichtsphilosophien immanent ist. In seinem Bemühen, diese Art von Schwindel, wie die spitzfindige Unterscheidung, die die Erfahrung der Vergangenheit gegen den Fortschritt der Zukunft, die Freiheit der Alten gegen die Freiheit der Modernen, die Tradition gegen die novitas ins Feld führt, aufzudecken, warnt Schmitt vor dem politischen Gehalt dieser Formulierungen. Diese politischen Waffen der unsichtbaren oder indirekten Macht resultieren in der Negierung der konkreten politischen Wirklichkeit der Gegenwart im Namen der Verwirklichung des Ideals von Morgen. Wie wir bereits im zweiten Kapitel gesehen haben, besteht eine der Bedeutungen, die der Jurist dem Säkularisierungsbegriff zuweist, in der Verwirklichung eines Ideals in der Welt. Die Verwirklichung der Idee kann nur durch ein konkretes Subjekt der politischen Souveränität, durch eine absolute Instanz erfolgen, was eine Entscheidung durch eine Person in der Wirklichkeit der Gegenwart erfordert. Die Übertragung der jüdisch-christlichen Eschatologie auf diese Welt offenbart sich in einem der Geschichte immanenten telos, in dessen Entwicklung die Verwirklichung des Ideals des Fortschritts eingeschrieben ist, der mit der humanitärmoralischen Vervollkommnung einhergeht. Diese Art von Glauben verdunkelt die politische Handlung, da jede Erklärung oder Entscheidung ihre Legitimitätsquelle im Horizont einer progressiven Geschichte findet. Gegen diese Waffen führt Schmitt seinen Begriff der Ausnahme ins Feld. Die Anwendung dieses Begriffs bewirkt einen Riss in jeder Art immanenter Gesetzessysteme, die in sich geschlossen sind. Es ist dabei gleichgültig, ob dieser Typ von Legitimität, der diesem System immanent ist und unter das sich jeglicher die Menschheit betreffender Aspekt subsumieren lässt, in der Gesetzeskonformität des Fortschritts der bürgerlichen Geschichte oder in der Allmacht der den wirtschaftlichen und juristischen Geset580 Schmitt 1955a, S. 150.
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zen immanenten Herrschaft liegt.581 Wichtig ist, dass im Licht der säkularisierenden Vorstellungen des Juristen diese Waffen, die über eine hohe Überzeugungsund Zerstörungskraft verfügen, immer unpersönlich sind. Der Widerstand gegen diese Ideen äußert sich immer als unvernehmbare Dreistigkeit, als absolute Zuwiderhandlung gegenüber einer unerbittlichen Macht: gegenüber den Gesetzen der Geschichte, den wirtschaftlichen Gesetzen des Marktes, gegenüber der Menschheit, der Gesellschaft und dem Gesetzgeber, deren aller Legitimitätsquelle eine abstrakte, dieser Welt immanente Unpersönlichkeit ist. Das unparteiische Gesetz, die anonyme Gesellschaft, die Menschenrechte, die Selbstregulierung des Marktes müssen entlarvt werden.582 Angesichts des wachsenden Glaubens an die Legitimität der generischen, abstrakten und unpersönlichen Rationalität macht Schmitt Hobbes Fragen zu den seinen: Quis judicabit? Quis interpretabitur?583 Der ganze zweite Teil des Leviathan steht unter dieser Fragestellung und wird als politische Untersuchung dessen, der die Autorität der Heiligen Schriften besitzt oder woher diese ihre Autorität beziehen, ausgeführt. Wer entscheidet darüber, was heilig und was profan, was apokryph oder authentisch, was Verbrechen oder Sünde sei? Während Hobbes die Autorität, von der die Wahrheit der religiösen Überzeugungen ausgeht, untersuchte, ging Schmitt der Frage nach, wer über die Ausnahme, d.h. über die Aufhebung der juristischen Ordnung entscheidet. Wer entscheidet über die faktische oder juristische Normalität? Wer entscheidet über die wahre Geschichtsphilosophie?584 Wer entscheidet über den Bruch des prozessualen Funktionsmodus der Geschichte, genauer über den immanenten und teleologisch auf den Fortschritt ausgerichteten Prozess? Und schließlich: Wer verfügt über das Monopol der wichtigsten Entscheidung über Freund oder Feind? Die Antwort auf diese Fragen setzt einen konstanten Kampf zur Durchsetzung einer Wahrheit in dieser Welt voraus. Souverän ist, wer über Wahrheit, den Ursprung einer metaphysischen Vorstellung oder über die Bedeutung, die dem sozialen und politischen Leben eine Richtung zu geben vermag, entscheidet. Die liberale Metaphysik zum Beispiel findet ihr Fundament in dem Glauben an ein natür581 Die Allmacht des Gesetzgebers oder des Gesetzes, genauer die Sakralisierung der generischen und abstrakten Normen wurde im ersten Kapitel dieser Arbeit diskutiert. Dort habe ich dargelegt, wie Schmitt in Gesetz und Urteil die Idee der Entscheidung dem Gesetz entgegenstellt, um ganz deutlich die Kontingenz aufzudecken, d.h. um den unentrinnbaren Charakter der Anwendung der abstrakten und generischen Norm auf den konkreten Fall der Wirklichkeit zu offenbaren. Diese Vorstellung ist für Schmitt in seiner Diskussion der politischen Anwendung allgemeiner Gesetze in der Geschichte, genauer der Geschichtsphilosophien, relevant. Die politische Manipulation der Geschichtsphilosophien wird von Schmitt gelegentlich in verschiedenen Arbeiten untersucht, insbesondere in den Studien Drei Möglichkeiten eines christlichen Geschichtsbildes (1950) und Die geschichtliche Struktur des heutigen WeltGegensatzes von Ost und West. Bemerkungen zur Ernst Jüngers Schrift: „Der Gordische Knoten“ (1955). 582 Interessanterweise würde Schmitt diesbezüglich Hans Kelsens Aussage in Gott und Staat zustimmen. 583 Schmitt 2003a, S. 166f, 172–174. 584 Schmitt 1950b, S. 927.
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liches Recht, das in der staatlichen Macht Form anzunehmen vermag.585 Aus Schmitts Sicht findet ein ständiger Disput um die Frage statt, wer über die politische Bedingung der Möglichkeit oder Gültigkeit des geltenden metaphysischen Weltbildes entscheidet. Schmitts Kampf gegen die Grundlagen der liberalen und positivistischen metaphysischen Weltbilder entspringt ihrem apolitischen, unsichtbaren, indirekten Charakter, der die politische Verantwortung auf die Geschichte, den Gesetzgeber, die Menschheit und die Marktgesetze überträgt. Die Negierung der politischen Wirklichkeit, der zufolge es immer konkrete Menschen sind, die über konkrete Menschen herrschen, und der zufolge die Stabilität einer juristischen Ordnung von einer transzendenten souveränen Macht ausgeht, stellt nicht nur eine Verantwortungslosigkeit dar, sondern auch das Risiko einer Instabilität. Indem die konkrete Wirklichkeit verdeckt wird, wird ein Ozean von Unsicherheiten und Unbestimmtheiten erzeugt, wie z.B. darüber, ob es nun der Staat sei, der regiert, oder der Finanzmarkt. Die Unvorhersehbarkeit bezüglich dessen, der über das Monopol der letzten Entscheidungen verfügt, bezüglich des souveränen Subjekts der Entscheidung, wer Freund oder Feind sei, setzt das existentielle Überleben einer Gemeinschaft als politische Einheit aufs Spiel. Daher die Ablehnung jeglicher Art von Aufhebung fundamentaler politischer Entscheidungen, wie es im parlamentarischen System der liberalen Demokratie geschieht. Die Aufhebung einer Entscheidung zur Verwirklichung einer Idee in der Welt führt zu dem, was Schmitt eine Anpassung nennt, die in der Übertragung der Verantwortung auf ein anderes Subjekt des Anspruchs auf die souveräne politische Macht beobachtet werden kann. Die Unentschiedenheit kann zum Gipfel des Verlusts der letzten Entscheidungen und damit zu einem globalen Bürgerkrieg führen: es ist die Rückkehr des Terrorismus, der absoluten Feindschaft der religiösen Bürgerkriege. Deshalb muss man wissen, wer über die metaphysische Projektion entscheidet, die in der konkreten Wirklichkeit gelten wird. Ob sichtbar oder unsichtbar, eine Wahrheit kann sich in der Welt nur mittels einer Autorität durchsetzen, sie kann nur durch eine Entscheidung ontischen Status erlangen oder sich verkörpern. Wo es eine Ordnung gibt, gibt es immer ein Minimum an transzendenter Idee, da die irdische Immanenz586 sich nicht selber konstituiert, sie regiert 585 Schmitt 2003d, S. 11. 586 Wie wir im vorhergehenden Kapitel gesehen haben, entspricht dieses Minimum an Transzendenz einer Idee, die nur dann in der Lage ist, der Wirklichkeit eine Form zu geben, wenn sie von einer höheren Instanz her kommt, d.h. wenn sie von oben kommt. In Römischer Katholizismus und Politische Form bemerkt Schmitt, dass „solange nämlich ein Rest von Idee besteht, auch die Vorstellung herrscht, dass vor der gegebenen Wirklichkeit des Materiellen etwas präexistent ist, transzendent, und das bedeutet immer eine Autorität von oben“ (Schmitt 1984, S. 45). In diesem Sinne gibt es dem Juristen zufolge eine symbolische Analogie zwischen dem Schöpfergott und dem Subjekt einer konstituierenden Macht, das über Form und Modus zu entscheiden vermag, d.h. über die Idee, durch die eine Masse Einheit und politische Existenz erlangt. Der Bibeltext „Es gibt keine staatliche Macht, die nicht von Gott kommt“ (Römer 13:1) weist eine Struktur auf, die er mit dem Subjekt der konstituierenden Macht, das von der Höhe seiner Stellung herab über den Modus und die Form der politischen Existenz entscheidet, gemeinsam hat. Kurz: Dieser Interpretation zufolge gibt es keine politische Einheit, die nicht einer Idee entspringt, welche nur von oben kommen kann, da die Transzendenz
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nicht von sich aus und sie erklärt sich auch nicht selber. So wird es möglich, die Rolle zu verstehen, die die Kontingenz, genauer die Ausnahme in Schmitts Souveränitätsbegriff spielt. Die wichtigste Frage, auf die sowohl die Politische Theologie als auch Der Begriff des Politischen eine Antwort zu geben versuchen, findet sich in der Entpolitisierungswelle, die das 20. Jahrhundert erfasste. Im 19. Jahrhundert mit der Verschiebung des Zentrums des geistigen Lebens zu einem wirtschaftlich-technischen Bereich begonnen, war die Entpolitisierung ein Reflex der technischen Entwicklung in verschiedenen Bereichen, wie z.B. des Rechts und der Wirtschaft. Sowohl auf der Ebene der internen Staatsbeziehungen, als auch auf der Ebene der internationalen Beziehungen fand eine Bewegung zur Ausmerzung des politischen Charakters der Beziehungen durch die indirekte oder angeblich apolitische Ausübung der Macht durch die Wirtschaft, das Recht und durch eine Welle des Pazifismus statt. Man glaubte, dass die Menschheit sich auf dem Weg zur Überwindung der eminent politischen Spannungen befand.587 Es fand eine Bewegung statt zur Unterordnung der politischen Sphäre unter die Ausweitung der nationalen Ökonomien und Märkte, unter die Moralisierung und Reglementierung der kriegerischen Konflikte, unter die Interessen der privaten Verbände im Allgemeinen. Die fortschreitende Neutralisierung und Entpolitisierung war eine Folge der aufklärerischen Reminiszenz der menschlich-moralischen Vervollkommnung des 18. Jahrhunderts, der Planung und der Berechnung einer auf dem progressiven telos beruhenden Geschichte. Das erklärte zum Beispiel die expansive Verrechtlichung der internationalen Konflikte, die überall zu beobachtende Übernahme der Gesetzesanonymität anstelle der von Menschen über Menschen ausgeübten Herrschaft. Nun, Schmitt will zeigen, dass die indirekte und unsichtbare Ausübung der Macht durch liberale, positivistische, pazifistische oder imperialistische Ideen deshalb nicht aufhört, eine konkrete Manifestation des Politischen zu sein. Die Entmilitarisierung der Kriegsbegriffe, die angebliche Entpolitisierung der politischen Intervention sind Formen der Neutralisierung der Unterscheidungen im politischen Bereich. Der Säkularisierungsbegriff ist Schmitts wichtigste Waffe in seinem Bestreben, die konkrete Möglichkeit eines existentiellen Kampfes zwischen den Menschen zu enthüllen. Die Säkularisierung besitzt eine hermeneutische Bedeutung, die in der Lage ist, die wichtigsten Unterscheidungen aufzudecken, mit deren Hilfe der existentielle Horizont des menschlichen Lebens aufgezeigt werden kann. Schmitts Denken wird von einem Pathos der letzten Unterscheidungen588 und Entscheidungen beherrscht. Im letzten Kapitel habe ich dargelegt, wie die Säkularider Struktur der Idee inhärent ist (Schmitt 2003d, S. 75–77). Wenn die Idee von unten käme, wäre sie zur Form unfähig, wäre dem Zweck, eine unförmige Masse zu konstituieren und zu ordnen nicht gewachsen, da sie sich in der Vielfalt der Individualitäten fragmentieren würde. 587 Preuß 2003, S. 20. 588 In ihrer Auseinandersetzung mit dem Problem des Autoritätsverlusts und der Unsicherheit in der Welt, weist Hannah Arendt auf die Notwendigkeit klarer Unterscheidungen hin. Ich denke, dass Schmitt Arendt in Bezug auf die Wichtigkeit, Unterscheidungen zu treffen, zugestimmt hätte. Vgl. Arendt 1979, S. 132.
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sierung versucht, die kontingente Dimension der faktischen Wirklichkeit offenzulegen und so die politische Entscheidung zur Verwirklichung eines Ideals aufdeckt. Nun geht es nicht darum, die Spannung zwischen Sein und Sollen, sondern die von den Normierungen nicht nur der liberalen, imperialistischen Politiken, sondern auch des Status quo im Allgemeinen verdeckten Virtualität des Seins oder Nichtseins menschlicher Kollektive aufzudecken.589 Schmitt bemerkt dazu: Hier handelt es sich nicht um Fiktionen und Normativitäten, sondern um die seinsmäßige Wirklichkeit und die reale Möglichkeit dieser Unterscheidung. Man kann jene Hoffnungen und erzieherischen Bestrebungen teilen oder nicht; dass die Völker sich nach dem Gegensatz von Freund und Feind gruppieren, dass dieser Gegensatz auch heute noch wirklich und für jedes politisch existierende Volk als reale Möglichkeit gegeben ist, kann man vernünftigerweise nicht leugnen.590
Durch die Säkularisierung des Politischen ist es möglich, die unentrinnbare Möglichkeit des Kampfes um die Existenz zwischen verschiedenen Kollektiven sichtbar zu machen. Deshalb versucht die Säkularisierung das Unterscheidungskriterium sichtbar zu machen, das ein angemessenes Maß zur Bestimmung dessen, was gegenüber dem Theologischen, Moralischen, Wirtschaftlichen oder Ästhetischen als politisch zu gelten hat, anbieten kann. Der Säkularisierungsbegriff ist eine politische Waffe, deren Anwendung es erlaubt, die Grenzen der Normativität und die Reichweite ihrer Abstrahierungen aufzuzeigen, wobei es gleichgültig ist, ob ihre Quelle moralischer, wirtschaftlicher, ästhetischer oder theologischer Natur ist. Säkularisieren heißt nicht, das Politische zu schaffen, sondern es durch das Angebot eines heuristischen Kriteriums verständlich zu machen. Die Säkularisierung will den Menschen die kritische Situation bewusst machen, in der sich der Sinn der existentiellen Wirklichkeit des menschlichen Daseins offenbart. So wird das menschliche Verhalten in dem Moment, in dem ein anderes Wesen, dessen Manifestation die reale Möglichkeit offenbart, in der Grenzsituation von Töten oder Sterben gegenwärtig oder abwesend zu sein, verleugnet wird, unverständlich. Die existentielle Voraussetzung des Menschen kann nicht auf Begriffe reduziert werden, aber die Anwendung der Sprache besteht in einer Form des Ausdrucks von Antagonismen, deren polemische Bedeutung sich nur in der Struktur eines politischen Begriffes durch die Bezugnahme auf eine konkrete Situation, die ihn hervorbrachte, erhalten kann.591 Die Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis der Bedeutung des Begriffs ist immer eine politische, d.h. die Bestimmung des Feindes in einer konkreten Situation kann den Sinn des Begriffes offenlegen. So haben alle politischen Begriffe, Vorstellungen und Worte einen polemischen Sinn; sie haben eine konkrete Gegensätzlichkeit im Auge, sind an eine konkrete Situation gebunden, deren letzte Konsequenz eine (in Krieg oder Revolution sich äußernde) Freund-Feindgruppierung ist, und werden zu leeren und gespenstischen Abstraktionen, wenn die Situation entfällt. Worte wie Staat, Republik, Gesellschaft, Klasse, ferner: Souveränität, Rechtsstaat, Absolutismus, 589 Hofmann 2002, S. 106. 590 Schmitt 2002b, S. 28f. 591 Schmitt 2002b, S. 30.
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Diktatur, Plan, neutraler oder totaler Staat usw. sind unverständlich, wenn man nicht weiß, wer in concreto durch ein solches Wort getroffen, bekämpft, negiert und widerlegt werden soll.592
Schmitts Aussage in Politische Theologie, wonach alle prägenden Begriffe der modernen Staatstheorie säkularisierte theologische Begriffe seien, wird im Lichte der „polemischen Begriffe“, die in Der Begriff des Politischen aufgezählt werden, verständlich. Alle säkularisierten theologischen Begriffe des modernen europäischen Staates sind polemische Begriffe und haben ihren Ursprung in den Kämpfen zwischen Juristen und Theologen. Die theologischen Begriffe wurden ausgehend von den Kämpfen zwischen Vertretern der geistlichen (unsichtbaren) Gewalt und jenen der zeitlichen (sichtbaren) Gewalt säkularisiert oder neutralisiert und ermöglichten so spezifische begriffliche Formulierungen, die nicht möglich gewesen wären, wenn sie nicht aus der Neutralisierung oder Eliminierung der schon existierenden begrifflichen Auffassungen hervorgegangen wären. Die von den Juristen gewonnene Kontroverse in Bezug auf die Säkularisierung, genauer in Bezug auf die Unterwerfung der Entscheidung über die von den Theologen der römischen Kirche monopolisierten Unterscheidungen und Begriffe – z.B. in Bezug auf die Entscheidung über den Feind –, emanzipiert das Politische. In den Kämpfen um die politische Macht findet immer ein semantischer Austausch, eine semantische Übertragung, eine Metamorphose statt. Der Kampf um die Begriffe ist immer politisch, denn diese können existentielle Konflikte rund um begriffliche, bis dahin unbekannte Auffassungen auslösen. Aus Schmitts Sicht wird die Neutralisierung der politischen Bedeutung der theologischen Begriffe, wie dies z.B. mit dem Begriff der Exkommunikation geschah, nur durch die polemische Situation der Feindschaft zwischen Theologen und Juristen möglich.593 Zum Schluss sei nochmals betont, dass aus Schmitts Sicht die Säkularisierung immer ein unvollendeter Prozess ist, da die säkularisierte Dimension, genauer die existentielle Dimension des Politischen sich aufgrund der Schwierigkeit zu akzeptieren, dass es zwischen Menschen Gegensätze gibt, als etwas Nicht-Tolerierbares darzustellen scheint. Die Säkularisierung des Politischen ist die Voraussetzung zur Eindämmung der Möglichkeit ernster Konflikte. 3.6. Das Politische als Voraussetzung des Staates Schmitt beginnt das erste Kapitel seiner Studie Der Begriff des Politischen mit folgenden Worten: „Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus.“594 Diese Aussage deckt sich, wie wir noch sehen werden, mit jenem ersten Satz des ersten Kapitels über die Definition der Souveränität in seiner Arbeit Politische Theologie: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“595 592 593 594 595
Schmitt 2002b, S. 31. Schmitt 1997, S. 91. Schmitt 2002b, S. 20. Schmitt 2004b, S. 11.
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Die Unterscheidung zwischen Politischem und Staatlichem hat m.E. ihre Wurzeln in der Abhandlung Der Wert des Staates aus dem Jahre 1914, in der Kritik am Positivismus, der Macht und juristische Ordnung gleichsetzte. In seinem Buch Die Diktatur aus dem Jahre 1921 deutete Schmitt – sich an dem Begriff der Ausnahme ausrichtend – bereits an, dass die Aufhebung der gewöhnlichen juristischen Ordnung nicht die Eliminierung einer regierungsfähigen Staatsautorität, die die gegebene Ordnung wiederherzustellen vermag, bedeutete. Die Doktrin der Souveränität lehrt, dass die konkrete Bedrohung der Normen einer juristischen Ordnung die Unterscheidung zwischen Normen des Rechts und Normen der Rechtsverwirklichung erfordert. Angesichts der Gefahr einer Auflösung der juristischen Staatsordnung müssen die Rechtsnormen aufgehoben werden, damit das dem Ideal der Normen zugehörende Recht realisiert werden kann. In der Ausnahme offenbaren die Rechtsnormen ihre Ohnmacht angesichts der konkreten Situation oder der äußersten Notlage, die die Existenz des Staates aufs Spiel setzt. Die Abtrennung des Ideals der Rechtsnormen vom Verwirklichungsrecht erlaubt es, das Recht ausgehend von der souveränen Macht zu verwirklichen, die deshalb nicht aufhört, legal zu handeln, da sie durch die Rechtsverwirklichung legitimiert bleibt. Die Rechtsverwirklichung, zu der das normative Recht unfähig ist, ist ein Attribut des Subjekts der Souveränität, das in seinem Handeln nicht seinen Privatinteressen folgt, sondern dem Zweck der Rechtsidee, der darin besteht, die Erhaltung der juristischen Ordnung zu sichern. Ist der Zweck der Rechtsnormen einmal erreicht, muss die Macht des Souveräns hinfällig werden, ansonsten er sich in einen Tyrannen verwandelt: „Eine Diktatur, die sich nicht abhängig macht von dem einer normativen Vorstellung entsprechenden, aber konkret herbeizuführenden Erfolg, die demnach nicht den Zweck hat, sich selbst überflüssig zu machen, ist ein beliebiger Despotismus.“596 Im erwähnten Buch über die Diktatur kündigt der Jurist bereits an: „Wer den Ausnahmezustand beherrscht, beherrscht daher den Staat, denn er entscheidet darüber, wann dieser Zustand eintreten soll und darüber, was alsdann nach Lage der Sache erforderlich ist.“597 Die Beherrschung der Ausnahme zur Einführung oder Wiederherstellung der Ordnung, der inneren Ruhe und Sicherheit ist die politische Möglichkeitsbedingung zur Schaffung des normalen Zustands, der in der Voraussetzung besteht, damit die juristischen Normen gelten können.598 Die Studien über den Wert des Staates, die Diktatur, die politische Theologie und den Begriff des Politischen weisen alle eine gemeinsame Wurzel auf: die säkularisierende Unterscheidung zwischen der Rechtsnorm und der souveränen politischen Entscheidung, deren Legitimität der Fähigkeit entspringt, das Recht zu verwirklichen und einen Normalzustand herbeizuführen. Die politische Entscheidung wird weiterhin durch die Zwecke des Rechts begründet und bleibt somit legitim, da sie die juristischen Absichten der Verminderung der Kontingenz oder der Unvorhersehbarkeit verfolgt, die die Geltung der juristischen Normen verhindert. Die genannte Unter596 Schmitt 1994f, S. XVII. 597 Schmitt 1994f, S. 17. 598 Schmitt 2002b, S. 46.
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scheidung zwischen Rechtsnorm und Entscheidung zur Verwirklichung des Rechts ist deshalb säkularisierend, weil sie dem Politischen, d.h. der persönlichen souveränen Autorität, die die Einheit des politischen Verbunds erhält, Sichtbarkeit verleiht. Deshalb zeigt sich der Jurist im Begriff des Politischen auch bemüht aufzuzeigen, dass der Normalzustand die Sichtbarkeit oder Säkularisierung des Politischen, genauer die Klärung der Frage voraussetzt, wem die souveräne Autorität zukommt, darüber zu entscheiden, wer Freund und wer Feind sei, die Grenzen zwischen juristischer Ordnung und Unordnung zu bestimmen und die räumlichen Grenzen zwischen Innerem und Äußerem zu ziehen. Die Leistung eines normalen Staates besteht aber vor allem darin, innerhalb des Staates und seines Territoriums eine vollständige Befriedung herbeizuführen, „Ruhe, Sicherheit und Ordnung“ herzustellen und dadurch die normale Situation zu schaffen, welche die Voraussetzung dafür ist, dass Rechtsnormen überhaupt gelten können, weil jede Norm eine normale Situation voraussetzt und keine Norm für eine ihr gegenüber völlig abnorme Situation Geltung haben kann.599
Sowohl im Vorwort zur Ausgabe von 1963 der Arbeit Der Begriff des Politischen als auch in der Einleitung zur zweiten Auflage der Politischen Theologie aus dem Jahre 1934 lassen sich einige Hinweise auf Schmitts Verständnis des Säkularisierungsbegriffs und dessen Beziehung zum Begriff des Politischen finden. Aus der Lektüre des letzteren lässt sich schließen, dass „ohne den Begriff einer Säkularisierung ein Verständnis der letzten Jahrhunderte unserer Geschichte überhaupt nicht möglich ist“.600 Weshalb aber ist die Säkularisierung für das Verständnis des Politischen unverzichtbar? Weshalb das Politische und nicht die Politik zum Thema machen, wie dies Aristoteles getan hatte? Schmitts Ausgangspunkt ist die Unmöglichkeit, das Politische zu verstehen. Diese Unverständlichkeit verdankt sich seiner Negierung, genauer, der Opposition gegen das Politische. Schon in der Politischen Theologie verkündete er: „Heute ist nichts moderner als der Kampf gegen das Politische.“601 Sein Einsatz zielt darauf ab, ein Unterscheidungskriterium für das Politische zu bieten, damit es von anderen Bereichen, wie dem theologischen, dem wirtschaftlichen, dem moralischen, dem juristischen und dem ästhetischen, unterschieden werden kann. Die Aufgabe des Juristen beschränkt sich im Wesentlichen darauf, „‚ein unermessliches Problem theoretisch [zu] encadrieren‘“. Dies bedeutet, dass Schmitt nicht vorhat, mit seiner Untersuchung bis zur
599 Schmitt 2002b, S. 46. 600 Schmitt 2004b, S. 7. 601 Schmitt 2004b, S. 84. In seinem Vortrag Starker Staat und gesunde Wirtschaft, der 1932 veröffentlicht wurde, weist Schmitt darauf hin, dass „vor etwa zehn Jahren ganz Deutschland und die ganze Erde von dem Rufe wider[hallte]: Weg mit der Politik! Man hielt es für die Lösung aller Probleme, die Politik zu beseitigen und durch technische und wirtschaftliche Sachverstände nach angeblich rein sachlichen, rein technischen und rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten alle Fragen zu entscheiden“ (Schmitt 1995g, S. 73).
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Essenz des Politischen vorzudringen602. „Das ist eine Arbeit, die nicht mit zeitlosen Wesensbestimmungen anfangen kann“, sondern das Politische von einem methodologischen Standpunkt aus untersuchen will, „sondern zunächst einmal mit Kriterien einsetzt“.603 Hätte Der Begriff des Politischen also das Ziel verfolgt, das Wesen des Politischen zu erfassen, hätte Schmitt die Möglichkeit eingestanden, dass die Komplexität des Politischen auf einen Begriff reduziert werden kann, was aber nicht in seinem Sinn zu stehen schien. Sonst hätte er den Leser nicht wissen lassen, dass die Analyse des Politischen ein „unermessliches Problem“ darstellt. Schmitt versucht also nicht, dem Politischen einen spezifischen Inhalt zuzuweisen oder eine politische Doktrin zu formulieren, denn wäre dies seine Absicht gewesen, hätte er die Vielfalt der politischen Umstände und Inhalte aus den Augen verloren. Schmitts Hauptanliegen besteht darin, ein heuristisches Kriterium zur Untersuchung des Politischen zu bieten, da dieses meistens mit dem Staat gleichgesetzt oder aber zumindest mit diesem in Verbindung gebracht wird. Die politischen Begriffe sind unverständlich, wenn das Staatliche als etwas Politisches, oder das Politische als etwas Staatliches begriffen wird.604 Die politischen Begriffe der modernen Staatsdoktrin können die Gleichung nicht länger zufriedenstellen, wonach das Politische mit dem Staatlichen und das Staatliche mit dem Politischen identisch wären. Dieser Teufelskreis verdunkelt die Definition des Politischen, da es nicht möglich ist, diesen auf den zur Zeit der Niederschrift der genannten Arbeit gängigen Begriff des Staates zu verweisen: „der politische Status eines in territorialer Geschlossenheit organisierten Volkes“.605 Hatte das Politische also seinen Status, d.h. seinen staatlichen und territorialen Charakter, und hatte der Status, oder der Staat, seinen politischen Charakter des Monopols der letzten Entscheidung verloren? Schmitt hält sich nicht an obige Beschreibung des Staates, da seine Untersuchung sonst nicht zu einer begrifflichen Definition des Politischen gelangen könnte. Für den Juristen entspricht der Staat einer konkreten existentiellen Situation, genauer einer historischen Manifestation eines bestimmten Zustandes eines Volkes.606 Die staatliche Existenzform eines Volkes wird durch eine konkrete, bestimmende Situation herbeigeführt. Der Staat drückt die politische Existenz eines Volkes als solchen aus; oder, um es redundant auszudrücken: Der Staat besteht aus einer Situation, die ist, wie sie ist, weil sie mit der Wirklichkeit des Seins übereinstimmt.607 Anders ausgedrückt: „Die politi602 Christian Meier vertritt die genau entgegengesetzte Meinung, wenn er sagt: „In seinem Anspruch, den Begriff des Politischen zu erkennen, zielte Carl Schmitt weit hinaus über die Bestimmung des Wortsinns von ‚politisch‘“ (Meier 1988, S. 540). 603 Schmitt 2002b, S. 9. 604 Schmitt 2002b, S. 21. 605 Schmitt 2002b, S. 20. 606 Schmitt 2002b, S. 20. 607 Hasso Hofmann weist darauf hin, dass der Aufsatz Der Begriff des Politischen zur gleichen Zeit von Heideggers Sein und Zeit entsteht, und bezeichnet Schmitts Arbeit als ein für seine Zeit typisches Werk. Hofmann führt aus: „Im Sommersemester des Jahres 1927 wurde an der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin eine Vortragsreihe über ‚Probleme der Demokra-
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sche Einheit“, wie Schmitt sagt, „existiert oder sie existiert nicht“. Das heißt, dass das Sollen nicht das Sein bestimmt, da die politische Existenz nicht von einer juristischen Norm vorhergesehen, geschaffen oder aufgehoben werden kann: „Wenn sie existiert, ist sie die höchste, d.h. im entscheidenden Fall bestimmende Einheit.“608 Die politische Einheit ist die Situation, die in einem entscheidenden Fall den maßgebenden, nicht reduzierbaren, unüberwindbaren und unentrinnbaren Zustand zuweist. Die existentielle Situation der politischen Einheit entzieht sich dem Verständnis der normativen Rationalität. Im Moment des äußersten Konflikts kann vom anderen nicht abstrahiert werden, da nur die in der konkreten Situation Involvierten Träger der Entscheidung sein können, die dem existentiellen Charakter ein Maß und Grenzen setzen kann. Ursprüngliche Bedingung oder ursprüngliches Maß des Seins ist durch die Andersartigkeit gegeben, die den Menschen als ursprünglich sterblich zeigt. Die grundlegende Frage des Politischen besteht darin, dass der Andere, der Feind – und als solcher im Existenzkampf auch anerkannt – Schmitt zufolge auf die „seinsmäßige Ursprünglichkeit“ verweist:609 auf die Endlichkeit des menschlichen Daseins. Das Bewusstsein von der Existenz einer menschlichen Gemeinschaft wird aufgrund der Möglichkeit ihrer physischen Auslöschung unmissverständlich deutlich. Die politische Einheit bewegt sich nicht zwischen Sein und Sollen, sondern zwischen Sein und Nicht-Sein; sie hängt nicht mit einer Normierung zusammen, sondern verweist auf eine Bestimmung der politischen Existenzbedingungen: auf „die Aporien der Endlichkeit des Menschen in seiner Zeitlichkeit“.610 Doch es ist nun nicht mehr möglich, den politischen Status in Bezug auf den Staat zu definieren, da, wie aus der spezialisierten juristischen Literatur zu ersehen ist, die Beschreibungen des Politischen ganz allgemein den Staat als etwas Gegebenes voraussetzen, der keine Fragen aufwirft. Es findet sich keine klare Definition des Politischen. Mehrheitlich wird der Ausdruck in Opposition zu anderen, unterschiedlichen Begriffen verwendet. Das Politische kommt in den Gegensätzen von Politik und Wirtschaft, von Politik und Moral, von Politik und Recht zur Anwendung. Obwohl sich in diesen Gegensatzpaaren bereits den Umständen und dem Kontext entsprechende polemische Gegensätze abzeichnen, bezeichnen sie dennoch keine „spezifische Bestimmung“ des Politischen. Hier wiederholt sich tie‘ abgehalten. Im Rahmen dieser Veranstaltung trug Carl Schmitt, der dann im darauffolgenden Jahre von Bonn an die Berliner Handelshochschule überwechselte, seine Thesen zum ‚Begriff des Politischen‘ vor. Die Niederschrift dieser Rede wurde alsbald veröffentlicht und fand in verschiedenen Fassungen weitere Verbreitung. Schmitts Begriff des Politischen – erstmals übrigens erschienen in demselben Jahre wie Heideggers ‚Sein und Zeit‘ –, diese angeblich ‚einfache und elementare Darlegung‘, deren ‚Archaik‘ in Wahrheit aber das Kunstprodukt einer bestimmten, vielschichtigen geistigen Situation ist, gehört zu seinen brillantesten und bedeutendsten Leistungen, obwohl sie eigentlich die sachlich-fachlich unzulänglichste ist“ (Hofmann 2002, S. 94). 608 Schmitt 2002b, S. 43. 609 Schmitt 2002b, S. 33. 610 Koselleck 2003, S. 98.
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der Teufelskreis, in dem das Politische als das Staatliche als natürliche Referenz erscheint. Nach Ansicht des Juristen gab es eine Zeit, in der der Staat tatsächlich eine selbstevidente Größe gegenüber jeder anderen Form individueller oder kollektiver Existenz darstellte, so dass es möglich war, ihn mit dem Politischen gleichzusetzen. Im 18. Jahrhundert erachtete der Staat die „Gesellschaft“ noch nicht als Gegner, und im 19. Jahrhundert wurde er in Deutschland noch als eine erkennbare Macht gesehen, deren Stellung sich über die Gesellschaft erhob.611 In seiner Arbeit Politische Theologie II (1970), die vierzig Jahre nach dem Begriff des Politischen (1927) verfasst wurde, erklärt Schmitt in Übereinstimmung mit der älteren der beiden genannten Schriften, dass es noch im 20. Jahrhundert „bis zum ersten Weltkrieg612 (1914–1918)“ möglich gewesen sei, eine Orientierung zur Unterscheidung des Politischen zu finden. Der Jurist führt aus: Man konnte an der Fiktion „reiner“ und „sauberer“ Trennungen von Religion und Politik auch im Liberalismus des 19. Jahrhunderts festhalten. Religion, das war entweder Sache der Kirche oder reine Privatsache. Politik aber war Sache des Staates. Beides blieb, trotz unaufhörlicher Kompetenzstreitigkeiten, unterscheidbar, solange die Organisationen und Instanzen als sichtbar verschiedene, irdisch bestimmbare Größen anerkannt in der politischen Öffentlichkeit effektiv auftreten und agieren konnten. Solange das der Fall war, konnte man die Religion von der Kirche her, die Politik vom Staate her definieren.613
Es ist kein Zufall, dass Schmitt in seinem Buch aus dem Jahr 1970 über die politische Theologie die Diskussion über den Begriff des Politischen wieder aufnimmt. Diese steht mit dem Säkularisierungsbegriff in einem Zusammenhang, der in der Fähigkeit beider besteht, im öffentlichen Bereich der Politik politische Größen und Organisationen als „sichtbar verschiedene, irdisch bestimmbare“ zu erklären. Der Säkularisierungsbegriff bezieht sich nicht ausschließlich auf die geistliche Macht der Kirche, sondern auf die Notwendigkeit darauf hinzuweisen, dass die Konfrontation mit jeder Art von geistiger Macht oder Wissensbereich in einer konkreten – existentiellen und irdischen – Situation polemisch werden oder an politischer Intensität gewinnen kann. Solange es existentielle Konflikte zwischen menschlichen Gruppierungen gibt, muss man sich der Frage widmen, was das Politische sei, und den Moment sichtbar machen, in dem die Spannung zwischen geistigen Mächten zu einem existentiellen Kampf wird. Die angebliche Entpoliti611 Schmitt 2002b, S. 23f. 612 Der Erste Weltkrieg bewirkte, indem er sich als „totaler Krieg“ manifestierte, die Beseitigung der „klassischen“ Unterscheidungen, wie die zwischen Freund und Feind, die ihren Ursprung in der Säkularisierung der religiösen Konflikte gehabt hatten: „Der sogenannte totale Krieg hebt den Unterschied von Kombattanten und Nichtkombattanten auf und kennt neben dem militärischen auch einen nichtmilitärischen Krieg (Wirtschaftskrieg, Propagandakrieg usw.) als Ausfluss der Feindschaft.“ Der totale Krieg extrapoliert das rein Militärische und hebt so den Intensitätsgrad der Feindschaft an (Schmitt 2002b, S. 109). Tatsächlich schafft der totale Krieg die klassische Unterscheidung des zwischenstaatlichen Rechts nicht ab, das den Krieg durch die Anerkennung der Feindschaft als justus hostis eingrenzte, sondern macht sie absolut (Schmitt 1997, S. 95). 613 Schmitt 1996c, S. 21 [Hervorhebungen vom Verfasser].
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sierung verwischt die Unterscheidungen, macht sie nebulös, und sie sind, aus der Sicht des Juristen, Zeichen einer Totalisierung des Politischen. Diese Totalisierung wird verstanden als Möglichkeit, dass Alles eine politische Intensität annimmt, was dem Juristen zufolge die Risiken der Kontingenz erhöht. Schmitt war sich sehr wohl darüber im Klaren, dass die Säkularisierung ein unvollendeter Prozess ist,614 denn solange universalistische Tendenzen in der Lage seien, das Politische zu verdecken, solange sei es notwendig, den Säkularisierungsprozess voranzutreiben. Die Illusion des Glaubens an die Autonomie und den Funktionalismus des Normalzustands, in dem die juristischen Normen autonom funktionieren können, muss sichtbar gemacht werden. Der Glaube an eine pazifistische Ordnung, die durch die Existenz eines neutralen und agnostischen Staates garantiert wird und sich an einer Geschichtsphilosophie orientiert, die das Politische auf dem Weg des technischen und wirtschaftlichen Erfolgs zu überwinden glaubt, muss säkularisiert werden. 614 Im Vorwort seines 1992 erschienenen Buches Recht und Demokratie: Faktizität und Geltung legte Jürgen Habermas seine Überzeugung dar, dass die Säkularisierung ein auf die westliche Politik beschränktes Thema sei. Diese Ansicht ist einem normativistischen Denken nicht fremd, das den menschlichen Antagonismus aus seiner Kommunikationstheorie ausschließt. Nur ein Denken, das die Möglichkeit extremer Konflikte ausschließt, kann davon ausgehen, dass wir uns „im Zeichen einer vollständig säkularisierten Politik“ befinden (Habermas 1998, S. 13). Aus dieser Sicht wäre ein gänzlich säkularisiertes politisches Leben ein Leben, das gegenüber der Eventualität zwischenmenschlicher Antagonismen immun wäre und in dem es möglich wäre, eine Demokratie auf prozeduralem Weg und durch kommunikatives Handeln zu errichten. Habermas’ Denken begreift nicht nur nicht die semantische Breite des Säkularisierungsbegriffs, es bietet auch keine Analyse des politischen Charakters der indirekten oder unsichtbaren Gewalten, die die Dimension des Politischen verhüllen. Die Auseinandersetzung mit Autoren wie Carl Schmitt und Michel Foucault vermochte den deutschen Philosophen nicht darauf aufmerksam zu machen, dass jede „geistige Bewegung metaphysisch und moralisch ernst“ genommen werden muss, und zwar unabhängig von ihrem Inhaltsbereich (Schmitt 1998c, S. 8). Die vorausschauende Sicht, der zufolge die „westliche Zivilisation“ von der Radikalität der Konflikte, inklusive der religiösen, befreit sei, stieß am 11. November 2001 an ihre Grenzen. Kurz nach den terroristischen Angriffen schien sich der Philosoph verpflichtet zu fühlen, das Denken über den Säkularisierungsbegriff wieder aufzunehmen, wie aus dem Artikel Säkularisierung, die nicht vernichtet ersehen werden kann (Habermas 2001). Weitere Arbeiten des Autors zeigen, dass es ein Irrtum war, seine juristische und politische Theorie auf der Prämisse einer vollständig säkularisierten Politik aufzubauen. In einer Reihe von Schriften des Philosophen stellt man fest, dass die Säkularisierung nicht aus dem politischen Wortschatz verbannt werden kann, da sie einer korrekten Interpretation bedarf (vgl. Habermas 2005, S. 8). Das Nachdenken über das politische Problem der Säkularisierung findet sich auch in dem 2005 veröffentlichten Buch Dialektik der Säkularisierung von Jürgen Habermas und Joseph Ratzinger. Die Lektüre des Buches, das eine faszinierende Diskussion zwischen der höchsten Autorität der katholischen Kirche und einem der wichtigsten zeitgenössischen Intellektuellen bietet, vermittelt meines Erachtens einen guten Eindruck von der Schwierigkeit, den geistlichen Diskurs vom zeitlichen, den Papst vom politischen Philosophen zu unterscheiden. Es ist interessant zu sehen, wie Habermas an den Prinzipien der liberalen Politik, deren Gehalt die existentiellen Konflikte verhüllt, festhält, während der Papst auf die menschlichen Antagonismen verweist, die im politischen Leben vorhanden sind (Habermas und Ratzinger 2005, S. 18 und 40).
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Die Unmöglichkeit, das Politische zu verstehen, ist Folge der Verquickung von Staat und Gesellschaft, wodurch die Begriffe und Unterscheidungen konfus, ungenau und für das Verständnis der konkreten Situation unangemessen werden. Die Gleichsetzung von Staatlichem und Politischem wird in dem Maße illusorisch, in dem die bislang politischen Themen sozial und die bislang sozialen Themen politisch werden. Bislang neutrale Bereiche, d.h. bislang als nicht-staatliche, nicht-politische begriffene Bereiche wie z.B. die Religion, die Kultur, die Erziehung und die Wirtschaft, nehmen einen potentiell politischen Charakter an. So erscheint ein totaler Staat als polemischer Begriff, d.h. als Macht, die im Konflikt oder im Gegensatz zu jeder Form von Neutralisierung steht: Als polemischer Gegenbegriff gegen solche Neutralisierungen und Entpolitisierungen wichtiger Sachgebiete erscheint der gegenüber keinem Sachgebiet desinteressierte, potentiell jedes Gebiet ergreifende totale Staat der Identität von Staat und Gesellschaft. In ihm ist infolgedessen alles wenigstens der Möglichkeit nach politisch, und die Bezugnahme auf den Staat ist nicht mehr imstande, ein spezifisches Unterscheidungsmerkmal des „Politischen“ zu begründen.615
Dieser Staat des 20. Jahrhunderts ist das Resultat einer historischen Entwicklung, die vom absolutistischen Staat des 18. Jahrhunderts ausging und über den neutralen, als nicht-interventionistisch begriffenen Staat des 19. Jahrhunderts führte. Mit dem Verlust des politischen Monopols des Staates verschwinden alle Unterscheidungen, die aus dem Gegensatz von Staat und Gesellschaft hervorgingen, wie die zwischen dem Religiösen und dem Politischen, dem Kulturellen und dem Politischen, dem Wirtschaftlichen und dem Politischen, dem Wissenschaftlichen und dem Politischen und schließlich dem Juristischen und dem Politischen. Für Schmitt stellt der Säkularisierungsbegriff ein Mittel zur Bestimmung von klaren und sicheren Unterscheidungen dar. Die Säkularisierung verweist gleichzeitig auf einen historischen Prozess, durch den die Konflikte zwischen kirchlicher und politischer Macht neutralisiert worden waren,616 und auf die Möglichkeit, das Politische zu unterscheiden. Aus Schmitts Perspektive ist der heuristische Sinn des Begriffs nicht von seiner historischen Bedeutung zu trennen. Ebenso wenig ist er von dem Verlangen seiner Zeit nach einer Säkularisierung zu trennen, d.h. von der Notwendigkeit, der Definition des Politischen ein angemessenes Maß zu verleihen. Genau deshalb unterstreicht der Jurist im Vorwort zur Politischen Theologie, nachdem er auf die Unmöglichkeit, die vergangenen Jahrhunderte der Geschichte ohne einen Säkularisierungsbegriff zu verstehen, hingewiesen hat: „Inzwischen haben wir das Politische als das Totale erkannt und wissen infolgedessen auch, dass die Entscheidung darüber, ob etwas unpolitisch ist, immer auch eine politische Entscheidung bedeutet, gleichgültig wer sie trifft und mit welchen Beweisgründen sie sich umkleidet.“617 615 Schmitt 2002b, S. 24. 616 Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Neutralisierung von Konflikten zu allererst die Unterscheidung der zueinander in Konflikt stehenden Kräfte verlangt. 617 Schmitt 2004b, S. 7.
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Jetzt können wir begreifen, dass das Politische seine Bedeutung nicht einfach aus einem bestimmten Ort, einer beruflichen Tätigkeit, aus der Ausübung einer spezifischen Funktion bezieht oder durch die normative Verschreibung oder ein politisches Nachschlagewerk zugewiesen bekommt. Außerdem kann jede „apolitische“ Haltung eine verdeckte Form von Politik darstellen. Somit muss immer die konkrete Situation geprüft werden, vor allem in Hinsicht auf das, wogegen sich die apolitische Haltung richtet. Die souveräne politische Entscheidung bestimmt, was politisch und was apolitisch, was kirchlich oder antikirchlich, was staatlich oder nicht-staatlich ist – aber was tun, wenn der Staat dieses Monopol verloren hat? Wie vorgehen, wenn „unser Wortschatz und unsere Phantasie noch tief im 19. Jahrhundert stecken“?618 Schmitt schlägt den Weg der Säkularisierung vor, der die Begriffe auf ihre polemische Bedeutung zurückführt, auf ihre spezifisch politischen Spannungsfelder, deren Kräfte und Gewalten sich fortwährend verändern. Mit diesen Veränderungen verändert sich auch das semantische Feld eines begrifflichen Systems. So bemerkt Schmitt: Der Moment des Umschwungs war gekommen, und die überkommene Begriffsfassade stürzte ein, als der Staat das Monopol des Politischen verlor und andere, effektiv kämpfende politische Größen ihm dieses Monopol streitig machten, vor allem, als eine revolutionäre Klasse, das Industrie-Proletariat, zu einem effektiven neuen Subjekt des Politischen geworden war.619
Ebenfalls in seiner Politischen Theologie II bemerkt Schmitt im Rahmen einiger Bemerkungen zu seiner Arbeit Der Begriff des Politischen: „Das daran sich anschließende systematische Buch wurde infolgedessen eine Verfassungslehre (1928) und keine Staatslehre. Mit anderen Worten: Man kann das Politische heute nicht mehr vom Staate her definieren“.620 Hier zeigt sich deutlich, dass sich Schmitts Denken in der Polemik bewegt und Antworten auf die politischen Fragen sucht, die durch die konkrete Situation der Gegenwart gestellt werden. Die Unmöglichkeit, das Politische auf den Staat zu beziehen, führt ihn zur Untersuchung der Verfassungslehre des staatlichen Modells, genauer, zur Untersuchung dessen, was sich hinter ihrer juristischen, angeblich rational-legalen Fassade versteckt. Was liegt der juristischen Normalität des Staates zugrunde, woran das Vokabular hätte hängenbleiben können? Was sind die politischen Bedingungen der Konstituierung und Erhaltung einer juristischen Ordnung? Obwohl Schmitt immer bestrebt ist, auf gegenwärtige Fragen zu antworten, angesichts derer es keine andere Möglichkeit als den Widerstand gebe, fragte sich der Jurist schon seit seinen ersten Jugendschriften, was denn eine juristische Entscheidung zu einer staatlichen Entscheidung mache. Seine Jugendschriften, die Themen wie Schuld, Gesetz und Entscheidung, den Wert des Staates und die Bedeutung des Individuums untersuchen, folgen einer Richtlinie, sie weisen einen Impuls in Richtung einer Untersuchung der Grundlagen der Geltung des Staates auf. Immer steht die Frage nach einer letzten Unterscheidung im Raum, die es er618 Schmitt 1995g, S. 74. 619 Schmitt 1996c, S. 21. 620 Schmitt 1996c, S. 21.
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laubt, einen politischen Verbund von einer Bande von Terroristen zu unterscheiden. Es ist diese genealogische Besessenheit, dieser Ehrgeiz, die Fundamente der Geheimnisse der Macht aufzudecken, aus dem die Formulierung der Säkularisierung der theologischen Begriffe erwuchs und deren Bedeutung in dieser Arbeit untersucht wird. 3.7. Anthropologie, Singularität und Wiederkehr Schmitt hat seinen Begriff des Politischen nie mit der natürlichen Bosheit oder Güte des Menschen begründet. Ebenso wenig hat er das begriffliche Gegensatzpaar von Freund und Feind auf das christliche Dogma der Erbsünde abgestellt, obwohl er manchmal das biblische Bild benutzt hat, um seine Argumente zu illustrieren. Wenn der Autor den Begriff des Politischen auf den anthropologischen Pessimismus oder Optimismus reduziert hätte, wäre er mit seinem Bestreben, die streng existentielle Bedingung der menschlichen Konflikte zu säkularisieren oder zu entlarven, in Widerspruch geraten. Würde sich die Welt der politischen Möglichkeit der ontologischen Verleugnung eines anderen Seins entledigen, gäbe es schließlich keinen Staat, keine Republik, keine Souveränität, kein Recht. Die Überzeugung des Juristen, der zufolge die politische Aporie nicht aus dem menschlichen Leben hinausgeworfen werden kann, zeigt sich in seinem unermüdlichen Bestreben, die reale Möglichkeit einer gegenseitigen ontologischen Verleugnung durch menschliche Gruppierungen sichtbar zu machen. Dies bedeutet keine Tautologie, denn für Schmitt erstreckt sich die gegenseitige ontologische Verleugnung, die Kollektive bilden oder zerstören kann, nicht auf irgendein Tier, sondern ist eine exklusive Eigenschaft der Menschen.621 Die Schmittsche Analyseachse unterscheidet sich also von politischen Auffassungen, die sich auf der Grundlage von Analogien zwischen menschlichen und tierischen Gemeinschaften, wie jene von Bibern oder Bienen, rechtfertigen. Die Eventualität des Existenzkampfes und vor allem das Bewusstsein seiner Möglichkeit bestimmt eine spezifisch politische Art des Denkens, Handelns und Fühlens, die sich in Form von politischen Unterscheidungen, Ideen und Begriffen ausdrückt. Hätte der Jurist dem Begriff des Politischen ein pessimistisches anthropologisches Fundament verliehen, hätte er sich gezwungen gesehen, Kriterien zu verwenden, die der Autor anderen Bereichen zuweist, wie z.B. der Moral, der Ästhetik usw. Nun aber hat „das Politische […] seine eigenen Kriterien, die gegenüber den verschiedenen, relativ selbständigen Sachgebieten menschlichen Denkens und Handelns, insbesondere dem Moralischen, Ästhetischen, Ökonomischen in eigenartiger Weise wirksam werden“.622 Die Säkularisierung des Begriffs des Politischen besteht in dem Versuch, relativ unabhängige Kriterien zu finden, die der biologischen Endlichkeit des Menschen entsprechen, genauer der „realen Möglichkeit der physischen Tötung“.623 Das Kriterium zur Bestimmung des Politischen 621 Schmitt 1955a, S. 149. 622 Schmitt 2002b, S. 26. 623 Schmitt 2002b, S. 33.
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bezieht sich auf die ontologische Verleugnung eines anderen Seins, so dass es von den letzten Unterscheidungen anderer Bereiche zu unterscheiden ist, wie z.B. im Moralischen die Unterscheidung von „Gut und Böse […]; im Ästhetischen Schön und Hässlich; im Ökonomischen Nützlich und Schädlich oder beispielsweise Rentabel und Nicht-Rentabel“.624 Für Schmitt ist „die spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, die Unterscheidung von Freund und Feind“.625 Das Kriterium des Politischen ist das Bemühen, das Politische von anderen Inhalten zu unterscheiden, insbesondere vom Moralischen, da es sehr schwierig ist, den Feind nicht zu stigmatisieren oder zu verachten. Den Feind zu lieben oder zu hassen macht nur auf der privaten Ebene Sinn. Das Gebot „Liebet eure Feinde“ (Matthäus 5:44; Lukas 6:27) z.B. ergibt nur in der privaten Sphäre einen Sinn, da diese der angemessene Raum für das Sentimentale sei.626 Die Säkularisierung des Begriffs des Politischen bedeutet hier, dass die private Feindschaft, die den Charakter einer absoluten Abneigung aufweist, die aus dem Anderen einen zu vernichtenden Terroristen macht, vom Politischen entfernt werden muss. Das Begriffspaar Freund–Feind betrifft die gegenseitige Ablehnung verschiedener, kollektiver Existenzformen, die ihre Identität aus der Dialektik dieser Opposition beziehen. So etabliert sich die Identität auf der Ebene der Andersartigkeit. Die Selbsterkenntnis, die der dialektischen Spannung zum Anderen entspringt, führt zur Erkenntnis des Anderen als meine andere Hälfte, als mein anderes Ich, denn er ist ein Bruder und Mitglied derselben menschlichen Spezies. Meines Erachtens ist dies der vorgeschlagene Weg: den Menschen von einem gemeinsamen Ursprung her zu verstehen, dieser aber wird erst durch die existentielle Feindschaft, die in den Anfängen der Menschheit wurzelt, bewusst gemacht. Deshalb greift Schmitt auf den biblischen Mythos von Kain und Abel, den Söhnen von Adam und Eva, zurück, um eine ursprüngliche Einheit, die die Menschheit umfasst, zu bekräftigen, ohne aber die Möglichkeit einer Feindschaft oder eines Brudermords auszuschließen. Aus dieser Perspektive wird die Menschheitsgeschichte im Licht eines gemeinsamen Ursprungs begriffen, der von der Virtualität der Feindschaft, aus der Verbindungen und Trennungen hervorgingen, nicht getrennt werden kann.
624 Schmitt 2002b, S. 26. 625 Schmitt 2002b, S. 26. 626 Schmitt 2002b, S. 29. In einem 1927 verfassten Artikel über Machiavelli, im selben Jahr also der Veröffentlichung von Der Begriff des Politischen und dem 400. Todestag des Florentiners, weist Schmitt auf das eindeutige Interesse von Machiavelli an politischen Themen hin, das sich in einer „sprachlichen Natürlichkeit“ ohne moralischem – oder amoralischem – Pathos äußere: „Bei ihm ist die Humanität noch nicht zur Sentimentalität geworden. Ihm ist es selbstverständlich, dass jemand, der sich auf das Gebiet des Politischen begibt, wissen muss, was er tut, und dass lobenswerte Eigenschaften des Privatlebens, wie Gutmütigkeit und Treuherzigkeit, bei einem Politiker nicht nur zu Lächerlichkeiten werden können, sondern auch zu fluchwürdigen Verbrechen an dem Staat, der die Folgen solcher Treuherzigkeit zu tragen hat“ (Schmitt 1995e, S. 104).
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Bevor Schmitt sich Kain und Abel zuwendet, stellt er ausdrücklich fest: „Ich bin Jurist, nicht Theologe.“ Dann fährt er fort: Der Andere ist mein Bruder. Der Andere erweist sich als mein Bruder, und der Bruder erweist sich als mein Feind. Adam und Eva hatten zwei Söhne, Kain und Abel. So beginnt die Geschichte der Menschheit. So sieht der Vater aller Dinge aus. Das ist die dialektische Spannung, die die Weltgeschichte in Bewegung hält, und die Weltgeschichte ist noch nicht zu Ende.627
Diese Auslegung offenbart im Begriff des Politischen einen Anspruch auf politische Einheit; oder anders ausgedrückt, liegt der politische Akzent mehr auf dem Aspekt der Verbindung als auf dem der Trennung. Man kann daher Schmitt nicht die Absicht unterschieben, das Politische von der Theologie, von einer pessimistischen Anthropologie aus zu begründen, sondern von einer Sicht der ontologischen Ursprünglichkeit der Menschheit aus, deren Auflösung durch den Brudermord dargestellt werden kann (Genesis 4:8). Es sei darauf hingewiesen, dass das Politische für Schmitt aus der Unmöglichkeit der privaten Feindschaft und der Erkenntnis, dass der Andere der Bruder ist, hostis also und nicht inimicus. Verbindung, Trennung und die Grenze eines Verbands werden durch den Feind als Dimension der Andersartigkeit vorgegeben, d.h. durch den hostis und nicht den inimicus, denn Letzterer bedingt ein moralisch abwertendes Verständnis. Die Säkularisierung des Politischen durch die Entsakralisierung des moralischen oder theologischen Feindes resultiert in einem spezifischen Typ von Feind: der Feind „ist nur der öffentliche Feind, weil alles, was auf eine solche Gesamtheit von Menschen, insbesondere auf ein ganzes Volk Bezug hat, dadurch öffentlich wird. Feind ist hostis, nicht inimicus im weiteren Sinne, polémos, nicht echthrós“.628 Der Begriff des Politischen setzt den öffentlichen, niemals aber den privaten Feind voraus. Die Säkularisierung besteht in der Eliminierung des absoluten Charakters der theologischen geprägten Feindschaft. Die private Feindschaft wird nach außen projiziert und ermöglicht so einen inneren Bereich, in dem die Ruhe, der Friede und die Ordnung vorherrschen.629 Während im Innern also die Polizei existiert, existiert im Äußeren die Politik, wobei Politik hier die große zwischenstaatliche Politik meint. Auf der äußeren Ebene wird die Feindschaft relativiert und nimmt einen öffentlichen Charakter an, wodurch sie begrenzt werden könnte und so die Kontingenz oder das Risiko eines Konfliktes herabsetzen würde. Die Voraussetzung, damit etwas als politisch gelten kann, entspricht der Bestimmung dessen, wer Freund und wer Feind sei – im öffentlichen Sinn des Verständnisses des genannten Gegensatzpaares. Unter normalen Umständen verwirklicht sich die Politik in Ruhe, da der Intensitätsgrad der Feindschaft niedrig ist. Wird er erhöht, erhöht sich auch die Wahrscheinlichkeit eines Kampfes. Für Schmitt wird es dann zu einem Problem, wenn ein „Primat der internen Politik“ auf Kosten der Außenpolitik herrscht, was 627 Schmitt 1950c, S. 89f. 628 Schmitt 2002b, S. 29. 629 Blumenberg 1996, S. 100.
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zur Folge hat, dass die Möglichkeit eines Krieges nicht mehr die eines zwischenstaatlichen Krieges ist, sondern die eines Krieges innerhalb des Staates, genauer eines Bürgerkrieges.630 Es sei hier auch auf das Problem des inneren Feindes hingewiesen, dessen Auftreten durch die souveräne Autorität verhindert werden muss. In Wahrheit ist der innere Feind nicht Feind, sondern Krimineller. Der innere Feind ist ein Synonym für die innere Bedrohung oder für den Bürgerkrieg, er ist nicht öffentlich, folglich besitzt er keinen Status. Hier zeigt sich der Verlust der letzten Unterscheidungen, genauer der säkularisierten Bedeutung der Feindschaft, deren Verständnis keinesfalls moralisch, sondern existentiell und öffentlich ist. Im Gegenzug nimmt die Feindschaft im kritischen Fall des Bürgerkriegs ihren theologischen, absoluten und moralisierenden Charakter wieder an, so dass der innere Feind in diesem Fall vernichtet werden muss. Dieser Aspekt der „Retheologisierung“ der Feindschaft wird dadurch gerechtfertigt, dass ihr innerer Charakter eine Bedrohung für den Staat darstellt, dessen Bedeutung oder Status der eines politischen Verbundes gegen den Tod ist.631 Ich denke, dass die Schlussfolgerung, dass das, „was moralisch Böse, ästhetisch hässlich oder ökonomisch schädlich ist, […] deshalb noch nicht Feind zu sein“632 braucht, ein Hinweis darauf ist, dass Schmitts Begriff des Poltischen nicht auf einer pessimistischen Anthropologie aufbaut. Für Schmitt ist der Mensch in gewisser Weise unergründlich, kontingent, unvorhersehbar. Er ist ein offenes Wesen, das nicht Gegenstand einer einfachen Definition sein kann.633 Schmitt zufolge offenbart der Begriff des Menschen seine Schwierigkeit in der Kontingenz, deren spezifische Eigenschaft die Gefährlichkeit und nicht die Bosheit, Niederträchtigkeit oder Korruption ist. Die Unverständlichkeit des Menschen wird darin aufgezeigt, dass der Mensch ein Wesen ist, das sich selber nicht kennt. Der unergründliche Charakter des Menschen – und nicht einfach die Tatsache, dass Menschen als böse angesehen werden, – ist das, was die Möglichkeit eines Krieges immer präsent hält. Güte und Bosheit sind Kriterien, die in Relation zu den polemischen Situationen stehen und in direkt mit den involvierten Parteien verbundenen, konkreten Situationen gegenwärtig sind.634 Zudem ist der Antagonismus eine dialektische Form der Bestimmung einer kollektiven Identität durch die gegenseitige Anerkennung der ontologischen Verleugnung. Ein Hinweis auf die Gefährlichkeit des Menschen sind die Waffen, die er herstellt. Die technisch-industrielle Entwicklung machte aus den Waffen der Menschen Waffen der Massenvernichtung und erzeugte so eine wachsende Unvereinbarkeit von Schutz und Sicherheit. Schmitt erinnert daran, dass absolute Vernichtungswaffen dazu tendieren, eine absolute Feindschaft vorauszusetzen. Deshalb sei es wichtig hervorzuheben, dass „es ja nicht die Vernichtungsmittel [sind], die vernichten, sondern Menschen vernichten mit diesen Mitteln andere Men630 631 632 633 634
Schmitt 2002b, S. 32. Schmitt 2002b, S. 46. Schmitt 2002b, S. 28. Schmitt 2002b, S. 60. Schmitt 2004b, S. 62.
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schen“.635 Dass die Waffen ein Hinweis auf die menschliche Gefährlichkeit sind, offenbart m.E. keineswegs eine pessimistische Anthropologie. Der politische Verbund unterscheidet sich von anderen dadurch, dass er die Existenz seiner Mitglieder sichert, nicht in ökonomischer, religiöser oder moralischer Hinsicht, sondern in Bezug auf das, was die Mitglieder, die die politische Einheit des Staates darstellen, betrifft. Der Staat ist ein politischer Verbund gegen den Tod seiner Mitglieder. Deshalb kann er auch von ihnen verlangen, dass sie ihr Leben opfern. Hier offenbart der Staat tatsächlich seine Transzendenz: „Der Staat als die maßgebende politische Einheit hat eine ungeheure Befugnis bei sich konzentriert: die Möglichkeit Krieg zu führen und damit offen über das Leben von Menschen zu verfügen“.636 Jene Staaten, die auf die jus belli verzichten, werden als klein und schwach erachtet, und es bleibt ihnen keine andere Wahl, als sich der Herrschaft eines anderen Staates zu unterwerfen, der seine Sicherheit garantieren kann. Die „ewige Wiederkehr“637 der polemischen Gegensätze und die Unfähigkeit, die Feindschaft zwischen Menschen abzuschaffen, bewegt Schmitt zu einigen Überlegungen.638 Gibt es eine ewige Wiederkehr der polemischen Gegensätze zwischen Freund und Feind? Ohne Erkenntnis der Wiederkehr des Gleichen, die durch die Analogie zwischen ähnlichen, von unterschiedlichen Subjekten besetzten Positionen aufgedeckt wird, wäre es unmöglich, die Einzigartigkeit historischer Ereignisse zu begreifen. Andererseits vermittelt die Besetzung analoger Positionen durch verschiedene Subjekte den Eindruck, dass die Einzigartigkeit historischer Ereignisse sich wiederhole, obwohl ihr Eintreten einmalig sei, vor allem für jene, die diese Erfahrungen direkt miterleben. Schmitt meint dazu: Hier handelt es sich nicht um Fiktionen oder Normativitäten, sondern um die seinsmäßige Wirklichkeit und die reale Möglichkeit dieser Unterscheidung. Man kann jene Hoffnungen und erzieherischen Bestrebungen teilen oder nicht; dass die Völker sich nach dem Gegensatz von Freund und Feind gruppieren, dass dieser Gegensatz auch heute noch wirklich und für jedes politisch existierende Volk als reale Möglichkeit gegeben ist, kann man vernünftigerweise nicht leugnen.639
Wenn also einerseits die kollektiven Subjekte der Konfrontation immer geprägt sind von Einmaligkeit und Unumkehrbarkeit ihrer konkreten historischen Situation, so gab es andererseits doch bis heute niemanden, der die Radikalität der Konflikte im menschlichen Leben abgeschafft hätte. Trotz ihrer Endlichkeit geben die Menschen Zeichen ihrer Neigung zum Vergessen der Unendlichkeit der in der Existenz der Spezies verwurzelten politischen Kämpfe zu erkennen.640 Für Schmitt verändern sich die Subjekte des Konflikts, und das politische Feld der Gegensätze wird immer wieder durch neue Kollektive besetzt, was sich der Ein635 Schmitt 2002c, S. 94f. 636 Schmitt 2002b, S. 46. 637 Siehe dazu Schmitt, Die Geschichtliche Struktur des heutigen Welt-Gegensatzes von Ost und West. Bemerkungen zu Ernst Jüngers Schrift: „Der gordische Knoten“, 1955, S. 147. 638 Schmitt 1955a, S. 144–148. 639 Schmitt 2002b, S. 28f. 640 Schmitt 2002b, S. 30.
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zigartigkeit und Endlichkeit der menschlichen Existenz verdankt. Dieser Punkt ist in allen Arbeiten Schmitts präsent: die Einzigartigkeit und Unumkehrbarkeit des konkreten historischen Ereignisses und die Wiederkehr des Gegensatzes von Freund und Feind.641 Es gäbe keine Wahrnehmung der Einzigartigkeit eines historischen Ereignisses ohne die Wahrnehmung von Regelmäßigkeiten und umgekehrt. Die Regelmäßigkeiten der polemischen Gegensätze – speziell des Gegensatzes von Freund und Feind – sind historisch konstituiert, aber die Wahrnehmung ihrer Wiederkehr erlaubt es, von Strukturen zu sprechen. In einem Brief, den Koselleck am 4. Januar 1977 an Carl Schmitt schrieb, bemerkt er: „Die Wiederholung historischer Möglichkeiten schließt die Einmaligkeit der entsprechenden Verwirklichung nicht aus.“642 Es ist also möglich, gewissen Phänomenen die Eigenschaft der Wiederholung zuzuweisen, da es Wiederholungen gibt, die über aufeinanderfolgende Generationen hinausgehen. Schmitts Vorstellung der ewigen Wiederkehr weist auf die existentiellen Antagonismen oder Polaritäten hin, die mit derselben Regelmäßigkeit erkannt werden können wie der Umstand, dass die Nacht auf den Tag, die Geburt auf den Tod etc. folgt. Diese Phänomene gehen über den Alltag hinaus und können als transzendent bezeichnet werden. Aus Schmitts Sicht zeigen sich diese Eigenschaften in der Struktur der polemischen Gegensätze, da die menschlichen Antagonismen als wiederkehrende Zyklen wahrgenommen werden können, die die menschlichen Generationen transzendieren. Koselleck stützt diese These. In seiner Untersuchung der Möglichkeitsbedingungen für die Verwirklichung einer Prognose kommt er zum Schluss: „Prognosen sind nur möglich, weil es formale Strukturen in der Geschichte gibt, die sich wiederholen, auch wenn ihr konkreter Inhalt jeweils einmalig und für die Betroffenen überraschend bleibt.“643 Im Essay Die geschichtliche Struktur des heutigen Welt-Gegensatzes von Ost und West. Bemerkungen zu Ernst Jüngers Schrift: „Der gordische Knoten“ aus dem Jahr 1955, in dem die „polare Spannung“ der Zeit als ein globaler Dualismus zwischen Ost und West dargestellt wird, untersucht Schmitt die wiederkehrende Struktur der dialektischen Gegensätze, ohne jedoch die Einmaligkeit aus dem Blick zu verlieren: Aber in der großen Systematik geht Einmaligkeit leicht wieder verloren und verwandelt sich das geschichtliche Geschehen in einen bloßen Denkprozess. Für unsere Darlegung genügt es, mit einem Wort an diese Gefahr zu erinnern, damit unsere Verwendung des Wortes Dialektik nicht sofort in der Art von Automatik untergeht, deren Ablauf eine technisierte Zeit für wissenschaftliches Denken hält.644
Es ist bemerkenswert, wie das Denken des Juristen seinen Hauptkern in der Spannung der wiederkehrenden Antagonismen zwischen Kollektiven findet, dabei aber die Einmaligkeit des historischen Ereignisses nicht aus den Augen verliert. Die 641 642 643 644
Schmitt 1955a, S. 149. Koselleck, Briefwechsel mit Carl Schmitt (unveröffentlicht) Koselleck 2003, S. 208. Schmitt 1955a, S. 153.
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Wahrnehmung einer ständigen Polarisierung, die die Feindschaft strukturiert, und die unmissverständliche Überzeugung in Bezug auf die Einmaligkeit einer historischen Wahrheit sind eindrückliche Eigenschaften eines politischen Denkens, das an die Wirklichkeit seiner Gegenwart gebunden bleibt. Wie Schmitt es ausdrückt: Die Wahrheit polarer Gegensätzlichkeiten ist ewig wahr, ewig im Sinne einer ewigen Wiederkehr. Eine geschichtliche Wahrheit dagegen ist nur einmal wahr. Wie oft sollte sie denn auch wahr sein, da sie nicht ewig wahr sein kann, weil das ihrer Geschichtlichkeit widerspräche? Die Einmaligkeit der geschichtlichen Wahrheit ist das uralte Arkanum der Ontologie.645
Dieses in der Idee der Wiederholung enthaltene Geheimnis stellt die Struktur des Säkularisierungsbegriffs bereit, der eine historische Zeit, die in der profanen Polarität zur Idee der Ewigkeit wächst, ins Bewusstsein ruft. Die Wiederkehr des dialektischen Antagonismus oder Gegensatzes bietet die Möglichkeit, strukturelle Analogien zwischen unterschiedlichen Konfigurationen bestehender Feindschaften zwischen Griechen und Barbaren, Patriziern und Volk, Christen und Heiden, Proletariern und Bürgern etc. aufzustellen. Der wiederkehrende Charakter der dialektischen Opposition von Freund und Feind erlaubt es, diese als Zyklus zu verstehen, dessen Konfiguration eine historische Veränderlichkeit aufweist. Schmitt besteht darauf, seine dialektische Opposition von Hegels Gegensatz zu unterscheiden, warnt aber: Obwohl die politische Erfahrung der konkreten Wirklichkeit der Feindschaft aus der Sicht der beteiligten Parteien einmalig und unumkehrbar ist, ist jedoch gleichzeitig der Antagonismus eine politische Möglichkeitsbedingung der Existenz und folglich der menschlichen Geschichten. Reinhart Koselleck war derjenige, der die Formulierung des FreundFeindbegriffs am besten verstanden hat. Indem er ihn nicht von einem Standpunkt außerhalb von Schmitts Argumentation aus betrachtete und ihn nicht als bellizistisch646 oder antipazifistisch vorverurteilte, interpretiert der Historiker den Begriff als anthropologische, metahistorische Konstante, ohne die menschliche Geschichten nicht möglich wären. Schmitts Denken wird beherrscht von der Dynamik des Gegensatzes von Freund und Feind, von Form und Kontingenz, von Normalität und Ausnahme. Zum einen versucht seine begriffliche Definition der Historizität, der Endlichkeit und der Existentialität gerecht zu werden; zum andern aber weist sie einen formalen Anspruch auf, da die Form der Modus wäre, durch
645 Schmitt 1955a, S. 148. Schmitt schreibt den Ausdruck über „die Einmaligkeit der geschichtlichen Wahrheit als das uralte Arcanum der Ontologie“ Walter Warnach zu, der ihn im Jahre 1953 an einem Vortrag an den Salzburger Hochschulwochen“ verwendet hatte (Schmitt 1955a, S. 147–148) 646 Paul Noack zufolge habe Schmitt die Tatsache bedauert, seine These des Politischen als Voraussetzung des Staates gleich zu Beginn des Buches genannt zu haben. Auf Schmitt verweisend schreibt Noack dass „seine nach innen gewendeten Beschwerden vor allem dahin [gehen], dass man ihn seit 1932 in dem Sinn überinterpretierte, dass man ihn als einen Bellizisten betrachte, der im Krieg aller gegen alle die Essenz des Politischen gefunden habe“ (Noack 1996, S. 115).
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den eine existentielle historische Bewegung sich in einer Ordnung offenbarte.647 Es sei hier noch hinzugefügt, dass eine geistliche Bewegung nur dadurch Form annehmen, d.h. eine Form manifestieren kann, wenn sie aus der historischen Perspektive durch existentielle Konflikte konstituiert wird. Es gibt keine politische Einheit und daher auch keine Form, wenn die menschlichen Gruppierungen nicht gegenseitig anerkennen, dass die reale Möglichkeit einer Vernichtung der jeweils anderen Gruppierung existiert. Aus Schmitts Sicht erfolgt dieses Annehmen von Form nur auf der Grundlage der Dialektik des Gegensatzes von Freund und Feind.648 Die Identität eines Volkes hängt von seiner Fähigkeit ab, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden.649 Es ist interessant nachzuzeichnen, wie – ausgehend von einem Denken, das gleichzeitig die Einmaligkeit und die Wiederholung zu begreifen versucht, – es möglich war, ein Begriffspaar von heuristischer Reichweite zu entwickeln. Indem Schmitt jede in ihr enthaltene Substanz und Ideologie aus der Struktur des polemischen Gegensatzes von Freund und Feind entfernte, gelang es ihm, einen symmetrischen Begriff zu entwickeln, der die Komplexität einer sich stetig wandelnden Wirklichkeit zu umfassen vermochte. Um den heuristischen Charakter dieses Begriffspaares zu verstehen, lohnt es sich, Kosellecks Kommentar dazu zu verfolgen: Allein im Erwartungshorizont der auf sich selbst angewiesenen Menschheit ist die heute immer noch ideologisch strapazierte Formel von „Freund und Feind“ zu verstehen. Nach der inhaltlichen Entleerung der universalen und zugleich dualistischen Begriffspaare im 20. Jahrhundert war es die wissenschaftliche Leistung von Carl Schmitt, die funktionalen und ideologisch gehandhabten Gegensätze der Klassen und Völker, die sich jeweils substanziell artikulierten, so weit zu formalisieren, dass nur die Grundstruktur möglicher Gegensätze sichtbar wurde. Das Begriffspaar Freund und Feind zeichnet sich durch seine politische Formalität aus, es liefert ein Raster möglicher Antithesen, ohne diese selbst zu benennen. Wegen ihrer formalen Negation handelt es sich erstmals um rein symmetrische Gegenbegriffe, da für Freund und Feind eine Selbst- bzw. Feindbestimmung vorliegt, die von beiden Seiten gegenläufig verwendbar ist. Es sind Erkenntniskategorien, deren inhaltliche Besetzung gemäß der geschichtlichen Erfahrung einer asymmetrischen Auffüllung der beiden Wortfelder dienen kann. Wie auch immer Carl Schmitt mit seiner eigenen Parteinahme diesen Gegensatz konkretisiert hat, er hat zunächst eine Formel geprägt, die als Bedingung möglicher Politik nicht überholbar ist. Denn es handelt sich um einen Begriff des Politischen, nicht der Politik.650
Dank seiner Ausrichtung stößt Schmitts Denken immer wieder auf einen Gegensatz, genauer auf eine Polemik. Politisch denken heißt immer, eine Position angesichts einer konkreten Situation einnehmen. Die Möglichkeitsbedingung eines 647 Nicoletti bemerkt: „la forma è il momento essenziale in cui un processo storico si consolida in un ordine senza il quale esso resta vuoto e sterile. L’epoca attuale interpreta la forma come maschera ingannevole, nascondimento della realità, ma secondo Schmitt questa interpretazione deriva dalla incapacità stessa della nostra epoca di produrre una forma, die consolidarsi in un ordine.“ (Nicoletti 1990, S. 89). 648 Schmitt 1950c, S. 90. 649 Schmitt 2003d, S. 214. 650 Koselleck 2000, S. 258f.
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Denkens ist für Carl Schmitt immer durch eine polemische Situation gegeben, somit ist die intellektuelle Voraussetzung immer politisch. Ein politisches Denken existiert nur, wenn etwas, das uns äußerlich ist, uns eine Reaktion abverlangt und so eine Form verleiht, unsere Fragen eingrenzt und einen Sinn gibt. Den Schlüssel zum Verständnis dieses epistemologischen Aspekts gibt uns Schmitt ganz deutlich in den Aussagen seines Essays Ex Captivitate Salus. Erfahrung der Zeit 1945/1947: „Der Feind ist unsere eigene Frage als Gestalt.“651 Die Rolle, die der Feindschaft im Denken des Juristen zukommt, steht in Verbindung zum Gegensatz, zur Ablehnung, die wir im anderen erkennen, d.h. in jenem „der uns in Frage stellt“. In diesem Sinne erkennen wir unsere intellektuelle Frage, wenn der andere uns in Frage stellt. Indem der andere uns in Frage stellt, motiviert er uns dazu, unsere eigene Frage zu formulieren. Mit anderen Worten: Der andere, der Feind, ermöglicht es, dass ich in ihm meine eigene Frage erkenne. Den andern als Feind zu erkennen, bedeutet, mich selbst zu erkennen. Schmitts nosce te ipsum hat seine Quelle nicht im Innern der Subjektivität, wie dies bei Descartes der Fall gewesen war, sein Impuls kommt vielmehr von außen, vom Fremden. Der andere, d.h. der Feind, ist nicht der Kriminelle, nicht der Verabscheuungswürdige, nicht der Unterlegene; der andere ist in diesem Sinne mein Freund, mein Bruder. Aus dieser Perspektive ist es daher immer notwendig zu fragen: Wen kann ich überhaupt als meinen Feind anerkennen? Offenbar nur den, der mich in Frage stellen kann. Indem ich ihn als Feind anerkenne, erkenne ich an, dass er mich in Frage stellen kann. Und wer kann mich wirklich in Frage stellen? Nur ich mich selbst. Oder mein Bruder.652
In der Schmittschen Erkenntnistheorie führt uns die als dialektischer Gegensatz begriffene Feindschaft nicht nur zum Nachdenken, sondern auch dazu, im Anderen mein anderes Ich653 zu erkennen, so dass der Feind mein Freund wird. Deshalb ist der Feind das andere kollektive Ich, er ist meine eigene Frage, die ich außerhalb meiner selbst erkenne, er ist meine eigene veränderbare Einheit.654 Das Erkennen des Anderen als Bruder ist nicht Folge der Freundschaft, des Verständnisses, des Konsenses, sondern der Feindschaft, d.h. der Konfrontation. Die Unterscheidung von Freund und Feind beinhaltet meines Erachtens eine epistemologische Auffassung, die es zu begreifen erlaubt, dass die Wissensbereiche weder apolitisch sind, noch sich außerhalb der politischen Spannungen befinden. Im Verhältnis der Erkenntnis sind die Kämpfe, die Konflikte und die Polemiken, die die Wissensgebiete konstituieren und durch diese konstituiert werden, nicht auf651 Schmitt 1950c, S. 90. 652 Schmitt 1950c, S. 89. 653 Trotz der beachtlichen Differenzen zwischen der Unterscheidung von Freund und Feind und der Dialektik von Herr und Knecht, glaube ich, dass Hegel – nach Hobbes – einer der wichtigsten Bezugspunkte von Schmitt war. Es ist bemerkenswert, dass Schmitt sich an dem deutschen Philosophen inspirierte, um seine Feind-Freundthese zu formulieren. Hegel zufolge ist der Feind das andere kollektive Ich, er ist „die eigene Frage als Gestalt“, die eigene veränderbare Einheit (Hegel 1979, S. 165). 654 Hegel 1979, S. 165.
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gehoben.655 In den Wissensverhältnissen entflieht man nicht den Kräfteverhältnissen, „aber der Feind ist eine objektive Macht“.656 Wie man sieht, befinden sich die Wissensgegenstände nicht außerhalb des Kraftfeldes des Politischen, so dass die Bedeutung des Säkularisierungsbegriffs selbst ihre Form in der Polemik mit dem Positivismus findet. Zwei Aspekte können aus der hier diskutierten Bedeutung der FreundFeindkategorie hervorgehoben werden: Erstens könnten wir, ausgehend von Schmitts Reflexion, sagen: Sag mir wer dein Feind ist, und ich sage dir, wer du bist. Der Autor drückt es anders aus: „Man klassifiziert sich durch seinen Feind. Man stuft sich ein durch das, was man als Feindschaft erkennt.“657 Zweitens könnten wir uns die Lehre – nicht zufällig nennt Schmitt seine Meditationen „Weisheit aus der Zelle“ –, der zufolge wir unsere Feinde nicht hassen, sondern von ihnen lernen sollten, zu eigen machen. Dies sollte uns jedoch nicht zu dem Glauben verleiten, alles sei politisch. Nicht jedes Thema ist politisch, ebenso wenig wie jede Beziehung oder Situation politisch ist, genauso wenig wie die ganze Welt ein Feind ist – aber alles kann Gegenstand einer Kontroverse werden, deren Druck die politische Ebene erreichen kann. Das Politische bezieht sich nicht auf eine spezifische Sphäre, wie dies in einer Politik der Fall wäre, sondern auf einen Intensitätsgrad der Verbindung oder Trennung, den die Unterscheidung von Freund und Feind erreichen kann.658 Nur klare Unterscheidungen können die exzessive Anhebung der politischen Intensität verhindern. Deshalb führt eine Entpolitisierung zur totalen Politisierung, da Erstere einem Verlust der Unterscheidungen entspricht. Es sei daran erinnert, dass die Säkularisierung auch im zweiten Kapitel die Bedeutung annahm, die Kontingenz zu verwalten, da sie die Reduzierung der Ideen auf Tatsachen verhinderte.
3.8. Das Recht als Schleier des Politischen Ich denke, es lohnt sich, die Formulierung „der Feind ist immer eine objektive Kraft“ mit einigen Überlegungen des zweiten Kapitels in Beziehung zu setzen, da diese Vorstellung in der Politischen Theologie wieder aufgenommen wird und das Thema dieser Arbeit betrifft. Es sei hier daran erinnert, dass die Einführung in der empirischen Welt nicht ohne Schwierigkeiten vor sich geht, da dies immer eine Konfrontation mit der konkreten Wirklichkeit bedeutet. Einerseits wirkt der Druck zur Verwirklichung eines Ideals, wie z.B. der Rechtsidee, andererseits wird die655 Meines Erachtens findet die epistemologische Auffassung des Freund-Feindbegriffes eine bemerkenswerte Entsprechung in Michel Foucaults Überlegungen zur Macht (vgl. Foucault 2001, S. 27). 656 Schmitt 1950c, S. 89. 657 Schmitt 1950c, S. 90. 658 Schmitt 2002b, S. 27.
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sem der Widerstand einer „objektiven Kraft“ der Wirklichkeit entgegengesetzt. Die Übertragung eines Ideals der subjektiven Ebene auf die objektive Ebene, des Abstrakten auf das Konkrete, darf nicht von der Wirklichkeit des Kräftespiels von Druck und Widerstand entfremdet werden. Die Idee kann niemals ohne die Intervention einer politischen Entscheidung einer Autorität verwirklicht werden und muss immer einen Preis für ihre Verwirklichung zahlen. Im Text Die Sichtbarkeit der Kirche findet diese Vorstellung ihre Analogie in der Vorstellung der Inkarnation, in der Menschwerdung des Gottessohnes. Der Umstand, dass Gott beschlossen hatte, Fleisch – und somit in Gestalt eines sterblichen Menschen hörbar, sichtbar und fühlbar – zu werden, könne erklären, weshalb eine Mediation zwischen Ideal und Wirklichkeit immer eine notwendige Aufgabe bleibt. Das Absolute erschöpft sich nicht in der Endlichkeit, sonst gäbe es keine Repräsentation, mit der allein es möglich ist, eine Idee sichtbar zu machen, die von oben kommt.659 Daraus lassen sich zwei Punkte ableiten: Der erste besagt, dass Gott Fleisch wird. Er wird Wirklichkeit mittels eines sterblichen Menschen. Das bedeutet, dass er sein Wort einem Körper, der Kirche, anvertraut hat, dpe durch ihre Mediation zwischen transzendenter Idee und Wirklichkeit die Sichtbarkeit der Wirklichkeit eines Gottes, der Mensch wurde, aufrechterhält. Die Analogie zwischen Kirche und Staat dient als Lehre einer Mediation durch eine auctoritatis interpositio, die die Rechtsidee in der Welt verwirklichen soll. Der zweite Punkt ist der, dass Gott sich durch eine Person sichtbar macht, d.h. zwischen Gottesreich und Menschenreich gibt es eine persönliche Autorität aus Fleisch und Blut – und nicht eine anonyme Größe oder abstrakte Norm. In der Politischen Theologie nimmt Schmitt die Gedanken, die er in den Arbeiten Der Wert des Staates und Sichtbarkeit der Kirche dargelegt hatte, im Rahmen seiner Untersuchung des Problems der juristischen Form und der Entscheidung wieder auf. Er zeigt, dass die Entscheidung als Übertragung von der ideellen auf die reale Ebene, von der subjektiven Ebene auf die empirische oder objektive Wirklichkeit nie ihren ursprünglichen Zustand bewahrt: Die Verwirklichung bedeutet immer einen Übergang in einen aggregierten Zustand, wobei etwas Neues in Bezug auf das, was vorher war, entsteht, so dass das Ursprüngliche kein Ideal, keine reine Idee, keine abstrakte juristische Norm mehr ist. Deshalb entspringt die Entscheidung aus der normativen oder idealen Sicht immer einem Nichts, aber aus der Sicht der konkreten Wirklichkeit wird sie immer durch die Handlung eines persönlichen Subjekts, einer politischen Autorität, die sich zwischen Idee und Wirklichkeit mitten in das Spannungsfeld hinein stellt, verwirklicht. Die Verwirklichung einer Idee erfolgt immer mittels einer persönlichen Autorität: „In jeder Umformung liegt eine auctoritatis interpositio.“660 Wie wichtig diese Diskussion ist, zeigt sich unter anderem daran, dass Juristen wie Hans Kelsen die Souveränität verdrängten, indem sie die Existenz einer persönlichen Autorität, die die juristische Ordnung durch eine politische Entscheidung herstellt, vernein-
659 Schmitt 2005c, S. 449. 660 Schmitt 2004b, S. 37.
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ten.661 Der Versuch einer Auflösung des Politischen durch die reine Rechtstheorie sei darin erkennbar, dass „Kelsen das Problem des Souveränitätsproblem dadurch [löst], dass er es negiert“.662 Um den Staat nicht über das Recht erheben zu müssen, reduziert der Autor den Staat auf eine juristische Ordnung. So wäre die juristische Ordnung von jedem politischen, soziologischen, historischen oder psychologischen Element befreit. Die juristische Ordnung wäre ein in sich geschlossenes, von jeglicher Macht, Befehlsgewalt und politischer Entscheidung befreites System von Normen, da diese, wie Hobbes sagte, „accidents of persons“ seien. Kelsen verbannt aus der reinen Theorie jede Kontingenz oder jeden Zufall, er entledigt das Recht jeglicher fremder Elemente und reduziert das juristische System und die juristische Ordnung auf eine bloße Notwendigkeit des juristischen Denkens. Sein Bestreben ist es, koste es was es wolle, zu verhindern, dass der Staat sich über das Recht, die persönliche souveräne Autorität und über die juristischen Normen erhebt. Schmitt entgeht nicht, dass der Autor den Dualismus zwischen Staat und Recht aufzuheben versucht, indem er die juristische Ordnung mit einem System gültiger Normen gleichsetzt. Die Umgehung des Dualismus würde es erlauben, dem Problem der Rechtsverwirklichung und des persönlichen Subjekts, das politisch über die Schaffung einer juristischen Ordnung entscheidet, auszuweichen. Für Schmitt ist Kelsens juristische Auffassung des Staates ein metaphysischer Monismus, der den Staat als harmonische, vorgegebene Ordnung darstellt, die von Normen bestimmt wird, deren Geltungsquelle eine Grundnorm ist. Nun, so wie Schmitt es sieht, kann eine Norm nicht auf sich selbst angewendet werden. Ein Normensystem existiert nicht ohne souveräne Entscheidung. Die Grundnorm ist eine von Kelsens juristischem Denken vorausgesetzte Fiktion. Schmitt vertritt die Ansicht, dass eine Norm ihre Gültigkeit nicht von einer anderen, höheren Norm und diese von einer noch höheren usw. bis schließlich die höchste Norm erreicht wäre, beziehen kann. Dies, so meint Schmitt, könne nur in einer „mathematischen Mythologie“ geschehen. Kelsens Theorie des Rechts und des Staates entspräche also dieser Mythologie, da sie einer Befehlsgewalt, einer Entscheidung entbehrt. Kelsens Grundnorm ist eine Notwendigkeit des Denkens, damit alle Normen des Systems auf ihre Geltungsquelle zurückgeführt werden können. Die mathematische Mythologie setzt einen Punkt, ein System und eine Ordnung einer Norm gleich. Da stellt sich die Frage, worauf sich die Notwendigkeit des Denkens und der Objektivität der verschiedenen Zurechnungen und Zurechnungspunkte stützt, wenn sie nicht auf einer Entscheidung beruht. Aus der Sicht des österreichischen Juristen ergibt sich die Objektivierung oder Veräußerlichung einer Idee, einer juristischen Form aus einer „freien Tat juristischen Erkennens“. Diese Aussage Kelsens provoziert Schmitts Reaktion, denn die „freie Tat des Erkennens“ beraubt die juristische Ordnung einer Person, die diese durch die Entscheidung zur Übertragung des Ideals auf das Wirkliche verwirklicht. Die Verbannung jeglicher Art von persönlichen Elemen661 Kelsen 1934, S. 125. 662 Schmitt 2004b, S. 29.
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ten, der politischen Entscheidung zur Verwirklichung aus der juristischen Ordnung, eliminiert die Kontingenz und reduziert den Staat auf eine juristische Ordnung, deren letztes Geltungsfundament eine Grundnorm wäre. Schmitt zufolge kann die Geltungsquelle einer juristischen Ordnung nur eine letzte politische Entscheidung sein, niemals aber eine Grundnorm: Indem Kelsen den Staat auf die Reinheit der abstrakten Form der juristischen Norm reduziert, macht er aus ihm etwas Fleischloses, Leeres und Unsichtbares. Der Staat aber erhebt sich weiterhin über die Gesetze, da keine juristische Ordnung ohne ein Minimum an Transzendenz bestehen kann und ebenso wenig gegenüber Ausnahmen immun ist. Das Problem besteht darin, dass diese Überordnung, indem sie im Geheimen und im rhetorischen Gewand der Herrschaft des Gesetzes erfolgt, zur Privatisierung des Staates in Übereinstimmung mit Privatinteressen erfolgt. So verliert der Staat seine politische Substanz und verwandelt sich in einen Privatbetrieb. Es sei zudem darauf hingewiesen, dass kein liberaler, sozialistischer oder demokratischer Staat darauf verzichtet, im kritischen Fall eines Krieges von seinen Mitgliedern zu fordern, dass diese ihr Leben für ihn opfern. In diesem Fall weist jeder souveräne Staat einen transzendenten Rest oder eine theologische Reminiszenz auf.663 Die Norm ersetzt die Ausnahme nicht und eliminiert sie auch nicht. Tatsächlich existiert sie nur in dieser und wird durch sie verständlich. Die Ausnahme befreit die juristische Ordnung von ihrem normativen, universalisierenden und abstrakten Gewand und offenbart im Grenzfall, wer der Souverän ist, der sie konstituiert und über ihre Aufhebung entscheidet. Schließlich setzt die „freie Tat des Erkennens“, durch welche die juristische Ordnung unmittelbar zugänglich würde, eine ideale Situation einer Tat des Erkennens voraus, in der die politischen Spannungen aufgehoben wären. Dieses juristische Verständnis von Staat, indem es eine der Tat des Erkennens zugängliche juristische Ordnung voraussetzt, eliminiert den Prozess der Veräußerlichung oder der Objektivierung einer Rechtsidee. Die juristische Ordnung setzt aber die souveräne politische Entscheidung eines persönlichen Subjekts voraus. Aus Schmitts Sicht würde diese reine, von jedem politischen, soziologischen, anthropologischen oder historischen Element befreite Rechtstheorie irgendeine politische Ordnung legitimieren, jede Regierungsform rechtfertigen: sie wäre geradezu ein Anpassungsprinzip. In der Studie Der Begriff des Politischen bemerkt Schmitt auch, dass die „Herrschaft des Rechts“ nichts Anderes bedeutet „als die Legitimierung eines bestimmten status quo, an dessen Aufrechterhaltung selbstverständlich Alle ein Interesse haben, deren politische Macht oder ökonomischer Vorteil sich in diesem Recht stabilisiert“.664
663 Schmitt 2004a, S. 45. Trotz seiner aufklärerischen und somit anachronistischen Auffassung des Säkularisierungsbegriffs bemerkt Habermas, dass der Krieg ein Moment ist, in dem „sich der säkularisierte Staat einen nicht säkularisierten Rest von Transzendenz bewahrt. Der kriegführende Nationalstaat erlegt seinen Bürgern die Pflicht auf, für das kollektive ihr Leben zu riskieren“ (Habermas 1996, S. 138). 664 Schmitt 2002b, S. 66.
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3.9. Das Politische als Säkularisierung der theologischen Begriffe Liberalismus und Positivismus665 sind nicht die einzigen Gegner, denen Schmitt in seinem Buch Der Begriff des Politischen die Säkularisierung entgegensetzt, denn er widersetzt sich auch dem Pakt des Völkerbundes von Genf666 und der Außenpolitik des nordamerikanischen Imperialismus. Im Rahmen unserer Darlegung des Säkularisierungsbegriffs geht es vor allem darum, einerseits die Aspekte der staatlichen und politischen Beziehung und andererseits des Krieges und des Feindes aufzuzeigen. Mit der Absicht, ein Unterscheidungskriterium für das Politische zu finden und die Auflösung des staatlichen Modells als Voraussetzung der politischen Einheit zu verstehen, analysiert Schmitt das Kräftefeld und die Gewalten, die sich auf der Suche nach Selbstbestätigung ständig verbinden und auflösen. Es geht dem Juristen darum, zu verstehen, wie ein Teil der Menschheit in Europa bis vor kurzem „in einer Epoche, deren juristische Begriffe ganz vom Staate her geprägt waren und den Staat als Modell der politischen Einheit voraussetzten“, leben konnten.667 Schmitt bezeichnet diese Epoche aufgrund der Staatlichkeit, d.h. des Auftretens des Staates als Träger eines Status, genauer eines Monopols des Politischen, das nun nicht mehr existiert, als heroisch. Schmitt hält an der Tatsache fest, dass die juristischen Begriffe die Bedeutung des Staates nur in dem Maß zugewiesen erhalten, in dem es eine von der politischen Einheit garantierte Ordnung gibt. Die juristischen Begriffe werden vom Staat von dem Moment an gebildet, in dem er die religiösen Konflikte in seinem Innern unterdrückt. Bedeutet dies nun etwa, dass die juristischen Begriffe nur dann vom Staat geprägt werden können, wenn er von der Befriedung der konfessionellen Kriege, von dem historischen Erfolg der Schaffung einer politischen und sozialen Ordnung ausgehen kann? Die Frage könnte zum Teil positiv beantwortet werden, doch die Begriffe sind nicht nur beschreibend, denotativ668,669 d.h. ihr Informationsgehalt geht über den Verweis auf eine vom Staat befriedete Situation hinaus. 665 In dieser Arbeit habe ich meine Aufmerksamkeit vor allem der Auseinandersetzung mit dem juristischen Positivismus im Speziellen und mit der positivistischen Kultur im Allgemeinen gewidmet, die die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts in Deutschland prägten. Der Positivismus erscheint als erster Feind, dem gegenüber der Jurist seinen Säkularisierungsbegriff entwickelt. 666 Vgl. Der Begriff des Politischen (2002, S. 77). 667 Schmitt 2002b, S. 10. 668 Darunter versteht man den Kern der Bedeutung eines Wortes (Anmerkung des Herausgebers). 669 In seinem Buch Katechon. Zu Carl Schmitts fundamentalistischer Kritik der Zeit argumentiert Günter Meuter, dass die Begriffe für Schmitt Teil einer gewaltsamen politischen Realität seien, die deshalb die Gegensätze der Freund-Feindkonstellation erkennen und beschreiben können. Meuter meint: „Linguistisch ausgedrückt, haben Worte und Begriffe demnach keine bloß denotative Funktion; sie strukturieren also das Wirklichkeitsgewoge nicht nur nach Maßgabe eines sozusagen neutralen Ordnungsprinzips, auf das man sich konventionalistisch einigen könnte oder auch nicht. Das Begriffsnetz, mit dem man die Wirklichkeit einfängt, ist kein nominalistisches Inventar bloßer Etiketten; sonst wäre ein Kampf um Worte in der Tat nichts als eine leere Wortspielerei. Vielmehr üben Worte, zumindest wenn sie politisch belangvoll
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Die Begriffe sind die einzigen Zeugen eines Grenzfalles, einer kritischen Situation, die verschwunden ist. Es wäre illusorisch anzunehmen, dass das begriffliche Skelett der modernen Staatsdoktrinen gänzlich von der Situation der errungenen juristischen Normalität oder Stabilität bestimmt sei. In Wahrheit beziehen die juristischen Begriffe ihren Sinn nicht vom modernen Staat, sondern vom Politischen. Damit wird der Weg unter anderem für eine Reflexion über die Entstaatlichung des Politischen und über die Bildung politscher Großräume der Macht im Gegensatz zur kantischen Sicht eines konfliktfreien internationalen Rechts freigemacht.670 Die Tatsache, dass die politische Form des modernen Staates als das Monopol des Politischen in Erscheinung tritt, rechtfertigt es nicht, die vom Recht geführten Kämpfe zur Bestimmung von Feind, Krieg und Frieden dem Vergessen anheim zu geben. Die Grundlage des modernen Staates besteht in einem konkreten historischen Phänomen der Überwindung des religiösen Bürgerkriegs durch die Abschaffung der mittelalterlichen Privatkriege.671 So offensichtlich dies auch scheinen mag, stellt Schmitt doch eine Tendenz zur Abschwächung der Wahrnehmung des historischen und einmaligen Charakters der modernen Staatsform fest. Der Bezug auf die juristischen und politischen Begriffe des Staates, die Schmitt das klassische Staatsmodell nennt, erfolgt, weil diese ihre Bedeutung auch nach dem Verschwinden der Situation, aus der sie hervorgegangen sind, bewahren. Für Schmitt beziehen sich die Begriffe also immer auf das Politische und nicht notwendigerweise auf das Staatliche. Der konkret in einer extremen Situation existierende Antagonismus gibt diesen Begriffen nicht nur ihren Sinn, er selbst wird von ihnen gestaltet. Die juristischen und politischen Begriffe drücken den konkret zwischen den Menschen existierenden Antagonismus aus und bestimmen ihn auch gleichzeitig, da die Menschen eine geistig-zeitliche Duplizität aufweisen.672 Gerade deshalb ist sind, eine ‚starke suggestive Macht über die Gemüter der Menschen‘ aus“ (Meuter 1994, S. 96). 670 Die Aktualität dieser Frage wird selbst von Jürgen Habermas, der sich gerne als Antipode zu Schmitts Denken präsentiert, anerkannt. Obwohl Habermas sich als Erbe der kantischen Denktradition darstellt und seine Ideen, wie z.B. den „konstitutionellen Patriotismus“, auf orthodoxe Weise verteidigt, eignet er sich einen Teil der Schmittschen Kritik am Liberalismus an, um ein Modell der direkten Demokratie zu entwickeln (Habermas 2006, S. 198). Es sei aber auch daran erinnert, dass Habermas nicht nur von einigen Gedanken Schmitts beeinflusst wurde, sondern dass er in den 60er Jahren in Deutschland auch zu einer Wiederentdeckung der Ideen des Juristen beigetragen hat. Dies habe dann zur Bildung eines Links-Schmittianismus geführt (Becker 2003, S. 3–6 und 11). 671 Schmitt 2002b, S. 10. 672 Die Beschreibung des Menschen als eines Wesens, dessen „irdische Existenz“, definiert als „intellektuell-weltliche oder geistig-zeitliche“, eine „doppelte“ ist, ist der wichtigste Schlüssel zur anthropologischen Sicht Carl Schmitts. Sie enthüllt die Existenz eines doppelten Wesens, das einerseits einen Intellekt besitzt, der es auf die Ewigkeit, auf die Unendlichkeit verweist, und andererseits eine zeitliche oder säkulare Natur, die es der Endlichkeit seiner irdischen Existenz aussetzt. Somit kann der Mensch nur in der intellektuellen Sphäre eine Ahnung der Unendlichkeit und der Ewigkeit haben. Hierin liegt die Schwierigkeit der Menschen, die irdische Tiere mit einer Ahnung der Ewigkeit sind, die sich aber zugleich ihrer Endlichkeit be-
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der Gebrauch der Sprache, genauer der Begriffe, das wichtigste Werkzeug in Schmitts Denken, da die Begriffe in ihrer Struktur den konkreten Antagonismus bewahren und somit als Hinweis auf die Veränderungen von Kräften und Gewalten im politischen Bereich dienen. Folgt man diesem Gedankengang, erkennt man, dass „in der Bezugnahme auf eine konkrete Gegensätzlichkeit das Wesen politischer Beziehungen enthalten ist“, was „der landläufige Sprachgebrauch selbst dort noch zum Ausdruck [bringt], wo das Bewusstsein des ‚Ernstfalles‘ ganz verlorenging“.673 Der landläufige Sprachgebrauch bewahrt also den polemischen Charakter auch nach dem Verschwinden des Ernstfalles des konkreten Gegensatzes. Meines Erachtens müssen hier zwei Probleme erwähnt werden: Das erste bezieht sich auf die angebliche Entpolitisierung des liberalen und positivistischen Normativismus, der die polemische, d.h. politische Bedeutung der Begriffe der modernen Staatstheorien in ein generisches und abstraktes Gewand steckt und so den Gegensatz aus den Augen verliert, durch den die Begriffe ihre eminent politische Bedeutung ausdrücken. Die abstrakte Normativität beraubt die Begriffe durch die Verallgemeinerungen ihrer polemischen Bedeutung. Deshalb warnt Schmitt: Alle politischen Begriffe entstehen aus einem konkreten, außen- oder innenpolitischen Gegensatz und sind ohne diesen Gegensatz nur missverständliche, sinnlose Abstraktion. Es ist deshalb nicht zulässig, von der konkreten Situation, d. h. von der konkreten Gegensätzlichkeit, zu abstrahieren. Auch die theoretische Betrachtung politischer Dinge kann nicht davon absehen.674
Das andere Problem besteht darin, dass, sollte man sich über die Tatsache nicht im Klaren sein, dass die extreme Situation des existentiellen Kampfes nicht unabhängig von einem „semantischen Kampf“675 stattfindet, man Gefahr läuft, Opfer eines Anachronismus zu werden. Dies ist das Risiko, das man eingeht, wenn man die normale Situation der juristischen Ordnung nicht problematisiert, was Schmitt zufolge unter den Juristen wie Hans Kelsen und Hugo Krabbe gängige Praxis gewesen sei. Die Rückbindung der politischen Begriffe auf die polemische Situation erlaubt es, dorthin zu gehen, „wo das Bewusstsein des ‚Ernstfalles‘ ganz verloren ging“.676
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wusst sind. Wichtig ist hierbei, dass ohne diese schwierige Konfrontation des Ideals der Ewigkeit mit dem existentiellen Aspekt seiner Endlichkeit der Mensch sich seiner Handlungen, der Konstruktion eines politischen Körpers und der Idee seiner Dauer nicht bewusst würde. Schmitt 2002b, S. 30. Schmitt 1930, S. 5. Meuter 1994, S. 98. Schmitt 2002b, S. 30. Das Nicht-Begreifen des Staates als politisches Konstrukt hängt mit der technizistischen Auffassung des Staates zusammen, die eine Vision der prozesshaften und planbaren Geschichte begünstigt. So sieht es auch Koselleck: „Dass die Geschichte planbar sei, diesem Missverständnis leistet der technizistische Staat Vorschub, weil er sich als politische Größe dem Untertan nicht verständlich machen kann“ (Koselleck 1973, S. 8).
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Das Beharren auf diesem Punkt ist kein spezielles Merkmal dieser Studie, sondern zieht sich durch einen Großteil der politischen Reflexion des Juristen hindurch, der auf zwei Aspekte hinweist: Der erste entspringt der Unwissenheit gegenüber der kritischen Situation und der zweite besteht im Bemühen, dem Säkularisierungsbegriff seine klassische Bedeutung wieder zu geben. Der erste Aspekt verdankt sich dem Vergessen der Umstände, die den Staat zur Eroberung des Monopols der politischen Entscheidung bewegten, dessen Wirkung die Unverständlichkeit aller prägenden Begriffe der modernen Staatsdoktrin bedingen. Diese Begriffe gewinnen an Klarheit nur, wenn wir sie als „säkularisierte theologische Begriffe“ verstehen, genauer als Begriffe, deren Struktur und Inhalt einen konkreten Antagonismus offenbaren.677 Die Säkularisierung theologischer Begriffe verweist auf einen Kampf zwischen einer erschütterten geistlich-kirchlichen Ordnung und einer politisch-säkularen Sphäre, der die theologischen Begriffe ihrer politischen Bedeutung beraubt. Die Interpretation des berühmten und provozierenden Ausspruchs von Schmitt, wonach „alle Begriffe der Staatstheorie“ „säkularisierte theologische Begriffe“ seien, darf nicht von einer in ihrem Innern befriedeten politischen Ordnung ausgehen. Was heißt das? Nun, um diese Aussage des Juristen zu verstehen, müssen wir unsere Aufmerksamkeit auf die innere Logik des Säkularisierungsprozesses richten, dessen Endergebnis die Neutralisierung der durch die kirchliche Gewalt ausgeübten, theologischen Politik war. Wir dürfen die Säkularisierung nicht unmittelbar als Neutralisierung verstehen, denn zunächst ist sie ein Antagonismus, ein Kampf, der die Neutralisierung hervorbringt, wie am „Gegensatz von Geistlich-Kirchlich und Weltlich-Politisch“678 ersehen werden kann. Der Riss zwischen diesen „konkreten Ordnungen“ ist Folge jenes Moments, in dem „die kirchliche Einheit Westeuropas im 16. Jahrhundert zerbrach und die politische Einheit durch christlich-konfessionelle Bürgerkriege zerstört wurde“.679 Die Wurzeln der außerordentlichen Gewalt der religiösen Konflikte lagen im Kampf zwischen privaten Gewissen, deren Veräußerlichungen einen absoluten Wahrheitsanspruch verkörperten. Der Ablehnung eines absoluten Wahrheitsanspruchs entsprach im von einer Vielzahl von Glaubensformen gebildeten Szenarium die absolute Feindschaft. Hier wird auch die Bedeutung der höchsten auctoritas, non veritas facit legem deutlich, die sich als souveränes Prinzip behaupten konnte und zugleich die privaten Gewissen ihrer politischen Reperkussion680 säkularisierte. Die Vielfalt der absoluten, aus dem Innern stammenden Wahrheitsansprüche sah sich in ihren externen Manifestationen im Namen einer souveränen Autorität begrenzt, die die private Feindschaft als absolute Feindschaft abzuschaffen vermochte. Die Entsakrali677 Begreift man die Säkularisierung nur als Ergebnis, läuft man Gefahr, nur den Staat zu sehen und den Prozess, der zu diesem führte, zu ignorieren. Meines Erachtens ist in diesem Fall eine Tendenz zu beobachten, dass die Vorteile der Pazifizierung die extreme Intensität der Konflikte, zu denen der Staat fähig war, verdecken. 678 Schmitt 2002b, S. 9. 679 Schmitt 2002b, S. 10. 680 Lateinisch: Wiederstoßen, es handelt sich um eine spezielle Gesangstechnik mit Tonwiederholungen, z.B. im Gregorianischen Choral (Anmerkung des Herausgebers).
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sierung der Neuzeit gründet auf der Unterscheidung von Freund und Feind. Der Staat neutralisiert die religiösen Konflikte in seinem Innern und tritt als säkularisierte Sphäre in Erscheinung, und zwar in dem Maße, in dem er religiöse Parteien, Kirchen und jede andere Art mittelalterlicher Verbände aus dem Monopol der letzten Entscheidung über die Feindschaft ausschließt. Indem der Staat den Begriff der Feindschaft säkularisiert oder, wie der Autor es auch nennt, diese relativiert oder enttheologisiert, erhebt sich der Staat zu einer spezifisch politischen Sphäre. Die Theologie hatte die Feindschaft diskriminiert und sie auf eine moralische und folglich kriminelle Frage reduziert, wodurch der theologische Feind dem ius puniendi unterworfen wurde, deren Ausübung noch nicht in den Händen des Staates zentralisiert war. Hinter der kriminellen Grausamkeit und Unmenschlichkeit, mit der die Kirche ihre Feinde behandelte, stand die Unterscheidung zwischen „gerechtem und ungerechtem Krieg“ und die Vorstellung einer „iusta causa“, deren Grundlage die Autorität einer geistlichen Ordnung der christlichen Republik war.681 Aus der Vision einer unifizierten Welt unter der universalen Autorität der christlichen Republik schloss man, dass jeder Krieg, der ohne Bewilligung der geistlichen Gewalt, d.h. ex iusta causa geführt wurde, als ungerecht angesehen und der Feind diskriminiert werden musste. Die Verletzung dieses Folgesatzes stellte immer einen Affront gegenüber der absoluten Wahrheit des Glaubens dar und nahm folglich immer die kriminelle Bedeutung einer absoluten Feindschaft an. Der Verlust der Einheit der römischen Kirche hinderte aufstrebende Kirchen, anglikanische, presbyterianische oder katholische Parteien, die die päpstliche Autorität nicht mehr anerkannten, nicht daran, die aus der Moraltheologie stammenden Begriffe und Unterscheidungen zu verwenden. Daraus entsteht dann das Szenarium der europäischen Welt, die, obwohl sie ihr geistliches und politisches Zentrum mit dem Fall der römischen Kirche verloren hatte, sich weiter der theologisch-moralischen Begriffe und Unterscheidungen bediente. Die politische Einheit Europas konnte nun ihre Mitte nicht in einem einzigen Machtzentrum finden. Die christliche Welt Europas konnte nicht mehr unter der christlichen Vision einer einzigen universellen Gemeinschaft subsumiert werden. Der von den – auch politiques genannten – Verteidigern einer neutralen säkularen Sphäre in Gang gesetzte Säkularisierungsprozess wird als Kampf gegen die theologischen Unterscheidungen von gerechtem und ungerechtem Krieg dargestellt, deren praktische Folge die Verabsolutierung des Krieges und der Feindschaft war. Das theologisch-moralische Fundament der Unterscheidung erhöhte die Intensität der Konflikte nicht nur aufs Äußerste, die europäischen Konfessionskriege neigten außerdem dazu, sich auszubreiten. Die Diskriminierung des Krieges und die von der iusta causa gestützte Verleugnung der Feindschaft wirkten wie ein Freibrief für die Jagd auf die Ungläubigen im Herrschaftsraum aller Reiche. Die Hauptlektion, die aus der Verleugnung der Antagonismen, genauer des auf theologisch-moralischer Grundlage geführten Krieges gezogen werden konnte, kam in 681 „In der stabilisierten Autorität der Kirche liegt der Halt für eine Bestimmung des gerechten Krieges von der formalen Seite her.“ (Schmitt 1997, S. 90)
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ihrer absoluten Form zum Ausdruck: in der physischen Hinrichtung des Anderen, in der Verleugnung des Rechts auf Selbstbestimmung des Feindes, in der Missachtung der vom Feind gezogenen territorialen Grenzen, in Verfolgung und Plünderung. Die Art und Weise, wie die Kriminalisierung des Feindes jegliche territoriale Grenze verwischt und die Enteignung, Besetzung und Landnahme rechtfertigt, ist offenkundig. Die Schlussfolgerung, zu der Schmitt gelangt, ist, dass die moralische Grundlage, die die europäischen konfessionellen Bürgerkriege befeuerte, sich nicht so sehr von jener unterscheidet, die er in seiner Diagnose des Ersten Weltkrieges als „totalem Krieg“ beobachtete, durch den die Unterscheidungen zwischen Zivilperson und Soldat, zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten, zwischen Krieg und Frieden eliminiert wurden. Die aus der Moral entspringende universalisierende Tendenz verwandelte den Kombattanten in einen Kriminellen und stützte sich auf das falsche Versprechen, dass in der Zukunft keine Kriege mehr geführt würden. Diese Moralisierung des Krieges lässt sich am Kellogg-Pakt des Völkerbundes erkennen.682 Die Säkularisierung der theologischen Politik durch die Neutralisierung ihrer moralischen Quelle, die den Krieg kriminalisierte und den Feind zum Schuldigen machte, wird von Schmitt angesichts des Verlusts des politischen Monopols des Staates als unvollendeter Prozess begriffen. Die Vermischung von Politik und Moral scheint immer den antagonistischen Charakter der Konflikte zu verdunkeln und folglich auch die juristischen und politischen Begriffe zu trüben.683 Schmitt will nicht nur die politischen und juristischen Begriffe auf die Gründungskämpfe des modernen Staates und des Jus Publicum Europaeum zurückführen, um den historischen Erfolg der Begründung einer internen Ordnung und einer Außenpolitik aufzuzeigen. Der Autor will auch die theologischen, säkularisierten „klassischen Begriffe“ des europäischen modernen Staatsmodells wieder verfügbar machen, damit mit ihnen die seines Erachtens fundamentale Frage seiner Zeit angegangen werden kann: die Säkularisierung des Politischen. Was aber sind diese „klassischen Begriffe“, die aus der Trennung des kirchlich-theologisch-moralischen Inhalts vom politischen-säkularen Bereich hervorgingen? Das Klassische ist die Möglichkeit eindeutiger, klarer Unterscheidungen. Innen und außen, Krieg und Frieden, während des Krieges Militär und Zivil, Neutralität oder Nicht-Neutralität, alles das ist erkennbar getrennt und wird nicht absichtlich verwischt. Auch im Kriege haben alle auf beiden Seiten ihren klaren Status. Auch der Feind ist im Krieg des zwischenstaatlichen Völkerrechts als souveräner Staat auf gleicher Ebene anerkannt.684
Es scheint mir, als ob hier die wichtigste Bedeutung des Säkularisierungsbegriffs, der in dieser Arbeit als eine der wichtigsten Ideen in den Arbeiten des Juristen betrachtet wird, an die Oberfläche käme: „die Hegung und Eingrenzung des Krieges“. Die gegenseitige Anerkennung des Kriegsrechts und der jeweiligen Gegen682 Schmitt 1994j, S. 282. 683 Schmitt 2002b, S. 64. 684 Schmitt 2002b, S. 11.
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seite als Feind stellt auch die gegenseitige Anerkennung der Rechtsgleichheit dar. Die gegenseitige Anerkennung der Möglichkeit existentieller Konflikte stellt auch eine Chance auf eine Reduzierung des Kontingenzgrades oder des Kriegsrisikos dar, da die gegenseitige Anerkennung die Konstruktion eines Erwartungshorizontes erlaubt, den der private Krieg nicht zugelassen hatte. Die Säkularisierung löst durch die Anerkennung der Feindschaft – nicht notwendigerweise als moralisches Problem, sondern vor allem als existentielle menschliche Frage, – den Begriff der theologischen Feindschaft auf. Die gegenseitige Anerkennung der Feindschaft und des Krieges, d.h. der Respekt vor der Existenz unterschiedlicher menschlicher Verbände, bedingt die Gleichheit der Möglichkeit der ontologischen Negation. Die säkularisierende Lektion will uns dazu bewegen, die Antagonismen als existentielle, und nicht als moralische, emotionale oder ökonomische Eigenschaften des Menschen zu sehen. Sie können nicht eliminiert werden, indem sie verleugnet, verhüllt oder diskriminiert werden. Es ist ja auch nicht falsch zu sagen, dass der Krieg nicht durch ein juristisches oder moralisches Verbot abgeschafft werden kann. Im Gegenteil: Die Gefahr eines Konflikts wächst im gleichen Maße, in dem versucht wird, ihn abzuschaffen, denn dadurch würde die Erwartungskette unterbrochen, die zwischen souveränen politischen Einheiten existiert. Im zweiten Kapitel seines Buches Ausdifferenzierung des Rechtes. Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie aus dem Jahr 1999, untersucht Niklas Luhmann die Beziehung zwischen Recht und Konflikt. Er bemerkt, dass das Bewusstsein um einen Konflikt und die Anerkennung des Anderen als Feind alleine schon ausreicht, um einer Lösung den Weg zu bahnen. Luhmann schreibt, dass die Konflikte von Erwartungsunsicherheit dadurch [befreien], dass man im Konflikt den Partner als Gegner unterstellt und die Annahme als ein sicheres Prinzip der Erwartungsbildung benutzt. Wir lassen uns nicht auf die optimistische Annahme ein, der Konflikt selber sorge für seine „Lösung […].“685
Die Nicht-Diskriminierung des Krieges und die Ersetzung des iustus hostes durch den öffentlichen Feind (hostes) hat nicht den Krieg zum Ziel, sondern seine Eindämmung: „Der Krieg ist durchaus nicht Ziel und Zweck oder gar Inhalt der Politik, wohl aber ist er die als reale Möglichkeit immer vorhandene Voraussetzung, die das menschliche Handeln und Denken in eigenartiger Weise bestimmt und dadurch ein spezifisch politisches Verhalten bewirkt.“686 Der Krieg als extremer Antagonismus ist kein Ziel, das von der Politik angestrebt wird, sondern sein Zweck besteht darin, deutlich zu machen, dass er jedem Verständnis von Politik zugrundeliegt. Schmitt zufolge ist der Krieg nicht die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, sondern die ultima ratio der Freund-Feindgruppierungen. In Schmitts Augen wäre es voreilig, Clausewitz’ Aussagen darauf zu reduzieren, dass der militarisierte Krieg eine „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ wäre. Schmitt erklärt, dass der Krieg nicht eines unter vielen anderen Mitteln der Politik ist, sondern der letzte mögliche Weg. Somit wäre die Politik weiterhin das „Gehirn 685 Luhmann 1999, S. 97. 686 Schmitt 2002b, S. 34f.
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des Krieges“, der selbst nur ein Werkzeug wäre.687 Für Schmitt ist der Krieg jedoch nicht ein bloßes Werkzeug, sondern ist auch Träger eines kontingenten Charakters, ohne den die menschliche Existenz keinen Sinn hätte. Ohne die Eventualität eines extremen Antagonismus wäre es nicht möglich, die Verbindungen und Trennungen menschlicher Gemeinschaften zu erkennen. Die Politik ist nicht mit dem Krieg identisch, sie findet in ihm aber ihre letzte Möglichkeit, die ein spezifisch politisches Denken definiert. Das Unterscheidungskriterium von Freund und Feind bedeutet nicht ewige Freundschaft oder Feindschaft zwischen den Völkern, ebenso wenig bedeutet es die Unmöglichkeit einer Neutralität zwischen staatlichen politischen Einheiten. Schmitt erklärt, dass alle Begriffe der Politik, so wie auch der Begriff der Neutralität, ihr Fundament in „dieser letzten Voraussetzung einer realen Möglichkeit der Freund-Feindgruppierung“ haben.688 Damit kehren wir zur Ausgangsfrage dieses Kapitels zurück, denn alle politischen Begriffe wären „säkularisierte theologische Begriffe“, da sie, wie Schmitt in der Politischen Theologie sagt, ihre Bedeutung in der „letzten realen Möglichkeit einer Freund-Feindgruppierung“ finden. Diese extreme Möglichkeit kann nur von einem Säkularisierungsbegriff her verstanden werden, also in der Beziehung des Politischen zur Theologie. Die Eigenschaft des Politischen als „äußersten Intensitätsgrad einer Verbindung oder Trennung, einer Assoziation oder Dissoziation“689 versucht aufzuzeigen, dass das Politische sein Fundament aus einer Art Konflikt bezieht, der der Neutralisierung der absoluten Feindschaft entspringt und so als existentielle Feindschaft in der säkularisierten Sphäre erscheint. Die absolute Feindschaft erlaubte weder Unterscheidung noch Relativierung der Feindschaft. Nur die Säkularisierung der absoluten Feindschaft erlaubt es, diese zu relativieren und den Krieg einzudämmen, da der Krieg der absoluten Feindschaft keine Hemmung kennt.690 Die Hegung eines Krieges bedeutet die Möglichkeit zu verhindern, dass die Kämpfe irregulär und unvorhersehbar werden. Außerdem verhindert sie, dass sie sich grenzenlos ausweiten und dabei die von den verschiedenen politischen Einheiten bestimmten räumlichen Linien überschreiten. Der Krieg zwischen souveränen staatlichen Einheiten sei zwar mit einem Duell vergleichbar, doch Schmitt warnt, dass man „die vorhin erwähnte Analogie des zwischenstaatlichen Krieges mit einem Duell nicht zu übertreiben [braucht], aber diese Analogie trifft doch in weitem Masse zu, liefert viele aufschlussreiche, heuristisch nützliche Gesichtspunkte“.691 Das Duell ist demzufolge eine von der iusta causa rigoros getrennte Form. Seine Qualität liegt nicht in einer abstrakten Rechtsform einer konkreten Ordnung, sondern in der Tatsache, dass in der Erhaltung seiner Form einige Garantien wie die Begrenzung, das Befolgen eines bestimmten Vorgehens mit der Parität der Hilfestellung durch Zeugen etc. enthalten sind. Die Herausforderung zu einem Duell stellt weder eine Aggression 687 688 689 690 691
Schmitt 2002b, S. 34. Schmitt 2002b, S. 35. Schmitt 2002b, S. 27. Schmitt 2002c, S. 54. Schmitt 1997, S. 115.
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noch ein Verbrechen dar und bewahrt die Idee der Parität. „So spielt sich in seiner Idealform auch der zwischenstaatliche Krieg des inner-europäischen Völkerrechts ab, bei dem die neutralen Staaten als die unparteiischen Zeugen fungieren.“692 Ungeachtet des zweifelhaften Charakters der Analogie zwischen einem Duell und einem klassischen Krieg der europäischen Staaten ist es doch interessant zu sehen, wie sich da eine konstante Sorge um die Reduzierung der Irregularität des Konfliktes durch die Rechtsgleichheit der Staaten zeigt. Diesem Argument scheint das Bild einer unipolaren Welt zugrunde zu liegen, die von der asymmetrischen Verteilung der politischen Macht geprägt ist. Der Ausweg bestünde in einem Gleichgewicht der Kräfte durch die juristische Gleichheit der Staaten, die auf der Symmetrie des Rechtes des Krieges und des Friedens beruht, auf der Möglichkeit also, eine Unterscheidung von Freund und Feind zu treffen. Wenn das Politische nicht von der Neutralisierung her gelesen und interpretiert wird, werden Schmitts Argumente widersprüchlich. Schmitt zufolge kann kein Krieg aus rein moralischen, rein theologischen, rein juristischen oder rein ökonomischen Gründen geführt werden. Ein Krieg muss nichts Frommes, moralisch Verwerfliches, viel weniger noch ein gutes Geschäft sein. Schmitt meint, dass dies nicht gut genug verstanden werde, weil man nicht bemerke, dass die moralischen, wirtschaftlichen oder juristischen Gegensätze auch die politische Ebene erreichen können. Das Wichtigste sei es, immer zu wissen, ob die Möglichkeit zu einem Konflikt gegeben sei, aus welchem Grund auch immer. Gegensätze, wie zum Beispiel der pazifistische, können so intensiv werden, dass die Pazifisten die Nicht-Pazifisten zu einem Krieg bewegen könnten, zu einem „Krieg gegen den Krieg“, wodurch sich die politische Kraft bemerkbar machen würde, denn sie wäre stark genug, Menschen zu verbinden und zu trennen. Wenn die Verbissenheit, einen Krieg zu verhindern, so extrem wird, verliert der Krieg seine abschreckende Wirkung und nimmt ein politisches Motiv an. Das Problem besteht darin, dass die Kriege immer mehr so geführt werden, als seien sie „der letzte entscheidende Krieg der Menschheit“. Diese Kriege gehen über das Politische hinaus und nehmen damit einen unmenschlichen Charakter an, da sie den Feind moralisch erniedrigen, bis dieser sich in etwas Abstoßendes verwandelt: in einen Unmenschen. Gibt es hier einen Widerspruch? Weshalb erreicht der Konflikt im Politischen nicht seinen Höhepunkt, sondern übersteigt diesen noch? In seinem Buch Der Nomos der Erde erläutert Schmitt diese Frage und zeigt auf, dass in diesem Fall ein Rückschritt in der theologischen Säkularisierung des Feindes stattfindet. Der Krieg, der jeder politischen Auffassung zugrunde liegt, offenbart die Möglichkeit einer Freund-Feindunterscheidung. Diese Unterscheidung macht nur Sinn, wenn der existentielle Konflikt in einer dem Verstehen zugänglichen Weise anwesend ist. Erst die existentielle Feindschaft zwischen menschlichen Gruppierungen macht die gegenseitige Anerkennung möglich. Ich denke nicht, dass die Säkularisierungstheorie eine Theorie ist, die auf den Krieg hin ausgelegt ist. Ganz im Gegenteil: Schmitt entwickelt sie, indem er von der historischen Entwicklung ausgeht, die er vertieft in seinem Werk Der Nomos 692 Schmitt 1997, S. 115.
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der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum untersucht. In dieser Arbeit geht er von der Ersetzung des jus causa der römischen Kirche durch den jus hostes aus, um den Säkularisierungsprozess zu erklären. Diese Ersetzung erlaubt eine Gleichheit des Rechts in Bezug auf den Krieg und folglich die existentielle Anerkennung unterschiedlicher Völker.693 Der Sinn der durch die Säkularisierung erreichten Hegung und Eindämmung des Krieges erlaubt es, einen symmetrischen Freund-Feindbegriff aus der Sicht der zwischenstaatlichen räumlichen Relationen zu formulieren. Dies ist im Bereich der privaten Freundschaft unmöglich, in dem der absolute Charakter der Überzeugung eines jeden auf der justa causa beruht, wodurch die gegenseitige Anerkennung innerhalb der universalisierenden Auffassung eines Heiligen Krieges unmöglich wird. So aber kann der Krieg durch das Völkerrecht eingeschränkt und geführt werden. Schon in seinen ersten Arbeiten entwickelt Schmitt die Bedeutung des Säkularisierungsbegriffs anhand einer Identifizierung des Problems der Kontingenz als ontologische Struktur der Wirklichkeit. In seinen frühen Arbeiten führt er eine Spezifizierung des Kontingenzproblems in der Spannung zwischen Gesetz und Entscheidung, Recht und Staat, Souveränität und Macht durch; in der Politischen Theologie entwickelt er die Vorstellung von Kontingenz als Ausnahme, genauer als Extremsituation oder Grenzfall, der das normative Scheitern offenbart, um schließlich im Begriff des Politischen zur entscheidenden Formulierung zu finden: Im privaten Krieg oder in der privaten Feindschaft erreicht die Kontingenz ihr höchstes Niveau. Der höchste Intensitätsgrad der Kontingenz offenbart sich in den religiösen Bürgerkriegen des 16. und 17. Jahrhunderts, in denen sich der „Begriff des theologischen Feindes“ manifestiert.694 Der Imperialismus ist ein Beispiel einer Herrschaft, deren Argumente ihre Grundlage in liberalen Prinzipien und Begriffen, die sich zwischen Ethik und Wirtschaft bewegen, finden. Diese Grundlagen sind nichts Anderes als eine Negation des Politischen. Auf diese Weise setzt der Imperialismus der Politik mal seinen ökonomischen, d.h. apolitischen, mal seinen antibellizistischen, also pazifistischen Charakter entgegen. Unter den apolitischen, also pazifistischen Methoden finden sich die „Unterbindung der Nahrungsmittelzufuhr an die Zivilbevölkerung und die Hungerblockade“.695 Die moderne Form, die physische Vernichtung herbeizuführen, bedient sich komplexerer Prinzipien, die durch den Einsatz von Kapital und Intelligenz ermöglicht werden. Um sich dieser von der Völkerbundsatzung vorgesehenen (wie Schmitt im Begriff des Politischen hervorhebt) Mittel zu bedienen, bildet sich ein pazifistisches Vokabularium heraus, „das den Krieg nicht mehr kennt, sondern nur noch Exekutionen, Sanktionen, Strafexpeditionen, Pazifizierungen, Schutz der Verträge, internationale Polizei, Maßnahmen zur Sicherung des Friedens“.696
693 694 695 696
Schmitt 1997, S. 91. Schmitt 1997, S. 95. Schmitt 2002b, S. 77. Schmitt 2002b, S. 77.
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Das pazifistische Vokabularium verweist uns zurück auf die Frage nach den Manifestationsformen der unsichtbaren Mächte, die die politische Absicht ihres Handelns verbergen möchten. Auch die progressive maritime Besetzung begünstigte die Strategie der Seeblockaden vor feindlichen Küsten und veränderte so den Standard der territorialen Kriege des europäischen Staates, dem seit dem 16. Jahrhundert die Auffassung zugrunde lag, dass „der Krieg eine Beziehung von Staat zu Staat ist. Auf beiden Seiten steht die staatlich organisierte, militärische Macht, und Armeen tragen in offener Feldschlacht den Kampf untereinander aus“.697 Die Besetzung des Seeraumes verwischte die klaren Unterscheidungen von kriegsführender Armee und Zivilbevölkerung. Die wachsende Herrschaft über das Meer hob die Trennung zwischen Land und Meer hervor und begrenzte den Krieg nicht mehr auf die Kombattanten. „Eine Hungerblockade insbesondere trifft unterschiedslos die Bevölkerung des ganzen blockierten Gebietes, Militär und Zivilbevölkerung, Männer und Frauen, Greise und Kinder.“698 Der Preis, der für die Negierung der Feindschaft gezahlt werden muss, ist die absolute Feindschaft, die Diskriminierung des Krieges führt zu einem globalen Bürgerkrieg, der Moralisierung der Konflikte entspringt eine grenzenlose Intervention durch eine Weltpolizei. Der öffentliche Feind, der jus hostes, im Kampf um die Gründung des modernen Staates und des europäischen Völkerrechts entstanden, ist keine Polizeiangelegenheit, denn er ist weder Pirat noch Terrorist. Die absolutierende oder universalisierende theologisch-moralische Quelle erzeugt politische Wirkungen, die jede Art von säkularer politischer Herrschaft untergraben. Im Vorwort zu seiner Arbeit Der Begriff des Politischen weist Schmitt im Rahmen seiner Ausführungen über den historischen Erfolg des Staates in der Unterdrückung und Eliminierung der privaten konfessionellen Kriege auf die Frage des gerechten Krieges hin. Sich auf den Staat beziehend meint er, dass es ihm gelungen sei, „die Fehde, ein Institut des mittelalterlichen Rechts, zu beseitigen, den konfessionellen Bürgerkriegen des 16. und 17. Jahrhunderts, die auf beiden Seiten als besonders gerechte Kriege geführt wurden, ein Ende zu machen“.699 Die Säkularisierung der theologischen Begriffe gründet in den Kämpfen, die zwischen den Juristen, den Begründern des Systems der zwischenstaatlichen Parität, wie Alberico Gentilis, und den Theologen, die die justa causa und den jus bellum verteidigten, geführt wurden. Die Säkularisierung könnte also so begriffen werden, dass sich die völkerrechts-geschichtliche Wendung von Mittelalter zur Neuzeit in einer doppelten Trennung zweier im Mittelalter untrennbar Gedankenreihen vollzieht: in der endgültigen Ablösung der moraltheologisch-kirchlichen von der juristisch-staatlich Argumentation und in der ebenso wichtigen Ablösung der naturrechtlichen und moralischen Frage der justa causa von
697 Schmitt 2001, S. 87. 698 Schmitt 2001, S. 88. 699 Schmitt 2002b, S. 10.
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der typisch juristisch-formalen Frage nach dem justus hostis, der vom Verbrecher, d. h. Von dem Objekt einer punitiven Aktion, unterschieden wird.700
Säkularisierung hat in diesem Zusammenhang also auch die Bedeutung einer Enttheologisierung und bedeutet eine Nicht-Diskriminierung der Feindschaft, die Emanzipierung des Begriffs der Feindschaft von einer theologisch-moralischen Bedeutung. Im säkularisierten Raum der modernen Politik schließt der Staat die theologisch-moralische und kirchliche Argumentation zur Bestimmung des Feindschaftbegriffs aus.701 Die Säkularisierung führt zu einer Relativierung der Feindschaft, zur Nicht-Diskriminierung ihres Begriffes, so dass „der Feind aufhört, etwas zu sein, das vernichtet werden muss“,702 denn „auch der Feind hat einen Status; er ist kein Verbrecher“.703 Es ist bemerkenswert, mit welcher Hartnäckigkeit in verschiedenen seiner Arbeiten – wie z.B. in Der Begriff des Politischen, Der Leviathan in der Staatslehre Thomas Hobbes, Der Nomos der Erde und Politische Theologie II – Schmitt immer wieder auf die Bedeutung der Säkularisierung der absoluten Feindschaft hinweist. Er will damit die Gefahr einer universalistischen Moral aufzeigen, die, indem sie die Totalität der Menschen unter einen einzigen Begriff der Menschheit subsumiert, die politischen Unterscheidungen eliminiert und damit den Intensitätsgrad der Feindschaft bis ins Extreme steigert. Der Feind der Menschheit ist nicht nur der öffentliche Feind, sondern das moralisch Erniedrigende, das seinen Gegenspieler im Unmenschen findet. Aus Schmittscher Sicht extrapoliert das Bestreben, einen pazifistischen moralischen Wert durch die Negation der Antagonismen zu universalisieren, die Steigerung der Konflikte. Dem Juristen zufolge sind die großen Autoren der historischen Großtat, ein klassisches staatliches Modell und ein zwischenstaatliches, öffentliches Völkerrecht entwickelt zu haben, Jean Bodin und insbesondere Thomas Hobbes. Ohne ihre politischen Ideen wäre das Modell des säkularisierten modernen europäischen Staates vielleicht nie entstanden. Die Säkularisierung als Neutralisierung der religiösen Konflikte und die Bildung eines europäischen Staatsmodells wird als Fortschritt begriffen, da er durch den europäischen Rationalismus des 16. und 17. Jahrhunderts zu einer tatsächlichen Humanisierung des Krieges geführt hat.704 Wir begingen einen Irrtum, wenn wir die Idee der Humanisierung im Sinn der aufklärerischen Philosophie des 18. Jahrhunderts begriffen, da diese von einem absoluten Wert der Menschheit ausgeht, wodurch die Menschheit ihren Gegensatz nur im Unmenschlichen findet. Hier erleidet der Fortschritt, der durch die Säkularisierung einer von ihrem universalistischen Fundament entsakralisierten Feindschaft errungen wurde und den Schmitt nicht nur beschreibt, sondern auch konkretisieren will, einen Rückschritt.705 700 701 702 703 704 705
Schmitt 1997, S. 91. Schmitt 1997, S. 91. Schmitt 1997, S. 114. Schmitt 2002b, S. 11. Schmitt 1997, S. 113. Schmitt 1997, S. 73.
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Schmitt zufolge hat man gegenwärtig die Tatsache aus den Augen verloren, „dass der große Fortschritt des zwischenstaatlichen europäischen Völkerrechts darin bestand, die Lehre von der justa causa durch die Lehre von der juristischen Gleichheit der beiderseitig justis hostes zu ersetzen“.706 Die an diesem säkularisierenden Prozess beteiligten Autoren gehören zu den Begründern des europäischen zwischenstaatlichen Völkerrechts: Die Juristen Baltasar Ayala (1582), Alberico Gentilis (1588) und Richard Zouch trennten bellum justum von justa causa. Die Erstellung einer Genealogie des Säkularisierungsbegriffs bis hin zur heroischen Neutralisierung der absoluten Feindschaft verleiht ihm eine Dimension, die über die heuristische hinausgeht, da Schmitt damit eine spezifische Alternative für das schaffen will, was heute vor sich geht: „die Rückkehr von einem juristisch gedachten justus-hostis-Begriff zu einem quasi-theologischen Feindbegriff“.707 Meines Erachtens setzt Schmitt seinen Säkularisierungsbegriff ein, um die klassische Bedeutung eines begrenzten Krieges zwischen souveränen Staaten wiederherzustellen. Seine Absicht besteht darin, die Illusion einer Welt ohne Grenzen, ohne Feindschaften, ohne Politik, einer Welt als einheitliche menschliche Gemeinschaft zu entlarven, in der die Menschheit „als eine einheitliche, im Grunde bereits befriedete Gesellschaft [gilt]; Feinde gibt es nicht mehr; sie werden zu Konfliktpartnern; an die Stelle der Weltpolitik soll eine Weltpolizei“ treten.708 Obwohl Schmitt das klassische europäische Staatsmodell als Frucht historischer Ereignisse ansieht, beharrt er auf der Rolle des Staates als Säkularisierungsmedium: Die „Staatlichkeit“ ist dabei kein allgemeiner, für alle Zeiten und Völker gültiger Begriff, sondern eine zeitgebundene, konkret-geschichtliche Erscheinung. Die völlig unvergleichbare, einmalige zeitgebundene, konkret-geschichtliche Erscheinung. Die völlig unvergleichbare, einmalige geschichtliche Besonderheit dessen, was man in einem spezifischen Sinne ‚Staat‘ nennen kann, liegt darin, dass dieser Staat das Vehikel der Säkularisierung ist.709
Meines Erachtens besteht jedoch kein Zweifel daran, dass Schmitt die Notwendigkeit, dass Staaten oder andere politische Formen wie die Großräume weiterhin als Vehikel der Säkularisierung des Politischen handeln und so klare Unterscheidungen ermöglichen, verteidigt. Diese säkularisierenden souveränen Einheiten verhindern die Steigerung zum totalen Krieg und kehren zur klassischen Form der Hegung und Begrenzung des Krieges zurück. Ich teile Habermas’ Meinung nicht, der zufolge Schmitts Versuch einer Wiederherstellung des Staates im klassischen zwischenstaatlichen Sinn eines begrenzten Krieges ein „utopisches Ziel“ sei.710 Diese Kritik, die sich gegen das utopische Denken richtet, könnte gegen Habermas selbst gewendet werden, denn die Weltsicht, die seinem Begriff der kommunikativen Vernunft zugrunde liegt, beruht auf einer apolitischen Welt. In Schmitts 706 707 708 709 710
Schmitt 1997, S. 93. Schmitt 1997, S. 95. Schmitt 1988a, S. 272. Schmitt 1997, S. 97. Habermas 2005, S. 227.
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Ohren muss das konfliktfreie – habermassche – Weltbild, das auf einem anthropologischen Optimismus aufbaut, in dem die Menschen nicht nur einem Dialog, sondern auch den besseren Argumenten der Parteien offen gegenüberstehen, fast kindlich klingen. Diese Welt von Bürgern, die sich für einen Dialog öffnen, wäre in einer idealen Situation der Sprache möglich, einer Sprache, die sich als Situation definiert, in der die Kommunikation nicht durch äußere kontingente Einwirkung gestört wird, noch Zwängen unterliegt.711 Habermas’ Kritik an Schmitt in Bezug auf die utopische Aneignung klassischer Begriffe ignoriert die zentrale Sorge des Juristen, seine Reflexionen in der konkreten Situation der gegenwärtigen Wirklichkeit anzusiedeln, um so den anachronistischen Gebrauch politischer Ideen zu verhindern. Deshalb hat der Jurist auch immer die Entwicklung neuer Begriffe für neue Situationen gefordert. Seine Diagnose, die auf das Risiko einer Entpolitisierung und auf die Gefahr der Negation der Konflikte durch die Moral, das Recht und die Wirtschaft hinweist, sollte nicht ignoriert werden. Das Bemühen, die Begriffe des zwischenstaatlichen Krieges des europäischen Völkerrechts wiederherzustellen, ist Frucht eines Einsatzes, konkrete Grenzen für die angeblich humanitäre Intervention, die die Souveränität der Völker dieser Erde an sich reißt, zu setzen. Zudem ist die Aussage, der zufolge die Verletzung der Souveränität verschiedenster politischer Verbände den Verlust der Unterscheidungen von Zivilbevölkerung und Kombattanten, Militärischem und Nicht-Militärischem und Krieg und Frieden beschleunigt, von unbestreitbarer Aktualität. Schmitts Verwendung der klassischen Begriffe des europäischen zwischenstaatlichen Rechts zielt darauf ab, diese der gegenwärtigen Wirklichkeit anzupassen, um so das Ausmaß eines globalen Bürgerkrieges eindämmen zu können. Im Sinne eines heuristischen Kriteriums erlaubt der Säkularisierungsbegriff eine schärfere Wahrnehmung der polemischen Bedeutung, die den Vokabularien, Abkommen und pazifistischen Gesetzen zugrunde liegt, die, obwohl sie den Konflikt leugnen, sich dennoch als politisch entlarven. In Schmitts Worten: Wir kennen sogar das geheime Gesetz dieses Vokabulariums und wissen, dass heute der schrecklichste Krieg nur im Namen des Friedens, die furchtbarste Unterdrückung nur im Namen der Freiheit und die schrecklichste Unmenschlichkeit nur im Namen der Menschheit vollzogen wird.712
Wenn wir die den unzähligen, gewaltsamen zwischenmenschlichen Konflikten zugrundegelegten Diskurse untersuchen, können wir uns der Logik und der Aktualität dieser Passage nicht verschließen. Invasionen, Besetzungen und Gräueltaten werden weiterhin im Namen einer universalistischen Rhetorik der Menschenrechte begangen. Der Unmenschlichkeit liegt die Auffassung einer universalen Menschheit zugrunde. Die Entmenschlichung des Feindes bedeutet die Reduzierung seines Status als anderes Ich auf den Zustand eines unmenschlichen Geschöpfs, gegen das jede Handlung legitim ist. 711 Habermas apud Alexy 1990, S. 155f. 712 Schmitt 2002b, S. 94.
SCHLUSS Die Säkularisierung des Politischen offenbart den existentiellen Charakter der menschlichen Antagonismen. Die wichtigste Bedeutung, die Schmitt der Säkularisierung zuweist, ergibt sich aus seinem Bestreben, das Politische sichtbar zu machen: die Existenz der zwischen den Menschen ausgetragenen Konflikte verständlich zu machen. Die Säkularisierung führt die Rationalität des modernen Denkens und seine Tendenz zur Universalisierung der moralischen Werte auf die Wirklichkeit des konkreten Lebens zurück. Säkularisieren heißt, die positivistischen und liberalen Staatstheorien von der Höhe ihrer Abstraktion und Generalisierung auf den Boden des irdischen Daseins zurückzuholen. Aus der Sicht der Säkularisierung des Politischen ist es nicht möglich, die existentiellen Konflikte durch ihre Unterordnung unter das Recht, die Moral oder die Wirtschaft aufzulösen. Der in die Verrechtlichung, Normatierung und Moralisierung der politischen Spannungen gesetzte Glaube beseitigt sie nicht. Während die positivistische Normatierung sich angesichts in ihrem Versuch, den Konflikt vorherzusehen, als unfähig erweist, tendiert die moralisch geprägte Universalisierung der aufklärerischen Prinzipien dazu, sie zu verstärken, indem sie die äußerste Grenze des Politischen extrapoliert. Der rote Faden, der sich durch Schmitts säkularisierende Überlegungen hindurch zieht, macht deutlich, dass die von der angeblich allgemeinen Entpolitisierung des menschlichen Lebens ausgehende Verdunklung des Politischen in Wirklichkeit in einer totalen Politisierung endet. Die Entpolitisierung des modernen europäischen Staates und die Privatisierung der politischen Erfahrung der Neuzeit machten es möglich, dass alles politisch würde: Der Verlust des staatlichen Monopols des Politischen bedeutete den Verlust der von der politischen Einheit geleisteten letzten Unterscheidungen, von einer Einheit also, die in der Lage war, dem menschlichen Handeln einen grundlegenden Maßstab anzubieten. Die Auflösung der eminent politischen, von der staatlichen Einheit bereitgestellten Kriterien eliminiert Begriffe und Unterscheidungen, wodurch es nicht mehr möglich ist, das Politische auf das Staatliche und das Staatliche auf das Politische zu beziehen. Dieses Problem ist Resultat der Verquickung von Staat und Gesellschaft im 20. Jahrhundert. Meine Schlussfolgerung bezüglich der grundlegendsten Bedeutung von Schmitts Säkularisierungsbegriff zeigt, dass die Verleugnung der Konflikte den Kontingenzgrad und damit das Risiko der Antagonismen erhöht. Die Auslassung oder die Verhüllung des Konflikts verhindert dessen Begrenzung. Die Anerkennung der Unmöglichkeit, die Gegensätze aus dem menschlichen Leben zu verbannen, ebnet den Weg zu ihrer Eindämmung. Das klare Verständnis einer Unterscheidung von Freund und Feind erlaubt es den in einem Konflikt involvierten Parteien, einen gemeinsamen Erwartungshorizont zu erstellen. Die Säkularisierung des Politischen lehrt uns, dass eine konkrete Teillösung der Konflikte sich
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nicht durch die Normierung und Moralisierung einstellt, sondern durch die gegenseitige Anerkennung der Existenz des Anderen. Mittels der Säkularisierung des Politischen will Schmitt Kriterien zur Unterscheidung von Freund und Feind, Innerem und Äußerem, Krieg und Frieden, Zivilem und Militärischem, Kombattanten und Nicht-Kombattanten zur Verfügung stellen. Schmitts Säkularisierungskonzept will die klaren Unterscheidungen, die der moderne europäische Staat mit der Neutralisierung der Religionskriege errang, zurückgewinnen, um das Staatsmonopol des Politischen zu postulieren und seine Unterordnung unter wirtschaftliche Kategorien und universalisierende Prinzipien zu verhindern. Die Moralisierung der Feindschaft und des Krieges entwürdigt die Figur des Feindes und macht ihn zu einem Kriminellen, zu einem Terroristen, der vernichtet werden muss. Die Anerkennung der Möglichkeit von Gegensätzen zwischen menschlichen Gruppierungen bezweckt, die absolute Bedeutung der Feindschaft zu verhindern, deren Wurzeln in der Moral zu finden sind. Das moralische Fundament der Feindschaft kriminalisiert und privatisiert das Recht auf Selbstbestimmung der Konfliktparteien. Der Privatisierung und Absolutierung der Feindschaft setzt Schmitt die Säkularisierung entgegen, die das Moralische vom Politischen trennt und ein Kriterium des Politischen, eine Unterscheidung von Freund und Feind zu Tage fördert, deren gegenseitige Anerkennung eine unbegrenzte Feindschaft durch eine begrenzte Feindschaft ersetzt. Die Auflösung des Fundaments, dessen Gehalt die Feindschaft kriminalisiert, macht es möglich, ihr den Status des öffentlichen Feindes zu verleihen und so auch ihren absoluten Sinn aufzulösen. Schmitt will den Sinn der Säkularisierung, der durch den modernen europäischen Staat des 17. Jahrhunderts errungen wurde, rehabilitieren. Die Verstaatlichung des Monopols zur Bestimmung der Feindschaft durch den Ausschluss der theologisch-moralischen Kriterien der römischen Kirche und anderer Kirchen, die die Ungläubigen kriminalisierten, ist von höchster Bedeutung. Schmitt will den Sinn der Säkularisierung reaktivieren, um auf das Risiko des Verlusts des staatlichen Monopols des Politischen aufmerksam zu machen. Die Verdunklung des Politischen, der Entscheidung einer letzten Instanz über die Unterscheidung von Freund und Feind erhöht den Kontingenzgrad, wobei Kontingenz als Möglichkeit extremer Konflikte begriffen wird. Solange das Politische verdeckt wird, bedarf es der Säkularisierung, um es verständlich zu machen. Die Verständlichkeit des Politischen weist zwei Aspekte auf: Der erste kann als eine symmetrische Relation zwischen Freund und Feind verstanden werden, als Gleichheit des Status oder der Rechte zwischen souveränen politischen Einheiten. Die Säkularisierung des Politischen erlaubt es, die wirtschaftliche Expansion imperialistischer, angeblich apolitischer Herrschaften im Lichte der staatlichen Parität des europäischen Völkerrechts zu betrachten. Ausgehend von der Sichtbarkeit des Begriffs des Politischen, schlägt Schmitt anstelle einer universalistischen Auffassung – die die Menschheit unter die Herrschaft eines einzigen globalen Staates subsumiert – eine pluralistische Welt vor. Das pluralistische Universum ersetzt das Universum durch das Pluriversum staatlicher Einheiten, die die reale Möglichkeit der Feindschaft anerkennen, und setzt so die Koexistenz unter-
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schiedlicher politischer Einheiten voraus. Aus Schmitts Perspektive kann der Antagonismus nicht ausgeschlossen, sondern nur reduziert werden. Der universelle Menschheitsbegriff, der im 18. Jahrhundert mit der Aufklärung aufkam, baut auf einem Ausschluss der Konflikte aus dem menschlichen Leben auf und retheologisiert so die Feindschaft, indem er ihr ein absolutes moralisches Fundament verleiht. Da die Konflikte nicht ausgemerzt werden können, wird der Feind des universellen Menschheitsbegriffs zum Unmenschen, und der gegen ihn geführte Krieg wird zum totalen Krieg. Somit erfolgt nicht nur ein Verlust der Symmetrie, die aus der Unterscheidung von Freund und Feind entstand, sondern es wird auch der höchste Intensitätsgrad der politischen Konflikte extrapoliert. Für Schmitt gründet das Politische auf jener Art von Konflikt, der aus der Unmöglichkeit von auf der Moraltheologie beruhender Gegensätze, die die Feindschaft stigmatisierten, entstand. Die Säkularisierung des Politischen schließt die private Feindschaft und ihr moralisches Fundament aus, indem sie den staatlichen politischen Einheiten die Bestimmung der Feindschaft zubilligt. Der zweite Aspekt der Säkularisierung des Politischen besteht in der Sichtbarmachung des existentiellen Charakters der Gegensätze. Dieser Aspekt ergibt sich aus der Notwendigkeit, die Endlichkeit der menschlichen Existenz zu begreifen und aus einer Art des Denkens und Handelns, die auf der Möglichkeit der ontologischen Negation des andern Seins beruht. Nur ein klares Verständnis der Endlichkeit und der Unergründlichkeit des Menschen erlaubt es, das Politische als Möglichkeit eines extremen Konfliktes, der durch Normen weder erkannt noch abgeschafft werden kann, zu begreifen. Die Anerkennung der Konflikte erlaubt die Hegung und Eingrenzung der Kriege. Ihre Verleugnung hingegen führt zur Kriminalisierung und zum totalen Krieg. Ausgehend von der Analogie zwischen dem Religionskrieg und der Abwesenheit des staatlichen Monopols des Politischen, schließt Schmitt, dass das Szenarium neutraler und agnostischer Staaten, die im 19. Jahrhundert aufkamen, dem globalen Staat analog ist, d.h. ein globaler Bürgerkrieg, in dem es keine zwischenstaatliche Politik mehr gäbe, sondern nur noch eine internationale Polizei. Die Säkularisierung weist einen hermeneutischen Charakter auf, der es Schmitt erlaubt, die ontologische Struktur der Wirklichkeit aufzudecken, die einen Dualismus zwischen Idealem und Realem, „Sein“ und „Sollen“, Recht und Macht aufweist. Doch schon in seinen ersten Arbeiten beobachtet der Autor, dass die konkrete Wirklichkeit von sukzessiven Immanenzvorstellungen beherrscht wird, die das „Sollen“ aufs „Sein“, die Idee auf die Tatsachen, das Recht auf die Macht und die Entscheidung auf das Gesetz reduzieren, wodurch ein Problem der Form, der getrübten Sichtbarkeit dieser Wirklichkeit erzeugt wird. Die Immanenzvorstellungen zeigen eine autonome, in sich selbst geschlossene Welt, die den überindividuellen Interventionen gegenüber immun und staatlichen Interferenzen gegenüber undurchlässig ist. In einer Welt, die sich selbst regiert, gibt es keine Politik. In ihr ist es nicht möglich zu wissen, wer befiehlt und wer gehorcht, da es einen der Wirklichkeit immanenten Mechanismus zu geben scheint, der die Wirtschaft, das Recht, den Staat und die Menschen antreibt. Die Abwesenheit einer Form be-
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deutet Unsichtbarkeit, ein Fehlen von Sinn, der es erlaubt, Unterscheidungen – wie die von Staat und magnum latrocinium – zu treffen. Schmitts politische und juristische Theorie ist eine Kritik an den Mediationsformen der modernen Politik, die durch die zentrale Stellung, die sie dem Individuum, der Geschichte, der Wirtschaft und der Technik zuweist, die Transzendenz der Idee, die die komplexen Spannung der Wirklichkeit mindert, ins Leere laufen lässt. Die Wirklichkeit wird nur durch die Mediation von Ideen durch eine faktische Macht, die in der Lage ist, der Wirklichkeit Sinn zu verleihen, verständlich. In der Abwesenheit einer absoluten Instanz und einer politischen Entscheidung zur Verwirklichung einer Idee in der Welt läuft man in die Leere einer von der mechanischen Kausalität, von Privatinteressen oder vom Spiel sozialer Kräfte geleiteten Welt. Das Fehlen von Transzendenz ist eines der großen Probleme, die von der hermeneutischen Bedeutung der Säkularisierung aufgezeigt werden, einer Säkularisierung, die die Brüche, Abgründe und Ausnahmen in der ontologischen Struktur der Wirklichkeit hervorzuheben sucht. Schmitt bedient sich des Hiatus zwischen Idealem und Realem, um die Rechtsidee, die er von der Macht unterscheidet, in den Fokus zu rücken. Die Offenlegung der dualistischen Struktur der Wirklichkeit ist eine Antwort auf die positivistische Kultur im Allgemeinen und auf den juristischen Positivismus im Speziellen, der dazu tendiert, die Idee auf das Recht zu reduzieren. Der Dualismus zwischen der ideellen Dimension des Rechts und der faktischen Dimension der Macht zeigt die Schwierigkeit der Verwirklichung einer Idee auf. Im Bestreben, eine Idee sichtbar zu machen oder sie in der empirischen Welt zu verwirklichen, wird die erste Bedeutung von Schmitts Säkularisierungsbegriff deutlich. Der Übergang vom Idealen zum Realen wird minutiös dargelegt, um den Preis und die Anstrengung deutlich zu machen, die notwendig sind, um das Ideale auf der realen Ebene zu verwirklichen. Jede Verwirklichung oder Säkularisierung eines Ideals auf der realen Ebene bedingt eine Objektivierung, die immer einen Verlust mit sich bringt. Diese Bedeutung der Säkularisierung ist implizit bereits in Schmitts erster Arbeit nach seiner Doktorarbeit, in der er den Begriff der Entscheidung entwickelt, zu erkennen. Schmitts politische Theorie will durch ihre Öffnung zur Transzendenz die geschlossenen Systeme aufbrechen, da kein juristisches oder wirtschaftliches System in sich selber ruht. Die intensivsten Immanenzvorstellungen dulden keinerlei Transzendenz und unterwerfen so die Persönlichkeit der Souveränität der Unpersönlichkeit des Gesetzes, der politischen Entscheidung und der Selbstregulierung des sozialen Lebens. Das Aufbrechen der Systeme der Immanenz sucht die Transzendenz, um deren relativen Charakter aufzuzeigen. Das Ziel von Schmitts politischer Theorie besteht darin, die Unvorhersehbarkeit und Instabilität, die aus der Entleerung der politischen Substanz der Wirklichkeit entstehen, zu reduzieren. Die Synthese der verschiedenen Bedeutungen, die Schmitt dem Säkularisierungsbegriff zuweist, macht die Unmöglichkeit, die Kontingenz zu verleugnen, deutlich. Die Kontingenz aus der Wirklichkeit des menschlichen Lebens zu verbannen, bedeutet, nicht nur die Möglichkeit der unwägbaren Dimension der menschlichen Gegensätze, sondern den Sinn seiner eigenen Existenz auszuschlie-
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ßen, die ohne die politische Entscheidung und das politische Handeln in der Welt nicht begriffen werden kann. Schmitts Säkularisierungsbegriff rückt Spannungen, Brüche und Ausnahmen in den Blick, um die Unzulänglichkeit in sich geschlossener Denksysteme, die die konkrete Lebenswirklichkeit unter universelle Regeln und Prinzipien subsumieren, zu entlarven. Säkularisieren bedeutet, die Allgemeinheit und Regelhaftigkeit der Ordnung der Normen zu sprengen und die konkrete Wirklichkeit der politischen Bedeutung des menschlichen Handelns und Entscheidens aufzudecken. Für Schmitts säkularisierendes Denken geht es nicht mehr um die Konfrontation mit der geistlichen Macht der kirchlichen Vertreter, die in der säkularen Sphäre einer politische Herrschaft zu intervenieren versuchen, sondern um den Kampf gegen die Verhüllung des Politischen durch den Liberalismus und Positivismus. Schmitts Säkularisierungsbegriff zeigt auf, wie sich die Rationalisierung der modernen Rechts- und Politikerfahrung auf die Irrationalität der metaphysischen oder theologischen Grundlagen stützt, wie dies z.B. für eine apolitische Welt, die in Immanenzvorstellungen verankert ist, gilt. Schon in seinen ersten Arbeiten weist der Jurist auf diesen Aspekt hin. Aus seiner Sicht sind alle politischen Begriffe des modernen Staates säkularisierte theologische Begriffe, weil sie sich auf metaphysische Grundlagen, auf das Weltbild einer Epoche stützen. Einerseits beziehen die politischen und juristischen Begriffe ihren Sinn aus den unterschiedlichen Weltvorstellungen, die sich als Zentrum des geistlichen Lebens oder als die Wirklichkeit ordnende Instanzen legitimieren oder verfestigen. Andererseits beinhalten aber alle politischen Begriffe einen polemischen Sinn, der mit den politischen Kämpfen in bestimmten Situationen verbunden ist, deren Verschwinden den Sinn der politischen Begriffe absurd werden lässt und so die Rückführung auf die konkreten Situationen verlangt, in denen sie entstanden sind. Schmitts Denken zeigt, dass die politischen Begriffe nicht nur über die Wirklichkeit informieren, sondern eine Manifestation der Wirklichkeit selbst sind. Begriffe gestalten die Wirklichkeit und verleihen ihr Sinn, was aus ihnen mächtige politische Waffen macht. Die Auseinandersetzung mit der Kontingenz ist wohl so alt wie das Bewusstsein, dass niemand über jene Dinge verfügt, die anders nicht sein können. Unzählige Autoren haben sich mit diesem Thema beschäftigt, wenige aber haben es so bis zu den letzten Konsequenzen zu Ende gedacht wie Schmitt. Schon in den ersten Jugendschriften ist der Jurist sich des Bruches zwischen Gesetz und Entscheidung, zwischen Denken und Handeln bewusst. Somit ist für ihn schon in sehr jungen Jahren klar, dass keine soziale Wirklichkeit unter ein System von Prinzipien und Begriffen, Regeln und Normen subsumiert werden kann. Meines Erachtens können einige der Hauptthemen von Schmitts Denken nur im Licht des Säkularisierungsbegriffs verstanden werden. Die Säkularisierung offenbart die kontingente Struktur der Wirklichkeit des Seins. Die Reichweite von Schmitts politischem Denken verdankt sich seinen ersten Schriften, insbesondere was die Frage nach dem angemessenen Charakter der juristischen Entscheidung betrifft. Ohne die Berücksichtigung von Schmitts ersten Arbeiten ist nicht zu verstehen, wie der Autor die Idee des Dezisionismus entwickelt. Der Kern seines
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Denkens findet sich in der zentralen Rolle, die der Bruch, genauer die Kontingenz darin spielt. Diese Rolle ergibt sich aus der radikalen Opposition des Juristen zum juristischen Positivismus, der Mitte des 19. Jahrhunderts in Preußen aufkam und dessen Hegemonie sich in Deutschland bis 1933 erhalten konnte. Der Gegensatz zwischen Rechtstheorie und Rechtspraxis, Gesetz und Gesetzesanwendung legt den konstanten Riss offen, dem das Denken in der Objektivierung einer Idee ausgesetzt ist. Die Auffassung, wonach der Richter nie in völliger Übereinstimmung mit dem Gesetz entscheidet, und das Bewusstsein des unvermeidlichen Risses zwischen dem Gesetz und dem Ergebnis seiner Verwirklichung stößt in den späteren von Schmitt entwickelten Ideen und Begriffen auf eine enorme Resonanz, insbesondere in seinen Auffassungen von Souveränität und Ausnahme. Die Kontingenz ist nicht nur die Voraussetzung jeder juristischen oder politischen Entscheidung, sondern liegt auch dem Verständnis der Wirklichkeit selbst zugrunde. Indem Schmitt in seinen ersten Schriften feststellt, dass die Kontingenz kein Problem ist, das an der Peripherie des Rechts, sondern in seinem Zentrum angesiedelt ist, macht er aus ihr Inhalt und Methode seiner Untersuchung der politischen und juristischen Phänomene. Der seiner politischen Reflexion ganz eigene Zug besteht in seiner Fähigkeit, die extremen Kontingenzen der menschlichen Konflikte zu denken, deren Ausbruch sich der normativen Rationalität des juristischen Denkens entzieht.
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S TA AT S D I S K U R S E Herausgegeben von Rüdiger Voigt. Wissenschaftlicher Beirat: Andreas Anter, Paula Diehl, Manuel Knoll, Eun-Jeung Lee, Marcus Llanque, Samuel Salzborn, Birgit Sauer, Gary S. Schaal, Peter Schröder. Franz Steiner Verlag
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ISSN 1865–2581
Michael Hirsch Die zwei Seiten der Entpolitisierung Zur politischen Theorie der Gegenwart 2007. 214 S., kt. ISBN 978-3-515-09089-6 Rüdiger Voigt Krieg ohne Raum Asymmetrische Konflikte in einer entgrenzten Welt 2008. 215 S. mit 42 Schaubildn., kt. ISBN 978-3-515-09135-0 Rüdiger Voigt (Hg.) Großraum-Denken Carl Schmitts Kategorie der Großraumordnung 2008. 265 S., kt. ISBN 978-3-515-09186-2 Michael Hirsch / Rüdiger Voigt (Hg.) Der Staat in der Postdemokratie Staat, Politik, Demokratie und Recht im neueren französischen Denken 2009. 229 S., kt. ISBN 978-3-515-09308-8 Rüdiger Voigt Der Januskopf des Staates Warum wir auf den Staat nicht verzichten können 2009. 231 S., kt. ISBN 978-3-515-09309-5 Georg Pfeiffer Privatisierung des Krieges? Zur Rolle von privaten Sicherheitsund Militärfirmen in bewaffneten Konflikten 2009. 172 S., kt. ISBN 978-3-515-09365-1 Rüdiger Voigt (Hg.) Der Hobbes-Kristall Carl Schmitts Hobbes-Interpretation in der Diskussion 2009. 204 S., kt. ISBN 978-3-515-09398-9 Andreas Wagner Recht – Macht – Öffentlichkeit Elemente demokratischer Staatlichkeit bei Jürgen Habermas und Claude Lefort
2010. 178 S., kt. ISBN 978-3-515-09704-8 9. Reinhard Dorn Verfassungssoziologie Zum Staats- und Verfassungsverständnis von Ernst Fraenkel 2010. 193 S., kt. ISBN 978-3-515-09793-2 10. Samuel Salzborn / Rüdiger Voigt (Hg.) Souveränität Theoretische und ideengeschichtliche Reflexionen 2010. 200 S., kt. ISBN 978-3-515-09735-2 11. Manuel Knoll / Stefano Saracino (Hg.) Niccolò Machiavelli Die Geburt des Staates 2010. 235 S., kt. ISBN 978-3-515-09797-0 12. Rüdiger Voigt Staatskrise Muss sich die Regierung ein anderes Volk wählen? 2010. 206 S., kt. ISBN 978-3-515-09800-7 13. Salzborn Samuel (Hg.) Staat und Nation Die Theorien der Nationalismusforschung in der Diskussion 2011. 241 S., kt. ISBN 978-3-515-09806-9 14. Oliver Eberl (Hg.) Transnationalisierung der Volkssouveränität Radikale Demokratie diesseits und jenseits des Staates 2011. 354 S., kt. ISBN 978-3-515-09830-4 15. Rüdiger Voigt (Hg.) Freund-Feind-Denken Carl Schmitts Kategorie des Politischen 2011. 231 S., kt. ISBN 978-3-515-09877-9 16. Tobias ten Brink (Hg.) Globale Rivalitäten Staat und Staatensystem im globalen Kapitalismus
2011. 225 S. mit 2 Tab., kt. ISBN 978-3-515-09905-9 17. Andreas Herberg-Rothe / Jan Willem Honig / Daniel Moran (Hg.) Clausewitz The State and War 2011. 163 S., kt. ISBN 978-3-515-09912-7 18. Frauke Höntzsch (Hg.) John Stuart Mill und der sozialliberale Staatsbegriff 2011. 219 S., kt. ISBN 978-3-515-09923-3 19. Jochen Kleinschmidt / Falko Schmid / Bernhard Schreyer / Ralf Walkenhaus (Hg.) Der terrorisierte Staat Entgrenzungsphänomene politischer Gewalt 2012. 242 S., kt. ISBN 978-3-515-10117-2 20. Matthias Lemke (Hg.) Die gerechte Stadt Politische Gestaltbarkeit verdichteter Räume
2012. 208 S., kt. ISBN 978-3-515-10148-6 21. Stefan Krammer / Wolfgang Straub / Sabine Zelger (Hg.) Tropen des Staates Literatur – Film – Staatstheorie 1918–1938 2012. 208 S. mit 11 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10170-7 22. Tobias Bevc / Matthias Oppermann (Hg.) Der souveräne Nationalstaat Das politische Denken Raymond Arons 2012. 228 S., kt. ISBN 978-3-515-10179-0 23. Gisela Riescher / Beate Rosenzweig (Hg.) Partizipation und Staatlichkeit Ideengeschichtliche und aktuelle Theoriediskurse 2012. 267 S. mit 1 Abb. und 2 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10281-0 24. Rüdiger Voigt Alternativlose Politik? Zukunft des Staates – Zukunft der Demokratie 2013. 247 S., kt. ISBN 978-3-515-10326-8
Die Säkularisierung wird häufig als eine bloße Trennung von geistlicher und weltlicher Macht, von Kirche und Staat, von Altar und Thron verstanden. Viele Autoren, unter ihnen auch Jürgen Habermas, betrachten die Politik und das Recht der westlichen Staaten als vollendenten Säkularisierungsprozess. Der Prozess der Säkularisierung umfasst jedoch ein sehr viel breiteres semantisches Spektrum, dessen Inhalt sich über eine Vielzahl von Auffassungen erstreckt, welche den Begriff in verschiedenen historischen Kontexten charakterisiert haben. Der Autor macht auf ein gravierendes Problem aufmerk-
sam, nämlich auf die Spannung zwischen sichtbaren und unsichtbaren Mächten und auf die Notwendigkeit, die existentiellen Antagonismen zwischen den Menschen aufzudecken. Die Verschleierung der Souveränität, der politischen Handlungen und Entscheidungen durch das Recht, die Wirtschaft und die Moral erhöht die Unvorhersehbarkeit und damit die Zahl der Missgeschicke im politischen Leben. Carl Schmitt hat sein Leben lang gegen die unsichtbaren oder indirekten Mächte gekämpft, um die Instabilität, welcher die politischen Institutionen unterworfen sind, zu verringern.
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ISBN 978-3-515-10342-8