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German Pages 291 Year 1994
Mathias Eichhorn · Es wird regiert!
Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 78
Es wird regiert! Der Staat im Denken Karl Barths und Carl Schmitts in den Jahren 1919 bis 1938
Von Mathias Eichhorn
Duncker & Humblot * Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Eichhorn, Mathias: Es wird regiert! : Der Staat im Denken Karl Barths und Carl Schmitts in den Jahren 1919 bis 1938 / von Mathias Eichhorn. Berlin : Duncker und Humblot, 1994 (Beiträge zur politischen Wissenschaft ; Bd. 78) Zugl.: Frankfurt (Main), Univ., Diss., 1993 ISBN 3-428-08131-5 NE: GT
Alle Rechte vorbehalten © 1994 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0421 ISBN 3-428-08131-5
Vorwort Die hier vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 1993 vom Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main als Dissertation angenommen. Sie ist für die Veröffentlichung an einigen Stellen geringfügig geändert worden, neu erschienene Literatur fand, soweit das möglich war, noch Berücksichtigung. Für Anregungen und das Zustandekommen der Arbeit danke ich Prof. Dr. Herfried Münkler, der sie betreute, aber auch Prof. Dr. Dieter Georgi, der mein theologischer Wegbegleiter war. In beider Kolloquien sind Abschnitte der Arbeit vorgetragen und diskutiert worden. Den Teilnehmern, vor allen Dr. Hans Grünberger, den ich hier stellvertretend nenne, bin ich zu Dank verpflichtet. Den Herren Michael Weingärtner und Peter Lehmann danke ich für die Bereitstellung ihrer EDV, letzterem auch für die Hilfe bei der Erstellung der Druckvorlage. Zuletzt muß auch noch Prof. Dr. Heinz Röhr erwähnt werden, der mich während des Studiums mit der Theologie Karl Barths bekannt gemacht hat. Auch wenn der religiöse Sozialist sicher die Hoffnung hatte, daß ich mich dann in Richtung Paul Tillich weiterbewegen würde, dies ihm zum Trost: Die versteinerten Verhältnisse sind bisweilen nur dadurch zum Tanzen zu zwingen, daß man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt. Die Arbeit ist meinen Eltern Sibylle und Walter Eichhorn gewidmet. Frankfurt, im Februar 1994
Mathias Eichhorn
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
11
Teill Zum Begriff der politischen Theologie
27
a) Reformation und Staat
31
b) Pilatus - Barabbas - Christus
38
c) Das Faszinosum Carl Schmitt
41 Teil II
Theologisches und geistesgeschichtliches Umfeld
48
1. Carl Schmitt und die römische Kirche
48
a) Zum Vorwurf des Irrationalismus
48
b) Katholizismus und Konfession
52
c) Bekenntnis und Lehramt
53
d) Die Kirche als eine complexio oppositorum
59
e) Repräsentation in Kirche und Staat
64
f) Die Rationalität der Kirche
67
g) Geschichte und Volk
70
h) Raum und Rom
72
Inhaltsverzeichnis
8
i) Moskau und Rom
79
j) Das Tier aus dem Meer
81
k) Der Großinquisitor als Aufhalter 1) Römischer Katholizismus und politische Theologie 2. Neuzeitliche Herausforderungen der Theologie
82 86 91
a) Das Problem der Datierung der Epochenschwelle aus protestantischer Sicht
91
b) Vernunft und/oder Freiheit Gottes
97
c) De libero arbitrio und de servo arbitrio
104
d) Die Freiheit des Willens aus katholischer Sicht - Donoso Cortes
116
3. Karl Barth als Theologe der Neuzeit a) Dogma und Protestantismus
121 121
b) Erkenntnisgrundlage der Theologie und Methode der Dogmatik
122
c) Trinitarisch gedachtes Sein Gottes
127
d) Karl Barth als neuzeitlicher Theologe
133
e) Zum Verhältnis von Dogmatik und Ethik bei Karl Barth
145
Teil III Karl Barth und Carl Schmitt in ihrer Stellung zur Weimarer Republik 1. Der Erste Weltkrieg und die Genese eines neuen Geistes
152 152
a) Propheten und Revolutionäre
152
b) Karl Barth oder das Phänomen der Ausnahme
160
c) Die Ideen von 1914
166
d) Carl Schmitt und die Ideen von 1914
176
e) Die Frage nach dem politischen Subjekt
185
Inhaltsverzeichnis
2. Karl Barth und der Sozialismus
188
a) Anfänge
188
b) Die Revolution
191
c) Der Staat
193 Teil IV Karl Barth und Carl Schmitt gegenüber dem Nationalsozialismus
1. Bekenntnis als Widerstand
208
208
a) Jesus und Pilatus
208
b) Faschismus und Nationalsozialismus
211
c) Die Kirchen und das Jahr 1933
218
d) Als wäre nichts geschehen
227
e) Die Barmer Theologische Erklärung
239
f) Rechtfertigung und Recht
245
g) Demokratie und Souveränität
253
2. Leviathan und totaler Staat
261
a) Neutralität und Totalität
261
b) Die Absage an den Staat
264
Schluß
275
Literaturverzeichnis
278
Einleitung Man wird im Werk Karl Barths den Namen Carl Schmitt so wenig erwähnt finden wie im Werk Carl Schmitts den Namen Karl Barth. Was rechtfertigt dann aber eine vergleichende Untersuchung der beiden hinsichtlich ihres Staatsverständnisses? Sie wird dadurch gerechtfertigt, daß sich zumindest das Werk Schmitts so lesen läßt, als sei es gegen Karl Barth geschrieben. Das soll im folgenden dargestellt werden. Der Theologe Barth und der Jurist Schmitt stehen sich näher, als ihre gegenseitige Mißachtung es auf den ersten Blick vielleicht vermuten läßt. Diese kann nicht damit begründet werden, daß beide unterschiedlichen Fakultäten angehörten. Zunächst muß gesagt werden, daß die Wirkung sowohl Barths als auch die Schmitts weit über die Grenzen ihrer jeweiligen Fachgebiete hinausreichte und die gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen ihrer Zeit beeinflußte. Was dabei für den Juristen Schmitt noch als selbstverständlich gelten kann, hinsichtlich des Theologen Barth überrascht es, bedenkt man den Stellenwert, den die Wissenschaft seit der Aufklärung der Theologie zugewiesen hatte. Gerade diese Auffassung teilte Schmitt nicht, und so verwundert es, daß er nicht ausdrücklich auch auf den Theologen Barth Bezug genommen haben sollte, der der Theologie eine neue Rolle im Verhältnis zu den anderen Wissenschaften zugewiesen hat. Der 1886 in Basel geborene Karl Barth galt und gilt heute noch vielen als der bedeutendste protestantische Theologe des 20. Jahrhunderts. Sicher wird man sagen können, daß kein Theologe seitdem auch nur einen vergleichbaren Einfluß nicht nur auf die Theologie, sondern auch auf die Kirchenpolitik in Deutschland hat nehmen können. Sein Name steht für den Protest gegen eine Theologie, die seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts ihr Anliegen mit der bürgerlichen Kultur und der sie jeweils prägenden Grundströmung, seien es nun Aufklärung oder Romantik gewesen, zu versöhnen suchte, und gleichzeitig für einen theologischen Neubeginn nach dem Ersten Weltkrieg, der die Diastase zwischen Gott und Welt betonte. Diese sogenannte Dialektische Theologie beeinflußte nicht alleine Theologen wie etwa Rudolf Bultmann, Emil Brunner, Friedrich Gogarten, vor allem den Freund Eduard Thurneysen, die an der Zeitschrift Zwischen den Zeiten, dem Organ der neuen Richtung, mitarbeiteten, sondern auch Theologen wie Paul Tillich und Dietrich Bonhoeffer. Barth
12
Einleitung
bildete zweifellos das Zentrum einer Reihe junger Theologen, die mit der Theologie des 19. Jahrhunderts, der sogenannten liberalen Theologie, brachen und die die deutsche protestantische Theologie des 20. Jahrhunderts maßgeblich prägten. Besonders steht sein Name für den kirchlichen Widerstand gegenüber den Versuchen der Nationalsozialisten nach 1933, die evangelische Kirche dem Regime gleichzuschalten. Er verfaßte 1934 die Barmer Theologische Erklärung und wurde so zum geistigen Gründungsvater der Bekennenden Kirche. Auch wenn Barth Deutschland 1935 nach vierzehnjähriger Lehrtätigkeit an den Universitäten Göttingen, Münster und Bonn verlassen mußte und sein Einfluß daraufhin in der Bekennenden Kirche bis 1945 zurückgedrängt wurde, nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus herrschte sein theologischer Ansatz nahezu konkurrenzlos in der neugegründeten EKD und an den theologischen Fakultäten. Aber viele, die sich jetzt als Barthianer bezeichneten, hatten vorher ganz andere Ziele im Blick gehabt und fanden, wie die EKD auch, nicht gerade den ungeteilten Beifall des seit 1935 in Basel lehrenden Meisters. Barth blieb bis zu seinem Tode 1968 ein unbequemer Mahner gegenüber Kirche und Politik. Das Werk des 1886 in Plettenberg im Sauerland geborenen Carl Schmitt fand ebenso ein großes Echo in der Öffentlichkeit und findet es seit seinem Tode 1985 wieder verstärkt. Wie Barth sich gegen eine allgemein unangefochten herrschende Theologie wandte, so stellte sich Schmitt gegen die zu seiner Zeit weitgehend anerkannte Rechtslehre des Rechtspositivismus, als deren Hauptvertreter Hans Kelsen gelten kann. Barth wie Schmitt begannen ihre Laufbahn als enfants terribles ihrer jeweiligen Wissenschaft. Während sich Barth aber gegen eine Vermittlung der Theologie mit der Kultur wandte, kritisierte Schmitt gerade die im Rechtspositivismus vollzogene Abstrahierung von gesellschaftlicher Wirklichkeit. Schmitt begann seine akademische Karriere an der Handelshochschule in München und wirkte später in Greifswald, Bonn, Berlin, Köln und wieder in Berlin. Er griff nicht nur publizistisch in die politischen Auseinandersetzungen der Weimarer Republik ein, insbesondere was verfassungsrechtliche Fragen betraf, 1932 vertrat er auch das Reich nach dem sogenannten Preußenschlag, d.h. der Amtsenthebung der handlungsunfähigen preußischen Regierung durch die Reichsregierung, vor dem Staatsgerichtshof in Leipzig. Er gehörte überhaupt dem engeren Beraterstab der Reichskanzler Papen und Schleicher an. Sein bis heute nicht geklärtes Verhältnis zum Nationalsozialismus belastet ihn und sein Werk bis in die Gegenwart. Obwohl er nach einer Internierung durch die Alliierten nach dem Kriege nicht mehr auf einen Lehrstuhl zurückkehrte, unterhielt er von seinem Heimatort Plettenberg aus zahlreiche Kontakte, die seinen Einfluß, der sich bis hinein in die akademische Linke erstreckte, bis heute ungebrochen erscheinen lassen. Den wohl verblüff-
Einleitung
ten Führern des SDS z.B. empfahl Alexandre Kojève 1967 in Berlin nicht nur, das wichtigste wäre jetzt, Griechisch zu lernen, er informierte Jacob Taubes auch über sein Vorhaben, Carl Schmitt in Plettenberg aufzusuchen, denn dieser sei doch der einzige, mit dem eine Unterhaltung jetzt noch lohne.1 Die zentralen Begriffe, um die Schmitts Denken immer wieder kreiste, waren Entscheidung und Ernstfall, der Begriff der Ausnahme wurde für ihn erkenntnisleitend. "Das Normale beweist nichts, die Ausnahme beweist allesH, hatte er in seiner 1922 erschienenen Politische(n) Theologie geschrieben.2 In Büchern wie Die Diktatur (1921) und Legitimität und Legalität (1932) thematisierte er den Ausnahmezustand, die Entscheidung über den Ausnahmezustand kennzeichnete für ihn Souveränität. Wann aber tritt für Schmitt der Ernstfall ein? Besteht er darin, daß die gegebene Ordnung oder daß die politische Einheit infolge unüberbrückbarer innerer Gegensätze in Frage gestellt wird? Diese Unterscheidung ist wichtig für die politische Beurteilung des Schmittschen Denkens, denn Ordnung in einem allgemeinen Sinne, d.h. im Sinne von innerem Frieden, und politische Einheit unterscheiden sich dahingehend, daß letztere zusätzlich den Begriff der Homogenität impliziert, die Schmitt nicht als eine soziale Homogenität verstanden hat, und die sich für ihn alleine über eine gemeinsam getroffene Unterscheidung zwischen Freund und Feind herstellen läßt. Jene Unterscheidung hat er in Der Begriff des Politischen (1928) als die spezifisch politische Unterscheidung bezeichnet. Die Frage nach der Souveränität stellte sich Schmitt nämlich angesichts der Ohnmacht der parlamentarischen Demokratie von Weimar gegenüber ihren Feinden, eine Ohnmacht, die er als eine systemimmanente begriff. Die parlamentarische Demokratie gestattete es ihren Feinden, sie legal außer Kraft zu setzen. Was 1933 geschah, hatte Schmitt also vorausgesehen, was er in den zwanziger Jahren thematisierte, war in gewisser Weise ein intellektueller Drahtseilakt, eine politische Quadratur des Kreises, nämlich die Möglichkeit, die Verfassung im Interesse ihrer Erhaltung zu suspendieren. Schmitt sah im Artikel 48 der Weimarer Verfassung die Möglichkeit für eine solche kommissarische Diktatur, den Reichspräsidenten betrachtete er als den Hüter der Verfassung} Aber mußte nicht angesichts der Permanenz des Bürgerkrieges und angesichts der Unfähigkeit des parlamentarischen Systems, sich seiner Feinde zu entledigen, die zeitweilige Aufhebung der Verfassung automatisch in eine dauernde Suspendierung und schließlich in ihre Aufhebung umschlagen, und mußte nicht eine neue Ordnung auf einer zunächst neu zu schaffenden politischen Einheit aufgebaut werden? War also Schmitts Konversion zum
1 2 3
Taubes: Ad Carl Schmitt. Gegenstrebige Fügung. Berlin 1987, S.24. Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. Berlin 1979, S.22. Vgl. Schmitt: Der Hüter der Verfassung. l.Aufl. 1931, 3.Aufl., Berlin 1985.
14
Einleitung
Nationalsozialismus nach 1933 mehr als nur Opportunismus, war sie doch im Denken Schmitts angelegt? Der Begriff der Entscheidung spielt auch bei Karl Barth eine zentrale Rolle, nur wird er hier an das christliche Dogma gebunden. In der ersten Phase seines theologischen Denkens, für die Barths Römerbrief in der zweiten Auflage von 1922 steht, betonte Barth den qualitativ-unendlichen Unterschied zwischen Gott und Welt. Er wandte sich damit nicht nur gegen die Vermittlungen, die den Kulturprotestantismus kennzeichneten, sondern überhaupt gegen jede politische Vereinnahmung der Theologie, namentlich auch gegen den religiösen Sozialismus. Sein Buch über Anselm von Canterbury, Fides quaerens intellectum (1931), betonte allerdings dem Nein gegenüber jeder Vermittlung das zur Schöpfung gesagte Ja des menschgewordenen Gottes. Damit verschoben sich die Akzente. Von nun an, und besonders in seinem unvollendet gebliebenen, monumentalen Hauptwerk, die Kirchliche Dogmatik, an der er von 1932 an bis zu seinem Tode arbeitete, betrachtete er den Glaubenssatz, daß Gott in Christus Mensch geworden ist, als die Grundlage der christlichen Verkündigung. Theologie ist für Barth wesentlich Christologie. Damit wird die Schöpfung nicht eschatologisch entwertet, sondern dem Menschen wird vor dem Hintergrund des Rechtfertigungsgedankens die Mitgestaltung seiner Verhältnisse als Aufgabe zugewiesen. Diese Grundentscheidung sollte Grundlage werden für die von ihm als notwendig erachtete Entscheidung der Kirche, welche Lehre als eine häretische und welche als kirchliche Lehre zu betrachten sei; eine Grundlage, auf der dann später die Bekennende Kirche sich zusammenfinden sollte. Aber nicht nur Schmitt blieb umstritten, weil er vielen als Wegbereiter des Nationalsozialismus galt und gilt4, mit zunehmendem historischen Abstand geriet auch Karl Barth in das Kreuzfeuer der Kritik. Über Barth schrieb z.B. der Kirchenhistoriker Klaus Scholder, daß auch er, Hals die Republik geistig sturmreif geschossen wurde, jedenfalls im Bewußtsein der weiteren Öffentlichkeit, auf der Seite derer stand, die da mitschossen".5 Am weitesten gingen Friedrich Wilhelm Graf und Falk Wagner, die Barths theologisches Denken gar als faschistisch bzw. mit dem faschistischen Denken als strukturverwandt bewerteten.6 Der Tenor der Kritik an Barth glich plötzlich seltsam dem der
4 Stellvertretend sei hier nur hingewiesen auf Fijalkowsky: Die Wendung zum Führerstaat. Ideologische Komponenten in der Philosophie Carl Schmitts. Köln und Opladen 1958. 5 Scholder: Neuere deutsche Geschichte und protestantische Theologie, in: ders.: Die Kirchen zwischen Republik und Gewaltherrschaft Hrsg. von Aretin/Besier, Berlin 1988, S.84f. 6 Graf: Die Freiheit der Entsprechung zu Gott. Bemerkungen zum theozentrischen Ansatz der Anthropologie Karl Barths, und Wagner: Theologische Gleichschaltung. Zur Christologie bei Karl Barth, beide in Rendtorff (Hrsg.): Die Realisierung der Freiheit. Beiträge zur Kritik der Theologie Karl Barths. Gütersloh 1975.
Einleitung
Kritik an Schmitt. Wie ist das trotz ihrer unterschiedlichen Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus zu erklären? Karl Barth und Carl Schmitt haben die grundlegenden Entscheidungen ihres Denkens im Angesicht der Katastrophe von 1914 bis 1918 gefällt. Heute, nach dem Zweiten Weltkrieg und nach Auschwitz, vermitteln diese Daten freilich keine solche Katastrophenstimmung mehr, aber für die Mehrheit der damaligen Zeitgenossen brach eine Welt zusammen. HDas historische Europa", schreibt Fritz Stern, "hat den großen Krieg nicht überlebt. Als im November 1918 das Feuer endlich erlosch, war das alte Europa vergangen, mit seiner schwer erkämpften Vorrangstellung in der Welt, mit seinen liberalen Überzeugungen und Praktiken, mit seiner Macht und seinem Wohlstand und mit seiner, zugegebenermaßen prekären Einigkeit."7 Freilich ist dieser Zusammenbruch auch begrüßt worden, schon der Ausbruch des Krieges stellte für viele einen Neuanfang dar. Insbesondere die Generation, der Barth und Schmitt angehörten, die, in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts geboren, erst am Anfang ihrer Laufbahn stand, suchte nach dem Krieg nicht den Weg zurück in eine gute alte Zeit. Wie sehr der Zusammenbruch begrüßt worden ist, zeigt Modris Eksteins, indem er die Begeisterung der europäischen Intellektuellen zu Beginn des Krieges dokumentiert und in Beziehung setzt mit dem Beginn der Moderne, die schon in der Vorkriegszeit die als lethargisch empfundene europäische Gesellschaft herausgefordert hatte. So kann er den Krieg sogar als den Durchbruch der Moderne in Europa begreifen.8 Marc Ferro erklärt die Begeisterung, mit der die Mobilmachungen in Europa begrüßt worden sind, damit, daß der Krieg als Ausweg aus einer "blockierten Gesellschaft" betrachtet worden sei, in der sich zu den alten Autoritäten plötzlich eine neue, aber anonyme und unkontrollierbare Macht gesellt und sich über Sachzwänge legitimiert habe.9 Eksteins Hinweis auf die Bedeutung des Begriffs des Erlebnisses, das den Krieg und auch schon die Mobilmachung gegenüber einer verwalteten Welt ausgezeichnet habe, bestätigt Ferros These, daß dieser Krieg auch eine revolutionäre, zumindest antikapitalistische Komponente hatte.10 Das wird Barth und Schmitt nicht verborgen geblieben sein, denn als Intellektuelle litten sie an ihrer Zeit und besonders daran, wie sich ihre jeweilige Wissenschaft auf die Zeit eingelassen hatte. Karl Barth, obwohl von Nationalität Schweizer, erlebte den Krieg und die Nachkriegszeit wie Schmitt im deutschen Kontext. Für die Deutschen bedeu7 Stern: Der Erste Weltkrieg: Eine Rückbesinnung, in ders.: Das Scheitern illiberaler Politik. Studien zur politischen Kultur Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main, Berlin und Wien 1974, S.146. 8 Eksteins: Tanz über Gräbern. Die Geburt der Moderne und der Erste Weltkrieg. Reinbeck bei Hamburg 1990. 9 Ferro: Der Große Krieg 1914-1918. Frankfurt am Main 1988, S.12ff. 10 Ebenda, S.16ff.
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tete dieser Krieg in gewisser Weise eine Reinigung, eine Katharsis insofern, als man für die verfahrene Situation der Vorkriegsgesellschaft den Liberalismus verantwortlich gemacht hatte, was auch die Kriegspropaganda beeinflußte. Darum hatte die deutsche Niederlage 1918 eine andere Qualität als die von 1945, wobei hier nicht an die unmittelbaren Folgen der militärischen Niederlage zu denken ist; immerhin blieben das Reich und Preußen nach 1918 erhalten. Die unterschiedliche Qualität ergibt sich aber daraus, daß Deutschland im Ersten Weltkrieg den Westen als den ideologischen Hauptgegner betrachtet hatte, während im Verlauf des Zweiten Weltkrieges zunehmend der Kampf gegen den Bolschewismus und den als asiatisch qualifizierten Osten in den Vordergrund trat. Nach 1945 gelang es der Bundesrepublik, sich dem Westen als Verbündete im Kalten Krieg zu empfehlen, die Situation nach dem Ersten Weltkrieg dagegen war eine grundsätzlich andere: Der Westen blieb, über die militärische Niederlage hinaus, fur viele der Hauptfeind schlechthin, der jetzt allerdings in Gestalt der parlamentarischen Demokratie als im eigenen Land stehend begriffen wurde. Westen war Synonym fur Rationalismus, Kapitalismus, Parteiendemokratie, schlechthin für Gesellschaft im Unterschied zu Gemeinschaft, um zwei Begriffe zu nennen, die Ferdinand Tönnies gegenübergestellt hatte. Gesellschaft meinte einen über Vertrag hergestellten Verband von Individuen, die kein tiefergehendes Prinzip verbindet und die ihr Zusammenleben rational, d.h. zweckbestimmt und verstandesmäßig unter den Bedingungen des freien Wettbewerbs organisieren. Gemeint war also ein Konstrukt im Gegensatz zu einem gewachsenen Organismus, was als Gemeinschaft bezeichnet wurde. "Alles vertraute, heimliche, ausschließliche Zusammenleben (so finden wir) wird als Leben in Gemeinschaft verstanden. Gesellschaft ist die Öffentlichkeit, ist die Welt. In Gemeinschaft mit den Seinen befindet man sich, von der Geburt an, mit allem Wohl und Wehe daran gebunden. Man geht in die Gesellschaft wie in die Fremde.-11 Tönnies Buch erschien erstmals 1887 und erlebte bis zum Jahre 1935 acht Auflagen, seine soziologisch begründete Unterscheidung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft verselbständigte sich und wurde zum politischen Schlagwort. Trotz der vielen Auflagen dürfte der Titel des Buches mehr als der Inhalt die politischen Auseinandersetzungen geprägt haben. Als verselbständigte Schlagworte führten die Begriffe ein politisches Eigenleben, sie dienten besonders der Freund-Feind-Unterscheidung eines politisch machtlosen und sozial verunsicherten Bildungsbürgertums.12 Die Kriegsziele im Ersten Weltkrieg, auf die in Deutschland besonders der Alldeutsche Verband 11
Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Darmstadt 1991,
S.3. 12
Vgl. hierzu bes. Ringer (Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890-1933. Stuttgart 1983) und Schwabe (Wissenschaft und Kriegsmoral. Die deutschen Hochschullehrer und die politischen Grundfragen des Ersten Weltkrieges. Göttingen, Zürich, Frankfurt 1969).
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Einfluß zu nehmen versuchte, waren also nicht nur territorialer bzw. ökonomischer Art, es standen sich auch zwei Gesellschaftsvorstellungen gegenüber, eine Konfrontation, die Werner Sombart während des Krieges als das Gegenüber von Händler und Helden auffaßte. 13 Auch nach dem verlorenen Krieg hatte der deutsche bzw. preußische Militarismus keineswegs an Faszination verloren, sondern wurde z.B. von Oswald Spengler als preußischer Sozialismus gegenüber dem Westen und der Weimarer Republik propagiert: HDer Ausbruch der Revolution war gleichzeitig die Auslieferung des Landes an den FeindMl4, schrieb Spengler 1922, nachdem er das Gegenüber noch einmal kurz skizziert hatte: "Ist der Wille des einzelnen dem Gesamtwillen zu unterwerfen oder umgekehrt? (...) Der englische Instinkt entschied: die Macht gehört dem einzelnen. Freier Kampf des einen gegen den anderen; Triumph des Stärkeren: Liberalismus, Ungleichheit. Kein Staat mehr. Wenn jeder für sich kämpft, kommt es in letzter Linie allen zugute. (...) Der deutsche, genauer preußische Instinkt war: die Macht gehört dem Ganzen. Der einzelne dient ihm. Das Ganze ist souverän. Der König ist nur der erste Diener seines Staates (Friedrich der Große). Jeder erhält seinen Platz. Es wird befohlen und gehorcht.Hl5 Der Weltkrieg hätte aber nicht nur die Gemeinschaft gegen die Gesellschaft sichern und abgrenzen sollen, sondern er wurde auch als das Ringen um die weltweite Durchsetzung eines der beiden Prinzipien verstanden, die jeweils der Gemeinschaft und der Gesellschaft zugeordnet wurden; bei Spengler sind es auf der einen Seite Autorität, auf der anderen Seite Reichtum: MSoll die Weltwirtschaft eine Weltausbeutung oder eine Weltorganisation sein? Sollen die Cäsaren dieses künftigen Imperiums Milliardäre oder Weltbeamte, soll die Bevölkerung der Erde (...) Objekt der Politik von Trusts oder von Menschen sein, wie sie am Ende des zweiten Faust angedeutet werden?"16 Auch wenn nach 1918 der Kampf von vielen als noch nicht endgültig entschieden, die Niederlage nicht als endgültig und entsprechend auch nicht als eine militärische betrachtet wurde ÇDolchstoßlegende), die Fremde der Gesellschaft, wie es 13
Sombart, Werner: Händler und Helden. München und Leipzig 1915. Spengler: Preussentum und Sozialismus. München 1921, S.18f. 15 Ebenda, S.14f. 16 Ebenda, S.50f. Spenglers morphologische Geschichtsphilosophie, wie er sie in seinem Hauptwerk Der Untergang des Abendlandes (1918 und 1922) entwickelt hatte, sagte nicht nur, analog zur römischen Geschichte, ein caesaristisches Zeitalter voraus, er deutete die Weltgeschichte auch vor dem Hintergrund des Faustmythos (bes. in Preußentum und Sozialismus). Neben den Nibelungen, die zum Gründungsmythos des Bismarckschen Reichs avancierten (vgl. Münkler/Storch: Siegfrieden. Politik mit einem deutschen Mythos. Berlin 1988), ideologisierte die deutsche Intelligenz vor dem Kriege deutsche Politik und deutsches Weltmachtstreben als faustisch (s.a. Schwerte: Faust und das Faustische. Ein Kapitel deutscher Ideologie, Stuttgart1962). Nach dem Kriege wurde von Spengler das Faustische durchaus auch als Antrieb der englischen als einer ebenfalls germanischen Kultur betrachtet, der Mythos damit trotz Niederlage politisch gerettet. 14
2 Eichhorn
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Einleitung
Tönnies ausgedrückt hatte, verschaffte sich Eintritt in das als Gemeinschaft gedachte Volk. Der Prozeß der allgemeinen Vergesellschaftung als das Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft wurde nicht anerkannt und auf eine andere Ebene projiziert, d.h. zunächst als Kampf zweier Prinzipien gedeutet, um schließlich in Gestalt zweier Nationen gegenüberstellt zu werden - Deutschland und England. Die Niederlage konnte dann so interpretiert werden, daß sich die Grenzen zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft auflösten. Der Krieg war nicht zu Ende, er verwandelte sich nun in einen Bürgerkrieg, und die Bedrohung der Fremde machte schließlich auch vor der eigenen Haustüre im wörtlichen Sinne nicht mehr Halt: HDie Bourgeoisie hat dem Familienverhältnis seinen rührend-sentimentalen Schleier abgerissen und es auf ein reines Geldverhältnis zurückgeführt" 17, hatten Marx und Engels schon 1848 konstatiert, was sie aber auf Grund ihres geschichtsphilosophischen Optimismus begrüßten, wurde vielen erst 1918 brutal offenbar. Was nicht offenbar wurde war, daß es sich hierbei um Entwicklungstendenzen der bürgerlichen Gesellschaft handelte. Stattdessen wurden mit Kriegsbeginn die innergesellschaftlichen Konflikte auf die internationale Ebene übertragen, was bei Marx noch Bourgeoisie hieß, wurde nun zum Engländer. "Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. (...) (Sie hat) alle bisher ehrwürdigen und mit frommer Scheu betrachteten Tätigkeiten ihres Heiligenscheines entkleidet. Sie hat den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt."18 Im allgemeinen bringe man, so Fritz Stern, die klassischen Schrecken der Industrialisierung mit England und nicht mit Deutschland in Veibindung, weil in Deutschland es niemals zu einem solchen schreienden sozialen Elend gekommen sei wie in England: "Was jedoch die Industrialisierung seelisch gekostet hat, wird übersehen."19 Die seelischen Kosten schlugen besonders beim sogenannten Bildungsbürgertum zu Buche. Die deutschen Mandarine, wie Fritz K. Ringer sie nennt, dachten mehrheitlich antikapitalistisch, aber eben nicht sozialistisch. Der eigene Niedergang und die Fragwürdigkeit der eigenen sozialen Rolle im Prozeß zunehmender Rationalisierung und Vergesellschaftung führte zu dem Dilemma, einen dritten Weg jenseits von Kapitalismus und Sozialismus suchen zu müssen, der irgendwie beides zu synthetisieren suchte. Ernst Troeltschs Versuch der Definition von deutscher Freiheit unterscheidet sich von Sombart und Spengler nur graduell.20 Entsprechend konnten sich die Gelehrten nur wenig für die Weimarer Republik begeistern, sie entwickelten 17
Marx/Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, in: MEW B.4, Berlin 1980, S.465. Ebenda, S.464f. Stern: Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland. Bern, Stuttgart und Wien 1963, S.19. 2 0 Troeltsch: Deutsche Zukunft, Berlin 1916. 18
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allenfalls wie Max Weber, Ernst Troeltsch oder Friedrich Meinecke einen Vernunftrepublikanismus, d.h. daß die Republik akzeptiert wurde, weil Alternativen sich nicht mehr boten. Es liegt darum nahe, bei Schmitt und Barth eine ähnliche Haltung gegenüber der Weimarer Republik zu vermuten. Barth gehörte zwar der sozialdemokratischen Partei an, aber Friedrich Wilhelm Graf sieht ihn dennoch in der Tradition jener stehen, die die Gemeinschaft gegen die Gesellschaft ausspielten: "Wie bei vielen anderen Theologen des frühen 20. Jahrhunderts ist Barths Sozialismus nur Ausdruck der Sehnsucht nach Harmonie in einer zerrissenen, pluralistischen und durch ökonomische Widersprüche geprägten Gesellschaft. Kritisch rationale Analyse der Gesellschaft wird durch die Beschwörung einer Lebenstotalität ersetzt".21 Demgegenüber muß freilich auch gesehen werden, daß weder Schmitt noch Barth an der Identitätskrise des Bildungsbürgertums in dem oben geschilderten Maße Anteil hatten, weil sich ihre Identität nicht alleine über die Bildung und die Zugehörigkeit zum Bildungsbürgertum definierte. Barth und Schmitt waren sicher Kinder ihrer Zeit, doch standen sie ihr durchaus auch mit einer gewissen Distanz gegenüber, was sich zu einem nicht unerheblichen Teil aus ihrer Herkunft und, im Falle Barths, durch seinen beruflichen Werdegang erklären mag. Hier ist nicht so sehr an jene Distanz zu denken, die Auslöser für die Begeisterung der Tage im Juli und August 1914 war. Weder Schmitt noch Barth teilten diese Begeisterung. Barth teilte sie explizit nicht und verurteilte sie sogar, von Schmitt gibt es kein Zeugnis und auch keinen Hinweis im Werk, daß er den Ausbruch des Krieges so empfand wie die meisten seiner Generation. Dennoch und trotz dieser Distanz dachten beide antiliberal, sie suchten gerade keinen Anschluß an den Liberalismus, dem scheinbar die Zukunft gehörte. Beide begannen auch gegenüber dieser Richtung als Außenseiter, Schmitt blieb ein solcher Außenseiter bis zu seinem Tode. Karl Barth, in Basel geboren, entstammte einer gutbürgerlichen Familie, und obwohl er in Bern aufwuchs, blieb der Basler Einfluß der wichtigere, wie Eberhard Busch in seiner bis heute maßgebenden Biographie Barths schreibt.22 Der Geist, der in der Familie herrschte, obwohl der Vater Fritz Barth ein gemäßigt konservativer Theologe war, ist von Nietzsche und Jacob Burckhardt, bei denen der Vater noch als Schüler des Basier Pädagogiums lernte, und von Franz Overbeck, bei dem Fritz Barth in Basel Theologie hörte, mit geprägt worden. Diese Namen stehen dafür, daß zwischen Basel und den Zentren des europäischen Geschehens, besonders Berlin, nicht nur räumliche 21 Graf: "Der Götze wackelt"? Erste Überlegungen zu Karl Barths Liberalismuskritik, in: Evangelische Theologie Heft 4/5 1986, S.429. Busch: Karl Barths Lebenslauf. Nach seinen Briefen und autobiographischen Texten. München 1978, S.28ff.
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Distanz bestand. Neben diese Distanz trat dann noch die Distanzierung Barths gegenüber einem eher gemütlichen Bildungsbürgertum, als er nach dem Studium und dem Vikariat 1911 eine Pfarrstelle in einer Industriegemeinde in Safenwil antrat und mit den sozialen Nöten seiner Gemeinde vertraut wurde. Barth wurde Sozialist, für einen Pfarrer der Vorkriegszeit ein unerhörter Schritt und ein Affront gegenüber seiner Herkunft. Der Skandal ist angesichts einer seit 1968 veränderten Kirche nur schwer nachzuvollziehen, aber selbst vor der Zeit der sogenannten APO bildeten Sozialisten oder Sozialdemokraten innerhalb der protestantischen Pfarrerschaft eher die Ausnahme - wie sehr dann erst vor dem Ersten Weltkrieg. Das gilt für die Schweiz wie für Deutschland. Eine akademische Karriere jedenfalls schien Barth nicht geplant zu haben, den Mühen einer Dissertation etwa unterzog er sich niemals. Vielmehr wurde er auf Grund seines Kommentars des Römerbriefs, den er 1916 in seinem Pfarrgarten "unter einem Apfelbaum"23 begonnen hatte, 1922 von der theologischen Fakultät Münster zum Dr. theol. ernannt, nachdem er schon im Jahr zuvor einen Ruf auf den Göttinger Lehrstuhl für reformierte Theologie angenommen hatte. Was Barth eher gering achtete, zumindest nicht ausdrücklich anstrebte, nämlich gesellschaftliche Bestätigung der Zugehörigkeit zum Bildungsbürgertum über den Weg einer akademischen Karriere, faszinierte dagegen Carl Schmitt. Seine Distanz zu seiner Zeit erklärt sich ganz anders. Schmitt entstammte nicht wie Barth einem protestantisch geprägten Bildungsbürgertum, sondern aus katholisch-kleinbürgerlichen Verhältnissen. Sein Vater war kaufmännischer Angestellter in einer Schraubenfabrik. Nach dem Abitur wollte er zunächst Philologie studieren, entschied sich dann aber, wohl eher spontan, für die Jurisprudenz. Er promovierte 1910 und schrieb aus diesem Anlaß seinen Eltern: H... wenn ich geahnt hätte, daß die Sache so kostspielig ist, hätte ich gar nicht den Doktor gemacht. Aber weil es einmal so ist und der Titel doch nicht ganz ohne Bedeutung ist, so müssen wir uns eben trösten."24 Schmitt hatte sich für die akademische Karriere entschieden, des Trostes über die Kosten dieser Laufbahn waren wohl mehr die Eltern als er selber bedürftig. 1916 erfolgte noch die Habilitation. Die Distanz zu seiner Zeit, bedingt durch die kleinbürgerliche Herkunft, versuchte er wohl durch eine akademische Karriere und damit den Anschluß an das Bildungsbürgertum zu überbrücken, es blieb aber noch die Distanz gerade gegenüber diesem Bildungsbürgertum, die sich aus seiner Herkunft aus einem katholischen Milieu ergab, und die freilich im wilhelminischen Deutschland nach dem Kulturkampf auch keine freiwillige gewesen war. Trotz den formalen Voraussetzungen blieb er 23
Busch, S. 110. Verortung des Politischen. Carl Schmitt in Plettenberg. Hrsg. von der Stadt Plettenberg mit Unterstützung des Nordrhein-Westfälischen Hauptstaatsarchivs Düsseldorf, bearb. von Ingeborg Villinger Hagen: v.d. Linnepe 1990, S.9. 2 4
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in der akademischen Welt ein Außenseiter. Indem er sich nicht voll und ganz mit den deutschen Mandarinen identifizieren wollte oder konnte, kann angenommen werden, daß er entsprechend nicht so sehr an deren Identitätsproblemen litt. Das gilt noch mehr von Barth. So muß untersucht werden, ob nicht beider Denken die von Sombart, Spengler und zahllosen anderen konstruierte Dichotomie gesprengt hat. Im Kapitel über ihr Verhältnis zu dem, was man die Ideen von 1914 nennt, soll dies unternommen werden. Die beiden eigene antiliberale Grundhaltung aber läßt sich biographisch alleine nicht erklären. Sie erklärt sich vielmehr aus ihrer Stellungnahme gegenüber der These Max Webers heraus, daß man in einer entzauberten Welt lebe. Woran die anderen litten, wurde Gegenstand ihrer Betrachtung. Sowohl Schmitt als auch Barth lassen sich auf Max Weber beziehen, Schmitt aber wohl nicht so, wie Wolfgang J. Mommsen es getan hat, indem er bei Schmitt den Weberschen Ansatz als konsequent zu Ende gedacht betrachtet.25 In seiner Untersuchung über das Verhältnis zwischen Weber und Schmitt schreibt G.L. Ulmen: "Weber interpretiert das moderne Zeitalter mit dem Begriff der 'Rationalisierung', Schmitt mit dem der 'Neutralisierung1. Beide Begriffe oder Leitmotive beziehen sich auf die 'Säkularisierung', doch die Bezüge sind im einzelnen so verschieden wie die argumentative Logik. Ein Vergleich zwischen Rationalisierung und Neutralisierung läßt sich deshalb nur auf einer Abstraktionsebene, wie sie durch Verstehen und Kritik des modernen Zeitalters im Sinne der Säkularisierung gegeben ist, unternehmen. Rationalisierung meint einen in Gang befindlichen und weitergehenden Prozeß, Neutralisierung einen Prozeß, der 'zu Ende getrieben' ist."26 Das markiert in der Tat den Gegensatz: Weber sah sich als Zeitgenosse eines Prozesses, Schmitt sah dagegen, daß der Prozeß stockte, vielmehr sogar rückläufig war. Barths Diagnose war die gleiche. Damit aber mußten sie in einen Gegensatz zum Liberalismus
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Mommsen, Wolfgang J.: Max Weber und die deutsche Politik 1890 - 1920. 2. Aufl., Tübingen
1974. 2 6 Ulmen: Politischer Mehrwert. Eine Studie über Max Weber und Carl Schmitt. Weinheim 1991, S.147. Ulmen sieht in Schmitt einen Exponenten der Politischen Ökonomie, die er wiederum als die Wissenschaft betrachtet, die die Entwicklung des Kapitalismus zu verstehen und geistig zu bewältigen versuche. Ihr erster bedeutender, revolutionärer Exponent sei Karl Marx, ihr zweiter bedeutender, liberaler Vertreter Max Weber gewesen. Carl Schmitt sei ihr konservativer Exponent. Schmitts Überlegungen liege nicht mehr die Trennung von Staat und Gesellschaft, sondern der Staat als der Selbstorganisation der Gesellschaft zugrunde. Damit habe sich aber das Wirtschaftliche ins Politische verwandelt, der wirtschaftliche Mehrwert werde so zum politischen Mehrwert. Die Beziehung des Staates zur Wirtschaft sei für Schmitt zum eigentlichen Gegenstand innenpolitischer Fragen geworden, und sie könne nicht mehr mit der alten liberalen Forderung nach Nichtintervention des Staates beantwortet werden. Bedenke man nun noch, daß nicht nur die Innenpolitik, sondern auch die Außenpolitik im wesentlichen Wirtschaftspolitik sei, stelle sich nicht mehr alleine die Frage nach einer verfassungsmäßigen Begrenzung des Machtbesitzes, sondern auch die nach einem neuen Nomos der Erde.
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geraten, dessen Doktrin gerade auf dem Prozeß zunehmender Rationalisierung beruht. Sowohl Schmitt als auch Barth haben die Kritik der Kritischen Theorie gegenüber der Aufklärung schon vorweggenommen. Den Mythos betrachteten sie nicht als vergangen und durch die Aufklärung endgültig überwunden, vielmehr schlage die Aufklärung selber in Mythologie um. Schon Weber selbst hatte ja den von ihm behaupteten Prozeß der Entzauberung der Welt relativiert, als er schrieb: "Die alten vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf. H27 Der Herausforderung durch die alten und durch die neuen Götter begegneten Schmitt und Barth aber nicht mit wertfreier Wissenschaft im Sinne Webers, sondern auf jeweils ihre Art, einmal als Katholik, einmal als reformierter Theologe. Keiner von beiden wollte das Feld diesen Göttern widerstandslos überlassen. Darum haben sie, was für den Theologen Barth natürlich verständlicher ist als für den Juristen Schmitt, der Metaphysik eine entscheidende Bedeutung beigemessen. Aber was für den Theologen aus heutiger Sicht für selbstverständlich gilt, die liberalen Theologen, die sich mit der Aufklärung identifizierten, waren für Barth so wenig in der Lage, die Zeichen der Zeit zu erkennen, wie für Schmitt die Vertreter eines liberalen Bürgertums. Es darf also angenommen werden, daß sich beide für einen Moment trafen, dann aber in grundverschiedene Richtungen weiterdachten. Zu untersuchen wäre, inwiefern Schmitt und Barth die Warnung Webers aufgegriffen und auf ihre Art politisch fruchtbar zu machen versucht haben. Auf ihre Art heißt aber nun, daß sich in Schmitt und Barth ein Katholik und ein reformierter Theologe gegenüberstehen, sich sozusagen Rom und Genf begegnen. So nehmen der Katholik Schmitt und der reformierte Theologe Barth entsprechend auch auf jeweils ihre Art Stellung gegenüber der Überschätzung des neuzeitlichen Menschen, die sich, wie in einem weiteren Kapitel gezeigt werden soll, schon bei Erasmus von Rotterdam in seiner Debatte mit Luther über den freien Willen angekündigt hatte. Indem sie aber beide kritisch Stellung nahmen gegenüber ihrer Zeit und ihre Kritik radikal, d.h. nicht nur an der Tagespolitik orientiert, formulierten, sondern auf die Aufklärung zielten, konnten sie entsprechend auch als Kritiker und schließlich als Totengräber einer krisengeschüttelten Weimarer Republik erscheinen. Karl Barth und Carl Schmitt sind sich, wie eingangs gesagt, Zeit ihres Lebens aus dem Wege gegangen, eine direkte Auseinandersetzung fand nicht statt. Inwiefern beide das Werk des anderen kannten, muß von daher unklar bleiben. Nur in seinen Tagebuchaufzeichnungen aus den Jahren 1947 bis 1951 2 7
Weber: Wissenschaft als Beruf. Dritte Auflage 1930, S.28.
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schreibt Carl Schmitt in Bezug auf Barths bekannte Äußerung, Gott sei das ganz Andere: "Gib Acht, Freund Barth, es kommt plötzlich das ganz Andere, und zwar ganz anders. Da wirst Du Dich wundern. Dann ist plötzlich das Diesseits das ganz Andere gegenüber dem Jenseits. Dann sprechen wir uns unter vier Augen und machen die Probe auf Dein ganz Anderes, das Du für Dich gegen die Anderen gepachtet zu haben glaubst."28 Im Frühjahr 1949 aber war für Karl Barth Gott als das ganz Andere längst nicht mehr so Thema, wie dies noch zu Beginn der zwanziger Jahre der Fall gewesen war. Mittlerweile hatte Barth seine Phase der Betonung des unendlich-qualitativen Unterschieds zwischen Gott und Welt, die den Römerbriefkommentar von 1922 noch beherrschte, überwunden und stand mitten in der Aibeit an seiner Kirchlichen Dogmatik, die das seinerzeit ausgesprochene Nein aufhob. Wenn diese Bemerkung aber auch ein Hinweis darauf gibt, daß Schmitt die Entwicklung der Barthschen Theologie wohl nur vom Hörensagen her kannte, so drückt sie doch den Hauptvorbehalt Schmitts gegenüber Barth aus, daß dieser nämlich versuche, über die Betonung Gottes als des ganz Anderen die Theologie zu entpolitisieren.29 Ist also Barths Theologie demnach auch nur politische Theologie, freilich infamer Weise als unpolitische getarnt? Und wie hat Barth selber zum Verhältnis von Theologie und Politik gestanden, d.h. hat er tatsächlich die Auffassung vertreten, Theologie müsse in diesem Sinne vom Politischen abstrahiert und sozusagen im politisch luftleeren Raum betrieben werden? Dieser Frage gilt das einleitende Kapitel, in einem Dreierschritt soll dann zur Frage nach der jeweiligen Staatsvorstellung bei Carl Schmitt und Karl Barth vorgestoßen werden: Zunächst werden die theologischen Voraussetzungen beider Autoren und ihre Haltung gegenüber der Moderne und der Neuzeit untersucht. Insbesondere Barth ist vorgeworfen worden, daß er sich gegen die Neuzeit gestellt habe; "der kompromißlose Bruch mit der Neuzeit ist das Programm, dessen konstruktiver Ausarbeitung sein Lebenswerk verpflichtet war."30 In diesem Zusammenhang möchte ich zeigen, daß weder Barth noch Schmitt einfach in jeweils eine der Traditionen gestellt werden können, die das neuzeitliche Denken durchziehen und immer schon kritisch begleitet haben, sondern daß sie sich im Rahmen katholischen und protestantischen Denkens eine eigene Position zu erarbeiten suchten. Das macht ihre Originalität aus, bestimmt aber auch ihren Gegensatz. 28
Schmitt: Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947-1951. Berlin 1991, S.228. So in der Folge auch Taubes: Unter Hinweis auf Brauns Hobbesrezeption (Der sterbende Gott oder Leviathan gegen Behemoth. Zürich 1963) schreibt Taubes: "Die Fronten sind allein schon durch den Titel klar bezeichnet und die Grenzen so gezogen, wie Hobbes es selber tat. (...) Bekanntlich hat die dialektische Theologie Karl Barths und seiner Schule ein höchst ambivalentes Verhältnis zur Politik" (Taubes (Hrsg.): Der Fürst dieser Welt. Carl Schmitt und die Folgen. München, Paderborn, Wien und Zürich 1983, S.14). 3 0 Rendtorff: Karl Barth und die Neuzeit. Fragen zur Barth-Forschung, in: Evangelische Theologie Heft 4/5 1986, S.299. 2 9
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Ihre kritische Auseinandersetzung begann unter dem Eindruck der Katastrophe des Ersten Weltkrieges, der gleichzeitig ihre Haltung gegenüber der Weimarer Republik maßgeblich mitbestimmte, was im darauffolgenden Kapitel dargestellt wird. Beide können durchaus als Vertreter eines Krisenbewußtseins gelten. Die Neuzeit bzw. der Prozeß der Entzauberung der Welt war in eine Krise geraten, der Fortschrittsglaube hatte durch den Krieg, der freilich mit den damals modernsten Mitteln geführt worden war, einen empfindlichen Rückschlag erlitten. Die Mobilisierung war nicht mehr rückgängig zu machen und verstärkte die allgemeine Mobilität der Gesellschaft, die scheinbar unregierbar geworden war und damit partikulären Interessen ausgeliefert erschien. Welche Aufgabe sollte nun noch dem Staat zufallen? Gab es überhaupt noch den Staat, war nicht vielmehr seine Rolle ausgespielt, und mußte man von nun an nicht die Gesellschaft sich selber organisieren lassen? Damit hätte sich für beide aber nur jeweils das Recht des Stärkeren durchgesetzt, für Barth das Kapital, für Schmitt Versailles. Eine Darstellung und Untersuchung ihrer Stellungnahme gegenüber dem Nationalsozialismus schließt dann die Aibeit ab. Obwohl Barth und Schmitt sich gegenseitig ignorierten, kann ein Dialog zwischen beiden hergestellt werden. So wird m.E. erst im Lichte der Barthschen Theologie der Katholizismus Schmitts sichtbar. Der Katholizismus Schmitts ist nämlich, so die Hauptthese der Aibeit, in einem noch größeren Umfange bestimmend für sein Denken gewesen, als dies bisher bemerkt worden ist. Es ist auffällig, daß Schmitt oft den Begriff der Theologie gebraucht, sogar als Vertreter einer spezifischen politischen Theologie gilt, aber nie über Theologie schrieb und sich jeglicher theologischen Erörterung bzw. Argumentation enthielt. Dennoch gilt er vielen als katholischer Denker. Besonders in letzter Zeit ist der Katholizismus Schmitts als für sein Denken konstitutiv betont worden31, aber so wie Schmitt keine Auskunft über seine theologischen Vorstellungen gibt, so versäumen es diese Autoren zu erläutern, was sie unter Katholizismus verstehen. Weitgehender Tenor ist, daß der Katholizismus mit Konservativismus gleichgesetzt wird insofern, als die sichtbare Kirche Vorbild für Schmitts staatsrechtliches Denken gewesen sei. Dabei bleibt aber ein Aspekt unberücksichtigt, der für den Katholizismus Schmitts von entscheidender Bedeutung ist, daß nämlich Schmitt viele Feinde hatte, es aber vor allem die Theologen waren, denen seine Feindschaft galt. Das widerspricht nun nicht Schmitts Katholizismus, sondern bestätigt ihn erst, 31 Siehe Bendersky: Carl Schmitt Theorist for the Reich. Princeton 1983; Kröger: Bemerkungen zu Carl Schmitts "Römischer Katholizismus und politische Form", in: Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt, hrsg. v. Quaritsch, Berlin 1988; Quaritsch: Positionen und Begriffe Carl Schmitts. Berlin 1989; Mehring: Pathetisches Denken. Carl Schmitts Denkweg am Leitfaden Hegels: Katholische Grundstellung und antimarxistische Hegelstrategie. Berlin 1989 und Adam: Rekonstruktion des Politischen. Carl Schmitt und die Krise der Staatlichkeit 1912-1933. Weinheim 1992.
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denn die katholische Kirche besteht nicht auf der Grundlage einer theologischen Doktrin, sondern vielmehr auf der Anerkennung des kirchlichen Lehramtes, über das als höchste Instanz der Papst verfugt. Von daher wird der Staat bei Schmitt auch nicht theologisch, sondern vielmehr antitheologisch begründet, d.h. vor dem Hintergrund der konfessionellen Bürgerkriege des 16. Jahrhunderts, die der neuzeitliche Staat als die theologisch neutrale Instanz durch den Verweis der Theologie aus der Politik beendete. Für Schmitt stand im Bereich der Kirche die juridische Kontinuität im Vordergrund, die er gerade durch die Theologie ständig in Frage gestellt sah. Er bekämpfte die von Rudolf Sohm aufgestellte Behauptung, das Kirchenrecht sei mit dem Wesen der Kirche als unvereinbar zu betrachten.32 Schmitt sah darin nichts anderes als den Versuch einer innerkirchlichen Machtübernahme der Theologen, der schließlich die Kirche, und damit meint er ausschließlich ihre juridische Kontinuität, zum Opfer fallen müsse. Gegenüber der Kirche wird der neuzeitliche Staat zu einer geschichtlichen Größe und damit historisch relativiert. Anders dagegen Barth: Mit seinem Kirchenverständnis steht er, wie Rudolf Sohm, in der Tradition Luthers, die Institution Kirche wird vollständig der Aufgabe der Verkündigung in Lehre und Predigt und damit der Theologie untergeordnet. Sie ist zwar nicht überflüssig, aber sekundär. Entsprechend wird der Staat bei Barth theologisch begründet, seine theologische und darüber hinaus weltanschauliche Neutralität sei weniger das Ergebnis historischer Ereignisse als vielmehr neutestamentliche Forderung, wobei hier besonders an den Römerbrief (Rom 13) zu denken ist. Diese Forderung nach theologischer bzw. überhaupt weltanschaulicher Neutralität sei Bestandteil christlicher Verkündigung, die bestehenden Verhältnisse müssen sich für Barth an dieser Leitlinie und Richtschnur politischen Handelns messen lassen. Die Bedeutung des Institutionellen wird von der Kirche weg auf den Staat verlegt. Die vorliegende Arbeit ist begrenzt auf die Jahre 1919 bis 1938. Im Jahre 1919 begannen Schmitt und Barth mit ihrer umfangreichen publizistischen Tätigkeit, Barth veröffentlichte seinen Vortrag Der Christ in der Gesellschaft und Schmitt sein Buch Politische Romantik. Die Probe aufs Exempel aber mußte ihre jeweilige Sicht des neuzeitlichen Menschen und des Staates im Angesicht der nationalsozialistischen Machtergreifung und schließlich des nationalsozialistischen Regimes bestehen. Hier endet die Untersuchung. Dabei bleibt ein großer Teil namentlich des Denkens Karl Barths unberücksichtigt, so daß die Arbeit nur den Anspruch erheben kann, Barths Staatsauffassung bis zum Jahre 1938 wiederzugeben. Inwiefern Barth sich nach 1945 einer Position näherte, die im politischen Bereich einer Annäherung an romantisch-gemeinschaftliches Denken gleichkommt, daß z.B. seine Versöhnungslehre, wie etwa
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Sohm: Kirchenrecht, 1892; Kirchengeschichte im Grundriß, 1896.
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Ullrich Dannemann sie interpretiert 33, den Sinn der Wiederherstellung von Gemeinschaft auch im gesellschaftlichen Bereich habe, wird nicht mehr untersucht. Daß Barth diese Position zu der Zeit nicht vertreten hat, in der sie virulent war, versuche ich bei ihm wie auch bei Schmitt nachzuweisen. Beide stehen sich antithetisch gegenüber, aber diese Antithetik gewinnt gerade durch ihre gleichzeitige antiliberale Stellungnahme an Schärfe, anstatt daß letztere diese Antithetik entschärfte. Das ist das Besondere an diesem Verhältnis, was aber vom Standpunkt des Liberalismus aus nicht deutlich erkannt werden kann, weil hier die konfessionellen Unterschiede als vernachlässigenswert gelten. Einig in der Beurteilung der Neuzeit, nahmen beide grundverschieden Stellung zur Gegenwart - der eine als Katholik, der andere als reformierter Theologe. Es wird sich aber dann auch abschließend zeigen müssen, inwiefern die Widersprüche in Schmitts Denken, das sich, wie Hasso Hofmanns These lautet, um die Legitimierung öffentlicher Macht bemühte34, gerade im Licht der Theologie Barths erklären lassen.
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Vgl. Dannemann: Theologie und Politik im Denken Karl Barths. München und Mainz 1977. Hofmann: Legitimität gegen Legalität Neuwied und Berlin 1964.
Teil I
Zum Begriff der politischen Theologie Drei Krisen nennt der katholische Theologe Johann Baptist Metz, denen Theologie sich heute zu stellen habe: Theologie werde betrieben im Angesicht der Moderne, angesichts von Auschwitz und vor dem Hintergrund einer sozial geteilten und kulturell polyzentrischen Weltkirche.1 Diese Krisen, so Metz, beträfen die gesamte Ökumene. Dem ist sicher zuzustimmen, wenn vielleicht auch für die protestantischen Kirchen eine Gewichtung vorgenommen werden muß, denn erster und dritter Aspekt brennen hier nicht so sehr auf den Nägeln, so wie es der zweite zumindest sollte. Wie aber hat sich nun Theologie angesichts dieser Krisen zu verhalten? MDie 'neue* Theologie,H so Metz, Mdie diese Krisen als Grundlagenkrisen der Theologie wahrnimmt und in produktiver Reduktion zu überwinden sucht, ist eine 'politische Theologie'. " 2 Metz verwendet hier einen Begriff, der eine bewegte Geschichte hat und dessen Urheber eigentlich Carl Schmitt ist. Die politische Theologie aber, für die auf katholischer Seite der Name Johann Baptist Metz, auf protestantischer Seite der Name Jürgen Moltmann steht, ist eine andere als die Carl Schmitts. Erstere formulierten ihre Theologie in den sechziger Jahren mit Hilfe der Kategorien der Kritischen Theorie und besonders unter Berufung auf die Philosophie Ernst Blochs, nannten sie in Abgrenzung zur bürgerlichen Theologie, die sie als unpolitisch betrachteten, politische Theologie, berücksichtigten aber nicht die Urheberschaft und die bisherige Rezeption des Begriffs. Seitdem sind über zwanzig Jahre vergangen, und die neue politische Theologie hat Veränderungen erfahren. Trotzdem aber darf man die von Metz 1986 veröffentlichten Thesen als ihren durchgängigen Kernbestand betrachten. Die politische Theologie, wie Metz sie versteht, wird nicht als ein Gebiet klassischer theologischer Arbeitsteilung vorgestellt, sondern als Fundamentaltheo-
1 Metz: Theologie im neuen Paradigma: Politische Theologie, in: Küng, Hans u. Tray, David: Das neue Paradigma von Theologie. Zürich u. Gütersloh 1986, S.121. 2 Ebenda, S.121.
Teil I: Zum Begriff der politischen Theologie
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logie3 verstanden. Metz unterscheidet zwischen politischer Theologie und politischer Religion: Zivilreligion und bürgerliche Religion zeigten nur, daß nach der Aufklärung keine neue Welt geschaffen worden sei, in der Politik und Religion beziehungslos geschieden wären, sondern daß Religion weiterhin die Funktion der Legitimierung und Stabilisierung von Herrschaft habe.4 Der Begriff der Zivilreligion geht auf J.J. Rousseau zurück und wird im achten Kapitel des vierten Buches des Contrat social gerade gegenüber dem Christentum abgegrenzt, weil das Christentum als eine Religion, die universell, moralisch und zudem auf das Jenseits ausgerichtet sei, als eine gegenüber dem Staate im Gegensatz stehende betrachtet werden müsse, besonders wenn der Staat republikanisch verfaßt sei: MDas Christentum predigt immer nur Knechtschaft und Unterwerfung. Sein Geist begünstigt zu sehr die Tyrannei; und die zieht immer ihren Vorteil daraus. Die wahren Christen sind die geborenen Sklaven. Sie wissen es und regen sich darüber nicht auf. Dies kurze Leben ist in ihren Augen wenig wert."5 Dennoch sei es für den Staat wichtig, daß die Untertanen eine Religion haben, die ihnen vorschreibe, ihre Pflichten zu lieben. "Aber die Dogmen dieser Religion sind dagegen für den Staat wie für seine Mitglieder nur insofern von Bedeutung, als sie die Moral und die Pflichten betreffen, die der Gläubige anderen gegenüber zu erfüllen hat. Darüber hinaus kann jeder glauben, was er will, ohne daß der Souverän es zu wissen braucht. Da er für die andere Welt nicht zuständig ist, geht ihn das, was das Schicksal seiner Untertanen im Jenseits sein wird, nichts an, wenn sie nur in dieser Welt gute Bürger sind."6 Heute dagegen soll Zivilreligion den Legitimationsverlust politischer Institutionen kompensieren, wofür das Christentum durchaus als geeignet betrachtet wird. Das wird von Klaus-M. Kodalle am Beispiel der USA aufgezeigt.7 In der Bundesrepublik hat besonders Hermann Lübbe den Begriff der Zivilreligion zu nutzen versucht. Aber weit entfernt davon, ihm hier eine Bedeutung, wie sie Kodalle für die USA aufzeigt, zuzugestehen, betrachtet er Zivilreligion als Garantie für Liberalität im Sinne von Abwehr ideologischer Absolutheitsansprüche. Der Gebrauch 3
Fundamentaltheologie bezeichnet eine Disziplin der katholischen Theologie. Sie thematisiert nicht die Inhalte, sondern die formalen Voraussetzungen der Offenbarung, sie vermittelt also zwischen Dogmatik und Philosophie. 4 Vgl. hierzu auch Fiorenza.: Religion und Politik, in: Christlicher Glaube in modemer Gesellschaft (Teilband 27), Freiburg 1982; s.a. Künzli: Religion als Legitimation der Politik, in: Berliner theologische Zeitschrift für Theologie in der Kirche, Heft 2 1985: H Die Interessen versuchen sich durch Werte zu legitimieren, aber die Werte ihrerseits bedürfen einer Legitimation, wenn sie nicht durch Beliebigkeit entwertet werden sollen. Man könnte das den politischen Legitimationszirkel nennen." (S.359) 5 Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechtes, in: Politische Schriften B.l, Paderborn 1977, S. 204. 6 Ebenda, S.205f. 7 Vgl. Kodalle (Hrsg.): Gott und Politik in USA. Über den Einfluß des Religiösen. Frankfurt am Main 1988.
Teil I: Zum Begriff der politischen Theologie
christlicher Symbole wie etwa des Kreuzes im Gerichtssaal, die Präsenz der Kirchen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk und Fernsehen usf. garantiere die plurale Offenheit gegenüber ideologischen Wahrheitsansprüchen und wirke dennoch identitätsstifiend. "Religion, als Zivilreligion, ist ein Ensemble von Symbolen, rituellen Handlungen und Gemeinüberzeugungen, über deren öffentliche Präsenz sich bürgerliche Zugehörigkeitserfahrungen machen lassen und die insofern als medienpolitische Einheitsstiftungen fungieren." 8 Es handelt sich damit bei der Zivilreligion um die Funktionalisierung religiöser Grundüberzeugungen im Interesse der politischen Stabilität in pluralistischen Gesellschaften. "Eben diese Politisierung der Religion kritisiert aber die politische Theologie in zweifacher Intention: einmal religionskritisch, indem sie einer Religion widerspricht, die als Legitimationsmythos wirkt und die sich ihre Entlastung von gesellschaftlicher Religionskritik durch die Suspension ihres Wahrheitsanspruchs erkauft; zum anderen theologiekritisch, als Kritik all jener Theologien, die mit Berufung auf ihren unpolitischen Charakter gerade zu Theologien dieser politischen Religion werden."9 So sehr dem Anliegen dieser politischen Theologie auch zugestimmt werden kann, ihr Vorgehen allerdings, wenn sie Theologie zu sein beansprucht, provoziert kritische Fragen, etwa nach den Kategorien dieser Theologie und deren Herkunft, schließlich auch nach den Methoden ihrer Überprüfung. Es besteht ja durchaus die Gefahr, daß hier Theologie ihre eigenen Kategorien verliert und stattdessen andere übernimmt, seien es die des Marxismus oder die der Kritischen Theorie. Damit schlägt Theologie den Weg des Linkshegelianismus ein, der über den Feuerbach fuhrt, d.h. Theologie wird in Anthropologie überfuhrt, so wie es die Vertreter des Linkshegelianismus in der Folge Ludwig Feuerbachs gefordert haben: Der Mensch verschwendet seine Energien nicht mehr auf ein phantastisches, eingebildetes Jenseits, sondern er nutzt sie zur Verbesserung seiner diesseitigen Lage. Der Charakter dieser neuen Theologie ist auf der anderen Seite aber auch nur insofern ein politischer, als sie parteiische Theologie sein will. Bedenkt man nun, daß diese Auffassung Fundamentaltheologie zu sein beansprucht, Parteilichkeit aber die Tendenz aufweist, sich durch Aufhebung der anderen Partei selbst aufzuheben, wird endlich auch Theologie von Seiten der Theologie selbst diesem Prozeß unterworfen und in Anthropologie aufgelöst.10 Wäh8 Lübbe: Politische Theologie als Theologie repolitisierter Religion, in: Taubes: Der Fürst dieser Welt S.53. Konsequenter als Lübbe fordert dagegen Odo Marquard anstatt des Christentums einen aufgeklärten Polytheismus als eine dem Pluralismus entsprechende politische Theologie (vgl. Marquard, Odo: Aufgeklärter Polytheismus - auch eine politische Theologie? in Taubes: Der Fürst dieser Welt S.77ff). 9 Metz, S.123f. 10 Darstellung und Kritik der politischen Theologie von Metz, Moltmann u.a. bei Wiedenhofer: Politische Theologie. Stuttgart, Berlin, Köln und Mainz 1978.
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Teil I: Zum Begriff der politischen Theologie
rend dieser Einwand die theologisch-dogmatische Seite des Problems betrifft, wird man dann noch weiter sagen müssen, daß Metz auch im Politischen zu kurz greift, weil für ihn politisch gleichbedeutend mit parteiisch ist, und zwar in seinem Sinne parteiisch. Entsprechend wird angeblich unpolitischer Theologie keine unmittelbare, sondern nur eine über die Religion vermittelte politische Wirkung zugestanden. Anders Carl Schmitt, der seinen Begriff der politischen Theologie nicht aus einer innertheologischen Abgrenzung heraus gewinnt, sondern daraus herleitet, daß er den Bereich des Politischen als nicht mehr ausschließlich dem Staate vorbehalten ansieht, sondern in der Folge der bürgerlichen Revolution als vergesellschaftet betrachtet. Dem Begriff des Staates müsse logisch der Begriff des Politischen vorausgehen.11 So ist für ihn jede Theologie politische Theologie, weil er die Entscheidung darüber, ob etwas politisch ist oder nicht, auch schon als eine politische Entscheidung begreift. 12 Die Forderung nach der strikten Trennung von Theologie und Politik geschehe immer vor dem Hintergrund eines politischen Interesses, dem an der Neutralisierung des Theologischen liege. Zudem behauptet Schmitt eine Strukturverwandtschaft zwischen theologischen und juristischen Begriffen insofern, als letztere säkularisierte theologische Begriffe seien. Schmitt zeigt damit ungewollt nicht nur die politische Relevanz aller Theologie, sondern auch die theologische Relevanz aller Politik auf. 13 So wäre also in der Tat zwischen zwei verschiedenen Konzepten politischer Theologie zu unterscheiden: einmal eine, wie E.W. Böckenförde es nennt, "(ethisch motivierte) appellative politische Theologie", zum anderen eine "juristische politische Theologie"14, wobei zunächst noch unberücksichtigt bleiben soll, was denn das spezifisch Theologische bei Schmitt eigentlich ist.15 Hinsichtlich seines Begriffs der politischen Theologie hat Dieter Schellong bemerkt, daß Schmitt keine" systematisch abgerundete und in sich stimmige Konzeption" geliefert habe16, so daß die klare Unterscheidung, die 11
Schmitt: Der Begriff des Politischen. Berlin 1979, S.20. Schmitt: Politische Theologie, Vorbemerkung. Schmitt hat den Begriff der Säkularisierung, so wie er ihn verstanden wissen will, selbst so definiert: "Metaphysik ist etwas unvermeidliches und (...) man kann ihr nicht dadurch entgehen, daß man darauf verzichtet, sich ihrer bewußt zu werden. Wohl aber kann das, was die Menschen als letzte, absolute Instanz betrachten, wechseln und kann Gott durch irdische und diesseitige Faktoren ersetzt werden. Das nenne ich Säkularisierung". (Schmitt: Romantik, in: Hochland Nr.2 1924/25, S.169, später als Vorwort zur 2.Aufl. von Politische Romantik 1925 übernommen; s.a. 4. Aufl., Berlin 1982, S.23). 14 So Böckenförde: Politische Theorie und Politische Theologie, in: Taubes: Der Fürst dieser Welt, S.16ff. 15 Scholz hat zu recht daraufhingewiesen, daß alleine die Säkularisierungs- und Analogiethese noch nicht hinreicht, Schmitts Rechtslehre als theologisch zu qualifizieren, vgl. Schindler/Scholz: Die Theologie Carl Schmitts, in: Taubes: Der Fürst dieser Welt. 16 Schellong: Carl Schmitt als Hobbes-Interpret. Überlegungen zum Begriff der Politischen Theologie, in: Berliner Theologische Zeitschrift Nr. 1 1991, S.94. 12 13
Teil I: Zum Begriff der politischen Theologie
Böckenförde macht, auf Schmitt kaum anzuwenden sei. Böckenförde nennt freilich noch eine dritte Variante politischer Theologie, die institutionelle politische Theologie: Würden Aussagen eines Gottesglaubens auf den Staat, auf Aufgabe und Struktur einer politischen Ordnung und im Hinblick auf das Verhältnis zur Kirche als einer Institution bezogen, dann würde appellative politische Theologie sozusagen institutionell gefaßt. "Man kann sagen, daß von einem verschiedenen Frageansatz letztlich das gleiche Sachproblem, nämlich das (theologisch motivierte und bestimmte) Verhalten der Christen und der Kirche zu und in den politischen Ordnungen in Blick genommen wird. Das geschieht in der institutionellen politischen Theologie institutionell und institutionell vermittelt, in der appellativen politischen Theologie unmittelbar handlungsorientiert.M17 Die Differenzierung, die Böckenförde hier macht, macht Carl Schmitt nicht. Er verwendet den Begriff der politischen Theologie nicht ausschließlich bezogen auf das Verständnis als appellative, juristische oder institutionelle politische Theologie. Er verwendet ihn einmal so, einmal anders. Vertritt er selber eine politische Theologie? Man ist geneigt, in Schmitt einen Vertreter einer institutionellen politischen Theologie zu sehen, was die Bedeutung, die der römische Katholizismus für ihn hatte, unterstreichen würde. Darauf wird noch zurückzukommen sein, zunächst soll genügen, die Bedeutung aufzuzeigen, in welchem Sinne der Begriff der politischen Theologie gebraucht werden kann. a) Reformation
und Staat
Bei aller Verschiedenheit, die zwischen dem Begriff der politischen Theologie bei Schmitt und dem der Theologen Metz und Moltmann immer wieder betont wird 18, sollte aber ein Aspekt nicht übersehen werden, der beiden Auffassungen gemeinsam ist, nämlich die Sicht und Beurteilung gesellschaftlicher Wirklichkeit als einer Bürgerkriegssituation. Die eine Position stellt einen Aufruf zur Parteinahme dar - oder, wenn man so will, zum Bürgerkrieg überhaupt -, während Schmitt dagegen darauf insistiert, daß man vor dieser Situation nicht die Augen verschließen soll. Damit verhalten sich beide auf je ihre Weise gegenüber dem Staat. Die Trennung von Politik und Theologie wird ja als eine Leistung verstanden, die zu Beginn der Neuzeit die konfessionellen Bürgerkriege überwunden und die Entwicklung des modernen Staates eingeleitet habe. Der neuzeitliche 17
Böckenforde in Taubes: Der Fürst dieser Welt, S.22. So etwa Maier: Kritik der politischen Theologie. Einsiedeln 1970; Lübbe: Politische Theologie als Theologie repolitisierter Religion, in Taubes: Der Fürst dieser Welt. 18
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Teil I: Zum Begriff der politischen Theologie
Staat legitimiert sich also besonders dadurch, daß er die konfessionellen Bürgerkriege beendet, indem er die Theologie aus der Politik verweist. Politische Theologie hat dagegen entweder den Bürgerkrieg bzw. die Revolution zum Ziel oder aber zur Voraussetzung, d.h. der Staat wird entweder als Gegner bekämpft oder als nicht mehr in der Lage gesehen, dem Bürgerkrieg zu wehren. In beiderlei Sinne ist Theologie zu Beginn der Neuzeit politisiert worden, namentlich während der englischen Revolution.19 Während die englischen Presbyterianer, die sich als Bürger des Königreichs Christi betrachteten, politische Theologie im appellativen Sinne trieben, entwickelte Thomas Hobbes im Leviathan eine politische Theologie der Souveränität des Staates. Diese Auseinandersetzung stand auch Carl Schmitt vor Augen. Der Barthschüler Dietrich Braun hat nun zu Beginn der sechziger Jahre den Totalitarismus des 20. Jahrhunderts auf Hobbes zurückgeführt und sich auf die Seite der englischen Revolutionäre gestellt. Damit kann er als ein Vorläufer der politischen Theologie der sechziger Jahre angesehen werden.20 Schmitt hat dieses Buch besprochen und von Brauns Haltung scheinbar auf die Karl Barths geschlossen.21 Fraglich ist allerdings, und das soll weiter unten erörtert werden, ob sich Braun mit seiner Parteinahme für die englischen Revolutionäre tatsächlich auf Karl Barth berufen kann. Die appellative politische Theologie fordert die offene Parteinahme in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und damit, wenn sie konsequent ist was sie zu sein schon damit beansprucht, daß sie sich als Fundamentaltheologie versteht - die Überwindung des neuzeitlichen status quo, mehr noch: Sie ist nur solange ideologische Waffe in den Händen der Unterdrückten, solange die Auseinandersetzung währt, und weil auch sie den eschatologischen Vorbehalt kennt, fordert sie die Auseinandersetzung in Permanenz, also letztlich den permanenten Ausnahmezustand22 So hat es Schmitt verstanden. Man kann vor dem eschatologischen Hintergrund der Schrift ohnehin, wie es 19 Zur Geschichte der Revolution in England s.a. Goldie: Absolutismus, Parlamentarismus und Revolution in England, in: Fetscher/Münkler: Pipers Handbuch der politischen Idee B.3: Neuzeit: Von den Konfessionskriegen bis zur Aufklärung. München 1985, S.275ff. 2 0 Braun: Der sterbende Gott oder Leviathan gegen Behemoth. Zürich 1963. 21 Schmitt: Die vollendete Reformation. Zu neuen Leviathan-Interpretationen, in: ders.: Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols. Hrsg. von Maschke, Köln-Lövenich 1982. 2 2 Vgl. Emst Bloch, einem Mentor der neueren politischen Theologie und besonders Jürgen Moltmanns, in seiner Rede anläßlich der Entgegennahme des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1967: "Nun, meine Damen und Herren, Friede. Es war mir nicht ganz klar, ich sage nicht, es war mir nicht wohl dabei, aber es war mir nicht ganz klar, was zu diesem etwas sanften Ausdruck, von einer nicht ganz sanften Natur oder Denkart alles gesagt werden könnte, ohne mit der allgemeinen Stange im allgemeinen Nebel herumzufahren, wie Hegel einmal schrieb. Was sagt also ein Philosophieren der Hoffnung und auch ein Philosophieren, das den Kampf liebt und braucht (Herv. M.E.), zum Frieden. (...) so haben wir nicht gewettet mit dem Frieden, so nicht, wenn man nur auf ruhige Luft setzt." (Bloch: Widerstand und Friede. Aufsätze zur Politik Frankfurt am Main 1968, S.99f).
Teil I: Zum Begriff der politischen Theologie
ja das Schwärmertum getan hat, die Heilsgeschichte als permanenten Ausnahmezustand begreifen. Carl Schmitt ruft nun seinerseits zunächst nicht zur offenen Parteinahme zugunsten eines der Beteiligten auf, vielmehr geht es ihm darum, alle am Kampf noch nicht Beteiligten über den wahren Sachverhalt aufzuklären - daß es sich nämlich um eine Bürgerkriegssituation handele, der gegenüber alle Forderungen nach Trennung von Politik und Theologie bloße Illusion und allenfalls Rückzugsgefechte seien, nicht zuletzt des ungefragt beteiligten, aber gegenüber der Situation ohnmächtigen neuzeitlichen Staates. Man kann natürlich diese Haltung Schmitts als eine objektiv doch eine Partei unterstützende ansehen, aber diese Behauptung sagt zunächst mehr über die Position des Kritikers denn über die Schmitts aus. Das gilt insbesondere für die marxistische Kritik an Schmitt.23 23 Ernst Bloch sah in Schmitts Dezisionismus und seinem Eintreten für die Diktatur, wobei Bloch Schmitts Unterscheidung zwischen kommissarischer und souveräner Diktatur nicht nachvollzieht (vgl. Schmitt: Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf. München und Leipzig 1921), die Rechtfertigung der Macht des Monopolkapitals. In "Naturrecht und menschliche Würde H (Frankfurt am Main 1977) bezeichnet er Carl Schmitt als eine "Hure des nationalsozialistischen Absolutismus" (S.62), dessen Theorie nichts anderes markiere als den Übergang von einem über den Markt organisierten Kapitalismus hin zum Monopolkapitalismus. So auch Ingeborg Maus: "Am Beispiel Carl Schmitts ist der Typus einer Rechtstheorie herausgearbeitet, die das 'Material* bürgerlicher Gesellschaftsordnung nicht in starrer Fixierung konserviert, sondern umgekehrt durch die dynamische Konzeption unformalen, je situationsbedingt neu sich konstituierenden Rechts gegen demokratisch kontrollierte Intervention absichert." (Maus: Bürgerliche Rechtstheorie und Faschismus. Zur sozialen Funktion und aktuellen Wirkung der Theorie Carl Schmitts. München 1980, S.18.) Maus hat Schmitt die Rechtfertigung der Macht des Monopolkapitals als kontinuierliches Programm vorgeworfen (vgl. auch Maus: Rechtstheorie und politische Theorie im Industriekapitalismus. München 1986, darin der Beitrag Existierten zwei Nationalsozialismen?). In diesem Sinne argumentiert auch Volker Neumann (Der Staat im Bürgerkrieg. Kontinuität und Wandlung des Staatsbegriffs in der politischen Theorie Carl Schmitts. Frankfurt am Main und New York 1980; ders.: Schatten und Irrlichter. Zur Neuauflage der Schrift von Carl Schmitt: Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, in: Leviathan Nr.l 1984). Beide folgen damit den Beurteilungen dezidiert marxistisch argumentierender Autoren (vgl. Petzold: Wegbereiter des deutschen Faschismus. Die Jungkonservativen in der Weimarer Republik. Köln 1978; Bürgerliche Staatsideologie, hrsg. von der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft der DDR, Köln 1979; vgl. auch Seifert: "Für Carl Schmitt gab es nur einen wirklichen Feind: das sozialistische Proletariat", in: Seifert: Theoretiker der Gegenrevolution. Carl Schmitt 1888 - 1985, in: Kritische Justiz Heft 2 1985, S.194). Wird aber dem gesamten Werk Schmitts eine einheitliche Intention unterstellt, eine Kontinuität im Interesse des Monopolkapitals, dann erklärt man Schmitt zum Fürsprecher eines partikulären Interesses, ohne daß zureichend bedacht wird, daß Schmitts Parlamentarismuskritik gerade zum Inhalt hatte, daß hier der Staat als Beute partikulärer Interessen betrachtetet wird. So widerspricht die These von der Kontinuität auch der Auffassung, es ließen sich Brüche im Denken Schmitts feststellen. Vielmehr ist dann von "Wandlungen" die Rede, etwa bei Volker Neumann, der hierin Maus folgt: "Die These von den Brüchen im Denken Schmitts hat Maus anhand der einheitlichen Funktion scheinbar widersprüchlicher juristischer Argumentation vor und nach 1933 widerlegt. Trotz aller Wandlungen kann die Theorie infolge ihres (...) Verhältnisses zur Zeitgeschichte nur insoweit Zäsuren enthalten, als die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts solche Brüche aufweist." (Neumann, Volker: Der Staat im Bürgerkrieg S.16) So kann dann die erfolgte Distanzierung Schmitts vom Nationalsozialismus im Verlauf der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre nicht als ein
3 Eichhorn
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Die Trennung von Theologie und Politik war zu Beginn der Neuzeit Voraussetzung für die Überwindung konfessioneller Bürgerkriege gewesen, den Beginn der Neuzeit markierte damit der Satz des Albericus Gentiiis, der gleichzeitig das Programm des neuzeitlichen Staates auf eine Formel brächte: Silete Theologi in munere alieno. Dieser Satz scheint hauptsächlich gegen die Reformation gerichtet zu sein, so wie man umgekehrt folgern muß, reformatorische Theologie sei in besonderer Weise Bürgerkriegstheologie und damit politische Theologie im Sinne von appellativ-politischer Theologie, weil ihr Beginn durch das Verlassen enger Klostermauern, gemeint ist Luthers Austritt aus der Klostergemeinschaft der Augustiner24, geradezu symbolisiert ist. Die Mauern sind gefallen, und der Auflösung des klösterlichen Bereichs der Heiligung korrespondiert - wenn auch nicht zeitlich - eine weitere Auflösung, nämlich die des auf den Staat beschränkten politischen Bereichs. Die Politik wird zur res publica wie vordem die Theologie. Beider Ort sind nicht mehr klar abgrenzbare Kanzleien, Klöster (d.h. Orden) und Universitäten, sie sind vergesellschaftet worden. Dieser Vorgang betrifft aber nicht nur Staat und Kirche, sondern die gesamte bürgerliche Kultur, weil das Leben nicht in einzelne Kulturprovinzen aufgeteilt werden kann. So schreibt Heinrich Meier, der besonders die religiösen Motive Schmitts betont: "Beide, die Religion wie die Tatsache des Politischen, widerstreiten der Parzellierung des menschlichen Lebens in 'autonome Kulturprovinzen', beide stellen die 'Kultur1 als 'souveräne Schöpfung1 oder 'reine Erzeugung' des menschlichen Geistes in Frage, beide unterwerfen die menschliche Existenz der Herrschaft, dem Gesetz und dem Gebot einer Autorität."25 Die Trennung von Politik und Theologie zu Beginn der Neuzeit war nicht durchzuhalten. Schon die Reformatoren waren sich hierin nicht deckungsgleich, Luther ging gegenüber Calvin und Zwingli letzterer fiel in der Schlacht bei Kappel, und Calvin zielte mit seiner Reformation nicht nur auf die Kirche, sondern auch auf Rat und Bürgerschaft der Stadt Genf - mit seiner Zwei-Reiche-Lehre am weitesten: Der Rechtfertigung des Sünders korrespondiert auf staatlicher Seite der uneingeschränkte GeBruch, sondern konsequent im Sinne der Kontinuitätsthese gedeutet werden: Der Nationalsozialismus hatte sich als ein gescheitertes Experiment des Monopolkapitals offenbart (so Maus: Existierten zwei Nationalsozialismen? in: Rechtstheorie und politische Theorie). 2 4 Auch an Katharina von Boras Flucht aus dem Kloster ist hier zu denken, vgl. aber auch Münkler, der unter Bezug auf Josef Pieper schreibt: "Cassiodors Abschied vom gotischen Königshof in Ravenna und sein Untertauchen in dem Kloster Vivarium in Süditalien symbolisieren den Beginn der mittelalterlichen Kultur (...). In mehr als einer Sicht markiert etwa achthundert Jahre später die Flucht Wilhelm von Ockhams aus dem franziskanischen Kloster an den deutschen Kaiserhof (...) das Ende des mittelalterlichen Denkens". (Münkler: Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, Frankfurt am Main 1982 S.62) Was Pieper und Münkler hier Wilhelm von Ockham zuschreiben, gilt für Luther noch mehr, der freiwillig aus dem Klosterleben ausschied und das klerikale Dasein nicht nur aufgab, sondern durch seine Ehe mit der entlaufenen Nonne Katharina auch entschieden verwarf. 25 Meier, Heinrich: Carl Schmitt, Leo Strauss und "Der Begriff des Poltischen". Zu einem Dialog unter Abwesenden. Stuttgart 1988, S.37f.
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brauch des Schwertes, das der Staat nicht umsonst trage, das ihm überdies als von Gott gegeben betrachtet wird und dem es gegenüber kein Widerstandsrecht gebe. Inwiefern freilich auch dieses Lutherverständnis hinterfragt werden muß, davon später mehr, hier genügt, daß Luther so jedenfalls tradiert worden ist. Aber die Trennung von Politik und Theologie, die Neutralität der Theologie gegenüber der Politik war eben, um es mit einem Wort Talleyrands zu sagen, eine Nicht-Intervention, die tatsächlich Intervention bedeutete. Somit müssen das Theologische und das Politische als zwei Seiten derselben Medaille gesehen, die Nähe zwischen Schmitt und Barth muß entsprechend so begründet werden. Wird die Theologie dem Staat als dem Träger des Politischen unterworfen, oder aber der Staat der Theologie? Und wie entwickelt sich das Verhältnis, wenn der Staat, wie Schmitt es ja auffaßte, nicht mehr als der ausschließliche Bereich des Politischen betrachtet werden kann, wenn also der Begriff des Politischen dem des Staates logisch vorausgesetzt werden muß? Dann wird besonders die Theologie wieder politisch, und zwar in einem aktiven und nicht mehr nur passiven Sinn, d.h. ihre Intervention ist nicht mehr gekennzeichnet durch Nicht-Intervention. So sahen es Schmitt und Barth. Dennoch schafft diese Nähe keineswegs Freundschaft, gerade in ihr ist die Feindschaft begründet, wie zu zeigen sein wird. Die Intensität der Dissoziation erreicht hier sogar ihren Höhepunkt. Im Jahre 1916 schrieb Schmitt über den Antichristen: MWas ist das Grausige an ihm? Warum ist er mehr zu furchten als ein mächtiger Tyrann, als Timur Lenk oder Napoleon? Weil er Christus nachzuahmen weiß und sich ihm so ähnlich macht, daß er allen die Seele ablistet."26 Für Schmitt muß Barth der Antichrist oder zumindest sein Prophet gewesen sein, der Barthschüler Dietrich Braun, der sich fur die englischen Revolutionäre und damit fur Behemoth entschieden hatte, schien ihm das zu bestätigen. Umgekehrt muß für Barth Schmitt der Antichrist oder zumindest sein Prophet gewesen sein, weil für ihn die Ghetthoisierung der Theologie die Leugnung des Christusgeschehens impliziert. Hier sollte ein Bereich Christus vorenthalten und damit die Herrschaft Gottes über seine Schöpfung zugunsten einer anderen Souveränität eingeschränkt werden. Wer soll aber jeweils entscheiden, wer der Antichrist ist? Hierauf gibt es fur Schmitt und für Barth entsprechend unterschiedliche Antworten, nämlich eine katholische und eine protestantische. Doch wehe dem, so beide, der nicht mehr zu unterscheiden und zu entscheiden weiß. Der Adressat dieses Vorwurfs ist bei beiden identisch, es ist der Liberalismus. Barth sah die liberale Theologie und die Kirche seiner Zeit dazu nicht mehr in der Lage, Schmitt dagegen den Staat. Schmitt, der vor dem Hintergrund des römischen Katholizismus die Kirche als das Gegenüber des Staates betrachtete, sah seinerseits die Kirche nicht in dieser hilflosen, den finsteren Mächten ausgelieferten Situation, weil die juridische Kontinuität ihm 2 6
Schmitt: Theodor Däublers "Nordlicht". Drei Studien über die Elemente, den Geist und die Aktualität des Werkes. 2. Aufl., Berlin 1991, S.61.
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hier eine gewisse Sicherheit vermittelte. Von Barths Kirchenkritik fällt dagegen auch ein Licht auf den Staat, der in der protestantischen Theologie immer eine Rolle spielt, wenn auch nicht immer ausgesprochen. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß so, wie bei Schmitt das Politische nicht den Staat, sondern der Staat das Politische voraussetzt, bei Barth die Theologie nicht die Kirche, sondern die Kirche die Theologie voraussetzt. Hierin besteht zwischen Schmitt und Barth strukturelle Verwandtschaft. Seit es möglich ist, Herrschaft in Frage zu stellen, ist auch Theologie kein neutrales Unternehmen mehr. Von daher steht die protestantische Theologie sehr wohl von Haus aus in einem spannungsreichen Verhältnis zum Staat, was freilich in Deutschland solange kein Problem darstellte, solange der jeweilige politische Machthaber auch den evangelischen Kirchen als ihr summus episcopus vorstand. Seit absolutistischer Zeit führten die Landesherren in Deutschland das Kirchenregiment. Im 19. Jahrhundert wurde zwar das Bischofsamt vom Landesherrn nicht mehr in Personalunion ausgeübt, beide Ämter wurden wieder getrennt, aber die Kirchenhoheit lag gewöhnlich beim Kultusministerium, das Kirchenregiment übten Konsistorien und Oberkirchenräte aus. Auch wenn der Monarch an die Grenzen, die das jeweilige Bekenntnis zog, gebunden war und kein direktes Weisungs- und Eingriffsrecht hatte, stellte doch die Fiktion der Einheit von Thron und Altar für das Bewußtsein der Gemeinden ein wesentliches Element dar. Die Revolution von 1918 barg von daher gerade für den Protestantismus nicht unerhebliche Probleme: Nicht nur, daß die Zukunft der evangelischen Kirche gefährdet schien, weil der Schutz der untergegangenen Monarchie wegfiel, es mußte nun, nachdem die Symbiose zwischen Staat und Kirche aufgebrochen worden war, ein Verhältnis zum Staat überhaupt erst formuliert werden. Für Karl Barth war die theologische Würdigung des Staates aber schon bei den Reformatoren unzulänglich. Eine einfache Adaptierung der reformatorischen Lehre hinsichtlich des Staates konnte für ihn nicht mehr in Frage kommen. Doch als schweizer reformierter Theologe bedurfte es für ihn nicht erst der Revolution von 1918, um das Versäumte zu erkennen, denn der Calvinismus hatte eine wesentlich kritischere Sicht gegenüber dem Staat als etwa das Luthertum mit seinem obrigkeitstaatlichen Denken.27 Dringlich wurde für ihn die Sache freilich erst mit dem Beginn des nationalsozialistischen Regimes. Luther hatte die Notwendigkeit des Staates aus der Sünde des Menschen abgeleitet, aber das Mißtrauenrichtetesich dann alleine gegen die Regierten, 2 7 So schreibt Link über das Extra-Calvinisticum und seine Bedeutung: "Gottes Sorge erschöpft sich nicht darin, daß er die Herzen der Gläubigen lenkt: sie schließt die Regierung des ganzen Erdkreises ein. Seine Herrschaft beschränkt sich nicht darauf, die Kirche seines wirksamen Beistandes zu vergewissern: sie greift über Predigt, Abendmahl, Ordnung und Dienst der Gemeinde hinaus und manifestiert sich in Staat und Gesellschaft".(Die Entscheidung der Christologie Calvins und ihre theologische Bedeutung. Das sogenannte Extra-Calvinisticum, in: Evangelische Theologie 2 1987, S.99).
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ohne wahrzunehmen, daß, wie Helmut Gollwitzer geschrieben hat, Hdie Herrschenden an der Sünde in gleichem Maße teilhaben und der Kontrolle ebenso bedürfen wie die Untenstehenden.H28 Doch nicht alleine aktuelle Anlässe, auch Barths theologisches Denken forderte eine neue Sicht des Staates. Der Staat wurde im Luthertum als Teil der Schöpfungsordnung angesehen, aber ein Theologe wie Barth, der den Schöpfungsgedanken theologisch-dogmatisch dem Christusgeschehen unterordnete, konnte sich mit dieser Sichtweise nicht mehr begnügen - ohne daß dem Staat eine theologische Würdigung versagt bleiben und Theologie Bürgerkriegstheologie werden durfte. Das unterscheidet Barth von der politischen Theologie, die Metz und Moltmann Ende der sechziger Jahre formulierten, auch wenn Barth selbst Sozialist war. Der Sozialismus Barths ist besonders von Helmut Gollwitzer betont worden.29 Dies haben Friedrich Wilhelm Marquardt und Peter Winzeier aufgegriffen und die Frage, ob Barth Sozialist gewesen sei, leidenschaftlich bejaht30, aber um den Preis, daß sie den Begriff des Sozialismus entleerten abgesehen davon, daß sie von einem nicht näher bestimmten Sozialismus ausgehend die Theologie Barths beleuchteten anstatt umgekehrt. Sie verstehen den Sozialismus im Anschluß an die Jahre nach 1967 als die übergreifende Bewegung, die selber unterschiedliche Bewegungen umfasse. So schreibt Peter Winzeier, der Sozialismus sei eine "Erscheinung, (...) die sich in immer neuen Gestalten und Formen präsentiert, sei es als Genossenschafts-, Gewerkschaftsoder Friedensbewegung, als revolutionäre oder reformerische bzw. staatstragende Partei, als Staats- und Gesellschaftsform, Wissenschaft und Kunst, Ideologie oder Ideologiekritik etc."31 Aber damit verliert die These, Barth sei Sozialist gewesen, jede Substanz. Statt des Prinzips anything goes wäre doch in diesem Zusammenhang zu klären, wann bzw. unter welchen Umständen ein Sozialist revolutionär oder aber staatstragend sein muß, was z.B. den Sozialismus als Ideologie rechtfertigt, unter welchen Umständen Ideologiekritik gegenüber dem Sozialismus notwendig ist, und auf welcher Basis sie vorgetragen werden soll. Politische Forderungen und Ideale können durchaus in Distanz zum Politischen formuliert werden. Dann heiligt freilich der Zweck nicht mehr die Mittel, aber diese kommen um der Reinheit des Ideals willen erst gar nicht mehr in Betracht. So wird Barths politische Relevanz, die politische Relevanz der Theologie überhaupt, solange nicht deutlich, solange sie nicht in Beziehung gesetzt wird mit dem Bereich, der das Politische
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Gollwitzer: Befreiung zur Solidarität. Einführung in die evangelische Theologie. München 1978 S. 199. Ders.: Reich Gottes und Sozialismus bei Karl Barth. München 1972. 3 0 Marquard, Friedrich Wilhelm: Theologie und Sozialismus. Das Beispiel Karl Barth. München 1972 und Winzeier: Widerstehende Theologie. Karl Barth 1920-35. Stuttgart 1982. 31 Winzeier, S.30.
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weiterhin repräsentiert, auch wenn er sich mit ihm nicht mehr deckt - nämlich dem Staat. Wie kein anderer Theologe hat Barth sich um die theologische Beleuchtung des Staates bemüht. Darum kann Barths Theologie durchaus als das Paradigma einer jeden politischen Theologie betrachtet werden.32 Theologie "im neuen Paradigma", wie Metz es formuliert, wie sie von der politischen Theologie der sechziger Jahre überhaupt formuliert worden ist (Metz, Moltmann u.a.) und wie sie auch Marquardt und Winzeier fortsetzen, scheut die Konsequenz ihres Anspruchs, wenn sie nur Legitimierung von Bewegung bleiben will und sich nicht an den Staat bindet, oder sagen wir besser: an Staatlichkeit. Bewegungen stellen Strukturen zwar in Frage, aber sie verändern sie nicht konstruktiv. b) Pilatus - Barabbas - Christus Eine Gegenüberstellung von Barth und Schmitt liegt bis dato nicht vor, sieht man von kleineren Aufsätzen33 und von Dietrich Brauns Buch ab, wobei Braun sich hier mit Carl Schmitt nur indirekt über Thomas Hobbes auseinandersetzt. Braun betrachtet die im Hobbeschen Leviathan zu findenden Hinweise auf das Christentum, insbesondere das Bekenntnis des Thomas Hobbes that Jesus is the Christ, als Lug und Trug, als ein zur Herrschaftsideologie pervertiertes Bekenntnis. Schmitt hat in seiner Replik auf Braun geantwortet, daß es ihm nicht darum gehe, Braun zu widerlegen34, daß aber zu bedenken sei, daß im Gegensatz zu den Calvinisten die Anglikaner und Lutheraner "von den Dornen des Hobbismus Trauben zu pflücken gewußt" hätten.35 Worauf Schmitt hier aufmerksam macht ist das protestantische Umfeld, in dem der Leviathan entstanden ist, seine protestantische Basis, auf der er steht. Im Gegensatz zu Braun ist Hobbes für Schmitt gerade ein Vertreter des Rechtsstaats. Die Probleme, die Schmitt selber mit Thomas Hobbes hatte, beruhten nicht zuletzt auf diesem protestantischen Ansatz im Denken des Engländers. Der neuzeitliche Staat ist eng mit der Reformation verknüpft, und darum kann die pauschale Verurteilung des Hobbeschen Leviathan, wie Braun sie vorgenommen hat, nicht im Sinne Karl Barths gewesen sein, vielmehr bemühte sich Barth als reformierter Theologe, d.h. als Calvinist, besonders um
3 2 So hat Cornu Barths Schrift Rechtfertigung und Recht aus dem Jahre 1938 als "ein erstes wirkliches Werk politischer Theologie" bezeichnet; in: Comu: Karl Barth und die Politik. Wuppertal 1969 S.58. 33 Vgl. hierzu Schellong: Jenseits von politischer Theologie und unpolitischer Theologie. Zum Ansatz der'Dialektischen Theologie', in Taubes: Der Fürst dieser Welt. 3 4 Schmitt: Die vollendete Reformation, S.149. 35 Ebenda, S. 155.
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die theologische Würdigung des Leviathans als eines Rechtsstaates. So wie Brauns Kritik Hobbes verfehlt, so verfehlt Schmitts Kritik Barth. Die Gegenüberstellung von Barth und Schmitt unterliegt, wie es das Buch Dietrich Brauns auch zeigt, der Versuchung, dem Schema aut Christus aut Caesar zu folgen, was aber die vorliegende Arbeit vermeiden will. Das einfache EntwederOder wird darüber hinaus weder dem Entweder noch dem Oder gerecht; Inhalt und Form fallen dann meist insofern zusammen, als die jeweilige Position nur die negierte Gegenposition darstellt. Auch ein etwa höheres Drittes zwischen beiden Polen wird sich, trotz feststellbarer Gemeinsamkeiten, nicht einfach synthetisieren lassen. Die Differenz läßt sich aber an einem Beispiel illustrieren: Der Schmittsche Dezisionismus bedient sich in seiner Kritik des Liberalismus der beispielhaften Alternative Christus oder Barabbas und überführt das liberale Bürgertum unter Berufung auf Donoso Cortes als eine clasa discuti dora , die dieser Entscheidung mit einem Vertagungsantrag bzw. der Einsetzung einer Untersuchungskommission auszuweichen versuche.36 Schmitt selbst hatte sich, indem er sich gegen die Theologie entschied, zunächst für Pilatus entschieden, seine Tragik, aber auch seine Schwäche besteht nun darin, daß Pilatus, wie ihn die Evangelien schildern, nicht die Entscheidungskompetenz gehabt, schlimmer noch, daß er sie aus der Hand gegeben hat! Das hat Schmitt übersehen, und das hatte Folgen. Hintergrund der genannten biblischen Überlieferung war die Praxis, aus Anlaß des Paschafestes Verbrecher zu amnestieren. Pilatus konfrontierte das Volk mit Jesus und Barabbas, damit es einen auswählte. Letzterer war wahrscheinlich ein Zelot, d.h. er gehörte einer Gruppe an, die die Römer mit Waffengewalt aus Palästina vertreiben wollte und als Guerilla operierte. Besonders das Lukasevangelium beschreibt die peinliche Situation des Pilatus, der auf Grund der Entscheidung des Volkes einen Unschuldigen verurteilen mußte (Lk 23,13-25): "... und sagte zu ihnen: Ihr habt diesen Menschen zu mir gebracht als einen, der das Volk abwegig mache. Und siehe, beim Verhör vor euch habe ich an diesem Menschen keinen Grund für eure Anklagen gefunden. (V. 14)... Sie jedoch bestürmten ihn mit lautem Geschrei und begehrten, daß er gekreuzigt würde; und ihr Geschrei drang durch, und Pilatus entschied, ihr Begehren solle ausgeführt werden. (V.23-24)M (vergi. Mt 27,15-26; Mk 15,6-15; Joh 18,39-40) Ist also vor diesem Hintergrund die Entscheidung für Pilatus nicht letztendlich die Entscheidung für Barabbas gewesen, also für die Anarchie? Wäre also in der Entscheidung Carl Schmitts vor dem Hintergrund der politischen 3 6
Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. Berlin 1979, S.78.
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Entwicklung im 20. Jahrhundert sein Weg vom Leviathan zum Behemoth Hitler vorgezeichnet gewesen?Dann wäre auch die Wandlung Schmitts nach 1933 aus der unerbittlichen Logik dieser Entscheidung erklärlich, und in seinem Schicksal spiegelte sich das des deutschen Konservatismus wider, der im Nationalsozialismus ja auch den starken Staat vermutet hatte und bitter enttäuscht worden ist.37 Anders Karl Barth. Barth und Schmitt ist zwar die Liberalismuskritik gemeinsam und beider Ablehnung der Anarchie, aber Barth hat sich nicht voraussetzungslos entschieden. Für ihn stand die Entscheidung Jesus oder Barabbas gar nicht zur Debatte, weil in Christus bereits vor allen Entscheidungen entschieden worden war: Gott ist in Christus Mensch geworden. Das Dogma von der Menschwerdung Gottes ist nicht umkehrbar, so als gäbe es entsprechend eine Gottwerdung des Menschen. Gott ist Mensch geworden, aber Gott regiert (Extra-Calvinisticum). In Christus ist aber auch die Entscheidung darüber, ob der Mensch von Natur aus gut oder böse ist, als obsolet zu betrachten. Schmitt sah gerade hierin die anthropologische Grundentscheidung, die jeder politischen Theorie zugrundeliege38, aber dieses einfache Entweder-Oder ist vom Dogma her nicht vorgesehen. Der Mensch wird als simul iustus et peccator begriffen, und das gilt bei Barth nicht nur für den einzelnen Menschen, sondern für die menschliche Gesellschaft überhaupt.39 Es gilt schließlich auch für Pilatus. Von daher läßt sich nun ansatzweise eine politische Theorie entwickeln, die jenseits von Liberalismus und Konservatismus liegt und in dem Satz gipfeln kann, daß die politische Utopie des Neuen Testaments tatsächlich in Röm 13 formuliert worden ist. Es soll regiert werden, weil regiert wird. 40 So wird Regiment bekämpft - Barrabas, Regiment aufgegeben - Carl Schmitt, auf Regiment gehofft - Karl Barth. Die politische Theologie Barths sprengte damit aber den Rahmen, den E.-W. Böckenforde für die politische Theologie gesteckt hat. 3 7 Das Verständnis des Nationalsozialismus als eines totalen Staates wird kontrastiert durch Franz Neumann: Behemoth (1944), Frankfurt am Main 1977, der den Nationalsozialismus eher als eine totale Bewegung versteht; s.a. Breuer: Faschismus und Nationalsozialismus in Italien und Deutschland, in: Leviathan Nr.l 1983. Von theologischer Seite aus hat besonders Scholder auf den Unterschied zwischen Nationalsozialismus und Faschismus hingewiesen (Politik und Kirchenpoltik im Dritten Reich. Die kirchenpolitische Wende in Deutschland 1936/37, in: Oberndorfer/ Schmitt, Karl (Hrsg.): Kirche und Demokratie. Paderborn 1983). Ober die anarchistische Grundlage des Nationalsozialismus s.a. Sombart, Nicolaus: Nachdenken über Deutschland. Vom Historismus zur Psychoanalyse. München und Zürich 1987. 38 Schmitt: Der BegrifTdes Politischen. Berlin 1979 S.61. 3 9 Vgl. hierzu Marquardt, Friedrich Wilhelm: Der Christ in der Gesellschaft 1919-1979. Geschichte, Analyse und aktuelle Bedeutung von Karl Barths Tambacher Vortrag. München 1980. 4 0 In der Nacht vom 8.12.1968 ist Karl Barth gestorben. Ein letztes Telefongespräch mit seinem alten Freund Eduard Thurneysen, in dem über die Weltlage gesprochen wurde, beendete Barth mit einem Wort Christoph Blumhardts: "Aber nur ja die Ohren nicht hängen lassen! Nie! Denn - 'es wird regiert'!" (Busch, S.515).
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c) Das Faszinosum Carl Schmitt Nachdem Carl Schmitt 1985 im Alter von 97 Jahren verstorben war, fand sein Tod in der Presse ein breites Echo.41 In zahlreichen Veröffentlichungen ist seitdem davon gesprochen worden, daß von Schmitt eine Faszination ausgehe, ohne daß deutlich gemacht worden wäre, worin diese Faszination letztlich besteht bzw. worin sie gründet. Sie geht aber sicherlich nicht alleine vom Stil Schmitts oder von bestimmten Formulierungen aus, die leicht über die Zunge gehen bzw. in die Feder fließen, ohne daß sie in ihrer ganzen Tragweite auch immer erfaßt wären. Es ist insbesondere das Phänomen des Linksschmittianismus, das hier interessiert, d.h. die linke Rezeption Schmitts und die Faszination, die Schmitt auf linke Theoretiker ausübte und ausübt. Volker Neumann sieht die konträre Beurteilung in Schmitts Verzicht auf eine Methode begründet, so daß die Ergebnisse des Schmittschen Verfahrens Mein hohes Maß an subjektiver Beliebigkeit" aufwiesen.42 Vielen jedenfalls ist die Bandbreite der Rezeption unheimlich, wie anders wären die vielfaltigen Warnungen vor Verführungen zu verstehen, die mancherorts Arbeiten über Carl Schmitt einleiten, bis hin zu dem Rat Kurt Sontheimers, sich besser erst gar nicht mit ihm zu beschäftigen.43 Eberhard Stölling warnte in der Tageszeitung (TAZ) die Linke vor dem Umgang mit den Theoremen Carl Schmitts, sie unterliege damit der Gefahr, Schmitt "doch platt auf den Leim (zu) kriechen, statt ihre eigenen Voraussetzungen zu kritisieren"44, mit denen Stölling Lenin meint. So bestreitet z.B. auch Jürgen Seifert grundsätzlich die Möglichkeit eines Linksschmittianismus - die Versuchung - und schickt seinem Nachruf voraus: "Wer sich mit Carl Schmitt auseinandersetzt, muß die Methode der geschichtlichen Spezifizierung anwenden. Man kann Carl Schmitt nicht 41 Eine Sammlung und polemische Kommentierung der Stimmen zum Tode Carl Schmitts in: Maschke: Der Tod des Carl Schmitt. Apologie und Polemik. Wien 1987. 4 2 Neumann, Volker: Der Staat im Bürgerkrieg. Kontinuität und Wandlung des Staatsbegriffes in der politischen Theorie Carl Schmitts. Frankfurt am Main und New York 1980, S.9. Zum Tode Carl Schmitts schrieb Sontheimer in der ZEIT: H Wem die liberale, das heißt: die freiheitliche Demokratie am Herzen liegt, der braucht Carl Schmitt nicht." (Die ZEIT Nr. 17, 19.4.1985) Maschke brach in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung eine Lanze für Carl Schmitt. Für ihn war Schmitt nach 1945 dem "Haß" seiner Fachkollegen ausgeliefert (Maschke zitiert u.a. Karl Loewenstein: "Ich kann mich rühmen, dieses Subjekt hinter schwedische Gardinen gebracht zu haben!") und nennt zunächst zwei Ursachen hierfür: Schmitts zeitweise Kollaboration mit den Nationalsozialisten und seine angebliche Feindschaft gegenüber der Weimarer Republik. Den Nationalsozialismus betreffend habe Schmitt aber nur versucht, den Golem zu zähmen, auch sei er schon bald zum Kritiker des Systems geworden. Gegenüber der Weimarer Republik sei Schmitt als Diagnostiker aufgetreten, den man nicht für die Krankheiten des Patienten verantwortlich machen könne. Eine dritte Ursache der Ablehnung Carl Schmitts stelle schließlich dessen Fortschrittspessimismus dar: "Schmitt hat die großen Erwartungen der Aufklärung in Frage gestellt, indem er die ihr verpflichteten Zielsetzungen des Liberalismus, der Demokratie, der Volkssouveränität, des Humanitarismus und des Sozialismus zu Illusionen erklärte" (Maschke in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 11.4.1985). 4 4 Stölling in der TAZ am 11.4.1985.
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'neutral* verwerten, ohne dem spezifischen Denken Schmitts zum Opfer zu fallen. Es kommt bei Carl Schmitt darauf an zu fragen, gegen wen denkt er, für wen, in welcher Situation."45 Aber das Verbotene reizt besonders, vor allem reizt es dazu, etwas in Schmitt hineinzulesen, was vielleicht gar nicht bei Schmitt zufinden ist. Die Aura, die um Schmitt produziert worden ist und die Schmitt selbst durch nicht immer luzide Sätze und Bemerkungen noch unterstützte und verstärkte Schmitt gefiel es, sich hinter mythischen, geschichtlichen oder literarischen Anspielungen zu verstecken - ist von nicht unerheblichem Schaden für die Rezeption, vor ihr zu warnen ist dringlicher als vor dem Werk Schmitts. So vertritt Alfons Söllner die Auffassung, daß zumindest die Frage erlaubt sein muß, ob sich nicht aus Schmitts Lehren "Folgerungen ziehen lassen, die seinen eigenen Optionen auf die konservative Revolution diametral entgegengesetzt sind"46, wobei Söllners Auffassung, Schmitt sei ein konservativer Revolutionär gewesen, hier zunächst einmal so stehen bleiben und erst im weiteren Verlauf noch beleuchtet werden soll. Klaus-Michael Kodalle geht sogar noch einen Schritt weiter als Söllner, wenn er schreibt, Hdaß diese höchst kritikbedürftige Theorie als Purgatorium für eine jede politische Theorie, auch eine sozialistische, radikaldemokratische, hervorragend geeignet ist"47, und in Bezug auf Jürgen Habermas schreibt Kodalle weiter: "Mag sich für das 'emanzipatorische Interesse* in C. Schmitts Theorie auch kein Äquivalent finden, in Deskription und Begründung des politischen Status quo schwinden zwischen beiden Theoretikern die Unterschiede"48, mehr noch: "In der klaren Zeichnung der Konsequenzen, die durch die von ihnen beschriebene Sachlage gezeigt werden, ist Schmitt, was die theoretische Eindeutigkeit und Präzision seiner Kategorien angeht, Habermas überlegen."49 Die Nähe der Kritischen 4 5 Seifert: Theoretiker der Gegenrevolution. Carl Schmitt 1888 - 1985, in: Kritische Justiz 1985 (2). Dagegen hat Schneider versucht, und das macht die Problematik seines Buches aus, die Kategorien Schmitts unabhängig von ihrem Zeithintergrund zu betrachten (Ausnahmezustand und Norm. Eine Studie zur Rechtsphilosophie von Carl Schmitt. Stuttgart 1957). Hofmann urteilte demgegenüber: "Carl Schmitt hat aus der Not der Theorie ein Prinzip und eine Tugend gemacht. Infolgedessen sind seine Begriffe prinzipiell Begriffe einer je besonderen Position und Situation." (Hofmann: Recht Politik - Verfassung. Studien zur Geschichte der politischen Philosophie. Frankfurt am Main 1986, S.229.) Man wird zwischen beiden Positionen sicher die Mitte wählen müssen. Die Begriffe werden von Schmitt in unterschiedlichen Situationen unterschiedlich verwendet, sie wandeln sich. 4 6 Söllner: Linke Schüler der konservativen Revolution? - Zur politischen Theorie von Neumann, Kirchheimer und Marcuse am Ende der Weimarer Republik, in: Leviathan (2) 1983. 4 7 Kodalle: Politik als Macht und Mythos. Stuttgart, Berlin, Köln und Mainz 1973, S.15. 4 8 Ebenda, S.15. 4 9 Ebenda, S.15. In diesem Sinne argumentiert auch Breuer gegen Maus: "Schmitts Problem ist nicht die Bedrohung bürgerlicher Privilegien durch die politische Emanzipation der Arbeiterschaft Sein Problem ist vielmehr die durch die immanente Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft verursachte Transformation der Politik, die den Staat aus einer übergreifenden und autonomen Instanz in ein Teilsystem einer Gesellschaft verwandelt" (Breuer: Nationalstaat und pouvoir constituant bei Siéyès und Carl Schmitt, in: Archiv für Sozialphilosophie, Wiesbaden 1984 (4) S. 514).
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Theorie zu Carl Schmitt wird aber besonders deutlich in Schmitts Kritik der instrumenteilen Vernunft, die gleichzeitig die konservativen Wurzeln der Kritischen Theorie aufzudecken vermag.50 Sie bildete hier wie dort die Basis für eine politische Theorie, nur daß Schmitt seine Kritik auf einem katholischen Fundament vortrug, die Kritische Theorie auf einem allgemein humanistischen. Als ein Beispiel dafür, welche Faszination Schmitt auf eine sozialistischen Optionen verpflichtete Theorie ausübt, sei schließlich noch Jacob Taubes genannt. Taubes ist Jude, für Schmitt also Vertreter des Feindes schlechthin, da er das Judentum lange Zeit als Feind betrachtet hat - sein Antisemitismus während der Zeit des Nationalsozialismus ist sicher mehr gewesen als bloßer Opportunismus. Das sei aber, so Taubes, kein rassisch begründeter Antisemitismus gewesen. Taubes spricht sich für Schmitt aus, freilich interessiert er sich nicht sonderlich für Schmitts Biographie. Sein Ansatz ist Schmitts politische Theologie: MCarl Schmitt war Jurist, kein Theologe, aber ein Jurist, der den heißen Boden betrat, von dem die Theologen abgetreten waren"51, und an anderer Stelle schreibt er, einen Satz Carl Schmitts über das Politische variierend: "Was ist heute nicht Theologie* (außer dem theologischen Geschwätz?)".52 Dennoch bezeichnet Taubes auch seinen Unterschied zu Carl Schmitt: Dieser denke "apokalyptisch, aber von oben her, von den Gewalten; ich denke von unten her. Uns beiden gemeinsam aber ist jene Erfahrung von Zeit und Geschichte als Frist, als Galgenfrist." 53 Darum auch seine Parteinahme für Schmitts Dezisionismus, denn weil Zeit begrenzt sei, dürfe Entscheidung nicht aufgeschoben, müsse das Gespräch gelegentlich abgebrochen werden. Man wird das Werk Schmitts nicht unabhängig von seiner Persönlichkeit würdigen können, auch wenn dies mancherorts bedauert und eher als das
50 Die Nähe Carl Schmitts zur Kritischen Theorie wird besonders von Ellen Kennedy behauptet, aber nur, indem sie deren Parlamentarismuskritik als von Schmitt abhängig zu zeigen versucht (Kennedy: Carl Schmitt und die "Frankfurter Schule". Deutsche Liberalismuskritik im 20. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft Nr. 12 1986) was eine kontroverse Diskussion auslöste (vgl. Söllner: Jenseits von Carl Schmitt. Wissenschaftsgeschichtliche Richtigstellungen zur politischen Theorie im Umkreis der "Frankfurter Schule", in Geschichte und Gesellschaft Nr. 12 1986; Jay: Les extreme ne se touche pas. Eine Erwiderung auf Ellen Kennedy: Carl Schmitt und die Frankfurter Schule, in Geschichte und Gesellschaft Nr. 13 1987, und Preuss: Carl Schmitt und die Frankfurter Schule: Deutsche Liberalismuskritik im 20.Jahrhundert. Anmerkungen zu dem Aufsatz von Ellen Kennedy, in Geschichte und Gesellschaft Nr. 13 1987). Man wird freilich einen über Johannes Agnoli vermittelten Einfluß Schmitts zumindest auf die APO nur schwer leugnen können (vgl. Agnoli/Brückner: Die Transformation der Demokratie. Frankfurt am Main 1968). 51 Taubes: Ad Carl Schmitt S.7. Schmitt als einen opportunistischen Charakter beschreibt auch Wieland: Carl Schmitt in Nürnberg (1947), in: 1999 (Neunzehnhundertneunundneunzig) Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, 1987 Heft 1, S.96ff. 52 Ebenda, S.34. 53 Ebenda, S.22.
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Teil I: Zum Begriff der politischen Theologie
Werk belastend betrachtet wird. 54 Schmitt ist in diesem Sinne nicht mit Bodin zu vergleichen, dessen Werk sicher auch seine Persönlichkeit beleuchtet, ohne daß wir noch großes Interesse an dieser Persönlichkeit zu entwickeln in der Lage wären. Der Unterschied zu Bodin besteht aber nicht nur in der historischen Ferne, in der der Mensch Bodin nahezu unkenntlich wird und werden muß, vielmehr sind in Schmitts Persönlichkeit und seinem Werk alle wesentlichen Friktionen und Widersprüche der deutschen Geschichte fokussiert, die uns heute auch noch betreifen. Die Faszination, die von Schmitt ausgeht, besteht m.E. darin, daß Schmitts Identität bzw. die Probleme, die diese Identität mit sich bringt, in gewissem Sinne auch heute noch die Identitätsprobleme eines Teils der Deutschen wiederspiegeln, zumindest des Teils, der seine Identität nicht über einen wie auch immer gedachten und begründeten Internationalismus zu gewinnen suchte.55 Identität verstehe ich hier im Sinne von Christian Meier als "die Antwort auf die Frage, wer einer ist." Damit zielt dieser Begriff "auf ein Bedürfnis, zugleich auf eine Kraft, die wir in uns entwickeln. Man könnte sie mit sehr einfachen deutschen Worten bezeichnen als die Kraft, sich in irgendeiner Weise treu zu bleiben. Man könnte sie aber auch gelehrter und vom lateinischen Wortsinn von idem ausgehend bezeichnen als die Kraft und das Bedürfnis, durch seine Biographie hindurch derselbe zu sein und zu bleiben."56 Handelt es sich aber nun nicht um die Identität eines einzelnen Menschen, sondern um die eines Kollektivs, von dessen Identität freilich individuelle Identität nicht unerheblich abhängt, so darf die Geschichtsschreibung als eine der wichtigsten identitätsstiftenden Unternehmungen angesehen werden.57 In diesem Sinne muß denn auch das Verständnis der Auffassung Nicolaus Sombarts erweitert werden, daß Schmitts Werk ein "fortlaufende(r) Kommentar der deutschen Geschichte" sei58, über 5 4 Vgl. Quaritsch: Über den Umgang mit Person und Werk Carl Schmitts, in: ders. (Hrsg.): Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt. Berlin 1988. 55 Freilich wäre es reizvoll nachzuprüfen, inwiefern die Warnungen, sich mit Schmitt zu beschäftigen, nicht auch aus Identitätsproblemen im Angesicht der deutschen Geschichte resultieren. 5 6 Meier, Christian: Was ist nationale Identität?, in: Gauly (Hrsg.): Die Last der Geschichte. Kontroversen zur deutschen Identität. Köln 1988, S.35f. 5 7 Wobei anzumerken ist, daß z.B. James nicht im Singular von Identität, sondern von Identitäten der Deutschen spricht, die sich im Laufe der Geschichte abgewechselt hätten (Deutsche Identität 17701990. Frankfurt am Main 1991). 58 Sombart, Nicolaus: Schmitt und der Liberalismus, in: Hansen/Lietzmann (Hrsg.): Carl Schmitt und die Liberalismuskritik. Opladen 1988, S.23. Sombart versucht darüber hinaus, Schmitt unter psychoanalytischen Gesichtspunkten zu verstehen. Schmitts Thesen seien Auseinandersetzungen mit dem Weiblichen in ihm. Entsprechend stehen für Sombart Schmitts kleinere Schriften im Mittelpunkt des Interesses, etwa Land und Meer (1944)und Hamlet und Hekuba (1956), die ihm besonders aufschlußreich erscheinen. "Männlich, weiblich, mit anderen Worten das anthropologische Problem der Bisexualität des Menschen, das war die Lebens- und Schicksalsfrage dieser Generation deutscher Männer. Es war auch die Lebens- und Schicksalsfrage für Carl Schmitt: darum zu wissen war sein arcanum."(Sombart: Jugend in Berlin. Münchcn und Wien 1984, S.277) So sei Schmitts Denken in der Weimarer Republik und die Betonung der Dezission als eine Distanziening vom Weiblichen zu verstehen, zu dem er später aber wieder zurückgefunden habe: "Er verläßt das feste Land und wagt
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die Herfried Münkler schreibt: "Trifft dies zu, so ist der Zusammenhang von Schmitts Werk nicht in diesem selbst, sondern vielmehr in der deutschen Geschichte mitsamt ihren Brechungen und Verwerfungen zu suchen."59 Sombart aber begreift die Reichsgründung des Jahres 1871 als das entscheidende und schicksalhafte Datum, das die deutsche Geschichte bis heute bestimme, und urteilt über Carl Schmitt: "Die Probleme Carl Schmitts sind die Probleme des wilhelminischen Deutschlands."60 Das bedarf einer Ergänzung: Die deutsche Geschichte ist ja mehr als nur die Lebenszeit Carl Schmitts und die Friktionen und Widersprüche, die das Werk Schmitts charakterisieren und schließlich seine Problematik ausmachen, verweisen nicht nur auf die Friktionen, die sich vom Bismarckschen Reich bis zu uns heute erstrecken. Sie sind vielmehr Ausläufer jener Widersprüche, die die deutsche Geschichte seit je her ausmachen und bestimmen. Die Widersprüche, die die Schmittrezeption immer wieder bei Schmitt feststellt und die in der Regel mit der schwierigen Persönlichkeit Schmitts erklärt werden, seinem Opportunismus und seiner Angst, sich festzulegen, spiegeln tatsächlich diese Widersprüche, wenn nicht sogar Aporien der deutschen Geschichte wieder, und an erster Stelle wäre der Widerspruch zwischen Katholizismus und Protestantismus zu nennen. Thomas M. Gauly schreibt dazu: "Die Nationwerdung Deutschlands und die Nähe der Deutschen zur staatlichen Gewalt, die Ausbildung politisch, weltanschaulich und religiös sich abgrenzender Milieus, schließlich die Entwicklung der Parteienlandschaft, um nur einige Aspekte zu nennen, sind beeinflußt durch den mit der Kirchenspaltung im ló.Jahhundert ausgelösten Konfessionalismus, der zwei Kulturen in einer Nation hat entstehen lassen."61 Von diesem Widerspruch her lassen sich die meisten Probleme der deutschen Geschichte seit der Reformation ableiten, wenngleich gerade dieser konfessionelle Konflikt auf dem noch älteren zwischen der Zentralgewalt, dem Kaiser, und dem Partikularismus der Reichsfürsten basierte. "In Deutschland dagegen wurde die Reichseinheit auch für die deutschsprachigen Zentralgebiete durch die Reformation gerade gestört. Ihre Folge war der Aufstieg der Territorialstaaten mit ihren Fürsten und dem Prinzip 'cuius regio eius religio1. Preußen und östersich hinaus aufs freie Meer. Er kündigt den Vätern den Gehorsam auf und bricht auf in das Reich der Mütter." (ebenda, S.255f) Darin sieht Sombart auch Schmitts spätes Interesse für den Partisanen begründet, vermittelt über dessen tellurischen Charakter: "Der Mutterleib' kann aber auf dieser Ebene ebensogut als der Leib der Mutter Erde phantasiert werden", und der sei durch das Schützenloch des Gueriellero symbolisiert, (ders.: Nachdenken über Deutschland. Vom Historismus zur Psychoanalyse. München und Zürich 1987, S.200). Vgl. auch Sombart: Die deutschen Männer und ihre Feinde. Carl Schmitt - ein deutsches Schicksal zwischen Männerbund und Matriachatsmythos, München 1991. Ob hier allerdings Einsichten in das Denken Carl Schmitts oder aber das Nicolaus Sombarts vermittelt werden, soll dahingestellt bleiben. 5 9 Münkler: Carl Schmitt in der Diskussion, in: Politische Literatur 2 1990, S.290. 6 0 Sombart, Nicolaus: Carl Schmitt und der Liberalismus, S.23. 61 Gauly: Konfessionalismus und politische Kultur in Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament Β 20/91, 10. Mai 1991, S.45.
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reich bildeten sich als dynastischen Eigeninteressen gehorchende Mächte - auf Kosten des Reiches - heraus."62 Entscheidend aber ist, daß sich beide Konflikte seit der Reformation gegenseitig verstärkten. Weiter wäre an den Widerspruch zwischen Preußen und dem Reich zu erinnern, der schon nicht mehr ganz deckungsgleich mit dem zwischen Zentralgewalt und Partikularismus ist, so daß sich keine rechte Entweder-Oder-Situation ergegeben kann. Schließlich wären alle Widersprüche zu nennen, die sich, mehr oder weniger, aus diesen Konflikten ableiten lassen oder doch zumindest mit ihnen in Verbindung stehen, so z.B. die Frage großdeutsch oder kleindeutsch, die auch einen konfessionellen Charakter hatte, den Thomas Gauly betont: "So sehr dieser Konflikt primär ein Kampf zweier Mächte um die Hegemonie in Deutschland war, so sehr wurde er auch zum Kampf des rationalistisch-modernen Nordens gegen den barocken und 'rückständigen* Süden, des evangelischen gegen das katholische Deutschland."63 Weitere Gegenüberstellungen wie etwa Gesellschaft oder Gemeinschaft, Revolution und Nation usf. können ergänzt werden. "... ich kann kein Volk mir denken, das zerrissener wäre, wie die Deutschen", schrieb Friedrich Hölderlin im Hyperion, und um wieviel mehr mußte dies der preußische Katholik Schmitt aus seiner eigenen Situation heraus auch sehen, wenn nicht gar in sich fühlen. Bei Meier heißt es: "Wir sind (...) auf der einen Seite ein Ich und auf der anderen Seite Teile von verschiedenen Wirs, und diese Zugehörigkeiten kreuzen sich in uns und können unter Umständen in Kollisionen zueinander geraten."64 Denn diese Zerrissenheit besteht ja nicht aus Widersprüchen, die sich auf einer Tabelle auflisten ließen, etwa Katholizismus auf der einen Seite, subsumiert Reich, Bodenständigkeit, Tradition usf., auf der anderen Seite Protestantismus, subsumiert Partikularismus, Rationalität, Dezision usf., so daß Entscheidung möglich wäre. Die Widersprüche sind vielmehr ineinandergeschoben und übereinandergelagert und lassen sich nicht synthetisieren. An der Synthese hat die politische Mythologie in Deutschland gearbeitet, namentlich im 19. Jahrhundert, als plötzlich das protestantische Preußen das Reich repräsentierte. Aber sie ist nicht gelungen und 1945 mit dem Untergang des Reichs beendet worden. Ausdruck dieser Mythologie aber ist nicht nur die ungeheure Arbeit am Nibelungenmythos gewesen65, auch politische Programme wie z.B. die Ideen von 1914 stellten einen Versuch der Synthese dar, die nur in den Köpfen eines Bürgertums gelang, 6 2 Fetscher: Deutsche Identität und Gefährdung der Demokratie, in Gauly: Die Last der Geschichte, S.87. 6 3 Gauly: Konfessionalismus und deutsche Identität - Zwei Kulturen in einer Nation? in: ders.: Die Last der Geschichte, S. 121. 6 4 Meier, Christian: Was ist nationale Identität? S.57. 6 5 Vgl. hierzu Münkler/Storch: Siegfrieden, und Münkler: Mythischer Sinn. Der Nibelungenmythos in der politischen Symbolik des 20. Jahrhunderts, in: Bermbach (Hrsg.): In den Trümmern der eigenen Welt. Richard Wagners "Der Ring des Nibelungen". Hamburg 1989, S.251ff.
Teil I: Zum Begriff der politischen Theologie
dem in Deutschland die politische Macht verschlossen blieb, und das sich darum um so bereitwilliger in den Mythosflüchtete. Carl Schmitt war ein Teil dieses Bürgertums, und sein Werk ist Arbeit an diesem politischen Mythos gewesen.
Teil II
Theologisches und geistesgeschichtliches Umfeld 1. Carl Schmitt und die römische Kirche a) Zum Vorwurf
des Irrationalismus
Carl Schmitt gehörte der katholischen Kirche an. Dieser Satz wäre banal, handelte es sich lediglich um eine biographische Feststellung. Aber die These der vorliegenden Arbeit lautet, daß der Katholizismus entscheidenden Einfluß auf Carl Schmitt ausgeübt hat, und zwar in jeder Phase seines Denkens. Dem widerspricht eine breite Einstellung, die Schmitt als einen Vertreter des Irrationalismus begreift, was dem Katholizismus aber widersprechen würde. Im Mittelpunkt steht dabei der Begriff der Dezision. Hier ist zunächst nicht an die marxistische Kritik zu denken, für die Schmitt ein bewußter Agent des Monopolkapitals war, wenngleich auch die Pointe des Irrationalismusverdachts mit ihr weitgehend deckungsgleich ist. Georg Lukacs hat Schmitt als den unversöhnlichen Feind der Weimarer Republik dargestellt1, allerdings auch wieder nicht als den Protagonisten der Nationalsozialisten, als den ihn Jürgen Fijalkowsky beschrieben hat.2 Doch der Begriff des Irrationalismus ist schwer zu fassen, für Georg Lukacs z.B. ist jede gegen den historischen Materialismus gerichtete Philosophie irrationalistisch. Kurt Sontheimer und Christian Graf von Krockow stellen Schmitt auch unter den Irrationalismusverdacht, stehen aber mit ihrer Kritik an Schmitt nicht in der Tradition von Lukacs, sondern in der Karl Löwiths, der schon in den dreißiger Jahren geschrieben hat: MWas Schmitt vertritt, ist eine Politik der souveränen Entscheidung, für die sich aber der Inhalt nur aus der zufalligen occasio der jeweils gegebenen politischen Situation ergibt und nicht 'aus der Kraft eines integren Wissens1 um das ursprünglich Richtige und Gerechte, wie in Piatons Begriff vom Wesen der Politik, woraus eine Ordnung der menschlichen Dinge entsteht. Zur 'unversehrten, nicht korrupten Natur' kehrt 1 2
Lukacs: Die Zerstörung der Vernunft B.3. Darmstadt 1974, S.102ff. Vgl. Fijalkowsky.
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Schmitt sowenig zurück, daß er vielmehr die menschlichen Dinge in ihrem korrupten Zustand beläßt und diesen nur innerhalb seiner, so oder anders, aber auf alle Fälle 'entscheidet'."3 So sieht auch Sontheimer Schmitts Werk nicht primär interessegeleitet, vielmehr sei Schmitt der irrational-romantischen Rechten der zwanziger Jahre zuzurechnen, seine Schriften seien "Betrachtungen eines Unpolitischen"4 Das ist auch der Kern der Argumentation Christian Graf von Krockows, wenn er schreibt, "daß die vom Dezisionismus so übersteigerte Geste der Entschiedenheit im Grunde nur den Sinn hat, jeder 'eigentlichen1, das heißt inhaltsbezogenen und damit verantwortungsvollen Entscheidung auszuweichen."5 Dem Vorwurf, Schmitts Denken sei irrational, ist von Anhängern und Verteidigern Schmitts vehement widersprochen worden. In der Tat ist der Begriff des Irrationalismus ein polemischer Begriff: keine Philosophie oder Theorie, die von ihren Gegnern nicht als irrationalistisch gebrandmarkt worden wäre.6 Mit dem Hinweis auf Schmitts eigene Aversion gegen Irrationalismus und Romantik verteidigt auch Joseph W. Bendersky Schmitt gegen den erhobenen Vorwurf: "Schmitt's political theory was not irrational and he never promoted irrationalism or nihilism as a political doctrine. In an age of mass politics he was particulary cognizant of the political significance of irrational behavior and the power of myth, but he regarded such irrationalism in the political sphere as dangerous."7 An anderer Stelle heißt es ergänzend: "Schmitt was not advocating any irrational political philosophy, but presenting a stark, realistic, and rational analysis of political behaviour."8 Krockow dagegen sieht in Schmitt wie in Ernst Jünger und Martin Heidegger die antibürgerliche Einstellung verkörpert, die nicht in den Sozialismus, sondern in den "ideologischen Klassenselbstmord" mündete.9 Die Zwecke politischen Handelns seien gleichgültig geworden, alleine die Mittel faszinierten und würden thematisiert. Als 3 Löwith: Der okkasionelle Dezisionismus von Carl Schmitt, in: Gesammelte Abhandlungen. Zur Kritik der geschichtlichen Existenz. Stuttgart, Berlin, Köln und Mainz 1969, S.100. 4 Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. München 1983, S.91. Diese Sicht wird von dem juristisch argumentierenden Stolleis gestützt. Stolleis sieht Kontinuität bei Carl Schmitt nicht in der Verfolgung eines Interesses, sondern in Schmitts Auffassung des Rechts als eines Situationsrechts: Seine Anbiederung gegenüber dem Nationalsozialismus versteht er darum gerade nicht als Opportunismus: "Auf der Grundlage des Satzes 'Alles Recht ist Situationsrecht' und der Lehre von der rechtssetzenden Wirkung einer gelungenen Revolution war es fòr Carl Schmitt keine opportunistische 'Wendung', sondern unausweichliche Konsequenz seiner bisherigen Haltung". (Stolleis: Carl Schmitt, in: Sattler (Hrsg.): Die deutsche Staatslehre im 19. und 20. Jahrhundert. München 1972, S.139). 5 Krockow: Die Entscheidung. Eine Untersuchung über Emst Jünger, Carl Schmitt, Martin Heidegger. Stuttgart 1958, S.91. 6 Vgl im Historischen Wörterbuch der Philosophie B.4, Stichwort "Irrationalismus" (Rücker), hrsg. von Ritter/Gründer, Basel und Stuttgart 1976, S.583ff. 7 Bendersky,. S.59. 8 Ebenda, S.92. 9 Krockow, S.28.
4 Eichhorn
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ausschließliches Mittel der Politik werde der Kampf begriffen: "In der ausschließlichen Orientierung an der Kampfsituation des Freund-Feind-Verhältnisses, vor allem aber in der Abschneidung dieses Verhältnisses von jeder inhaltlichen Erfüllung und normativen Bestimmung kommt Schmitt Jünger vollkommen gleich.H10 So auch Kurt Sontheimer zur These von der FreundFeind-Relation: H In ihrer unmittelbaren Konsequenz liegt der Kampf* 11, und Jürgen Habermas urteilt, Schmitt habe einen "expressionistischen Begriff des Politischen", der immer auf die physische Existenzbedrohung im Ernstfall ziele.12 Die These vom grundsätzlich katholischen Charakter des Denkens Carl Schmitts widerspricht dem Vorwurf des Irrationalismus, ohne daß aber der Nachweis einer katholischen Politik bzw Parteinahme Schmitts im Dienste einer katholischen Partei oder eines entsprechenden Programms angestrebt werden würde. Christian Meier hat darauf aufmerksam gemacht, daß Schmitts Enthaltsamkeit hinsichtlich politischer Programme wesensmäßig zur Theorie Schmitts gehöre, daß er eigentlich nicht über Politik geschrieben habe: "Der Vorzug des Begriffs des Politischen liegt (...) darin, daß er im Einklang mit einem wesentlichen Strang der heutigen Wortbedeutung etwas erfassen kann, was nicht identisch ist mit der Vielfalt all dessen, was politisch und Politik meint: ein Beziehungs- und Spannungsfeld, nämlich das Feld oder das Element, in dem in und zwischen politischen Einheiten (und Untereinheiten) eine Ordnung des Zusammenlebens geschaffen und praktiziert, Entscheidungen über gemeinsam interessierende Fragen getroffen und Positionen umkämpft werden, von denen her diese Entscheidungen zu beeinflussen sind."13 Ein Nachweis der Katholizität des Schmittschen Denkens kann nicht über eine Parteinahme Schmitts zugunsten einer katholischen Programmatik oder einer Partei, etwa des Zentrums, gelingen. Carl Schmitt habe, so Meier weiter, auch nie behauptet, "eine Wesensbestimmung des Politischen oder gar der Politik gegeben zu haben. Es ging ihm nur um die Herausaibeitung eines Kriteri10
Ebenda, S.55. Sontheimer, S.261. 12 Habermas: Die Schrecken der Autonomie. Zu zwei frühen Publikationen des deutschen Staatsrechtlers Carl Schmitt, in: Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart, Heft 1 1986. Einen ausschließlich bellizistischen Carl Schmitt zeichnet auch Schürgers (Politische Philosophie in der Weimarer Republik. Staatsverständnis zwischen Führerdemokratie und bürokratischem Sozialismus. Stuttgart 1989, S.274f). Schon Schneider hat diese Einschätzung nicht geteilt: "Schmitt verkündet kein bellizistisches Ethos** (Schneider. S.240.). Wird Schmitts angeblich bellizistisches Ethos in der Regel an seiner Bestimmung des Politischen als einer Unterscheidung von Freund und Feind festgemacht, die Schneider schon darum für selbstverständlich hält, weil es Feinde gebe (Schneider. S.240), so betrachtet Münkler Schmitts Unterscheidung unter dem Gesichtspunkt der Hegung von Konflikten, weil die politische Unterscheidung bei Schmitt nicht zugleich eine moralische oder ästhetische bedeute: "Der 'wirkliche Feind* aber ist für Schmitt der als 'iustus hostis' anerkannte Gegner" (Münkler: Krieg und Friede bei Clausewitz, Engels und Carl Schmitt, in: Leviathan 1982 (1), S.35). 13 Meier, Christian: Die Entstehung des Politischen bei den Griechen. Frankfurt 1980, S.16f. 11
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ums."14 Wenn auch Meier das analytische Potential bei Schmitt betont, vollzieht er doch nicht einfach den Gleichklang mit Schmitts Thesen, sondern schränkt seine Parteinahme im Sinne Löwiths, Krockows und Sontheimers ein, so daß auch bei ihm der Irrationalismusverdacht durchschimmert: "Freilich hat Carl Schmitt (...) aus der besonderen Intensität politischer Gegensätze den Schluß gezogen, eine konkrete Gegensätzlichkeit sei um so politischer, je mehr sie sich dem äußersten Punkt\ der Freund-Feind-Gruppier annähert. Da ist politisch einfach mit existentiell und intensiv gleichgesetzt. Hier scheiden sich die Wege."15 Gerade diese Intensität hat jedoch Jacob Taubes fasziniert, der den Schmittschen Dezisionismus in einen Kontext mit der Revolution stellt, die Entscheidung fordere. Schmitt wird hier in der Tradition des Donoso Cortes gesehen, womit eine Verbindung zum Katholizismus hergestellt wäre. Es wird aber im folgenden zu zeigen sein, daß der Katholizismus Schmitts sich nicht auf die Cortesrezeption beschränkt. Ist aber der Hinweis auf den existentiellen Charakter der Schmittschen Freund-Feind Unterscheidung nicht als ein Nachweis zu betrachten, daß Schmitt ein Bellizist gewesen sein muß, was dem Katholizismus freilich auch fondamental widersprechen würde? In der breiten Schmittrezeption ist der Katholizismus Schmitts nur auf untergeordnetes Interesse gestoßen, von den Autoren aber, die auf Schmitts Katholizismus rekurrieren, schreibt auch Armin Adam, daß der Krieg im Zentrum der Schmittschen Staatsethik stehe, was damit begründet wird, daß Schmitts Denken, wie die Staatsethik der deutschen Staatsphilosophie ohnehin, um den Begriff der Ausnahme kreise.16 Joseph W. Bendersky behauptet dagegen, Schmitts Katholizismus sei letztlich verantwortlich für seinen Begriff des Politischen: "His tendency to view politics in terms of friend and enemy was no doubt greatly influenced by his youthfoll identity as part of a minority caught in a confessionell struggle."17 Gegenüber Bendersky wird man aber sagen müssen, daß Schmitts Begriff des Politischen dann, wenn überhaupt, in einer biographischen Situation wurzelte, d.h. nicht unmittelbar im Katholizismus, sondern in der Erfahrung der Diaspora, und entsprechend auch auf protestantischem Boden hätte wachsen können. Das würde den Vorwurf des Irrationalismus freilich nicht entkräften, denn die Freund-Feind-Unterscheidung müßte Außenstehenden, die die 14 Ebenda, S.31. Holczhauser hat drei verschiedene Begriffe des Politischen bei Schmitt unterschieden, und zwar je nach der Anzahl der handelnden Personen: entscheide eine isolierte Person für sich, handele es sich um einen konsensuellen, entscheide sich diese Person gegen eine andere, handele es sich um einen konfliktuellen, entscheide diese Person aber zwischen zwei anderen, dann handele es sich um einen neutralistischen Begriff des Politischen. Eine erkenntniserweitemde Funktion dieser Unterscheidung vermag ich allerdings nicht zu erkennen (Holczhauser: Konsens und Konflikt. Der Begriff des Politischen bei Carl Schmitt. Berlin 1991). 15 Meier: Die Entstehung des Politischen, S.33. 16 Adam, S.55ff. 17 Bendersky, S.6.
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Diasporasituation nicht teilen, als zufällig erscheinen. Basiert aber Schmitts Begriff des Politischen auf seinem Katholizismus, müßte dieser in seinem Werk erkennbar, sein Einfluß identifizierbar sein. Daß nun Schmitt zur Institution Kirche ein eher gespanntes Verhältnis hatte, tut nichts zur Sache. Rüdiger Altmann spricht gar von einer Distanzierung Schmitts von der Kirche, die sich für ihn zwingend ergeben habe. Er denkt wohl an die Scheidung Schmitts von seiner ersten Frau und folgert dann: "Von da ab fiel der Katholizismus, neben Gewerkschaften und anderen Interessengruppen, in der Argumentation Carl Schmitts politisch auf das Niveau der 'indirekten Gewalten' des Pluralismus der organisierten Interessen, zurück."18 Darin aber irrt Altmann, zumindest wenn er nicht zwischen deutschem und römischem Katholizismus unterscheidet. Man wird vielmehr mit Klaus Kröger den Katholizismus als eine der wichtigsten Quellen Schmitts annehmen müssen, was im folgenden gezeigt werden soll. Hier nur soviel: Hasso Hofmanns These, es zeige sich im Gesamtwerk Schmitts, "daß die Entwicklung von einem ganz bestimmten Thema beherrscht wird: von der Frage nämlich nach der Legitimation öffentlicher Macht"19, würde damit nicht nur formal, sondern inhaltlich bestätigt werden. b) Katholizismus und Konfession Nun stellt sich aber gleich zu Anfang ein schwerwiegendes Problem, denn die Frage nach dem Einfluß des Katholizismus auf Carl Schmitt ist schon darum schwer zu beantworten, weil gar nicht eindeutig ist, was unter Katholizismus verstanden werden soll. Für Außenstehende ist der Katholizismus schlicht eine Konfession im Sinne des Finanzamtes, d.h. einer Behörde. Doch der Katholizismus versteht sich im eigentlichen Sinne von confessio gar nicht als eine Konfession. "Die röm.-kath. Kirche hat sich selber nie als K(onfession) verstanden, anerkennt aber seit dem Vaticanum II andere christliche Gemeinschaften als 'Kirchen und kirchliche Gemeinschaften'".20 Die von J. Deretz und A. Nocent besorgte Konzilskonkordanz erwähnt entsprechend den Begriff Konfession nicht.21 Sowenig wie sich der Katholizismus als Kon18 Altmann: Analytiker des Interims. Wer war Carl Schmitt, was ist von ihm geblieben? in: Hansen/Lietzmann (Hrsg.): Carl Schmitt und die Liberalismuskritik. Opladen 1988, S.32. Auch Ulmen bewertet Schmitts Essay Römischer Katholizismus und politische Form aus dem Jahre 1923, in dem Schmitt sein katholisches Selbstverständnis skizzierte, als einen "Schwanengesang auf die Kirche" (Ulmen: Politische Theologie und politische Ökonomie, in Quaritsch: Complexio Oppositorum S.342), s.a. ders.; Politischer Mehrwert: "Das 'Offizielle', die 'offizielle' Kirche war es, gegen die Schmitt sich später wandte, und zwar deshalb, weil sie sich in Angelegenheiten der Welt, die sie nichts angingen, einmischte." (S.190). 19 Hofmann: Legitimität gegen Legalität, .S.16. 2 0 Lexikon der Katholischen Dogmatik. Hrsg. von Beinert. Freiburg, Basel, Wien 1987, S.322. 21 Deretz/Nocent: Konkordanz der Konzilstexte. Graz, Wien und Köln 1968.
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fession versteht, werden andere Konfessionen anerkannt, sondern nur andere "Kirchen und kirchliche Gemeinschaften". Dagegen glaubt der Protestant, stets im status confessionis und damit vor der Identitätsfrage zu stehen, was ihn zwar identifizierbar macht, aber auch dazu geführt hat, daß der Protestantismus in verschiedene Konfessionen aufgespalten ist. Diese Spaltungen kennt der Katholizismus nicht, weil hier die Theologie gegenüber der Kirche und der Katholizität in den Hintergrund tritt: "Die katholische Kirche ist zunächst eine Kirche und keine Theologie, und die katholische Theologie ist kein einzelner Denker, sondern, historisch betrachtet, ein Gefuge von sich folgenden Denkformen, die nebeneinander bestehen (...), ohne sich zu verdrängen."22 Der hier behauptete Primat der juridischen Form gegenüber der Theologie deckt sich mit dem Bild der Kirche, das Schmitt in seinem 1917 veröffentlichten Beitrag Die Sichtbarkeit der Kirche beschrieben hat.23 Das äußerste, was dagegen von einem Katholiken erwartet wird, ist das auch von Thomas Hobbes aufgegriffene Christusbekenntnis, daß nämlich Jesus der Christus ist. Dieses Bekenntnis legt nun das Werk Schmitts nicht aus, sehr wohl aber wird das, was in der Folge dieses Bekenntnisses den Katholizismus ausmacht, dargestellt. Das Bekenntnis, das Jesus der Christus ist, ist nämlich identisch mit dem in Mt 16,16 wiedergegebenen Bekenntnis des Petrus, das laut Matthäusevangelium die Kirche überhaupt erst konstituiert hat. Es hat nicht nur die Kirche konstituiert, sondern gleichzeitig auch das Petrusamt. Das Petrusamt aber meint nun nicht nur die hierarchische Spitze der Institution Kirche, sondern die oberste Juristiktionsgewalt in allen Fragen der Regierung der Kirche, der Sitten und des Glaubens. In der Respektierung dieses Amtes muß sich auch die Katholizität Schmitts zuerst erweisen, weil sie die alleinig authentische ist. c) Bekenntnis und Lehramt Nachdem das Bekenntnis des Petrus erfolgt war, wird Petrus von Jesus angesprochen: "Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen, und die Pforten des Totenreiches werden nicht fester sein als sie." (Mt 16,18) Darauf erfolgt die Aufzählung der Vollmachten, die aber nicht der Kirche als ganzer, sondern alleine Petrus verliehen werden: "Ich will dir die 2 2
Balthasar: Karl Barth. Darstellung und Deutung seiner Theologie. Köln 1951, S.48. Die Menschlichkeit Gottes geht bei Schmitt im Begriff der Kirche auf: "die Erlösung liegt darin, daß Gott Mensch (nicht daß der Mensch Gott) wird (...) Man kann nicht glauben, daß Gott Mensch geworden ist, ohne zu glauben, daß es, solange die Welt bestehen wird, auch eine sichtbare Kirche gebe. Jede spiritualistische Sekte, die den Begriff der Kirche aus der sichtbaren Gemeinschaft der rechtgläubigen Christen in den eines corpus mere mysticum verflüchtigte, hat im Grunde an der Menschheit des Gottessohnes gezweifelt." (Schmitt: Die Sichtbarkeit der Kirche. Eine scholastische Erwägung, in: Summa 1917, S.75). 23
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Schlüssel des Reichs der Himmel geben, und was du auf Erden binden wirst, das wird im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, das wird in den Himmeln gelöst sein." (Mt 16,19-20) Die Bedeutung von Mt 16,19-20 für die Verfassung der Kirche ist von katholischer Seite immer klar erkannt und hervorgehoben worden, veibunden mit der kategorischen Zurückweisung jeglicher Textkritik. "Entgegen allen Versuchen, die Stelle, die Sondergut des Mt ist (d.h. daß sich keine Parallelstellen in den anderen Evangelien finden lassen; Anm. M.E.), ganz oder teilweise als späteren Einschub zu erklären, steht ihre Echtheit unzweifelhaft fest. Diese wird nicht bloß durch die einheitliche Textüberlieferung in sämtlichen Handschriften und alten Übersetzungen, sondern auch durch das augenscheinliche semitische Kolorit des Wortlautes verbürgt. Daß das Wort vom Herrn selbst gesprochen wurde, kann mit überzeugenden Gründen nicht bestritten werden. Ein Widerspruch zu anderen Lehren und Tatsachen des Evangeliums ist nicht beweisbar."24 Neben der Echtheit der Stelle macht aber auch die Begründung der Bindung des Primates an den Bischof von Rom Schwierigkeiten (Sukzessionstheorie). Das Petrusamt habe der Papst auf Grund der angenommenen Anwesenheit des Apostels Petrus in Rom - für die katholische Dogmatik freilich eine "geschichtliche Tatsache" - inne (als Belege gelten u.a. l.Petr 5,13, ein allerdings problematischer Beleg, da die Autorenschaft des l.Petr, wie überhaupt aller neutestamentlichen Schriften mit Ausnahme einiger Paulusbriefe, äußerst umstritten ist, und als weiterer Beleg der apokryphe 1.Klemensbrief an die Gemeinde von Korinth gegen Ende des 1. Jahrhunderts. Bei letzterem ist aber zu bedenken, daß Klemens selber Bischof von Rom war und darum ein großes Interesse an der Sukzessionstheorie haben mußte, wenn er nicht gar als ihr Urheber gelten kann). Darum schreibt auch der katholische Dogmatiker Michael Schmaus einschränkend: "(es gibt) zwar für den römischen Aufenthalt des Petrus keine zwingenden, aber triftige, durch Einwände nicht zu erschütternde geschichtliche Belege."25 Während Johann Auer und Joseph Ratzinger die Sukzessionstheorie nur von der historischen Anwesenheit des Petrus in Rom abhängig machen26, schreibt Ludwig Ott, allerdings nicht alleine auf Grund der Fragwürdigkeit der Quellen, ergänzend: "Die gewöhnliche Ansicht der Theologen geht dahin, daß sie nicht bloß auf die geschichtliche Tatsache zurückgeht, daß Petrus als Bischof von Rom wirkte und staib, sondern daß sie auf eine positive Anordnung Christi oder des Hl. Geistes zurückzuführen ist, also göttlichen Rechtes ist. Wäre die Verbindung nur kirchlichen Rechtes, so wäre eine Trennung des Primates vom römischen Bischofsstuhl durch den Papst oder das allgemeine Konzil möglich; ist sie aber göttli-
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Ott: Grundriß der Dogmatik. lO.Aufl., Freiburg, Basel und Wien 1981, S.339. Schmaus: Der Glaube der Kirche B.2, München 1970, S.160. Auer/Ratzinger: Kleine Katholische Dogmatik B.VIII, Regensburg 1983, S.200f.
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chen Rechtes, so ist eine Trennung unmöglich.H27 Diese Auffassimg wird für den weiteren Verlauf der Erörterung des Katholizismus Carl Schmitts von großer Bedeutung sein, wie auch die Andeutung von Michael Schmaus, daß Rom seine Bedeutung in der Kirche seiner politischen Vormachtstellung verdanke.28 So wie nun das Bekenntnis des Petrus die Konstituierung der Kirche und des Petrusamtes zur Folge hatte - anders als das Bekenntnis der Martha, das zwar gleichlautete, aber keine Kirchengründung und keine Vollmachtsübertragungen nach sich zog (Joh 11,27) -, so ist die Auslegung des Bekenntnisses nicht mehr die Angelegenheit des einzelnen Katholiken, sondern des Lehramtes, wie es ja auch im alten Tauflied heißt: "Fest soll mein Taufbund immer stehen, ich will die Kirche hörenH. "Lehramt bezeichnet die der Kirche (als hierarchisch verfaßter u. mit einer Sendung zur Bezeugung Jesu Christi begabter, eschatologisch endgültiger Gemeinde der an Jesus Christus Glaubenden) notwendig innewohnende, aktive u. Gehorsam fordernde, rechtlich gefaßte Befähigung der Weiterbezeugung der Gott selbst mitteilenden Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus."29 Die Autorität des Lehramtes und seine Bindung an den Bischof von Rom hat auch das II. Vatikanische Konzil nicht angetastet, vielmehr in Lumen Gentium ausdrücklich und unter Betonung der päpstlichen Unfehlbarkeit bestätigt: "Um Gottes Volk zu weiden und immerfort zu mehren, hat Christus der Herr in seiner Kirche verschiedene Dienstämter eingesetzt, die auf das Wohl des ganzen Leibes ausgerichtet sind. (...) Damit aber der Episkopat selbst einer und ungeteilt sei, hat er den heiligen Petrus an die Spitze der übrigen Apostel gestellt und in ihm ein immerwährendes und sichtbares Prinzip und Fundament der Glaubenseinheit und der Gemeinschaft eingesetzt. Diese Lehre über Einrichtung, Dauer, Gewalt und Sinn des dem Bischof von Rom zukommenden heiligen Primates sowie über dessen unfehlbares Lehramt legt die Heilige Synode abermals allen Gläubigen fest zu glauben vor."30 Ein über das Petrusbekenntnis, das schon Hobbes aufgegriffen hatte, hinausgehendes katholisches Bekenntnis ist nicht vorgesehen. Das katholische Bekenntnis ist in einem gesellschaftlichen Umfeld, das den Kirchenaustritt zuläßt, identisch mit dem Verbleiben in der katholischen Kirche bzw. mit dem Übertritt in dieselbe, d.h. der Konversion - extra ecclesiam nulla salus. Ein darüber hinausgehendes Bekenntnis würde fur sich die Funktion des Lehram2 7 2 8 2 9
Ott, S.342. Schmaus, S.160. Rahner/Vorgrimler: Kleines Theologisches Wörterbuch. 1 l.Aufl., Freiburg., Basel, Wien 1978,
S.253. 3 0 Zit. nach Rahner/Vorgrimler: Kleines Konzilskompendium. Sämtliche Texte des Zweiten Vatikanums. 12.Aufl., Freiburg, Basel u. Wien 1978, S.143f.
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tes usurpieren und wäre, so paradox es auch klingen mag, gerade eine Infragestellung des Katholizismus. Jedes Verhalten gegenüber einem vom Lehramt verkündeten Lehrsatz, das nicht gläubige Hinnahme wäre, wäre ein Mißverstehen und damit Infragestellen des Lehramtes selber. Ein Lehrsatz fordert keine Entscheidung, und hier unterscheiden sich protestantisches und katholisches Verständnis des Dogmas. Karl Barth schreibt dazu: "Die Wahrheit eines Lehrsatzes kann man als eine neutrale neutral betrachten. Es kann freilich auch dazu kommen, daß man ihr zustimmt oder nicht zustimmt. Es liegt aber nicht in ihrem Wesen, daß sie diese Entscheidung fordert. Und es liegt nicht im Wesen ihrer Entgegennahme, daß sie Stellungnahme ist. Gerade das will die katholische Bestimmung des Dogmas als eines Lehrsatzes auch in der Tat ausschließen."31 Von daher entbehren Schmitts Werke, auch wenn sie Theologie thematisieren, auffällig jeder theologischen Dimension insofern, als Schmitt im eigentlichen Sinne keine theologische Position bezieht. Neben der Respektierung des Lehramtes bei Schmitt scheint man zunächst noch einen anderen Aspekt in Betracht ziehen zu müssen, nämlich eine mögliche Scheu vor einem fremden Fachgebiet. Schmitt kritisierte z.B. an Donoso Cortes, daß dieser sich auf theologisch-dogmatische Dispute eingelassen habe: "Die Theologie, die er als das einzige feste Fundament politischer Theorien hinstellte, enthielt mehr Möglichkeiten von Disputationen und Distinktionen, als er zugeben durfte, und die Rolle des theologisierenden Laien erwies sich als inkompatibel mit der Rolle des Theoretikers der politischen Diktatur."32 Schmitt kritisierte aber damit an Donoso Cortes, daß dieser eben nicht das Lehramt anerkannte und sich nicht damit begnügte, auf das Lehramt hinzuweisen. Zur politischen Diktatur gehöre zwingend die geistige Diktatur. Schmitt schließlich hat sich selber nie davor gescheut, in Debatten anderer Fachgebiete einzugreifen - wie der Vorwurf Cortes gegenüber vordergründig lautet. Man wird aber auch aus der theologischen Abstinenz Schmitts nicht den Schluß ziehen dürfen, er sei Agnostiker und Atheist gewesen, wie Hans Berger das getan hat: "Im Grunde war schon in den Anfangen seiner wissenschaftlichen Publikationen der agnostische Grundzug unverkennbar. Er suchte jenseits aller Metaphysik den zentralen Punkt seiner rechts- und staatsphilosophischen Untersuchungen in rein irdischen Fakten und bietet daher fast mehr eine Geschichtsphilosophie als eine Staatslehre."33 Der Vorwurf Bergers, Schmitt habe jenseits der Metaphysik seinen zentralen Punkt gesucht, ist absurd angesichts der Hochachtung, die Schmitt immer gegenüber der Metaphysik geäußert hat. Im Zusammenhang mit Schmitts Säkularisierungsthese wird darauf noch einmal zurückzukommen sein, in diesem Zusammenhang 31
Barth: KD I,1,S.285. Schmitt: Der unbekannte Donoso Cortes, in: ders.: Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar - Genf - Versailles 1932-1939, 2. Aufl., Berlin 1988, S.l 16. 33 Berger: Zur Staatslehre Carl Schmitts, in Hochland Nr.l 1965, S.69. 3 2
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nur soviel, daß Schmitt einen weiteren Begriff von Metaphysik als Berger hat, was dem Begriff auch gerechter wird. In einem Aufsatz über Romantik aus dem Jahre 1924 gibt Schmitt folgende Definition des Begriffs Säkularisierung, die deutlich macht, daß er damit nicht die Auflösung von Metaphysik, sondern vielmehr einen Vorgang im metaphysischen Bereich selber meint: HDas nenne ich Säkularisierung, und davon ist hier die Rede, nicht von den ebenfalls sehr bedeutungsvollen, aber im Vergleich hierzu äußerlichen Fällen, die sich dem geschichtlichen und soziologischen Betrachter ohne weiteres aufdrängen, daß z.B. die Kirche durch das Theater ersetzt, das Religiöse als Schauspiel- oder Opernstoff, das Gotteshaus als Museum behandelt wird; daß der Künstler in der modernen Gesellschaft, wenigstens bei seinem Publikum, soziologisch gewisse Funktionen des Priesters in oft komischer Verunstaltung wahrnimmt und einen Strom von Emotionen, die dem Priester zukommen, auf seine geniale Privatperson wendet; daß eine Poesie entsteht, die von kultischen und liturgischen Nachwirkungen und Erinnerungen lebt und sie ins Profane verschleudert, und eine Musik, von der Baudelaire mit einem fast apokalyptischen Worte sagt: sie höhlt den Himmel aus. Tiefer noch als solche psychologisch, ästhetisch und soziologisch vielzuwenig untersuchten Formen der Säkularisierung liegen die Vorgänge in der metaphysischen Sphäre. Hier treten unter Beibehaltung der metaphysischen Struktur und Haltung immer neue Faktoren als absolute Instanzen auf." 34 Es ist klar, daß katholische Staatslehre immer auf einer naturrechtlichen Grundlage vorgetragen werden muß, und in diesem Sinne war Schmitt alles andere als ein katholischer Staatsrechtler. Sein Werk war im Gegenteil oft Gegenstand kirchlicher Kritik. Die katholische Kirche wird sich niemals mit Carl Schmitt schmücken. Ursache dafür ist aber nicht nur der zweifelhafte Ruf Schmitts als vielmehr auch, daß er ihre arcana preisgegeben hatte. Es gibt kein katholisches Bekenntnis, aber ein katholisches Selbstverständnis, das Carl Schmitt in seiner 1923 erstmals erschienen Schrift Römischer Katholizismus und politische Form zu skizzieren versucht hat.35 Diese Schrift betrachtet Klaus Kröger als eine Bekenntnisschrift, aber aus den eben gemachten Erwägungen heraus möchte ich den starken Begriff des Bekenntnisses in diesem Zusammenhang nicht gebrauchen und Bernard Willms und K.M. Kodalle folgen, die hier den römischen Katholizismus nur beschrieben sehen.36 Es handelt sich um eine Beschreibung der römischen Kirche gegenüber dem Staat, und es handelt sich darum sehr wohl um einen Schlüsseltext, aber um kein Bekenntnis. Diese These erlaubt es, die kleine Schrift in einen 3 4
Schmitt: Romantik, in Hochland Nr.2 1924/25, S.169f. Erstmals veröffentlicht 1923, 1925 neubearbeitet und in dieser Neubearbeitung in der 2.Aufl Stutgart 1984 erschienen. Vgl. Quaritsch: Complexio Oppositorum, Aussprache Ober den Beitrag Klaus Krögers, S.166f. 35
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Kontext zu stellen mit Schriften Schmitts, die in zeitlicher Nähe entstanden sind, insbesondere Die Diktatur 37 und Politische Theologie 38. Sie schließt aus, was der Bekenntnisthese eigentlich zugrundeliegt, nämlich daß Schmitt mit dieser Schrift die politische Idee des Katholizismus zur Übernahme propagiert habe. Wohl hat es in Deutschland einen politischen Katholizismus gegeben, verkörpert in der Zentrumspartei, aber deren Interessen deckten sich nicht immer mit den Interessen der römischen Kirche. Vielmehr beschränkte sich die Politik der Kurie gegenüber dem Reich auf das Ziel eines Konkordatsabschlusses, und diesem Ziel verpflichtet scheute sich der Vatikan nicht, den deutschen politischen Katholizismus zu opfern, wie sich noch herausstellen sollte.39 Römischer Katholizismus und politische Form hat gar nichts mit dem Zentrum zu tun, und diese Schrift markiert auch nicht nur eine Episode im Denken Carl Schmitts, wie es Bendersky einschätzt.40 Unter der politischen Idee des römischen Katholizismus darf nicht etwa eine bestimmte politische Zielvorstellung verstanden werden, eher könnte man sagen, daß es Ziel römisch-katholischer Politik ist, keine zu haben, denn es widerspräche fundamental der Auffassung von der Kirche als einer complexio opposi torum. M 3 7 Schmitt: Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf. l.Aufl. 1921,4.Aufl., Berlin 1978. 38 Ders.: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. l.Aufl. 1922, 3.Aufl., Berlin 1978. 3 9 Dies dokumentiert Plück: Das Badische Konkordat vom 12. Oktober 1932. Mainz 1984. Plück macht die Sozialdemokratie für das Scheitern der Koalition in Baden verantwortlich, schreibt allerdings gegen die von ihr selbst ausgewählten Dokumente an. Im Anhang ihrer Arbeit findet man einen Brief des Prälaten und Zentrumspolitikers Föhr an den ehemaligen Nuntius in Berlin Pacelli, später Pius XII, in dem es heißt: "Die Badische Zentrumspartei hat alles getan, was in ihren Kräften steht. (...) Sie hat um der kirchlichen Interessen willen die 14 Jahre dauernde Koalition aufgegeben und dabei mit in Kauf genommen, daß die bisherige politische Beständigkeit, Ruhe und Ordnung für die Zukunft ernstlich gefährdet ist.** (S.302) An der Frage des Konkordats zerbrach nämlich die nach dem kalten Staatsstreich in Preußen letzte Koalition zwischen SPD und Zentrum im Reich. Zur Unterordnung der Anliegen katholischer Politik unter das Ziel des Konkordatsabschlusses vgl. auch Scholder: Eugenio Pacelli und Karl Barth. Politik, Kirchenpolitik und Theologie in der Weimarer Republik, in ders.: Die Kirchen zwischen Republik und Gewaltherrschaft. 4 0 "As time passed, however, Schmitt gradually recognised that the Catholic Church in Germany acted more like a special interest group like the universal institution he had described in his book on political Catholism." (Bendersky S.86). So auch Altmann, der über Römischer Katholizismus und politische Form schreibt: "Sie ist eigentlich nur als Versuch zu verstehen, dem katholischen Zentrum, das im Begriff stand, zum Moderator der Weimarer Republik, d.h. der Koalitionsbewegung innerhalb ihres 'Systems' zu werden, so etwas wie eine Theorie zu bieten, die eine Trennwand zum Sozialismus und Liberalismus zog und anspruchsvoller war als die Koalitionstaktik und Personalpolitik, auf die sich das Zentrum eingespielt hatte." (Altmann in Hansen/Lietzmann S.32) So schreibt Maschke sehr richtig: "Ein katholischer Theoretiker des Politischen ist wohl etwas anderes als ein Theoretiker des politischen Katholizismus." (Maschke: Der Tod des Carl Schmitt. Apologie und Polemik. Wien 1987, S.123) Aber inwiefern Carl Schmitt ein katholischer Theoretiker ist, warum es wichtig ist, die Katholizität festzustellen, darüber gibt Maschke keine Auskunft. Die Behauptung ist richtig, bleibt bei Maschke aber eine sprachliche Spielerei. 41 "Die Kirche kennt und hat kein politisches Bekenntnis." (Barion: "Kirche oder Partei?" Römischer Katholizismus und politische Form, in: Der Staat Heft 2 1965, S.161).
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d) Die Kirche als eine complexio opposi forum Es gebe einen anti-römischen Affekt, so hebt Schmitt an, und er nähre sich aus dem scheinbar grenzenlosen Opportunismus, zu dem die Kirche jeder Macht und Partei gegenüber bereit sei im Interesse ihrer Machterhaltung. Schon diese Feststellung kann nicht auf eine Partei oder auf einen Staat übertragen werden. "(...) katholische Royalisten und Legitimisten erscheinen Arm in Arm mit katholischen Schützern der Republik; Katholiken sind taktische Verbündete eines Sozialismus, den andere Katholiken für den Teufel halten, und sie verhandelten schon sachlich mit Bolschewisten, während bürgerliche Vertreter der Heiligkeit des Privateigentums in ihnen noch eine hors la loi stehende Verbrecherbande sahen. Mit jedem Wechsel der politischen Situation werden anscheinend alle Prinzipien gewandelt, außer dem einen, der Macht des Katholizismus.H42 Und in Bezug auf den anti-römischen Affekt heißt es dann weiter: MIch glaube, der Affekt würde sich noch unendlich vertiefen, wenn man es in seiner ganzen Tiefe begriffe, wie sehr die katholische Kirche eine complexio opposi torum ist."43 Was Schmitt nicht erwähnt, aber seiner Intention und insbesondere seine eigene, appellative bzw. institutionelle politische Theologie untermauert, das theologische Prinzip der Akkomodation, das das Selbstverständnis der Kirche als einer complexio oppositorum überhaupt erst ermöglicht. Das Lexikon für Theologie und Kirche unterscheidet zwischen biblischer, missionarischer und dogmatischer Akkomodation: Unter biblischer Akkomodation wird die Anwendung einer Bibelstelle auf einen Gegenstand verstanden, der als solcher weder im Wortlaut noch im logischen Sinn in der Stelle selbst angesprochen wird; im missionarischen Sinne meint Akkomodation die Berücksichtigung natürlicher, nichtchristlicher Werte, die gleichsam Mgetauft" werden müßten.44 Entscheidend ist aber das dogmatische Verständnis, es bildet die Grundlage für die beiden anderen Bereiche. Hintergrund ist die Vorstellung von der Dynamik der geschichtlichen Selbstentfaltung der christlichen Offenbarung. Auch wenn diese als eine überzeitliche Größe betrachtet werden 4 2 Schmitt: Römischer Katholizismus und politische Form. 2.Auf1 1984, Stuttgart S.7f. Es empfiehlt sich, parallel zu Carl Schmitts Äußerungen Verlautbarungen der Kirche zu lesen, besonders von Papst Pius XII. Im weiteren Verlauf wird an jeweils geeigneter Stelle aus den Weihnachtsansprachen dieses Papstes zitiert, um die tatsächliche und zum Teil verblüffende Kongruenz der Ansichten Carl Schmitts mit denen der römischen Kirche zu dokumentieren. Im Zusammenhang mit der complexio oppositorum schreibt Pius X I I in seiner Weihnachtsansprache des Jahres 1942: "Die Kirche ist nicht berufen, unter den verschiedenen entgegengesetzten, zeitgebundenen Systemen Partei zu ergreifen. In den Schranken des allgemein Individuum und Volk verpflichtenden göttlichen Rechts besteht ein weiter Spielraum für freie Ausgestaltung verschiedenster politischer Auffassungen." Pius XII, S.23. 4 3 Schmitt: Römischer Katholizismus, S . l l . 4 4 Lexikon für Theologie und Kirche. Freiburg 1957, S.239ff.
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müsse, sei der Vollzug der Wahrheitserkenntnis immer geschichtlich. "Die in Christus Geschichte gewordene göttl. Wahrheit ist zwar in ihrem Gehalt mit der Vollendung Christi eschatologisch abgeschlossen; sie bleibt aber eingesenkt in die Epochen menschl. Geschichte u. in die Verschiedenheit der Kulturen, in denen sie sich artikulieren muß. Ja diese göttl. Wahrheit löst erst in den Epochen u. Kulturen der Menschheit deren letzte Möglichkeiten aus, indem sie in ihnen u. für sie den gültigen Ausdruck für das Gotteswort schafft. w45 Die christliche Botschaft dürfe allerdings ihre wesentliche Selbigkeit nicht verlieren, darum gilt: "Subjekt der A.(kkommodation) ist die Kirche. Deshalb geschieht A. einerseits unter der Aufsicht der kirchl. Autorität, sie vollzieht sich aber in allen Trägern der göttlichen Wahrheit, die einer neuen Situation begegnen."46 Unter dieser Voraussetzung bedeutet Akkomodation "die Berücksichtigung der geistigen Welt des Hörers in der Verkündigung der christl. Botschaft u. somit in der lehrhaften Aussage des Offenbarungsgehalts.M47 Entscheidend aber ist: "Sie darf nicht bloß als vorläufiges pädagog. Entgegenkommen an nichtchristl. Kulturen verstanden werden, sondern ist bleibend gültig."48 Grundlage bildet natürlich die Lehre von der analogia entis, d.h. eine natürliche Theologie 49, deren Bekämpfung Karl Barth sich zum Hauptanliegen gemacht hat. Unter Verweis auf die Enzyklika Humani gegneris heißt es im Lexikon für Theologie und Kirche unter dem Stichwort Akkomodation dann auch in diesem Sinne weiter: "Es ist ungeschichtlicher Rationalismus unter Überspringung gewordener Formulierungen, ein ursprüngl. (biblisches oder patristisches) Christentum in der Gegenwart reproduzieren zu wollen (Humani generis: D 2310)."50 Uniformiertheit der Theologie sei weder möglich noch wünschenswert. Das Lexikon Sacramentum Mundi wird noch deutlicher: Eine Theologie der Akkomodation sei vielmehr die einzig mögliche Theologie überhaupt. 51 Die protestantische Theologie kennt dagegen das Prinzip der Akkomodation nicht, ihm entspricht hier die Lehre von den Anknüpfungen, Anknüpfungen seien aber nur aus pädagogischen Gründen zugelassen - anders als im Katholizismus (die dialektische Theologie Barths dagegen läßt selbst diese nicht zu und betrachtet gegenüber aller Kultur die Offenbarung Gottes 4 5
Ebenda, S. 241. Ebenda, S.242f. 4 7 Ebenda, S.240. 4 8 Ebenda, S.240. 4 9 Die Lehre von der analogia entis beruht auf Aristoteles und Thomas von Aquin, sie wendet sich sowohl gegen die Behauptung einer mystischen Identität zwischen Gott und Mensch als auch gegen jede beziehungslose Unterscheidung zwischen Gott und Welt. Das Sein werde vielmehr in der Vielheit des Endlichen ausgesagt und die Vielheit des Endlichen müsse auf ein Erstes bezogen werden. Somit mache eine allgemeine Seinslehre notwendig auch eine analoge Aussage über das absolute Sein Gottes. 5 0 Lexikon für Theologie und Kirche, S.241. 51 Sacramentum Mundi B.l. Freiburg, Basel und Wien 1967, S.57. 4 6
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als eine senkrecht von oben geschehende).52 Das Prinzip der Akkomodation aber stellt ein zentrales, ein wesentliches Prinzip des Katholizismus dar, es ist die dogmatische Grundlage für das Verständnis der Kirche als einer compie xio oppositorum, letztlich und darum grundlegend auch als einer complexio oppositorum im Theologischen. Weiter unten wird gezeigt werden, wie Schmitt dieses Prinzip, ohne es scheinbar zu kennen, mit sicherem Instinkt anwenden wird, während sich für Barth in diesem Prinzip gerade der Verrat am Evangelium und der Katholizismus als Häresie erweist, weil für Barth alleine Christus Träger und Inhalt der Offenbarung ist. Getreu diesem Prinzip und unter ausdrücklicher Berufung auf eine natürliche Theologie folgt nun bei Schmitt in Römischer Katholizismus und politische Form zunächst eine Aufzählung der Gegensätze, welche die katholische Kirche in sich vereinige. Die Berufung auf eine natürliche Theologie geschieht unter dem Hinweis, daß diese Leistung letztlich auf einer theologischen Entscheidung gegen das Marcionitische Entweder-Oder zugunsten eines SowohlAls auch beruhe. Sie beruhe aber auch wieder nicht auf einer Synthese im dialektischen Sinne, wie viele glaubten, und zwar ihrerseits aus einer gewissen "geistigen Promiskuität" heraus - ein dem Thema hübsch gemäßer Ausdruck Schmitts -, sie beruhe vielmehr auf einer "strengen Durchführung des Prinzips der Repräsentation."53 Dieses Sowohl-Als auch, von Hans Urs von Balthasar das "katholische Und" genannt, darf nicht als Pluralismus verstanden werden: "Pluralismus im strengen Sinn - als Lehre von Standpunkten innerhalb der einen katholischen Kirche, die untereinander von keinem menschlich einsichtigen Punkt aus mehr in Harmonie zu bringen sind - ist Provinzialismus und damit Leugnung der Katholizität."54 Die Autorität dient bei Balthasar ausschließlich der Katholizität, die Kirche als Machtform tritt bei ihm nicht in den Blick. So verwundert es auch nicht, daß er in seinem Buch über den antirömischen Affekt Schmitt kein einziges Mal erwähnt, ebensowenig Donoso Cortes, gleichwohl er die Geschichte dieses Affektes, insbesondere seit der Französischen Revolution, minitiös aufarbeitet. 55 Die Stellung des Papstes, seine Funktion der Repräsentation, wird bei Balthasar ausschließlich in der Binnenperspektive 5 2
Vgl. RGG B.l, S.209f. Schmitt: Römischer Katholizismus, S.14. 5 4 Balthasar: Der antirömische Affekt. Wie läßt sich das Papsttum in der Gesamtkirche integrieren? Freiburg 1974, S.40. Balthasar betrachtet das Petmsamt auschließlich in seiner Funktion für die Kirche. Die römische Tradition, d.h. die Kontinuität des römischen Imperiums, in welcher Form auch immer, d.h. aber die eschatologische Dimension der Kirche als eines katechon und die Verbindung des Katholizismus mit dem Romgedanken hält er für zumindest antiquiert, theologisch betrachtet für sekundär: "Daß das 'ewige Rom' 410 von Alarich verwüstet wird, nimmt Augustin gelassen hin: wie sollte Vergängliches, erst recht derart vom Ursprung her Schuldiges, nicht vergehen." (Balthasar, S.282). 53
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gesehen, was bedeutet, daß sie "nicht nur als ein integrierendes Moment gedeutet wird, das mit dem Kollegium und der Communio zusammen die kirchliche Einheit bildet, sondern innerhalb des Kollegiums und der Communio als das von Christus eingestiftete, die Einheit repräsentierende und (...) bestimmende Moment."56 Mit dem Begriff der Repräsentation ist ein weiterer zentraler Begriff der Argumentation Schmitts genannt, und, wie Armin Adam schreibt, auch ein die Staatslehre Schmitts prägender, weil das Problem der politischen Einheitsbildung hier im Zentrum stehe und Repräsentation bei Schmitt diese Einheit erst herstelle.57 Es gehe Schmitt, so Adam, um die "Erhabenheit** der politischen Einheit, die eben mehr sei als nur die versammelte Menge, und die ihr Vorbild in der römisch katholischen Kirche habe. "Die Annäherung, die die politische Einheit an den Begriff der Kirche erfährt, bildet ein Zentrum der Schmittschen Argumentation."58 Diese Funktion des Staates, die politische Einheit zu repräsentieren, trete damit neben dessen Aufgabe, dem Bürgerkrieg zu wehren. Der Versuch, den Begriff der Repräsentation aus dem Bereich des römischen Katholizismus auf den Staat zu übertragen, drohe aber an dem technizistischen Charakter des Staates, wie er am reinsten von Hobbes gezeichnet worden sei, zu scheitern, erst wenn der Staat gleichzeitig auch als der Status eines Volkes begriffen werde, gelinge eine Übertragung, weil dem Volk personale Qualität zukomme und nur Personen repräsentiert werden könnten. So wird bei Adam aber der Katholizismus Schmitts auf die Kirche und deren Formprinzip reduziert, die Kirche wird zum Vorbild erklärt und gerät dann aus dem Blick. Abgesehen davon erscheint mir ebenso die von Adam behauptete Herkunft des Begriffes der Repräsentation, den Schmitt in der Verfassungslehre verwendet, aus dem Katholizismus fraglich. 59
Zunächst einmal ist in Römischer Katholizismus und politische Form mit Repräsentation auch Stellvertretung gemeint: "Der Papst ist nicht der Prophet, sondern der Stellvertreter Christi."60 Er ist es qua Amt, unabhängig vom Charisma, so daß von der konkreten Person jeweils nahezu ganz abstrahiert werden kann. Andererseits sei der Papst aber "nicht der Funktionär und Kommis5 6
Ebenda, S. 179. Adam, S.93. 58 Ebenda, S.94. 5 9 Die Problematik ist von Mehring auch gesehen, aber leider sehr unpräzise behandelt worden. So anerkennt er zwar, daß "Römischer Katholizismus und politische Form (...) das katholische Formprinzip der Repräsentation nicht auf die staatliche Souveränität (bezieht), obwohl der religiöse Grund der souveränen politischen Form schon mit dem Titel Politische Theologie angesprochen und in der Terminologie der Verfassungslehre durch den Begriff der dynastischen Legitimität und monarchischen Repräsentation auch geknüpft ist. Römischer Katholizismus und Politische Theologie unterscheiden Kirche und Staat, gründen die Souveränität des Staates jedoch auf eine christliche Idee der Repräsentation." (Mehring: Carl Schmitt zur Einführung. Hamburg 1992, S.56). 6 0 Schmitt: Römischer Katholizismus, S.23f. 5 7
1. Carl Schmitt und die römische Kirche
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sar des republikanischen Denkens und seine Würde nicht unpersönlich wie die des modernen Beamten, sondern sein Amt geht, in ununterbrochener Kette, auf den persönlichen Auftrag und die Person Christi zurück."61 Auch die Kirche repräsentiere, nicht alleine der Papst, denn sie sei eine juristische Person, und nur Personen könnten repräsentieren; sie stelle "eine konkrete, persönliche Repräsentation konkreter Persönlichkeit" dar.62 "Sie repräsentiert die civitas humana, sie stellt in jedem Augenblick den geschichtlichen Zusammenhang mit der Menschwerdung und dem Kreuzesopfer Christi dar, sie repräsentiert Christus selbst, persönlich, den in geschichtlicher Wirklichkeit Mensch gewordenen Gott."63 Es wird natürlich, wenn man so will, von oben nach unten repräsentiert, weil das Lehramt für alle stellvertretend und verbindlich die civitas humana definiert. Aber im Innern gibt es für Schmitt im eigentlichen Sinne keine Repräsentation, nur nach außen, und zwar gegenüber dem Staat. Das, was im Inneren der Repräsentation nach außen entspräche, wären die Sakramente, auf die Schmitt aber mit keinem Wort eingeht. Schmitt betrachtet seine Kirche von außen, nicht von oben.64 Nun impliziere der Gedanke der Repräsentation aber noch dreierlei: 1. Der Repräsentant und das zu Repräsentierende seien niemals identisch; 2. der besondere Wert des Repräsentierten werde in der Repräsentation auf den Repräsentanten übertragen, 3. auch der Dritte, dem gegenüber repräsentiert werde, erhalte dadurch einen besonderen Wert als Adressat. Aus all dem, d .h. aus der Fähigkeit zur Repräsentation, ergebe sich die Kraft des Katholizismus zur dreifach großen Form: zur ästhetischen Form, weil die Nicht-Identität von selbst Symbole hervorbringe, zur juristischen Form und zur weltgeschichtlichen Machtform. Im weiteren Verlauf wird darauf zu achten sein, wie denn der Dritte, dem gegenüber repräsentiert werde, gerade dadurch seine besondere Würde erhält, denn dieser Dritte ist niemand anderes als der Staat. Es besteht zwischen beiden, Kirche und Staat, ein Verhältnis der Repräsentation. Wäre der römische Katholizismus Vorbild des Staates, ergäbe sich als Bild wieder das Emblem, das Thomas Hobbes als Titelbild zu seinem Leviathan gewählt hat. Aber Christus kann nur einer repräsentieren und unterstellt, Carl Schmitt hätte hier ein Vorbild gezeichnet, 61
Ebenda, S.24. Ebenda, S.31. 63 Ebenda, S.32. 6 4 S.a. Grünberger: Römischer Katholizismus als Herrschaftsform. Ein Versuch, Carl Schmitt und Thomas Bernhard parallel zu lesen, in: Münkler/Saage (Hrsg.): Kultur und Politik. Brechung der Fortschrittsperspektive heute. Für Iring Fetscher. Opladen 1990, S.33ff. Im Gegensatz zu Thomas Bernhard, der den Katholizismus "unten" erdulde und erleide, nehme Carl Schmitt die Perspektive des Papstes ein und betrachte die Kirche auschließlich von oben, so daß das "Unten" bei ihm erst gar nicht vorkomme. 6 2
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dann nur, um die Kirche zu zerstören. Denn gesetzt der Staat folgte diesem Vorbild, dann wäre die Axt an die Wurzel der Kirche gelegt. Dies führte zu Auseinandersetzungen, die den Investiturstreit bei weitem in den Schatten stellten und die, wenn überhaupt auf eine historische Parallele hingewiesen werden kann, nur mit dem Ringen zwischen der Kirche und dem Staufer Friedrich II vergleichbar wären. Das hat Schmitt aber ganz bestimmt nicht gewollt. Es muß aber auch aus der Perspektive des Staates gesagt werden, daß es ihm an einem Lehramt mangelt, das die Formel Jesus ist der Christus verbindlich für alle auslegen könnte. So bliebe als einzige Lösung die des Thomas Hobbes, nämlich die Unterscheidung vonfides und confessio. Doch Schmitt hat später in seinem Buch über Hobbes gerade diese Lösung kritisiert, weil H der Vorbehalt der inneren, privaten Gedanken- und Glaubensfreiheit" der M TodeskeimM gewesen sei, der den mächtigen Leviathan von innen her zerstört und den sterblichen Gott zur Strecke gebracht habe.65 Dieser Satz, der anscheinend unausgesprochen vom Staat die Durchführung eines Denkverbotes fordert - es geht freilich gar nicht so sehr um die Durchführung eines Denkverbotes als vielmehr darum, die Gedankenfreiheit, die man ja nicht abschaffen kann, nur nicht öffentlich anzuerkennen -, diese zentrale Stelle im Buch über den Leviathan des Thomas Hobbes, die das ganze in das obskure Licht der Irrealität stellt, ist nur verständlich vor dem katholischen Hintergrund Schmitts und seines Postulats des Gegenübers von Staat und Kirche, ohne daß die Kirche Vorbild des Staates sein könnte und dürfte. Es kann auf Grund ihrer speziellen Repräsentation alleine der Kirche gelingen, die Theologie zu neutralisieren, und darum braucht der Staat die römische Kirche als sein Gegenüber. Entsprechend heißt die kleine Schrift aus dem Jahre 1923 auch nicht römischer Katholizismus als politische Form, sondern römischer Katholizismus und politische Form.66 e) Repräsentation in Kirche und Staat Doch zunächst, bevor noch einmal thematisiert wird, was die katholische Kirche repräsentiert, muß noch die andere Form der Repräsentation bedacht werden, die Schmitt selber einige Jahre später im Rahmen seiner Verfassungslehre thematisiert und skizziert hat.67 Staat, so heißt es dort, sei immer der Status der politischen Einheit eines Volkes. Den Zustand seiner politischen 6 5
Schmitt: Der Leviathan, S.86. 66 Dies sowohl gegen Beneyto, der bei Schmitt die Kirche als das Vorbild des Staates sieht (Beneyto: Politische Theologie als politische Theorie. Eine Untersuchung zur Rechts- und Staatstheorie Carl Schmitts und zu ihrer Wirkungsgeschichte in Spanien. Berlin 1983) als auch gegen Adam, der Schmitts Staatslehre gar als "politische Ekklesiologie" bezeichnet. (Adam S.6). 6 7 Schmitt: Verfassungslehre. l.Auf. 1928,6.Aufl., Berlin 1983, S.204ff.
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Einheit könne ein Volk auf zwei verschiedene Weisen erhalten: als permanente Volksversammlung, dann wäre es kraft unmittelbarer Identität politische Einheit, oder aber, wenn die politische Einheit als solche nie in realer Identität anwesend sein könne, durch Repräsentation. In der Realität freilich komme niemals eines dieser Prinzipien ausschließlich vor: "In der Wirklichkeit des politischen Lebens gibt es ebensowenig einen Staat, der auf alle Strukturelemente des Prinzips der Identität, wie einen Staat, der auf alle Strukturelemente der Repräsentation verzichten könnte. Auch da, wo der Versuch gemacht wird, unbedingt eine absolute Identität zu realisieren, bleiben Elemente und Methoden der Repräsentation unumgänglich, wie umgekehrt keine Repräsentation ohne Identitätsvorstellungen möglich ist. Diese beiden Möglichkeiten, Identität und Repräsentation, schließen sich nicht aus, sondern sind nur zwei entgegengesetzte Orientierungspunkte für die konkrete Gestaltung der politischen Einheit. Das eine oder andere überwiegt in jedem Staat, aber beide gehören zur politischen Existenz eines Volkes."68 Der Begriff der Repräsentation im Bereich des Staates impliziert aber andere Aspekte als der Begriff der Repräsentation im Bereich der Kirche: 1. Zum Begriff der Repräsentation gehöre zwingend der Begriff der Öffentlichkeit. So habe ein Parlament nur solange repräsentativen Charakter, "als man glaubt, daß seine eigentliche Tätigkeit in der Öffentlichkeit liege. Geheime Sitzungen, geheime Abmachungen und Beratungen irgendwelcher Komitees können sehr bedeutungsvoll und wichtig sein, aber niemals einen repräsentativen Charakter haben"69 - dagegen wahrt die Kirche in Römischer Katholizismus und politische Form das Geheimnis des Glaubens. 2. Repräsentation sei kein normativer Vorgang, sondern etwas Existentielles. Ein unsichtbares, dennoch konkretes Sein werde durch ein öffentlich anwesendes Sein sichtbar gemacht und vergegenwärtigt - die Repräsentation der Kirche aber ist in Römischer Katholizismus und politische Form höchsten Maße normativ.
im
3. Repräsentiert werde stets eine politische Einheit als Ganzes. Darin unterscheide sie sich von der Interessenvertretung - der Papst aber repräsentiert in Römischer Katholizismus und politische Form nicht die Kirche als eine politische Einheit, sondern Christus.
4. Schließlich sei der Repräsentant, das erfolgt schon aus Ziffer 3, unabhängig, was freilich auch heißt, daß er keine weitergehende Funktion als ausschließlich die Darstellung der politischen Einheit habe - der Papst dagegen ist in Römischer Katholizismus und politische Form die oberste 68 6 9
Ebenda, S.205f. Ebenda, S.208.
5 Eichhorn
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Entscheidungsinstanz in allen Fragen der Regierung der Kirche und in Sachen der Sitte und des Glaubens.
Es ist unschwer zu erkennen, daß an dem Unterschied zwischen Repräsentation und Vertretung Schmitts Parlamentarismuskritik ansetzt. Die Bourgeoisie sei zur Repräsentation nicht in der Lage, weil sie stets nur ihr Eigeninteresse im Sinn habe. Wie aber verhält und unterscheidet sich dann letztlich die Repräsentation in Römischer Katholizismus und politischer Form im Vergleich zu dem in der Verfassungslehre vorgestellten Begriff? Die Antwort gibt m.E. Schmitt in der Verfassungslehre selbst: "Der Kampf um die Repräsentation ist immer ein Kampf um die politische Macht.1*70 Das heißt, repräsentiert wird hier immer ein Unten, das kraft seiner Identität das repräsentierende Oben in Frage stellen kann. Hier gehören nämlich Identität und Repräsentation zusammen, was dann zu dem Dilemma des Legitimitätsverlustes führen kann, weil Repräsentation immer bezogen bleiben muß auf eine Identität, die sich ihre Repräsentation in souveräner Entscheidung selbst gibt. Die Kirche dagegen repräsentiert ein Oben, nämlich Christus, und kann entsprechend nur von diesem Oben in Frage gestellt werden. Nach dem II. Vaticanum wird der Papst zwar auch als Repräsentant der Gesamtkirche gesehen, aber nur in folgendem Sinn: NEr ist auf der einen Seite (von oben her) der Repräsentant Jesu Christi, auf der anderen Seite (von unten her) der Repräsentant der Gesamtkirche. Als Repräsentant Christi spricht er zum Volke Gottes, dessen Glied er jedoch selbst ist. Als Repräsentant der Gesamtkirche spricht er im Namen der gesamten Kirche seinen und ihren Glauben aus.1,71 Es wird natürlich von unten her nicht nur repräsentiert, sondern im Namen des Unten auch etwas ausgesprochen. Das Glaubenswort des Papstes ist aber ein "aus dem immer präsenten Christus kommendes Bekenntnis" und darum "die Selbstdarstellung der Kirche als einer Glaubensgemeinschaft in Christus, und zwar durch den von Christus selbst bestimmten Repräsentanten. (...) Deswegen bedarf die päpstliche Erklärung auch nicht, um rechtens zu sein, der Zustimmung des Volkes. Der Papst ist von vornherein als gottgewolltes Haupt der Gemeinschaft der Sprecher der Gemeinschaft."72 Gerade also das, was beim Staate zusammengehört, und zwar mit Notwendigkeit, ist in der Kirche streng voneinander geschieden, nämlich Identität und Repräsentation - und das ist die Voraussetzung der complexio oppositorum. Das ist der große und grundlegende Unterschied zwischen der Repräsentation auf der einen und Repräsentation auf der anderen Seite, so daß von einem Vorbildcharakter schon aus formalen Gründen weder bei dem einen noch bei der anderen die Rede sein kann. 7 0 71 72
Ebenda, S.212. Schmaus, S.192. Ebenda, S. 192.
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ft Die Rationalität der Kirche Der Katholizismus ist für Schmitt aber aus einem anderen Grunde geradezu eminent politisch, nämlich kraft seiner besonderen Rationalität. Die complexio oppositorum gestatte es, daß der Katholizismus mit jeder Macht und Partei ein Arrangement treffen könne, dennoch unterscheide er sich durch seine Rationalität gerade von diesen Mächten. Die katholische Rationalität stehe nämlich im Gegensatz zu aller instrumentellen Vernunft, die Schmitt das "ökonomische Denken" nennt, und dessen Rationalität sich lediglich auf die Mittel zur Erreichung eines Zwecks beschränke, während der Katholizismus gerade nach der Rationalität des Zwecks frage. Die katholische Rationalität liegt für Schmitt in der Theologie begründet, und zwar hier in der Naturanschauung, d.h. in der natürlichen Theologie: "(...) nämlich der Gegensatz des Von Natur bösen' und des Von Natur guten* Menschen, diese für die politische Theorie entscheidende Frage, ist im Tridentinischen Dogma keineswegs mit einem einfachen Ja oder Nein beantwortet; vielmehr spricht das Dogma, zum Unterschied von der protestantischen Lehre einer völligen Korruption des natürlichen Menschen, nur von einer Verwundung, Schwächung oder Trübung der menschlichen Natur"73. Daraus ergebe sich ein anderes Verhältnis zur Natur überhaupt, besonders zum Boden, aber auch darüber, was die Verfügungsgewalt über die Natur angehe.74 73 Schmitt: Römischer Katholizismus, S.13. Inwiefern bei Schmitt hier ein Mißverständnis protestantischer Anthropologie vorliegt, davon im nächsten Kapitel mehr. Es sei jetzt aber schon angemerkt, daß die hier vorgetragene anthropologische Grundauffassung von Schmitt auch an anderen Stellen aufrechterhalten wird, namentlich in "Der Begriff des Politischen" (3.Aufl. 1932, Berlin 1979), wo es heißt, daß politische Theorie nicht von der Behauptung ausgehen muß, der Mensch sei von Natur aus böse, sondern wo es abgeschwächt heißt, daß "alle echten politischen Theorien den Menschen als 'böse' voraussetzen, d.h. als keineswegs unproblematisches, sondern als 'gefährliches* und dynamisches Wesen betrachten." (S.61) Der politische Feind jedenfalls ist im moralischen Sinne nicht böse. Anders, als Bendersky es meint, darf man dann in Schmitts Begriff des Politischen eine gewisse Abhängigkeit vom Katholizismus vermuten. 74 Mit Natur ist nicht nur die den Menschen umgebende Natur gemeint, sondern auch er selbst als ein natürliches Wesen. Balthasar hat dies so ausgedrückt, daß dem Katholizismus der Fanatismus von Hause aus fremd sei und daß entsprechend seine Heiligen einen ganz anderen Charakter aufzeigten als diejenigen, die sich im Interesse eines Bekenntnisses von ihm abwendeten: "die Heiligen sind nie diese sauertöpfischen Tanten (Karl Barth wird auf Grund seiner Liebe Mozart gegenüber ausdrücklich ausgespart; Anm. M.E.), die aus Profession 'übelnehmen', die, kurz gesagt, keinen Humor haben, wenn wir mit diesem Wort ein mit dem Katholischen untrennbar verbundenes, geheimnisvolles, aber unverkennbares Charisma bezeichnen dürfen (...). (Es handele sich um) Nörgler, hämische Satiriker, Meckerer, Kritikaster, bittere Verächter, Besserwisser, Pächter des unfehlbaren Urteils, sich selber legitimierende Propheten, kurz Fanatiker (ein Wort, das von fanum, Heiligtum herkommt: also von der Gottheit ergriffene, rasende 'Hüter der Schwelle*). (...) 'Kritischer Katholizismus' ist natürlich, in der Radikalität, wie er sich meint, ein Widerspruch in sich selbst. Was ist, soll nicht oder soll anders sein: 'Weltveränderung' bleibt das kaschierende Codewort dieser humorlosen Prinzipienreiter. Sie sind steif, während der Katholik geschmeidig, lenksam, nachgiebig ist, und zwar deshalb, weil seine Entschlossenheit nicht auf sich selbst und die eigene Meinung, sondern auf das Immer-Größere, auf
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Der Protestant oder Hugenotte vermöge Mauf jedem Boden zu leben. Es wäre aber ein unrichtiges Bild, zu sagen, daß er in jedem Boden Wurzeln faßt. Er kann überall seine Industrie aufbauen, jeden Boden zum Feld seiner Berufsarbeit und seiner "innerweltlichen Askese' machen und schließlich überall ein komfortables Heim haben - alles, indem er sich zum Herrn der Natur macht und sie unterjocht. Seine Herrschaft bleibt dem römisch-katholischen Naturbegriff unzugänglich. Römisch-katholische Völker scheinen den Boden, die mütterliche Erde, anders zu lieben; sie haben alle ihren 'terrisme'. Natur bedeutet für sie nicht den Gegensatz von Kunst und Menschenwerk, auch nicht von Verstand und Gefühl oder Herz, sondern menschliche Arbeit und organisches Wachstum, Natur und Ratio sind Eins.M75 Von daher erkläre sich also die besondere Rationalität des Katholizismus: sie sei weniger auf die Erreichung eines nicht überprüften Zweckes ausgerichtet, sondern an der Rationalität des Zwecks selber interessiert. Letztlich stritten Kapitalisten und Bolschewisten nicht um entgegengesetzte Ideale, weil beide doch das selbe Ideal hätten, nämlich die elektrifizierte Erde.76 Dagegen repräsentiere der römische Katholizismus eine Idee, darin bestehe sein eminent politischer Charakter, denn: MKein politisches System kann mit bloßer Technik der Machtbehauptung auch nur eine Generation überdauern. Zum Politischen gehört die Idee, weil es keine Politik gibt ohne Autorität und keine Autorität ohne ein Ethos der Überzeugung."77 Schmitt greift hier eine Auffassung Max Webers auf, aber er modifiziert sie auch. Max Weber hatte in seinem Vortrag Politik als Beruf von 1919 die Sachlichkeit als eine wesentliche Forderung an die Politik postuliert, und zwar Sachlichkeit im Sinne von Verantwortung des Politikers gegenüber einer Sache.78 Politik sei wohl identisch mit Streben nach Macht, aber dieses Streben müsse immer im Dienste einer Sache stehen. Das ist der eigentliche Kern der Weberschen Verantwortungsethik.79 Aber welcher Sache der Politiker sich verschreiben soll, ist für Weber nicht rational herleitbar: "Wie die Sache auszusehen hat, in deren Dienst der Politiker Macht erstrebt und Macht verwendet, ist Glaubenssache. Er kann nationalen oder menschheitlichen, sozialen Gott geht." (Balthasar: Der antirömische Affekt S.250f). Schmitt freilich würde sagen "im Interesse des Machterhaltes". 75 Schmitt: Römischer Katholizismus, S.17f. 7 6 Ebenda, S.22. Lenin, das sei hier angemerkt, forderte freilich Elektrifizierung und Rätedemokratie, und Schmitt wäre im Recht, wenn die Rätedemokratie für Lenin nur das geeignete Instrument zur Realisierung des Zwecks der Elektrifizierung gewesen wäre. Dem ist aber nicht so. Eher muß man Lenin hier in der Tradition von Marx und schließlich sogar Aristoteles sehen, d.h. daß die Elektrifizierung der Realisierung der Rätedemokratie und damit überhaupt der Demokratie dienen soll. 7 7 Ebenda, S.28. 78 Weber: Gesammelte Politische Schriften. 4.Aufl., Tübingen 1980, S.505ff. 7 9 "Der bloße 'Machtpolitiker1, (...) mag stark wirken, aber er wirkt in der Tat ins Leere und Sinnlose. Darin haben die Kritiker der 'Machtpolitik' vollkommen recht." (Weber: Politik als Beruf S.547).
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und ethischen oder kulturlichen, innerweltlichen oder religiösen Zielen dienen, er kann getragen sein von starkem Glauben an den ,Fortschritt, - gleichviel in welchem Sinn - oder aber diese Art von Glauben kühl ablehnen, kann im Dienst einer 'Idee' zu stehen beanspruchen oder unter prinzipieller Ablehnung dieses Anspruches äußeren Zielen des Alltagslebens dienen wollen immer muß irgendein Glauben da sein. Sonst lastet in der Tat - das ist völlig richtig - der Fluch kreatürlicher Nichtigkeit auch auf den äußerlich stärksten politischen Erfolgen. M80. Mit Schmitt und Weber stehen sich letztlich Katholik und Protestant gegenüber, was berücksichtigt werden sollte in dem Streit um die Frage, ob Schmitt als ein legitimer oder illegitimer Sohn Max Webers angesehen werden kann.81 Es wäre irrig zu glauben, der Katholizismus stelle für Schmitt eine solche Sache im Sinne von Max Weber dar. Vielmehr haben alle diese Sachen, die für Schmitt ohnehin nichts anderes sind als getarnte Interessen, auch, wie bereits dargestellt, ihren Platz in der alles umfassenden complexio oppositorum bzw. können ihn dort haben. Sache ist für Schmitt etwas ganz anderes als Idee, da letzterer, weil sie repräsentabel ist, Autorität zukomme. Diese Autorität der Idee des römischen Katholizismus beruht aber nun nicht alleine auf der göttlichen Einsetzung des Petrusamtes und damit auf der Repräsentation Christi. Damit soll auf das zurückgekommen werden, was der römische Katholizismus im eigentlichen Sinne - man ist versucht zu sagen: unabhängig von Christus, dessen Repräsentation eine dogmatische Angelegenheit ist, die im Zusammenhang mit der Sakramentenlehre zu erörtern wäre und Schmitt hier nicht interessiert82 - was er also noch repräsentiert: Es ist die Kontinuität von katholischer Kirche und römischem Imperium. 80
Ebenda, S.547Î Siehe Ulmen, S.26 gegen Mommsen, Wolfgang J., S.408. 82 Thomas von Aquin bezeichnete das Meßopfer durchaus als repraesentativum dominicae passionis, zum Begriff der eucharistischen Repräsentation vgl. Hofmann: Repräsentation S.65ff. Der Vorbildcharakter nicht nur des Begriffs der kirchlichen Repräsentation für den Staat, wie Adam ihn betont, sondern auch des sakramentalen Verständnisses der Anwesenheit des Herrn in Brot und Wein für Schmitts Begriff der Identität ist von Meuter behauptet worden: ""Könnte es (...) nicht sein, daß die zwei politischen Formprinzipien Schmitts, nämlich Repräsentation und Identität, ihr strukturprägendes begriffliches Vorbild in den theologischen Begriffen der Repräsentation und der Transsubstantiation haben?" (Meuter: Zum Begriff der Transzendenz bei Carl Schmitt, in: Der Staat Heft 4 1991, S.503) Während Adam Schmitts Identifizierung des Volkes mit Adolf Hitler nach 1933 als einen Abfall vom katholischen Verständnis der Repräsentation in der Verfassungslehre versteht, interpretiert Meuter: "Daraus würde folgen, daß der artgleiche demokratische Führer für Schmitt nicht in der Weise der vicari us populi ist, wie dies analog für den Papst in seinem Verhältnis zu Christus gilt, sondern daß er vielmehr gerade so die Transsubstantiation des Volkes ist, wie Brot und Wein Christi Fleisch und Blut in 'substantialer Realpräsenz' sind, d.h. substantiell anwesend und nur in akzidentiell anderer Gestalt erscheinend. Das hieße zugleich, daß der Führer nicht mehr wie der Papst oder der absolute Monarch bloß der Repräsentant von etwas ihn Transzendierendem ist, sondern unmittelbar und substantiell identisch der politische Messias selbst; daß er also nicht mehr das Symbolon der politischen Einheit darstellt (analog zu der augustinisch-protestantischen Auffassung vom Abendmahl), sondern deren 81
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g) Geschichte und Volk Kontinuität, das ist überhaupt das Schlüsselwort des konservativen Denkens Carl Schmitts. "Für den Staatstheoretiker Carl Schmitt ist die Säkularisierung eine Kategorie der Legitimität. Sie eröffnet die Tiefendimension der Geschichte für die durch ihre Kontingenz gefährdeten Gegenwarten. Sie verschafft historische Identität, und dabei kommt es weniger darauf an, daß dies eben 'mit anderen Mitteln1 geschieht.H83 Gegenüber der Kontinuität ist die Repräsentation Christi und damit Gottes für Schmitt als einem Staatsrechtler ohne große Bedeutung, insbesondere nach Hegel. In den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts ging der Streit zwischen Rechts- und Linkshegelianern noch um die Frage, ob Hegel Gott als Person oder als Weltprozeß aufgefaßt habe.84 Schmitt steht durchaus bewußt in der Folge des revolutionären Bruchs im Denken des 19. Jahrhunderts, wobei freilich zunächst nicht ganz deutlich wird, auf welcher Seite er steht.85 Es scheint ihm vielmehr um eine Überwindung dieses Bruches jenseits von aller Romantik gegangen zu sein, wie übrigens auch Karl Barth, dem freilich auf noch andere Art und Weise.86 Jedenfalls ist im Verlaufe der Zeit, ausgehend von Hegel, etwas anderes an die Stelle Gottes getreten. Carl Schmitt hat das sehr deutlich erkannt und in seiner Schrift Politische Romantik im Jahre 1919 so ausgedrückt: HDie höchste und sicherste Realität der alten Metaphysik, der transzendente Gott, war beseitigt. Wichtiger als der Streit der Philosophen war die Frage, wer seine Funktionen als höchste und sicherste Realität und damit als letzten Legitimationspunkt in der historischen Wirkmetabole in eine bloß akzidentiell andere Gestalt (wie in der katholischen Auffassung der Eucharistie)." (ebenda, S.503) Nun wäre dem Katholiken Schmitt, hätte er bei der Präsenz des deutschen Volkes in der Person Adolf Hitlers an die Lehre von der Transsubstantiation gedacht, sicher auch bewußt gewesen, daß Brot und Wein nicht Christi Fleisch und Blut an sich sind, voraussetzungslos, sondern daß es noch der kirchlichen Handlung bedarf, d.h. der priesterlichen Vermittlung. Analogien können, wie das Beispiel Meuters zeigt, auch überstrapaziert werden. 83 Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Frankfurt am Main 1988, S.108. Blumenberg lehnt freilich nicht nur Schmitts Säkularisierungsbegriff ab, sondern möchte Theologie überhaupt durch die Arbeit am Mythos ersetzen, als eine nach dem angeblichen Ende der Theologie und des Dogmas mit dem Beginn der Neuzeit einzig mögliche Alternative, um dem Sinnverlust zu begegnen. 8 4 Vgl. Löwith: Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts. 8.Aufl., Hamburg 1981, S.356. 85 Sein Naturbegriff scheint überhaupt verhindert zu haben, daß Schmitt sich allzu sehr zu Hegel hingezogen fühlte. Reinhard Mehring hat das Gesamtwerk Schmitts als das Unternehmen einer katholischen Hegelnahme gewertet, demgegenüber betont aber die Kirche die Transzendenz des Schöpfers, was ihr die Aufgabe der Repräsentation Christi erst ermöglicht und ihre Würde sichert (vgl. Mehring: Pathetisches Denken). 8 6 Es kann schon jetzt daraufhingewiesen werden, daß Karl Barth die Romantik ähnlich beurteilt hat wie Schmitt: "Sie ist reine Romantik nur sofern sie ihr Programm entwirft, nicht indem sie es ausführt. Es dürfte kein Zufall sein, daß noch das Lebenswerk des letzten großen Romantikers in der Theologie, Emst Troeltsch, in der Hauptsache in der Ankündigung und immer neuen Ankündigung von Programmen bestanden hat. Reine Romantik darf sich nicht zur Wissenschaft und zur Tat ausbreiten wollen. Sonst verrät sie ihr Unvermögen zur Wissenschaft und zur Tat N (Barth: Die protestantische Theologie im 19.Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte. 5. Aufl., Zürich 1985, S.308).
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lichkeit übernahm. Zwei neue diesseitige Realitäten traten auf und setzten eine neue Ontologie durch, ohne auf die Beendigung der erkenntnistheoretischen Diskussion zu warten. Völlig irrational, wenn man sie mit der Logik der rationalistischen Philosophie des 18.Jahrhunderts betrachtet, aber objektiv und evident in ihrer überindividuellen Geltung beherrschten sie in realitate das Denken der Menschheit als die beiden neuen Demiurgen."87 Diese beiden Demiurgen sind für Schmitt keine anderen als Volk und Geschichte. Die Allmacht des ersteren sei schon von Rousseau im Contrat social proklamiert worden. "Die Politik wird eine religiöse Angelegenheit, das politische Organ ein Priester der Republik, des Gesetzes, des Vaterlands.H88 So habe denn auch die Politik Robespierres letztlich religiösen Charakter gehabt, in dessen Folge politische Feinde wie Hébert und Danton nicht alleine als Rebellen gegen den Souverän, sondern auch als Ketzer und Atheisten gebrandmarkt worden seien. Während das Volk den revolutionären Demiurgen darstelle, sei die Geschichte der "konservative GottM: MDas Korrektiv der revolutionären Schrankenlosigkeit lag bei dem anderen, dem zweiten Demiurgen, der Geschichte. Sie ist der konservative Gott, der restauriert, was der andere revolutioniert hat, sie konstituiert die allgemeine menschliche Gemeinschaft zum historisch konkretisierten Volk, das durch diese Begrenzung zu einer soziologischen und historischen Realität wird und die Fähigkeit enthält, ein besonderes Recht und eine besondere Sprache als Äußerung seines individuellen Nationalgeistes zu produzieren. Was 'organisch' ein Volk ist, was 'Volksgeist' bedeutet, läßt sich daher nur historisch feststellen, auch das Volk ist hier nicht, wie bei Rousseau, Herr seiner selbst, sondern das Ergebnis geschichtlicher Entwicklung."89 Hegel aber, so Schmitt, habe Volk und Geschichte zusammengedacht, mit ihm erst sei der Gott der alten Metaphysik endgültig entthront worden - "zu dem alten Gott der christlichen Metaphysik führte, trotz der reaktionären Elemente und trotz der christologischen Terminologie Hegels nichts mehr zurück"90 Marx sei dann den Schritt weiter gegangen, die Geschichte logisch dem Volk bzw. dem die Menschheit repräsentierenden Proletariat unterzuordnen. Der Hinweis auf das die Menschheit repräsentierende Proletariat fehlte noch in der ersten Auflage von 1919 und ist als Nachsatz erst in der zweiten Auflage von 1925 zu finden. Die Anfügung dieses Halbsatzes in der zweiten Auflage erscheint vor dem Hintergrund der bis dahin erfolgten Veröffentlichungen plausibel.91 Dieser dritten Form der Repräsentation stehen die beiden anderen Formen in ihrer Wechselbeziehung gegenüber. Auch Schmitt denkt Volk und 87
Schmitt: Politische Romantik. l.Aufl., München und Leipzig 1919, S.49. Ebenda, S.49. 89 Ebenda, S.53. 9 0 Ebenda, S.57. 91 Vgl. S.57 in der l.Aufl. 1919 mit der 2.Aufl. bzw. der 4. unveränderten Aufl. der 2. Aufl. von 1925, Berlin 1982, S.95. 88
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Geschichte zusammen, aber nicht wie Hegel durch die Formulierung einer neuen Metaphysik oder wie Marx in der Synthetisierung eines höheren Dritten, sondern in den Institutionen Kirche und Staat. Beide Demiurgen, Volk und Geschichte, sind die jeweils Repräsentierten in Staat und Kirche, auch wenn ihre Repräsentation eine verschiedene ist. Beide sind präsent im römischen Katholizismus und der politischen Form, und beide Formen der Repräsentation stehen in einem Verhältnis zueinander wie im Staate Identität und Repräsentation. Sie sind nur zwei entgegengesetzte Orientierungspunkte für die Gestaltung von Wirklichkeit. Die Kirche "will mit dem Staat in der besonderen Gemeinschaft leben, in der zwei Repräsentationen sich als Partner gegenüberstehen"92 (Herv.M.E.). Die Kirche verleiht dann dem Staate das, was ihm Dauer und überhaupt erst Realität gibt. Das betont Schmitt in beiden Auflagen seiner Politischen Romantik, auch wenn die Kirche nicht explizit genannt wird, sondern nur mittelbar über die Religion: "die Bedeutung der Religion wie der adligen Familien für den Staat liegt darin, daß sie ihm eine Dauer und damit erst seine Realität geben."93 Aber die Unterscheidung von Religion und Kirche ist im Bereich des römischen Katholizismus ohne Bedeutung, weil das Lehramt die Religion verbindlich formuliert. So wäre zunächst zu sagen, daß die Schrift Römischer Katholizismus und politische Form (1923/1925) weder einen Fremdkörper im Werk Schmitts noch eine Alternative gegenüber den staatsrechtlichen Schriften darstellt, sondern den Abschluß einer Phase bildet, die die Schriften über die Diktatur (1921) und Politische Theôlogie (1922) beinhaltet und mit dem Buch über die politische Romantik (1919) begonnen hatte. Man könnte auch sagen, daß Volk und Geschichte, indem sie mit dem römischen Katholizismus in Verbindung und damit akkomodisiert werden, ihres potentiell revolutionären Gehalts entledigt und in den Dienst des Staates gestellt sind. h) Raum und Rom Schmitt hat das Verhältnis zwischen Kirche und Staat nirgends konkret expliziert, es lassen sich in seinem Werk nur verstreute Andeutungen finden. Insbesondere die letzte Phase seines Werkes kann aber als eine Explikation dieses Verhältnisses aufgefaßt werden, und das ist die Phase, in der die Kategorie Raum in den Vordergrund tritt. Im Jahre 1951 veröffentlichte Carl Schmitt gleich zweimal eine kleine phonetische Betrachtung des Wortes Raum, einmal in einem Gedenkbuch für Wilhelm Ahlmann zusammen mit einem weiteren, Das Recht als Einheit von Ordnung und Ortung überschriebenen Beitrag unter dem gemeinsamen Titel 9 2 9 3
Schmitt: Römischer Katholizismus, S.42. Ders.: Politische Romantik, 1919 S.54, 1982 S.92.
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Recht und Raum, zum anderen in der Zeitschrift Universitas unter dem Titel Raum und Rom. Zur Phonetik des Wortes Raum. 94 Der Raum tritt hier in einer anderen Bedeutung auf als etwa in Schmitts kleiner Schrift Großraumordnung gegen Universalismus aus dem Jahre 1939, einer am Beispiel der MonroeDoktrin angelehnten Rechtfertigung des deutschen Imperialismus95, der zu Beginn der vierziger Jahre noch andere kleinere Raumbetrachtungen folgen sollten. Das Wort Raum, so Schmitt 1951, enthalte in seiner einsilbigen Einfachheit die ganze Welt der Vokale zwischen zwei besonderen Konsonanten, deren Besonderheit darin bestehe, daß sie keine stechende und einschneidende Grenzziehung wie etwa der Konsonant S im lateinischen spatium darstellten. Als Beispiel zur Illustration des Gemeinten dient Schmitt das griechische Wort aion: HDas sind der Reihe nach sämtliche Vokale, weil I und E, und Ο und U ineinander übergehen. Aus der Aufeinanderfolge der ganzen Vokalreihe entsteht hier ein Laut, der dem Ablauf der ganzen, in sich geschlossenen Zeitfolge, also dem Sinn Aeon wunderbar entspricht. Mit dem deutschen Urwort 'Raum1 verhält es sich aber so: die vokalische Mitte von RAUM gibt diphtongisch den ersten und den letzten Vokal, A und U, und schlägt dadurch den Bogen von Alpha bis Omega, Anfang und Ende."96 Im lateinischen spatium dagegen habe der Buchstabe S eine trennende Funktion wie die Vorsilbe se, z.B. in se-parare, eine Erkenntnis, die Schmitt, wie er schreibt, seinem alten Lateinlehrer Prof. Hiltenkamp verdankt.97 Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Raum sei der gerodete Bereich des Urwaldes. In dieser Bedeutung ist er Schmitt freilich zu terran, wenngleich er ihn dennoch rein tellurisch verstanden wissen will: er könne auch für das vom Meer umflutete Land stehen. Darauf deute schon die Phonetik des Wortes Meer hin: MMEER hat die umge9 4 Ders.: Recht und Raum, in: Tymbos. Für Wilhelm Ahlmann. Ein Gedenkbuch, hrsg. von seinen Freunden. Berlin 1951; ders.: Raum und Rom. Zur Phonetik des Wortes Raum, in: Universitas, Heft 19 1951, S.963ff. 95 in Schmitt: Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar - Genf - Versatile. 2. Aufl., Berlin 1988. Vgl. auch ders.: Der Reichsbegriffim Völkerrecht (1939), ebenda. 9 6 Ders.: Raum und Rom, S.965. 9 7 Einem rein analytischen Sprachverständnis erscheint das als reine Spielerei und willkürliche Konstruktion. Dem hätte Schmitt aber entschieden widersprochen. Schmitt stellt sich hier in die Tradition eines Sprachverständnisses, das von Wilhelm von Humboldt und wohl auch Hegel herrührt. Das Wort wird nicht nur als Zeichen verstanden, sondern ist hier selber voller Bedeutung; es hat Teil an dem, was es repräsentiert (vgl. Heintel: Einführung in die Sprachphilosophie. Darmstadt 1972) Schmitt übernimmt also hier ein Sprachverständnis, das er schon bei Theodor Däubler festgestellt hatte: "Man darf von dieser Sprache natürlich nicht sagen, daß sie Assonanzen und Alliterationen übertreibe. Es handelt sich auch nicht mehr darum, einen Vers zu putzen, der auch ohne jenes Ornament bestehen könnte, sondern um das Wesen der Sprache. Für den, der im Emst alle künstlerische Wirkung aus der Sprache herausholen will, werden Assonanzen, Reime, Alliterationen das Ein und Alles, der Ausdruck ihrer wesentlichen Schönheit, eine herrliche Absage an den Naturalismus des alltäglichen Verständigungsmittels.n (Schmitt: Theodor Däublers "Nordlicht". Drei Studien über die Elemente, den Geist und die Aktualität des Werkes. 2. Aufl., Berlin 1991, S.47).
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kehrte Stellung der liquiden M und R und infolge des Vokales E keine volle, sondern eine leere Mitte."98 Was hat das aber alles mit dem römischen Katholizismus zu tun? Das gibt Schmitt, außer im Titel, nur in einem, zudem noch sehr kurzen Satz gleich zu Anfang zu erkennen: HIch bin sicher, daß Raum und Rom dasselbe Wort ist.1,99 Dieses opusculum kann m.E. in seiner Bedeutung kaum überschätzt werden. Schmitt selbst leitet seinen Beitrag im Gedenkbuch fur Ahlmann mit den Worten ein, diese Gedanken seien "in den Jahren 1940/44 während der Arbeit an einem umfassenden völkerrechtlichen Thema entstanden" und Gegenstand zahlreicher Gespräche mit Ahlmann gewesen. "Die Darlegung Zur Phonetik des Wortes Raum ist Wilhelm Ahlmann im Herbst 1942 vorgetragen und mit ihm in vielen Gesprächen erörtert worden; sie wird hier unverändert zum erstenmal gedruckt".100 Auch Nicolaus Sombart erinnert sich, mit Carl Schmitt solche phonetischen Betrachtungen während ihrer gemeinsamen Spaziergänge im Grunewald zu Beginn der vierziger Jahre angestellt zu haben101, und Schmitt wiederholt die Bemerkung, die Worte Rom und Raum seien identisch, im Glossarium unter der Eintragung vom 6.7.1951: "Raum ist dasselbe Wort wie Rom. Daher also der Haß gegen das Wort Raum, dieser Haß ist nur ein umgelagerter antirömischer Affekt." 102 Die Phonetik des Wortes Raum stellt nun zwar für Schmitt den Zusammenhang mit Rom her, aber doch nur mit dem Wort, noch nicht mit dem römischen Katholizismus. Der weitergehende Zusammenhang wird dann deutlich, wenn die römische Kirche als das letzte Reservat tellurischen Denkens in einer die Landwirtschaft längst eingeholten durchindustrialisierten Welt begriffen wird, so wie Schmitt es ja schon in seinem Essay im Jahre 1923 getan hat. Unter Hinweis auf die Enzyklika Rerum novarum heißt es bei Pius XII in seiner Ansprache zum Pfingstfest 1941, also zu der Zeit, in der Carl Schmitt seine Kategorie vom Raum entwickelt und den Gegensatz von Land und Meer thematisierte: "Von allen Gütern, die im Privateigentum stehen können, ist nach der Lehre von Rerum novarum keines mehr naturgemäß als der Boden, das Stück Land, auf dem die Familie wohnt und von dessen Früchten sie ganz oder wenigstens zum Teile lebt."103 Insbesondere stehe das Meer im Gegensatz zu diesem Boden: "Trotz vieler ausgedehnter Ozeane, Meere und Seen, trotz der Gebirge und Steppen, die mit ewigem Eis und Schnee bedeckt sind, trotz großer Wüsten und ungastlicher, unfruchtbarer Gebiete ist unser Planet doch auch nicht arm an Landstrichen und Gefilden, die noch der verschwenderi98
Schmitt: Raum und Rom, S.966. Ebenda, S.963. Schmitt: Tymbos, S.241. 101 Sombart, Nicolaus: Jugend in Berlin 1933-1943. Ein Bericht. München u. Wien 1984, S.251f. 102 Schmitt: Glossarium, S.317. 103 Pius XII, S.42.
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sehen Laune der Natur überlassen, sich sehr wohl eignen würden zur Pflege durch Menschenhand, zur wirtschaftlichen und staatlichen Nutzung."104 Und in seiner Ansprache Die Kirche und die menschliche Gesellschaft anläßlich der Inthronisationsfeierlichkeiten neuer Kardinäle äußerte der Papst 1946: "Der Mensch, so wie Gott ihn will und die Kirche ihn umfängt, wird sich ohne Bodenständigkeit und Überlieferung nie in Raum und Zeit fest verwurzelt fühlen." 105 Anspielend auf die Vertreibungen während des Krieges und der Nachkriegszeit heißt es weiter: "Der Schiffbruch so vieler Seelen gibt leider dieser mütterlichen Besorgnis der Kirche recht und drängt zur Schlußfolgerung, daß Bodenständigkeit und Verwurzelung in den ererbten Überlieferungen - unabdingbar für den gesunden, fertigen Menschen - zu den grundlegenden Bestandteilen der menschlichen Gemeinschaft gehören. (...) Menschen, festgefügt in ihrer unverletzlichen Ganzheit als Ebenbilder Gottes; ihrer persönlichen Würde und gesunden Freiheit stets bewußte Menschen; Menschen, die in dem, was das Innerste ist, mit ihren Mitmenschen halten; in ihrem Boden und in ihren Sitten fest verankerte Menschen; mit einem Wort: Menschen, die durch dieses vierfache Element gekennzeichnet sind, - das gibt der menschlichen Gesellschaft ihre feste Grundlage, verschafft ihr Sicherheit, Ausgewogenheit, Gleichheit, normale Entwicklung in Raum und Zeit."106 Und insbesondere stellt der Papst auch den Zusammenhang her, der Schmitt ganz besonders am Herzen liegt, nämlich den zwischen Bodenständigkeit und Staat, vermittelt über die Familie: "Auf solchem Fundament ruhen vor allem die beiden tragenden Säulen, das Gerüst der menschlichen Gesellschaft, wie es von Gott gedacht und gewollt ist: Familie und Staat."107 Raum, das ist die Kategorie, die für Schmitt gegen Ende der dreißiger Jahre eine zentrale Bedeutung erhält, nachdem er dem Staate als Leviathan in seinem Buch über Thomas Hobbes den Todesschein ausgestellt hatte.108 Den Raum versucht Schmitt aber zunächst als eine rein völkerrechtliche, d.h. juristische Kategorie zu fassen. Das Buch über Hobbes stellt in der Tat eine Zäsur im Denken Schmitts dar. Denn danach wird der Niedergang von Staatlichkeit nicht mehr in der Anerkennung der Gedankenfreiheit gesehen, also staatsrechtlich begründet, wie 104 Ebenda, S.42f. Daß dieser Nutzung dann dort jeweils lebende Menschen im Wege stehen, scheint den Papst nicht zu bekümmern. Man hat den Eindruck, der Papst möchte auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen des Zweiten Weltkrieges, wo die Entscheidung noch nicht abzusehen ist, den Frieden in Europa erreichen, indem er versucht, die Agressionen nach außen zu leiten. Dies ist von den Kreuzzügen an über das Zeitalter des lus Publicum Europaeum hinaus durchaus Politik der Kurie gewesen. 105 Ebenda, S.237. 106 Ebenda, S.237f. 107 Ebenda, S.238f. 108 So Maschke im Nachwort zur zweiten Auflage von Schmitt, Carl: Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes.(1938) 2.Aufl., Köln-Lövenich 1982, S.181.
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noch im Buch über Hobbes geschehen, sondern durch einen völkerrechtlichen Aspekt nicht nur erweitert, sondern vielmehr abgelöst. Als vorläufiger Abschluß einer Reihe von Aufsätzen zum Begriff des Raumes als einer rein völkerrechtlichen Kategorie darf der Beitrag Raum und Großraum im Völkerrecht 109 aus dem Jahre 1941 angesehen werden. Das Völkerrecht sei durch einen polaren Gegensatz bestimmt: Auf der einen Seite stehe ein universalistisch normatives Weltrecht, hinter dem sich aber nichts anderes verberge als der angelsächsische Imperialismus, auf der anderen Seite ein "krampfhaft staatsbezogenes, raumverengendes, kleinräumiges Staatenrecht." Und: "Es gehört zum Wesen eines universalistischen Weltrechts, daß es echte Raumausgrenzungen aufhebt und die Unterscheidungslinien durch die Völker hindurchgehen läßt. Konstitutionelle Verfassung, Freiheit und Rechtsstaat waren in concreto innerstaatliche Sicherungen der Unterscheidungslinie von staatlich-öffentlicher und staatsfrei-privater Sphäre, wobei der Handel, vor allem auch der Außenhandel, selbstverständlich und naturnotwendig in die staatsfreie Sphäre fiel. Liberaler Konstitutionalismus und Verfassung gewährleisteten im 19.Jahrhundert in erster Linie den privaten, staatsfreien Charakter des Handels, der die Grundlage freien Welthandels ist. Dadurch entsteht, über die Grenzen der Staaten hinweg und unter ihren Grenzen hindurch, eine nicht-staatliche private Veibindung und Gemeinschaft, die das weltwirtschaftliche System, Welthandel und Weltmarkt trägt."110 Das bisherige Völkerrecht sei ein staatsbezogenes Völkerrecht, dessen Grundkategorie der Begriff des Staatsgebietes gewesen sei. An die Stelle des Staates müsse jetzt das Reich treten. Das Reich sei wiederum nicht identisch mit Großraum, aber im Gegensatz zum Staat habe das Reich Großraum. In einem 1940 veröffentlichten Aufsatz heißt es: "Das Reich ist nicht einfach ein vergrößerter Staat, so wenig wie der Großraum ein vergrößerter Kleinraum ist. Das Reich ist auch nicht identisch mit dem Großraum, aber jedes Reich hat einen Großraum und erhebt sich dadurch sowohl über den durch die Ausschließlichkeit seines Staatsgebietes räumlich gekennzeichneten Staat wie über den Volksboden eines einzelnen Volkes. Ein Machtgebilde ohne diesen Staatsgebiet und Volksboden überwölbenden Großraum wäre kein Reich."111 Innerhalb dieses Gebildes, d.h. eines Großraums, verbleibe ein Bereich völkischer Freiheit und Selbständigkeit. "Nur deshalb ist er universalistischen Herrschaftsformen überlegen, und nur deshalb ist er der Friede."112 Wenn Schmitt hier die Praxis des Nationalsozialismus in Europa geschildert hätte, wäre es im höchsten Maße zynisch, wenn er eine Nachkriegsordnung nach einem deutschen Sieg hätte entwerfen wol109
Schmitt: Raum und Großraum im Völkerrecht, in: Zeitschrift für Völkerrecht Band X X I V ,
1941. 110
Ebenda, S. 164. Ders.: Reich und Raum. Elemente eines neuen Völkerrechts, in: Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht, Heft 13 Juli 1940, S.202. 112 Ders.: Raum und Großraum im Völkerrecht, S.178. 111
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len, so wäre es im höchsten Maße eine Illusion gewesen. Insofern er aber vielleicht die internationalen Beziehungen nach den Konferenzen in Teheran und Jalta antizipiert hätte, dann hat folgender Satz schon die Begründung für die Ablehnung der Marshallplanhilfe durch die osteuropäischen Länder vorweggenommen: MHört der unkontrollierte private Handel auf, so hört auch diese Methode britischer oder angelsächsischer Weltherrschaft auf." 113 Schmitt argumentierte zunächst ausschließlich juristisch, Raum, Reich und Friede entbehren jetzt noch jeglichen metaphysischen Beigeschmacks. Schmitt denkt aber dann in der Folge den Raum im Zusammenhang eines, wie er es nennt, weltgeschichtlichen Gegensatzes, und dieser Gegensatz nimmt von nun an seine ganze Phantasie in Anspruch: es ist der Gegensatz von Land und Meer. Der Raum ist die Antwort Carl Schmitts auf die Herausforderung des Meeres, in dieser Kategorie drückt sich seine Parteinahme für das Land und die Erde aus. Schmitt war ein Landtreter geblieben. Dem Gegensatz von Land und Meer widmete Schmitt denn auch die meisten seiner dem Buch über Hobbes folgenden Veröffentlichungen, angefangen von Land und Meer 114, besonders aber auch sein Alterswerk Der Nomos der Erde. us In seinem Beitrag zur Festschrift für Ernst Jünger anläßlich dessen 60. Geburtstag steht der Gegensatz von Land und Meer auch im Mittelpunkt der Betrachtung.116 Sie ist für unseren Zusammenhang von herausragender Bedeutung, weil hier ein Einfluß des römischen Katholizismus bei Schmitt spürbar ist, der den Schluß zuläßt, dieser durchziehe das ganze Werk wie ein roter Faden. Der Raum von 1942 und den folgenden Jahren war im Rom des Buches über römischen Katholizismus und politische Form schon verborgen. In Anlehnung an R.G. Coolingwoods Question-Answer-Logic und Arnold Toynbees Challenge-Response-Struktur begreift Schmitt menschliches Handeln und Entscheiden als Antwort auf die von der Geschichte jeweils gestellten Fragen, ohne daß er aber eine Gesetzmäßigkeit in der Geschichte voraussetzt und annimmt (was Schmitt Toynbee vorwirft). Diese Dialektik will gerade keine allgemeinen Gesetze der Weltgeschichte eruieren, sondern begreift geschichtliche Wahrheit als eine einmalige, d.h. unwiederholbare Wahrheit. 113
Ebenda, S. 164. Schmitt: Land und Meer. Eine weltgeschichtliche Betrachtung. 2.Aufl., Köln-Lövenich 1981 (Ich folge hier der Datierung der Erstveröffentlichung Tommissen: Versuch einer Carl-Schmitt-Bibliographie. Düsseldorf 1953, S.13, der das Jahr 1943 angibt. Der Herausgeber der Neuauflage Maschke gibt dagegen das Jahr 1944 an). 115 Schmitt: Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum. l.Aufl. 1950, 2.Aufl., Berlin 1974. "Alterswerk" ist bei dem Alter, das Schmitt dann noch erreichte, ein vielleicht nicht ganz passender Ausdruck, aber dieses Buch blieb seine letzte umfangreiche Studie. Schmitt: Die geschichtliche Struktur des heutigen Welt-Gegensatzes von Ost und West. Bemerkungen zu Emst Jüngers Schrift: "Der Gordische Knoten", in: Freundschaftliche Begegnungen. Festschrift fur Emst Jünger zum 60. Geburtstag. Frankfurt am Main 1955. 114
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"Das geschichtliche Denken ist Denken einmaliger Situationen und damit einmaliger Wahrheiten."117
Schon diese Auffassung von Geschichte verbietet es, in Schmitt einen Konservativen Revolutionär zu sehen Er hat die der Konservativen Revolution eigentümliche zyklische Geschichtsauffassung nicht vertreten und dies auch gegen Ernst Jünger in dessen Festschrift ausdrücklich betont. So ist m.E. Schmitt vor allem auch nicht der Wiederkehr-Ideologe gewesen, als den ihn Richard Faber dargestellt hat.118 Faber thematisiert u.a. die Auffassung der Geschichte als eines ewigen Kampfes zwischen Orient und Okzident, wie sie teilweise die katholischen Vertreter einer Konservativen Revolution vertreten haben, übersieht aber vollständig, daß Schmitt in der Geschichte sich nicht Ost und West, sondern Land und Meer gegenüberstehen sieht. Vor diesem Hintergrund kann man die Anbiederung Schmitts gegenüber den Sowjets unmittelbar nach dem Kriege auch verstehen.119 Der gegenwärtige Ost-West-Gegensatz beruhe auf der Antwort, die England im Gegensatz zu den anderen europäischen seefahrenden Nationen "Spanien ist dann nur noch ein an der Küste Europas gestrandeter Walfisch." 120 - auf die Herausforderungen des Zeitalters der großen Entdeckungen zu geben in der Lage gewesen sei, daß es sich nämlich für eine maritime Existenz entschieden habe. Was das heißt, davon an anderer Stelle mehr, in unserem Zusammenhang ist nur von Bedeutung, daß Schmitt mit dieser Antwort Englands die Entwicklung moderner Technik als initiiert betrachtet: "Der Schritt zu einer rein maritimen Existenz bewirkt in sich selbst und in seiner weiteren inneren Folgerichtigkeit die Entfesselung der Technik als einer eigengesetzlichen Kraft. Bei allem, was sich vorher innerhalb einer wesentlich terranen Existenz an Technik entwickelt hatte, gab es keine absolute Technik. Denn es ist zu beachten, daß die bloß thalassische, auf Küste und Binnenmeer beschränkte Kultur noch keinen endgültigen Schritt zur maritimen Existenz bedeutet. Erst auf dem Ozean wird das Schiff zum absoluten Gegenbild des Hauses.121 Während in einer terranen Ordnung jede technische Erfindung von selbst in feste Lebensordnungen hineinfallt und von diesen erfaßt und 117
Ebenda, S.147. Faber: Die Verkündigung Vergils. Reich - Kirche - Staat. Zur Kritik der "Politischen Theologie". Hildesheim und New York 1975; ders.: Abendland. Ein politischer Kampfbegriff. Hildesheim 1979; ders.: Roma Aeterna. Zur Kritik der "Konservativen Revolution". Würzburg 1981. 119 So berichtete Flechtheim, der Schmitt im März 1947 verhörte, Schmitt habe ihm mitgeteilt, daß er sich den Russen als Berater zur Verfügung habe stellen wollen, was aber abgelehnt worden sei. Vgl. hierzu Wieland: Carl Schmitt in Nürnberg. 120 Schmitt: Die geschichtliche Struktur des heutigen Welt-Gegensatzes von Ost und West S. 160. 121 In seinem Essay Der Waldgang (1951 ) hat Ernst Jünger die technische und verwaltete Welt im Schiff symbolisiert, dessen Gegenwelt der Wald sei. Schmitt spricht statt vom Wald vom Haus, wobei wir durchaus auch an das lateinische domus und damit an Dom denken dürfen, auch an das Kirchenlied "Ein Haus voll Glorie schauet, weit über alle Land..." 118
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eingeordnet wird, erscheint in einer maritimen Existenz jede technische Erfindung als ein Fortschritt im Sinne eines in sich selbst absoluten Wertes. Der unbedingte Fortschrittsglaube ist ein Anzeichen dafür, daß der Schritt zur maritimen Existenz getan ist. Die Erfindung des Schießpulvers zum Beispiel führte in den festen Lebensordnungen des chinesischen Daseins nur zu einer Verwertung als Spiel im Feuerwerk. In dem geschichtlichen, sozial und moralisch unendlich erscheinenden Raum der maritimen Existenz führte sie zu den Kettenreaktionen uferlosen Weiter-Erfmdens. 1 2 2 Wenn aber die Technik als Absolutum zum Meer gehört, was verbleibt dem Land, wenn das Schicksal der Erde Technisierung ist? Zunächst vertritt Schmitt die Auffassung, an uns heute ergehe ein anderer Anruf der Geschichte als an die Menschen des Zeitalters der großen Entdeckungen, und daß dem heutigen Anruf "infolgedessen auch nicht mehr mit der Antwort begegnet werden (könne), die damals gegeben wurde."123 Soviel kann jetzt schon gesagt werden: mit der Technik hat sich Carl Schmitt nie arrangiert, wie etwa andere Konservative, geschweige denn, daß er sie so wie Arnold Gehlen und Helmut Schelsky gefeiert hätte.124 Das ist in der Tat auf die Katholizität Schmitts rückführbar und scheint ihn auf die Seite jener zu stellen, deren Kapitalismuskritik sich Ende der sechziger Jahre an der Eindimensionalität des Menschen in der modernen Industriegesellschaft entzündete i) Moskau und Rom Es ist darüber hinaus bemerkenswert, daß Schmitt mitten im Kalten Krieg den Gegensatz zwischen Ost und West als einen in seinem Sinne geschichtlichen, d.h. auf der Entscheidung Englands für die maritime Existenz beruhenden, aber grundsätzlich überholten Gegensatz betrachtete. Damit verbunden war eine Veränderung in Schmitts Einstellung gegenüber der Sowjetunion. Im Jahre 1923 hatte er über die UdSSR geschrieben: "Vielleicht ist der Marxismus auf russischem Boden so hemmungslos aufgetreten, weil hier das proletarische Denken von allen Bindungen westeuropäischer Tradition und allen den moralischen und Bildungsvorstellungen, in denen Marx und Engels noch ganz selbstverständlich lebten, endgültig gelöst war." 125 Hintergrund war 122
Schmitt: Die geschichtliche Struktur des heutigen Welt-Gegensatzes von Ost und West S.162. Ebenda, S. 166. 124 Vgl. Schelsky: Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation. Köln 1961; ders.: Demokratischer Staat und moderne Technik, in: atomzeitalter Nr.5 1961; s.a. Gehlen: Die Seele im technischen Zeitalter. Hamburg 1957. 125 Schmitt: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus. 5.Aufl., Berlin 1979, S.77. Das Kapitel IV Irrationalistische Theorien unmittelbarer Gewaltanwendung ist unter dem Titel Die politische Theorie des Mythos auch in den Band Positionen und Begriffe aufgenommen worden. 123
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die Auffassung, Rußland sei über den Marxismus wieder moskowitisch geworden, aber in dem Sinne, daß der Mythos von der Nation sich gegenüber dem proletarischen Mythos als überlegen erwiesen habe. Was 1923 noch als Kampf und Verschmelzung zweier mythischer Vorstellungen gesehen worden war, dem dann ein kraftloser, weil dem Mythos feindlich gesonnener Liberalismus nichts entgegenzusetzen vermocht habe, wird nun ganz anders gedeutet. Jetzt erscheint gerade dieser Liberalismus und die westeuropäische Tradition, in denen Marx und Engels noch "ganz selbstverständlich lebtenH, als die Welt des Meeres, als Bereich der absoluten Technik. Nun heißt es über die Oktoberrevolution, "daß ein industriell zurückgebliebenes Agrarreich instandgesetzt wurde, sich der industriellen Technik zu bemächtigen, ohne die es in einem modernen Weltkrieg zu einer bequemen Beute jedes industriell bewaffneten Eroberers werden mußte. Der Marxismus verwandelte sich aus einem ideologischen Überbau über dem ersten Stadium der industriellen Revolution in ein praktisches Mittel, einen Zustand industriell-technischer Wehrlosigkeit zu überwinden und eine alte Elite abzulösen, die sich dieser Aufgabe nicht gewachsen zeigte.1,126 Das bedeutete zwischen den Zeilen eine Rechtfertigung Stalins, der aber nicht nur als roter Zar, sondern durchaus auch als roter Papst betrachtet werden kann. Schon in dem kleinen Essay Zwei Gräber aus dem Jahre 1946127 hatte Schmitt auf Heinrich von Kleists Option für Rußland, die Landmacht gegen Napoleon, hingewiesen - in der Auseinandersetzung mit England wird zwar von Schmitt oft auch Frankreich als eine Landmacht charakterisiert, aber bei Frankreich handele es sich im eigentlichen Sinne schon nicht mehr um eine solche, sondern um ein revolutioniertes, und zwar bürgerlich revolutioniertes und damit dem Dogma von der absoluten Technik ergebenes Land. Die Überlegenheit über diese Technik habe Kleist in einem mythischen Bild dargestellt: M Ein Jahr vor seinem Tode hat Kleist den unerschöpflichen, immer von neuem erstaunlichen Aufsatz 'Über das Marionettentheater* geschrieben. Darin erscheint am Schluß ein Bär, der mit unbeirrbarem Instinkt jeder, auch der intelligentesten Technik überlegen ist. Er ermüdet die besten Florettfechter, einfach weil er auf Finten nicht reagiert. Dieser Träger unbewußter Kräfte ist ein mythisches Symbol und steht bereits in den Linien eines tiefen Gegensatzes von Osten und Westen.*1128 Freilich erscheint bei Schmitt am Schluß doch kein Bär, denn das Rußland von 1945 ist nicht mehr das Rußland, das gegen Napoleon stand. Moskau ist nicht Rom, denn die Wurzel des Marxismus sei hegelianisch geblieben. "In einer Stelle von Hegels 'Grundlinien der Philosophie des Rechts1, in den §§ 126 127 128
Ders.: Die geschichtliche Struktur des heutigen Welt-Gegensatzes von Ost und West, S. 164. Ders.: Ex Captivitate Salus. Erfahrungen der Zeit 1945/47, Köln 1950. Ebenda, S.39f.
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243ff., steckt ihr Keim. Die Stelle ist berühmt. Sie entwickelt die Dialektik einer bürgerlichen Gesellschaft, die sich in ungehinderter Wirksamkeit befindet und 'innerhalb ihrer selbst in fortschreitender Bevölkerung und Industrie begriffen' ist."129 Der ganze Marxismus ist für Schmitt nichts anderes als eine Entfaltung dieser Paragraphen. j) Das Tier aus dem Meer Moskau ist kein zweites Rom geworden, auch der Marxismus habe den grundsätzlichen weltgeschichtlichen Gegensatz von Land und Meer nicht begriffen. Er sei eben nur bis zum § 246 der Hegeischen Rechtsphilosophie vorgedrungen und habe den § 247 nicht berücksichtigt. Damit sei ihm das arcanum verborgen geblieben, was ihn für Schmitt noch einmal, ohne daß er das ausspricht, als den legitimen Erben des Liberalismus im Dienste einer absoluten Technik ausweist. "Bisher ist nur ein einziger Autor dem Arcanum nahe gekommen, Hegel, dessen Wort wir (...) zitieren: Wie für das Prinzip des Familienlebens die Erde, fester Grund und Boden Bedingung ist, so ist für die Industrie das nach außen sie belebende natürliche Element das Meer. Dieses Zitat ist für weitere Prognosen voller Bedeutung."130 Der § 247 der Hegeischen Grundlinien der Philosophie des Rechts, hier in dem Gedenkbuch für Wilhelm Ahlmann zitiert, wird von Schmitt auch in der Festschrift für Ernst Jünger erwähnt, versehen mit dem Hinweis: "Ich breche hier ab und überlasse es dem aufmerksamen Leser, in meinen bisherigen Ausführungen den Anfang eines Versuches zu finden, diesen § 247 in ähnlicher Weise zur Entfaltung zu bringen wie die §§ 243/246 im Marxismus zur Entfaltung gebracht worden sind."131 Nur geringfügig verändert hat Schmitt diese Erklärung zusammen mit besagtem Paragraphen dann noch einmal der zweiten Auflage des Bändchens Land und Meer im Jahre 1981 angefügt. Die Kritik des technischen Zeitalters und der Dominanz instrumenteller Vernunft ist nicht der einzige Aspekt aus Römischer Katholizismus und politischer Form, der von Schmitt in der Festschrift für Jünger wieder aufgegriffen wird. Ein Prinzip des römischen Katholizismus begegnet uns jetzt auch wieder, nämlich das des Sowohl-Als auch. Es basiert nun allerdings auf Schmitts Auffassung, geschichtliche Wahrheit sei jeweils eine einmalige Wahrheit und fordere darum, im Gegensatz zu einem Denken in polaren Gegensätzen, nicht die Dezision. "Die Wahrheit polarer Gegensätze ist ewig wahr, ewig im Sinne einer ewigen Wiederkehr. Eine geschichtliche Wahrheit ist nur einmal
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Ders.: Die geschichtliche Struktur des heutigen Welt-Gegensatzes von Ost und West, S.164. Ders.: Tymbos, S.250. Ders.: Die geschichtliche Struktur des heutigen Welt-Gegensatzes von Ost und West, S.165.
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wahr." 132 Daraus sei zu schließen, daß, wer in polaren Gegensätzen stehe, sich stets in der Entscheidung, d.h. im status confessionis befinde, wer dagegen aber geschichtlich denke, in der Lage sei, den Anruf der Geschichte wahrzunehmen.133 Wahrnehmen könnten ihn aber, so Schmitt, nicht die Sieger einer jeweils zu Ende gehenden Epoche, denn "wie sollte der Sieger verstehen, daß auch sein Sieg nur einmal wahr ist?"134 Und 1945 gehörte schließlich auch Moskau zu den Siegern. Der Beitrag Carl Schmitts endet inhaltlich mit dieser Frage. Ihre Behandlung stelle ein neues Thema dar. Es klingt da Resignation durch, aber nicht nur. Der römische Katholizismus wird nicht mehr als das Kontinuum im Ablauf historischer Wahrheiten explizit erwähnt, aber er ist m.E. in jeder Zeile präsent. Er ist namentlich in der Kategorie Raum präsent, denn es ist ja der Raum, dessen Gestaltung Schmitt zu denken sucht, doch gestalten können ihn nur Kirche und Staat. Darum verhalten sich bei Schmitt Staat und Kirche in ihrer Verschiedenheit zueinander wie Identität und Repräsentation im Staat. Raum ist Ordnung, und Ordnung ist die alte konservative und katholische Idee der Einheit von Verschiedenheiten, die die Verschiedenheiten nicht auf einer höheren Ebene synthetisiert, sondern respektiert.135 Der Ordnung im innerstaatlichen Bereich korrespondiert der Raum in der Staatengemeinschaft. Die Technik kenne keine Ordnung, sie sprenge sie vielmehr - und hier ist Schmitt sicher zuzustimmen; hatte die Technik doch erst das Proletariat und die großen Städte hervorgebracht. Die Technik war in Schmitts Auffassung eine einmalige Antwort auf eine einmalige geschichtliche Frage, und heute sei sie selber zur Frage geworden. Es kann, so Schmitt, hierauf nur die Antwort des Katholizismus geben, oder aber es gebe fur die Menschheit gar keine Antwort mehr. k) Der Großinquisitor
alsAußialter
Den römischen Katholizismus betrachtete Schmitt als das letzte Bollwerk des Landes, und Rom war wirklich zur umfluteten Insel geworden. Aber Schmitt hat Rom nicht nur im Rahmen seiner Geschichtsphilosophie gewür132
Ebenda, S.147. Hier ist noch einmal gegen Krakow einzuwenden, daß der Dezisionismus Schmitts mehrdimensional ist 134 Schmitt: Die geschichtliche Struktur des heutigen Welt-Gegensatzes von Ost und West, S. 166. 135 In diesem Sinne hat der Pacelli-Papst Pius X I I in seiner Rundfunkbotschaft am Heiligen Abend des Jahres 1942 verlauten lassen: "Ordnung, die Grundlage des Gemeinschaftslebens von Menschen, also von geistig-sittlichen Wesen, mit der ihrer Natur entsprechenden Ausrichtung, ist nicht bloß äußerliches Gefüge zahlenmäßig unterschiedener Teile. Sie ist vielmehr und muß sein Anstreben und immer vollkommenere Verwirklichung einer inneren Einheit, unter Wahrung jeder wahrhaft begründeten, durch Schöpferwillen oder übernatürliche Normen verbürgten Verschiedenheit." (Pius XII, S.72f). 133
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digt, er hatte auch ein tieferes, weitergehendes Verhältnis zur Kirche, m.a.W. er war auf seine Weise ein frommer Mann gewesen. Katholische Frömmigkeit äußert sich vornehmlich in Marienverehrung. Günther Krauss schreibt in seinen Erinnerungen an Carl Schmitt, dieser habe seine Studenten nicht alleine hin und wieder in sein Haus geladen und üppig mit Speise und Trank bewirtet, man sei auch nie auseinandergegangen, ohne ein Marienlied zu singen, meist das alte Wallfahrtslied Meerstern ich die grüße P 6 Studenten evangelischer Konfession, sofern sie geladen waren, was freilich angenommen werden darf, werden das mit einigem Unverständnis beobachtet haben. Es gibt noch andere Hinweise auf Schmitts Marienverehrung. In seinem Beitrag in der Festschrift für Ernst Jünger steht der erstaunliche Satz, daß die konfessionellen Bürgerkriege des 16. und 17. Jahrhunderts in Wirklichkeit "Kämpfe für oder gegen die katholische Marienverehrung des Mittelalters, für oder gegen das Marienbild" gewesen seien.137 Nun wird man freilich immer gut daran tun, bei Schmitt selbst die letzten Fundamente auf ihre politische Bedeutung hin zu untersuchen. Infolge seiner Bewunderung des Dichters Konrad Weiß ließ Schmitt sich sicher auch von dessen mariologisch-geschichtsphilosophischer Spekulation inspirieren. Damit soll Schmitt eine Marienverehrung, wenn sie ihm tatsächlich auch aus anderen Gründen bedeutsam war, gar nicht abgesprochen werden. Dennoch muß man bedenken, daß z.B. in der Kunst vieler toskanischer Städte die Mutter Gottes als bedeutendes Symbol für pax et concordia dargestellt worden ist, d.h. als ein politisches Symbol138: "(...) gibt es eine Rebellion gegen die Mutter?"139 Vieles deutet freilich darauf hin, daß man in Carl Schmitt weniger einen gläubigen Christenmenschen als vielmehr einen Großinquisitor sehen muß, wie Dostojewski ihn Schmitt, scheinbar vorausschauend, literarisch auf den Leib geschneidert hat. Jacob Taubes schreibt dazu: "Schon früh hatte ich in Carl Schmitt eine Inkarnation des Dostojewskischen 'Großinquisitors' vermutet. In der Tat in einem stürmischen Gespräch in Plettenberg 1980 sagte mir Carl Schmitt, wer nicht einsehe, daß der 'Großinquisitor' schlechthin Recht hat gegenüber all den schwärmerischen Zügen einer jesuanischen Frömmigkeit, der habe weder kapiert, was Kirche heißt noch was Dostojewski - gegen seine eigene Gesinnung - 'durch die Gewalt der Problemstellung gezwungen, eigentlich vermittelt' habe."140 Dabei muß aber auch bedacht werden, daß die136 Vgl. Krauss: Erinnerungen an Carl Schmitt (Teil 1 1929-1931 in Criticon Nr.95 1986, Teil 2 1931-1933 in Criticon Nr.96 1986). 137 Schmitt: Die geschichtliche Struktur des heutigen Welt-Gegensatzes von Ost und West, S. 141. 138 Yg| Münkler: Im Namen des Staates. Die Begründung der Staatsraison in der frühen Neuzeit. Frankfurt am Main 1987, S.92ff. 139 Schmitt: Römischer Katholizismus und politische Form, S.13f. 140 Taubes: Ad Carl Schmitt, S. 15.
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ser Großinquisitor nicht ohne Humanität ist, denn schließlich entkommt Christus ja mit seiner Hilfe doch - die complexio oppositorum hat am Ende auch Platz für ihn. Vielleicht aber darf man, wenn man Schmitt schon mit dem Großinquisitor identifiziert, ihn dann auch mit ihm sagen lassen: N - denn zu wem sonst, wenn nicht zu uns, sollen sie kommen, nachdem sie sich tausend Jahre lang mit ihrem Turmbau abgequält haben! Sie werden uns wieder aus den Erdlöchern hervorsuchen, uns, die in den Katakomben sich Verbergenden - denn man wird uns wieder verfolgen und martern -, sie werden uns finden und uns anflehen: 'Sättigt uns, denn die, so uns das Feuer vom Himmel versprachen, haben es uns nicht gegeben."* Die Motive Schmitts, darin ist Taubes im Recht, decken sich völlig mit denen des Großinquisitors. Aber wer fragt schon nach der Frömmigkeit des Großinquisitors? Was bei der Lektüre Dostojewskis jedoch noch mehr an Schmitt denken läßt, ist die Aufforderung des Großinquisitors an Christus, jetzt zu gehen und niemals wiederzukommen: "'Geh und komme nie wieder ... komme überhaupt nicht mehr ... nie wieder, nie wieder!' Und er läßt ihn hinaus auf die dunklen Gassen der Stadt*.** Jacob Taubes hat Schmitt einen **Apokalyptiker von oben** genannt·141 Gemeint ist, daß Schmitt nach einer Macht suchte, die dem Chaos währt und das Ende aufhält, daß er also nach dem katechon suchte. Mit diesem Begriff bezeichnet 2. Thess 2,5f den Unterdrücker der anomia, der Gesetzlosigkeit also, die der Wiederkunft Christi vorausgehen soll. Schmitt setzt einen katechon voraus, ohne den für ihn Geschichte gar nicht mehr möglich ist. Im Glossarium schreibt Schmitt unter dem Datum vom 19.12.47: **Wer ist heute der katechon? Man kann doch nicht Churchill oder John Forster Dulles dafür halten. Die Frage ist wichtiger als die nach dem Jüngerschen Oberförster< 142). Man muß für jede Epoche der letzten 1948 Jahre den katechon nennen können. Der Platz war niemals unbesetzt, sonst wären wir nicht mehr vorhanden.**143 Im Zeitalter der Nationalstaaten war das Reich undenkbar geworden, das fur das Mittelalter der katechon gewesen war. 1943 identifizierte Schmitt Hegel und Savigny mit dem katechon, weil beide sich der allgemeinen Technisierung und Funktionalisierung des Rechts entgegengestellt hätten144 - hier schon wanderte die Funktion des katechon weg aus dem Bereich der Politik und wurde im Bereich der Bildung lokalisiert - aber im Glossarium heißt es dann: *'Die römische Kirche ist historische Wirklichkeit; idealistisch gesehen 141 142 143 144
S.426ff.
Ebenda, S.22. Eine Anspielung auf Ernst Jüngers Marmorklippen. Schmitt:Glossarium, S.63. Schmitt: Die Lage der europäischen Rechtswissenschaft, in: Verfassungsrechtliche Aufsätze,
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eo ipso Untat. Sie ist der katechon\ das ist dann wohl der schlimmste Verbrecher."145 Idealistisch läßt sich hier natürlich auch vor dem Hintergrund der eschatologischen Ausrichtung der Theologie als theologisch lesen. Nur noch die Kirche wahrte die Kontinuität des römischen Reichs, damit historische Kontinuität überhaupt. Die Staaten aber, so Schmitt, müßten im Zusammenspiel mit der Kirche das gestalten, was von nun an an die Stelle des Reichs zu treten habe, weil es dem Prinzip der Nationalstaatlichkeit nicht widerspreche wie der Reichsgedanke: der Raum. So muß gegen Richard Faber hier noch einmal betont werden, daß bei Schmitt schlechthin keine Utopie zu finden ist, weder eine revolutionäre - was sich von selber versteht - noch eine konservativ-revolutionäre im Sinne der Wiederkehr eines goldenen Zeitalters, wenn Schmitt auch, und darauf stützt sich die Argumentation Fabers, seinen Aufsatz Der Reichshegriff im Völkerrecht 146 mit einem Zitat aus Vergils 4. Ekloge abgeschlossen hat: Ab integro nascitur ordo. Dieser Hinweis will aber nicht Hitler als einen Augustus feiern, sondern die Wende im Völkerrecht markieren, die Versaille aufhebt. Schmitt möchte hier ausschließlich juristisch argumentieren, denn es würde "uns von dem rein völkerrechtlichen Sinn und Ziel unserer Arbeit ablenken und die Gefahr endloser Zerredungen heraufbeschwören, wollten wir uns hier auf alle denkbaren geschichtsphilosophischen, theologischen und ähnlichen Deutungsmöglichkeiten einlassen, zu denen das Wort 'Reich' Veranlassung geben kann."147 Was Schmitt an dieser Stelle über den Reichsbegriff schreibt, muß auch auf das Vergilzitat übertragen werden. Das Zitat aus der 4. Ekloge Vergils kann man dann nur als entweder milde Ironie oder bewußte Irreführung verstehen, bedenkt man, daß dieser letzte Satz des gesamten Bandes in merkwürdiger Spannung steht zu dem ersten Satz aus Schmitts Vorwort von 1939 148 Aber Schmitt zitiert den Satz, ohne damit die politische Theologie Vergils von der Wiederkehr eines goldenen Zeitalters zu propagieren. Als dann Schmitt tatsächlich geschichtsphilosophisch die Dinge beleuchtet, ist von Vergil und vom Reich keine Rede mehr. Roma aeterna ist die römische Kirche, weder untergegangen noch wiederherzustellen, auch nicht zu erwarten, sondern vorhanden. Und diese Kirche im Zusammenspiel mit dem Staat ist der katechon. Der Glaube freilich, daß die Pforten der Unterwelt die Kirche nicht überwinden können, diesen Glauben hat Schmitt mit der Zeit scheinbar verloren. Hans Barion hat die Ursache hierfür in den Beschlüssen des II. Vatikanischen 145
Ders.: Glossarium, S.253. Ders.: Positionen und Begriffe, S.303ff. 147 Ebenda, S.305. 148 Dort heißt es: "Man kann, sagt Heraklit, nicht zweimal durch denselben Fluß gehen. So kann man auch nicht zweimal dieselbe Rede halten oder denselben Aufsatz schreiben.H (Schmitt: Positionen und Begriffe, Vorwort). 146
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Konzils gesehen: "Das Vaticanum II hat dem Elogium Schmitts (gemeint ist Römischer Katholizismus und politische Form\ Anm.M.E.) die Fundamente genommen".149 Man wird zugestehen müssen, daß das II. Vatikanum weniger den repräsentativen als vielmehr den sakramentalen Charakter der Kirche betont hat, d.h. das Verständnis der Kirche als sacramentum mundi und damit die Realpräsenz Christi in der Welt. Doch das dürfte der Grund für Schmitts letztendlich erfolgte Resignation nicht gewesen sein, denn auch das II. Vaticanum betonte die Stellung des Papstes, d.h. es beantwortete die Frage quis interpretabitur eindeutig. Barion versucht hier nur, in seinem Kampf gegen das Konzil Schmitt als einen Zeugen aufzurufen. Vielmehr dürfte durch die intensive Beschäftigung mit dem § 247 der Hegeischen Rechtsphilosophie in Schmitt der Verdacht gekeimt sein, daß das Land dem Meer nichts mehr entgegenzusetzen habe, daß die Insel im Chaos versinken werde. Darauf deuten zumindest die wiederholten Hinweise auf diesen Paragraphen hin. Es gibt wohl, und das gegen Taubes, keine wirklichen "Apokalyptiker von oben", es gibt nur entweder solche, die das Ende beschleunigen helfen wollen oder aber die vor der Apokalypse ängstlich Zurückschreckenden. Schmitt gehörte zu den Letzteren, doch die Permanenz des Schreckens im Angesicht der ständig erwarteten, permanent drohenden Apokalypse läßt sich nicht von jedem durchhalten, besonders dann nicht, wenn er sich, wie Schmitt nach 1945, als kaltgestellt betrachtet. Ihm war sozusagen die Teilnahme am Endkampf verboten worden. Wie hätte es aus seiner Sicht, da er doch als einziger seit Hegel glaubte, das arcanum zu kennen, dann noch eine Chance gegen die Revolution geben können? I) Römischer Katholizismus und politische Theologie Nach all dem muß jetzt aber noch einmal die Frage aufgegriffen werden, ob Schmitt ein politischer Theologe gewesen ist, oder ob es sich nicht vielmehr so verhält, daß der Katholizismus eine wie immer auch geartete politische Theologie ausschließt, weil er wesentlich gar nicht Theologie, sondern Repräsentation ist und alle Theologie, die sich nicht dem Lehramt unterwirft, als Bestreitung und Leugnung der Katholizität ansehen muß. Dieter Schellong hat Schmitt vorgeworfen, seine politische Theologie diene dem Interesse, Souveränität zu denken und zu rechtfertigen, sie diene jeglicher Macht, die an sich schon gegenüber der Anarchie gerechtfertigt werde. Sie gebe der FreundFeind-Unterscheidung den nötigen Ernst, "um im Bewußtsein die Notwendigkeit der unüberwindlichen Tiefe und Grundsätzlichkeit des Feindverhältnisses 149 Barion: "Weltgeschichtliche Machtform?" Eine Studie zur Politischen Theologie des II. Vatikanischen Konzils, in: Epirrhosis. Festgabe für Carl Schmitt, hrsg. von Barion/ Böckenförde/Forsthoff/Weber, Berlin 1968, S.19.
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aufrecht zu erhalten und zu pflegen.**150 So liefere sie schließlich die anthropologische Grundlage aller Machtpolitik, nämlich daß der Mensch als von Natur aus böse zu betrachten sei. Einen klar umrissenen Begriff der politischen Theologie habe Schmitt aber nicht erarbeitet. Anders Michele Nicoletti, der die politische Theologie Schmitts in dessen Frühschriften von vor 1918151 schon als im wesentlichen entfaltet vorzufinden glaubt: Die Wirklichkeit stehe für Schmitt hier "unter dem Zeichen des Dualismus, eines Dualismus von Form und tatsächlicher Befindlichkeit, von Sollen und Sein, von Außen und Innen"152, die Kirche und der Staat aber dienten der Überwindung dieses Bruchs, womit sie eine Parallele zu der Vermittlung bildeten, die in der Menschwerdung Christi schon vollzogen worden sei. "Politische Theologie steht von Anfang an nicht etwa für die Sakralisierung der Herrschaft oder die Politisierung der Religion, d.h. die Verflachung und Verdinglichung einer Dimension zugunsten der anderen, sondern vielmehr für die Vermittlung, die durch die Distanz der beiden Welten notwendig wird." 153 Auch Armin Adam betrachtet die Überwindung der Kluft zwischen Norm und Wirklichkeit als das Anliegen Carl Schmitts, die dieser durch Dezision zu überwinden suche.154 Schmitt argumentierte in dem Beitrag Recht und Macht für die Zeitschrift Summa 1917 tatsächlich dualistisch gegen eine bloß faktische Begründung des Rechts, weil andernfalls das Recht sich in reine Machttheorie auflöse. "Die Macht des Mörders gegenüber seinem Opfer und die Macht des Staates gegenüber dem Mörder sind für die Machttheorie nicht dem Wesen nach verschieden, sondern nur in ihrer durch eine historische Entwicklung bedingten äußerlichen Erscheinung, in ihrem Umfange, ihrem Eindruck auf die Masse der Menschen."155 Auch der Rechtspositivismus, gegen den Schmitts Argumentation hier gerichtet ist, strebe eine Differenzierung an, allerdings indem er das Spezifische des Staates gegenüber dem Mörder im rein Empirischen zu verorten suche. Gewöhnlich werde es mit der Billigung der Menschen bzw. der Mehrheit identifiziert. Diese Theorie vermöge aber nicht zu begründen und nicht zu rechtfertigen, sie könne allenfalls erklären} 56 Es stelle sich jedoch 150 Schellong: Carl Schmitt als Hobbes-Interpret. Überlegungen zum Begriff der Politischen Theologie, in: Berliner Theologische Zeitschrift Nr.l 1991, S.105. 151 Nicoletti bezieht sich hier auf die Schriften Über Schuld und Schuldarten (1910), Gesetz und Urteil (1912), Der Weit des Staates und die Bedeutung des Einzelnen (1914), Theodor Däublers "Nordlicht" (1916), Recht und Macht (1917), Die Sichtbarkeit der Kirche (1917-1918) und Die Buribunken (1917-1918). 152 Nicoletti: Die Ursprünge von Carl Schmitts "Politischer Theologie", in: Complexio Oppositorum, S. 110. 153 Ebenda, S.l 17. 154 Vgl. Adam. 155 Schmitt: Recht und Macht, in: Summa 1917, S.37. 156 Ebenda, S.39.
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nicht die Frage, ob Recht oder Macht in der Welt vorgehen, sondern Mob Tatsachen ein Recht zu begründen vermögen. Wird die Frage verneint, so ist der Gegensatz zweier Welten gegeben."157 Schmitt hat diese Frage verneint, weil er zum einen die Konsequenz für die Rechtswissenschaft scheute: "Das belebende Prinzip in der Welt des Rechts wäre nicht die juristische Argumentation in ihrer Richtigkeit, sondern der Wille des Staates in seiner konkreten Tatsächlichkeit."158 Schon hier wird also der Schmitts Denken charakterisierende Gegensatz von Legitimität und Legalität angesprochen. Darüber hinaus sind Schmitts folgende Hinweise entscheidend, daß die rein faktisch argumentierende Position auch gelegentlich und unterschwellig die Ebene der reinen Empirie verlasse, etwa wenn das Recht an die Billigung der "anständigen" Mehrheit gebunden159 oder die Macht auf Grund ihrer Dauer und damit geschichtlich gerechtfertigt werde.160 "Gelangt aber auch nur das schwächste Moment einer Bewertung in das Spezifikum des Rechts gegenüber der Macht, erscheint das Recht, gleichgültig von welchem Standpunkt aus, als bevorzugte Macht, so wird es qualitativ von der Macht unterschieden und ändert sein Wesen."161 Somit wäre auch für den Rechtspositivismus die Theologie das Schicksal. Das Recht, so die Konklusion Schmitts, könne nicht aus Tatsachen abgeleitet werden, auch dann nicht, wenn man diese Tatsachen mit höheren Weihen versehe: Weder das Meinen eines einzelnen noch das einer Mehrheit könne eine Norm begründen, die Quantität könne aus eigener Kraft niemals in eine neue Qualität umschlagen. Schmitt spricht m.E. schon hier das Problem der politischen Mythologie an, wenn er schreibt, daß die "psychologische Wirkung großer Räume und zeitlicher Ausdehnung, die Erhabenheit von Kolossalbauten (...) Beispiele solcher Darstellung der Qualität durch die Quantität" seien, womit aber im Wesen nichts geändert werde, "denn das Sinnlose kann nie in einen Sinn, das Wertfremde nie in einen Wert emporwachsen."162 Die Vermittlung zwischen Recht und Macht ist für Schmitt immer Theologie, im Zeitalter der Säkularisierung wird sie zur politischen Theologie. Von daher stellte sich Schmitt das Problem der politischen Theologie erst dann, nachdem ihn die politische Wirklichkeit im November 1918 eingeholt und er in der Folge seinen Begriff der Säkularisierung in seinem Buch über die politische Romantik entwickelt hatte. Es ist das Mißverständnis Erik Petersons gewesen, politische Theologie als monotheistische Theologie im Interesse der Herrschaftssicherung einzugrenzen, um sie dann vor dem Hintergrund des
157 158 159 160 161 162
Ebenda, S.40. Ebenda, S.41. Ebenda, S.39. Ebenda, S.42. Ebenda, S.42f. Ebenda, S.47.
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trinitarischen Dogmas zu "erledigen".163 Diese Ausschließung stellt selber schon ein politisches Phänomen dar und bestätigt Schmitt vielmehr.164 Hermann Lübbe wiederum grenzt den Begriff der politischen Theologie bei Schmitt auf eine andere Weise ein, er sei hier nur ein Begriff "für gewisse, analytisch erhebbare und dann historisch erklärbare strukturelle Analogien zwischen zentralen theologischen Begriffen einerseits und zentralen juristischen Begriffen andererseits".165 Hier aber tritt der zentrale Gegensatz zwischen Legitimität und Legalität nicht mehr in den Blick. Dieser Gegensatz ist der für das gesamte Denken Schmitts entscheidende, entsprechend auch für das Verständnis der politischen Theologie. Ernst-Wolfgang Böckenförde hat darauf hingewiesen, daß die ersten drei Kapitel aus Schmitts Schrift Politische Theologie in der Erinnerungsgabe für Max Weber 1922 erschienen sind166, was für Dieter Schellong angesichts der Auffassung Webers, Theologie und Politik sollten aus der Wissenschaft ausge163 Peterson: Der Monotheismus als politisches Problem, in: ders.: Theologische Traktate, München 1951, S.105. Ihm folgte Maier: Revolution und Kirche. Zur Frühgeschichte der christlichen Demokratie. München 1975. Nichtweiss hat Petersons Begriff der politischen Theologie wie folgt präzisiert: HEine 'politische Theologie' ist vom christlichen Glauben her insofern 'erledigt', als damit eine ausgebildete politische Theorie gemeint ist, die - offen oder verdeckt - konsequent und umfassend theologische Aussagen und Verheißungen, die auf die jetzt noch transzendente, endzeitliche Polis des kommenden Äons gerichtet sind, auf den alten Äon, das jetzige Saeculum bezieht, zur Rechtfertigung einer politischen Situation oder eines politischen Ziels in Dienst nimmt und damit häretisch die bis zur Wiederkunft des Menschensohnes auf den Wolken des Himmels bestehende 'Kluft' zwischen Himmel und Erde schließt. Doch der begriffliche Gegensatz zur 'politischen Theologie' im engeren Wortsinn lautet eben nicht 'unpolitische Theologie'. Laut Peterson hat die orthodoxe Theologie - selbst und gerade dort, wo sie sich scheinbar weitabgewandt mit scheinbar unpolitischen Themen wie der Trinität Gottes und der jenseitigen Welt befaßt - immer auch indirekt politische Implikationen, die nicht aus-, sondern einschließen, daß Christen vom Glauben aus politische Optionen treffen, politisch handeln und daß Kirche und Theologie zu politischen Fragen Stellung nehmen. Peterson hat das nicht nur gefordert, sondern selbst auch praktiziert, und insofern ist seine Theologie - jetzt im weiteren Wortsinne - auch eine 'politische' Theologie." (Nichtweiss: Erik Peterson. Neue Sicht auf Leben und Werk. Freiburg, Basel und Wien 1992, S.829) Die pauschale Formulierung Petersons aber gab Schmitt später die Gelegenheit, seine Auffassung noch einmal zu präzisieren (Politische Theologie II), ob nun in zutreffender oder unzutreffender Weise gegen Peterson, ist für unseren Zusammenhang sekundär. Schmitt unterscheidet jedenfalls nicht zwischen politischer Theologie in einem engeren und in einem weiteren Wortsinn, weil für ihn das, was politisch ist, sich nicht von einem politischen Ziel her definiert. Neben dem Diskurs Schmitt-Peterson versucht Nichtweiss aber auch noch, die Abhängigkeit Barths von Peterson aufzuzeigen. Dem Dreieck Peterson, Schmitt und Barth fehlt verständlicherweise in ihrem Peterson gewidmeten Buch die Hypotenuse, nämlich das Aufzeigen einer Verbindung Schmitt-Barth. 164 Vgl. hierzu auch Schmitt: Politische Theologie II. Die Legende von der Erledigung jeder Politischen Theologie. Berlin 1970, 2.Aufl. 1984. Gegen Peterson s.a. Koslowsky: Politischer Monotheismus oder Trinitätslehre? Zu Möglichkeit und Unmöglichkeit einer christlichen Politischen Theologie, in: Taubes: Der Fürst dieser Welt 165 Lübbe: Politische Theologie als Theologie repolitisierter Religion, in: Taubes: Der Fürst dieser Welt, S.47. 166 Hauptprobleme der Soziologie. Erinnerungsgabe für Max Weber, hrsg. von M. Palyi, Bd. 2, München und Leipzig 1922.
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schlossen werden, "nicht ohne Witz" ist.167 Der Witz liegt aber anderswo, als Schellong es vermutet. Eric Voegelin hat Max Weber in eine Reihe mit Marx, Nietzsche und Freud gestellt und darauf aufmerksam gemacht, daß alle, gleichwohl ihr Denken Parallelen aufweise, doch unvermittelt und nicht jeweils in der Sprache eines der anderen darstellbar seien. So sei auch diese Epoche nicht, wie etwa davor der Idealismus oder die Romantik, auf einen Begriff zu bringen, was für Voegelin unterstreicht, daß es sich um eine Zeit der Unordnung gehandelt haben muß; er betrachtet sie als eine Epoche, in der sich die Ideologien mit Absolutheitsanspruch gegenübergestanden hätten, eine Folge der Säkularisierung, die die christliche Religion zugunsten von politischen Religionen aufgelöst habe. In Weber kulminiere der Geist dieser Epoche. Er habe nämlich keine neue Religion gestiftet, sein Postulat einer wertfreien Wissenschaft, abgehoben von Glaubensfragen, stelle vielmehr den Versuch dar, eine den Revolutionären gemeinsame Ebene zu schaffen, auf der dann die Zeitfragen hätten pragmatisch gelöst werden können.168 Diesen Optimismus teilte Schmitt nicht mehr, seine Politische Theologie wollte den Nachweis nicht nur der Unmöglichkeit einer unpolitischen Theologie, sondern auch die Unmöglichkeit einer unpolitischen und damit untheologischen Wissenschaft erbringen. Um aber zu verhindern, daß die Theologie dem Relativismus anheimfiel, wie Max Weber ja forderte, indem er sie aus der Wissenschaft verbannte, mußte sie mit dem römischen Katholizismus verbunden und von ihm die höhere Weihe erfahren, die sie dann dem Geruch der Zufälligkeit und der Relativität entzog. Damit wurde sie aber entheologisiert, d.h. dem Prinzip der Repräsentation unterstellt! Das päpstliche Lehramt entlastet die Kirche von der Theologie. Theologie zu treiben ist immer ein protestantisches Unternehmen. Der Katholizismus war nun keine Sache mehr, für die der Politiker Verantwortung zu tragen hat je nach seinem persönlichen Glauben bzw. seiner persönlichen Überzeugung, sondern er gab der politischen Macht ihren Auftrag und ihre Idee, nämlich katechon zu sein. Was Weber in der Sicht Voegelins dadurch entschärfen wollte, daß er es auf einer pragmatischen Ebene ansiedelte, ist von Schmitt wieder auf die Ebene des Grundsätzlichen zurückverlagert worden. Karl Barth dagegen, das soll im folgenden gezeigt werden, steht in der Tradition Webers, wie sie Eric Voegelin skizziert hat.
167
Schellong: Carl Schmitt als Hobbes-Interpret, S.94. Voegelin: Die Größe Max Webers, in: ders.: Ordnung, Bewußtsein, Geschichte. Späte Schriften - eine Auswahl, hrsg. von Peter J. Opitz, Stuttgart 1988. 168
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2. Neuzeitliche Herausforderungen der Theologie a) Das Problem der Datierung der Epochenschwelle aus protestantischer Sicht Die Schematisierung der Geschichte in Zeitalter und Epochen ist kein modernes, sondern ein die Geschichtsschreibung begleitendes, ihr sogar vorausgegangenes Unternehmen, bedenkt man, daß schon die Mythologie die Abfolge von Zeitaltern kannte. Damit soll nicht gesagt sein, daß alle Geschichtsschreibung periodisiere. Voltaire, Gibbon und Ranke, um nur einige zu nennen, und nicht zuletzt Jacob Burckhardt haben darauf verzichtet. Die Periodisierung der Geschichte ist denn auch weniger durch die reine, deskriptive Geschichtsschreibung erfolgt als vielmehr durch die Geschichtsphilosophie, denn sie geschieht immer vor dem Hintergrund eines Dogmas oder eines zeitgenössischen Interesses. So ist dem Hinweis H. Günthers sicher zuzustimmen, wenn er schreibt: "Genauere Untersuchungen der ökonomischen und sozialen Geschichte einzelner Regionen lassen allgemeine Grenzziehungen für historische Perioden als nicht sachgemäß erscheinen."1 Aber hier soll nicht eine historische, sondern eine geistesgeschichtliche Grenzziehung diskutiert werden, so daß von regionalen Unterschieden durchaus abstrahiert werden kann. Grenzziehungen werden in der Regel geistesgeschichtlich begründet. Die Schwierigkeit besteht dann darin, diese Grenzziehungen nicht auch als historische zu betrachten, eine Versuchung, der oft nachgegeben wird, freilich mit zweifelhaften Ergebnissen. Die Einteilung in Altertum (Antike), Mittelalter und Neuzeit ist heute allgemein gebräuchlich, wohl aber wird kontrovers diskutiert, und das besonders innerhalb der protestantischen Theologie, wie die letzte Epochenschwelle, also der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, zu datieren sei. Je nachdem, wann man die Neuzeit beginnen läßt, beurteilt man die Bedeutung der Reformation verschieden: Hat sie mit ihrem Anliegen heute noch Aktualität, oder stellt sie ein längst überholtes, wenn auch notwendiges Stadium dar, das nur noch von historischem Interesse ist? Damit ist die zentrale Kontroverse der protestantischen Theologie unseres Jahrhunderts genannt, deren Hintergrund ein dogmatischer ist und deren Protagonisten Karl Barth und Ernst Troeltsch gewesen sind. Unabhängig von dieser Kontroverse lassen andere die Neuzeit ohne Berücksichtigung der Reformation beginnen. Im Evangelischen Kirchenlexikon datiert Ernst Kupisch den Beginn der Neuzeit mit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges, also mit dem Datum des Westfälischen Friedens von 1648, und versteht diese Datierung nicht als eine geistesgeschichtliche 1
HWP B.5, Basel und Stuttgart, S. 794.
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Grenzziehung. MNach der schulmäßigen Gliederung der Geschichte umfaßt die N.(euzeit) den Abschnitt von 1648 bis zur Gegenwart und ist als Bezeichnung nicht mehr als ein ganz äußerliches, so verstanden aber durchaus brauchbares Hilfsmittel. Die inhaltliche Bestimmung begegnet bei einem Zeitraum von 300 Jahren bewegtester Geschichte natürlich mancherlei Schwierigkeiten, die mit dem Problem der historischen Periodisierung überhaupt zusammenhängen. Dennoch sind einige allgemeine, für den ganzen Verlauf charakteristische Leitbilder feststellbar. Im Vergleich zu der vorangegangenen Periode (Kupisch nennt hier Reformation und Gegenreformation; Anm. M.E.), die noch ein einigermaßen geschlossenes Gefüge darstellt, bringt die N.(euzeit) schrittweise die Auflösung der Bindungen und Bürgschaften, die im Denken und Glauben der Menschen bisher Natur und Geschichte gleich unzerbrechlichen Sicherungen in einer göttlichen Ordnung zusammenhielten."2 Abgesehen davon, daß die Entscheidung für das Jahr 1648 nicht nachvollziehbar begründet wird denn auf Grund der Argumentation könnte man die Neuzeit auch mit dem Investiturstreit oder sogar noch früher beginnen lassen - wird die Frage der Datierung als eine rein schulmäßige, d.h. aber beliebige begriffen und nicht als eine kontrovers-dogmatische. Es wird zwar anerkannt, daß historisch die Periodisierung unsinnig sei, in einem weiteren Schritt wird sie aber doch vollzogen, ohne daß sie dann noch etwas aussagen würde. Das Dilemma des Festhaltens an einer rein historisch orientierten Periodisierung wird hier deutlich. Die "schulmäßige" Gliederung hat keinen Erkenntniswert, sie dient allenfalls, wie es das Attribut "schulmäßig" ja auch schon suggeriert, als Methode schnellerer Aneignung des systematisch nicht geordneten historischen Materials. Kupischs Datierungsvorschlag kommt aber der Datierung der katholischen Geschichtsschreibung nahe, denn dem katholischen historischen Denken muß die Frage, ob die Neuzeit mit der Reformation begonnen habe, von Hause aus fremd sein, stellt für sie die Reformation doch nur eine Ketzerbewegung neben vielen anderen davor und danach dar. Die Reformation als den Beginn der Neuzeit anzunehmen hieße, sie auf- und damit überzubewerten. Es liegt nun nahe, dem Katholizismus statt einer dogmatischen eine politische Begründung für seine Datierung zu unterstellen, etwa das Zerbrechen der Kirche-ReichKorrelation, wie es die Romantik getan hat, aber ungeachtet dessen, daß sich auch dann viel zu viele Daten anbieten würden, trifft das nicht den Kern katholischen Denkens, dessen Begründung eine juristische ist. Nach kanonischem Recht waren Ketzer nach erfolgter kirchlicher Verurteilung dem weltlichen Gericht zu übergeben, weltliche Obrigkeit aber, welche die Ketzerbestrafung verweigerte, war vom zuständigen Bischof zu exkom2
EvKL, Göttingen 1958, Sp.1573.
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munizieren. Nach einem Jahr Pflichtverletzung konnte dann der Papst die Untertanen der betreffenden Obrigkeit vom Treueid entbinden und die Besitzungen den anderen katholischen Mächten zur Eroberung freigeben (laut den Dekretalen Gregors IX). 3 Nun war bereits auf dem Reichstag zu Worms 1521 von diesem Recht abgewichen worden, aber erst auf dem Reichstag des Jahres 1566 erfolgte die juristische Anerkennung dieser Tatsache durch die Kirche, und zwar im Zusammenhang mit der Anerkennung des Augsburger Religionsfriedens und der aus der Not geborenen Kompromißformel cuius regio eius religio. "Es gibt", so schreibt der katholische Kirchenhistoriker Konrad Repgen, "Situationen, in denen nicht Taten, sondern die Unterlassungen zählen. Das war 1566 der Fall. In der Theorie hatte Rom nichts preisgegeben. Aber das Papsttum widersprach de iure auch nicht der reichsgesetzlichen Konsequenz der Glaubensspaltung in Deutschland, der paritätischen Reichsstruktur und dem durch den geistlichen Vorbehalt zugunsten des Katholizismus durchbrochenen Prinzip des territorialherrlichen Bekenntniszwanges."4 Das sei der Durchbruch des neuen Geistes gewesen, so Repgen, und er äußert abschließend: "Diese Tat Commendones (des päpstlichen Reichtagslegaten, der maßgeblich für die Annahme der Kompromißformel verantwortlich war; Anm. M.E.) war aus der Situation geboren; und sie galt für die Situation. De facto hieß es, daß der römischen Kirche ihre religiöse Aufgabe wichtiger sei als die Behauptung alter Rechtsansprüche" - hier muß freilich Einspruch erhoben werden, daß nämlich eine eklatante Mißachtung alten römischen Rechts, nämlich des Grundsatzes pacta sunt servanda, so kaschiert und damit das Einhalten von Verträgen als von Situationen abhängig betrachtet wird -; Repgen schreibt weiter: "Das war sehr 'modern' gedacht, aber ganz 'mittelalterlich1 war doch, daß man aus dieser Situation nicht die Konsequenz zog, die theoretische Begründung für ein neues Verhältnis von Staat und Kirche zu suchen. In diesem widerspruchsvollen 'Sowohl-Als auch* liegt ein gut Teil der Papst- und Kirchengeschichte der kommenden Jahrhunderte beschlossen - bis auf den heutigen Tag."5 Dagegen habe ich im Zusammenhang mit Carl Schmitt aufzuzeigen versucht, daß diese Haltung der Kirche durchaus konsequent war im Interesse ihrer Machterhaltung, woran anscheinend Commendone mehr lag als Paul IV, der 1566 zunächst noch mit wehenden Fahnen untergehen wollte. Man wird im Sinne Schmitts sogar sagen können, daß hier jenes Prinzip geboren wurde, das er am Anfang seines Buches über den römischen Katholizismus als die Ursache des antirömischen Affektes ausfindig gemacht zu haben glaubte, daß nämlich die Kirche im Interesse ihres Machterhaltes bereit sei, sich mit den 3 Vgl. Repgen: Von der Reformation zur Gegenwart. Beiträge zu Grundfragen der neuzeitlichen Geschichte. Hrsg. v. Gotto/Hockerts, Paderborn, München, Wien u. Zürich 1988. 4 Ebenda, S.23. 5 Ebenda, S.24.
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unterschiedlichsten und einander sogar feindlich gegenüberstehenden Kräften und Mächten zu verbünden. Jedenfalls, so läßt sich aus den Darstellungen Repgens folgern, wird der Beginn der Neuzeit mit einer Entscheidung der Kurie gleichgesetzt, in einer bestimmten Situation diese als eine rechtsbeugende anerkannt zu haben, ein bis dahin tatsächlich unerhörter Vorgang. Auf protestantischer Seite ist man sich in der Datierung nicht sicher. Man will an einer historisch orientierten Periodisierung festhalten, möchte die Reformation nicht abwerten, traut sich aber auch nicht, sie als die Epochenschwelle zu bezeichnen. M. Schmidt schreibt in der dritten Auflage von Religion in Geschichte und Gegenwart: HDie N(euzeit) in der abendländischen KG (Kirchengeschichte; Anm. M.E.) beginnt insofern mit der Reformation, als die Wiederentdeckung der evangelischen Botschaft durch Luther im strengen Sinne eine Epoche bedeutet, gekennzeichnet durch Tiefe der Problemstellung, Kraft der Gestaltung, Reichtum der entbundenen Energien, Unerbittlichkeit der Polemik, d.h. Klarheit des Gedankens und Entschiedenheit der Überzeugung.M Auch wenn diese Sätze weniger klar sind im Aussprechen dessen, was gemeint ist, wird die Reformation doch in ihrer aktuellen Bedeutung gewürdigt: "Der Wiedergewinn der ursprünglichen Wahrheit als bleibende, für jede Generation neue Aufgabe hat seitdem stärker als zuvor die KG bestimmt, so daß sie weit weniger Geschichte der Institutionen und des Rechts als Geschichte der geistigen Auseinandersetzungen geworden ist." Ernst Troeltsch, der die Reformation noch dem "supranatural bestimmten Mittelalter" zugerechnet habe, verkenne die "eigentliche Dynamik der Kirchengeschichte, deren Bewegungsgesetz das Evangelium" sei. Trotzdem wird auch von Schmidt im weiteren Verlauf der Darstellung die Zeit von 1650 bis 1700 als eigentlicher Beginn der Neuzeit auf Grund der fortschreitenden Säkularisierung des öffentlichen Lebens, der Privatisierung des Christentums, der Trennung von Kirche und Staat und der Gewährung unbeschränkter Religionsfreiheit bezeichnet.6 Aber Schmidt betrachtet die Reformation auschließlich kirchengeschichtlich und ordnet der Neuzeit Geschehnisse und Tendenzen zu, die nicht so ohne weiteres auf den von ihm genannten Zeitraum beziehbar sind, etwa die von ihm genannte Trennung von Kirche und Staat. Hier stellt sich also auch die gleiche Schwierigkeit ein, die sich immer dann ergibt, wenn eine rein historisch begründete Periodisierung durchgeführt wird. Eindeutig scheint dagegen die Bestimmung der Epochenschwelle dann zu gelingen, wenn die Geschichte wie bei Ernst Troeltsch und dem in seiner Tradition stehenden Trutz Rendtorff aus der liberalen Perspektive betrachtet wird. Die Neuzeit mit der Aufklärung beginnen zu lassen heißt, sie mit der als Autonomie des Menschen verstandenen Freiheit und deren gesellschaftlicher 6
RGG 3. Aufl. 1960, Sp. 1443.
2. Neuzeitliche Herausforderungen der Theologie
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Durchsetzung zu verknüpfen. Aber auch hier stellen sich Probleme ein. Hand in Hand mit dieser Auffassung geht die Relativierung des Dogmas, überhaupt die Leugnung zeitloser Wahrheit außer der einen, daß die Menschheitsgeschichte als ein Prozeß der Realisierung von Freiheit anzusehen sei. NDer entscheidende Anstoß zu einer Historisierung des Reformationsbegriffs ist (...) vom Geschichtsdenken der Aufklärung ausgegangen. Ihr Einbruch in die lutherische Theologie des 18. Jahrhunderts hat einer 'dynamisch-geschichtlichen Auffassung' der Reformation den Boden bereitet, die in scharfem Gegensatz zu der 'älteren dogmatischen Auffassung' stand. Für den kritischen Aufklärungstheologen ist die Reformation kein singuläres Heilsereignis mehr, sondern eine Etappe im geistigen und religiösen Fortschritt der Menschheit. Sie ist der mächtige Auftakt einer Kirchenbesserung, die als solche nie abgeschlossen, sondern ad infinitum fortfuhrungsbedürftig ist. Sie bleibt das große, stets aktuelle Beispiel für den Protest gegen jegliche Form von 'kirchlicher sclaverey', unter deren Joch auch noch die lutherische Orthodoxie die menschliche Urteilskraft beugen wollte. Als Eingangsstufe des mit innerer Notwendigkeit fortschreitenden Prozesses des 'Vernünftigwerdens der Wirklichkeit' fügt sich die Reformation in den Zukunftsentwurf eines rationalen Idealzustandes der Welt."7 Vor diesem Hintergrund werden dann die Reformation und auch die Schriften des Alten und Neuen Testaments historischkritisch untersucht, inwiefern sie diesen Prozeß unterstützen und ob sie Hinweise darauf geben können, wie der Mensch seine Freiheit gebrauchen soll. Die Theologie wird m.a.W. in Ethik verwandelt. Neben dem theologischen Einspruch, der an anderer Stelle thematisiert werden wird, sind an dieser Stelle noch zwei weitere Einwände zu machen, die zunächst nicht so sehr die Identifikation der Neuzeit mit der Aufklärung betreffen, sondern vielmehr auf das Vertrauen in die Aufklärung zielen: Zum einen wird die Dialektik der Aufldärurig nicht angemessen berücksichtigt, zum anderen handelt es sich überhaupt um Geschichtsschreibung von Siegern, deren Sieg nicht vollständig und zudem noch permanent gefährdet ist. Andererseits wäre es falsch zu unterstellen, die Dialektik der Außlärung habe gar keine Berücksichtigung bei den Liberalen gefunden. Dieser Dialektik soll aber nach Rendtorff ausgerechnet mit dem begegnet werden, was die Aufklärung als zentrales Ziel ihrer Angriffe gewählt hatte, nämlich mit der Religion. Rendtorff geht von folgenden Prämissen aus, die auch gleichzeitig die Prämissen der Aufklärung seien: "Daß die Welt des Menschen das Resultat eines praktischen Prozesses sei und nicht Schöpfung Gottes. - Daß diese Welt als praktischer Prozeß darum allein
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Skalweit: Der Beginn der Neuzeit. Darmstadt 1982, S. 80. Skalweit ordnet der Neuzeit vier Begriffe bzw. Ereignisse zu: Renaissance, Zeitalter der Entdeckungen, Reformation und schließlich den modernen Staat.
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den Menschen zu ihrem Subjekt habe und nicht etwa Gott."8 Nim habe sich aber im Verlauf der Geschichte gezeigt, daß dieses Subjekt drohe, verlorenzugehen, mehr noch, "daß kein bestimmtes selbstverantwortliches Subjekt mehr angegeben werden kann (...). Die Welt, die als Resultat eines praktischen Prozesses menschlichen Handelns sich entwickelt hat, hat im Vergleich zu einer planenden Absicht des Menschen durch und durch kontingenten Charakter. Es gibt, grob gesprochen, niemanden, der den Gesamtzustand der Welt, wie wir ihn heute erfahren, gewollt hat. Es gibt viele einzelne Pläne und Planungen. Das Ganze dagegen ist kontingent."9 Soll aber die Prämisse der Aufklärung, daß dieser Prozeß den Menschen zum Subjekt habe, aufrecht erhalten und damit das Scheitern der Aufklärung verhindert werden, dann bedürfe es der Religion als Selbstbeschränkung des aufgeklärten Menschen. Rendtorff sieht selber ein, wie problematisch dieses Unterfangen ist: "Nun ist es offenkundig, daß aus Gründen der Aufklärung eine solche Religion zwar postuliert, aber nicht hervorgebracht werden kann."10 So erschöpft sich denn auch seine Argumentation in dem Verweis darauf, daß sich niemand selber das Leben geben könne, ein Rekurs auf Schleiermachers berühmte Formel, Gott sei identisch mit dem Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit, das Hegel schon so pointiert hat, daß dann der Hund verdiene, der beste Christ genannt zu werden. Daß dieses Leben zudem als ein geschenktes zu betrachten sei, wie Rendtorff seine Ethik begründet, unterschlägt, daß das Leben auch als ein ins Dasein geworfenes betrachtet worden ist, auch das ist ein durchaus neuzeitliches Thema. Die Nichtbeachtung des die Aufklärung begleitenden Widerspruchs, nicht einmal des der Aufklärung immanenten Widerspruchs gegenüber dem Postulat der Freiheit, zeigt weiterhin, daß es sich um Geschichtsbetrachtung von Siegern handelt, deren Sieg nicht vollständig war und die sich, wie gezeigt, in ihrer Haut auch gar nicht mehr wohl fühlen. Denn von Baron d'Holbach, der den Menschen ausschließlich als Materie und Bewegung verstanden hat, bis hin zu Sigmund Freud, des radikalsten Verneiners des freien Willens, zieht sich ein Strang des Determinismus durch die Aufklärung, der in dem Satz gipfelt, daß die Freiheit nichts anderes sei als die Einsicht in die Notwendigkeit. Es wird also unterschlagen, daß die Geschichte der Aufklärung die Geschichte mindestens einer Kontroverse ist. Es führt also auch zu keiner Klarheit, die Periodisierung geistesgeschichtlich zu begründen, wenn die Geistesgeschichte nicht als Geschichte von Kontroversen verstanden wird, die qualitative Sprünge aufweist. Diese qualitativen Sprünge markieren die Epochenschwellen, ein solcher Sprung steht auch für den Beginn der Neuzeit. Darum kann diese Epochenschwelle nicht mit einem historischen Ereignis 9 Rendtorff: Religion "nach" der Aufklärung. Argumentation für eine Neubestimmung des Religionsbegriffs, in: ders. (Hrsg.), Religion als Problem der Aufklärung. Göttingen 1980, S.187. 9 Ebenda, S.188f. 10 Ebenda, S.191.
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gleichgesetzt werden, auch nicht mit einem Namen oder einem historischen Geschehen wie dem der Reformation, wenn nicht gleichzeitig die neue Qualität der Auseinandersetzung benannt werden kann. Diese Bedingung erfüllt m.E. aber die Kontroverse Luthers mit Erasmus von Rotterdam über den freien Willen, denn hier ist das entscheidende Thema angesprochen worden, das die Neuzeit bewegt hat wie kein zweites und das die sich gegenüberstehenden Lager bis heute formiert. 11 Dieser Streit berührt auch die Frage nach der Legitimität der Neuzeit. Hans Blumenberg hat den Beginn der Neuzeit mit der Nötigung des Menschen zur Selbstbehauptung angesichts des sich mit dem Nominalismus durchsetzenden voluntaristischen Gottesbildes identifiziert. 12 Für Blumenberg steht aber der "Weltverlust", den er auch als OrdnungsschwundM begreift, im Vordergrund, der ihn eine direkte Linie von Ockham zu Descartes ziehen läßt. Die Auseinandersetzung zwischen Luther und Erasmus stellte dann nur noch einen Punkt dieser Linie dar, m.E. aber keinen beliebigen. So sehr nämlich Luther die Freiheit Gottes betont, und zwar so, daß er Gott zum alleinigen Subjekt der Freiheit erhebt und damit in der Tradition des Nominalismus steht, so sehr wird die nominalistische Position aber auch modifiziert, indem Freiheit jetzt nicht mehr als Willkür, sondern als Selbstbestimmung Gottes begriffen wird, die sich in der Offenbarung dem Menschen kundtue. Damit wird die Legitimität der Neuzeit mit dem Evangelium konfrontiert. Im Sinne Blumenbergs steht Luther diesseits der Grenze zum Mittelalter. b) Vernunft
und/oder Freiheit Gottes
Für Hegel begann mit der Reformation eine Epoche, in der der Weltgeist dazu gekommen sei, "das Sinnliche als Sinnliches, das Äußerliche als Äußerliches zu wissen, in dem Endlichen auf endliche Weise sich zu betätigen und eben in dieser Tätigkeit als gleichgültige, berechtigte Subjektivität bei sich selbst zu sein."13 Und an anderer Stelle würdigt er die Reformation wie folgt: M Dies ist der wesentliche Inhalt der Reformation; der Mensch ist durch sich selbst bestimmt, frei zu sein.M14 Die Freiheit, die hier gefeiert wird, ist alles 11 Auch wenn es sich hier um die Neuauflage eines alten Streites handelt, den Augustinus mit Pelagius schon zu Beginn des Mittelalters ausgefochten hatte. Dieser Streit bildete aber keinen Abschnitt im Prozeß der Säkularisierung, d.h. es ging hier noch nicht um die Übertragung eines Gottesattributes auf den Menschen. Pelagius (Anfang des 5. Jahrhunderts) verwarf die Lehre von der Erbsünde, verstand zunächst die Freiheit des Menschen als geschaffene Freiheit, dann aber auch als Autonomie. Daher genüge dem Menschen das Gesetz Gottes, die Gnade wird demgeenüber relativiert. Der Pelagianismus ist von der Kirche schon im 5. Jahrhundert als Häresie verurteilt worden, noch einmal auf dem Tridentinum (1545-1563). 12 Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. 2. Aufl., Frankfurt am Main 1988. 13 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Frankfurt am Main 1986, S.492. 14 Ebenda, S.497.
7 Eichhorn
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andere als Geborgenheit, sondern beinhaltet auch den Aspekt der Verlassenheit - Nietzsches Vergleich des freien Menschen mit dem Rauch, der in immer höhere und damit kältere Regionen steigt, ist hier schon angesprochen15 - und diese Freiheit ist nicht nur begrüßt worden. Die erste Szene in Luis Bunuels Film Le Fantom de la Liberté (dt. Das Gespenst der Freiheit, 1974) stellt die Dramatisierung des berühmten Gemäldes Der 3. Mai 1808 in Madrid: Die Erschießung der Aufständischen von Francisco Goya dar. Muß zum Verständnis dieses Bildes auch sein Gegenstück Der 2. Mai 1808 in Madrid: Der Kampf gegen die Mamelucken (beide Gemälde 1814) in die Betrachtung mit einbezogen werden und läßt sich dann eine sehr differenzierte Haltung Goyas gegenüber den Ereignissen behaupten16, so ist die Interpretation der Filmszene eindeutig, wenngleich sie auch in eine andere Richtung zielt. Die zum Tode Verurteilten, die herausgeführt werden und vor dem Peloton zum stehen kommen, bekennen kurz vor dem Feuerbefehl noch einmal ihre tiefste Überzeugung mit den Worten: Nieder mit der Freiheit! Bunuel bedient sich hier aber weniger des surrealistischen Stilmittels der Opposition gegenüber der Erwartung, als daß er vielmehr ein historisches Geschehen dokumentiert, wie er selber schreibt: Hdie Szene geht auf eine wahre Begebenheit zurück: das spanische Volk schrie bei der Rückkehr der Bourbonen, aus Haß auf die liberalen Ideen, die durch Napoleon ins Land gekommen waren, wirklich: 'Es leben die Ketten'!"17Der Kampf der spanischen Guerilla gegen die napoleonischen Unterdrücker wäre somit ein Kampf gegen die Freiheit gewesen. Daß es sich bei dem Aufstand der Spanier um den Kampf eines katholisch geprägten Volkes gegen die Revolution gehandelt hat, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß hier politisch auch zum Ausdruck kam, was schon Luther mit Erasmus von Rotterdam theologisch kontrovers diskutiert hatte. Es darf auch nicht unterstellt werden, die Spanier hätten gegen die Franzosen für ihre eigene Freiheit gekämpft, was der Hinweis Bunuels verbietet. Vielmehr könnte im Sinne Carl Schmitts gesagt werden, daß das katholische Volk Spaniens intuitiv erkannt hatte, daß die Freiheit der Franzosen eine Ursupation darstellte, und es war nicht bereit, den Preis für die Freiheit zu bezahlen, der in Hegels Worten bereits anklang. Es ist gesagt worden, daß die Auseinandersetzung Luthers mit Erasmus über den freien Willen die Fortsetzung einer Kontroverse darstellte und gleichzeitig einen qualitativen Sprung bedeutete. Mit dieser fortgesetzten Kontroverse ist die nach dem Tode des Thomas von Aquin im Jahre 1274 einset15 Nietzsche: Vereinsamt, in: Sämtliche Werke (Götzendämmerung. Der Antichrist. Ecce homo. Gedichte.) Stuttgart 1978, S.478. 16 Vgl. hierzu Burkhardt: "... und werden zu wilden Tieren" - Francisco Goya und die spanische Erhebung gegen Napoleon, in: Münkler: Der Partisan. Theorie, Strategie, Gestalt. Opladen 1990. 17 Bunuel: Mein letzter Seufzer. Erinnerungen, Frankfurt am Main 1987, S.241.
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zende Auseinandersetzung über die Frage gemeint, ob der Wille Gottes als gebunden oder als frei zu denken sei. Tatsächlich setzte diese Kontroverse schon zu Lebzeiten des Aquinaten ein, namentlich an der Universität zu Paris. Dort versuchten unter der Führung des Siger von Brabant einige junge Theologen, das Schwergewicht von der Theologie auf die Philosophie zu rücken, auch wenn sie dies in Disputationen mit dem aus diesem Grunde erneut an die Universität von Paris berufenen Thomas leugneten. Die Frage, ob der Wille Gottes als frei oder als gebunden angenommen werden soll, wurde zunächst noch verdeckt und überlagert von der Frage, ob etwas wissenschaftlich-philosophischrichtigsein könne, obgleich es gleichzeitig theologisch falsch sei. Damit brach auseinander, was Thomas von Aquin in seinem theologischen System zu synthetisieren versucht hatte, nämlich die Einheit von Theologie und Philosophie unter dem Primat des Glaubens. Die Wiederentdeckung des Aristoteles hatte dazu gefuhrt, daß die platonisch-augustinische Weltsicht von einer die Welt bejahenden, sie als Schöpfung und materia der sakramentlichen Mysterien verstehenden Betrachtung abgelöst wurde. Insbesondere das aristotelische Prinzip der Entelechie , in Zusammenhang gebracht mit dem biblischen Schöpfungsglauben, bot die Möglichkeit, der nicht endgültig überwundenen marcionitischen Versuchung, d.h. der Trennung von Erlösung und Schöpfung und der damit verbundenen Unterscheidung eines Demiurgen von einem Erlösergott, zu begegnen. Wird die Welt als Schöpfung Gottes begriffen, zudem noch als zweckmäßig eingerichtet, kann die Erforschung der Welt zu keinem Ergebnis fuhren, das nicht mit dem Glauben vereinbar wäre. Die analogia entis, die Barth später als eine Erfindung des Antichristen bezeichnen wird 18, beinhaltete die Versöhnung von Glaube und Wissen, Theologie und Philosophie. Die Quintessenz lautet also, daß der Mensch mit Hilfe seiner Vernunft in der Lage sei, die dem Glauben zugrundeliegenden und ihn stiftenden Heilsereignisse mit zwingenden Gründen einsichtig zu machen. Dies ist der zunächst von Anselm von Canterbury initiierte Gedanke, der dann von Thomas aufgegriffen und vollendet worden ist. Josef Pieper hat den weiteren Gedankengang wie folgt beschrieben: "Fragt man also: Unter welcher Voraussetzung (außer der im Glauben angenommenen Offenbarungswahrheit) kann die anselmsche Argumentation überhaupt Gültigkeit beanspruchen? - so ist zu antworten: unter der doppelten Voraussetzung, daß - erstens - alles, was Gott tut, vernünftig sein muß, und daß - zweitens - der Mensch, genauer gesagt, der gläubige Mensch, diese Vernünftigkeit seinerseits zu erkennen und nachzuprüfen vermag. Von diesem Gedanken Anselms aber ist es kaum einen Schritt weit zu dem anderen Gedanken: daß Gott genötigt ist und nicht anders kann, als etwas 18
Barth: KD 1,1, S. VIII.
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Bestimmtes, nämlich das jeweils Vernünftigste zu tun, dessen Vernünftigkeit dann auch der Vernunft des (gläubigen) Menschen einsichtig werden kann; und daß also von dem Höchstmaß der Vernünftigkeit auf die tatsächliche Gültigkeit oder vielmehr auf die Realität eines Sachverhaltes geschlossen werden darf; daß demnach, kurz gesagt, alles, was ist, so sein muß, wie es ist. Ml9 Unschwer ist zu erkennen, wie sich das neuzeitliche Verständnis der Freiheit als einer Einsicht in die Notwendigkeit embryonal schon hier bemerkbar macht und wie es auch jetzt schon an einen keimenden Materialismus gebunden ist. Pieper bezeichnet es als Notwendigkeitsdenken. Diesem Denken tritt als erster der Franziskaner Duns Scotus entgegen, der gegenüber der Vernünftigkeit Gottes dessen Freiheit vertritt, als eine keiner Notwendigkeit und auch Vernunft unterliegenden Macht Gottes. Weil Gott frei sei in seinem Wirken, sowohl was sein schaffendes als auch sein heilbringendes Wirken angehe, habe dies den Charakter des von Grund auf NichtNotwendigen und damit Kontingenten, es verschließe sich geradezu aller menschlichen Vernunft. Damit wurde dem Notwendigkeitsdenken ein voluntaristisches Gottesbild gegenübergestellt, das von Wilhelm von Ockham noch radikalisiert worden ist. Hatte nämlich Duns Scotus noch auf der Seite der Theologie und im Interesse ihres Primates in den Streit eingegriffen, beendet Ockham diese Auseinandersetzung und damit das Mittelalter. Herfried Münkler schreibt über Ockham: "Mit der Akzentuierung des göttlichen Willens zu Lasten der Vernunft und der Betonung der göttlichen Allmacht zu Lasten der in der Natur wirkenden Gesetze in Ockhams Philosophie zerbrachen die tragenden Synthesen des Mittelalters. Ockham, dessen nominalistische Philosophie in einzigartiger Konsequenz die voluntaristische über die intellektualistische Komponente des mittelalterlichen Gottesbildes stellte, gab damit den Weg frei für die Autonomisierung einer von der Herrschaft der Theologie emanzipierten Vernunft und für die wissenschaftliche Erforschung einer Natur, die allein aus sich selbst und nicht mehr durch die begleitende Kausalität Gottes Bestand hatte."20 Münkler nennt an dieser Stelle aber nur den einen Strang, der von Ockham ausgeht, nämlich die naturwissenschaftliche Vorbereitung der Aufklärung und des Materialismus. Die metaphysische Debatte um die Freiheit war aber auch noch nicht beendet. Der Streit ging nur jetzt nicht mehr um die Frage, ob Gottes Wille als frei oder als gebunden gedacht werden müsse, sondern ob Gott oder Mensch als Subjekt der Freiheit angenommen werden sollen - d.h. aber schließlich, ob der Wille des Menschen als frei oder als gebunden zu 19
Pieper: Scholastik. Gestalten und Probleme der mittelalterlichen Philosophie, München 1986,
S.187Ì 2 0 Münkler: Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, Frankfurt am Main 1982, S.62f.
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denken sei. Diese Auseinandersetzung geht noch tiefer als die schon mit großer Schärfe geführte scholastische Debatte. Hier schickte sich der Mensch selber an, den Platz Gottes einzunehmen, was Erasmus sicher nicht bewußt war. Der Mensch beansprucht, die Welt nun selbst zu gestalten, der "Wille zur Gestalt" kommt jetzt zum Durchbruch: "Der entscheidende geistige Umbruch im Abendlande", so Stephan Popov, "geschah nicht aus einer Antithese des alten und des neuen Lebensprinzips, sondern trägt eher den Charakter einer kontinuierlichen Akzentverlagerung. (...) Der abendländische Wille sieht seine Aufgabe in der menschlichen Setzung einer neuen Ordnung, aus der heraus das Dasein Sinn, Linie und Rückhalt erhält; das abendländische Wissen folgt nicht mehr ideellen Erkenntnisaufgaben, sondern setzt sich die Errichtung der menschlichen Kultur über die Natur zum Ziel. So wird das Problem des 'irdischen Reiches' ihm zum Hauptanliegen seines politischen Tuns. Nunmehr heißt das Grundübel nicht Sünde, sondern Irrtum, und das Grundverbrechen Verrat an der irdischen, nicht Abfall von der himmlischen Gemeinschaft."21 An die Stelle Gottes trete jetzt die Nation, ihr würden von nun an die Attribute Gottes zuerkannt und ihrem Wohl und ihrer Verherrlichung ordneten die Menschen ihr Streben unter. Der Mensch will von nun an Ordnung nicht mehr finden, sondern überhaupt erst schaffen. Damit beansprucht er, den Platz des Schöpfers einzunehmen. Will er aber Schöpfer sein, dann muß er notwendig die Freiheit beanspruchen, keiner Vorgabe unterworfen zu sein - ansonsten wäre er nicht Schöpfer, sondern nur ausführendes Organ. Der Mensch freilich übersieht, daß die Freiheit Gottes sich ausdrückt in seiner Schöpfung aus dem Nichts, während der Schöpfungswille des Menschen sein Material vorfindet in der Natur, sowohl in der ihn umgebenden als auch in der ihm selber innewohnenden Natur, und diese Natur setzt seiner Gestaltung enge Grenzen. So ist das Postulat der Freiheit auch noch nicht die Freiheit. Der Satz, die Freiheit sei nichts anderes als die Einsicht in die Notwendigkeit, zeigt deutlich, daß der Prozeß der Säkularisierung keinen Himmel entrümpelt hat, sondern auch nur eine Auseinandersetzung darüber ist, wer den Platz Gottes einnehmen soll. So fordern Natur und Geschichte, die die scholastische Theologie noch in den Dienst der Ehre Gottes gestellt hatte, von nun an auch dieselben Rechte, die der Mensch für sich beansprucht. Dieser Forderung widersetzen sich Schmitt und Barth gleichermaßen, nur daß Schmitt die freigelassenen Mächte wieder der Ehre Gottes, die die Kirche repräsentiert, und damit den Menschen selbst der Kirche unterordnen möchte, während Barth den Kampf um Emanzipation mit der Offenbarung Gottes als initiiert und von da an als dauernde Aufgabe betrachtet. Der Mensch hat in falsch verstandener Emanzipation, im Bestreben, sich selbst zum Gott zu machen {eritis sicut deus), jene Ungeheuer be21
Popov: Der Wille zur Gestalt. Meisenheim am Glan 1970, S.13.
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freit, die ihn seitdem zu verschlingen drohen und die ihm seinen Platz im Himmel bereits mit Erfolg streitig gemacht haben. Der Kampf um diesen Platz aber begann mit dem Streit um das Subjekt der Freiheit. Die Kritik des Begriffs der Säkularisierung, wird er verstanden als Übertragung bestimmter, ursprünglich dem Sakralen voibehaltener Elemente auf profane Strukturen, d.h. die Auffassung der Säkularisierung als Expropriation eines göttlichen zugunsten eines weltlichen Bereichs, ist besonders von Hans Blumenberg unternommen worden. Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses werde die Legitimität der Neuzeit als eine Selbstermächtigung betrachtet. Blumenberg aber faßt diese Legitimität als eine Selbstbehauptung auf, die der Mensch nicht etwa hybride ergriffen habe, sondern die ihm auf Grund theologischer, systemimmanenter Aporien aufgenötigt worden sei. Damit setzt er an dem für ihn nicht aufgelösten Widerspruch zwischen Gott als dem guten Schöpfer und der gleichzeitig behaupteten Erlösungsbedürftigkeit seiner Schöpfung an, dessen mögliche Auflösung, nämlich die durch die Gnosis unternommene Unterscheidung zwischen einem Demiurgen und einem Erlösergott, für das Dogma nicht akzeptabel gewesen sei. Das Mittelalter habe jedoch die Gnosis nicht wirklich überwunden, sondern nur Gott durch das Dogma der Erbsünde auf Kosten des Menschen entlastet (Augustinus). Nun sei freilich damit nicht nur schon tendenziell die Heilsgewißheit des Menschen verlorengegangen, sondern dies habe auch wieder Rückwirkungen auf das Gottesbild gehabt, bis hin zu dem voluntaristischen Gottesbild des Nominalismus (Wilhelm von Ockham), schließlich auch auf das Weltverständnis (bis hin zu Descartes Täuschergott) und den damit verbundenen ethischen Relativismus. Dennoch habe der Verlust der Maßstäbe im Ausgang des Mittelalters nicht die Renaissance einer gegenüber der Welt gleichgültigen Haltung zur Folge haben können, wie etwa nach dem in der Antike sich vollzogen habenden Ordnungsschwund im Anschluß an die platonisch-aristotelische Philosophie (Epikur und der Atomismus) - m.E. der Weg, den Erasmus in der Auseinandersetzung mit Luther bestrebt ist zu gehen -, weil der Ordnungsschwund jetzt unvergleichlich radikaler gewesen sei. Nicht der Ursprung des kosmos sei verlorengegangen und mit ihm sein telos, sondern die Vorstellung der Welt als kosmos überhaupt. Selbstbehauptung des Menschen habe sich als die einzige Alternative dargestellt: MNach der klassischen Philosophie der Griechen blieb das Postulat der Ataraxie möglich, nach dem theologischen Absolutismus des späten Mittelalters mußte Selbstbehauptung die Implikation jedes philosophischen Systems werden."22 Der Analyse Blumenbergs und damit dem Verständnis der Säkularisierung nicht als eines historischen Aktes, sondern als eines in den theologischen Aporien schon von Beginn an angelegten Prozesses soll hier nicht widersprochen werden. Ergänzt werden muß nur, 2 2
Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit, S.167.
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daß zum einen diese Aporien mit dem Beginn der Neuzeit nicht erledigt worden sind - daß also m.a.W. das Programm der Selbstbehauptung nicht erledigt ist, sich aber dafür als Problem anders stellt23 - und daß der Prozeß der Säkularisierung nicht alleine ein im Dogma angelegter Prozeß war, der sich gleichsam im theologisch-intellektuellen Diskurs mit Notwendigkeit und automatisch entfaltete gegen bzw. unabhängig vom Willen der am Diskurs Teilnehmenden, sondern daß er auch bewußt vollzogen wurde, freilich insofern sekundär, als diese Möglichkeit den von Blumenberg dargestellten Sachverhalt zur Voraussetzung haben mußte. So schreibt denn auch Blumenberg selbst im Zusammenhang mit Thomas Hobbes: "Es ist das Modell des theologischen Absolutismus, das hier in den Naturzustand des Menschen hineinprojiziert ist und jedes Individuum zu einem princeps legibus solutus werden läßt, insofern nämlich das in dieser Sphäre geltende Prinzip die Abhängigkeit des Rechts von der Macht und im Grenzfall also des unbeschränkten Rechts von der Allmacht ist."24 Die Selbstbehauptung kann also auch, muß eigentlich, als Selbstermächtigung vollzogen werden, welches dann die Aufgabe der Intellektuellen darstellt. Hier wird die theologische Kritik ansetzen. Blumenbergs Verständnis der Säkularisierung dagegen wird von theologischer Seite aus nur schwer zu widersprechen sein, man wird es im Gegenteil gerade als eine Entfaltung des Dogmas der Menschwerdung Gottes betrachten müssen. Dieter Schellong hat in der Auseinandersetzung über die Frage, welche Stellung Karl Barth zur Neuzeit einnimmt, dazu geschrieben: "Gott hat sich selber säkularisiert, ja er ist, da die weltverändernde Tat sein Wesen ausmacht, seinem Wesen nach säkular. Wir haben ihn also nicht zu säkularisieren."25 Dazu weiter unten mehr. An dieser Stelle sei noch einmal an den Satz Carl Schmitts erinnert, die Liberalen würden auf die Frage des Pilatus, ob er Jesus oder Barabbas freilassen 23 In seiner Antwort auf die Kritik Blumenbergs an seinem Säkularisierungsbegriff schreibt Schmitt: "Das strukturelle Kernproblem des gnostischen Dualismus von Schöpfergott und Erlösergott beherrscht aber nicht nur jede Heils- und Erlösungsreligion. Es ist in jeder änderungs- und erneuerungsbedürftigen Welt unentrinnbar und unausrottbar immanent gegeben. Man kann die Feindschaft zwischen Menschen nicht dadurch aus der Welt schaffen, daß man die Staatenkriege alten Stils verbietet, eine Weltrevolution propagiert und die Welt-Politik in Welt-Polizei zu verwandeln sucht. Revolution, im Unterschied zu Reformation, Reform, Revision und Evolution, ist eine feindliche Auseinandersetzung. Der Herr einer zu ändernden, d.h. verfehlten Welt (dem die Änderungsbedürftigkeit zugerechnet wird, weil er sich der Änderung nicht fügen will sondern sich ihr widersetzt) und der Befreier, der Bewirker einer veränderten, neuen Welt können nicht gut Freunde sein. (...) Auch die Reformation der christlichen Kirche im 16. und 17. Jahrhundert ist aus einem christologisch-politischen Konflikt über das jus reformandi zu einer politisch-theologischen Revolution geworden." (Schmitt: Politische Theologie II, S.120f) Gegenüber der Neuzeit muß der vom Katholizismus her kommende Schmitt eine andere Stellung einnehmen als der Protestant Barth - was für den einen Selbstermächtigune bleibt, ist dann für den anderen uneingelöstes Versprechen. 2 4 Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit, S.250. 25 Schellong: Karl Barth als Theologe der Neuzeit, in: Schellong, Dieter / Steck, Karl-Gerhard: Karl Barth und die Neuzeit. München 1973, S.93.
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solle, mit einem Vertagungsantrag bzw. einer Untersuchungskommission antworten. Carl Schmitt habe sich für Pilatus entschieden, so lautete die These zu Beginn dieser Untersuchung. Auch die Frage nach dem Subjekt der Freiheit zu Beginn der Neuzeit ist dreifach beantwortet worden. So hat sich Erasmus für den Menschen, Luther für Gott, Thomas Hobbes aber schon für den Staat entschieden, den er als ein Ungeheuer schilderte und offen als eine die Freiheit des Einzelnen vernichtende Macht begriff. Der Leviathan als sterblicher Gott, der seine Freiheit im Interesse des Überlebens aller eifersüchtig gegen andere bewacht und verteidigt, das ist das Ideal des Thomas Hobbes. Bevor aber Pilatus in den Mittelpunkt rückt, soll noch die paradigmatische Auseinandersetzung zwischen Luther und Erasmus einer näheren Betrachtung unterzogen werden. c) De libero arbitrio und de servo arbitrio "Freiheit des Willens gibt es nach dem Sündenfall nur noch dem Namen nach und sofern der freie Wille tut, was an ihm ist, begeht er Todsünde."26 So lautete Luthers 13. These der Heidelberger Disputation aus dem Jahr 1518. Die Freiheit zum Guten, so präzisiert Luther in der folgenden These, könne nur als eine ursprüngliche Freiheit gedacht werden, und zwar ursprünglich in dem Sinne, wie man vom Leben eines Toten nur von einer ursprünglichen Möglichkeit des Leichnams sprechen könne: "Der freie Wille ist nun aber tot".27 Wenn also vom freien Willen bei Luther die Rede ist, dann geht es um die Frage, ob der Mensch Entscheidungsfreiheit zum Guten habe, ob er also Mitarbeit an seinem Heil leisten könne oder nicht. Erasmus hatte lange gezögert, in die Auseinandersetzungen um Luthers Theologie einzugreifen, obwohl er von allen interessierten Seiten beständig dazu aufgefordert wurde. So verdächtigten ihn die einen als Lutheraner, andere beschimpften ihn als lau und indifferent, am lautesten Hutten. Luther dagegen, der sehr schnell erkannt hatte, daß Erasmus nicht auf seiner Seite in den Kampf um die Reformation eintreten würde, Schloß mit ihm ein Stillhalteabkommen, ihm genügte Erasmische Neutralität. Schon ihr erster Kontakt hatte gezeigt, daß sie sich in zentralen Fragen niemals würden einigen können. Dieser Kontakt war kein persönlicher, vielmehr machte der Freund und Berater Luthers, Spalatin, Erasmus im Auftrag Luthers brieflich darauf aufmerksam, Erasmus habe in seiner Auslegung des Paulus und besonders des Römerbriefes den Begriff der iustitia nichtrichtigerfaßt und die Erbsünde zu wenig berücksichtigt, darüber könne er sich bei Augustinus unterrichten. Es 2 6 Luther Deutsch. Die Werke Martin Luthers in einer Auswahl für die Gegenwart, hrsg. von Kurt Aland, B.l Stuttgart und Göttingen 1969, S.385. 2 7 Ebenda, S.385.
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ist nicht bekannt, ob Erasmus diesen Brief überhaupt zur Kenntnis genommen hat und wenn, wie er darauf reagierte. Luther hatte aber ins Zentrum gezielt, wenn Johan Huizingas Charakterisierung des Erasmus zutrifft: "In Erasmus finden wir bereits den Anfang von jenem Optimismus, der den rechtschaffenden Menschen für gut genug erachtet, um ohne feste Formen und Regeln auszukommen. Ebenso wie bei More in der Utopia und bei Rabelais spricht bei Erasmus schon das Vertrauen in die Natur, die den Menschen gesund erschaffe, und der er, falls er von Glauben und Gottesfurcht durchdrungen sei, folgen müsse."28 In solchem Denken, im Denken des Humanismus überhaupt, ist kein Platz für den Gedanken an die Erbsünde. Daß Erasmus dem damals noch gänzlich unbekannten Mönch nicht antwortete, mag seine Ursache auch darin gehabt haben, daß er zu jener Zeit in anderen Auseinandersetzungen stand, namentlich an der Universität in Löwen. Aber gleichwohl ihm dann später sein Schweigen Verdächtigungen einbrachte und seiner Stellung gerade in Löwen alles andere als zuträglich war, war ihm das Stillhalteabkommen mit Luther wohl auch willkommen, weil es ihn einer Entscheidung enthob. Alles andere als schmeichelnd schreibt dazu Huizinga: "Viele seiner Äußerungen im Kampf sind der direkte Ausfluß von Ängstlichkeit und Mangel an Charakter, auch von seiner eingewurzelten Abneigung, sich mit irgendeiner Person oder Sache zu verbinden; aber dahinter steht immer seine tiefe und innerste Überzeugung, daß keine der streitenden Meinungen die Wahrheit vollkommen ausdrücken könne, daß menschlicher Haß und Kurzsichtigkeit die Geister verblenden. Und zu dieser Überzeugung gesellt sich seine edle Illusion, daß es möglich sei, durch Mäßigung, Einsicht und Wohlwollen den Frieden noch zu retten."29 Im Jahre 1524 war dann aber der Friede für Erasmus zu Ende, er gab dem Drängen nach und schrieb gegen Luther, freilich nicht über ein nebensächliches Thema, sondern den wesentlichen Punkt betreffend. Luther hat es selbst bestätigt. Am Ende seines Buches gegen Erasmus preist er noch einmal dessen Gelehrsamkeit, aber auch, daß er "als einziger von allen anderen die Sache selbst angegangen (ist), das heißt den eigentlichen Kern der Sache, und mir nicht zugesetzt hast mit jenen nicht eigentlich zur Sache gehörenden Fragen über das Papsttum, das Fegefeuer, den Ablaß und ähnlichen Dingen, die mehr Lappalien als wirkliche Probleme sind, mit denen bisher fast alle auf mich vergeblich Jagd gemacht haben."30 Dabei hat Erasmus sein Buch sicher nicht als eine Kriegserklärung verstanden, es ist im Ton überaus moderat gehalten.
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Huizinga: Erasmus. 4. Aufl., Basel 1951, S. 121. Ebenda, S.161. 3 0 Luther Deutsch. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart. 3. Aufl., hrsg. von Kurt Aland, B.3 Stuttgart und Göttingen 1961, S.332f. 2 9
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Gerade aber diese Moderatheit und die sich darin ausdrückende Indifferenz hat Luther dann in seiner Antwort besonders angegriffen. Bei Erasmus hat fur seine Intervention vielleicht nicht alleine das Drängen der Katholiken eine Rolle gespielt, wie B.A. Gerrish bemerkt hat: "The first Lutherans to die for their faith had recently been burned in Brussels (1 July 1523), and Erasmus had martyrdom on his mind. He marvels at the constancy of one who could lay down his life, not for an article of faith, but for the paradoxes of Luther."31 SO sieht auch Theo Stammen Erasmus im Gegensatz zu der die Zeit wesentlich charakterisierenden apokalyptischen Stimmung, wie sie sich nicht einmal so sehr im lutherischen Schrifttum als vielmehr in anderen volkstümlichen Schriften schon vor Luther ausgedrückt hatte, z.B. in der sogenannten Reformatio Sigi smundi (Mitte des 15. Jahrhunderts) und im Buch der hundert Kapitel (spätes 15. oder frühes 16. Jahrhundert).32 Luther mit seinen scharfen Distinktionen wäre demnach von Erasmus letztlich auch als ein die bestehende Ordnung sprengender Apokalyptiker angesehen worden. Diese betrachtete Erasmus aber als den Rahmen der Reformation. Er war kein Held im Sinne des Horaz: "Selbst wenn der Weltbau krachend einstürzt, treffen die Trümmer noch einen Helden" (cIII 3,7), weil für ihn solches Heldentum an Wahnsinn grenzte. Das Bestehende zu verbessern, nicht zu vernichten war das Anliegen des Erasmus, sowie die Sicherung der Freiheit des Denkens, das für ihn wesentlich Skepsis und Zweifel einschloß. Von daher mag sich sein Engagement für die Freiheit des Willens erklären. Daß freilich im praktisch-politischen Bereich Luther moderat und flexibel sein konnte, wird nicht nur in der Auseinandersetzung zwischen dem Wittenberger und den Bauern deutlich, sondern auch in der Frage der erbetenen Ehescheidung des hessischen Großherzogs Philipp. Aber sowohl gegenüber Thomas Müntzer als auch gegenüber Erasmus duldete Luther keinen Kompromiß im theologisch-dogmatischen Fragen. Vielmehr glaubte er, Moderation könne überhaupt nur auf eindeutig theologisch-dogmatischer Basis erfolgen, soll sie nicht prinzipienlos und zufällig sein - suaviter in modo , forti ter in re. Nun ist aber Erasmus in seiner Schrift gegen Luther gerade nicht eindeutig, denn eine vollkommene Freiheit des Willens angesichts der Gefallenheit des Menschen nimmt auch Erasmus nicht an, darf sie auch nicht vertreten, will er sich nicht der Anklage des Pelagianismus aussetzen. So betrachtet er die Gnade Gottes als die Voraussetzung der Freiheit. Alles Geschehen lasse sich in drei Teile zerlegen, nämlich in Anfang 0initium), Fortschritt (progressus) 31 Gerrish: De Libero Arbitrio (1524): Erasmus on Piety, Theology, and the Lutheran Dogma, in: Essays on the Works of Erasmus, ed. by DeMolen, New Haven and London 1978, S.191. Stammen: Erasmus von Rotterdamm - Die Zeit, die Schrift und die Ordnung, in: Mensch Gesellschaft - politische Ordnung. Festschrift für Gabriel M. Ott zum 60. Geburtstag. Hrsg. v. Eisenmann/Kral. Bamberg 1988.
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und Vollendung (summa). Anfang und Vollendung lägen nach der Lehre der Kirchenväter alleine in der Macht Gottes und seiner Gnade, aber im Fortschritt richte der freie Wille etwas aus. So seien also beide, Gnade und freier Wille, Ursachen guter Werke. "Durch diese Mischung der Ursachen kommt es, daß der Mensch sein Heil zur Gänze der göttlichen Gnade zuschreiben soll, da ganz gering ist, was hier der freie Wille ausrichtet, und gerade das, was er tun kann, Geschenk der Gnade Gottes ist, der zuerst den freien Willen erschaffen, dann ihn auch befreit und geheilt hat."33 Das Problem liegt aber gerade im Verständnis des Anfangs als eines von der Gnade bewirkten Geschehens, weil es sich hierbei um die Pointe der ganzen Auseinandersetzung handelt. Hierin ist die Widersprüchlichkeit des Erasmus begründet, denn wie soll sich sein folgendes Verständnis des freien Willens mit dieser eben dargestellten Auffassung decken: "(Wir fassen) den freien Willen als eine Kraft des menschlichen Wollens auf, durch die sich der Mensch dem zuwenden, was zum ewigen Heil führt, oder sich davon abkehren könnte."34 Der Wille sei also zwar durch die Sünde verdorben, aber durch die Gnade von der Sünde wieder frei geworden. Die Gnade habe den freien Willen wieder hergestellt. Abgesehen von diesem Widerspruch, der ihm den Vorwurf Luthers einbrachte, er sei ein Proteus, betrachtet Erasmus den freien Willen nicht alleine abhängig von der Gnade, sondern auch von Vernunft und Verstand, wenngleich diese auch durch die Sünde beschädigt worden seien - bei Eva übrigens mehr als bei Adam: "In Adam scheint mehr der Wille verdorben gewesen zu sein infolge einer gewissen maßlosen Liebe gegen seine Braut, deren Begehren er eher folgen wollte als dem Gebot Gottes, obwohl ich glaube, daß gerade dabei auch die Vernunft geschädigt worden ist, aus der das Wollen entsteht."35 Ob Adam der Verstand nicht sogar ganz und gar abhandengekommen sein konnte infolge seiner maßlosen Liebe gegenüber Eva, kommt Erasmus nicht in den Sinn, obwohl der Ausdruck blind vor Liebe durchaus aus dem Satz gefolgert werden kann, der sich bei Erasmus auch findet: "Was für den Körper das Auge ist, das ist für die Seele die Vernunft." 36 Aber was wäre dann noch die Gnade? Sie ist, um in der Metapher zu bleiben, das Licht, d.h. das Gesetz in seiner dreifachen Gestalt - als Naturgesetz (d.h. die lux nativa , aus der sich die lex naturalis ergibt), das auch dem Herzen der Heiden eingeprägt sei, dann das mosaische Gesetz, das Strafen androhe und schließlich das Gesetz des Glaubens, das zur Feindesliebe verpflichte und die Verheißung beinhalte. So wird hier die Vernunft wieder in eine Beziehung zur Gnade Gottes gesetzt, ein 33
Erasmus von Rotterdam: Gespräch oder Unterredung über den freien Willen (De Libero Arbitrio diatribe sive coll at io), in: Ausgewählte Schriften Β. 4, hrsg. v. Werner Welzig, Darmstadt 1969 S. 173. 3 4 Ebenda, S.37. 35 Ebenda, S.41. 3 6 Ebenda, S.43.
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Unterfangen, das insofern problematisch ist, als die Vernunft dann tendenziell der Gnade nicht mehr bedarf. Schon die Scholastik war an dieser Frage gescheitert. Der Schwerpunkt der Argumentation des Erasmus aber liegt auf der Ethik. "Warum, wird man sagen, wird dem freien Willen etwas zugestanden? Damit es etwas gibt, was den Gottlosen mit Recht angerechnet wird, die sich freiwillig der Gnade Gottes versagt haben, damit der Vorwurf der Grausamkeit und Ungerechtigkeit von Gott abgewendet werde, damit von uns die Verzweiflung abgewendet werde, und die Sorglosigkeit abgewendet werde, damit wir zum Bemühen angespornt werden."37 Der freie Wille als Entlastung Gottes muß allerdings im Zusammenhang mit der Vernunft gesehen werden, die es dem Menschen ermöglicht, über die lex naturalis einen Begriff von Gerechtigkeit zu ermitteln, in dem Gott dann gefangen wäre. Aber abgesehen davon geht es Erasmus mehr darum, welche ethischen Folgen die Behauptung der Unfreiheit des Willens hätte: "Ein wie großes Fenster würde diese Behauptung, wenn man sie im Volke bekanntmachte, unzähligen Sterblichen zur Gottlosigkeit öffnen, besonders bei der Sterblichen großen Trägheit, Gedankenlosigkeit, Bosheit und unverbesserlichen Geneigtheit zu jeder Art von Frevel? Welcher Schwache wird den ewigen und mühevollen Kampf gegen sein Fleisch weiterfuhren?" 38 Letztlich wird damit das Postulat der Freiheit durch die Aufklärung schon vorweggenommen. Überhaupt wäre die öffentliche Erörterung dieser Frage besser unterblieben, "vielleicht (wäre es) erlaubt gewesen, solche Gegenstände in Unterredung mit Gebildeten oder auch in den Theologenschulen zu behandeln, obwohl ich meinen möchte, daß es nicht einmal hier nütze, wenn es nicht maßvoll geschieht; im übrigen scheint mir, diese Art Theaterstücke vor einer gewissen Menge aufzufuhren, nicht nur unnütz, sondern geradezu verderblich."39 Im weiteren Verlauf wird dann von Erasmus sogar das eigene Buch als überflüssig abgetan, und stärker kann man den Widerwillen gegenüber dem Thema nicht mehr ausdrücken. Es mag auch ein Hinweis darauf sein, daß Erasmus sich nicht allzu tief in die Problematik hineindachte, und wie unsicher er sich fühlte: "Ich habe die Absicht dieses Buches schon zur Hälfte erreicht, wenn ich damit die Leser davon überzeugen kann, daß es besser ist, über Dinge dieser Art nicht allzu kleinlich zu streiten, zumal vor dem Volk" 40 Und ausgehend davon wird dann Luther nicht nur hinsichtlich seiner Haltung in der Frage über die Freiheit des Willens widersprochen, sondern auch die gesamte Reformation einschließlich der von Luther als Lappalien geachteten 3 7 38 3 9 4 0
Ebenda, S.191. Ebenda, S. 19. Ebenda, S.21. Ebenda, S.35f.
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Fragen verfallen dem Verdikt, wenn Erasmus über das Problem, auf wen die Prophetengabe seit der Zeit der Apostel übergegangen sei, schreibt: "Wenn aber auf jene, welche an Stelle der Apostel nachfolgten, wird man dagegen vorbringen, daß schon seit vielen Jahrhunderten viele an die Stelle der Apostel nachgefolgt sind, welche nichts von apostolischem Geist besitzen. Und dennoch kann man von jenen, wenn die übrigen Bedingungen gleich sind, mit größerer Wahrscheinlichkeit annehmen, daß Gott diesen seinen Geist eingießt, denen er ein Amt geschenkt hat, so wie wir es für wahrscheinlicher halten, daß die Gnade eher einem Getauften gegeben wird als einem Ungetauften."41 Letztere Auffassung steht in krassem Gegensatz zum Neuen Testament, besonders zum Römerbrief, und entsprechend der Auffassung des Erasmus über die Gnade müßten dann alle Ungetauften nur Böses tun, was nicht nur die Juden, sondern auch die von ihm so hochgeschätzten heidnischen Autoren der Antike beträfe - abgesehen davon, daß Luther, wenn kein Prophet, dann ein Häretiker gewesen wäre. Letzteres mußte Luther so empfunden haben und mag dann wohl auch die Schärfe seiner Erwiderung erklären. Weiter muß gesagt werden, legt man das von Hans Blumenberg vorgestellte Konzept der Neuzeit zugrunde, daß Erasmus nicht der Neuzeit zugerechnet werden kann, wenngleich auch nicht dem Mittelalter: Erasmus stellt sich dem Problem der Selbstbehauptung nicht. Die theologischen Dispute spielen für ihn keine Rolle, er knüpft vielmehr an der Antike an, allerdings inkonsequent, und vor dem Hintergrund Blumenbergs wird die Tragweite des Vorwurfs Luthers noch deutlicher, wenn er Erasmus als einen Epikuräer bezeichnet.42 Für das Amtsverständnis des Erasmus aber gilt dasselbe, was Herfried Münkler über sein ganzes politisches Denken geschrieben hat: "Erasmus* politisches Denken speist sich aus einem normativ gesetzten gesellschaftlichen Ideal, einer hierarchisch geordneten Gesellschaft, in der die Individuen ebenso wie die Stände den ihnen zukommenden Platz einnehmen: im ersten Ring um Christus die Geistlichen, im zweiten die weltlichen Fürsten und im dritten das
41
Ebenda S.29. Die Unentschiedenheit des Erasmus bildet unter den Humanisten keine Ausnahme. Vgl. Lorenzo Valla (1407-1457), der die Anthropologie des Epikur übernommen hatte und dessen Werk De vero falsoque bono (De voluptate) "eine prinzipielle Abrechnung mit der traditionellen Metaphysik und mit dem christlichen Denken, sofern es sich in Piatonismus und Arsitotelismus verankert", darstellt (Grassi: Einführung in philosophische Probleme des Humanismus. Darmstadt 1986, S.102). Anstatt der stoischen honestas betrachtet Valla die Lust, die voluptas, als das höchste Gut, selbst hinter den Kardinaltugenden sieht er die voluptas als das eigentlich treibende Motiv des Handelns. Wenn sie der voluptas entbehrten, erklärt er sie für leere Worte. Im 3.Buch aber weise Valla, so Grassi, plötzlich und ohne Übergang "auf die drei theo-logischen' Tugenden - 'fides', 'spes', 'amor' (= Caritas) - als ratio vivendi hin" (Grassi S.l 12), aus denen die voluptas überhaupt erst entstehe. Grassi weist auf die Inkonsequenz Vallas hin, hinter den theologischen Tugenden keine res zu bestimmen, so daß Vallas eigene Kritik gegenüber den Kardinaltugenden gegen ihn selbst gewendet werden kann. 4 2
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Volk - ein noch unverkennbar vom Mittelalter geprägtes Ordnungsmodell.H43 Dem muß aber hinzugefügt werden, daß Erasmus selbst dieser Welt nicht mehr angehören wollte. Luther hat das bemerkt und ausgesprochen: HEs scheint nämlich, als ob Du die Schrift und die Kirche sehr verehrtest, und dennoch läßt Du merken, daß Du Dir die Freiheit wünschst, ein Skeptiker zu sein."44 Das ist die Tragik des Erasmus, die Luther hier ans Licht zerrt. Denn was für das Volk gelten soll, das erkennt Erasmus für sich nicht mehr an. So teilt er die Menschen unabhängig von dem Schema, das Münkler beschreibt, noch einmal in zwei Gruppen ein, nämlich zum einen in die vernunftbegabte Menschheit, d.i. seinesgleichen, und zum anderen in den Pöbel, der auf Grund seiner Neigungen in einer Ordnung gehalten werden muß, die ihrerseits dem freien Willen nichts zutraut, zumindest nichts Gutes. HWie weiten Raum zur Gottlosigkeit", schreibt Luther, "würde dies Wort (über den geknechteten Willen; Anm. M.E.) der großen Menge eröffnen, wenn es sterblichen Menschen bekanntgemacht würde? Welcher Böse würde sein Leben bessern? Wer würde sich von Gott geliebt glauben? Wer würde gegen sein Fleisch ankämpfen? Ich wundere mich, daß Du in so großer Heftigkeit und Leidenschaftlichkeit nicht auch des Streitgegenstandes gedenkst und sagst: Wo wird denn der freie Wille bleiben?"45 Schließlich aber, ungeachtet dessen, daß er mit seiner Scheu, diese Frage öffentlich zu verhandeln, sich selbst die Grube gräbt - denn Freiheit und Vernunft implizieren Öffentlichkeit - zeigt sich hier das Bildungsideal eines freilich im Schatten stehenden Bürgertums, das noch nicht ans Licht zu treten wagt und sein Selbstbewußtsein nicht in der res publica, sondern in der Studierstube zu finden sucht - das also statt der öffentlichen Debatte lieber den privaten Dialog führt, den es aber durch die Reformation gefährdet sieht. Zwischen die Fronten geraten, flüchtet es sich unter die Fittiche der alten Ordnung in der Hoffnung, daß man es zum Dank dafür in Frieden läßt, aber auch diese Hoffnung hat getrogen. Luther hat, wie Martin Brecht schreibt, die Schrift des Erasmus sehr ernst genommen und sie ganz gelesen, obwohl sie ihn dennoch sehr erzürnte. "Normalerweise las er die Streitschriften seiner Gegner nur auszugsweise, bis er genug Argumente gegen sie hatte, um sich mit ihren Lügen nicht zu sehr zu belasten. Der Rest wurde auf dem Abort gebraucht."46 Die Unentschiedenheit des Erasmus war ihm mehr zuwider als etwa die Hartnäckigkeit eines Eck, aber sie gestattete es ihm auch, die Behauptung der Knechtschaft des mensch4 3 Münkler: Im Namen des Staates. Die Begründung der Staatsraison in der Frühen Neuzeit Frankfurt am Main 1987, S.50. 4 4 Luther Deutsch, S. 158. 4 5 Ebenda, S. 189. 4 6 Brecht, Martin: Martin Luther B.2. Ordnung und Abgrenzung der Reformation 1521-1532. Stuttgart 1986, S.221.
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liehen Willens geradezu aus der Schrift des Erasmus herauszulesen. Stimmenthaltung bedeutete für ihn in dieser Frage Zustimmung. Erasmus hatte ja die Auffassung vertreten, es wäre besser gewesen, man hätte die Dinge erst gar nicht verhandelt und hat damit zu verstehen gegeben, welchen Stellenwert diese Frage für ihn hatte. Hiergegen und gegen die sich dahinter verbergende Skepsis des Erasmusrichtetsich der Hauptangriff Luthers, und zwar in einer Diktion, die für ihn typisch ist: "Deshalb sage ich Dir und bitte Dich, Dir das ganz fest ins Herz zu schreiben, daß es mir in dieser Frage um eine ernsthafte, notwendige und ewige Sache geht, so groß und so wichtig, daß sie auch unter Dahingabe des Lebens behauptet und verteidigt werden muß, und wenn die ganze Welt darob nicht nur in Unfriede und Aufruhr versetzt, sondern auch ganz in ein einziges Chaos zusammengestürzt und vernichtet werden sollte."47 Überhaupt heiße es dem Christentum widersprechen, wenn man keine Freude und sogar Scheu vor festen Behauptungen habe. Im Christentum gibt es für Luther keinen Platz für Skeptizismus, beides schließe sich vielmehr aus. "Denn das ist nicht Christenart, sich nicht an festen Ansichten zu freuen. Man muß vielmehr an festen Meinungen seine Freude haben oder man wird kein Christ sein. Eine 'feste Meinung* (assertio) aber nenne ich (damit wir nicht mit Worten spielen): einer Lehre beständig anhängen, sie bekräftigen, bekennen, verteidigen und unerschüttert bei ihr ausharren".48 Dies darf aber nicht als Heldentum im Sinne des oben zitierten Horaz mißverstanden werden, denn hier wird ja nicht zu Zerstörung aufgerufen, nicht das Bestehende zum Material und Zeugen eigenen Heldentums mißbraucht - so hat Erasmus die Sache vielleicht gesehen -, sondern ein Bekenntnis formuliert, das einer Welt voller Feinden standhalten will - wenn die Welt sich gegen dieses Bekenntnis kehren sollte. Alles, so Luther, was der Mensch von sich aus tue, tue er im Dienste der Sünde. Aus der Macht der Sünde könne sich der Mensch von sich aus nicht befreien. Das ist der Grundgedanke der Theologie Luthers überhaupt. Ohne die Gnade vermöge der Mensch nichts, was ihm zum Heil gereiche, hinsichtlich des Heils wird der Mensch also gänzlich als von der Gnade Gottes abhängig betrachtet. Den Willen des Menschen vergleicht Luther darum entsprechend mit einem Reittier, das entweder vom Teufel oder von Gott geritten werde. Der Mensch stelle ein Schlachtfeld dar, auf dem sich das Gute und das Böse im Kampf begegneten. Er erscheint vollständig ohnmächtig, sich in diesem Kampf auch nur an die Seite Gottes zu stellen, und wenn er einzugreifen versuche, dann geschehe es zwangsläufig als Widerstand gegen Gott, auch entgegengesetzt der vielleicht guten Absicht. Daß der Mensch nicht Herr im eigenen Hause sei, diese laut Sigmund Freud dritte große Kränkung der 4 7 4 8
Luther Deutsch, S. 182. Ebenda, S.155f.
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menschlichen Eitelkeit nach Kopernikus und Darwin, ist auch schon von Luther ausgesprochen worden. "Die Ohnmacht des Menschen ist hier zum äußersten Paradox zugespitzt, was eine weniger pessimistische Einschätzung und Erfahrung freilich nur schwer verifizieren konnte und wollte. Hier brach später die Fremdheit gegenüber Luther auf." 49 Wenn also nicht Gott selbst den Menschen befreie und dem Menschen Heil schaffe, bedeute das, daß der Mensch nur sündigen könne - wobei der Begriff der Sünde weiter gefaßt werden muß, als dies gemeinhin geschieht. Die Betonung der Ethik in der Theologie hat dazu gefuhrt, daß auch der Begriff der Sünde moralisiert worden ist. Sünde meint aber nicht die moralische Verfehlung, die selber nur eine Folge der Sünde ist, mit Sünde ist vielmehr das Dasein des gefallenen Menschen überhaupt gekennzeichnet, seine Entfremdung von Gott, seine IchBezogenheit und seine darin gründende Hybris. Sünde ist diesem theologischen Verständnis nach nichts anderes als Bezeichnung des Versuchs des Menschen, an die Stelle Gottes zu treten - und der Mensch versucht auch dann, an die Stelle Gottes zu treten, wenn er sich selbst erlösen will. Nun wird in der Lutherforschung dennoch gerne darauf hingewiesen, Luther habe den freien Willen nicht gänzlich verworfen: "Über dem menschlichen freien Willen, dessen Recht in äußeren Dingen Luther nicht bestreitet, steht der souveräne Gotteswille".50 Auch Martin Brecht unterscheidet zwischen zwei Willen des Menschen: "Er (Luther; Anm.M.E.) schränkte ihn (...) auf die Entscheidung in dieser Welt ein - auf diesem Gebiet wurde er natürlich nicht bestritten, was man nie vergessen darf - und Schloß ihn von der Beziehung auf Gott und das Heil aus"51, während Gerhard Ebeling hier differenzieren möchte: "Man befindet sich von vornherein auf falscher Spur, wenn man die Frage der Freiheit auf das Thema der Wahlfreiheit des Willens einengt. Setzt man Freiheit einfach gleich Wille, so ist sie ein selbstverständlicher Besitz des Menschen. Sie kann dann zwar von außen her oder durch Mißbrauch beeinträchtigt werden, jedoch dem Kern nach nicht verlorengehen, solange der Mensch zurechnungsfähig ist. In dieser psychologischen und moralischen Hinsicht stand auch für Luther die Willensfreiheit außer Zweifel." 52 Was heißt hier aber psychologisch und moralisch und was zurechnungsfähig anderes, als daß etwas dem Betreffenden zugerechnet werden kann? Der Unerbittlichkeit der Fragestellung, wie sie jedenfalls Luther gegenüber Erasmus behauptet hat, wären sie alle nicht entgangen und entgeht Luther auch nicht, wie noch zu zeigen ist.
4 9 5 0 51 52
Brecht, Martin, S.225. Fausel: Martin Luther B.2. Leben und Werk 1522-1546, Stuttgart 1977, S.99. Brecht, Martin, S.225f. Ebeling: Lutherstudien Band 1, Tübingen 1971, S.319f.
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Der Hintergrund jenes Verständnisses aber ist offensichtlich. Es ist das gleiche dualistische Denken, das auch die Zwei-Reiche-Lehre begründet hat, die so, wie sie das Luthertum später versteht, bei Luther freilich nicht zu finden ist.53 Aber läßt sich diese Differenzierung denn auch mit Luther selbst in Einklang bringen? Es wäre also zu fragen, ob es Bereiche des menschlichen Lebens und Wollens gibt, die nicht der Sünde unterworfen wären - nur hier wäre ja laut Luther ein freier Wille möglich? Dann gäbe es aber auch Bereiche, das folgt daraus zwingend, in denen die Gnade Gottes zu nichts nütze wäre und ohne Bedeutung bliebe, doch diese Bereiche müßten benannt werden. Ihnen gegenüber bliebe die Theologie sprachlos, müßte sie schweigen. Der Sünder gewänne zwar sein individuelles Heil, aber um den Preis, daß er nun den Mächten und Gewalten dieser Bereiche, das ist aber der Zwei-ReicheLehre zufolge die Obrigkeit, unterworfen würde. Die Theologie wäre zwar institutionell befreit, aber individualisiert und verinnerlicht. Der Theologe Paul Tillich argumentiert im gleichen Sinne dualistisch, wenn auch nicht mit den Begriffen äußere und innere Welt oder Diesseits und Jenseits, sondern mit den Termini Essenz und Existenz. Der Mensch sei essentiell frei, aber existentiell unfrei, d.h. seine Freiheit sei eine endliche. M Die 'Knechtschaft des Willens' ist ein universales Faktum. Sie ist die Unfähigkeit des Menschen, durch den Bann seiner Entfremdung durchzubrechen. Trotz der Macht seiner endlichen Freiheit ist er nicht imstande, die Vereinigung mit Gott zu erreichen. Im Bereich seiner endlichen Beziehung bleiben die Entscheidungen des Menschen Akte seiner endlichen Freiheit. Sie schaffen aber nicht die Wiedervereinigung mit Gott, sie bleiben im Bereich der justitia civilis, der bürgerlichen Gerechtigkeit, der moralischen und gesetzlichen Normen. Hier hat der Mensch eine begrenzte Freiheit."54 So wird letztlich auch bei Tillich die Zwei-Reiche-Lehre weiter tradiert, wenn er die Freiheit ausgerechnet im Bereich der "bürgerlichen Gerechtigkeit" manifestiert sieht, die "bürgerliche Freiheit" aber nach Marx letztlich nichts anderes ist als die Freiheit des Bürgers, d.h. des Bourgeois, mit seinem Eigentum machen zu können, was ihm beliebt und was ihm die Bourgeoisie erlaubt zu tun. "Die Freiheit ist also das Recht", schreibt Marx, "alles zu tun und zu treiben, was keinem anderen schadet. Die Grenze, in welcher sich jeder dem anderen unschädlich bewegen kann, ist durch das Gesetz bestimmt, wie die Grenze zweier Felder durch den Zaunpfahl bestimmt ist. Es handelt sich um die Freiheit des Menschen als isolierter auf sich zurückgezogener Monade."55 Die Bourgeoisie hat laut Marx die Freiheit privatisiert, sie aber nicht mehr an die Bildung gebunden, wie noch bei Erasmus, sondern an das Eigentum. Über53 Vgl. Marquardt, Friedrich-Wilhelm: Martin Luther und Karl Barth: in tyrannos, in: Berliner Theologische Zeitschrift 2 1984. 5 4 Tillich: Systematische Theologie II. 7. Aufl., Stuttgart und Frankfurt am Main 1981, S.88f. 55 Marx: Zur Judenfrage, in: MEW B.l, Berlin 1981, S.364.
8 Eichhorn
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haupt kann nur das Eigentum die Freiheit realisieren, was dann Bertolt Brecht wohl zu dem Satz verleitet haben mag: "Der freie Wille - das ist eine kapitalistische Erfindung." 56 Der Religiöse Sozialist Tillich vergißt, daß dieser Bereich, in dem der Mensch als frei angenommen wird, nicht unter der Herrschaft der Sünde stünde und die göttliche Gnade hier keine Zuständigkeit beanspruchen dürfte. Der Mensch bliebe sich selbst überlassen, d.h. aber nichts anderes, als daß er dem Stärksten ausgeliefert wäre. Es scheint freilich auf den ersten Blick so zu sein, daß auch Luther in dieser Frage gar nicht so eindeutig ist, wie er es selber gegen Erasmus zu sein beansprucht, daß er m.a.W. Bereiche annimmt, in denen dem Menschen ein freier Wille nicht abgesprochen werden sollte. Eigentlich, so Luther, solle man den Begriff des freien Willens besser vermeiden: "Wenn wir nun überhaupt dieses Wort (freier Wille) nicht aufgeben wollen, was am sichersten und frömmsten wäre, sollten wir lehren, es doch bis dahin gewissenhaft zu gebrauchen: daß dem Menschen ein freier Wille nicht in Bezug auf die Dinge eingeräumt sei, die höher sind als er, sondern nur in bezug auf das, was so viel niedriger ist als er, d.h. daß er weiß, er habe in bezug auf seine zeitlichen Geldmittel und Besitztümer das Recht, etwas nach freiem Ermessen zu gebrauchen, zu tun, zu lassen (obwohl auch dies durch den freien Willen Gottes allein gelenkt wohin immer es ihm gefällt)*^ (Herv. M.E.). Wie soll dieser Widerspruch aufgelöst werden, daß also etwas gelehrt werden soll, obwohl es gar nicht als vorhanden gedacht wird? Diese Unsicherheit Luthers, gleichwie sie zu begründen wäre, war das Einfallstor, das jene nutzten, die den lutherischen Dualismus, den Quietismus und die Gleichgültigkeit gegenüber den sozialen und politischen Verhältnissen theologisch hoffähig machten. Die Frage, ob der Wille des Menschen als frei oder als geknechtet zu erachten sei, ist tatsächlich das Fundament, auf dem die Zwei-Reiche-Lehre ruht oder mit dem sie fällt. Denn hier kann sie unter Berufung auf die Autorität Luthers unterminiert werden, in ihr drückt sich ja auch nichts anderes aus als die gleiche Indifferenz, die Luther schon an Erasmus gegeißelt hat. Bei Erasmus stehen sich Gnade und Freiheit unvermittelt gegenüber und nicht nebeneinander, wie Erasmus es wohl gedacht hatte. Wo die Gnade ist, kann keine Freiheit bestehen, und wo Freiheit ist, ist die Gnade überflüssig. Da Erasmus letzteres nicht zu sagen wagt, hat er die Unfreiheit des Willens selbst erwiesen. H Du veranschlagst die Kraft des freien Willens als sehr klein und so beschaffen, daß sie ohne die Gnade Gottes geradezu unwirksam ist. Gibst Du das nicht zu? Ich frage Dich nunmehr und bitte um Antwort: wenn die Gnade Gottes fehlt oder von jener so kleinen Kraft getrennt wird, was kann sie (die 5 6
Brecht, Bertolt: Schriften zur Politik und Gesellschaft 1919-1956. Frankfurt am Main 1977,
S.10. 5 7
Luther Deutsch, S.200.
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Kraft des freien Willens) selbst tun? Unwirksam (sagst Du) ist sie und wirkt nichts Gutes. (...) Wenn dies feststeht, gestatte ich Dir, daß Du die Kraft des freien Willens nicht nur für sehr klein hälst, mache sie meinetwegen engelgleich, mache sie, wenn Du kannst, vollkommen göttlich, wenn Du nur diesen traurigen Anhang hinzufugst, daß Du sie, ohne die Gnade Gottes, als unwirksam bezeichnest. Dann hast Du ihr sogleich alle Kraft genommen.**58 Diese Frage müssen sich auch jene gefallen lassen, die einen noch anders gearteten freien Willen behaupten und sich dabei auf Luther berufen, und was Luther von Erasmus forderte, wäre auch hier zu fordern. "Keinem Häretiker erscheint seine Auslegung nicht zweckmäßig. Heißt das die Schwierigkeiten lösen, einer solchen Willkür für die verderbten Sinne und die trügerischen Geister Tür und Tor öffnen? (...) Höre also, Du großer Besieger des Lutherischen Achilles: wenn Du nicht bewiesen hast, daß *nichts* an dieser Stelle nicht als *nicht viel' nur verstanden werden könne, sondern auch als 'nicht viel' verstanden werden müsse, wirst Du mit Deiner großen Fülle von Worten und Beispielen nichts erreicht haben, außer daß Du mit trockenem Stroh gegen helles Feuer kämpfst. Was geht uns Dein 'Können' an, wenn von Dir verlangt wird, daß Du das 'Müssen' beweist?**59 So nutzt es der dualistischen Auslegung nichts, wenn sie das lutherische Entweder-oder in ein Erasmisches Sowohl-Als auch aufzulösen versucht, denn das Sowohl-Als auch ist schon identisch mit dem Oder. Entweder Gnade oder Willensfreiheit, tertium non datur, und diese Gegenüberstellung steht so für den Beginn der Neuzeit. Trotz der oben bemerkten Unsicherheit ist die Frage nach der Willensfreiheit des Menschen von Luther eindeutig beantwortet worden, von Erasmus nicht eindeutig, aber gerade darum im Sinne Luthers. Und so urteilt Ernst Wilhelm Kohls über die Frage, wie es sich mit der Teilfreiheit des menschlichen Willens verhalte, nachdem er aufgezeigt hat, daß die Freiheit Gottes unmittelbar mit seiner Schöpfung aus dem Nichts zu denken sei.60 "Damit hat Luther als erstes den Zusammenhang des freien Willens mit der menschlichen Ursünde herausgestellt: selbst wie Gott sein zu wollen (1. Mose 3,5) und stets die Schöpfung anstelle Gottes, des Schöpfers, zu verehren (Rom 1,25). Alles, was der Mensch aus eigenem Willen tut, ist stets dieser Ursünde verfallen. Dabei hat Luther die menschliche Vernunft und Entscheidungsfahigkeit in ihrer Bedeutung für die Bewältigung wirtschaftlicher und technischer Aufgaben nicht ausgeklammert oder übersehen."61 Und so hat auch Karl Barth in 58
Ebenda, S.196. Ebenda, S.293f. Kohls: Luther oder Erasmus. Luthers Theologie in der Auseinandersetzung mit Erasmus B.II, Basel 1978, S.27ff. 61 Ebenda, S.134. 5 9
6 0
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einer Zeit, die wie niemals zuvor die Krise der Neuzeit offenbarte, nämlich die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, an einem Strang angeknüpft, den er sehr deutlich von dem auf Erasmus zurückgehenden unterschieden hat: HDie Ahnenreihe, an der wir uns (...) zu orientieren haben, läuft über Kierkegaard zu Luther und Calvin, zu Paulus, zu Jeremia. Auf diese Namen pflegen sich nun freilich Viele zu berufen. Ich möchte also verdeutlichend hinzufugen: nicht etwa auch und gleichzeitig (...) zu Erasmus, zu denen, die in l.Cor 15 bekämpft werden, zum Propheten Hananja, der das Joch vom Halse des Propheten Jeremia nahm und zerbrach es.M62 Die Fortführung des Stranges über Paulus auf Jeremia konnte damals von dem bibelkundigen Zeitgenossen darüber hinaus auch als ein unmittelbarer politischer Hinweis Barths verstanden werden: Jeremia trug ein hölzernes Joch, wodurch er zu verstehen geben wollte, daß die Herrschaft der Babylonier über das Volk Israel einschließlich des Exils der Oberschicht im Interesse der Erhaltung des Volkes ertragen werden müsse, während Hananja dem Jeremias das Joch abnahm und zerbrach, m.a.W. die Fortführung des militärischen Widerstands forderte (Jer 28). Man könnte hier also Barths Hinweis auf diese Stelle als versteckten Hinweis verstehen, sich als Deutscher nun analog mit Versailles und Weimar abzufinden. d) Die Freiheit des Willens aus katholischer Sicht - Donoso Cortes Auch von katholischer Seite aus konnte das Erasmische Sowohl-Als auch nicht gutgeheißen werden, ohne daß jetzt die Auffassung Luthers hätte übernommen werden können. Insbesondere in der Auseinandersetzung mit dem Liberalismus, vor dem das Luthertum mit seinem dualistischen Denken kapituliert hatte, wurde auch die Frage über die Willensfreiheit wieder aktuell, der sich Donoso Cortes in einer kleinen Abhandlung stellte. Donoso Cortes anerkennt ausdrücklich die Freiheit des Menschen, ihr Zusammenwirken mit der Vorsehung Gottes stelle die Geschichte dar. Allerdings bestehe die Freiheit des Menschen nicht darin, zwischen dem Guten und dem Bösen zu wählen, weil diese Vorstellung zwei Absurditäten in sich schlösse: je vollkommener nämlich der Mensch sei, um so unfreier sei er auch, und hinsichtlich Gottes, der ja vollkommen sei, müsse dann gesagt werden, daß er überhaupt jeder Freiheit entbehre. "Der Irrtum, den ich zu bekämpfen mich anschicke, liegt darin, anzunehmen, daß die Freiheit in der Freiheit zu wählen besteht, während sie doch in der Fähigkeit besteht zu wollen, was die
6 2 Barth: Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie, in: Das Wort Gottes und die Theologie. Gesammelte Vorträge, München 1925, S.164.
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Fähigkeit zu verstehen voraussetzt.M63 Denn Freiheit sei nichts anderes als die Vereinigung von Verstand und Willen, und daraus folge: MWenn die Freiheit in der Fähigkeit liegt zu verstehen und zu wollen, dann besteht die vollkommene Freiheit darin, vollkommen zu verstehen und vollkommen zu wollen; und da allein Gott mit aller Vollkommenheit versteht und will, folgt daraus zwingend, daß Gott allein vollkommen frei ist."64 Dagegen sei der Mensch nicht vollständig frei und komme darum in die Lage, dem Irrtum und dem Bösen zu folgen, "das heißt, daß die Unvollkommenheit der menschlichen Freiheit gerade in jener Fähigkeit zu wählen besteht, die nach landläufiger Meinung seine absolute Vollkommenheit ausmacht."65 Alleine vor dem Sündenfall habe der Mensch Teilhabe an der Freiheit Gottes gehabt, weil er das Gute erkannt und gewollt habe. Er sei frei gewesen, solange er in der Hand Gottes war, "so wie man von dem, der niemanden außer seinem legitimen Herrn gehorcht, sagt, er sei frei." 66 Was nun die Freiheit des Willens betreffe, also den freien Willen, so handele es sich um ein großes Mysterium, das "von der Seite Gottes eher als eine Abdankung erscheint denn als eine Gnade. Richtet die Augen auf den endlosen Strom der Zeiten und seht, wie trübe und kotverschmutzt die Wasser dieses Flusses daherkommen, den die Menschheit befählt: Am Bug des Schiffes stehen Adam, der Rebell, und dann Kain, der Brudermörder, und hinter diesem der Haufe von Leuten ohne Gott und ohne Gesetz, Gotteslästerer, Konkubianer, Blutschänder, Ehebrecher, selbst die wenigen, die Gott verherrlichen, vergessen zuletzt Seine Glorie und Herrlichkeiten, und gemeinsam fahren alle, mit aufrührerischem Geschrei, auf dem geräumigen Schiff ohne Kapitän die schmutzigen Stromschnellen des großen Flusses hinab, mit schrecklichem und jähzornigem Jauchzen wie eine meuternde Besatzung."67 So sei das Schöpfungswerk Gottes immer wieder durch den freien Willen zerstört worden und Gottes Zorn habe sich z.B. in der Sintflut und der Zerstörung des Turmes zu Babel offenbart. Aber auch die immerwährende Gnade Gottes sei stets zurückgewiesen worden. Seinen Sohn habe man ans Kreuz geschlagen, und die Kirche habe das Privileg der Verfolgung von ihrem Stifter geerbt. So schildert Donoso einen Krieg, dessen Kriegstheater umfassend ist: "Die in Europa siegenden Heere werden in Asien besiegt, die in Afrika unterliegenden triumphieren in Amerika. Keinen einzigen Menschen gibt es, der, ob er es weiß oder leugnet, nicht Kämpfer ist in diesem harten Kampfe; keiner, der nicht einen aktiven Anteil trüge an der Verantwortlichkeit für die 63
Cortes: Essay über den Katholizismus, den Liberalismus und den Sozialismus. Weinheim 1989,
S.61. 6 4 65 6 6 6 7
Ebenda, S.61. Ebenda, S.61. Ebenda, S.62. Ebenda, S.72.
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Niederlage oder den Sieg.M68 Der Widerstand der Menschen gegen Gott verwandele sich in den Widerstand gegen die Kirche, werde hier überhaupt erst als ein solcher sichtbar, so daß für jeden Einzelnen in diesem Kampf gelte: "Und sage mir nicht, Du wolltest nicht kämpfen, denn im gleichen Augenblick, wo Du dies sagst, kämpfst Du bereits; noch, daß Du nicht wüßtest, auf welche Seite Du Dich schlagen sollst, denn im gleichen Augenblick, wo Du dies sagst, hast Du Dich bereits einer Seite zugewandt; noch erkläre mir, daß Du neutral bleiben wollest, denn wenn Du denkst, es zu sein, bist Du es bereits nicht mehr; noch versichere mir, Du verharrest gleichgültig, da lache ich über Dich: wenn Du dieses Wort aussprichst, hast Du schon Partei ergriffen. Mühe Dich nicht ab, ein sicheres Asyl gegen die Gefahren des Krieges zu suchen, denn Du mühst Dich vergebens; dieser Krieg dehnt sich so weit aus wie der Raum und dauert so lange wie die Zeit."69 Die Freiheit, die Erasmus gegen Luther verteidigte,richtetsich jetzt gegen Zweifel und Skepsis, die Erasmus noch so teuer waren. Dieser Dezisionismus Donosos verdient so katholisch genannt zu werden wie der Quietismus lutherisch. Naphta in Thomas Manns Zauberberg trägt unverkennbar seine Züge. Beide Haltungen, lutheranischer Quietismus und katholische Militanz, bezeichnen freilich Extreme, aber diese sind schon in der Auseinandersetzung zwischen Luther und Erasmus verborgen, nur daß Erasmus für sich den Status des neutralen Beobachters beanspruchte. Wer Freiheit vertritt, schickt den Menschen in einen Krieg, der, sobald die Hegungen in Form der überkommenen Ordnungen aufgehoben sind, dazu neigt, absolut zu werden. Schließlich entwickelt er sich zum permanenten Ausnahmezustand. Diese gnadenlose Freiheit ist auch die Basis des Schmittschen Dezisionismus. Was für Erasmus noch inneren Kampf bedeutete, Kampf gegen die eigene Sündhaftigkeit im Rahmen der die kosmische Ordnung repräsentierenden und garantierenden Kirche, wird von Donoso, nachdem diese Ordnung zerbrochen war, nach außen gewendet. Darum verdient es Donoso durchaus, als ein bedeutender katholische Denker der Neuzeit genannt zu werden. Der Gotteskämpfer wird aber ein Fremdling in dieser Welt: "Nur in der Ewigkeit, dem Vaterland der Gerechten, kannst Du Ruhe finden, denn nur dort gibt es keinen Kampf; bilde dir jedoch nicht ein, es öffneten sich für Dich die Pforten der Ewigkeit, zeigst Du nicht vorher die Narben der Wunden"70 Der von Cortes geforderte Kampf gegen die Unordnung tritt an die Stelle des Kampfes gegen die eigene Sünde, die schon den jungen Luther in die Verzweiflung gestürzt hatte, bis er dann alles von den Schultern des Menschen nahm und es dem gekreuzigten Christus auflud, der stellvertretend für den 6 8 6 9 7 0
Ebenda, S.74. Ebenda, S.75. Ebenda, S.75.
2. Neuzeitliche Herausforderungen der Theologie
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Menschen den guten Kampf geführt hat, auf daß sich kein Fleisch rühme. Bei Cortes spielt dagegen die Gnade letztlich keine Rolle mehr, sie hat abgedankt zugunsten der Wunden und Narben, die alleine die Seligkeit zu garantieren vermögen. Von Luther her ergibt sich ein anderes Bild der Welt und der Gesellschaft, wie im Zusammenhang mit Barth zu zeigen sein wird. Was aber die Frage betrifft, ob Gott frei sei im Sinne von Ockham, so wird sie von Luther verneint, ohne daß er, wie Cortes es tut, hinter Duns Scotus zurückgeht. Gott bindet sich in der Zusage der Gnade, bzw. er hat sich bereits gebunden durch das Kreuz. Hierin liegt auch der tiefere Sinn von Luthers Abendmahlslehre, die er gegen Zwingli so erbittert behauptet hat wie gegen Erasmus den geknechteten Willen, und die in diesem Zusammenhang zumindest erwähnt werden muß. Bei Cortes kann das Sakrament nur noch Stärkung für den Kampf bedeuten, es spielt die Rolle des geistlichen Proviants, die Messe wird zur Etappe. Über Luthers Abendmahlslehre dagegen schreibt Ernst Bizer: "Ihr Anliegen war zweifellos die Sicherung des Trostes für die verzagten Gewissen und der Erkenntnis der Überlegenheit Christi über alle Formen menschlichen 'Habens* des heiligen Geistes"71, und weiter: "Im Mittelpunkt des Abendmahlgottesdienstes muß die Tatsache stehen, daß uns im Sakrament der auferstandene Christus in seiner erhöhten Menschheit begegnet und uns die Vergebung der Sünden schenkt und austeilt, - uns, den Sündern, den Gottlosen. Hier hat er sich durch seine Verheißung gebunden und gibt sich in unsere Hand."72 Darum sind Brot und Wein Fleisch und Blut Christi und nicht nur Zeichen und Hinweise, ist das Abendmahl Gnadenzuspruch und nicht nur Erinnerung. Es kann dann gar nicht anders empfangen werden, wenn es empfangen wird, als so, daß der Empfangende es im Glauben empfängt - Unglaube wäre die Verweigerung der Teilnahme - und dieser Glaube meint den Verzicht auf den Versuch, für das Heil selber einzutreten. Letzteres ist, wie bereits gesagt, für Luther die Sünde schlechthin, nämlich Widerstand gegen Gott und Leugnung des Geschehens am Kreuz. Begreift der Protestantismus die Sünde als Widerstand gegen Gott in dem Sinne, daß er, der Mensch, Widerstand gegen die Gnade leistet, so ist für den Katholizismus die Sünde gleichbedeutend mit Widerstand gegen Gott als Schöpfer, d.h. Aufruhr gegen die Ordnung der Schöpfung. Der Katholizismus begreift das Böse nicht als eine Substanz - was nicht heißen soll, daß dies der Protestantismus tut; auch hier besteht das Böse in einer Haltung des Menschen - sondern als eine aus dem freien Willen resultierende Negation der guten Ordnung Gottes. Das Böse, so auch Cortes, sei nichts anderes als "die Negation der Ordnung, die Gott in alle geschaffenen Dinge gelegt hatte, eine Negation, die sich in dem Wort selbst ausdrückt, das
71
Bizer: Studien zur Geschichte des Abendniahlstreits im 16. Jahrhundert l.Auf. 1940, 2. unveränderte Aufl., Darmstadt 1962, S.2. 72 Ebenda, S.6.
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sie bezeichnet und mit dem man das gleiche bejaht, was man verneint: diese Negation nennt sich Unordnung."73 Damit vollzieht Cortes den Schritt hinter Ockham zurück, auch hinter Duns Scotus. Im Kampf zwischen Ordnung und Unordnung aber bleibt Gott ein Zuschauer, so wie er fur Cortes Zuschauer des Sündenfalls gewesen ist - "Nichts kommt der erhabenen Schlichtheit gleich, widerstrahlend aus dem mosaischen Bericht über diese feierliche Tragödie, deren Bühne das irdische Paradies war, deren Zuschauer Gott war" (Herv. M.E.). 74 Abgesehen aber davon, daß im Katholizismus der Mensch eine Aufgabe zugesprochen bekommt, die der Protestantismus als Sünde begreift, verhält es sich, was die Erlösung angeht, d.h. das Geschehen am Kreuz, bei ihm geradezu umgekehrt: der Mensch überläßt die Bühne der feierlichen Tragödie Gott und verfolgt seinerseits das Geschehen als Zuschauer, wenn auch als ein unmittelbar betroffener. Der neuzeitliche Mensch dagegen besetzt nicht mehr nur alleine die Bühne, er will auch Regie führen. Die Inszenierung freilich kommt nicht bei allen an, auch wenn die Kritiker dann als mittelalterlich abqualifiziert werden. So ist es auch Karl Barth ergangen, namentlich durch Trutz Rendtorff und dessen Schüler. Dabei ist aber die Kritik Karl Barths insofern neuzeitlich, als sie die uneingelösten Versprechen des neuen Zeitalters einklagt. Das neuzeitliche Versprechen schlechthin ist, daß sie neue Zeit sein will, der Sozialist Karl Barth ist aber auch der Theologe Karl Barth, der weiß, daß die neue Zeit einen neuen Himmel und eine neue Erde voraussetzt und nicht einfach nur eine Neue Welt. Die Theologie Karl Barths ist Kritik des metaphysischen Anspruchs der Neuzeit, die er als Hybris versteht.75 So galt es also, noch einmal von vorne zu beginnen. Den Anfang stellt die Auseinandersetzung Luthers mit Erasmus dar. Der Neuanfang wäre dann durch Luther und seine Auffassung über den servum arbitrium markiert, mit dem für Barth freilich nicht das letzte, wohl aber das erste Wort gesprochen wäre.
73
Coites, S.82. Ebenda, S.96. Zum Begriff der Neuzeit vgl. auch: Kosellek: "Neuzeit". Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe, in: ders. (Hrsg): Studien zum Beginn der modernen Welt. Stuttgart 1977. Kosellek zeigt auf, das der Begriff der Neuzeit erst in der Aufklärung aufkam und hier das Selbstbewußtsein des religiös emanzipierten Menschen ausdrücken sollte. 7 4 75
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3. Karl Barth als Theologe der Neuzeit a) Dogma und Protestantismus Der Protestantismus kennt keine institutionalisierte Verbindlichkeit in der Form eines Lehramtes. Das heißt freilich nicht, daß alles erlaubt ist; aber es gibt keine rechtlich gefaßte Instanz, die die Reinheit des Glaubens und damit der Verkündigung im Streitfalle feststellen und letztlich garantieren könnte. Das ist die Schreckensvision Schmitts und Resultat einer Theologenkirche. Tatsächlich ist der Protestantismus in viele Konfessionen aufgespalten. Es muß aber auch bedacht werden, daß der Protestantismus niemals ein einheitliches Bekenntnis gebildet hat, sowenig wie er je eine einheitliche Bewegung oder überhaupt ein historisch singuläres Phänomen darstellte; es gab Vorläufer der Reformation und es gab Zeiten der Renaissance. Insbesondere im deutschen Sprachraum muß zwischen der Wittenberger Reformation, für die an erster Stelle der Name Luthers steht, und der schweizer Reformation Zwingiis und Calvins unterschieden werden. Während für den Protestantismus in Deutschland Luther bestimmend war, so gilt doch im Weltmaßstab, daß Luther hier gegenüber Calvin nahezu ohne Bedeutung geblieben ist, sieht man einmal von den skandinavischen Völkern ab. Aber gerade die großen seefahrenden und landnehmenden Nationen waren, wenn nicht katholisch, dann calvinistisch, zumindest und überwiegend der landnehmende Teil ihrer Bevölkerung. Karl Barth steht in der Tradition der schweizer Reformation und ist also reformierter Theologe gewesen. Viele in Deutschland haben seine Theologie und sein Wirken schon von daher mißverstanden, bei manchem liegt die Ablehnung sicher in der konfessionellen Verschiedenheit begründet. Alle anderen bedeutenden protestantischen Theologen Deutschlands im 20. Jahrhundert, genannt seien hier u.a. Rudolf Bultmann, Paul Tillich und Dietrich Bonhoeffer, wurzelten in Luther.1 In seinem Bemühen um eine neue dogmatische Grundlage, einer dogmatischen Grundlage überhaupt, bezog sich Barth allerdings auch auf Luther. Gerade Luther wird sein Trittstein auf dem Weg hin zu Paulus und zurück in die Gegenwart - vor allem zurück. Später erst hat sich Barth da, wo er es für nötig erachtete, von Luther distanziert, namentlich in der Frage, wie es um das politische Engagement der Kirche bestellt sein soll. 1 Strenggenommen war Barth allerdings, wie schon eingangs bemerkt, kein Deutscher, sondern Schweizer. Da er aber seine Theologie im Kontext sowohl deutscher Theologie als auch deutscher Politik entwickelt hat, darf man, ohne den Schweizern zu nahe treten zu wollen, Barth durchaus auch als einen deutschen Theologen bezeichnen.
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Das Bemühen um eine dogmatische Grundlage geschah dann bei ihm meist auf dem Weg der Polemik, d.h. in ständiger Abgrenzung und Bekämpfung der liberalen Theologie, deren Programm Vermittlung war. Da Barth seine Kritik nicht so formulierte, daß eine Modifizierung liberaler Theologie (und damit wiederum Vermittlung) als möglich gedacht werden konnte, er vielmehr der liberalen Theologie bestritt, überhaupt noch Theologie zu sein, zielte er auf ihr Zentrum. Daraus ist der Schluß gezogen worden, Barths Behauptung der Diastase zwischen Gott und Welt habe doch im Bereich des Politischen lutherische oder lutheranische Konsequenzen. Dagegen hat der DDR-Theologe Herbert Trebs schon in den 60er Jahren, also zu einer Zeit, als man politischem Engagement von Theologen gerade unter Berufung auf Karl Barth entgegenzutreten versuchte, geschrieben,: "Die Theologie der Diastase wurde in Deutschland als Freibrief für gesellschaftliche Passivität empfunden. Daß Politik ein 'weltlich1 Geschäft sei, hatte für Barth einen anderen Klang als für deutsche Lutheraner."2 Dem Nein Barths folgte auch ein Ja, aber kein lutheranisch-konservierendes, sondern ein zur Veränderung aufrufendes. b) Erkenntnisgrundlage
der Theologie und Methode der Dogmatik
Die Theologie der Diastase, auch Dialektische Theologie genannt, die Barth selber aber als Wort-Gottes-Theologie bezeichnet wissen wollte3, fragte, in Ermangelung eines Lehramtes zu einer Zeit, als Barth glaubte - aber nicht nur er alleine - die Theologie sei in die Irre gegangen, wieder nach der Erkenntnisgrundlage der Theologie. Diese Frage ist identisch mit der Frage nach der Existenzgrundlage und Berechtigung von Theologie überhaupt und damit der Legitimierung theologischer Rede gegenüber anderen Wissenschaften, deren Gegenstände andere sind. Denn Theologie ist nicht Wissenschaft im Sinne anderer Wissenschaften: "gerade als Wissenschaft im Sinne der anderen Wissenschaften hat die Theologie auf der Universität kein Daseinsrecht, ist sie eine unnötige Verdoppelung einiger in andre Fakultäten gehöriger Disziplinen. (...) Denn so gewiß das Wissen um das Phänomen der Religion dem Historiker, dem Psychologen, dem Philosophen unentbehrlich ist, so gewiß sind alle diese Forscher in der Lage, allein und ohne theologischen Beistand dieses Wissen zu gewinnen und zu pflegen. (...) Wenn das wirklich unsere Meinung sein sollte, daß Theologie aufzugehen habe in Religionswissenschaft, dann hätten wir das Daseinsrecht auf der Universität jedenfalls verwirkt."4 So wird denn schon hier, noch vor der Formulierung von Prolegomena der Dogmatik, alleine in der Unterschei2 3 4
Trebs: Karl Barth. Berlin (Ost) 1966, S.45. Vgl. Busch, S.157. Barth: Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie, S. 163.
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dung zwischen Theologie und anderen Disziplinen, indem jede Vermittlung von vornherein negiert wird, tatsächlich eine dogmatische Entscheidung getroffen - d.h. eine Entscheidung, die nicht willkürlich gesetzt oder aus dem Nichts heraus gefällt wird, sondern die, wie noch zu zeigen sein wird, so in der Sache der Theologie, d.h. ihrem Gegenstand, begründet ist. Vermittlung zwischen Theologie und anderen Wissenschaften mag später stattfinden, ist eigentlich unumgänglich, im Ansatz dagegen kann und darf es keine geben, will die Theologie Theologie bleiben. Damit ist in dieser rein methodischen Entscheidung, nimmt man das Wort Methode einmal streng etymologisch im Sinne von Nachgehen, schon eine materiale, inhaltliche Entscheidung impliziert, die, wenn auch unausgesprochen, den Prolegomena zur Dogmatik ihre Richtung gibt, indem sie sie zu theologischer Sachlichkeit verpflichtet. Zusammenfassend läßt sich zunächst sagen: Die Besinnung auf die Erkenntnisgrundlage der Theologie steht für gewöhnlich am Anfang einer dogmatischen Darstellung und wird mit Prolegomena überschrieben. Das ist notwendig geworden, nachdem die anderen Wissenschaften, allen voran natürlich die Philosophie, nicht mehr als ancillae theologiae angesehen werden können. Das Verhältnis zwischen der Theologie und den anderen Wissenschaften ist aber seitdem kein gleichberechtigtes geworden und kann dies wohl auch niemals werden, weil jetzt die Gefahr droht, daß die Theologie ihrerseits eine ancilla philosophiat wird oder gar eine ancilla philosophiarum, und dieser Gefahr gilt es schon in den Prolegomena zur Dogmatik zu wehren. Es geht also um den besonderen Gegenstand der Theologie, und darum ist dieser einleitende Teil nicht einfach nur ein Vorwort, sondern er nimmt in Umrissen die Gotteslehre insofern vorweg, als hier schon grundlegende Entscheidungen gefällt werden. "Der ^wsgangspunkt jeder Dogmatik ist stets implizit von ihrem Mittelpunkt her gegeben. Echte Prolegomena zur Dogmatik gibt es nicht."5 ES handelt sich m.a.W. um nichts anderes als um eine Dogmatik in nuce. Zunächst werden Entscheidungen getroffen, die den Gegenstand theologischer Rede gegenüber anderen Gegenständen abgrenzen, so daß also hier zunächst einmal vorwiegend negativ formuliert wird. Da es sich aber im eigentlichen Sinne gar nicht um einen Gegenstand handelt, weil dieser unverfügbar bleibt, stellt die Formulierung der Prolegomena sicherlich das schwierigste Stück der dogmatischen Arbeit dar, die ein Theologe zu leisten hat, weil ja auch die Abgrenzung permanent geleistet werden muß. Die Prolegomena bleiben in jeder Phase dogmatischer Arbeit als Korrektiv und Regulativ präsent. Auf Grund dessen kann es dann sogar als fraglich erscheinen, ob Dogmatik überhaupt möglich ist, denn es wird ja schließlich mit Begriffen operiert, über 5
Weber, Otto: Grundlagen der Dogmatik B.l, Neukirchen 1955, S.10.
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die der Theologe nicht ausschließlich verfugt. Diese Skepsis hat auch Karl Barth geteilt: "Ob die Theologie über die Prolegomena zur Christologie je hinauskommen kann und soll? Es könnte ja auch sein, daß mit den Prolegomenen Alles gesagt ist."6 Das bedeutet nichts anderes als die Feststellung der Diastase zwischen Gott und Mensch, die Gegenbehauptung zur liberalen Theologie und gegenüber der dem Katholizismus zugrundeliegenden natürlichen Theologie. Inhalt und Methode scheinen in eins gefallen zu sein, bzw. die Methode ist zunächst ausschließlicher Inhalt. Nun kann aber alleine die Feststellung der Diastase zwischen Gott und Welt nicht das letzte Wort der Theologie sein, will sie nicht in einer reinen Negation verharren. Auf der methodischen Ebene stellt sich damit jetzt schon das eigentliche Problem der Gotteslehre, nämlich wie Gott erkannt werden kann, wenn doch gleichzeitig die Unmöglichkeit solcher Erkenntnis anerkannt bleiben soll. Denn auch das Verharren in Negation setzt ja das Verbot einer Position als bekannt voraus und muß darlegen, wie es erkannt worden ist. Die für die Theologie dann einzige Möglichkeit, die ihr verbleibt, ist nun wiederum nicht die ihre, sondern bleibt ausschließlich Gottes Möglichkeit, und das ist seine Selbstmitteilung, d.h. seine Offenbarung. Theologie in diesem Sinne ist damit im höchsten Maße abhängig von ihrem Gegenstand, der sie erst möglich macht. Ohne Offenbarung gäbe es allenfalls Philosophie, aber niemals Theologie. Christliche Theologie ist hier, anders als etwa bei Thomas von Aquin, geradezu im Gegensatz zu ihm, entweder Offenbarungstheologie oder gar nicht Theologie, d.h. austauschbar mit Philosophie, Psychologie o.a.: "Er schafft als das Licht selbst die Augen, die ihn sehen können, er öffnet als Wort selbst die Ohren, die ihn hören können."7 Gott wird erkannt, weil er sich zu erkennen gibt. Dies wird fur Barth zur einzig möglichen Begründung von Theologie, wenn Theologie überhaupt weiter möglich sein soll. Die katholische Kirche hat auf Grund des Bekenntnisses des Petrus die Theologie der Autorität des Lehramtes unterworfen. Während also im Katholizismus die Vollmachtsübertragungen betont werden, legt die protestantische Theologie besonderen Wert auf den dem Petrusbekenntnis im Matthäusevangelium unmittelbar folgenden Vers, in dem es heißt: "Selig bist du, Simon, Sohn des Jona; denn Fleisch und Blut hat dir das nicht geoffenbart, sondern mein Vater in den Himmeln." (Mt 16,17) Wer der Theologie skeptisch oder gar ablehnend gegenübersteht, wird freilich in all diesen Überlegungen und Schwierigkeiten nichts weiter als Priesterbetrug bzw. Kämpfe um ein Definitionsmonopol im religiös-theologischen Bereich sehen - wobei hier noch gar nicht diese Kämpfe, sondern erst die 6 7
Barth: Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie, S. 178. Gollwitzer: Die Existenz Gottes im Bekenntnis des Glaubens. München 1963, S.l 13.
3. Karl Barth als Theologe der Neuzeit
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Spielregeln erläutert werden. So schreibt Hans Blumenberg: "Der philosophische Betrachter dieser Szene der theologischen Selbstverständigung erkennt die vertrauten Muster aller Selbsterhaltungen: das der Reduktion der gefährdeten Substanz auf einen intangiblen Kernbestand, das der hingenommenen Verwandelbarkeit mit vermeintlich oder reell 'relevanten' theoretischen Dienstleistungen für diese oder jene Praxis, schließlich das der Einnistung ins letztaktuelle Interesse."8 Dies aber wäre zu einfach. Daß es um ein Definitionsmonopol geht, dem kann von theologischer Seite durchaus zugestimmt werden, aber verbunden mit dem Hinweis, daß der religiös-theologische Bereich in einer Welt voller Götter sich nicht ab- und damit ausgrenzen läßt, wobei noch einmal an das Verständnis der Säkularisierung von Carl Schmitt erinnert wird.9 Den Gang über den Feuerbach geht die Theologie Barths jedenfalls nicht. Sie ist, wenn man den Hinweis auf Ludwig Feuerbach in seiner Bildlichkeit weiterführen will, der einzige noch verbliebene Brückenkopf auf dem diesseitigen Ufer, und sie weiß, daß sich ihr am jenseitigen Ufer als einzige Aufgabe nur noch die Suche nach dem homo absconditus stellen kann, eine angesichts des zerstampften und verwüsteten Geländes, wo man keine Spuren mehr zu erkennen vermag, nicht sonderlich vielversprechende Aussicht. Soweit sind sich Schmitt und Barth einig. Nun setzt die Offenbarung als Voraussetzung ihrerseits wieder einen Offenbarer voraus, d.h. es muß die Existenz Gottes als Voraussetzung anerkannt werden. Dies bedeutet nicht, daß etwa die Existenz Gottes im Dienste eines theoretischen Systems oder der praktischen Vernunft postuliert wird. Postulate beschließen solche Systeme und haben darüber hinaus immer den Charakter eines Sprungs. Die Dogmatik dagegen postuliert die Existenz Gottes 8
Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit, S.14f. Weniger an Thaies sei hier erinnert, der gesagt haben soll, die Welt sei voller Götter (vgl. Blumenberg: Arbeit am Mythos. 4. Aufl. 1986, S.31) noch ist hier an Epikur gedacht, der im Brief an Menoikeus geschrieben hat: "Denn besser wäre es, sich dem Mythos von den Göttern anzuschließen, als sich zum Sklaven der Schicksalsnotwendigkeit der Naturphilosophen zu machen." (Epikur. Von der Oberwindung der Furcht. Katechismus, Lehrbriefe, Spruchsammlung, Fragmente. Übers, und eingeleitet von Gigon, München 1983, S.105), eher an Luther: "Das nun, sage ich, woran du dein Herz hängst und worauf du dich verlassest, das ist eigentlich dein Gott." (Der große Katechismus; in: Band 1 der Calwer Luther-Ausgabe, hrsg. von Metzger, 2. Aufl., Stuttgart 1977, S.22) Der menschgewordene Gott steht natürlich in einem besonderen Verhältnis zu den Göttern und Götzen, d.h. zu den mythischen Gottheiten, aber nicht in einem Auschließlichkeitsverhältnis. Sowohl Blumenberg, Odo Marquard (Lob des Polytheismus. Ober Monomythie und Polymythie. Erstveröffentlicht in Philosophie und Mythos, hrsg. von Hans Poser, Berlin und New York 1979, s.a. Marquard, Odo: Abschied vom Prinzipiellen. 3. Aufl., Stuttgart 1984) und Taubes (Zur Konjunktur des Polytheismus, in: Bohrer, Karl (Hrsg): Begriff und Bild einer Rekonstruktion) haben das Dogma dem Mythos gegenübergestellt auch wenn sie getrennt marschieren, schlagen sie an dieser Stelle doch gemeinsam. Das Dogma aber vernichtet den Mythos nicht, es überwindet ihn, indem es ihn aufhebt; wenn hier von aufheben die Rede ist, dann freilich nicht als einer Kategorie der dialektischen Logik: das Dogma stellt keine Synthese dar, es macht sich aber den Mythos dienstbar. 9
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nicht am Ende ihrer Überlegungen, sondern anerkennt sie als ihre Grundlage und Voraussetzung von Anfang an. Das Wort Existenz ist freilich ein philosophisch vorbelasteter Begriff. Die Alten konnten noch unbelastet die Existenz Gottes behaupten oder gar beweisen (Anselm von Canterbury), wobei auch da der Beweis nicht einer im heutigen wissenschaftlichen Sinne gewesen ist, sondern den Glauben zu seiner Voraussetzung hatte sowie die Vorstellung von seiner Vereinbarkeit mit der Vernunft. 10 Wahrheit galt unter Berufung auf Aristoteles als adaequatio intellectus et rei. Gott als Schöpfer hatte sowohl die zu erkennenden Dinge als auch die die Dinge erkennenden Menschen geschaffen, so daß Gott als der Garant der Wahrheit gedacht werden konnte. "Die den Zusammenhang des Seins bildende Wahrheit ist ihrerseits aber davon abhängig, daß der intellectus divinus das mit sich schlechthin einige Eine, sozusagen Zusammenhang und Zusammenhalt in nuce ist. Deshalb wurde die schlechthinnige Identität von Wesen und Existenz Gottes behauptet: die Existenz Gottes folgt aus seinem Wesen logisch notwendig.Ml1 Unter Hinweis auf die ersten Kapitel der Confessiones des Augustinus schreibt Helmut Gollwitzer, dessen Buch die fragwürdige Kategorie der Existenz im Titel führt: MDaß man mit einem von dem cartesianischen Subjekt-Objekt-Schema geprägten Existenzbegriff jenes frühere Denken notwendig mißverstehen muß, ist eine der ersten Erkenntnisse, die für unser Problem nötig sind."12 Dennoch müsse und dürfe der Theologe auch heute von der Existenz Gottes sprechen: HBesteht unsere frühere Behauptung zu recht, daß alle unsere Begriffe anthropomorph sind, dann hat es keinen Sinn, ausgerechnet die Verwendung von Begriffen wie 'Existenz' und 'Wirklichkeit' in bezug auf Gott zu verbieten."13 Gollwitzer beschreibt hier das Dilemma, daß die Erkenntnis Gottes zwar möglich wird auf Grund der Offenbarung Gottes, aber im menschlichen Denken und Sprechen sich realisiert. Sie soll sich aber nun so realisieren, daß Gott trotzdem Gott bleibt und nicht in Begriffen, die sich der Mensch bildet, gefangen wird - ansonsten wäre eine begriffliches Vermögen der Gotteserkenntnis beim Menschen anzunehmen, was die Offenbarung tendenziell überflüssig machte, sie sogar negierte. Theologie wäre in Philosophie aufgegangen. Offenbarung und darüber hinaus Dogmatik heißt darum nicht, daß Gott restlos 10 "Tomas von Aquin zum Beispiel spricht viele Male von 'Beweis* (demonstratio), wo er in Wirklichkeit nur einen 'Konvenienzgruncf darzulegen sucht; und dies ist etwas gänzlich Anderes als ein Beweis im modernen Wortverstand. Einen 'Konvenienzgruncf darlegen heißt nämlich nichts weiter als zeigen, daß und in welchem Sinn die Wahrheit des Glaubens 'stimme* und 'passe' zu dem, was wir aus Eigenem, auf Grund von Erfahrung und Vernunftargument, wissen." (Pieper: Scholastik. Gestalten und Probleme der mittelalterlichen Philosophie. 2. Aufl., München 1986, S.62). 11 Jüngel: Gott als das Geheimnis der Welt, Tübingen 1986, S.139. 12 Gollwitzer: Die Existenz Gottes, S.163. 13 Ebenda, S.164.
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erkannt werden kann, was seine Verfügbarkeit implizierte, sondern daß Gott sich in seiner Offenbarung in die Aussagebedingungen, aber nicht in die Erkenntnisbedingungen dieser Welt begibt. "Der lebendige Herr begibt sich nicht unter die Erkenntnisbedingungen, wohl aber unter die Aussagebedingungen des partikularen Seienden (...). Würde er in die Erkenntnisbedingungen des partikularen Seins eingehen, so hätte er mit der Offenbarung seine Gottheit verloren".14 Wohlgemerkt, nicht Kritik des menschlichen Erkenntnisvermögens, also nicht Kritik der reinen Vernunft bildet den Hintergrund dieser Auffassung, auch wenn hier mit ihren Kategorien operiert wird. Vielmehr wird diese Auffassung wieder streng vom Begriff der Offenbarung her entwickelt. c) Trinitarisch
gedachtes Sein Gottes
Die Rede von der Existenz Gottes bleibt dennoch im höchsten Maße mißverständlich. Sie ist zwar die logische Voraussetzung seiner Offenbarung, aber nicht sie, sondern diese Offenbarung ist die Voraussetzung der Theologie. Damit ist nicht ein statisches Sein, sondern ein Geschehen Voraussetzung von Theologie. Das ist die Grundlage der Lehre von der Trinität. Die Unverfügbarkeit Gottes muß anerkannt und gewahrt werden. Sie kann nur gewahrt werden, wenn Gott Herr seiner Offenbarung bleibt. Jenseits dessen, was offenbar ist, sind alle Aussagen über Gott untersagt - bei Strafe, daß die Theologie nicht mehr Theologie wäre. Daraus folgt aber nun, daß der Gedanke vom Offenbarer als der Voraussetzung der Offenbarung nicht nur dessen Existenz impliziert, sondern es läßt sich jetzt weiter sagen, daß Gott, weil er sich offenbart, nicht nur ist, sondern offenbar sein will. Eberhard Jüngel faßt diesen Willen als die "Freiheit Gottes": Gott als das Unbedingte, das ens necessarium, wie es die mittelalterliche Theologie ausgedrückt habe, könne nicht als das "Jähe" gedacht werden, weil auch z.B. der Urknall "und ebenso das je und jäh sich Ereignende (...) unbedingt (sind) nicht nur im Sinne einer Unabhängigkeit von anderem, sondern darüber hinaus auch im Sinne von Unmotiviertheit." Wenn dagegen gesagt werde, Gott komme von Gott - die positive Formulierung der Aussage, daß Gott unbedingt ist - bringe das dann zum Ausdruck, "daß das Sein Gottes kein - sich sozusagen plötzlich entladendes unbestimmtes Ereignis, sondern ein sich selbst bestimmendes Geschehen ist."15 Diese Selbstbestimmung, daran sei hier noch einmal erinnert, hat Luther im Streit mit Erasmus alleine Gott zuerkannt; insofern ist der freie Wille für Luther ein ausschließliches Gottesprädikat gewesen, während der Mensch nur als befreit gedacht werden könne. 14 15
Ebenda, S. 117. Jüngel: Gott als Geheimnis, S.45.
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Hier wird deutlich, wie sehr die Gotteslehre gerade in den Prolegomena präsent ist und wie alleine auf Grund der Offenbarung eine negative Theologie schon von den Ansätzen her ausgeschlossen werden muß. Gott will sich mitteilen, und das macht Theologie nicht nur möglich, sondern es macht strenggenommen die Unmöglichkeit von Theologie immöglich. Es macht aber auch die Dogmatik zur maßgebenden Disziplin in der Theologie. Man könnte ja einwenden, Gott offenbare sich auch in der Mystik, in der Natur, in der Musik usf., so daß z.B. das Gefühl des Menschen als Empfangerorgan für Offenbarung in Betracht käme. Freilich bleibt es der Freiheit Gottes überlassen, die Wege zu wählen, so daß diese Möglichkeiten nicht ausgeschlossen werden dürfen, dennoch muß festgehalten werden, daß Gott sich nicht dem Einzelnen, sondern allen offenbaren will, daß er also öffentlich sein will. Darum muß für die Theologie gelten, was Hegel in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes kritisch über die Betonung des Gefühls angemerkt hat: "Indem sich jener auf das Gefühl, sein inwendiges Orakel beruft, ist er gegen den, der nicht übereinstimmt, fertig; er muß erklären, daß er dem weiter nichts zu sagen habe, der nicht dasselbe in sich finde und fühle; mit anderen Worten, er tritt die Wurzel der Humanität mit Füßen. Denn die Natur dieser ist, auf die Übereinkunft mit anderen zu dringen, und ihre Existenz nur in der zustande gebrachten Gemeinsamkeit der Bewußtsein(e).Hl6 So weit muß die Theologie mit Hegel gehen, freilich keinen Schritt weiter, etwa so, als könne der Begriff Gottes gewonnen werden über die Selbstvergewisserung des Denkens. "Gerade darin ist es (Dogmatik; Anm. M.E.) Denken, daß es sich Gott gegenüber nicht auf einen Nullpunkt reduzieren kann, um so dann - remoto deo - einen Gottesgedanken zu konstruieren. Zu so etwas wie einem Gottesgedanken kann es nur kommen, weil das Denken schon von Gott angesprochen ist. Bringt aber nicht erst das Denken Gott zum Reden, sondern ist es von ihm schon immer angesprochen, dann kann es sein Angesprochensein nur in einem Gottesgedanken explizieren, der Gott auch materialiter als den von sich aus Redenden denkt."17 Dieser Gottesgedanke ist aber nun nicht anders als trinitarisch zu explizieren. Eberhard Jüngel hat besonders den Wortcharakter der Offenbarung betont, wobei er das Wort nicht als signa einer res alleine verstanden wissen will, sondern insbesondere seinen Anredecharakter betont und den Tod Jesu am Kreuz als die Anrede Gottes gegenüber dem Menschen begreift. Im Anredecharakter des Wortes Gottes offenbare sich Gott als der Liebende. Kjetil Hafstad hat bei Jüngel hier durchaus das Bemühen gesehen und auch gewürdigt, die Rolle des Menschen im Offenbarungsgeschehen Gottes zu definieren: "Einerseits arbeitet er strikt theologisch in dem Sinne, daß er methodisch von 16 17
Hegel: Die Phänomenologie des Geistes. Hamburg 1952, S.56. Jüngel: Gott als Geheimnis, S.211.
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der Offenbarung ausgeht, wie sie in den biblischen Schriften bezeugt ist. Die Analyse der Offenbarung wirft ein Licht auf die grundlegenden Bedingungen des menschlichen Daseins, sie bestimmt den Menschen ontologisch. Zugleich werden Existentialien im Dasein des Menschen aufgedeckt, die auch auf allgemein-menschlichem Niveau erfahrbar und erkennbar sind. So schlägt Jüngel eine Brücke zwischen Offenbarung und Erfahrung. Die Sprache, im Sinne von Rede-Akt, macht diese Zusammenkoppelung möglich."18 Doch auch Hafstad schränkt kritisch ein, daß die Freiheit Gottes hier in Gefahr gerät, und mit Walter Keck muß kritisch eingewandt werden: "Wer bereits fertige Maßstäbe mitbringt, wer also z.B. im Banne einer bestimmten Sprachontologie von vorneherein weiß oder zu wissen glaubt, was 'Wort* heißt, ohne sich dem Gegenüber dieses Wortes, das im biblischen Zeugnis zu uns redet, zu stellen, wer also 'Wort Gottes' nur als species einem ehern festgelegten genus von Wort einzuordnen vermag, der wird hier nur kopfschüttelnd vor einer Mauer stehen, die er selbst errichtet hat."19 Barth selbst hatte dem Vorwurf des katholischen Theologen Erich Przywaras widersprochen, seine Welt christlicher Offenbarung sei reduziert auf ein "Gespräch Gottes mit den Menschen"20, Hafstad vermißt bei Barth überhaupt eine Lehre von der Sprache und schreibt: "Barth lehnt ein Sprachverständnis ab, das Gott auf ein Element der Korrelation im Verhältnis zum Menschen reduziert. Ist Gott in einer festen Korrelation gefangen, ist er nicht mehr souverän in seiner Offenbarung." 21 So kann Wortontologie durchaus zu Sprachlosigkeit fuhren, wenn gilt, daß darüber, worüber man nicht sprechen kann, geschwiegen werden muß, weil die Welt alles ist, was der Fall ist, um Ludwig Wittgensteins ersten und letzten Satz seines Tractatus logico-philosophicus zu zitieren, wobei der Theologe mit dem Wort Fall noch anderes verbindet als nur Fakt. Dem reformierten Theologen Barth jedenfalls geht die Souveränität Gottes über alles, ihre Einschränkungen hätte Folgen, die zu einem anderen Gottesbild fuhren würden und fuhren müßten. Damit ist also Theologie nicht immer auch angemessene Rede von Gott. Sie muß, will sie das sein, was sie durch Offenbarung sein kann und sein muß, die Offenbarung selber mitteilen, und sie muß sich, was ebenfalls durch die Offenbarung möglich sein kann und möglich sein muß, an Offenbarung überprüfen lassen. Das ist die Aufgabe der Dogmatik. Nun ist aber im christlichen Verständnis mit Offenbarung nicht gemeint, daß Gott etwa seinen Willen offenbart, etwa als Koran, Buch Mormon oder was sonst noch beansprucht, Offenbarung zu sein - schließlich auch das als 18 19 2 0 21
Hafstad: Wort und Geschichte. Das Geschichtsverständnis Karl Barths. München 1985, S.402. Kreck: Grundfragen der Dogmatik. 2. Aufl., München 1977, S.l 16. Barth: KD I,l,S.178f. Hafstad, S.374.
9 Eichhorn
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Gottes Wille geoffenbarte Gesetz. Dann würde das Evangelium relativiert und Offenbarung wäre ein beliebiger Begriff. Offenbarung meint im christlichen Kontext, daß Gott nichts weniger offenbart als sich selber, und das in dem Menschen Jesus Christus. Jesus darf nicht etwa nur als Mittler einer frohen Botschaft aufgefaßt werden, so wie ihn der Islam als einen Propheten versteht, sondern die Menschwerdung Gottes selbst ist die frohe Botschaft, das euangelion. Das heißt aber nichts anderes, als daß Gott im Menschen, aber nun wieder nicht im abstrakten, außer der Welt hockenden Menschen, etwa in der Menschheit, sondern in Jesus von Nazareth erkannt wird, "...christliche Theologie kann das Wort 'Gott1 sinnvoll nur in einem Zusammenhang verwenden, der durch das Verständnis des Menschen Jesus bestimmt ist. Was das Wort 'Gott' zu denken gibt, entscheidet sich für den christlichen Glauben an Jesus."22 Die Dogmatik ist damit nichts anderes als Nachdenken der Offenbarung, d.h. der Menschwerdung Gottes. Sie interpretiert dieses Geschehen, indem sie mit anderen Worten immer wieder dasselbe zu sagen versucht - und indem sie auch sich selber immer wieder unter Häresieverdacht stellt. Damit ist schließlich das Kriterium benannt, mit dessen Hilfe unterschieden wird: es ist die Offenbarung selber, d.h. Jesus Christus. Was Karl Barth in einem Vortrag des Jahres 1922 geäußert hat, blieb sein Programm und damit Richtschnur seines dogmatischen Denkens: "Wenn eben einmal die entscheidende Einsicht gewonnen ist, daß nicht die Vergottung des Menschen, sondern die Menschwerdung Gottes das Thema der Theologie ist, wo diese Einsicht auch nur gelegentlich aufblitzt in einem Theologen, da gewinnt er Geschmack gerade an dem Objektiven, nicht als psychischer Vorgang zu Analysierenden in Bibel und Dogma, dann beginnt die ihm vorher als 'supranaturalistisch' so verdächtige und mißliche Welt, in der er sich da befindet, allmählich aber fast mühelos ihm verständlich und sinnvoll zu werden, dann sieht er ihre Gedanken sozusagen von innen oder von hinten, begreift, daß es so und nicht anders geschrieben stehen muß, manchmal bis auf entlegenste Winkel, von denen er sich nicht träumen ließ, daß er da noch heimisch werden könnte, bekommt eine gewisse Freiheit, sich in diesen ungewohnten Räumen zu bewegen, und ist vielleicht zuletzt soweit, das Apostolikum etwa mit allen seinen Härten einfach wahrer, tiefer und sogar geistreicher zu finden als das, was moderne Kurzatmigkeit an seine Stelle setzen möchte".23 So wird Jesus Christus als Theseus sein eigener Ariadnefaden im Labyrinth einer fast zweitausendjährigen Dogmengeschichte, aus dem sich dann nur ein Ausweg finden läßt, wenn die Verbindung zum Eingang erhalten bleibt. 22 23
Jüngel.: Gott als Geheimnis, S.13. Barth: Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie, S. 168.
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Eines Lehramtes bedarf es von daher nicht, es ist vielmehr zu sagen, daß ein Lehramt die Offenbarung Gottes einzuschränken versucht. Auf Grund der Offenbarung läßt sich angemessene Rede von Gott aber nun nicht anders als trinitarisch darstellen. Die Lehre von der Trinität ist angemessene Rede von Gott als dem Herrn über seine Offenbarung, der Offenbarung selber und dem Offenbar-Sein. Im Jahre 1922 hatte Barth noch ganz den Geheimnischarakter Gottes betont und darum die Möglichkeit von Dogmatik bestritten, Theologie wäre dann nur noch als eine Art negativer Dialektik möglich gewesen. Das aber konnte das letzte Wort der Theologie nicht sein, wenn sie Rede von der Offenbarung Gottes, d.i. Jesus Christus, sein will. Dann wäre ja Theologie eine allgemeine menschliche Möglichkeit und eine Leugnung der Offenbarung. So definiert Barth die Theologie später noch einmal anders: "Theologie heißt rationale Bemühung um das Geheimnis. Aber alle rationale Bemühung um dieses Geheimnis, je ernster sie ist, kann nur dazu führen, es aufs neue und erst recht als Geheimnis zu verstehen und sichtbar zu machen. Eben darum kann es sich lohnen, sich dieser rationalen Bemühung hinzugeben. Wer sich hier gar nicht bemühen wollte, der würde ja wohl auch nicht wissen, was er sagt, wenn er sagt, daß es sich hier um Gottes Geheimnis handelt."24 Die Lehre von der Trinität bzw. das trinitarische Dogma ist solches rationale Bemühen. Sie ist keinesfalls die Offenbarung selber, als gäbe sie etwa letztgültige Antworten auf die Frage nach dem Wesen Gottes. Sie löst hier keine Probleme, weil Gott ja als identisch mit seiner Offenbarung zu begreifen ist und ein darüber hinausgehendes Spekulieren nicht Aufgabe von Theologie sein kann. "Wir stehen vor dem Problem, daß in dem Satz 'Gott redet' - nicht in dem allgemeinen, aber in dem der Bibel entnommenen Satz 'Gott redet' Subjekt, Prädikat und Objekt sowohl gleichzusetzen als auch zu unterscheiden sind."25 So ist die Trinitätslehre nichts anderes als die Darstellung dessen, was dem biblischen Verständnis nach Offenbarung heißt. "Wir kommen nicht auf einem anderen Weg zur Trinitätslehre als eben auf dem Weg einer Analyse des Offenbarungsbegriffs. Und umgekehrt: die Offenbarung muß, um richtig interpretiert zu werden, als Grund der Trinitätslehre interpretiert werden".26 Eberhard Jüngel hat Gollwitzer dann insofern kritisiert, daß er die Rede vom Sein Gottes nicht gleich trinitarisch präzisiert habe, denn: "Die Trinitätslehre ist dann folgerichtig die durch die Offenbarung als Selbstinterpretation Gottes ermöglichte Interpretation der Offenbarung und damit das Sein Gottes."27
2 4 25 2 6 2 7
Barth: KD 1,1 Zürich 1954, S.388. Barth: KD I,1,S.316. Barth: KD 1,1, S.329. Jüngel: Gottes Sein ist im Werden. 4.Aufl., Tübingen 1986, S.27.
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Damit stellt sich aber das Verhältnis zwischen Theologie und Welt wieder als Problem. Wie soll sich denn die Theologie mit ihrer Sache gegenüber der Welt verhalten, wenn sie sich nicht in eine mehr oder weniger exotische Ecke stellen lassen und zu einer Art Glasperlenspiel werden will, zwar unberührt von der Welt, aber auch ohne Bedeutung für sie? Die Antwort Barths ist, daß die Theologie, indem sie sich ausschließlich ihrer Sache widmet, nunmehr nur indirekten Dienst an der Welt ist und sein kann. "Ist sie darüber hinaus auch direkter Dienst in der Welt? Sollten die Klärungen, zu denen sie dort zu helfen hat, mutatis mutandis doch auch eine Bedeutung für das allgemein menschliche Kulturleben, z.B. für den Sinn und Betrieb der sonstigen menschlichen Wissenschaft haben? Sollte sie etwa auch der Kunst, der Politik, gar der Wirtschaft nötig sein, etwas zu sagen zu haben und hilfreich sein können? Ob dem so ist, kann hier insofern nur eine Frage sein, als die Antwort darauf sinnvollerweise nicht von der Theologie, sondern nur von denen, die es angehen mag, gegeben werden kann. Es könnte ja sein, daß der die Theologie beschäftigende Gegenstand bewußt, halb- oder unbewußt auch extra muros ecclesiae mindestens als Problem empfunden wird, das man etwa in der Philosophie bestenfalls von ferne visiert, aber nicht ernstlich in Angriff genommen sehen möchte. Daß unter und neben dem vielen Anderen, das die Menschen beschäftigt, irgendwo auch theologische Arbeit zu tun versucht wird, das könnte, ob es nun kopfschüttelnd oder respektvoll vermerkt wird, de facto eine Erinnerung daran sein, daß außer, neben und gegenüber dem ganzen menschlichen Wollen, Tun, Meinen und Wissen so etwas wie das Werk und Wort Gottes als Grenze, Grund und Ziel, als Motiv und Quietiv dieses Ganzen in Frage kommen möchte.1,28 In diesen Sätzen spiegelt sich das ganze Verhältnis Barths zur Neuzeit wieder: Theologie will und kann nicht Nötigung sein, aber sie thematisiert, was man anderswo "nicht ernstlich in Angriff genommen sehen möchte." Von hier aus bestimmte sich auch Barths Verhalten angesichts der nationalsozialistischen Machtergreifung im Jahre 1933. Die Lehre von der Trinität schließt jede politische Theologie aus, die sich als Rechtfertigung einer politischen Situation versteht. Darauf hat Peter Koslowski unter Berufung auf Barth und unter Zurückweisung der von Erik Peterson vorgenommenen Einschränkung des Begriffs der politischen Theologie hingewiesen: "Die Trinität schließt nicht deshalb einen politischen Monotheismus aus, weil die göttliche Dreiheit keine natürliche Entsprechung hat (...), sondern deshalb, weil Gott sich nur einmal offenbart hat und jede angenommene weitere Offenbarung Gottes in einem politischen Prinzip, sei es Rasse, Klasse, Volk oder Masse, die Offenbarung Gottes in Christus zu einem unbedeutenden Vorspiel gegenwärtiger Offenbarung werden läßt."29 28
Barth: Einführung in die evangelische Theologie. Gütersloh 1980, S.151f. Koslowski: Politischer Monotheismus oder Trinitätslehre? Zu Möglichkeit und Unmöglichkeit einer christlichen Politischen Theologie, in: Taubes: Der Fürst dieser Welt, S.30. 2 9
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d) Karl Barth als neuzeitlicher Theologe Karl Gerhard Steck hat bei Barth von einer Absage an die Neuzeit gesprochen. "Den Ausdruck von der Legitimität der Neuzeit hat er m.W. nicht aufgebracht oder verwendet. Aber er hat viel dazu getan, daß diese Legitimität in Zweifel geraten konnte."30 Das dürfe aber nicht so aufgefaßt werden, als stehe gerade die Kritik dieser Legitimität im Mittelpunkt der Barthschen Auseinandersetzung mit seiner Zeit, vielmehr habe der Anbiederung der Theologie an die Neuzeit und damit der bewußten oder auch kaum merklichen Verwandlung der Theologie in Anthropologie der Angriff und die Absage gegolten. "Die Kriterien der Absage sind formell die Eigenständigkeit von Theologie und Kirche, inhaltlich die strenge Konzentration der christlich-theologischen Aussage auf die Offenbarung Gottes in Christus."31 Weitergehend präzisiert Dieter Schellong die Kritik Barths, wenn er darauf hinweist, "daß man die Neuzeit nicht als fertigen und geschlossenen Block" ansehen sollte, "sie vielmehr als in sich durchaus widerspruchsvoll" betrachten müsse, "so daß Kritik an der Neuzeit nicht notwendig von außen an die Neuzeit herangetragen werden muß, sondern in den ihr immanenten Spannungen beheimatet sein kann."32 Barths Kritik beziehe sich auf eine Theologie, die den Versuch, den Menschen an die Stelle Gottes zu setzen, nicht nur ohne Widerspruch hingenommen, sondern ihn sogar mitvollzogen habe. Dies darf aber weder bei Schellong noch bei Barth so verstanden werden, als ginge es, im Sinne von Blumenberg, beiden um Selbsterhaltung der Theologie, d.h. daß sie gegenüber Kritik abgeschüttet werden soll. Daß Theologie in Anthropologie umschlägt, heißt diesem Verständnis nach nichts anderes, als daß an die Stelle Gottes der abstrakte Mensch gesetzt wird, was wiederum nichts anderes als eine weitere Projektion darstelle. Schellong selbst versteht, unter Berufung auf Spinoza und in Anlehnung an Hans Blumenberg, unter dem Prinzip der Neuzeit das der Selbsterhaltung, der conservano sui , das den theologischen Begriff der conservalo Dei ersetzt habe: "Die Selbsterhaltung wird als Prinzip neuzeitlicher Rationalität proklamiert."33 In der Folge könne man die Frage nach einem weitergehenden Sinn und Zweck des Lebensvollzuges nicht stellen. Der Ausgleich des Widerstreits der gegeneinander im Interesse ihrer individuellen Selbsterhaltung Antretenden sei durch die Annahme der allen gemeinsamen Vernunft als möglich erschienen (wenngleich auch Spinoza die Affekte im Menschen noch pessimistisch als gegenüber der Vernunft für stärker erachtet habe). Werde aber Selbsterhaltung als grundlegendes Prinzip annerkannt, impliziere das nicht nur, daß die Welt als ein Objekt betrachtet 3 0 31 3 2 33
Steck/Schellong: Karl Barth und die Neuzeit, S. 1 lf. Ebenda, S.32. Ebenda, S.36. Ebenda, S.43.
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wird, über das im Hinblick auf die Selbsterhaltung verfügt werden kann, auch Autorität im Sinne einer von außen kommenden Zwecksetzung müsse abgelehnt werden: "Gibt es keinen gegliederten und theleologisch geordneten Kosmos mehr, weil es nur noch ein einheitliches Lebbensprinzip gibt, und weiter: sind alle gleich mit der gleichen ratio als Selbsterhaltung ausgestattet, so gibt es keine unterschiedlichen Aufgaben und Vollmachten, so kann keiner einem anderen Zweck oder Sinn des agere und vivere bestimmen. Selbsterhaltung als universales rationales Prinzip impliziert per definitionem Selbstbestimmung.H34 Entsprechend sei Hand in Hand mit dem Prinzip der Selbsterhaltung die Wirtschaftsweise des Kapitalismus erschienen. "Von 'Neuzeit* zu reden, ohne vom Kapitalismus zu reden, scheint mir keinen großen Erkenntniswert zu haben; denn dann fehlt der Realitätsbezug des neuzeitlichen Prinzips."35 So werde Barth, den Schellong als einen Sozialisten betrachtet, zwar zum Kritiker der Neuzeit, aber ohne daß er hinter die Neuzeit zurückgefallen sei, daß er also die Legitimität der Neuzeit bestritten hätte, sondern daß er ihre Versprechen nur als noch nicht eingelöst betrachtet habe: "Angesichts der Ausbeutung der Kolonien und angesichts dessen, daß die meisten nichts anderes zu verkaufen hatten und haben als ihre Arbeitskraft, ist das angeblich universale und freie bürgerliche Subjekt in der Realität nur sehr partikulär."36 Auch Michael Weinrich betrachtet Barth als einen neuzeitlichen Kritiker der Neuzeit und schreibt im Zusammenhang mit Barths theologischer Religionskritik: "Barth thematisiert mit dem Religionsproblem für die Theologie die 'Dialektik der Aufklärung', was in der Barth-Rezeption noch kaum recht nachvollzogen ist."37 Einen anderen Ansatz in der Beurteilung von Barths Stellung gegenüber der Neuzeit vertritt Trutz Rendtorff. Rendtorff bestreitet die zentrale Stellung der Dogmatik in der neuzeitlichen Theologie überhaupt, denn das dogmatische und damit kirchliche Zeitalter müsse seit der Aufklärung als für beendet betrachtet werden. In der Folge der Aufklärung habe sich das Christentum von der Kirche emanzipiert, ein Dienst, den die Aufklärung nachträglich der Reformation geleistet habe, denn "zum Protestantismus gehört die Unterscheidung von Kirche und Christentum."38 Notwendiger Ausdruck dieser Emanzipation sei fortan nicht mehr eine Dogmatik, sondern eine, wie Rendtorff es
3 4
Ebenda, S.47. Ebenda, S.51. 3 6 Ebenda, S.53. 3 7 Weinrich: Die religiöse Verlegenheit der Kirche. Religion und christliches Leben als Problem der Dogmatik bei Karl Barth, inWeinrich/Eichler: Der gute Widerspruch. Das unbegriffene Zeugnis von Karl Barth. Neukirchen-Vluyn 1886, S.l 10. 38 Rendtorff: Christentum zwischen Revolution und Restauration. München 1970, S.25. 35
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nennt, "Theorie des Christentums"39, die ihrerseits nichts anderes mehr thematisieren sollte als diese Emanzipation, die gleichzeitig den Kern neuzeitlicher Autonomie ausmache. Die Unterscheidung zwischen Christentum und Kirche stelle nämlich das Vorbild dar "für die Unterscheidung zwischen dem Anspruch des Staates und seiner Institutionen und der Freiheit des Bürgers."40 Betonen Steck und Schellong die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Neuzeit und betrachten sie so Barth als einen ihrer neuzeitlichen Kritiker, so versteht Rendtorff Freiheit im wesentlichen als Emanzipation des Einzelnen von institutioneller Bevormundung. Entsprechend betrachtet er Barth als einen dem neuzeitlichen Freiheitsprinzip kritisch gegenüberstehenden Theologen. Dogmatik aber, die Rendtorff als den Versuch der Entlastung der Theologie begreift, führe nicht nur zum Verlust jeglichen Wirklichkeitsbezugs, sie sei auch als die Grundlage zweier Formen von politischer Theologie zu betrachten, die der Neuzeit nicht angemessen seien: Was einst Herrschaftswissen einer kleinen Gruppe innerhalb einer Institution gewesen sei und die Herrschaft dieser Institution legitimiert habe, sei dann, auf Grund der Distanz gegenüber der Wirklichkeit und mit eschatologischem Vorzeichen versehen, in sein Gegenteil umgeschlagen, nämlich in eine die Wirklichkeit gänzlich in Frage stellende Ideologie. Diesen beiden Formen politischer Theologie stellt Rendtorff eine andere gegenüber, die er als die einzig der Neuzeit angemessene politische Theologie begreift: "Es gelingt der Theologie nicht, ihr Thema gleichsam aus dem Verkehr zu ziehen, um es besser in seiner Eigentlichkeit würdigen zu können. Im Gegenteil, die Theologie ist heute hinreichend über sich selbst aufgeklärt, um den produktiven Anteil des Welterkennens in der Gotteserfahrung noch vergessen oder geringachten zu können. Wo sie diesen Zusammenhang nicht nur reflektierend analysiert, sondern bewußt ergreift, wird die Theologie heute politisch."41 Der Zwang zur Häresie, um es mit dem Titel eines anderen Autoren zu sagen42, erfolge daraus, "daß die Entscheidung der Frage: Was ist christlich? nicht mehr durch die Tradition hinreichend und umfassend vorgegeben zu sein scheint, wo die Verbindlichkeit der Tradition nicht mehr selbstverständlich ist."43 So müsse die kritische Bibelwissenschaft sowohl methodisch als auch inhaltlich als für die gesamte Theologierichtungsweisendangesehen werden, weil sie die Pluralität der biblischen Glaubensaussagen aufgedeckt und gleichzeitig keine für verbindlich erklärt habe. Damit wird die Dogmatik aus dem Zentrum der theologischen Disziplinen verwiesen und durch die Theologiege3 9 Vgl. ders.: Theorie des Christentums. Historisch-theologische Studien zu seiner neuzeitlichen Verfassung. Gütersloh 1972. 4 0 Ders.: Christentum zwischen Revolution und Restauration, S.25. 41 Ders.: Theorie des Christentums, S.63f. 4 2 Vgl. Berger: Der Zwang zur Häresie. Religion in der pluralistischen Gesellschaft. Frankfurt am Main 1980. 4 3 Rendtorff: Theorie des Christentums, S.48f.
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schichte ersetzt: "Die Definition der Theologie durch die Definition ihrer Geschichte gibt der Theologie ihren eigentümlichen Stoff und bestimmt ihr Problembewußtsein."44 Gerade das aber ist dann für Rendtorff eine der Neuzeit angemessene politische Theologie, weil er die Forderung der Realisierung von Freiheit unter gleichzeitiger Zurückweisung sowohl institutioneller Herrschaft als auch ihrer eschatologisch-revolutionären Alternative als die Konstante der Theologiegeschichte betrachtet. HVon politischer Theologie kann erst dort gesprochen werden, wo in den Prozeß der Theologie überhaupt das Bewußtsein eingreift, die gegenwärtige Wahrnehmung der christlichen Überlieferung impliziere immer auch und im selben Atemzug eine Wahrnehmung der eigenen Zeit und Gesellschaft, und wo dieser Zusammenhang in den Mittelpunkt theologischer Arbeit rückt mit dem Ziel und der Absicht, in den Institutionen, Rechtsprozessen, leitenden Zielsetzungen der Gesellschaft die Folgen der Libertas Christiana zu entdecken oder produktiv werden zu lassen."45 In der Bestimmung dessen, was unter der Libertas Christiana verstanden werden soll, schließt Trutz Rendtorff an Ernst Troeltsch an. Es wäre ein Mißverständnis zu glauben, er betrachte Freiheit im Sinne der bourgeoisen Freiheit, wie Marx sie etwa in seiner Schrift Zur Judenfrage gekennzeichnet hat, als die Freiheit nämlich, die darauf reduziert wird, daß man mit seinem Eigentum machen kann, was man will: "Die praktische Nutzanwendung des Menschenrechtes der Freiheit ist das Menschenrecht des Privateigentums ," 46 Freiheit wird von Rendtorff verstanden als ein Zusammenspiel von Staat und Bürgern, wobei sich die Christlichkeit des Staates darin zeige, "wie er dem Fortschritt der Freiheit Genüge zu tun vermag; und die Christlichkeit seiner Bürger zeigt sich darin, wie sie den öffentlichen Angelegenheiten des Gemeinwesens einen Vorrang zu geben bereit sind vor dem privaten Nutzen und dem privaten Erfolg." 47 Unverkennbar knüpft Rendtorff damit an Vorstellungen an, die, wie noch gezeigt werden wird, Ernst Troeltsch und andere Gelehrte während des Ersten Weltkrieges gerade gegenüber der westlichen Freiheitsvorstellung als die spezifisch deutsche Freiheit vertreten haben: "Die Eigenart der deutschen Freiheit ist die freie, bewußte, pflichtmäßige Hingabe an das durch Geschichte, Staat und Nation schon bestehende Ganze."48 Daraus folgt, daß die Individuen nicht so verstanden werden, daß sie das Ganze erst bilden, sondern sie sollen sich mit dem vorgegebenen Ganzen identifizieren: "Die Freiheit ist nicht Gleichheit, sondern Dienst des einzelnen an seinem Ort in der ihm zukommenden Stellung."49 Zusammenfassend kann mit Rendtorffs 4 4 4 5 4 6 4 7 4 8 4 9
Ebenda, S.33f. Ebenda, S.61. MEW B.1, Berlin 1981, S.365. Rendtorff: Christentum zwischen Revolution und Restauration, S.106f. Ebenda, S.l 11. Ebenda, S. 111.
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Worten gesagt werden: "Nicht die Selbstdurchsetzung des Menschen oder der Nation, sondern die Wahrung und Beförderung der Freiheit, die im Zusammenleben der Menschen vorausgesetzt werden muß, das ist die Wirkung des reformatorischen Freiheitsverständnisses, die Ernst Troeltsch hier ins Spiel zu bringen sucht."50 Die Freiheit, die hier vorausgesetzt werden soll, ist aber nicht die reale Freiheit, sondern die abstrakte Freiheit des abstrakten Menschen. Daß einige freier sind als andere, daß entsprechend die Aufforderung, den privaten Nutzen dem gesellschaftlichen Ganzen unterzuordnen, nicht für alle gleiche Anforderungen sind, abgesehen davon, daß ausgeblendet bleibt, wer denn das gesamtgesellschaftliche Ganze definiert, tritt nicht in den Blick bzw. wird mit dem Hinweis, jeder solle an seinem Ort seine Freiheit im Dienst verwirklichen, entschärft. Rendtorff bewegt sich in der Tradition dessen, was man die Ideen von 1914 genannt hat, nur daß heute statt Nation etwas anderes das gesamtgesellschaftliche Ganze bildet, z.B. die freiheitlichdemokratische Grundordnung. Trutz Rendtorff hat sein Freiheitsverständnis in einem Beitrag zur Diskussion des Terrorismus Ende der siebziger Jahre konkretisiert und am Beispiel der Grundsatzprogramme von CDU und SPD noch einmal expliziert: Zwar seien beide Programme im Wortlaut fast deckungsgleich, eine nähere Betrachtung aber ergebe, daß ihnen jeweils ein völlig anderes Freiheitsverständnis zugrunde liege. "Im Blick auf das CDU-Programm ist der Befund der folgende: Die Grundsätze sind bezogen auf 'Das Verständnis vom Menschen1. Eine anthropologische (...) Argumentation ist die Basis für die Grundsätze im Programm. (...) Die Pointe dieser Bezugnahme auf das Verständnis des Menschen ist, Argumente für die Selbstbindung der Freiheit zu geben, die vorpolitischer Natur sind."51 Anders dagegen das SPD-Programm: "Nicht ein Verständnis des Menschen, sondern ein Begriff der Geschichte gibt die Kriterien, nach denen die Grundwerte in politisches Handeln umgesetzt werden sollen."52 Die Freiheit werde hier als eine erst zu realisierende verstanden: "Der Sollenscharakter der Freiheit - und das macht den Unterschied zum CDU-Programm aus - ist historischer, nicht anthropologischer Natur."53 Davon distanziert sich Rendtorff unter Berufung auf das Programm der CDU, wenn er schreibt: "Christliche Politik, so wie sie sich selbst definiert, beruft sich auf eine Freiheit, die als Voraussetzung politischen Handelns eine Rolle spielen soll. Diese Freiheit kommt als Prinzip aktiven Handelns in der Weise zum Zuge, in der sie sich als Verantwortung realisiert. Nicht Freiheit 5 0 51 52 53
Ebenda, S. 113. Rendtorff: Politische Ethik und Christentum. München 1978, S.18. Ebenda, S. 19. Ebenda, S. 19.
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durch Politik ist dann das Programm, sondern Politik auf der Grundlage von Freiheit."54 Rendtorff hat aber damit das neuzeitliche Prinzip der Selbstbehauptung des Menschen, das das der conservatio Dei abgelöst hat, auf die Konservierung bestehender Verhältnisse im unausgesprochenen Interesse jener reduziert, die diese Verhältnisse für die beste aller Welten halten. Von daher erklärt sich letztlich die Ablehnung der Barthschen Theologie. Sie wird überhaupt politisch, nicht theologisch begründet, was in der Logik der Argumentation begründet liegt. Wäre sie theologisch, dann wäre damit eine Anerkennung von Theologie verbunden, die gerade vermieden werden soll. Zwar wird von Rendtorff anerkannt, daß der Freiheit in der Theologie Barths eine zentrale Bedeutung zukomme, aber er anerkennt lediglich die auf Grund der Betonung der Diastase zwischen Gott und Welt erfolgte Relativierung der Institution Kirche, die Barth vornimmt, ohne Barths radikale Infragestellung der Religion mitzuvollziehen, deren Relativierung ihm vielmehr als Begründung einer zivilen Religion gerade recht ist. So soll der Ansatz Barths so zu Ende gedacht werden, daß damit auch der ganze Barth erledigt wäre - und man ihn behandeln kann wie einen toten Hund 55 d.h. die Theologie Barths wird dem unterworfen, dem Barth gerade die Sache der Theologie zu entziehen bemüht war, nämlich der Geschichte und dem Zeithintergrund, um sie anschließend zu erledigen. Schon Friedrich Wilhelm Marquard hat die Zeitbedingtheit der Barthschen Theologie behauptet und vom Sozialismus abhängig betrachtet, Falk Wagner hat dies aufgegriffen und den Spieß dann umgedreht. Er wirft Barth Doketismus vor, Gott werde ein anderer (Mensch), um das andere mit sich zu versöhnen (die Menschheit), aber die Versöhnung werde so durchgeführt, daß das andere, zu dem Gott werde (Jesus), das andere des anderen sei.56 Dies sei keine Versöhnung "für und mit den Menschen, sondern ohne sie"57, es werde also gerade die Selbständigkeit des Menschen gerichtet, so "daß die inhaltliche Struktur der Barthschen Theologie nicht nur dem Sozialismus, sondern auch dem Faschismus und seiner Theoriebildung verwandt" sei58, bzw. nicht nur dem "'soft-ware Sozialismus' eines intellektuellen Utopismus" Marquardscher, sondern auch dem "hard-ware Sozialismus" etwa Stalinscher Prägung entspreche.59 5 4
Ebenda, S.22. Vgl. hierzu Rendtorff: Der Freiheitsbegriff als Ortsbestimmung neuzeitlicher Theologie am Beispiel der Kirchlichen Dogmatik Karl Barths, in: Gottes Zukunft - Zukunft der Welt. Jürgen Moltmann zum 60. Geburtstag. München 1986. 5 6 Wagner: Theologische Gleichschaltung. Zur Christologie bei Karl Barth, S.23. 5 7 Ebenda, S.30. 58 Ebenda, S.41. 5 9 Ebenda, S.42. 55
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Christof Gestrich dagegen betrachtet die Erfahrung der Diastase zwischen Subjekt und Objekt als den Beginn der Neuzeit, die zu einer anderen Stellung des Menschen gegenüber der Welt Anlaß gegeben habe. Mit zunehmender Verfügungsgewalt sei freilich auch die Entfremdung gewachsen: "Neuzeit ist demnach die Epoche, in der Mensch und Welt nicht mehr wie selbstverständlich als auf das Gegenüber Gottes bezogen gedacht werden; an die Stelle der Distanz zwischen Gott auf der einen, Mensch und Welt auf der anderen Seite, tritt eine Entgegenstellung und Spaltung von Subjekt und Objekt, von Ich und Außen, Ich und Du, Ich und Ich."60 Die Versöhnung von Subjekt und Objekt stelle ein neuzeitliche "Hochziel" dar, ob der Mensch aber "dazu auch befähigt sei, ist freilich seit dem Ausgang des deutschen Idealismus überaus unsicher geworden."61 Von daher erkläre sich Barths Sympathie für den Linkshegelianismus. "Es war eine Vision Barths, daß die berechtigten ideologiekritischen Anliegen der Hegelkritik alle voll zum Tragen und zum Leuchten kommen können, sofern man die Theologie aus der Versöhnungsdialektik nicht ausmerzt - dies führt historischer Erfahrung nach erneut in Ideologie -, sondern den christlichen Gottesgedanken und die evangelische theologia crucis in dieser Dialektik recht zur Geltung bringt."62 In einem Vortrag im Jahre 1931 hat Barth denn auch das westliche Freiheitsverständnis, das er als Amerikanismus bezeichnete, explizit zum Gegenstand seiner Kritik gemacht: Angesprochen auf die Frage, welchen Herausforderungen sich das Christentum heute gegenübergestellt sehe, antwortet Barth, daß das Christentum erkennen müsse, "daß es heute anders als gestern wieder einer ganzen Reihe von fremden Religionen gegenübergestellt" sei.63 Hiermit knüpft er an Max Webers eingangs dieser Arbeit zitierte Aussage aus Wissenschaft und Beruf an. Religion wird von wissenschaftlicher, politischer, moralischer oder ästhetischer Weltanschauung unterschieden, denn bei letzteren könne der Mensch wählen; Weltanschauung sei von Religion zu unterscheiden, weil er ihr gegenüber letztlich frei bleibe. "Eine Religion dagegen ist eine Verkündigung und das Ergreifen und Bejahen einer Verkündigung eines vom Menschen entdeckten Gottes und kommt als solche mit einer Macht über ihn, die alles eigene Wählen (...) ausschließt, deren Bejahung er vollzieht, ohne dafür Gründe angeben zu können und zu wollen, eine Verkündigung, die den Anspruch und die Gewalt hat, (...) den ganzen Menschen zu ihrem Hörer und Gefangenen und zu ihrem neuen Sendboten und Soldaten zu machen."64 Barth 6 0 Gestrich: Neuzeitliches Denken und die Spaltung der dialektischen Theologie. Zur Frage der natürlichen Theologie. Tübingen 1977, S.391. 61 Ebenda, S. 392. 62 Ebenda, S.392f. 6 3 Barth: Fragen an das Christentum, in: ders.: Theologische Fragen und Antworten, Zürich 1957, S.93. 6 4 Ebenda, S.93.
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erkennt hier von der anderen, d.h. von der theologischen Seite aus das gleiche Phänomen wie Carl Schmitt - auch wenn er es anders bewertet - nämlich die neue, aktuelle Bedeutung von politischer Theologie bzw. politischer Religion oder Mythologie: HVor zwanzig Jahren ging es um Weltanschauungen. Heute geht es um Religionen.H65 Neben dem russischen Kommunismus - "grundverschieden von der im ganzen so maßvollen Sache, die wir als 'Sozialdemokratie' kannten und noch kennen"66 - und dem Faschismus wird dann auch noch der Amerikanismus als eine der neuen Religionen genannt, "dessen Uniform heute schon alle fünf Erdteile tragen müssen, ob sie es wollen oder nicht, der Amerikanismus mit seinen undiskutierbaren Göttern Gesundheit und Behaglichkeit, denen in helläugigem Egoismus, verbunden mit einer brillanten Technik und gesalbt mit einer primitiven, aber unverwüstlich optimistischen Moralität, zu dienen ihren Gläubigen längst jenseits aller Reflexion so selbstverständlich ist wie das Atmen."67 Eine implizite Kritik der amerikanischen Demokratie, wie Graf es sieht68, vermag ich darin allerdings nicht zu erkennen.69 Barths Kritik des american way of life ist keine Liberalismuskritik an sich, sondern zunächst einmal Fortführung der Kritik des Liberalismus, wie er sie schon zu Beginn des Ersten Weltkrieges und zuvor als Pfarrer von Safenwil geübt hat, sofern der Liberalismus nämlich seine Werte religiös bzw. theologisch zu legitimieren versucht und damit aufhört, im Sinne Barths Weltanschauung zu sein. Das Christentum übe Verrat, wenn es sich, wie in den USA, in das System einbauen lasse, wenn es im Sinne Lübbes Zivilreligion werde, denn dann sei es, und hier erinnert die Sprache Barths an die Carl Schmitts, nicht mehr in der Lage, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden. "Es müßte wissen, daß es in den es umgebenden Fremdreligionen, im Geist, im Prinzip, im Willen, im Dämon dieser Religionen schlechterdings Feinde vor sich hat, von denen es keine Toleranz zu erwarten hat, weil es ihnen auch keine gewähren kann."70 Man könne eben nur aus Vergeßlichkeit, "aus einem kleinen Mißverständnis der einen oder der anderen Seite Kommunist und Christ, Faschist und Christ, 'Amerikaner' (europäischer Amerikaner!) und 6 5
Ebenda, S.93. Ebenda, S.94. 6 7 Ebenda, S.94. 6 8 Graf: "Der Götze wackelt**? Erste Überlegungen zu Karl Barths Liberalismuskritik, in: Evangelische Theologie 4/5 1986, S.438. Tödt hat Graf sogar Diffamierung vorgeworfen (Karl Barth, der Liberalismus und der Nationalsozialismus. Gegendarstellung zu Friedrich Wilhelm Grafs Behandlung dieses Themas, in: Evangelische Theologie 6 1986) und zieht aus der Liberalismuskritik Barths das Fazit: "In der Krise der Republik ist scharf zu unterscheiden zwischen Barths Ablehnung des theologischen Liberalismus und seiner praktisch-politischen Einstellung zu Werten, welche die Liberalen mit den Sozialdemokraten teilten." (ebenda, S.548). 7 0 Barth: Fragen an das Christentum, S.96. 6 6
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Christ sein."71 HÜber offenbarte Wahrheit gibt es kein Parlamentieren."72 Friedrich Wilhelm Graf hat hier keine direkte Beziehung zu Carl Schmitt gesehen, man dürfe aber nicht unberücksichtigt lassen, "daß in den zwanziger Jahren Antiparlamentarismus neben der Liberalismuskritik das zentrale Motiv jener politischen Kräfte gewesen ist, die die parlamentarische Demokratie in einen autoritären Staat mit starker, d.h. nicht dem Parlament verantwortlichen Regierung zu transformieren verlangt haben. Auch Carl Schmitt hat den Parlamentarismus gerade wegen der - vermeintlichen - Unfähigkeit verworfen, der Wahrheitsfrage gerecht zu werden.H73 Abgesehen davon, daß Graf Schmitts Parlamentarismuskritik mißinterpretiert, der es nicht um Wahrheit, sondern um Entscheidung ging - auctoritas, non Veritas facit legem - übersieht er auch die strikte Trennung, die Barth zwischen dem Bereich der Kirche und dem Bereich des Staates und damit der Politik zieht. Es ist Barth mit seiner Kritik des religiös überhöhten Liberalismus darum gegangen, die politischen Probleme, so wie Eric Voegelin es Weber unterstellt hat, auf einer pragmatischen Ebene anzusiedeln, im Unterschied zu Schmitt, der diesem Versuch skeptisch gegenüberstand und den Liberalismus gerade wegen seiner Rationalität als wehrlos betrachtete. Darum ging die Frage, ob nämlich getaufter, d.h. akkomodisierter Mythos und akkomodisierte Ideologie das Schicksal des Menschen in der Krise des Rationalismus bedeuten oder ob der Prozeß der Entzauberung fortgesetzt werden soll. Ideologie ist bei Barth gleichbedeutend mit Unfreiheit, auf der anderen Seite wird Freiheit von Autonomie, Selbstbestimmung oder etwa Souveränität unterschieden. Barths Freiheitsauffassung entspricht seiner dogmatischen Methode. So wie die Theologie in Abhängigkeit von Philosophie gerät, wenn sie den Offenbarungscharakter des Glaubens aufgibt, so ist der Mensch nur als frei zu denken, wenn er in die rechte Beziehung zu Gott gesetzt wird, d.h. im Glauben ist, was, wie schon gezeigt, nicht als eine Möglichkeit des Menschen, sondern ausschließlich als Gottes freie Gnade betrachtet wird. Barth hat übrigens aus diesem Grunde das Dogma von der Jungfrauengeburt verteidigt. Im Verhältnis zwischen Gott und Mensch sei der Mensch zwar auch Mim Spiel", "aber eben nur so: nur in Gestalt der virgo Maria, das heißt aber: "nur in Gestalt des nicht wollenden, nicht vollbringenden, nicht schöpferischen, nicht souveränen Menschen, nur in Gestalt des Menschen, der bloß empfangen, der bloß bereit sein, der bloß etwas an und mit sich geschehen lassen kann."74 Freilich darf das nicht so verstanden werden, als sei Virginalität bzw. ihre Bewahrung ein Anknüpfungspunkt des Menschen fur die göttliche Gnade. Der Mensch ist nur frei, weil er befreit worden ist. Die Unfreiheit dagegen drückt 71 72 73 7 4
Ebenda, S.96. Ebenda, S.98. Graf: "Der Götze wackelt", S.439. Barth: KD 1,2, Zürich 1960, S.209.
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sich sowohl in der Religion als auch im Atheismus aus, also in den beiden Möglichkeiten, mit denen sich der Mensch gegenüber Gott verhalten kann. Barth betrachtet den Atheismus durchaus auf einer Stufe mit der Religion stehend: "Er begnügt sich damit, Gott und sein Gesetz zu leugnen, und übersieht dabei, daß es außerhalb der Religion auch noch ganz andere Wahrheitsdogmen und Gewißheitswege gibt, die an sich jeden Augenblick ebenfalls religiösen Charakter annehmen können."75 Von daher wird der Atheismus eigentlich als eine unmögliche Möglichkeit gesehen. Es nutzt auch nicht, zwischen theoretischem und methodischem Atheismus zu unterscheiden, wie Per Frostin es vorgeschlagen hat, um die Marxsche Religionskritik mit der Theologie Dietrich Bonhoeffers in Einklang zu bringen: "Die Herausforderung der Religionskritik des Marxschen Materialismus ist die gleiche wie die Forderung nach methodischem Atheismus, der ein Eckstein in der modernen Wissenschaftstheorie ist. Die Herausforderung ist nicht größer. Der Marxsche Materialismus ist daher nicht eine neue anti-theistische Pseudoreligion, die mit dem Christentum konkurrieren will."76 Zwar bleibt anerkannt, daß die Marxsche Religionskritik sehr wohl ein gerechtfertigtes Verfahren darstellt, daß sie sich sogar gegen die in ihrem eigenen Lager entwickelte Ideologie einsetzen läßt, aber sie steht auch bei Marx nicht beziehungslos zum Gesamtwerk. Jede Religionskritik habe, so Barth, eine neue Religion zur Folge, der Mensch als homo religiosus sei Ausdruck der Unfreiheit, aus der ihn auch keine Religionskritik befreien könne. "Der Atheismus (...) leugnet nicht: die Wirklichkeit der Natur, der Geschichte und der Kultur, der animalischen und vernünftigen Existenz des Menschen, dieser und dieser Moral oder auch Unmoral. Im Gegenteil: das sind Autoritäten und Mächte, denen sich der Atheist in freudigster, in naivster Gläubigkeit hinzugeben pflegt. Atheismus heißt fast immer: Säkularismus. Und noch mehr: Eben mit diesen säkularen Autoritäten und Mächten pflegt sich der Atheismus im Kampf gegen die Religion, gegen den Gott und sein Gesetz zu verbünden; von ihrer Existenz und Geltung her argumentiert er; sie sind ihm die unerschütterlichen Gegebenheiten, von denen aus er gegen die religiösen Autoritäten und Mächte den Einwand erhebt, daß sie nichts seien. Es ist klar, daß er sich damit der Gefahr aussetzt, daß hinter seinem Rücken und womöglich mit seiner Bestätigung alle möglichen neuen verkappten und vielleicht auch nicht einmal verkappten Religionen entstehen können."77 Die Nähe zu Carl Schmitt ist unverkennbar. Wenn Gott geleugnet werde, dann trete an seine Stelle eine andere Größe, denn der Platz könne nicht frei bleiben. Nemo contra deum nisi deus ipse. Das ist aber auch die einzige Gemeinsamkeit. Während nämlich Carl Schmitt Geschichte 75
Ebenda, S.351. Frostin: Materialismus, Ideologie, Religion. Die materialistische Religionskritik bei Karl Marx. München 1978, S.15. 7 7 Barth: KD 1,2, S.351. 7 6
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und Volk, diese beiden neuen Gottheiten, die er in seiner Politischen Romantik identifiziert hat, mit dem römischen Katholizismus als vereinbar betrachtet, weil sie Schöpfungsordnungen repräsentierten - und das macht letztlich Schmitts Katholizität aus, denn diese Vereinbarkeit wird möglich auf Grund der die katholische Theologie prägenden natürlichen Theologie - fordert Barth gerade die Freiheit von diesen Götzen, die sich im Glauben realisiere. Der Glaube selbst aber wiederum ist bei Barth im Kern nichts anderes als die Anerkennung der in Jesus Christus schon vollzogenen Befreiung, die wiederum als Befreiung aller und nicht nur einiger gedacht werden muß: "Barths Theologie kommt unserer säkularisierten Situation dadurch entgegen„ daß individuelle Lebensgeschichte eines Menschen nicht mehr, wie es die fr Theologie durchweg tat, als den Schauplatz betrachtet, wo sich die Heilsgeschichte von Adam bis Christus (und über diesen hinaus) in dra schen Akten möglicher Gefährdung und möglicher Rettung immer neu w holt. Barths Theologie geht vielmehr davon aus, im Geschick Jesu habe sich das Drama der Heilsgeschichte stellvertretend und für alle anderen Menschen bis zum glücklichen Ende hin bereits vollzogen."78 Das bezeichnet den wesentlichen Unterschied im Verständnis der Säkularisierung bei Barth und bei Schmitt. Die natürliche Theologie, gegen die Barths Ansatz gerichtet ist, ist die Grundlage des Katholizismus, und zwar sowohl des katholischen Und bei Hans Urs von Balthasar als auch des Sowohl-Als auch bei Carl Schmitt. Das darf nicht übersehen werden, hierin unterscheiden sich Barths und Schmitts Stellung gegenüber der Neuzeit. Die natürliche Theologie bildet nämlich die Grundlage des Schmittschen Säkularisierungsverständnisses insofern, als Geschichte und Volk akkomodisiert und so hinsichtlich ihres heidnisch-antichristlichen Gehalts neutralisiert werden. Zu Beginn der vorliegenden Arbeit ist die These aufgestellt worden, daß Schmitt selber die Theologen als seine Feinde betrachtet hat, mit diesen Theologen sind aber tatsächlich nur Theologen der Offenbarungstheologie in dem oben beschriebenen Sinne gemeint. Damit ist die Front, die die Auseinandersetzung zwischen Barth und Schmitt letztlich ist, benannt, nämlich Offenbarungstheologie versus natürliche Theologie. Für Barth waren der religiöse Sozialismus so wie die liberale Theologie und schließlich auch die Doktrin der Deutschen Christen, die zu Beginn des Dritten Reichs die evangelische Kirche dem Regime gleichschalten wollten, nur Spielarten der natürlichen Theologie, d.h. aber sie waren für ihn im Ansatz nicht verschieden, und er lehnte sie darum schon vom Ansatz her gemeinsam ab. Das führte dazu, daß sein theologisches Denken vielen als unpo78 Gestrich: Die hermeneutische Differenz zwischen Barth und Luther angesichts der neuzeitlichen Situation, in: Köckert/Krötke (Hrsg.): Theologie als Christologie. Zum Werk und Leben Karl Barths. Ein Symposium. Berlin (Ost) 1988, S.39.
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litisch erscheinen konnte, weil er sich in diesem Spektrum nicht verorten ließ und sich auch jeglicher Verortung verweigerte. Für Schmitt dagegen war die Offenbarungstheologie nur eine getarnte eschatologische politische Theologie, eine verdeckte Form appellativ-politischer Theologie, gerade weil sie in der Auseinandersetzung - getreu Donoso Cortes - nicht auf der Seite der konservativen Kräfte gegen die Revolution Stellung zu nehmen bereit war und sich darin für ihn, vor dem Hintergrund seines Dezisionismus, schon entschieden hatte. In dieser Haltung bestätigte ihn schließlich auch das Buch des Barthschülers Dietrich Braun über Thomas Hobbes und die englische Revolution. Mit dem Gedanken der Rechtfertigung des Sünders, der gefallenen Schöpfung überhaupt und damit auch der Rechtfertigung des Staates, was Braun nicht thematisiert, was aber jede eschatologische Weltverneinung ausschließt, mußte bzw. wollte sich Schmitt nicht auseinandersetzen. Braun lieferte ihm m.a.W. ein theologisches Alibi. Der Protestantismus, d.h. aber die Theologie, die Schmitt als seinen Feind betrachtete und wählte, war damit eine von ihm konstruierte, bei dessen Konstruktion Braun ihm wichtige Dienste leistete. Die Entscheidung zwischen Freund und Feind sollte, so das Anliegen Schmitts, nicht den Theologen, sondern dem Staate vorbehalten bleiben, aber da Theologie im Sinne von Offenbarungstheologie sich nur in Abgrenzung gegenüber aller natürlichen Theologie konkretisiert und sie alleine den Begriff der Häresie ernstnahm, mußte sie für ihn zum Hauptfeind schlechthin werden. Für eine politische Theologie wie die von Metz und Moltmann, d.h. eine appellative politische Theologie, ließ und läßt sich unter Umständen in der complexio oppositorum ein Platz finden, sie greift die Basis dieser complexio oppositorum, nämlich die natürliche Theologie, jedenfalls nicht an und hat sie vielmehr selber zur Voraussetzung. Offenbarungstheologie zielt aber gerade auf diese Basis und zerstört sie. Die beiden theologischen Ansätze haben nun auch ein grundverschiedenes Kirchenverständnis zur Folge, was im weiteren Verlauf noch thematisiert werden soll. Barth geht es um die theologische Einheit der Kirche. Kirche ist nur da, wo Theologie als Offenbarungstheologie ihre Grundlage ist und sie zwischen Offenbarungstheologie und Häresie zu unterscheiden weiß, d.h. zwischen theologischem Freund und theologischem Feind. Die politische Einheit etwa eines Volkes bleibt demgegenüber ohne Bedeutung. Schmitt geht es aber gerade um die politische Einheit eines Volkes, die theologische Einheit einer Kirche dagegen ist für ihn demgegenüber nicht nur ein einfach sekundäres Ziel, sondern vielmehr dem Ziel der politischen Einheit sogar entgegengesetzt. Der politischen Einheit eines Volkes kann auf der Seite der Kirche nur eine die Theologie neutralisierende complexio oppositorum entsprechen. Doch bevor dieser Gegensatz zur Sprache gebracht und zuvor noch der Zusammenhang zwischen Offenbarungstheologie und Rechtfertigung bei
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Barth thematisiert wird, sei zum Begriff der Offenbarung zunächst noch auf das für die Theologie entscheidende Verhältnis von Dogmatik und Ethik bei Karl Barth hingewiesen, das die Differenz zwischen Barth und Schmitt noch einmal unterstreicht. e) Zum Verhältnis von Dogmatik und Ethik bei Karl Barth
Der Römeibriefkommentar Barths, besonders die zweite Auflage von 1922, darf als das Hauptwerk der frühen, sogenannten dialektischen Phase Barths gelten, alle Schriften danach stehen mehr oder weniger im Bann des einmal gesagten Neins, sie betonen mehr oder weniger die Formel, daß Gott Gott und der Mensch Mensch sei. Erst mit dem Buch über Anselm von Canterbury Fides quaerens intellectum (1931) hat Barth den Blick weg von dem Gott extra nos hin zum Gott pro nobis gerichtet, hat also Barth den Weg der christologischen Konzentration eingeschlagen. Wie aber verhalten sich beide Phasen zueinander, und muß vielleicht mit Hans Urs von Balthasar gesagt werden, daß Barths Anselmbuch ein Bruch in seinem Denken markiere? Jene "Deutung, die die 'Dogmatik1, überhaupt die späteren Schriften, einfach nach rückwärts zum 'Römerbrief hin auslegt, ist, wenn sie rein durchgeführt wird, eine sachliche Absurdität und außerdem eine Beleidigung für den Autor. Denn (...) Barth (hat) sich mehrfach von seinem Tlömerbrief distanziert (...), er hat die ganze Begrifflichkeit des Jugendwerkes aufgegeben (...) und die Arbeit von vorn angefangen."79 Auch wenn hier nicht ganz deutlich wird, was unter "rein durchgeführt" verstanden werden soll und wenn unterstellt werden kann, daß Balthasar sicher auch wußte, daß die Aufgabe von Begriffen noch nicht ein Neuanfang in der Sache bedeuten muß, gilt für ihn das Frühwerk Barths im Vergleich zur Kirchlichen Dogmatik als vernachlässigenswert. Keine Albeit über Barth kann sich gegenüber Balthasars Behauptung des Bruchs im Denken Barths neutral verhalten, sofern sie nicht einzelne Schriften Barths isoliert vom Gesamtwerk betrachtet. In der Literatur überwiegt die Auffassung, daß der ganze Barth der authentische sei, was durch Äußerungen Barths denn auch bestätigt wird. In seinem 1938 für eine amerikanische Zeitschrift (The Christian Century) veröffentlichten Beitrag How my Mind has changed schreibt er: "Nun, mein Denken hat sich jedenfalls darin nicht verändert, daß sein Gegenstand, seine Quelle und sein Maßstab, soweit das in meiner Absicht liegen kann, (...) das die christliche Kirche, Theologie, Predigt und Mission begründende, erhaltende und weiterführende Wort Gottes ist, das in der heiligen Schrift zum Menschen: zu dem Menschen aller Zeiten, Länder, Lebensbedingungen und Alterstufen redet"80. Barth betonte also selbst die Kontinuität 7 9
Balthasar: Karl Barth, S.68. Barth: How my Mind has changed, in: ders.: "Der Götze wackelt". Zeitkritische Aufsätze, Reden und Briefe von 1930 bis 1960, hrsg. von Karl Kupisch. Berlin 1961, S.181. 8 0
10 Eichhorn
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seines Denkens, wie sich aber in dem angeführten Zitat zeigt nicht nur hinsichtlich seines Verständnisses von Dogmatik und Ethik, sondern auch von Offenbarung und Geschichte. Gerade dann, wenn von Ethik und Dogmatik geredet werden soll, muß auch Barths Geschichtsauffassung thematisiert werden, denn die Geschichte kann ja als der Rahmen gedacht werden, in dem sich der Mensch zu bewähren hat. Anders aber als für Carl Schmitt kommt die Geschichte für Barth als eine identitätsstiflende Macht nicht mehr in Betracht. Der Mensch erfährt seine eigentliche Identität im wahren Menschen Jesus Christus, gegenüber der alle anderen Identitäten nur noch von sekundärer Bedeutung sein können. HHier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus." (Gal 3,28) Dies gilt bei Barth nicht etwa nur alleine für den Raum der Kirche, denn Christus ist nicht nur der Herr der Kirche, sondern der Herr der ganzen Schöpfung. Er ist auch der Herr der Geschichte, für die darum entsprechend gilt: "In Jesu Christi geschichtlicher Existenz wird offenbart, daß das Kommen Jesu Christi Ausgangspunkt und Ziel der Geschichte ist."81 Das Christentum wäre ein Phänomen dieser Welt und damit erledigt, wenn es historisiert werden würde. In diesem Sinne betrachtet Kjetil Hafstad, ausgehend von Eberhard Jüngels Verständnis des Wortes, Barths Geschichtskonzeption als eine HRedegeschichte". Als "Gottes Reden zum Menschen, und als Folge dieses Redens ist sie das Gespräch der Menschen mit Gott und mit ihren Mitmenschen."82 So wie Jüngel will freilich auch Hafstad das Wort Gottes nicht mit dem Wort des Menschen verwechseln, vielmehr sei das Wort Gottes identisch mit Gottes Tat.83 Inwiefern dann sowohl bei Hafstad als auch bei Jüngel die konkurrenzlose Souveränität Gottes erhalten bleibt, d.h. seine absolute Freiheit, das möge im Rahmen dieser Arbeit dahingestellt bleiben, hier genügt nur die Betonung der scharfen Unterscheidung zwischen dem, was Carl Schmitt und dem, was Karl Barth unter Geschichte verstehen. "Das Wort schafft Geschichte. Aber es liegt nicht in der Konzeption, daß Gott in dieser Geschichte aufgeht. Als Redender ist Gott transzendent im Verhältnis zu dieser Geschichte, die er mit seinem Wort schafft." 84 Gott hebt die Geschichte nicht auf, sowenig er die Zeit aufhebt. Er begibt sich in die Geschichte als geschichtliches Sein, allerdings ohne aufzuhören, Gott zu sein. Das ist das Geheimnis der Trinität. In der Geburt und im Tode Jesu Christi hat die Geschichte Ausgangspunkt und Ziel, die Geschichte wird gleichsam zum Ort der Begegnung von Gott und Mensch, aber ausschließlich in der Menschwerdung Jesu Christi, ausschließlich von oben. Jenseits davon hat die Geschichte für Barth keinerlei theologische Bedeutung, wie auch Gotthard Oblau schreibt: 81 8 2 83 8 4
Hafstad: Wort und Geschichte, S.39. Ebenda, S.372. Ebenda, S.406. Ebenda, S.407.
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"Barth zeigt eine ausgesprochene Hochschätzung der ZeitfÖrmigkeit jeweiligen geschichtlichen Lebens. Die zeitliche Verknüpfung verschiedener geschichtlicher Ereignisse, Lebensgeschichten und Epochen spielt für ihn dagegen kaum eine Rolle."85 Der Relativierung der Geschichte korrespondiert bei Barth die Relativierung der Ethik, die den Tenor des zweiten Römerbrief(s) von 1922 gegenüber der ersten Ausgabe von 1918 ausmacht. Zwischen dem zweiten und dem ersten Römerbrief scheint denn auch tatsächlich ein Bruch im Denken Barths vorzuliegen, dessen Qualität später keine Neuorientierung auch nur annähernd vergleichbar wäre, wenngleich Friedrich Wilhelm Marquardt im Interesse eines bei Barth angeblich durchgehenden Engagements für den Sozialismus hier keinen Bruch zuzugeben bereit ist.86 Im ersten Römerbrief den Barth unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges gegen seine theologischen Lehrer und damit gegen die liberale Theologie geschrieben hatte, ist Gott schon der Andere gewesen, ein Minus vor der Klammer, ein Nein gegenüber der Welt, aber der Ton war apokalyptisch. Die Mitwirkung des Menschen am Aufbau des Reichs war noch vorgesehen, das Bewegen und Drängen des Menschen in der Geschichte zum Reich Gottes hin wurde noch im Sozialismus als wahrnehmbar betrachtet, der Sozialismus war noch, wie es für die alttestamentlichen Propheten die Nachbarvölker Israels waren, Werkzeug in der Hand Gottes. Erst im zweiten Römerbrief wurde dem Menschen auch diese Möglichkeit genommen, wurde also nicht eine besondere Ethik, sondern die Ethik überhaupt fragwürdig. Barth hat dies in einem kleinerem Vortrag im Jahre 1922 noch einmal eigens thematisiert: "Es gab eine Zeit, die hielt Dogmatik für ein schweres, Ethik aber für ein verhältnismäßig leichtes Unternehmen. Den Römerbrief betrachtete man als dunkel und zeitgeschichtlich belastet, die Bergpredigt aber als einleuchtend und sehr wohl auch der Gegenwart zu predigen. Man hielt es für einen Gewinn, als es gelungen schien, das Evangelium unter Mißbilligung der überflüssigen metaphysischen Bemühungen der Kirchenväter und Scholastiker auf einige religiös-sittliche Kategorien wie Gottvertrauen und Bruderliebe zu reduzieren und meinte, das Christentum ausgerechnet dadurch, daß man es wesentlich als religiöse Ethik darstellte, dem Geschlecht unserer Tage besonders empfehlend ans Herz legen zu können. Uns aber hat die erwiesene Unmöglichkeit des Christentums gerade als Ethik oder vielmehr die erwiesene Unmöglichkeit unseres europäischmenschlichen Tuns gerade gegenüber der Ethik des Christentums in eine Not und vor Fragen gestellt, die uns den Gedanken nahelegen, es möchten die Unmöglichkeiten der christlichen Dogmatik alten Stils der wirklichen Lage 85 Oblau: Gotteszeit und Menschenzeit. Eschatologie in der Kirchlichen Dogmatik von Karl Barth. Neukirchen-Vluyn 1988, S.9. 86 Marquardt: Theologie und Sozialismus.
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immer noch besser entsprechen als die so getrost vorgetragenen Behauptungen von der Möglichkeit der sog. Nachfolge Jesu.H87 Hintergrund dieser Einschätzung ist der von Barth betonte qualitativunendliche Unterschied zwischen Gott und Mensch, der, so Kritiker Barths, dazu geführt habe, "daß Barth in der Ethik so gut wie nichts zu sagen (habe)."88 So jedenfalls Gerhard Kehnscherper in einer Dissertation aus den zwanziger Jahren, die im Jahre 1977 eine Neuauflage erfuhr. Die neue Auflage wird damit begründet, daß sie "infolge der Abkehr weiter kirchlicher Kreise von der Barthschen Theologie und des wachsenden Engagements von Kirchen und Christen in der Inangriffnahme und Lösung sozialethischer Aufgaben (heute) eine neue Aktualität" erhalten habe.89 Es sei in der Folge des Zweiten Weltkrieges erkannt worden, "daß gerade infolge des Eifers um und mit der Theologie Karl Barths wichtige sozialethische Aufgaben der Kirche und große Nöte in der Welt nicht beachtet worden waren."90 Wenn Barth im zweiten Römerbrief geschrieben hat: "Das Problem der Ethik ist identisch mit dem der Dogmatik: Soli Deo gloria!"91 wenn also primäres ethisches Tun nichts anderes sein könne als die Anerkenntnis des qualitativ-unendlichen Unterschieds, dann wird das von Kehnscherper entschieden bestritten: Barth operiere im Römerbrief - dieser steht bei Kehnscherper repräsentativ für die gesamte Theologie Barths, auch in der Neuauflage - mit einem idealistischen Gottesbegriff, d.h. die Welt und der Mensch würden als zum Fall hin geschaffen betrachtet, erst von der Erlösung am Ende der Geschichte her könne alles als eine gute Schöpfung verstanden werden. Auf der Basis dieses Gottesbegriffs werde nicht mehr die Not des Nächsten Anlaß ethischen Handelns. Die Neuauflage dieser Dissertation über Barths dialektische Theologie erfolgte tatsächlich vor dem Hintergrund eines sozialethischen Neuaufbruchs der Kirchen, die politische Theologie katholischer wie evangelischer Prägung war davon ein Ausdruck. Es geht hier natürlich auch um Politik. Barths Relativierung der Ethik zu Beginn der zwanziger Jahre steht aber, wie gesagt, in enger Beziehung zu Max Webers Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik, und zwar in dem Sinne, daß die Probleme auf politischem Gebiet zunächst einmal nüchtern angegangen werden sollen. Die Relativierung der Ethik meint nicht Quietismus, wie Kehnscherper überspitzt interpretiert. Barth ging damals aber einen Schritt weiter als Weber, indem er die Selbstgerechtigkeit entlarvte, die die Ethik immer begleite. In diesem Sinne betrachtet 8 7
Barth: Das Problem der Ethik in der Gegenwart, in: ders.: Das Wort Gottes und die Theologie,
S.132Ì 88 8 9 9 0 91
Kehnscherper: Die dialektische Theologie Karl Barths, S.7. Ebenda, S.V. Ebenda, S.VII. Röm.II, S.417.
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nämlich auch Kehnscherper die Ethik nicht als einen Selbstzweck, denn in der Sozialethik gehe es nicht darum, die Wünsche jedes Einzelnen zu befriedigen, sondern: MDienen wird oft sehr hart sein können im Verbieten von Genüssen und Bekämpfen von Unsitten. (...) Die Herzen der breiten Massen in unseren Großstädten sind durch den Wust der Sünde, Niedrigkeit und Gemeinheit, in der diese Ärmsten leben und leben müssen, derartig verhärtet, daß der Boden erst sorgfältig beackert werden muß, sollen diese Menschen den Gedanken Gott überhaupt wieder denken können."92 Sicher, Kehnscherper will nicht die Menschen, sondern die Verhältnisse beackern, aber zu welchem Zweck? Sein Vorwurf gegenüber Barth, dieser habe einen idealistischen Gottesbegriff, war offenbar ein Eigentor. Der Weg Barths ist ein anderer, der Sinn der Relativierung der Ethik ist es, zunächst einmal "von allen Höhen, und zwar von den höchsten zuerst herunter(zu)steigen, als Erstes also religiöse und moralische Abrüstung (zu) treiben und ja nicht das Gegenteil."93 Der Primat der Dogmatik vor der Ethik bedeutet also nicht, daß der Mensch von der Frage nach dem guten Tun suspendiert wäre, es handelt sich nicht um "Skepsis gegenüber dem Recht und der Dringlichkeit des ethischen Problems,(...) (sondern um) Skepsis gegen uns selbst ,"94 Zweck ethischen Handelns ist für Barth nicht, Raum zu schaffen für den Gedanken an Gott, er versteht vielmehr Gottes Gerechtigkeit als den Anstoß, als Forderung - die Rechtfertigung ist die Initialzündung für ethisch gutes Handeln. Dem Primat der Dogmatik vor der Ethik entspricht der Primat des Evangeliums vor dem Gesetz und dem der Rechtfertigung vor dem Recht, was später noch verhandelt werden soll. Rechtfertigung und nicht eigene Gerechtigkeit, darauf kam es Barth in der Ethik an, darum die Betonung des qualitativ-unendlichen Unterschieds zwischen Gott und Mensch. Der Respekt gegenüber diesem Unterschied ist für Barth Glaube. Doch zurück zu der Frage nach der Einheit des Werkes Karl Barths. Im Jahre 1938 hat Barth den Vorwurf ehemaliger Weggefährten aufgegriffen, er sei seinem Ansatz nicht treu geblieben, "als ob ich dem ursprünglich gemeinsamen Ansatz nicht treu geblieben sei und also nicht gehalten habe, was ich einst versprochen - während ich doch nur auf dem damals angetretenen Weg, wie es bei einem Weg so sein muß, weiter gegangen zu sein, die Gründe, den Sinn, die Konsequenzen jenes einst gemeinsamen Ansatzes besser ans Licht gestellt zu haben meine."95 Weiter heißt es: "ich war etwa zu gleichen Teilen in Wirklichkeit natürlich gleichzeitig - mit der Vertiefung und mit der Anwen9 2 9 3 9 4 95
Kehnscherper, S.92. Barth: Das Problem der Ethik in der Gegenwart, S. 149. Ebenda, S.134. Barth: How my Mind has changed, S. 184.
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dung der zuvor in den Hauptzügen gewonnenen Erkenntnis beschäftigt.**96 Barth sieht sich rückblickend auf dem Wege der christologischen Konzentration 91, und nicht er habe sich verändert, Haber gewaltig der Raum und die Resonanz des Raumes, in dem ich zu reden hatte.**98 Gemeint sind die politischen Ereignisse und Veränderungen: "Die Anwendung, die ich zu machen hatte, hängt mit dem Namen Hitler aufs engste zusammen."99 Die Vertiefung seines Ansatzes hat Barth schließlich als besonders dringend angesehen, weil er feststellen mußte, daß einige Weggefährten von damals mittlerweile ins Lager Hitlers übergewechselt waren, namentlich Friedrich Gogarten.
Bent Flemming Nielsen hat in dem Satz, daß Gott Gott ist, Barths Axiom gesehen, von dem Barth aus denke. Die Sicherheit sei das Interesse der klassischen Axiomatik gewesen, die Begründung wissenschaftlicher Aussagen durch den "Rückgriff auf sichere Axiome hat den Sinn, die Sicherheit der Axiome für die Erkenntnisse der Wissenschaft bürgen zu lassen."100 Axiome erhielten somit den Sinn der Letztbegründung, sie bildeten das nicht mehr sinnvoll bezweifelbare Fundament von Erkenntnis. Die Moderne habe im Zweifel selbst dieses Axiom entdeckt und von ihm aus auf die Existenz geschlossen (Descartes), die Anerkennung des Barthschen Axioms bedeute aber gerade nicht Sicherung, sondern EntSicherung: "Dem Versuch der klassischen Struktur, die Erkenntnis axiomatisch zu sichern, steht im Denken Barths eine radikale *Entsicherung* gegenüber."101 Damit habe Barth die Kritik des Kritischen Rationalismus gegenüber jeder Selbstrechtfertigung vorweggenommen und den kritischen Weg des Rationalismus zum Ende geführt. Nielsen erwähnt besonders William Warren Bartley III, der sich allerdings kritisch mit Barth auseinandergesetzt hatte, weil er in Barths Ansatz den Versuch eines Theologen wahrzunehmen glaubte, sich der Kritik zu entziehen102, während Nielsen seinerseits im Ethos des Kritischen Rationalismus einen Höhepunkt menschlicher Selbstrechtfertigung erreicht sieht. Auch Barths Ausgangspunkt bleibe der Kritik nicht entzogen, der springende Punkt sei aber, "daß Barths sit venia verix) - kritische Rationalität und Aufgabe des Elements der Rechtfertigung überhaupt erst vom Wort Gottes in Gang gesetzt und initiiert wird, weshalb das Wort Gottes selbst sich nicht kritisieren läßt\ Nur wenn Mensch am 'Gegenüber' des Wortes festgehalten wird, kann er die kritische Distanz zu sich selbst gewinnen, die es ihm ermöglicht, auf Versuche der 9 6
Ebenda, S. 185. Ebenda, S. 186. 9 8 Ebenda, S. 188. 9 9 Ebenda, S.186f. 100 Nielsen: Die Rationalität der Offenbarungstheologie. Die Struktur des Theologieverständnisses von Karl Barth. Aarhus 1988, S.38. 101 Ebenda, S.70. 102 Bartley: The Retreat to Commitment. New York 1962, S.88ff. 9 7
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Selbstrechtfertigung in der Erkenntnis zu verzichten. Deshalb können sich Freiheit und Kritik nicht gegen dieses Wort selbst richten."103 Darum spricht Nielsen schließlich auch nicht mehr von einem Axiom bei Barth, sondern von einem Gebot, und endlich auch nicht mehr von Erkenntnis, sondern von Anerkennung. Es gehe bei Barth um die Anerkennung des ersten Gebots von Anfang an. Der Anfang mag nun im Dunkeln der Biographie Barths irgendwann vor dem Ersten Weltkrieg liegen, in der Auseinandersetzung Barths mit den sozialen Zuständen in seiner damaligen Safenwiler Gemeinde gründen - er wurde in der Tat mit dem Kriegsausbruch 1914 offenbar und hielt sich, bis die Tragödie von 1914 eine Neuinszenierung als Farce 1933 erlebte. Indem Nielsen aber darauf aufmerksam macht, daß das Axiom Barths besser nicht mit diesem Begriff, sondern mit dem des Gebots belegt werden sollte, hat er m.E. die Einheit von Dogmatik und Ethik bei Barth schon aufgezeigt. Es steht also gar nicht die Frage Dogmatik oder Ethik im Raum, sondern es geht darum, daß jeder Ethik, uneingestanden oder nicht, eine Dogmatik zugrunde liegt. Wenn aber die Ethik fragwürdig geworden ist, was sich für Barth im Verhalten seiner theologischen Lehrer während des Ersten Weltkrieges zeigte, wenn die Ethik zur Rechtfertigung des eigenen Seins instrumentalisiert wird, dann genügte es nicht, eine andere, vielleicht sogar sozialistische Ethik zu formulieren, dann mußte die Grundlage dieser verfehlten Ethik überprüft werden.
103
Nielsen: Die Rationalität der Offenbarungstheologie, S.77.
Teil III
Karl Barth und Carl Schmitt in ihrer Stellung zur Weimarer Republik
1. Der Erste Weltkrieg und die Genese eines neuen Geistes a) Propheten und Revolutionäre Kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges äußerte Karl Barth in einem Brief an seinen Freund und Pfarrerskollegen Eduard Thurneysen: "Wie es im Durchschnitt jetzt tönen mag von den deutschen Kanzeln, ist ganz unabsehbar. Wie wird es werden, wenn sie einmal erwachen werden aus diesem ganzen fürchterlichen Irrtum? Woher soll die notwendige neue Orientierung kommen? Wenn irgend einmal, so möchte man jetzt Gott bitten, Propheten aufstehen zu lassen."1 Karl Barth war, wie schon gesagt, zu dieser Zeit Pfarrer in Safenwil, einer von sozialen Spannungen geprägten Industriegemeinde. Wie unterschied sich seine Kanzel von denen in Deutschland? Ort der Propheten soll die Kanzel sein, das Zentrum ihres Wirkens, dagegen waren die Kanzeln in Deutschland seit spätestens dem August des Jahres 1914 vom Zeitgeist okkupiert, und dieser Zeitgeist war mehr als nur Patriotismus und Hurrageschrei, mehr als die bloße Betonung der Einheit von Thron und Altar, sondern eine Idee, bzw. bezeichnete man ihn unpräziser mit dem Plural, d.h. mit den Ideen von 1914. Für den schweizer Pfarrer Karl Barth, der noch nicht den skandalösen Schritt getan und sich der schweizer Sozialdemokratie angeschlossen hatte, der durchaus noch freundlichen Kontakt mit seinen deutschen liberal-theologischen Lehrern pflegte, aber auch Anschluß gefunden hatte an eine Gruppe schweizer religiöser Sozialisten um Leonhard Ragaz und Hermann Kutter, und der antikapitalistische Predigten hielt, sprach im Bezug auf die Ideen von 1914 als von einem "fürchterlichen IrrtumM - was freilich 1 Barth: Brief an Eduard Thurneysen vom 25.9.1914, in: Karl Barth Gesamtausgabe B.V: Karl Barth - Eduard Thurneysen, Briefwechsel 1913-1921. Zürich 1973, S.12.
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nicht als ein eher harmlos klingendes Urteil mißverstanden werden darf. Im Rahmen evangelischer Kirche und Theologie ist Irrtum kein läßlicher und leicht zu revidierender Fauxpas, sondern Häresie, Häresie aber wiederum kein über die Kirche von außen überfallartig hereinbrechendes Unheil, sondern ein in ihr gewachsenes und komplexes Phänomen. Sie ist von vorneherein auch gar nicht identifizierbar, sondern wird als Häresie nur im Moment der Entscheidung offenbar, und dieser Moment ist dann gekommen, wenn an die Kirche die Forderung ergeht, ihr prophetisches Amt wahrzunehmen. So warf Barth bei Kriegsausbruch den deutschen Kirchen nicht nur vor, daß sie dieses Amt nicht ausfiillten, d.h. daß sie dem Zeitgeist nicht widersprachen, sondern er erhob ihnen gegenüber auch noch den Vorwurf der Häresie, was besonders die Theologie und namentlich seine theologischen Lehrer betraf. Die hatten sich die Ideen von 1914 nicht nur zu eigen gemacht, sondern sie darüber hinaus auch noch theologisch zu begründen gesucht: "'Ich habe eine Götterdämmerung erlebt, als ich studierte, wie Harnack, Herrmann, Rade, Eucken etc. sich zu der neuen Lage stellten', wie Religion und Wissenschaft 'restlos sich in geistige 42 cm Kanonen' verwandelten. Barth wurde dadurch irre 'an der Lehre meiner sämtlichen theologischen Meister in Deutschland, die mir durch das, was ich als ihr Versagen gegenüber der Kriegsideologie empfand, rettungslos kompromittiert erschienen.' An ihrem 'ethischen Versagen' zeigte sich, 'daß auch ihre exegetischen und dogmatischen Voraussetzungen nicht in Ordnung sein (konnten).'"2 Der Ausbruch des Weltkrieges und das Verhalten seiner theologischen Lehrer wird so von Barth rückblickend als Anlaß für den entscheidenden Wechsel im Verhältnis von Dogmatik und Ethik aufgefaßt. Wilfried Härle hat darauf aufmerksam gemacht, daß Barth den Aufruf der deutschen Professoren nicht im Wortlaut gekannt haben dürfte, zumindest daß er seinen Bruch mit der liberalen Theologie im Nachhinein stilisiert hat, weil die Datierung des Aufrufs zwar nicht mehr genau feststellbar, aber jedenfalls später liegen mußte als das Datum, das Barth später angegeben hat: "Man wird eher annehmen müssen, daß sich in Barths Erinnerung zwei voneinander unabhängige Ereignisse ineinandergeschoben haben: die Enttäuschung durch Rades 'Christliche Welt' im August 1914 und die Kenntnisnahme von dem Aufruf der 93 zu irgendeinem späteren, nicht genauer angebbaren Zeitpunkt."3 Auch Härle vertritt die Auffassung, daß der Kriegsbeginn nicht Ursache, sondern Anlaß des Bruchs Barths mit der liberalen Theologie war und verweist auf die Erfahrungen, die er als liberal geprägter Theologe in der Industriegemeinde Safenwil machte. Worin aber die neue Orientierung bestehen müsse, darüber war sich Barth zu Beginn des Krieges selber noch im Unklaren - der 2
Z i t n. Busch, S.93. Härle: Der Aufruf der 93 Intellektuellen und Karl Barths Bruch mit der liberalen Theologie, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche Nr.72,1975, S.217. 3
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Sozialismus konnte es für ihn angesichts des Versagens der II. Internationalen auch nicht mehr sein, ungeachtet dessen er am 26. Januar 1915 trotzdem der schweizer Sozialdemokratie beitrat. Er teilte sehr wohl die Anliegen des Sozialismus, nur hatte er für ihn nicht nur praktisch, sondern auch theoretisch versagt - sein Optimismus war eine Illusion. Zunächst aber hatte der Krieg für Barth überhaupt etwas offenbart, und zwar Offenbarung im Sinne von Entlarvung und Aufdeckung - was nicht bedeutet, daß der Krieg für ihn grundsätzlich Offenbarungscharakter gehabt hätte.4 Diese Einschätzung teilt Barth mit Lenin. Auch für Lenin entlarvt der Krieg etwas, was vorher nicht allen, sondern nur einer Minderheit bewußt war, aber diese Entlarvung ist bei dem exilierten Revolutionär weniger umfassend als bei Barth. Für Lenin offenbart sich letztlich der grundsätzlich imperialistische Charakter der Politik der großen Mächte, weil für ihn, getreu nach Clausewitz, der Krieg nichts anderes bedeutete als die Fortführung der Politik mit anderen, nämlich gewaltsamen Mitteln. Umfassender und tiefer dagegen Karl Barth, wenn er in einer seiner Predigten gleich zu Kriegsbeginn äußerte: "Dies Alles mußte so kommen - ja es mußte. Und der Grund dieses Müssens liegt viel tiefer als die Oberflächlichkeit meint. Die Ereignisse sind viel zu ernst und zu groß, als daß man darüber politisieren sollte: der und der, die und die haben sie auf dem Gewissen. Sie haben ihren tiefsten Grund in einer falschen Stellung zum Leben, die die europäischen Völker seit Jahrhunderten eingenommen haben."5 Dies mag auf den ersten Blick gegenüber Lenin naiv klingen, und ist es auch. Überhaupt entbehrt die in einem eher larmoyant gehaltenen Ton vorgetragene Predigt an diesem 13. September 1914 und ihrer Klage, die europäischen Völker hätten eben ihr Leben nicht am Evangelium - und das heißt für Barth 1914 noch: an der evangelischen Ethik - ausgerichtet, nicht einer gewissen Naivität. Barth war zu diesem Zeitpunkt seinen liberalen Anfängen noch nicht entwachsen. Dennoch ist der Ansatz Barths tiefergehend, radikaler, und hierin unterscheidet sich der Prophet vom Revolutionär. Was der eine als eine Katastrophe empfindet, und zwar durchaus in der strengen Bedeutung des Wortes als Wendung, aber auch Schluß, Ende, Tod und Sturz, dem als Haltung einzig die metanoia entsprechen könne, d.h. die Umkehr und die Sinnesänderung, natürlich ganz besonders die Sinnesänderung der Eliten, das ist für den anderen, für den Revolutionär, eine Chance, die genutzt werden muß, d.h. eine willkommene occasione. Aus diesen unterschiedlichen Ansätzen, die sich übrigens gar nicht diametral gegenüberstehen müssen, sind dann freilich sich 4 wie es Barth etwa von Stromberg unterstellt wird: "Karl Barth, who was then a Christian Socialist, accepted the war as the inscrutable justice of God." (Redemption by War. The Intellectuals and 1914. Kansas 1982, S.57). 5 Barth: Gesamtausgabe B.I, Predigten 1914. Zürich 1974, S.478f.
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diametral gegenüberstehende Schlußfolgerungen gezogen worden, wobei sich am Ende die naive Auffassung als die realistische, die Wirklichkeit tiefer durchdringendere erwiesen hat, die den Sachverhalt transparenter machte, während die Leninsche Position in einen neuen Mythos mündete, an dessen Beginn gerade Lenins Clausewitzrezeption stand, was im folgenden gezeigt werden soll. Lenin rezipierte das Clausewitzsche Werk Vom Kriege gleich zu Beginn des Krieges in seinen berühmten Tetradka, in Heften, in die er das Buch in seinen wesentlichen Passagen abschrieb und mit Kommentaren versah. Die Formel vom Krieg als der Fortführung der Politik mit gewaltsamen Mitteln ist das Fundament, von dem aus Lenin den Kampf mit den Theoretikern der II. Internationalen aufgenommen hat. Werner Hahlweg schreibt über das Verhältnis Lenins zu Clausewitz: HDer General von Clausewitz gehört somit zu den Denkern, deren klärende, auf philosophischer Grundlage beruhende Untersuchung über Politik und Krieg dazu beitrugen, den tatsächlichen Bankerott der II. Internationalen, ihre geistige Verwirrung, Ziellosigkeit und Inkonsequenz in der großen Krise des Ersten Weltkriegs aufzudecken."6 Besonders in seinen Broschüren Der Zusammenbruch der II. Internationalen (Juni 1915) und Sozialismus und Krieg (Juli/August 1915) setzte sich Lenin vor allem mit Kautsky und Plechanow auseinander und entwickelte eine revolutionär-marxistische Position gegenüber dem Krieg, die allerdings alles andere als pazifistisch war. Der Behauptung, die Völker seien überfallen worden und führten den Krieg zur nationalen Verteidigung, hielt er entgegen, man habe von Seiten der in der Internationalen zusammengefaßten sozialdemokratischen Parteien "nicht den leisesten Versuch (gemacht), an die ökonomische und diplomatische Geschichte, sei es auch nur der letzten drei Jahrzehnte, zu rühren; diese Geschichte beweist aber unwiderleglich, daß gerade die Eroberung von Kolonien, die Ausplünderung fremder Länder, die Verdrängung und Ruinierung des erfolgreicheren Konkurrenten die Hauptachse der Politik beider heute kriegführenden Mächtegruppen bildeten."7 Damit freilich hat Lenin dem Satz von Clausewitz eine neue Qualität gegeben, wenn auch kaum merklich: Der Krieg ist jetzt nicht mehr die Fortführung der Politik mit anderen, nämlich gewaltsamen Mitteln, sondern der europäische Krieg ist die Fortführung des kolonialen Krieges, und zwar nun im eigenen Hause. Noch deutlicher hat Lenin es im Mai 1917 ausgesprochen: "In Europa herrschte Friede, aber er wurde erhalten, weil die Herrschaft der europäischen Nationen über Hundert Millionen Bewohner der Kolonien nur vermittels ständiger, ununterbrochener, niemals abreißender Kriege ausgeübt wurde, die wir Europäer nicht als Kriege betrachten, weil sie allzu häufig nicht Kriegen, sondern eher einem bestiali6 7
Hahlweg: Lenin und Clausewitz Teil 1. In: Archiv für Kulturgeschichte Heft 1,1954, S.32. Lenin,: Der Zusammenbruch der II. Internationalen, in: Werke B.21, Berlin 1977, S.211.
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sehen Gemetzel, der bestialischen Ausrottung wehrloser Völker ähnelten."8 Was konnte anderes bleiben, als diesem "europäischen Frieden" den Krieg zu erklären, was um so leichter fallen mußte, weil das Haus sowieso schon brannte. Dies war die Auffassung Lenins seit Kriegsausbruch: "höre nicht auf die sentimentalen Greiner, die sich vor dem Krieg fürchten; es gibt noch allzuviel auf der Welt, was um der Befreiung der Arbeiterklasse willen mit Feuer und Schwert ausgerottet werden muß".9 M.a.W.: "Wer einen dauerhaften und demokratischen Frieden will, der muß für den Bürgerkrieg gegen die Regierungen und die Bourgeoisie sein."10 Das war alles andere als naiv und beruhte zudem auf einer Analyse, die nach dem Beginn des Krieges fragte unter Einbeziehung seiner Ursachen und nicht nur seines Anlasses. Das Ergebnis war, daß der Kriegsbeginn nicht mehr klar festgelegt werden konnte, was durchaus Auswirkungen auf sein Ende haben mußte. Die Unterscheidung zwischen Krieg und Frieden war hinfällig geworden, der Frieden bedurfte einer neuen Definition, wenn der bisherige Frieden als Krieg verstanden wurde. Lenin hat als einer der ganz wenigen zu Beginn des Krieges - unabhängig von seinen Wünschen - erkannt, daß dieser Krieg leichter begonnen worden ist, als er beendet werden konnte. So sehr aber Lenin auch Clausewitz unablässig zitiert und als ideologische Waffe gegen die sozialdemokratischen Vaterlandsverteidiger richtete, zum Verständnis des Geschehens taugte sie nicht. Der Krieg war längst mehr geworden als nur ein bloßes Instrument der Politik. Lenin unterschlug, daß bei Clausewitz nicht nur die instrumenteile, sondern auch die existentielle Kriegführung Berücksichtigung gefunden hatte, wobei erstere den Staat, letztere aber das Volk zum Subjekt hat. Damit hat der Revolutionär Lenin aber ausgerechnet den Revolutionär Clausewitz unterschlagen. Die instrumentelle Kriegführung wird von Herfried Münkler wie folgt charakterisiert: "Die Ersetzung des Volkes durch den Staat steigert die instrumentalistische Dimension der Kriegsdefinition, insofern sie das Instrument des Krieges einer kleinen Gruppe von Staatsmännern überantwortet, und sie verkürzt die Subsumtion des Krieges unter die Politik noch einmal, indem sie die Abhängigkeit des Krieges von den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen (...) in den Hintergrund treten läßt und unterstellt, die Politik, also der verantwortliche Staatsmann, könne beliebig über die Ziele und Zwecke des Krieges entscheiden."11 Dagegen hat der Erste Weltkrieg die Politik verändert wie vordem noch kein Krieg, sein Schatten lag sogar schon auf der Vor8
Ders.: Krieg und Revolution, in: Werke B.24, Berlin 1974, S.398. Ders.: Der Zusammenbruch der II. Internationalen, S.249. 10 Ders.: Sozialismus und Krieg. Werke B.24, S. 317. 11 Münkler: Instrumentelle und existentielle Auffassung vom Krieg bei Carl von Clausewitz, in: Leviathan Heft 2 1988, S.242. 9
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kriegspolitik, wo er die meisten Energien band. Der Krieg veränderte das Subjekt der Politik, den Staat, in dem er ihn jetzt erst zum Subjekt in der wahren Bedeutung des Wortes machte und sich unterwarf. "Demgegenüber geht die instrumentelle Auffassung des Krieges von einem identischen Subjekt aus. Der Staat (...) ist bei Beendigung der Kriegshandlungen derselbe wie bei deren Eröffnung. Weder konstituiert er sich noch transformiert er sich im Kriege, allenfalls vergrößert er bei Beibehaltung seiner politischen Identität sein Territorium. (...) Der Erste Weltkrieg, als Staatenkrieg begonnen und von allen beteiligten Regierungen als instrumentaler Krieg aufgefaßt, hat in seinem Verlauf einen Wandel durchgemacht, der ihn zunehmend der existentiellen Kriegsauffassung angenähert hat: Kaum einer der an den Kampfhandlungen in Europa beteiligten Staaten, vielleicht mit Ausnahme der USA, hat den Krieg so beendet, wie er in ihn eingetreten ist."12 Je weniger die Clausewitzsche Formel aber taugte, das Geschehen zu verstehen und zu erklären, um so mehr diente sie Lenin, ohne daß dies Lenin bewußt gewesen sein muß, zur Kreation eines Mythos, und dieser Mythos ist die Geschichte des großen Lenin und der Oktoberrevolution, d.h. Lenins als dem Subjekt der Politik und der Revolution. Lenin hat seinen eigenen Mythos vielleicht selber geglaubt. Diesen Mythos propagiert auch Hahlweg, wenn er schreibt: "Für Lenin gewann gerade der Satz Clausewitz', daß der Krieg nichts anderes sei als die Fortsetzung der Politik, große politische Bedeutung."13 So wird Lenin vorgestellt als der "Ingenieur der Revolution"14, der sie in Bern zunächst plante und dann in Petrograd durchführte, und ist Lenin die Clausewitzsche Reflexion der existentiellen Kriegführung in den Blick gekommen, dann schreibt Hahlweg dazu: "Wahrscheinlich dachte er dabei an etwa ähnliche Äußerungsformen der zukünftigen bolschewistischen Revolution"15 (Herv. M.E.). Die Revolution wird zur Fortführung der Politik der Partei, d.h. Lenins, erklärt, aber das war zunächst nur eine Fortführung Clausewitz' mit dem Ziel, einen Mythos zu schaffen, dessen Inhalt nichts anderes gewesen ist als der Primat der Politik bzw. der Idee über die Geschichte. Die Welt des Menschen wird zum Material seiner Vernunft, dieser Grundsatz fand in Lenin vielleicht seine letzte Inkarnation, in Stalin später seinen letzten, freilich verbrecherich pervertierten Ausdruck. Beide waren eigentlich Renaissancemenschen im Stil eines Cesare Borgia, die letzten echten Machiavellisten. Gerade die Faszination, die von beiden ausgegangen ist und sich bis zum 20. Parteitag der KPdSU im Jahre 1956 nicht alleine auf die kommunistischen Parteien, son12 13 14 15
Ebenda, S.249. Hahlweg, S.42. Ebenda, S.35. Ders.: Lenin und Clausewitz Teil 2, in: Archiv für Kulturgeschichte Heft 3 1954, S.360.
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dem auch auf weite Teile gerade der westlichen Intelligenz erstreckte - in den USA huldigte während des Zweiten Weltkrieges sogar eine breite Öffentlichkeit dem Uncle Joe - mag hierin auch seine Ursache haben. Dagegen aber war die Oktoberrevolution im eigentlichen Sinne gar keine bolschewistische Revolution. Es verhielt sich vielmehr geradezu umgekehrt, daß die Ereignisse die Politik bestimmten, auch die der Bolschewiki. Die Parole lautete nämlich Brot und Frieden, die unmittelbar umgesetzten Ziele waren Landreform und Verteilung des Bodens an die Bauern und Autonomie für die Nationalitäten des Großrussischen Reichs. Rosa Luxemburg hat diese Maßnahmen in ihrer Schrift Die russische Revolution (Herbst 1918) schon ein Jahr nach der Oktoberrevolution als mit dem Sozialismus unvereinbar kritisiert, zunächst die Landreform: "Sie hatte (...) leider ihre zwei Seiten, und die Kehrseite bestand darin, daß die unmittelbare Landergreifung durch die Bauern mit sozialistischer Wirtschaft meist gar nichts gemein hat."16 Und weiter: "Jetzt, nach der 'Besitzergreifung' steht als Feind jeder sozialistischen Vergesellschaftung der Landwirtschaft eine enorm angewachsene und starke Masse des besitzenden Bauerntums entgegen, das sein neuerworbenes Eigentum gegen alle sozialistischen Attentate mit Zähnen und Nägeln verteidigen wird."17 Rosa Luxemburg bemerkt über Lenins Bauernpolitik abschließend: "Lenins eigenes Agrarprogramm vor der Revolution war anders."18 Auch in der Nationalitätenfrage warf sie Lenin vor, sozialistische Prinzipien zu mißachten: "Zunächst frappiert an der Hartnäckigkeit und starren Konsequenz, mit der Lenin und Genossen an dieser Parole festhielten, daß sie sowohl in krassem Widerspruch zu ihrem sonstigen ausgesprochenen Zentralismus der Politik wie auch zu der Haltung steht, die sie den sonstigen demokratischen Grundsätzen gegenüber eingenommen haben. (...) Der Widerspruch, der hier klafft, ist um so unverständlicher, als es sich bei den demokratischen Formen des politischen Lebens in jedem Land, wie wir das noch weiter sehen werden, tatsächlich um höchst wertvolle, ja, unentbehrliche Grundlagen der sozialistischen Politik handelt, während das famose 'Selbstbestimmungsrecht der Nationen' nichts als hohle kleinbürgerliche Phraseologie und Humbug ist."19 Was Rosa Luxemburg unverständlich war oder als Fehler kritisierte, stellte sich für die Bolschewiki ganz anders dar, nämlich als Maßnahmen zur Erringung und Behauptung der Macht unter Verschiebung der eigentlichen Revolution auf später, die dann auch, zumindest was die Bauern und die Nationalitäten betrifft, von Stalin vollzogen wurde. Die Erringung und Behauptung der 16 Luxemburg: Die nissische Revolution, in: Politische Schriften B.III, hrsg. v. Flechtheim, Frankfurt a.M. 1968, S.116. 17 Ebenda, S.l 19. 18 Ebenda, S. 119. 19 Ebenda, S.l20f.
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Macht konnte aber nur geschehen unter Veränderung der Politik, freilich nicht unter Veränderung einiger periphärer Aspekte, sondern zentraler Punkte. Nicht mehr die Partei war die treibende Kraft, vielmehr wurde sie von den Ereignissen getrieben. Der bolschewistischen Partei erging es in der Revolution nicht anders als den europäischen Staaten während des Krieges, sie war anschließend nicht mehr das, was sie vordem gewesen war. So wurde schließlich die Revolution auch nicht begriffen und stattdessen mythologisiert, u.a. unter Berufung auf Clausewitz. Lenins Vermächtnis, seine Schrift Staat und Revolution, die im August 1917 entstand, ist Fragment geblieben, bezeichnender Weise fehlt der Teil über die Revolution, und Clausewitz wird mit keinem Wort mehr erwähnt. Die Bolschewiki flüchteten in den Mythos, um sich nicht der prophetischen Einsicht "und führtest mich, wohin ich nicht will", stellen zu müssen.20 Karl Barth hat dagegen die Krise dieser Zeit weniger als eine politische oder militärische, sondern als eine geistige Krise begriffen, als die Krise der Neuzeit schlechthin. Während Lenin im Exil die Schar der Berufsevolutionäre organisierte, auf seine Gelegenheit wartete und unter größter politischer Anspannung lebte, oftmals verzweifelt, weil er in das Geschehen nicht eingreifen konnte und zum bloßen Zuschauen verurteilt war, widmete sich Barth der Lektüre des Römerbriefs. Für Barth wurde jetzt der "revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts"21 manifest, und der Krise, so seine Überzeugung, konnte nur begegnet werden auf der Basis eines neuen geistigen Fundaments. Sowohl aber Marx als auch Kierkegaard, die für Karl Löwith diesen Bruch markierten22, waren für Barth noch zu sehr Kinder ihres Jahrhunderts und damit seiner Kultur, ein Zurück hinter Nietzsche konnte es nicht geben. Ein mehr als Nietzsche allerdings glaubte Barth im Römerbrief gefunden zu haben, d.h. in der paulinischen Theologie. Von jetzt an, so jedenfalls seine Überzeugung, konnte man nicht mehr Theologie treiben, als sei nichts geschehen, weil Theologie und Philosophie, die bisher gesamte Kultur überhaupt, kompromittiert waren. Wie Nietzsche will Barth die Krise durch ein Wiederanknüpfen an der Antike überwinden, durch einen Rekurs, freilich nicht mehr auf Dionysos, sondern auf Christus. Barth hat sehr deutlich erkannt, daß der Rekurs Nietzsches gar nicht auf die Antike, sondern allenfalls 2 0
Vgl. den Propheten Jona im Alten Testament. Vgl. Löwith: Von Hegel zu Nietzsche. 22 "Während Goethe und Hegel in der gemeinsamen Abwehr des Transzendierenden' noch eine Welt zu gründen vermochten, worin der Mensch bei sich sein kann, haben schon ihre nächsten Schüler sich nicht mehr in ihr zu Hause gefunden und das Gleichgewicht ihrer Meister als das Produkt einer bloßen Harmonisierung verkannt. - Die Mitte, aus der Goethes Natur heraus lebte, und die Vermittlung, in der Hegels Geist sich bewegte, sie haben sich bei Marx und Kierkegaard wieder in die beiden Extreme der Äußerlichkeit und der Innerlichkeit auseinandergesetzt, bis schließlich Nietzsche, durch ein neues Beginnen, aus dem Nichts der Modernität die Antike zurückholen wollte und bei diesem Experiment im Dunkel des Irrsins verschwand." (Löwith S.43). 21
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auf die Renaissance zurückging und daß dieses Denken mit Nietzsche seinen Höhe-, aber zugleich auch seinen Wendepunkt erreicht hatte. Kompromittiert war für ihn schließlich auch das gesamte Denken der Neuzeit, sofern es mit der Behauptung des freien Willens in der Tradition des Erasmus stand, auch wenn Barth Erasmus nicht in den Vordergrund seiner Kritik stellt. Aber wo war denn der freie Wille in Krieg und Revolution geblieben? Er hatte sich als eine Fiktion offenbart, und konsequent beginnt Barth neben dem Paulus- auch mit dem Lutherstudium. b) Karl Barth oder das Phänomen der Ausnahme Wenn Barth die Ideen von 1914 seinerseits als "Kriegsideologie" denunziert hat, dann darf ihm durchaus ein im Sinne der Herrschaftskritik reflektierter Ideologiebegriff marxistischer Provenienz unterstellt werden. Der imperialistische Charakter des Krieges war ihm durchaus bewußt, und er hat ihn auch geäußert. Nun muß aber berücksichtigt werden, daß Barth zu dieser Einschätzung als Zeitgenosse gekommen ist und sie unmittelbar bei Ausbruch des Krieges vertreten hat, und darin bildete er eine Ausnahme (zusammen mit Albert Einstein und vielleicht noch einer Handvoll anderer in Europa). Die gesamte europäische Intelligenz, zumindest in den kriegführenden Ländern, war bei Kriegsausbruch kriegsbegeistert, und das gilt auch für jene, die sich später oder auch nur nach kurzer Zeit gegen den Krieg aussprachen. Nicht so sehr der Krieg und sein Verlauf, sondern gerade diese Begeisterung ist der Anlaß für das Entsetzen Barths gewesen. Wie es zu dieser Ausnahme im Meer der allgemeinen Begeisterung gekommen ist, darüber kann nur spekuliert werden, Barth hat es selber nicht so deutlich reflektiert. Beigetragen mag haben, daß er Schweizer war und in der Schweiz lebte, gleichwohl die Schweizer den Ereignissen keineswegs gleichgültig gegenüberstanden und zumindest im deutschsprachigen Teil des Landes einen deutschen Sieg erhofften (wie auch der religiöse Sozialist Hermann Kutter). Beigetragen hat wohl auch, daß Barth den Gedanken des proletarischen Internationalismus sehr viel ernster genommen hat, als es die offiziellen Vertreter dieser Idee getan hatten. Christopher Frey hat gegenüber Barth dann noch die psychoanalytische Methode angewandt und über ihn in der Zeit unmittelbar vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges geschrieben: "Im Blick auf die physisch-soziale und auf die geistige Vaterschaft scheint Barth einen tiefen Bruch erfahren zu haben."23 Der Ausbruch des Krieges und das Verhalten der deutschen Theologen, namentlich der Theologen der liberalen Rich23 Frey: Die Theologie Karl Barths S.22. Frey meint damit, daß Barths Vater, ein gemäßigt orthodox-positiver Theologe, 1912 verstorben war und daß Barths Abkehr von der liberalen Theologie als ein Akt nachträglichen Gehorsams verstanden werden kann.
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tung, wäre dann für Barth die Gelegenheit gewesen, diesen Bruch zu vollziehen. Auch wenn man nicht bereit ist, den psychoanalytischen Weg mitzugehen, darf dennoch der theologische Aspekt, der im Bruch mit der "geistigen Vaterschaft" mitschwingt, nicht unberücksichtigt bleiben, besonders weil ihn Barth selber betont hat - was die Psychoanalyse wiederum wenig beeindruckt, weil ihre Methode ja nichts anderes darstellt als das ausdifferenzierte Mißtrauen gegenüber dem Befragten. Aber auch ohne Psychoanalyse wird man hier durchaus den Schlüssel zum Verständnis des Verhaltens Barths annehmen dürfen. Die liberale Theologie mag das nötige Rüstzeug für den Prediger einer bürgerlichen Gemeinde geliefert haben, ohne daß er in einen Widerspruch zu seinem Beruf kommen mußte und somit seine berufliche Identität wahren konnte. Die liberale Theologie des 19. Jahrhunderts kann natürlich nicht über einen Kamm geschoren werden, aber seit Schleiermacher versuchte die Theologie, sich gegen die Aufklärung zu behaupten, und sie tat es, indem sie sich weitestgehend auf die Bereiche zurückzog, die die Aufklärung ihr überlassen hatte, nämlich die Ethik und das Gefühl. Indem sie versuchte, sich neben der Aufklärung zu behaupten, wandte sie sich entsprechend an die Schicht, die der soziale Träger der Aufklärung gewesen ist, nämlich das Bildungsbürgertum. Das religiöse Erlebnis wurde eines ihrer Hauptthemen. Zudem versuchte die liberale Theologie, die Aussagen des christlichen Glaubens mit den Wissenschaften in ein verträgliches Miteinander zu bringen. Sie historisierte Schrift und Dogma, indem sie sie historisch-kritisch mit den Mitteln der Hermeneutik und vor dem Hintergrund aktueller philosophischer Strömungen interpretierte, und zwar durchaus mit dem Anliegen, sie so für die Gegenwart nicht nur zu Objekten von historischem Interesse verkommen zu lassen. Demgegenüber bestand aber die Gefahr, daß man in den christlichen Glauben mehr hineinlas, als daß man sich von ihm ansprechen ließ. Auch wenn dieses Problem vielen Theologen der liberalen Richtung durchaus bewußt gewesen ist, so daß man ihnen das ehrliche Engagement um den Glauben nicht absprechen kann, führten sie doch erbitterte Kämpfe mit den orthodoxen Theologen, die ein mehr verspottetes akademisches Schattendasein führten. Die Aufklärung jedoch wurde keiner auch nur annähernd grundsätzlichen Kritik unterzogen - auch die Orthodoxen beschränkten sich auf Apologie - die Versöhnung zwischen aufgeklärter Kultur und Theologie dagegen wurde im Interesse der Theologie zum Programm erhoben. Wenn diese Theologie also durchaus zugeschnitten war auf ein Bildungsbürgertum, das die herrschende Gesellschaft seiner Zeit prägte, gegenüber den alltäglichen Nöten und Sorgen einer Arbeitergemeinde, für die auch der Sonntag Alltag war, mußte sie versagen. Der Mensch, den sie thematisierte, war die isolierte bürgerliche Monade, aber nicht das Proletariat. Dieses trat für die liberale Theologie lediglich als ein Objekt ihrer Ethik in den Blick, wenn überhaupt. 11 Eichhorn
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Eines der eindrucksvollsten Zeugnisse liberaler Theologie stellen die von Adolf von Harnack im Wintersemester 1899/1900 gehaltenen Vorlesungen über das Wesen des Christentums dar, die im Jahre 1900 erstmals unter diesem Titel erschienen und seitdem eine Vielzahl an Auflagen erfahren haben. Zur Ermittlung des Wesens des Christentums greift Harnack auf die synoptischen Evangelien zurück, weil alleine von ihnen aus ein Zugriff auf den historischen Jesus möglich sei. Diesem historischen Jesus gilt das ausschließliche Interesse, aber nun eben nicht das Interesse des Theologen, sondern das des Historikers, dem die Aufgabe zufällt, das Wesentliche zu ermitteln und vom bloß Zeitbedingten zu unterscheiden: "Für den Historiker, der das Wertvolle und Bleibende festzustellen hat - und das ist seine höchste Aufgabe - ergibt sich (...) die notwendige Forderung, sich nicht an Worte zu klammern, sondern das Wesentliche zu ermitteln ,"24 Das Wesentliche des Christentums ist für Harnack aber kein Dogma mehr, etwa das Dogma von der Menschwerdung Gottes, sondern Religiösität, und zwar selbständige Religiösität: MSelbständiges religiöses Leben wollte er (Jesus; Anm. M.E.) entzünden, und hat es entzündet; ja das ist, wie wir sehen werden, seine eigentliche Größe, daß er die Menschen zu Gott geführt hat, auf daß sie nun ihr eigenes Leben mit ihm leben".25 Daß man, wenn man schon wenig über Jesus erfährt, noch weniger über Gott erfährt, liegt in der Logik dieses Denkens, das sich bewußt jeglichen theologischen Denkens enthält, weil Gott zum Privatbesitz des Gläubigen entäußert worden und alleine der Interpretation des selbständigen religiösen Lebens und seiner Erlebnisse mit Gott ausgeliefert ist. Die selbständige Religiösität liegt, was unschwer zu erkennen ist, in der Linie von Thomas Hobbes bzw. dem, was Hobbes im Unterschied zur confessio fides nannte. So ist auch bei Harnack die selbständige Religiösität Grundbedingung des Religionsfriedens: "Auf dem Boden der 'Christologie' haben die Menschen ihre religiösen Lehren zu furchtbaren Waffen geschmiedet und Furcht und Schrecken verbreitet. Diese Haltung dauert noch immer fort, die Christologie wird behandelt, als böte das Evangelium keine andere Frage, und der Fanatismus, der sie begleitet, ist auch heute noch lebendig."26 Allerdings, und hier wird der liberale Charakter dieser Theologie vollends deutlich, unterscheidet Harnack nicht mehr zwischen confessio undfides - eine confessio kommt für ihn erst gar nicht mehr in Betracht: "Wie weit entfernt man sich also von seinen (Jesu; Anm. M.E.) Gedanken und von seiner Anweisung, wenn man ein 'christologisches* Bekenntnis dem Evangelium voranstellt und lehrt, erst müsse man über Christusrichtigdenken, dann erst könne man an das Evangelium herantreten! Das ist eine Verkehrung. Über Christus vermag man nur dann und in dem Maße 'richtig' zu denken und zu lehren, als man nach 2 4 25 2 6
Harnack: Wesen des Christentums, S.19. Ebenda, S. 18. Ebenda, S.80.
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seinem Evangelium zu leben begonnen hat."27 Dies bedeutet nichts anderes als die Reduzierung des Christentums auf den Vollzug der Nächstenliebe, bedeutet aber schon nicht mehr Mitarbeit am Reich Gottes, das entsprechend auch streng individualistisch begriffen wird: "Das Reich Gottes ist Goiiesherrschaft, gewiß - aber es ist die Herrschaft des heiligen Gottes in den einzelnen Herzen, es ist Gott selbst mit seiner Kraft. Alles Dramatische im äußeren, weltgeschichtlichen Sinn ist hier verschwunden, versunken ist auch die ganze äußerliche Zukunftshoffnung. N28 Indem die liberale Theologie das Christentum zum Gegenstand ausschließlich historischer Forschung machte, verabschiedete sie es gleichsam aus der Geschichte und degradierte es zu einer innermenschlichen Nachtwächterinstanz. Hierin zeigt sich aber letztendlich auch eine Geschichtsohnmächtigkeit des deutschen Bürgertums, namentlich des Bildungsbürgertums, das die Geschichte schlechthin negierte, jedenfalls jede zukünftige, die ja nichts anderes darstellt als geronnene Politik. Die liberale Theologie kann damit durchaus als ein Ausdruck des das Deutsche Reich prägenden Verfassungskompromisses zwischen Adel und Bürgertum verstanden werden. Die Theologie war insgesamt zu einem Stillstand gekommen, gerade auch weil sie gereinigt worden war von Mythologie und Geheimnis, indem man das Christentum historisiert und individualisiert hatte. Der Antichrist Friedrich Nietzsche erkannte dies mit untrüglichem Blick und notierte schon vor Harnack, auch wenn nur wenige es hören wollten oder ertrugen, freilich verbunden mit der Hoffnung, der Spuk möge bald ganz zu Ende sein: "Einige Zeit hilft vielleicht die in älteren Köpfen noch qualmende Hegelische Philosophie zur Propagation jener Harmlosigkeit, etwa dadurch, daß man die 'Idee des Christentums' von ihren mannigfach unvollkommenen 'Erscheinungsformen' unterscheidet und sich vorredet, es sei wohl gar die 'Liebhaberei der Idee', sich in immer reineren Formen zu offenbaren, zuletzt nämlich als die gewiß allerreinste, durchsichtigste, ja kaum sichtbare Form im Hirne des jetzigen theologus liberalis vulgaris. Hört man aber diese allerreinlichsten Christentümer sich über die früheren unreinlichen Christentümer aussprechen, so hat der nichtbeteiligte Zuhörer oft den Eindruck, es sei gar nicht vom Christentume die Rede, sondern von - nun, woran sollen wir denken? wenn wir das Christentum von dem 'größten Theologen des Jahrhunderts' als die Religion bezeichnet finden, die es verstattet, 'sich in alle wirklichen und noch einige andere bloß möglichen Religionen hineinzuempfinden', und wenn die 'wahre Kirche' die sein soll, welche 'zur fließenden Masse wird, wo es keine Umrisse gibt, wo jeder Teil sich bald hier, bald dort befindet und alles sich
2 7 28
Ebenda, S.92. Ebenda, S.43.
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friedlich untereinander mengt1. - Nochmals, woran sollen wir denken?"29 Woran aber soll der Prediger einer Arbeitergemeinde denken, der seinen Beruf durchaus ernst nimmt, insbesondere seine Aufgabe als Prediger, der sich also in einer ganz anderen Situation befindet als der Professor, der Vorlesung hält oder apologetische Salongespräche führt? Und wie muß demjenigen diese liberale Theologie erst erscheinen, der sie vor dem Hintergrund ihrer Herkunft betrachtet: "Versetzt nur ein paar solcher modernen Biographen in Gedanken an die Geburtstätte des Christentums oder der Lutherischen Reformation; ihre nüchterne pragmatisierende Neubegier hätte gerade ausgereicht, um jede geisterhafte actio in distans unmöglich zu machen: wie das elendeste Tier die Entstehung der mächtigsten Eiche verhindern kann, dadurch daß es die Eichel verschluckt."30 Bis dann jemand auftritt, die Eichel zu bergen, ist eine Frage der Zeit, und daß es sich zudem noch um einen Baseler gehandelt hat, der also aus der Stadt stammt, die Wirkstätte von Nietzsche und Jacob Burckhardt gewesen war, diesen beiden großen Verächtern bürgerlicher Gemütlichkeit, mag mehr als purer Zufall sein. Auch darf in dieser Reihe Franz Overbeck nicht vergessen werden, der Freund und Bewunderer Nietzsches und das enfant terrible der Theologie des 19. Jahrhunderts, der mit der Entdeckung der eschatologischen Dimension des Neuen Testaments den Bruch seiner beruflichen Identität als Hochschullehrer der Theologie schon empfunden und thematisiert hatte. Der Vater Karl Barths, Fritz Barth, hatte ja, wie schon eingangs bemerkt, als Schüler des Baseler Pädagogiums sowohl Nietzsche als auch Burckhardt als Lehrer erlebt und später als Student der Theologie bei Overbeck gehört. Besonders dem Studium des letzteren widmete sich dann auch Karl Barth, wobei ihn zusätzlich noch gereizt haben mag, daß man ihn "im damaligen Basel nur zu nennen brauchte, um aller Haare zum Sträuben zu bringen".31 Damit hätten sich, abschließend gesagt, Kriegsausbruch und theologische Unzufriedenheit bis hin zum drohenden beruflichen Identitätsverlust zu dem Urteil über die deutsche "Kriegsideologie" synthetisiert, wobei wohl auch noch ein gerüttelt Maß an einer Barth Zeit seines Lebens eigenen und auch seine Theologie prägenden Lust an der Polemik hinzugekommen sein mag. So sehr aber auch dem Urteil Barths aus der Sicht jener, die die Geschichte und die Folgen des Ersten Weltkrieges aus der historischen Perspektive und Distanz kennen, zugestimmt werden kann, so sehr vielleicht auch die Klarheit des Urteils gerade wegen der Zeitgenossenschaft Lob und Anerkennung finden mag, besteht doch auch der Verdacht, daß dieses Urteil, wenn nicht ungerecht, 2 9 3 0 31
Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen. Stuttgart 1976, S.154f. Ebenda, S.156. Zit. n. Busch, S.128.
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so doch vielleicht zufällig gewesen ist, d.h. ohne genauere Kenntnis seines Gegenstandes gefällt wurde. Stellten doch gerade auch die Ideen von 1914 zum Teil durchaus einen Bruch mit der bürgerlichen Welt dar, der Barth ganz und gar entgangen zu sein scheint und den Lenin ignorierte. Im anderen Falle wäre Barths Urteil aber schwerlich anders ausgefallen, denn Barth kritisierte nicht so sehr die politischen Entscheidungen als vielmehr die politische Vereinnahmung Gottes, die von nun an seine Kritik herausfordern sollte. Auch der Krieg als solcher wurde nicht von ihm verurteilt. In einem Brief vom 31.8.1914 an Martin Rade, in dessen Christlicher Welt Barth publizierte, heißt es: "Über alles Politische sage ich kein Wort, ich maße mir kein Urteil darüber an, es dürfte bei der Kompliziertheit der Dinge überhaupt jetzt noch nicht möglich sein, darüber zu urteilen."32 An anderer Stelle heißt es sogar: "Es versteht sich von selbst, daß Deutschland den Krieg, den es nun, mit Recht oder mit Unrecht einmal hat, auch führen muß, mit Verteidigung und Angriff, mit 42cm-Geschützen und Neutralitätsverletzungen, mit Massenfüsilierungen und Städtezerstörungen. A la guerre comme à la guerre. Aber warum lassen sie bei dieser ganzen weltlichen, sündigen Notwendigkeit Gott nicht aus dem Spiele? Meinetwegen durch völliges Schweigen, wenn der 'harten Realitäten1 wegen das Protestieren nicht angeht; Schweigen mit allen religiösen Beziehungen auf das, was die Deutschen jetzt tun müssen, wäre auch ein Protest."33 Den Krieg lehnt Barth zwar ab, seine Notwendigkeit wird einer politischen Analyse anheimgestellt, zu der er freilich noch nicht gekommen zu sein vorgibt. Doch die theologische Legitimierung des Krieges durch die deutsche Professorenschaft wird auf das Schärfste angelehnt, sie entlarvt die deutsche Theologie als Häresie. "In mir ist etwas von der Hochachtung deutschem Wesen gegenüber für immer zerbrochen, das weiß ich, nicht etwa wegen Burgweiler, Löwen, Reims etc. - diese Dinge nehmen wir nicht so wichtig, wie Ihr denkt - sondern weil ich sehe, wie eure Philosophie und euer Christentum nun bis auf wenige Trümmer untergeht in dieser Kriegspsychose."34 Martin Rade schrieb darauf, nachdem er die gerechte Sache Deutschlands noch einmal betont und auf die Notwendigkeit der Verteidigung des ansonsten friedliebenden deutschen Volkes hingewiesen hatte: "Und Sie verlangen, wir sollten bei dem Erleben dieses Krieges Gott außerm Spiel lassen. Das ist unmöglich. Für eine so überwältigende Sache gibt es nur Einen möglichen Grund und Urheber: Gott" 35 Schließlich heißt es noch: "Aber Eines entgeht Ihnen: das Erlebnis"*, worauf Barth antwortete: "Jedenfalls müssen wir nach eurem Verzicht auf die
32 33 34 35 3 6
Karl Barth - Martin Rade. Ein Briefwechsel. Gütersloh 1981, S.95f. Ebenda, S.96f. Ebenda, S. 101. Ebenda, S.l 10. Ebenda, S. 109.
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Theorie1 und eurem Appell an das 'Erlebnis' schweigen und hätten es vielleicht besser schon früher getan, weil dieser Ausgang vorauszusehen war."37 Barths Angriff bezog sich nicht alleine auf die bürgerliche Gesellschaft so, wie sie sich zu Beginn des Krieges darstellte, sondern darauf, daß diese Gesellschaft ihrer Kultur quasireligiöse Züge verlieh, was seinerseits der Krieg endgültig offenbart hatte. An einen Fortschritt im Rahmen dieser Gesellschaft glaubte er nicht mehr, entsprechend hätte eine tiefere Kenntnis der Inhalte dessen, was die Ideen von 1914 darstellten, Barts Denken kaum beeinflussen können. Seine Antwort gegenüber dem, was er aus Deutschland zu hören bekam, war sein Nein der beiden Römerbriefkommentare, das in Röm.I nur noch nicht radikal genug vorgetragen worden war. Von Beginn des Krieges an ging es Barth letztlich um nichts anderes mehr als um das, was er im Jahre 1933 dann theologische Existenz nannte. c) Die Ideen von 1914 "Nun kann Naphtas dämonische Bejahung der allgemeinen Kriegslüsternheit nicht mehr überraschen, denn Krieg ist das große Dementi bürgerlicher Sekurität: ein Zutagetreten der 'wölfischen Krudität' des Kapitalismus, ein Abstreifen seiner schlaffen humanitären Gewandung. Naphta begreift den Weltkrieg als Resümee kapitalistischen Zerfalls und als Geschichtszeichen der Weltrevolution. Der Weltkrieg enthüllt die imperialistische Koalition der Ideenfeindlichkeit, destruiert die abendländische Seinssystematik und tilgt jede Möglichkeit eines 'Außerhalb'; er potenziert das Chaos des bloßen, formjenseitigen Lebens bis zur Provokation einer terroristischen Ethik, die nun gewaltsam und unmenschlich Klarheit in der verwirrten Welt des Humanen schafft." 38 Die Einschätzung Naphtas aus Thomas Manns Zauberberg, die Norbert Bolz hier trifft, läßt in Naphta einen der Anarchisten vermuten, die Chesterton in The Man who was Thursday karrikiert hat. Aber Naphta ist Jesuit, seine revolutionären Züge sind konterrevolutionärer Natur und gegen den Humanismus gerichtet, wie er bei Thomas Mann von Settembrini vertreten wird. Der Erste Weltkrieg und seine Wirkung auf die Intellektuellen in Europa muß differenzierter gewertet werden. Das Bild wandelte sich auch im Verlauf des Krieges. Politisch wirksam bis über das Kriegsende hinaus blieb aber das Erleben des Kriegsausbruchs. In den Ideen von 1914, so der Historiker Fritz Fischer, "blieb der Krieg nicht mehr nur ein Verteidigungskampf, den das angefallene Deutschland gegen eine Übermacht von Feinden durchzustehen hatte, sondern er erhielt 3 7
Ebenda, S. 118. Bolz: Auszug aus der entzauberten Welt. Philosophischer Extremismus zwischen den Weltkriegen. München 1989, S.18.
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darüber hinaus eine höhere, schicksalhafte Notwendigkeit, die in der Gegensätzlichkeit deutschen Geistes, deutscher Kultur und deutschen Staatslebens zu den entsprechenden Lebensformen des feindlichen Auslandes begründet war."39 Diese Erklärung bleibt aber zu pauschal, auch wenn sie einen wesentlichen Aspekt der Ideen von 1914 wiedergibt. Sowohl Fritz K. Ringer als auch Klaus Schwabe haben die Propagandisten dieser Ideen, nämlich die deutsche akademische Intelligenz, zunächst nicht als bloße Überbauproduzenten und bewußte Ideologen im Interesse der Herrschenden und ihrer Kriegsziele angesehen.40 Es handelte sich m.a.W. nicht nur um bloße Propaganda, auch wenn die Ideen von 1914 später zu Propagandazwecken verwendet worden sind. Neben den Arbeiten von Schwabe und Ringer macht dies besonders auch die Untersuchung von Roland N. Stromberg deutlich, der sich nicht nur auf die deutschen Hochschulgelehrten beschränkt, sondern die Schriftsteller und Künstler auch der anderen kriegführenden Länder mit in die Untersuchung einbezieht, neben der deutschen also besonders auch die britische, französische, italienische und russische Intelligenz berücksichtigt, und der im gesamteuropäischen Rahmen von den Ideen von 1914 spricht.41 Es zeigt sich, daß die gesamte Intelligenz der kriegführenden Länder, unabhängig von ihrer politischen Einstellung, mit wenigen Ausnahmen, bei Kriegsbeginn kriegsbegeistert war und Mobilmachung wie Kriegserklärung euphorisch gefeiert hat. Dies bedeutet aber mehr als nur Propaganda und bedarf einer tiefergehenden Betrachtung. Hermann Lübbe hat die Kriegsideologie wie folgt definiert: "Philosophie, die patriotisch die Sache des Krieges zu ihrer eigenen macht oder vielmehr umgekehrt dem kriegführenden Vaterlande bestätigt, daß es ihre Sache führt". 42 Aber hier wird auch noch unterschieden zwischen dem Krieg und "seiner Sache", d.h. daß der Krieg instrumenteil verstanden wird. Dagegen haben aber die meisten Intellektuellen in Europa den Krieg existentiell verstanden. Die Ideen von 1914, so paradox es auch klingen mag, sind der Ausdruck eines Protestes gewesen, und zwar des Protestes gegen die bürgerliche Gesellschaft, wie sie sich amfin de siècle dargestellt und bis 1914 erhalten hatte. Diese Gesellschaft ist tatsächlich 1914 zusammengebrochen, und ihr Ende wurde bejubelt.
3 9 Fischer: Der Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/1918. 2. Aufl., Düsseldorf 1967, S.132f. 4 0 Ringer: Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890-1933. Stuttgart 1983; Schwabe: Wissenschaft und Kriegsmoral. Die deutschen Hochschullehrer und die politischen Grundfragen des Ersten Weltkrieges. Göttingen, Zürich, Frankfurt am Main 1969. 41 Stromberg: Redemption by War. The Intellectuals and 1914. Kansas 1982. 4 2 Lübbe: Politische Philosophie in Deutschland. Studien zu ihrer Geschichte. Basel und Stuttgart 1963, S.l77.
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Die Ideen von 1914 sind also weniger produziert und propagiert worden, sie stellten vielmehr spontane Reaktionen dar, so wie die allgemeine, alle Schichten der Völker umfassende Kriegsbegeisterung im August 1914 nicht das Ergebnis zentraler Lenkung, sondern ebenfalls spontane Erruption war. Die Begeisterung erfolgte nämlich nicht alleine aus vordergründiger nationaler Gesinnung heraus, auch nicht bei der deutschen Intelligenz, denn gerade bei letzterer wurzelte diese Gesinnung in der sozialen Situation der Vorkriegsgesellschaft, und zwar sowohl in der sozialen Situation der Gesellschaft allgemein, bzw. wie sie aufgefaßt worden ist, aber auch der Lage der Intellektuellen im besonderen. Hier ist vor allen Dingen an die Situation der humanistischen Bildung zu denken, die ihre Position gegenüber den aufstrebenden Natur- und Verwaltungswissenschaften, die unmittelbare Bedeutung für Industrie und Verwaltung hatten, nicht halten konnte und Gefahr lief, ihre Bedeutung immer mehr einzubüßen, bis hin zum Bedeutungsverlust. Die Gesellschaft, die als vom Klassenkampf zerrissen angesehen worden war, hatte gegen den äußeren Feind endlich im Schulterschluß zusammengefunden, die Klassen schienen in der Nation aufgehoben zu sein. Am 4. August 1914 hatte der Reichstag einstimmig, d.h. mit allen Stimmen der Sozialdemokratie, die Kriegskredite bewilligt - die gar nicht so unerhebliche Minderheit der SPD-Reichstagsfraktion, die sich zuvor gegen eine Bewilligung ausgesprochen hatte, unterwarf sich der Fraktionsdisziplin. Der Kaiser hatte erklärt, fortan keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche kennen zu wollen. Die Hoffnungen der deutschen Intelligenz, wie Ringer schreibt, hatten sich erfüllt: H Mit nur sehr wenigen Ausnahmen träumten alle deutschen Gelehrten von einem Staat oder einer politischen Partei als einem Gebilde, welches soziale Konflikte in Harmonie umwandeln würde, welches von kulturellen und ethischen Zielen sowie vom Ideal deutscher Größe in der Weltpolitik geleitet würde."43 Im Jahre 1914 setzte man allerdings noch nicht auf eine Partei, sondern auf den Staat, bzw. in Deutschland auf das Reich, ein Begriff voller mythischen Gehalts, über den die Gegner nicht verfügten und der die deutsche Nation Gott näher stellte.44 Der soziale Aspekt ist dann auch in zahlreichen 4 3
Ringer, S. 125. Vgl. hierzu Münkler: Das Reich als politische Vision, in: Kemper (Hrsg.): Macht des Mythos Ohnmacht der Vernunft? Frankfurt am Main 1990. "Der Staat (...) war (...) ein kaltes rationales Gebilde, das wohl Ziele und Zwecke verfolgte, aber für sich im emphatischen Sinne eigentlich keinen 'Sinn* reklamieren konnte - im Unterschied zum Reich, das Bedeutung besaß und Sinn hatte. Der Staat, das war Menschenwerk, entstanden aus einer Übereinkunft, in der, so die bürgerlichen Vertragstheoretiker, ein jeder aus Gründen seines wohlverstandenen Eigeninteresses in die Ausdifferenzierung einer der Sphäre der Gesellschaft überhobenen Staatsgewalt einwilligte, deren Aufgabe es - im optimalen Fall - war, Leben, Eigentum und Freiheit der Bürger zu schützen. Das Reich hingegen ist Gotteswerk, Werkzeug göttlicher Ordnung, nicht gemacht, sondern geworden, menschlichem Sinnen und Trachten überhoben, nicht aufsummierter Egoismus, wie der Staat, sondern sakrale Stiftung." (S.338) So eignete sich das Reich mehr noch als der Staat als Plattform für die Ideen von 1914, auch wenn einschränkend vielleicht gesagt werden muß, daß 1914 zunächst das Reich noch in den Hintergrund trat und erst in 4 4
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öffentlichen Erklärungen und Manifesten betont worden, z.B. von Otto von Gierke: "Was aus kleinlichem oder engherzigem Geist, aus Gehässigkeit gegen die Angehörigen einer Konfession oder Religion, aus Mißtrauen gegen die Massen stammt, das kann diesen Krieg, in dem einer für alle und alle für einen standen, nicht überdauern."45 Otto von Gierke spricht aber nicht nur das Proletariat und die Katholiken an, eine Anspielung auf Sozialistengesetz und Kulturkampf - neben dem Judentum, das auch mit einbezogen ist, heißt es über die nicht-deutschen Nationalitäten im Reich, gedacht ist wohl vor allem an die Polen: HAuch den Volksgenossen fremder Zunge, deren glänzend bewiesene Staatstreue ihren Lohn fordert, werden wir größeres Vertrauen als bisher schenken und jeden Versuch einstellen müssen, ihr Vollbürgerrecht und ihre Eigenart zu verkümmern.H46 Insbesondere die K.u.K.-Monarchie wird aufgefordert, den in ihr lebenden Nationen Autonomie und größere Anteilnahme am gesellschaftlichen Leben zu gewähren. Auch wenn nach dem Siege der Parteienkampf neu entflammen werde, ein unvermeidbares Kennzeichen einer jeden modernen Gesellschaft - "die deutsche Kultur ist zuletzt nicht im Vergänglichen, sie ist im Ewigen verankert."47 Schon hier wird deutlich, daß die Ideen von 1914 als noch nicht verwirklicht betrachtet worden sind, daß sie also keineswegs Realität darstellten, allenfalls Verheißungen waren, die der Krieg ans Tageslicht und ins öffentliche Interesse rückte und die der Sieg erfüllen sollte. Bei Hermann von Oncken heißt es: "Überall da, wo die Struktur des Staates in Deutschland und Preußen allzu eng mit dem klassenmäßigen Aufbau der Gesellschaft verknüpft und den sittlichen und wirtschaftlichen Lebensbedürfnissen der Minderbesitzenden entgegengesetzt ist, muß ein Umbau einsetzen; er kann sich nicht von heute auf morgen überstürzt vollenden, aber er muß zum Endziel aller politischen Arbeit werden."48 Und so auch der Tenor im Aufruf von Gerhard Anschütz: "Möge der Krieg uns mit dem äußeren auch den inneren Frieden bringen."49 den zwanziger Jahren, nachdem das Reich verloren war, als ideologische Größe auftauchte. 1914 stand noch Preußen im Vordergrund, das sich mit dem Reich immer ein wenig schwergetan hatte, sich dagegen in der Rolle des vorbildlichen Staates gefiel. Dem Reich als Heiligem Römischen Reich deutscher Nation haftete zudem noch der Ruf der Zerrissenheit und Wehrlosigkeit an (vgl. Faulenbach: Ideologie des deutschen Weges. Die Geschichte in der Historiographie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus. München 1980, S.38ff). Davon abgesehen war das Reich als Garant oder auch nur Teil einer göttlichen Ordnung eine katholische Vorstellung, während das Reich in der dritten Strophe des Lutherliedes 'Ein feste Burg ist unser Gott' eine andere Qualität hat: Es ist keinesfalls in der äußeren Ordnung lokalisierbar, sondern nur im Inneren des Gläubigen, ist kein katechon mehr, sondern vielmehr eine die Katastrophe überstehende Größe; es ist zum inneren Halt geworden: "Nehmen sie den Leib,/Gut, Ehr, Kind und Weib:/laß fahren dahin,/sie habens kein' Gewinn,/das Reich muß uns doch bleiben." 4 5 Gierke: Krieg und Kultur, in: Aufrufe und Reden deutscher Professoren im Ersten Weltkrieg. Stgtt 1975, S.76. 4 6 Ebenda, S.76. 4 7 Ebenda, S.78. 4 8 Oncken: Die Deutschen auf dem Wege zur einigen und freien Nation, in: Aufrufe S. 111. 4 9 Anschütz: Gedanken über künftige Staatsformen, in: Aufrufe, S.l 14.
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Voraussetzung dafür sei freilich: "Viel fordert unser Staat von seinem Volke, darum muß er ihm viel geben", präziser formuliert: "Die durch den Militarismus bedingte Vermehrung der Volkslasten muß ihr Gegengewicht erhalten in einer Verstärkung der Volksrechte."50 So darf es nicht verwundern, daß Friedrich Meinecke schließlich das Datum des August 1914 durchaus mit dem Revolutionsjahr 1848 in Verbindung bringen und beide Ereignisse als "deutsche Erhebungen" bezeichnen konnte51 Diese Denkschriften trugen sowohl den Charakter des Appells, der nach oben gerichtet war, als auch den des Versprechens gegenüber den Untenstehenden. Die Aufrufe und Manifeste waren demnach weniger an das Ausland gerichtet, sie stellten vielmehr eine innenpolitische Stellungnahme dar. In ihrem zwiespältigen Charakter spiegelte sich aber auch die gesellschaftliche Situation der Gelehrten wieder, d.h. ihre politische Machtlosigkeit, weil sie sich auf Appelle beschränken mußten und ihre Versprechen nichts zählten, weil sie von ihnen gar nicht eingelöst werden konnten. Gerade die politische Ohnmacht der bürgerlichen Intelligenz hatte vor dem Krieg ihren Nationalismus genährt, indem sie sich zum wahren Sachwalter der Nation gegenüber der engstirnigen ostelbischen Junkernschaft und der Schwerindustrie, dem Bündnis von Rittergut und Hochofen als der tatsächlichen Verfassungsgrundlage des Bismarckschen Reichs, erklärte. Das machte ihr Selbstbewußtsein aus, stellvertretend für viele kann hier der Name Max Webers genannt werden. Es gab ja durchaus noch eine bürgerliche Opposition gegen das Reich als Resultat der deutschen Einigung von oben, ihr Protagonist ist Max Weber gewesen, so jedenfalls Nicolaus Sombart: "In der innerdeutschen Opposition zu diesem 'Reich' hat Max Weber einen prominenten Platz. Er ist der typische 'Sohn' jener von Bismarck düpierten und gebrochenen Bourgeoisie, die sich um den Führungsanspruch betrogen sah, auf den sie als Träger des ökonomischen Fortschrittes in der politischen Tradition von 1848 alles Anrecht hatte. Max Weber fühlt sich dieser virtuellen 'class dirigeante' zugehörig. Der nicht erfüllte Führungsanspruch beherrscht sein Leben und Denken wie ein Fluch".52 Die daraus resultierende Frustration aber, die von Nicolaus Sombart psychoanalytisch als Webers Drang zur wissenschaftlichen Leistung interpretiert wird - d.h. Wissenschaft als Sublimierung - entläd sich auch in gesteigertem Nationalismus und kreiert, was dann später die Ideen von 1914 genannt 5 0
Ebenda, S. 117. Meinecke: Die deutschen Erhebungen von 1813, 1848, 1870 und 1914, in: ders.: Die deutsche Erhebung von 1914. Vorträge und Aufsätze. Stuttgart und Berlin 1915. Zit. n. Lübbe: Politische Philosophie, S.203. Sombart, Nicolaus: Nachdenken über Deutschland. Vom Historismus zur Psychoanalyse. München und Zürich 1987, S.26. 51
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wurde. Während aber Weber die von ihm angenommene zunehmende Rationalisierung und die damit verbundene Entzauberung der Welt resignierend bejahte, wandte sich der größte Teil der humanistisch orientierten Geisteswissenschaftler gegen diese Welt und stellte der rational gestalteten Gesellschaft, d.h. einer ihrem Verständnis nach mechanisch zweckhaften Konstruktion, in der Egoismus, Abgrenzung und Ausbeutung herrsche, die Gemeinschaft gegenüber, das harmonische Zusammenleben eines Volkes (Ferdinand Tönnies). Der Krieg als Gemeinschaftserlebnis, über dem gesellschaftlichen Profitstreben stehend, war so schon ein antikapitalkistischer Akt, "it was war against capitalism!M53 "The war, for most intellectuals, for the univesity youth who rushed to join it, was a revolutionary act"54, während gerade der Kapitalismus als egoistisch und darum pazifistisch verstanden wurde - er störte die Geschäfte. "Andrew Carnegie led the Peace Movement and told Rudolf Eucken the philosopher that there was no chance of war because fWe won't give them the money.' The economists, the historians, the calculating scientific men, all thought war impossible. When it exploded suddenly in the first days of August, it seemed a kind of triumph of spirit over matter."55 Der Nationalismus hatte also auch eine durchaus antikapitalistische Tendenz, und Stromberg schreibt sogar: "it was the enemy not the accomplice of commerce, capitalism, bourgeoisie - the last to cowardly and self-interested to fight for the general welfare." 56 Die Appelle für Verfassungsänderung nutzten freilich nicht, bzw. als sie gehört und teilweise ernstgenommen wurden, war es bereits zu spät. In einer Denkschrift für den Reichskanzler Bethmann-Hollweg, im Juni 1917 in dramatischem Stil abgefaßt, äußerte Adolf von Harnack: "Die Versprechungen, die gegeben, und die Hoffnungen, die erregt wurden, waren an sich schon unvollkommen - es fehlte ihnen die rückhaltlose Vollständigkeit - aber sie litten auch noch darunter, daß nichts Greifbares, woran man sich halten konnte, geschah. (...) es muß jetzt mit dem Gedanken des sozialen Kaiser- und Königtums voller und praktischer Ernst gemacht werden."57 Harnack hatte aber übersehen, daß die meisten Versprechen und Hoffnungen niemals von offizieller Seite gemacht worden sind, sondern in erster Linie Appelle waren, auch von unten nach oben gerichtet, aus einer Position freilich, die die bürgerliche Intelligenz für sich nicht nur niemals akzeptierte, sondern über die sie sich zum großen Teil auch mit der Zeit hinweggelogen hatte. Dennoch hatte diese Richtung der Gelehrten, die für eine Verfassungsreform eintrat, der neben Max Weber noch Ernst Troeltsch, Hans Delbrück, Friedrich Meinecke, um 53 5 4 55 5 6 5 7
Stromberg, S.10. Ebenda, S. 10. Ebenda, S.9. Ebenda, S.32. Harnack: Das Gebot der Stunde, in: Aufrufe und Reden, S.l46.
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nur einige zu nennen, angehörten, das Gebot der Stunde erkannt, nämlich daß dieser Krieg ein totaler Krieg war, den eine feudal-aristokratische Kaste niemals gewinnen konnte. Diese trat weiterhin für eine instrumentelle Kriegführung ein, weil sie wußte, daß der Krieg sie sonst vernichten würde. Indem sie maßlose Kriegsziele vertrat, hat sie sich ihr eigenes Grab gegraben, aus dem sie allerdings auch wieder auferstehen sollte. Nach dem Kriege hat ihr der marxistische Historiker Arthur Rosenberg totales politisches Versagen vorgeworfen, das darin bestanden habe, daß sie nicht bereit gewesen sei, ihr Klasseninteresse dem nationalen Interesse unterzuordnen. Unter Zurückweisung der von der politischen Rechten propagierten Dolchstoßlegende schrieb er: "Wenn ein großes Volk im Kriege um seine Existenz kämpft, muß es alle Kräfte entfesseln, die in seinem Innern schlummern. Mit allen Mitteln muß der Geist und Wille gerade der ärmeren Volksmassen geweckt werden. Das ist aber nicht möglich unter der Losung 'Ruhe ist die erste Bürgerpflicht', sondern nur unter höchster freier Selbsttätigkeit der Massen. Das berühmteste Beispiel eines solchen Volkskrieges ist die Verteidigung des revolutionären Frankreichs 1793/94 gegen das monarchistische Europa."58 Die wahre Ursache für die Niederlage, so Rosenberg, sei nicht die Revolution gewesen, diese stelle wiederum nichts anderes dar als eine Folge der militärischen Niederlage, sondern liege in der Verfassung und sogar im Burgfrieden begründet: "Die Entwicklung in England und Frankreich während des Weltkrieges lehrt das gleiche (...). In beiden Ländern hat man während des Krieges rücksichtslos die politische und militärische Führung kritisiert. (...) Aber als Schwierigkeiten sich im Laufe des Krieges häuften, kam in England Lloyd George zur Macht und in Frankreich Clemenceau. Beide verkörperten den äußersten linken Flügel des Bürgertums mit der stärksten Veibindung zu den ärmeren Volksmassen."59 Rosenberg erkannte somit, daß der Krieg nicht mehr ein Instrument der Regierungen gewesen war, vielmehr waren die Regierungen ein Instrument des Krieges geworden - Volk und Krieg waren eins. Die Gruppen, die Rosenberg für die Niederlage Deutschlands verantwortlich macht, sammelten sich im Alldeutschen Verband, in dem Vorstellungen entwickelt wurden, die sich auch keineswegs mit dem status quo ante abfinden wollten. Die Gefahr einer demokratischen Verfassungsreform schien den Alldeutschen bei Kriegsbeginn abgewandt, "da nun nach Ansicht des Verbandsvorstandes drängende innenpolitische Probleme autoritär zu lösen waren, so etwa eine Anpassung des Reichstagswahlsystems an eine Klassen- und Pluralstimmordnung, eine scharfe Pressezensur, eine Beschränkung wenn nicht gar Aufhebung der bürgerlichen Rechte der Juden und eine diktatorische Staatsführung sowie die politische Ausschaltung der Arbeiterbewegung durch Aus58 5 9
Rosenberg: Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik. Frankfurt am Main 1983, S.69. Ebenda, S.72.
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Weisung der Führer der Sozialdemokratie und Gewerkschaften'*.60 Bitter wurden die Alldeutschen enttäuscht, wenn auch der nur halbherzige Burgfrieden gerade in seiner Halbherzigkeit Wasser auf ihre Mühlen bedeutete. Der Burgfrieden scheitelte schon zu Beginn des Krieges, und zwar zunächst an der Front: Nachdem der Krieg zum Stellungskrieg geworden war, wurden die unterschiedlichen Bedingungen für Offiziere und Mannschaften offensichtlich. Der konservativ-reaktionäre Flügel propagierte nicht nur gegen eine liberale Verfassungsreform, sondern vertrat auch, wie schon erwähnt, annexionistische, darin aber maßlose Kriegsziele. Gleichwohl die Alldeutschen zu Beginn des Krieges weitgehend in ihrer Tätigkeit behindert worden waren, gewannen sie doch im weiteren Verlauf, besonders nach dem Zusammenbruch der Burgfriedenspolitik 1915, immer mehr an Einfluß. Schließlich waren sie verantwortlich für die Ausweitung des Krieges durch die Erklärung des uneingeschränkten U-Bootkrieges 1917. Man wollte den totalen Krieg, hatte ihn aber immer nur als eine Angelegenheit der Militärs, d.h. seine Totalität als die totale Unterordnung des gesamten gesellschaftlichen Lebens unter die militärischen Bedürfnisse verstanden. 1935 schrieb Erich Ludendorff rückblickend: "Die personellen und materiellen Kräfte des Vaterlandes (und ich füge heute noch ausdrücklich hinzu, die seelischen Kräfte) waren für die Kriegsführung bis zum äußersten zu entfesseln und sicherzustellen." Und für die Zukunft heißt es: "Die Abhängigkeit der Wehrmacht vom Volke und namentlich von seiner seelischen Geschlossenheit wird in Zukunft gewiß nicht geringer, sondern noch erheblich größer sein".61 Was also für die einen die politische, ist für die anderen die "seelische" Geschlossenheit, die nichts kostet. War die Niederlage 1918 für die einen entsprechend in einem Versagen des politischen Systems begründet, so war sie für die anderen nur als Dolchstoß erklärbar. Da aber scheinbar ein totaler Krieg nicht mit einem Ludendorff, sondern nur mit einem Revolutionär zu führen war, inszenierte man in Deutschland 1933 eine Revolution, die mehr als die Maßnahmen Bismarcks als eine Revolution von oben bezeichnet werden darf. 1933 war nicht das Jahr der Verwirklichung der Ideen von 1914, vielmehr das Jahr der Wiederauferstehung der Alldeutschen und ihrer Machtergreifung, die sie mit den Braunhemden der Nationalrevolutionäre tarnten. Den Ideen von 1914 bedienten sie sich alleine aus Fälschungszwecken, und die Entscheidung für Hitler bedeutete schon im Jahre 1933 nicht nur die Entscheidung für den Krieg, sondern es wurde eigentlich auch schon über Sieg und Niederlage entschieden.
6 0 Vogt: Radikalisierung der Gesellschaft im Krieg» in: Deutschland und der Erste Weltkrieg. Ringvorlesung an der Technischen Hochschule Darmstadt 1984/85. Ludendorff: Das Wesen des totalen Krieges. München 1935, in: Dill (Hrsg): Clausewitz in Perspektive. Materialien zu Carl von Clausewitz: Vom Kriege. Frankfurt am Main, und Berlin 1980, S.517.
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Die Propagandisten der Ideen von 1914 haben den Charakter des Ersten Weltkrieges von Anfang an erkannt, es war eigentlich ihr Krieg, den man sie aber nicht hat führen lassen - wie 1939 wieder nicht. Die Verwirklichung der Ideen von 1914 wäre die Voraussetzung für einen erfolgreichen Kriegsverlauf gewesen, vor allem aber für die Führung eines totalen Krieges überhaupt. Stattdessen wurde ihre Verwirklichung aufgeschoben, schließlich aufgehoben, ihr Inhalt wurde schon während des Krieges transformiert, was Werner Sombarts Pamphlet Händler und Helden am deutlichsten belegt.62 Der Krieg bedeutet plötzlich nicht mehr auch Krieg gegen den HHändlergeistH in den eigenen Reihen, sondern ausschließlich Kampf gegen außen. Der Deutsche könne als Deutscher, so der Tenor bei Sombart, gar kein Händler sein, er sei und bleibe Militarist. "Militarismus ist die Sichtbarwerdung des deutschen Heldentums. Militarismus ist die Verwirklichung heldischer Grundsätze, insonderlich, soweit es sich um Vorbereitung und Durchführung von Kriegen handelt. (...) Er ist 'Faust* und 'Zarathustra' und Beethoven-Partitur in den Schützengräben. Denn auch die Eroica und die Egmont-Ouvertüre sind doch wohl echtester Militarismus."63 Nicht alleine darum, weil Sombart unter Hintanstellung aller intellektuellen Redlichkeit, d.h. wider besseres Wissen, u.a. auch Friedrich Nietzsche als einen Vertreter des deutschen Militarismus nennt, stellt dieses Pamphlet eine Lüge dar, die um so schlimmer zu bewerten ist, als es sich um eine Selbstlüge handelt. Der totale Krieg fand auf deutscher Seite nur im Kopfe statt, am totalsten sicher im Kopf von Werner Sombart, über dessen Broschüre Hermann Lübbe zu recht schreibt, daß mit ihr eine Grenze überschritten worden sei: "Was er sagt, sagt er in einer Weise, die nach den moralischen Regeln akademischer und ziviler zwischenmenschlicher Beziehungen einzig mit dem Abbruch der Beziehungen beantwortet werden kann. Die Praxis des Kampfes, zu verletzen, zu töten, wird von Sombart analog mit den Mitteln der Rede ausgeübt."64 Sombart glaubte wohl, den Krieg mit dem Wort stellvertretend total führen zu müssen - aussichtslos und hilflos. Darin ist diese Schrift aber symptomatisch für die Bemühungen der bürgerlichen Intelligenz von vor 1914 und auch während des Krieges. Die tatsächliche soziale Zerrissenheit der Gesellschaft ist unterschätzt worden. Das System sollte reformiert, aber nicht ersetzt werden, nur war es nicht mehr reformierbar. Wie 1848 stand das Bürgertum den die politische Macht innehabenden Klassen ablehnend gegenüber, dennoch erhoffte man sich ihren Beistand gegen die Sozialdemokratie, d.h. die immer stärker werdende Arbeiterbewegung. Die Sozialdemokratie trat nur in wirtschaftlich prosperierenden Zeiten als Bündnispartner in den Blick, in manchen Branchen mehr, in anderen gar nicht. Die Grenze zur Sozialdemokratie haben nur ganz wenige Professoren 6 2 63 6 4
Sombart, Werner: Händler und Helden. München und Leipzig 1915. Ebenda, S.84f. Lübbe: Politische Philosophie, S.216f.
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überschritten, was ihnen aber keine neue Identität gab und sie zudem noch ihrer eigenen Klasse entfremdete. 65 So versteht denn auch Hermann Lübbe die Ideen von 1914 weniger als ein politisches Programm und mehr als Ausfluß einer Nkulturkritische(n) Selbstanklage bürgerlichen Bildungsbewußtseins um die JahrhundertwendeH66, und ergänzend hierzu Günter Brakelmann in seiner Biographie Reinhold Seebergs, eines der maßgeblichen Annexionisten: "ein Teil des Wilhelminischen Bildungsbürgertums (probte) den Aufstand gegen die historisch-soziologischen Bedingungen seiner eigenen Existenz. Dieses Bürgertum gerät freilich mit sich selbst in Widerspruch. Es möchte sich selbst hinter sich bringen. Die Weise, sich zunächst über den eigenen Standort klar zu werden, nimmt die Form der Kritik des Gegebenen und wie es geworden ist an."67 Ein wenig Vernunft und Anklang an die Ideen von 1914 klingt denn auch bei Sombart durch, wenn er schreibt, "daß deutsch empfinden und deutsch denken den Krieg segnen heißt. Aber freilich nur den 'wahrhaftigen Krieg', wie Fichte ihn nannte: den Krieg, der das gesamte Volk bewegt und vom gesamten Volk getragen wird, und der geführt wird für die Erhaltung des Staates."68 Ist das eine versteckt revolutionäre Bemerkung, weil sich Volkskrieg und wilhelminischer Staat ausschlossen? Aber da führen Sombart nicht mehr die Ideen von 1914 die Feder, vielmehr sind sie antirevolutionär gewendet. Der Militarismus wird noch einem politischen Ziel untergeordnet, aber politisches Ziel und Militarismus durchdringen sich schon. Was den Hochschulprofessoren aller Provenienz dagegen unheimlich war, das war die seelische Transformation des Frontsoldaten, der sich unter dem unmittelbaren Eindruck des Fronterlebnisses in einen Landsknecht verwandelte.69 Es ist der Typ, der zurecht als ein Kind des Krieges bezeichnet werden darf, den der Krieg gebärt und der bürgerlich nicht mehr eingebunden werden kann. Hierfür steht der Anarch Ernst Jünger. Den Professoren ist dieser Typ unheimlich, nicht Fleisch von ihrem Fleisch und nicht Geist von ihrem Geist. So hieß es denn auch gleich zu Kriegsbeginn in einem Aufruf von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf: '"Wohlauf, Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd!/Ins Feld, in die Freiheit gezogen!' Gewiß, ein schönes Lied (...) und doch - wollen wir es einmal überdenken -: es ist das Lied einer wilden Soldateska, die sich im Gegensatz zu dem Bürger und Bauer fühlte." Dagegen gehe es jetzt "um
6 5 Vgl. das Porträt, das Nicolaus Sombart von seinem Vater Werner Sombart zeichnet, in Sombart, Nicolaus: Nachdenken Ober Deutschland. 6 6 Lübbe: Politische Philosophie, S.l82. 6 7 Brakelmann: Protestantische Kriegstheologie im 1.Weltkrieg. Reinhold Seeberg als Theologe des deutschen Imperialismus. Bielefeld 1974, S.23. 6 8 Sombart, Werner, S.95. 6 9 am eindrucksvollsten wohl von Emst Jünger in 'Der Kampf als inneres Erlebnis' dargestellt.
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die Freiheit von uns allen, die des Vaterlandes und jedes einzelnen"70 Gegenüber Roland N. Stromberg muß denn auch einschränkend gesagt werden, daß eine undifferenzierte Analogisierung der Ereignisse vom August 1914 mit denen von 1967/68, d.h. einer Faszination der Gewalt, die auf Intellektuelle wirkt, nicht behauptet werden sollte. Schon der Vereinnahmung von Nietzsche durch Werner Sombart muß widersprochen werden, sie wird allerdings von Stromberg im Nachhinein dadurch gerechtfertigt, daß es bei ihm heißt: "The disaffections of Timothy Leary, Paul Goodman, Frantz Fanon and Herbert Marcuse, for example, seem only vulgarized revisions of the 1914 malaise."71 Es bleibt aber ein Unterschied, nämlich ob der Krieg als identitätsstiftend für ein Volk oder aber die Gewalt als identitätsstiftend für den Einzelnen, ob m.a.W. der Soldat oder aber der Guerillero als der authentische Mensch betrachtet wird. 72 Zum Schluß muß noch ein Aspekt der Ideen von 1914 kurz Erwähnung finden, der zum Verständnis des Phänomens auch noch beitragen kann, und über den Reinhard Rürup wie folgt schreibt: "Das 'Kriegserlebnis', von dem hier die Rede ist, war nicht das sogenannte Tronterlebnis', waren weder Schützengrabengemeinschaft noch 'Stahlgewitter', weder Männergemeinschaft noch Todeserlebnis. Es war vielmehr das Erlebnis der Mobilmachung".73 Und weiter: "In der Heimat versuchte man dagegen nicht nur, das 'Augusterlebnis' zu bewahren, sondern auch in Reden, Aufsätzen und Büchern seinen Beitrag zum Kriege zu leisten."74 Zu welch tapferen Taten dann die Daheimgebliebenen in der Lage waren, davon gibt u.a. auch das schon erwähnte Pamphlet Werner Sombarts Händler und Helden ein beredetes Zeugnis. Stellte sich Barth aber gegen die Ideen von 1914, waren sie für ihn sogar Anlaß für den Bruch mit seinen theologischen Lehrern und damit Anlaß für theologische Neubesinnung, so liegt es andererseits nahe, in Schmitt einen Vertreter jener Ideen zu sehen. d) Carl Schmitt und die Ideen von 1914 Die deutschen Gelehrten waren in zwei Lager gespalten, in, wie Fritz K. Ringer sie nennt, Orthodoxe und Modernisten, während Herbert Döring sie als
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Wilamowitz-Moellendorf: Krieges Anfang, in: Aufrufe, S.57. Stromberg, S.10. Vgl. Münkler: Der Partisan. 73 Rürup: Die Ideologisierung des Krieges: Die Ideen von 1914, in: Deutschland im Ersten Weltkrieg, S.123. 7 4 Ebenda, S. 124. 71
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Annexionisten einerseits und Gemäßigte andererseits bezeichnet.75 Diese Spaltung hat den Krieg überdauert. "Die Kerngruppen der gemäßigten und der alldeutsch-annexionistischen Professoren blieben auch über den deutschen militärischen Zusammenbruch hinaus verbunden und fanden sich in der Weimarer Republik bei verschiedenen Anlässen in der annähernd gleichen Zusammensetzung wieder zusammen.1176 Dörings Namensgebung suggeriert aber, daß die Spaltung innerhalb der Professorenschaft erst während des Krieges eingetreten sei und daß sie ihre Ursache in der unterschiedlichen Kriegszielbestimmung gehabt hätte - was Döring freilich so nicht vertritt. So muß ergänzt werden, daß der Krieg nur eine schon vorhandene Spaltung noch herausgestrichen und potenziert hat, die das deutsche Bürgertum samt seiner Intelligenz seit 1848, dem Professorenparlament, spätestens aber seit dem preußischen Verfassungskonflikt kennzeichnete, und die sich vor dem Krieg in der Auseinandersetzung um die Lösung der sozialen Frage herauskristallisiert hatte. Wie die Modernisten dachten zwar auch die Orthodoxen sozial, letztere wandten sich aber entschieden gegen eine Verfassungsänderung im Sinne der Mitsprache der unteren Klassen und bestanden auf einer patriarchalischen Lösung. Karl Barth hatte keinen Anschluß an eine dieser beiden Gruppierungen gefunden. Barth war Sozialdemokrat und gehörte damit ohnehin zwar einer politisierten, aber unbedeutenden Minderheit in der deutschen Professorenschaft an, die keinen Zugang zu den Vernunftrepublikanern etwa des Weimarer Kreises fand - auch weil sie, wie Döring schreibt, bis auf wenige sozialdemokratische Vertreter wie etwa Gustav Radbruch ausgegrenzt wurde. Außerdem war Barth Ausländer. Schmitt scheint auf den ersten Blick dem Lager der Orthodoxen nahegestanden zu sein. Demgegenüber aber überrascht, daß die von den Modernisten während des Krieges vertretene Kriegszielpolitik, d.h. die Ablehnung von Annexionen und die Propagierung einer politisch und wirtschaftlich von Deutschland dominierten Großraumordnung, später von Schmitt wieder aufgegriffen und zum Zentrum seiner völkerrechtlichen Überlegungen gemacht worden ist. Es ist bisher wenig berücksichtigt worden, daß Schmitt, der den Begriff des Großraums vor dem Zweiten Weltkrieg zunehmend thematisierte, damit zugleich unausgesprochen eine Ablehnung von Annexionen vertreten hat, und daß mit der Ablehnung von Annexionen auch die Zurückweisung eines innenpolitischen Führungsanspruches jener Gruppen und Kapitalfraktionen verbunden war, die diese Kriegsziele vertreten hatten - Junkertum und Schwerindustrie. Damit müßte dann aber Schmitt zum alten Nationalismus in Distanz gesehen werden, dessen Unterstützung durch die Schwerindustrie 75 Döring: Der Weimarer Kreis. Studien zum politischen Bewußtsein verfassungstreuer Hochschullehrer in der Weimarer Republik. Meisenheim am Glan, 1975. 76 Ebenda, S.57.
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heute unbestritten ist. Über die wirtschaftlichen Interessen, die hinter den unterschiedlichen Kriegszielvorstellungen des Ersten Weltkrieges standen, schreibt Fritz Fischer: "Neuere Forschungen haben ergeben, daß dieses Ziel eines gesamteuropäischen Marktes vor allem von der Chemie- und Elektroindustrie, allgemein von den exportorientierten Industrien angestrebt wurde; es hätte nur unter Überwindung agraischer und schwerindustrieller Interessen realisiert werden können, die mehr an direkten Annexionen und der Aufrechterhaltung eines wenn auch vielleicht gemilderten Schutzzollsystems interessiert waren."77 Bedenkt man aber nun, daß es neben den beiden exponierten Gruppierungen eine breite Mitte der Unentschiedenheit gab, zudem noch einen gegenüber dem alten Nationalismus der Orthodoxen neuen Nationalismus, der mit dem Begriff der konservativen Revolution bezeichnet wird, so liegt es nahe, Schmitt diesem Lager zuzuordnen. Armin Möhler, der den Begriff der konservativen Revolution geprägt hat, sieht zwar in Schmitt schon einen Vertreter der konservativen Revolution, schränkt aber für die Zeit von Weimar ein: "Auf den ersten Blick scheint sich der C.S. von damals mit dem zu begnügen, was er von zuhause 'mitgebracht1 hat: mit der Katholizität, die ihm die Begrenztheit des Menschen bewußt gemacht hat, und mit einem dazu in fruchtbarer Spannung stehenden, ebenso selbstverständlichen Bewußtsein des Staates. Den C.S. von damals der KR zuzurechnen, hat darum wenig Sinn."78 Dies würde nämlich implizieren, daß Schmitt in irgend einer Form die Ideen von 1914 aufgegriffen und tradiert haben müßte, weil gerade die Homogenität des Volkes und die Überwindung der Klassenschranken auch Anliegen der konservativen Revolution gewesen sind. Der Katholik Schmitt aber muß jede Revolution ablehnen, weil sie, Hybris und Sünde in einem, nichts anderes darstellt als Aufruhr gegen die gute Schöpfung Gottes, die sich als Schöpfung ja nicht nur auf die Bäume und Gräser beschränkt. Außerdem standen dem Katholiken Schmitt, wie gezeigt, andere Ordnungsmodelle vor Augen als die ohnehin niemals erreichbare Homogenität des Volkes, die allenfalls einen Augenblick lang, im Moment der Revolution, sich realisiert. Aber selbst dann ist sie Fiktion. Schmitt wußte, daß der Preis für die Homogenität permanente Revolution bedeutet, und die mußte er als Katholik zutiefst ablehnen. Die permanente Revolution ist die permanente Hybris, Sünde schlechthin. Schmitts Modell war das katholische Modell einer sozialen complexio oppositorum, einer ständischen Gesellschaft, die die Unterschiede nicht dialektisch, d.h. revolutionär, aufhebt, sondern friedlich in der Einheit der Vielfalt konserviert. Dem katholischen Denken ist der Gedanke der Homogenität fremd 7 7 Vgl. Fischer: Bündnis der Eliten. Zur Kontinuität der Machtstrukturen in Deutschland 18711945. 2.Aufl., Düsseldorf 1985, S.38.
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Möhler: Carl Schmitt und die "Konservative Revolution·*, in: Quaritsch: Complexio oppositorum, S.132.
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und suspekt - man ist entweder Katholik oder Revolutionär, welcher Couleur auch immer. Herfried Münkler hat die konservative Revolution wie folgt charakterisiert: "Wollten die alten Konservativen, die sich vorwiegend in der Deutschnationalen Volkspartei zusammenschlossen, die Ergebnisse des November 1918 rückgängig machen, so wollten die Tconservativen Revolutionäre1 und die 'revolutionären Nationalisten' über die Novemberrevolution hinaus sie weiterführen in einer zweiten Revolution, deren Zielsetzung freilich unterschieden von denen der auch von der Kommunistischen Partei angestrebten zweiten Revolution. (...) So konnte der 30. Januar 1933 (...) von vielen als Vollendung und Verwirklichung der Revolution durch Wiederanknüpfen an den August 1914 verstanden werden."79
Der August 1914 spielt bei Schmitt keine Rolle, jedenfalls fehlt jeder Hinweis darauf in den zwanziger und dreißiger Jahren. Alleine der Titel der 1934 erschienenen Schrift Staatsgeföge und Zusammenbruch des zweiten Reiche Der Sieg des Bürgertums über den Soldaten läßt eine Verbindung zu den Ideen von 1914 vermuten, insbesondere läßt der Untertitel den Verdacht aufkeimen, daß hier an Werner Sombarts Pamphlet Händler und Helden angeknüpft, das Thema nur innenpolitisch gewendet wird. "Soldat und liberaler Bürger, preußisches Heer und bürgerliche Gesellschaft, sind Gegensätze zugleich der Weltanschauung, der geistigen und sittlichen Bildung, des Rechtsdenkens und vor allem auch der fundamentalen Ausgangspunkte für die staatliche Struktur und Organisation. Ein vom deutschen Soldaten her aufgebauter Führerstaat kann mit einem vom liberalen Bürger her konstruierten Rechtsstaat keinen echten Kompromiß schließen."80 Auch wenn hier der "aufgebaute" Staat des Soldaten dem nur "konstruierten" des Bürgers gegenübergestellt wird, die Rede ist nicht von der Weimarer Republik, sondern von dem 1871 gegründeten deutschen Reich, dessen Verfassung Schmitt, wie schon in seiner Verfassungslehre, pointierter aber hier, als einen dilatorischen Kompromiß betrachtet. In ihm sieht Schmitt die Hauptursache für die Niederlage von 1918. Auch im geistigen Umfeld des Jahres 1934 ergreift Schmitt keineswegs Partei für die Dolchstoßlegende, vielmehr gleicht seine Analyse der Arthur Rosenbergs: "Die unausgetragenen Widersprüche des innerstaatlichen Gesamtgefüges, der Widerstreit des preußischen Soldatenstaates gegen einen bürgerlichen Verfassungsstaat, die schlimme Tatsache, daß der eigentliche Verfassungskompromiß und damit das Staatsgefüge selbst nur auf einem 7 9 Münkler: Die politischen Ideen der Weimarer Republik, in: Fetscher/Münkler: Handbuch der politischen Ideen B.5, Neuzeit: Vom Zeitalter des Imperialismus bis zu den neuen sozialen Bewegungen. München und Zürich 1987, S.286. 8 0 Schmitt: Staatsgefüge und Zusammenbrach. Der Sieg des Bükgers über den Soldaten. Hamburg 1934, S.13.
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schnell gewonnenen, siegreichen Krieg beruhte, alles das wurde in dem Zwang eines solchen Verfassungssystems mit den wachsenden Schwierigkeiten der Weltkriegslage zu einem grundsätzlichen, ja, weltanschaulichen und totalen Gegensatz von Regierung und Volk und schließlich zu dem tödlichen Gegensatz von Heer und Heimat, Soldat und Arbeiter. Daran ist Deutschland zusammengebrochen."81 Wenn Bernd Faulenbach trotz der offenkundigen Nähe Schmitts zu Rosenberg schreibt, Schmitt habe diese Einschätzung von einem "völlig anderen Standpunkt" aus getroffen als der marxistische Historiker, so ist das eine Binsenweisheit, denn Schmitt war kein Marxist.82 Schmitt schreibt 1934 über die Verfassungsmisere des wilhelminischen Deutschlands, daß drei Möglichkeiten der Überwindung des unfruchtbaren Kompromisses denkbar gewesen wären: - "entweder die klare revolutionäre Entscheidung durch den vollen innenpolitischen Sieg des einen Gegenspielers über den anderen, des Soldaten über den Bürger oder des Bürgers über den Soldaten; oder ein Herabsinken Deutschlands auf eine politische Stufe, auf der alle inneren Widersprüche belanglos werden, weil das ganze der politischen Einheit belanglos geworden ist, also Herabsinken zum geschichtlichen Rang eines von außerdeutschen Bündnissystemen getragenen Mittelstaates und Verzicht auf die deutsche Großmacht und ihren geschichtlichen Auftrag; oder endlich drittens heroischer Untergang im vollen Bewußtsein des verlorenen Postens. In klarster Folgerichtigkeit läßt sich heute erkennen, daß für einen Soldatenstaat von der Art Preußens nach einem Jahrhundert des Liberalismus nur die letzte Möglichkeit in Betracht kam."83 Die letzte Bemerkung ist insofern Geschichtsklitterung, als ja 1918 das OKH keineswegs mit vollem Bewußtsein untergegangen ist, sondern selber um Waffenstillstandsverhandlungen gebeten hat. Aus diesem Zitat läßt sich überhaupt viel herauslesen, außer, welche Option Schmitt bevorzugt hätte - oder bevorzugt angesichts einer Situation, in der er den Nationalsozialismus scheinbar noch nicht einzuschätzen vermochte. Die Niederlage ist fur Schmitt konkret schon in der Bitte Bismarcks um Indemnität gegenüber dem Parlament vom 5. August 1866 vorgezeichnet gewesen, d.h. nachdem die preußische Regierung vor Klärung des preußischen Verfassungskonfliktes und damit der Frage, ob das Parlament der Heeresvorlage zustimmen müsse oder nicht, d.h. vor Klärung der Verfassungslage, ihre Maßnahmen unter dem Zwang des Krieges ohne Einschalten des Parlaments durchsetzte. "Diese drei Tage - der 5. August 1866, der 4. August 1914 und der 28. Oktober 1918 - stehen in einer einzigen zusammenhängenden Entwicklungslinie."84 Die Voraussetzung des Kompromisses, so Schmitt, sei ein Sieg gewesen, und entsprechend mußte in der Niederlage der Kompromiß 81 82 83 84
Ebenda, S.40. Faulenbach: Ideologie des deutschen Weges, S.225. Schmitt: Staatsgeföge und Zusammenbruch, S.37. Ebenda, S.42.
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endgültig zerbrechen. Der Hinweis auf den militärischen Sieg als Grundlage des Kompromisses ist von entscheidender Bedeutung, weil damit eine grundsätzliche Ablehnung des Militärs beim Bürgertum ausgeschlossen bleibt: "Bei militärischen Siegen und außenpolitischen Erfolgen wie denen von 1866 und 1870 kann sich jedes liberale Bürgertum mit Heer und Krieg wohl abfinden. (...) Der Krieg wird auch von der liberalsten Bourgeoisie keineswegs allgemein und unbedingt verneint; ein siegreicher Krieg kann ihr sogar als 'soziales Ideal' gelten, aber natürlich nur ein siegreicher Krieg."85 Damit wird nicht nur die Diskrepanz zu Rosenberg deutlich, damit ist auch das Verdikt über die Ideen von 1914 gesprochen, d.h. in der Unterscheidung zwischen Krieg und "siegreichem" Krieg: Der Sieg wäre die Basis für eine Fortsetzung des Verfassungskompromisses gewesen, der Verfassungskompromiß aber war die Ursache der Niederlage. Was in den Ideen von 1914 als mögliche Basis für den Sieg formuliert worden ist, wäre für Schmitt nur unter der Bedingung zu verwirklichen gewesen, daß Deutschland siegreich geblieben wäre. Die sozialen Bedingungen des Verfassungskompromisses sieht Schmitt freilich nicht, vielleicht erschien es ihm 1934 auch nicht opportun, auf sie hinzuweisen. Für ihn zählen ausschließlich die drei genannten Daten und der Hinweis, daß, nachdem das alte Preußen untergegangen war, das Bürgertum nicht in der Lage gewesen sei, den Konflikt zu seinen Gunsten zu entscheiden. Stattdessen habe es Deutschland eine Verfassung gegeben, die sich gegen ein Phantom gewendet habe, nämlich gerade gegen die eben untergegangene preußische Monarchie: "Die Weimarer Verfassung gab eine Antwort auf eine entfallene, von der wirklichen Gegenwart gar nicht mehr gestellte Frage."86 Daß für Schmitt das Bürgertum damit seine eigenen Ideale verraten hatte, die die Substanz der Ideen von 1914 ausmachten, erscheint mir evident. Es läßt sich bei Schmitt eine antibürgerliche Einstellung feststellen, die sich daraus ergibt, daß er im Bürgertum keinen Träger des nationalen Denkens mehr ausmachen konnte, national im Sinne europäischer Großraumpolitik. Diesen Vorwurf hatte während der wilhelminischen Zeit besonders Max Weber gegen die das Bündnis von Rittergut und Hochofen tragenden Schichten erhoben, und Schmittrichteteihn nach der (partiellen) Entmachtung dieser Schichten gegen eine nur noch ihre ökonomischen Partikularinteressen vertretende Bourgeoisie. Konnte aber Weber das von der politischen Macht ausgeschlossene Bürgertum noch als alternatives, potentiell politisches Subjekt begreifen, so konnte Schmitt dies vor dem Hintergrund der Geschichte der Weimarer Republik nicht mehr. Die Ideen von 1914 hatten damit ihre soziale Basis verloren, Schmitt aber endgültig sein politisches Subjekt. 85 86
Ebenda, S.36. Ebenda, S.43.
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Dagegen hat sich Carl Schmitt aber ausgesprochen kritisch mit den Vorstellungen auseinandergesetzt, die die Ideen von 1914 wesentlich ausmachten, und das betrifft sowohl die modernistische als auch die nationalrevolutionäre Variante. Diese kritische Auseinandersetzung führte Schmitt im Zusammenhang mit seiner Clausewitzrezeption.87 Clausewitz wird von Schmitt vor dem Hintergrund des deutschen Widerstandes gegen Napoleon betrachtet, wobei Fichte als der eigentliche geistige Vater der Freiheitskriege angesehen wird. Die Verbindung von den Freiheitskriegen zum August 1914 wird dann deutlich, wenn bedacht wird, daß 1914 ein Fichte-Jahr war und insbesondere Fichte auch als geistiger Vater der Ideen von 1914 genannt werden kann.88 Hermann Lübbe sieht in der Bezugnahme auf Fichte gerade auch eine Stellungnahme gegen die Ideen von 1789, in diesem Zusammenhang muß dann gestellt werden, was Schmitt bei Fichte als eine neue Qualität der Feindschaft bezeichnet hat: "Fichte ist der eigentliche Philosoph der Napoleon-Feindschaft, man darf sagen: er ist es in seiner eigenen Existenz als Philosoph. Sein Verhalten gegenüber Napoleon ist der paradigmatische Fall einer ganz bestimmten Art von Feindschaft: sein Feind Napoleon, der Tyrann, der Zwingherr und Despot, der Mann, der 'eine neue Religion stiften würde, wenn er keinen anderen Vorwand hätte, die Welt zu unterjochen', dieser Feind ist Fichtes 'eigene Frage in Gestalt', ein von seinem Ich geschaffenes Nicht-Ich als Gegenbild in ideologischer Selbstverfremdung" 89 (Herv. M.E.). Fichte, der ehemalige Jakobiner, habe gewußt, daß gegen Jakobiner nur Jacobiner, gegen Revolutionäre nur Revolutionäre helfen, dies betont Carl Schmitt unter dem Hinweis auf einen Satz Goethes, den Schmitt, über sein 8 7 Schmitt: Clausewitz als politischer Denker. Bemerkungen und Hinweise, in: Der Staat 1967 Heft 4, hier zit. n. Dill: Clausewitz in Perspektive. 88 Vgl. Lübbe, der die Bedeutung Fichtes 1914 und die Jahre zuvor besonders für Paul Natorp (u.a.) herausgestellt hat (Politische Philosophie S.196Ü). Fichte ist aber auch schon von der liberalen Theologie als Prophet gefeiert worden, jedenfalls von Harnack, der sich nicht davor scheute, die Predigt Jesu mit Fichtes Reden an die deutsche Nation in Beziehung zu setzen: "Es sind noch nicht hundert Jahre her, da hat nach der schrecklichen Niederlage unseres Vaterlandes Fichte hier in Berlin seine berühmten Reden gehalten. Was tat er in ihnen? Nun zunächst, er hielt der Nation einen Spiegel vor und zeigte ihr ihre Sünden und deren Folgen, den Leichtsinn, die Gottlosigkeit, die Selbstgefälligkeit, die Verblendung, die Schwäche. Was tat er dann? Rief er sie einfach zu den Waffen? Aber eben Waffen vermochten sie nicht mehr zu führen; sie waren ihnen aus den kraftlosen Händen geschlagen worden. Zur Buße und inneren Umkehr hat er sie gerufen, zu Gott und deshalb zur Anspannung aller sittlichen Kräfte, zur Wahrheit und zum Geiste, damit aus dem Geiste alles neu werde. (...) Die verschütteten Quellen unserer Kraft vermochte er wieder aufzudecken, weil er die Mächte kannte, von denen Hilfe kommt, und weil er selbst von dem lebendigen Wasser getrunken hatte.** (Wesen des Christentums S.36f. ) Es darf vor diesem Hintergrund nicht verwundem, daß gerade die liberalen Theologen 1914 und die Jahre danach den christlichen Glauben zur inneren Aufrüstung des Volkes propagierten, wenn schon Gott inhaltlich-dogmatisch entleert worden war und einfach mit der "Anspannung aller sittlichen Kräfte" gleichgesetzt werden konnte 89 Schmitt in Dill, S.435f.
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Werk verstreut, öfter zitiert: Nemo contra deum nisi deum ipse. 90 In seiner Clausewitzrezeption wird von Schmitt noch deutlicher gemacht, was er in seinem Partisanenbuch wenige Jahre vorher schon angesprochen hatte, was aber auch in unmittelbarem Zusammenhang mit seinen gesamten völkerrechtlichen Schriften steht: "Der klassische, im 18./19. Jahrhundert fixierte Begriff des Politischen war auf den Staat des europäischen Völkerrechts gegründet und hatte den Krieg des klassischen Völkerrechts zum völkerrechtlich gehegten, reinen Staaten-Krieg gemacht. Seit dem 20. Jahrhundert wird dieser Staaten-Krieg mit seinen Hegungen beseitigt und durch den revolutionären Parteien-Krieg ersetzt."91 Was Schmitt im Partisanenbuch noch über das 20. Jahrhundert geschrieben hat, wird nun auf Clausewitz übertragen, als dessen Denkvoraussetzung die Philosophie Fichtes angesehen wird: "er (Fichte; Anm. M.E.) hat der deutschen Feindschaft gegen Napoleon den Anspruch einer nationalrevolutionären Legitimität verliehen, und zugleich gab er dem wiedergeborenen preußischen Staat die geistige Weihe des protestantischen Prinzips in einer modernen Weiterfuhrung der Reformation." 92 Die Berufung auf die Reformation werde aber bei Fichte, ähnlich wie bei Hegel, als eine Radikalisierung der Revolution in der wahrsten Bedeutung des Wortes verstanden, m.a.W. es habe für sie die Französische Revolution in Despotie umschlagen müssen, weil sie keine Reformation zur Voraussetzung gehabt habe. Damit aber sei Preußen gegenüber den Heeren Napoleons mit ihrem Anspruch, die Revolution in Europa zu vollziehen, als die eigentliche revolutionäre Kraft qualifiziert worden, aus der sich die Legi-timität des Widerstandes gegen den Konterrevolutionär Napoleon habe schöpfen lassen. Der Katholik Schmitt schreibt hierzu: "Beides - nationalrevolutionäre Legitimität und protestantisches Prinzip - ist in dem regenerierten Preußen für einen Augenblick geschichtlich konkret voneinander unabtrennbar; es ist auch für den späteren, von Preußen her bestimmten deutschen Nationalstaat des 19. Jahrhunderts zum Schicksal geworden."93 Damit wird deutlich, daß Schmitt das Spiel mit dem revolutionären Feuer als den eigentlichen Sündenfall betrachtet und gerade nicht auf Clausewitz, sondern auf Donoso Cortes setzt. Daß er sich die Ideen von 1914 nicht zu eigen machte, ist auf sein dem römischen Katholizismus verpflichtetes Denken zurückzuführen. Carl Schmitt stand nicht auf der Seite einer Partei, sondern er wollte auf der Seite des Staates stehen. Er wollte den Krieg, besonders auch im Interesse seiner Hegung, als ein Mittel zum Zweck betrachtet wissen, als die Fortführung der Politik mit anderen, nämlich gewaltsamen Mitteln, und er mußte sich so mit 9 0 Goethe: Dichtung und Wahrheit, Vierter Teil 20., Buch, in: Goethes Werke B.10, 8.Aufl., München 1982, S.177. 91 Schmitt: Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen, 2.Aufl. 1975. S.53. 9 2 Ders. in Dill, S.434. 9 3 Ebenda, S.43,4.
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Notwendigkeit gegen die Ideen von 1914, eingeschlossen ihrer nationalrevolutionären Rezeption während der zwanziger Jahre, stellen. "Fichte hat gegen Napoleon radikal zu Ende gedacht, was die Franzosen in ihrer politischen Praxis begonnen hatten. Freilich nur gedacht; das ist wahr. Angesichts mancher Äußerungen seines theoretischen Radikalismus erinnert man sich jedoch nur mit Entsetzen der Möglichkeit, es könnte mit solchen Gedanken eines Tages praktisch Ernst gemacht werden."94 Schmitt erinnert sich hier scheinbar nicht mehr daran, daß in Deutschland mit Fichtes Ideen zu einer "totalen Gesellschaft" ernst gemacht worden ist, aber das bleibt für das Verständnis der Haltung Schmitts ohne Bedeutung. Er war sogar mehr als ein Vernunftrepublikaner gewesen, was u.a. durch seine Verfassungslehre und besonders folgenden Satz aus ihr dokumentiert wird: "Die Weimarer Verfassung gilt, weil das deutsche Volk 'sich diese Verfassung gegeben* hat."95 Damit kann zwar auch die Suspendierung der Verfassung gerechtfertigt werden, weil, wie es die Verfassungslehre ja überhaupt betont, das Volk als Einheit Souverän auch über die Verfassung ist, aber auch mit dem Rechtspositivismus der Prägung eines Hans Kelsen ließ sich die nationalsozialistische Diktatur später rechtfertigen, zumindest bot er kein Instrumentarium, um sie zu mißbilligen. Die theoretische Grundlage der Vernunftrepublikaner bildete Kant96, wenn Kant nicht sogar ihr staatsrechtliches Credo darstellte, doch Schmitt, durch die Betonung der Volkssouveränität im Gefolge von Rousseau, d.h. der Betonung des Primates der politischen Einheit des Volkes vor der Verfassung, stand der Weimarer Verfassung näher, weil er in einem ganz anderen, nicht moralisch gefärbten Verhältnis zur Revolution stand. Der Abschnitt in der Verfassungslehre, der von der Revolution 1918 handelt, macht das zusätzlich deutlich: Die verfassungsgebende Versammlung von 1919 ließe sich am besten als eine souveräne Diktatur bezeichnen97, sei aber nach demokratischen Grundsätzen gewählt worden98 und habe, wie vordem schon die Rätedemokratie, den administrativen Zustand nicht vernichtet und die Staatsmaschine nicht zerschlagen. "Die 'Maschine' blieb mit veränderter Direktion bestehen."99 Gerade diese Sicht erlaubte es Schmitt auch, den Krieg rückblickend nicht als einen Daseinskampf des deutschen Volkes zu interpretieren, so wie er während seines Verlaufs besonders von den Intellektuellen verstanden wor9 4
Ebenda, S.440. Schmitt: Verfassungslehre, S.10. 9 6 Vgl. Kant: Zum ewigen Frieden: "Wenn auch durch den Ungestüm einer von der schlechten Verfassung erzeugten Revolution unrechtmäßigerweise eine gesetzmäßigere errungen wäre, so würde es doch alsdann nicht mehr för erlaubt gehalten werden müssen, das Volk wieder auf die alte zurückzuführen, obgleich während derselben jeder, der sich damit gewalttätig oder arglistig bemengt, mit Recht den Strafen des Aufrührers unterworfen sein würde." (Kleinere Schriften zur Geschichtsphilosoohie, Ethik und Politik, hrsg. von Karl Vorländer, Hamburg 1973, S.154). 9 7 Schmitt: Verfassungslehre, S.59. 9 8 Ebenda, S.58. 9 9 Ebenda, S.58. 95
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den ist, was sie die Niederlage um so bitterer erleben ließ. Der November 1918 brachte eine Entscheidung nicht über das weitere Da-Sein, sondern das weitere So-Sein des deutschen Volkes, und dieses So-Sein war, was Schmitt anerkannte, ein demokratisches, ein demokratisches allerdings, das die Verfassung nur halbherzig realisierte. Ihre Halbherzigkeit, d.h. ihr Kompromißcharakter zwischen Modernismus und altem Nationalismus, bildete fur ihn ihren Todeskeim. e) Die Froge nach dem politischen Subjekt Wer hätte für Schmitt noch als alternatives politisches Subjekt in Frage kommen können angesichts dessen, daß das Bürgertum in seinen Augen die Nation verraten hatte und die Arbeiterbewegung auf Grund des von ihm ihr unterstellten internationalen Charakters ausgeschlossen blieb? In diesem Zusammenhang ist es von Bedeutung, daß Schmitt im Jahre 1930 den Verfassungskompromiß des Bismarckschen Reiches dem der Weimarer Republik gegenübergestellt und beide unterschiedlich bewertet hat.100 Auch jetzt wird das Reich Bismarcks als ein System umgangener Entscheidungen betrachtet, darüber hinaus heißt es aber weiter: "Es kann überaus praktisch und ganz unvermeidlich sein, schwierige politische Entscheidungen zu suspendieren. Wenn die politischen Kräfte einander gleich sind, bleibt vernünftiger Weise nichts anderes übrig. Auch die Weimarer Verfassung enthält genug Kompromisse."101 Die Weimarer Republik wird hier nicht nur als ein innenpolitisch neutraler Staat verstanden, sondern auch bejaht, und zwar in dem Sinne, daß Schmitt sich mit ihr identifiziert. Diese Identifikation beruht geradezu auf der Neutralität der Verfassung. Entschieden lehnt Schmitt jede Änderung der Verfassung ab, die ihre Neutralität tangierte - gegenüber diesen Versuchen finde die Neutralität im Interesse der Neutralität ihre Grenzen: "Sie (die Verfassung; Anm. M.E.) hört auf, der neutrale Boden zu sein, wenn die jeweilige verfassungsmäßige Macht benutzt wird, um die Grundlagen zu vernichten und den Gegner der gleichen Chance zu berauben. Damit wäre die Verfassung selbst vernichtet, denn sie kann, trotz aller sonstigen Neutralität, nicht auch gegenüber ihren eigenen Grundprinzipien neutral sein."102 Diese Einschätzung der Neutralität der Verfassung ist aber nur denkbar und bleibt dann nur nicht bloßer Appell gegenüber den partikulären Interessen, wenn ein Subjekt gefunden wird, das einen pouvoir neutre bildet, das m.a.W. die Neutralität der Verfassung garantiert. Schmitt hat mit dem pouvoir neutre aber nicht nur ein Verfassungsorgan im Blick - etwa den Reichspräsidenten 100 101 102
Schmitt: Hugo Preuß. Tübingen 1930. Ebenda, S.7. Ebenda, S. 19.
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als den Hüter der Verfassung -, also nicht nur ein juristisches, sondern auch ein soziales Subjekt, das den den HVerfassungsverrat" der Fürsten wiederholenden "Parteienverrat von 1919** verhindern soll; nämlich das den esprit de la nation repräsentierende Bildungsbürgertum: "nicht als organisierte Instanz (damit wäre sie ja wieder denaturiert), sondern als freie, nicht formierte, aber wegen ihrer Objektivität doch sich durchsetzende geistige Kraft, deren eigentliches Medium die öffentliche Meinung (...) ist."103 Damit aber werden Rechtsstaat, Bildung und Öffentlichkeit in einen Kontext gestellt, dessen Medium die Nation ist. Das Bildungsbürgertum bedarf, indem es sich seiner nationalen Aufgabe annimmt, des bürgerlichen Rechtsstaates, der den genannten Kontext garantiert. "Bildung, nationaler Geist und bürgerlicher Rechtsstaat gehören untrennbar zusammen".104 Indem Schmitt die Nation als die Legitimationsgrundlage der Politik bestimmt und das Bildungsbürgertum als den wahren Träger der Nation betrachtet, unterscheidet er zwischen Nation und Volk - so wie er schon in der Verfassungslehre die Unmöglichkeit der Identität von Volk und Regierung behauptet hat - und steht so einmal mehr außerhalb der Sphäre, die die Ideen von 1914 bildete. Der Identität stellt Schmitt die Bildung gegenüber, d.h. das Konzept einer Elite, die sich freilich nicht selbst, sondern über den öffentlichen Diskurs reproduzieren soll und muß. Die Vorstellung einer über Bildung reproduzierten Elite aber, die damit, auf Grund des freien Zugangs zur Spitze, auch ein demokratisches Element integriert, ist eine genuin katholische Vorstellung und hat ihre Entsprechung in der kirchlichen Hierarchie. Nur in diesem Zusammenhang kann von einem Vorbildcharakter des römischen Katholizismus auf Politik und Staat gesprochen werden. Der Zusammenhang von freier Bildung und Staatsverfassung wird von Schmitt am Schluß noch einmal dramatisch pointiert, indem er sagt, daß nicht nur die rechtsstaatliche Verfassung der freien Bildung bedarf, sondern daß sich beide gegenseitig bedürfen: "Die Geschichte des deutschen Bürgertums zeigt, daß der Zusammenhang nicht gelegentlich, sondern wesensmäßig ist, und das Schicksal der deutschen Intelligenz und Bildung wird deshalb mit dem Schicksal der Weimarer Verfassung untrennbar verbunden bleiben."105 Das war im Jahre 1930 ein wahrhaft prophetischer Satz, und daß Schmitt im Jahre 1933 dann ausgerechnet von diesem Bildungsbürgertum aus dem ihm eigenen, neben seiner Öffentlichkeit noch charakteristischen Medium ausgeschlossen worden ist, nämlich dem Salon Werner Sombarts106 (und mit diesem stellvertretend aus allen Salons), sagt nicht nur etwas über Schmitts grenzen103
Ebenda, S.24. Ebenda, S.22. 105 Ebenda, S.25. 106 Vgl Sombart, Nicolaus: Jugend in Berlin. 104
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losen Opportunismus, sondern auch über das sich auf den Salon zurückziehende Bürgertum aus, dessen innere Emigration in die Bibliothek führte. Es darf schließlich nicht vergessen werden, daß Schmitt ein Kind der Republik, d.h. ein Kind der Ereignisse vom November 1918 und nicht des Geschehens vom August 1914 war. Schmitt erlebte den November 1918 nicht als Katastrophe, sondern als das Ende einer Epoche, an die noch eine unfertige Zeit sich anzuschließen begann. Diese versuchte er, ohne in Romantik zu verfallen, mit dem Begriffssystem der alten, vergangenen Epoche zu verstehen, verbunden mit dem Versuch, dieses Begriffssystem zu retten. Der Soziologe des Begriffs übersah aber, daß seine Begriffe, insbesondere der Begriff des Staates, kein Subjekt, und zwar kein soziologisches, also in der Gesellschaft vorfindbares Subjekt mehr aufzuweisen hatte. Darin besteht seine Tragik. Daß das Volk niemals in seiner Identität Staat sein kann, hat er in seiner Verfassungslehre zum Ausdruck gebracht, daß sich Identität und Repräsentation gegenseitig durchdringen müssen, war seine Überzeugung. Aber anzugeben, wer in der Lage sei, das Volk zu repräsentieren, ohne daß dies wieder einer Privatisierung des Staates gleichgekommen wäre, dazu war Schmitt nicht in der Lage. Damit war sein Abschied vom Staat vorprogrammiert. Der Staat ist bei Schmitt merkwürdig irreal, eine damit auch theoretisch kaum faßbare Größe, und sein Denken verliert sich im Raum. Karl Barths Reflexionen dagegen hatten nicht den November 1918, sondern den August 1914 zum Hintergrund. Anders als bei Schmitt stand an seinem Anfang kein Neubeginn, sondern ein Ende. Auch für ihn bot dieses Ereignis mehr eine Chance zum Neuanfang, aber es war gerade das Ende eines Begriffssystems, die Offenbarung einer bis in die Sprache und Begriffe hineingehenden Täuschung. Trotzdem wollte Barth vor dem Hintergrund der Ereignisse des Jahres 1918 auch einen Begriff retten, nämlich den des Staates, den er für älter als bloß neuzeitlich hielt und der für ihn im 13. Kapitel des Römerbriefes seine theologische Würdigung erhalten hatte. Barth hatte vor dem Hintergrund des August 1914 zunächst ganz mit der Neuzeit gebrochen im Sinne einer tabula rasa, Schmitt vor dem Hintergrund des November 1918 nicht. Schmitt knüpfte von daher an die neuzeitliche Staatsvorstellung an, die für Barth gerade die Perversion des Staates bedeutete, und versuchte sie in der Versöhnung mit der Kirche zu retten. Barth wollte den Staat auch retten, aber nicht, indem er ihn nur paulinisch-reformatorisch legitimierte, sondern darüber hinaus einem Subjekt zu vermitteln versuchte, das für Schmitt nicht akzeptabel war - der organisierten Arbeiterbewegung, die dem Staat seinen Zweck und Aufgabe wieder geben sollte. Die Verbindung zwischen Sozialismus und paulinisch-reformatorischem Staatsverständnis war das politische Programm Karl Barths. Es ließ ihn noch zu dem Abstraktum Staat stehen, als Schmitt diesem schon resignierend den Totenschein ausgestellt hatte, und ließ ihn auch entsprechend zur sozialdemokratischen Partei über deren 1933
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Teil III: Barth und Schmitt zur Weimarer Republik
erfolgte Selbstauflösung hinaus stehen, so daß er 1935 als der letzte im Dienst sich befindende deutsche Beamte mit sozialdemokratischem Parteibuch, das er sich zurückzuschicken geweigert hatte, gelten kann. So wie die Weimarer Verfassung ein Kompromißgebilde war, d.h. unentschieden, so blieb auch Schmitt unentschieden, d.h. an der selben Krankheit leidend. Darüber hinaus hat sich Schmitt nicht aus den neuzeitlichen Verstrickungen retten können, weil er die Katastrophe der Neuzeit, den Weltkrieg, nicht zum Anlaß einer neuen Orientierung nahm. Den Vorsprung von vier Jahren, den Karl Barth hatte, hat Carl Schmitt niemals mehr aufgeholt. Wie Barths Sozialismus aber zu verstehen ist, soll das folgende Kapitel klären, denn für das Barthsche Staatsverständnis ist seine Sozialismusvorstellung nicht ohne Bedeutung.
2. Karl Barth und der Sozialismus a) Anfänge Als Pfarrer der Bauern- und Arbeitergemeinde Safenwil wurde der junge Theologe Barth, der, wie schon gesagt, damals noch ganz im Banne der liberalen Theologie stand, mit den sozialen Problemen der Arbeiterschaft konfrontiert. M In dem Klassengegensatz, den ich in meiner Gemeinde konkret vor Augen hatte, bin ich wohl zum ersten Mal von der wirklichen Problematik des wirklichen Lebens berührt worden. Dies hatte zur Folge, daß ... mein eigentliches Studium sich (nun) auf Fabrikgesetzgebung, Versicherungswesen, Gewerkschaflskunde und dergl.richteteund mein Gemüt durch heftige, durch meine Stellungnahme auf Seiten der Arbeiterbewegung ausgelöste, lokale und kantonale Kämpfe in Anspruch genommen war."1 Bemerkenswert ist, daß Barth sich keinesfalls in ein Studium der Theoretiker der Arbeiterbewegung stürzte, daß vielmehr die sozialistische Weltanschauung gegenüber gewerkschaftlicher Praxis eindeutig in den Hintergrund trat, sie erschien ihm sekundär. Barth stand damals noch ganz im Banne der liberalen Theologie und damit des von ihr propagierten Vorrangs der Ethik gegenüber der Dogmatik, ins Politische übersetzt der Praxis gegenüber der Theorie. Im Jahre 1911 begann er mit einer Vortragstätigkeit im örtlichen Arbeiterverein, um das Verhältnis von Christentum und Sozialismus vor Arbeitern zu beleuchten. Barth fand dann auch Anschluß an die Gruppe der Religiös-Sozialen, als deren 1
Zit. n. Busch, S.81.
2. Karl Barth und der Sozialismus
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Hauptvertreter Leonhard Ragaz und Herrmann Kutter gelten können. Der religiöse Sozialismus der schweizer Religiös-Sozialen betrachtete die Ethik des Christentums nicht mehr als eine Individualethik (Ragaz), vor allen Dingen aber wurde der "Machtbereich Gottes" als ein über die Kirche hinausgreifender begriffen, so daß sogar die Kirche sich gerade durch profane Bewegungen an ihren eigentlichen Auftrag müsse erinnern lassen. Als die zeitgenössische Bewegung, in der Gott mächtig sei, wurde die sozialistische Arbeiterbewegung betrachtet. Barth selbst beurteilte sein Verhältnis zum Sozialismus und die Gründe dafür, warum er sich zum Sozialismus bekannte, in einem Vortrag des Jahres 1915 wie folgt: "Ich bin auf eine sehr einfache Weise Sozialist geworden und ich bin es auf eine sehr einfache Weise. Weil ich an Gott und sein Reich glauben möchte, stelle ich mich dahin, wo ich etwas von Gottes Reich zum Durchbruch kommen sehe. Glauben Sie nicht, daß ich mir dabei vom Sozialismus ein Idealbild zurecht gemacht habe. Ich meine die Fehler des Sozialismus und seiner Bekenner sehr deutlich zu sehen. Aber noch deutlicher sehe ich in den Grundgedanken, in den wesentlichen Bestrebungen des Sozialismus eine Offenbarung Gottes, die ich vor Allen anerkennen und an der ich mich freuen muß. Die neue Gesellschaft, die auf den Grundlagen der Gemeinschaft, der Gerechtigkeit ruht, statt auf den Grundlagen des Faustrechts und der Willkür, die neue Ordnung der Arbeit im Sinne einer gemeinsamen Tätigkeit Aller für Alle statt im Sinne der Ausbeutung durch die Selbstsucht der Einzelnen, die neue Verbindung der Menschen als Menschen über die Schranken der Klassen und Nationen hinweg, ... schließlich der Weg zu diesen Zielen: die einfache Brüderlichkeit und Solidarität zunächst einmal unter den Armen und Entrechteten aller Länder - all dieses Neue, das der Sozialismus in das politische und wirtschaftliche Leben hineinbringt, muß ich als ein Neues von Gott her anerkennen".2 Auch wenn Eberhard Busch schreibt, daß das Motiv des politischen Engagements Barths weder in einer religiösen Verklärung des Sozialismus noch in einer "apologetische(n) Anbiederung der Kirche gegenüber den Sozialisten"3 bestand, bleibt der ethische Begründungsansatz für eine Versöhnung von Sozialismus und christlicher Religion dennoch unverkennbar. Alleine aber Barths weiteres Interesse an Theologie, d.h. der damit verbundenen Anerkennung der Notwendigkeit von Dogmatik, schuf die Distanz zu den ReligiösSozialen. Ragaz und Kutter warfen Barth vor, er betreibe weiterhin Theologie, vergesse aber, daß Theologie nie den lebendigen Gott fassen könne, sondern immer nur Götzen produziere. Unter dem lebendigen Gott verstanden sie eine anti-theologische Größe, die nur außerhalb der Theologie erkannt werden 2 Zit. n. Marquardt: Erster Bericht über Karl Barths 'Sozialistische Reden', in: ders: Verwegenheiten. Theologische Stücke aus Berlin. München 1981, S.472. 3 Busch, S.83.
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könne, namentlich in der Arbeiterbewegung - allerdings auch hier nicht in ihrer Theorie, sondern ausschließlich auf Grund ihres Charakters einer Bewegung, wie Hermann Kutter in seinem Buch Sie müssen schrieb: HEs ist gleichgültig, wie die Sozialdemokraten ihre Postulate wissenschaftlich begründen, gerade wie für das Reich Gottes die Dogmatik gleichgültig ist.N4 Aber daß es für die Praxis nicht gleichgültig ist, wie die Sozialdemokraten ihre Postulate wissenschaftlich begründen, hat schon Karl Marx dargelegt, m.E. mit ähnlichen Befürchtungen, die auch Karl Barth in der Theologie geleitet haben. Die Religiös-Sozialen standen auf den Schultern der sozialistischen Theoretiker, die vor Marx ihr sozialistisches Engagement religiös begründeten, mit denen Marx aber noch weit schärfer als mit seinen bürgerlichen Gegnern ins Gericht gegangen war. In dem Zirkular gegen Kriege, das sich mit einer Strömung des utopischen Sozialismus auseinandersetzt, besonders mit dem von Hermann Kriege vertretenen wahren Sozialismus, schreiben Marx und Engels: Werde sozialistisches Engagement lediglich religiös oder moralisch begründet, dann werde der Gegner Hganz konsequent in einen Ketzer verwandelt, indem man ihn aus dem Feinde der wirklich existierenden Partei, mit der man kämpft, in einen Sünder gegen die nur in der Einbildung existierende Menschheit verwandelt, den man bestrafen muß."5 Doch das nicht allein. Die wahren Sozialisten propagierten zwar auch den Sturz der bestehenden Verhältnisse, aber "wenn dieser Sturz vollzogen, dann kommen die Propheten, die 'Wir1, die den Proletarier 'lehren1, was nun weiter zu tun sei."6 Per Frostin beschreibt noch den politischen Dilletantismus des utopischen Sozialismus: "Mit aller Schärfe erinnert er (Karl Marx; Anm. M.E.) an die Leiden, denen die Aibeiter ausgesetzt werden, die Weitling folgen. Daß man Menschen solchen Leiden aussetzt, ohne eine 'fundamentale Doktrin* zu haben, ist nach Marx offenbar in höchstem Grad unverantwortlich"7, und weiter: "Sie (die religiösen Sozialisten; Anm. M.E.) werden zu Dilettanten, dieriskieren, leidende Menschen in noch größeres Leid hineinzuführen. Nur mit Hilfe eines umfassenden wissenschaftlichen Studiums kann eine revolutionäre Politik verteidigt werden."8 Marx sei es um zweierlei gegangen, sowohl um Verantwortung gegenüber den beteiligten Menschen als auch gegenüber der zu vertretenden Sache. So habe Marx in einem persönlichen Gespräch mit Weitling gesagt, daß ein "Volk, das keine fundamentalen Doktrinen hat, nichts ausrichten (kann) und hat bisher nie etwas anderes ausgerichtet als zu lärmen,
4 5 6 7 8
Kutter: Sie müssen. Ein offenes Wort an die christliche Gesellschaft Jena 1910, S. 18. MEW B.4, Berlin (Ost) 1972, S.13f. Ebenda, S. 14. Frostin, S.l83. Ebenda, S.l99.
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gefährliche Fackeln zu erheben und Tod und Untergang über die Sache zu bringen, die sie zu der ihren gemacht haben.H9 Tatsächlich argumentiert Marx hier so, wie später dann Max Weber gegen die Verantwortlichen der Münchner Räterepublik argumentieren wird. 10 Auch Barth möchte die Probleme auf politischem und sozialem Gebiet wie Marx und später Weber zunächst einmal sehr nüchtern angehen, was eine nüchterne Betrachtung der Sozialdemokratie impliziert. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges und das Verhalten der Sozialistischen Internationalen hatten dann Barth dahingehend bestätigt, daß es sich bei der Sozialdemokratie doch noch um etwas anderes handeln mußte als um das Reich Gottes, bzw. umgekehrt: daß es sich bei dem Reich Gottes um noch etwas ganz anderes handeln muß. Gerade aber das hat ihn nicht davon abgehalten, im Januar 1915 der schweizer Sozialdemokratie beizutreten, um zu zeigen, Ndaß der Glaube an das Größte die Arbeit und das Leiden im Unvollkommenen nicht aus- sondern einschließt."11 b) Die Revolution Gemeinsam mit seinem Freund und Pfarrerkollegen Eduard Thurneysen begann Barth während des Weltkrieges nach der Suche einer neuen Grundlage für ihre Arbeit, d.h. für Predigt und Unterricht. Weder die Theologie ihrer Lehrer noch die religiös-soziale Bewegung schien ihnen angesichts der Entwicklung dafür weiterhin geeignet. Ein erneutes Kant-Studium wurde erwogen, auch die Beschäftigung mit Hegel. Dann begann Barth, sich "mit allem mir damals zugänglichen Rüstzeug, unter einem Apfelbaum dem Römerbrief zuzuwenden. Es war der Text, von dem ich schon im Konfirmanden-Unterricht... gehört hatte, daß es sich in ihm um Zentrales handle. Ich begann ihn zu lesen, als hätte ich ihn noch nie gelesen: nicht ohne das Gefundene Punkt für Punkt bedächtig aufzuschreiben".12 So entstand ein Kommentar (künftig Röm.l), der im Dezember 1918 druckreif vorlag und Barth über Nacht einem breiteren Publikum bekannt machte, wenngleich die Zahl der gedruckten Exemplare in der ersten Auflage die Tausend nicht überschritt. Die Faszination, die Barth vom Römerbrief aus ergriff, läßt sich in folgenden Sätzen ahnen: "Es war mir über der Arbeit oft, als wehe mich von weitem etwas an von Kleinasien oder Korinth, etwas Uraltes, Urorientalisches, undefinierbar Sonniges, Wildes, Orginelles, das irgendwie hinter diesen Sätzen steckt ... Paulus - was muß das für ein Mensch gewesen sein und was für Menschen auch die, denen er diese lapidaren Dinge so in ein paar verworrenen Brocken 9
Z i t . n. Frostin, S.187f. Vgl. Weber: Politik als Beruf. 11 Zit. n. Busch, S.94. 12 Ebenda, S.110. 10
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hinwerfen, andeuten konnte! ... Und dann hinter Paulus: was fur Realitäten müssen das sein, die den Mann so in Bewegung setzen konnten!"13 In diesen Worten wird schon deutlich, daß es Barth nicht um eine historisch-kritische Untersuchung des Römerbrief(es) ging, vielmehr betrachtete er den Römerbrief als die jeglicher historischer Relativierung enthobene Grundlage christlicher Verkündigung, deren Hauptinhalt die Diastase zwischen Gott bzw. Reich Gottes und allen menschlichen Standpunkten bilde. "Wir vergewaltigen uns selbst und die anderen und wir streiten gegen Gott, der seine Sache selber und allein führen will durch neue Schöpfung, wenn wir die christliche Ermahnung zum Gipfel eines allgemein-menschlichen Reformprogramms erniedrigen."14 Damit darf Röm.I durchaus als das erste Dokument der Dialektischen Theologie betrachtet werden, auch wenn für den Menschen abstrakt die Möglichkeit der Parteinahme Gottes weiter im Blick bleibt: "Es handelt sich heute darum, mit leidenschaftlicher Einseitigkeit und unter Ausschaltung aller anderen Gesichtspunkte für Gott Partei zu ergreifen. Ein Heer von geistigen und materiellen, himmlischen und irdischen Wichtigkeiten und Herrlichkeiten, Mächten und Gewalten bietet sich uns an, Thema und Inhalt unseres Daseins zu werden. Durch die Pforte unseres 'Leibes', unserer körperlich-seelischen, zeitlich-diesseitigen, individuellen Persönlichkeit strömen beständig alle möglichen von den herrenlosen Einflüssen, deren Gesamtheit das Chaos der alten Welt bildet, auf uns ein und wollen uns mit sich reißen."15 Schon hier ist von "Herrlichkeiten", "Mächten" und "Gewalten" die Rede, die an die Stelle Gottes treten, d.h. von Säkularisierung, die nichts anderes darstelle als Ideologieproduktion. Aber nicht nur Kultur und Sozialismus verfallen dem Verdikt, sondern insbesondere auch der Staat. Der Sozialismus wird allerdings nur relativiert und erhält eher eine Bestätigung, wenn Barth schreibt: "Ihr gehört nicht zu den Herren"16, und weiter: "allem gegenüber, was in dieser Welt groß sein will, muß ich den Standpunkt der kleinen Leute einnehmen, mit denen Gott nun einmal anfängt, nicht um ihrer Tugenden willen, sondern weil bei ihnen seiner Gerechtigkeit nichts oder doch weniger im Wege steht."17 Der Sozialismus trägt also seinen Wert nicht in sich, auch er ist Widerstand gegen Gott, aber errichtetsich gegen jene, die Gott gegenüber noch entfernter stehen, und das sind die Herrschenden, die Etablierten, die das Bestehende nicht einmal als Not empfinden und sich entsprechend gut einrichten. Hier tritt dann der Staat in den Blick: "Hat das Böse, nämlich der gottentfremdete Wille des Menschen, die Gewalt auf Erden, so kann auch alle Gewalt, heiße sie wie sie wolle, die nicht aus einer neuen Einigung des Menschen mit Gott hervorge13 14
Ebenda, S.l 11. Barth: Der Römerbrief Unveränderter Nachdruck der ersten Auflage von 1919. Zürich 1963,
S.348. 15 16 17
Ebenda, S.349. Ebenda, S.367. Ebenda, S.367.
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gangen ist (Matth. 7,29), nur böse sein. Der Machtstaat der Gegenwart ist den Absichten Gottes diametral entgegengesetzt; er ist an sich böse." n Mit diesem Staat, d.h. dem neuzeitlichen Staat, haben die Christen, also jene, die die Partei Gottes ergreifen, nichts zu schaffen, sie haben ihn auch nicht nötig, N und es kann euch als Christen nicht einfallen, ihn erhalten und stärken zu wollen.Nl9 Damit ist für die politische Praxis eine Variante schon ausgeschaltet, nämlich der Konservativismus. Ansonsten aber gibt Barth keine direkten Hinweise für die Gestaltung des politischen Lebens der Christen, außer: "Das Maß und die Art eurer Anteilnahme an der Gestaltung des politischen Lebens soll durch diesen Wink nicht präjudiziell sein. Sie kann nach Maßgabe der Umstände sehr weitgehend sein und ihr werdet euch schwerlich anderswo hinstellen können als auf die äußerste Linke."20 Die Diastase zwischen Gott und Welt bedeutet für die Welt Destruktion, permanente Bewegung, oder wenn man so will, permanente Revolution. Das ist in der Tat "mehr als Leninismus", wie Barth selbst schreibt.21 Im Vorwort zur zweiten Auflage des Römerbriefs (künftig Röm.II) wird Barth dann später schreiben, daß bei der Neubearbeitung "von jener ersten sozusagen kein Stein auf dem anderen geblieben ist 2 2 und dies wird dann besonders auch die Einschätzung des Staates betreffen. Bei all dem darf nicht vergessen werden, daß Barth seine Theologie der Diastase bis zu diesem Zeitpunkt nicht nur weiterentwickelt haben wird, sondern daß die erste Auflage eben auch vor der Revolution erschienen ist, und zwar der deutschen Revolution, die Barth als Mitglied der Sozialdemokratie mehr betraf als die schon erfolgte bolschewistische Revolution in Rußland. So wie Barth in Röm.I über den Staat geschrieben hatte, so verstand Schmitt Theologie. c) Der Staat
Nicht die erste, auf tausend Exemplare begrenzte Auflage des Römerbriefs machte den Namen Karl Barth in Deutschland bekannt, sondern ein Vortrag, den er im Herbst 1919 in dem thüringischen Ort Tambach gehalten hat. Nach der Örtlichkeit wird der mit Der Christ in der Gesellschaft überschriebene Vortrag auch einfach der Tambacher Vortrag genannt. Im Frühjahr des Jahres 1919 war die Zeitschrift Der christliche Demokrat, Wochenblatt fur das evan gelische Haus von dem hessischen Pfarrer Otto Herpel und dem Lehrer und Schulrektor Georg Flemming gegründet worden mit dem Zweck, evangelische 18
Ebenda, S.376. Ebenda, S.377. 2 0 Ebenda, S.381. 21 Ebenda, S.379. 2 2 Barth: Der Römerbrief. Zwölfter, unveränderter Abdruck der neuen Bearbeitung von 1922. Zürich 1978, S.VI. 19
13 Eichhorn
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Christen für die in Kirchenkreisen unpopuläre, neu entstandene Republik zu gewinnen. In dieser Zeitschrift erschien auch ein Aufruf zur Sammlung aller religiös-sozialen Pfarrer im Reich. Mit der Unterstützung der schweizer Religiös-Sozialen kam es dann zur Gründung eines entsprechenden Verbandes in Deutschland, der die Tambacher Konferenz ausrichtete. Durch seinen Vortrag, so Karl Barth später, habe er den deutschen religiösen Sozialisten "gründlich das Konzept verdorben"23, was nach der Lektüre von Röm.I nicht weiter verwundern kann. Allerdings, so schreibt Friedrich Wilhelm Marquardt, habe dieses Selbstzeugnis Barths dazu beigetragen, daß sich "eine zu einseitige Erinnerung an den Inhalt und die Bedeutung dieses Vortrags gefestigt" habe hinsichtlich des Engagements Barths für den Sozialismus, was in der Tat nicht zutrifft. 24 Barth beginnt vielmehr mit einem Bericht zur Lage, mit der Schilderung der Situation der Gesellschaft nach Krieg und Revolution - freilich gescheiterter Revolution - und macht darauf aufmerksam, daß das letzte Wort noch nicht gesprochen sei. Mit diesem Wort meint Barth freilich nicht ein religiös-soziales. Die allgemeine Situation kennzeichnet Barth mit dem Begriff der Katastrophe, in die die Eigengesetzlichkeit der Gesellschaft bzw. deren Anerkenntnis geführt habe. Konsequenz sei, daß viele aus der Gesellschaft aussteigen möchten, was man wiederum als eine Hinterfragung der neuzeitlichen Selbstbehauptung verstehen kann, doch die Möglichkeit eines solchen Ausstiegs wird von Barth entschieden verneint. Man müsse sich gegenüber der Gesellschaft verhalten, was aber impliziere, daß sie nicht nur zunächst in ihrer Eigengesetzlichkeit verstanden, sondern daß diese Eigengesetzlichkeit auch anerkannt werden müsse. Wohl sei sie die Ursache der aktuellen Katastrophe, Barth betont aber, daß die "unerbittlich fortwirkende Eigengesetzlichkeit des gesellschaftlichen Lebens jedenfalls nicht damit beseitigt ist, daß wir ihrer gründlich müde geworden sind."25 Die Ohnmachtserfahrung des Menschen zu Beginn der Neuzeit gegenüber einem voluntaristisch gedachten Gott (Blumenberg) wiederholt und potenziert sich, weil nunmehr der neuzeitliche Mensch gerade seiner eigenen Souveränität und Selbstbehauptung gegenüber ohnmächtig erscheint - er erfährt sich sich selbst gegenüber als ohnmächtig. "Wir haben es gewollt, daß hart im Räume sich die Sachen stoßen, und nun müssen wir es zunächst so haben."26 2 3
Barth: Abschied von 'Zwischen den Zeiten', in: ders.: Der Götze wackelt, S.69. Marquardt: Der Christ in der Gesellschaft 1919-1978. Geschichte, Analyse und aktuelle Bedeutung von Karl Barths Tambacher Vortrag. München 1980, S.39. 25 Barth: Der Christ in der Gesellschaft, in: Das Wort Gottes und die Theologie, S.37. 2 6 Ebenda, S.37. Marquardt sieht hier eine Anspielung auf Goethe, es handelt sich tatsächlich aber um eine Stelle aus Schillers Wallensteins Tod, die im Zusammenhang deutlich macht, wie Barth die Situation beurteilt. Auf die Beschwörung des jungen Piccolomini, Wallenstein möge seine Politik gegen den Kaiser aufgeben, antwortet Wallenstein in der zweiten Szene im zweiten Aufzug: "Schnell fertig ist die Jugend mit dem Wort,/Das schwer sich handhabt, wie des Messers Schneide;/Aus ihrem hei2 4
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Statt die Augen vor der Situation zu verschließen, fordert Barth Politik, allerdings nicht nur auf Grund der erwiesenen Unmöglichkeit, sich von der Gesellschaft abzuwenden, sondern auch auf Grund einer theologischen Begründung. Trotz der fortdauernden Eigengesetzlichkeit sei sich die Gesellschaft nicht selbst überlassen: "Nicht ganz problemlos, nicht ganz ungehemmt, nicht nur nach den Gesetzen seiner eigenen Logik und Mechanik geht das Leben in Ehe und Familie, Wirtschaft und Kultur, Kunst und Wissenschaft, Staat, Partei und Völkerverkehr seinen bekannten Weg, sondern mindestens mitbestimmt durch einen anderen Faktor voll Verheißung " 21 Die von Barth gemeinte Verheißung drückt der Titel des Vortrags aus. Mit dem Christen in der Gesellschaft meint Barth nämlich nicht etwa die getauften Christen oder die Kirche, "weder die Masse der Getauften, noch etwa das erwählte Häuflein der Religiös-Sozialen, noch auch die feinste Auslese der edelsten frömmsten Christen, an die wir sonst denken mögen. Der Christ ist der Christus." 2* Barth möchte dieses "Christus in uns" in seiner ganzen paulinischen Tiefe verstanden wissen, d.h. daß das Geheimnis des "Christus in uns" das reformatorische simul iustus et peccator sei, nur daß es, wie Marquardt bemerkt, "von Barth - im Gegensatz zum breiten Strom traditioneller Rechtfertigungstheologie - nicht am 'Sein des Menschen' als Einzelnem Vor Gott' ausgelegt (wird), sondern an der Bewegung der Menschheit, der Gesellschaft im Zeichen von Kreuz und Auferstehung." 29 Das ist hier schon Distanzierung von Luther, zumindest von dem Luther, wie er im deutschen Protestantismus verstanden worden ist. Die Anerkennung der neuzeitlichen Situation erfolgte in Tambach auch noch unter Berufung auf den Schöpfungsgedanken. Dieser gebiete, die Welt erst einmal so hinzunehmen, wie sie sei. Man komme, so Barth, "um den bekannten und oft verurteilten hegelschen Satz von der Vernünftigkeit alles Seienden nicht herum"30, wobei anzumerken ist, daß Barth sich an dieser Stelle mißverständlich ausdrückt, da es sich bei Hegel ja nicht um die Vernünftigkeit des Seienden, sondern des Wirklichen handelt.31 Mit dem Begriff Wirklichkeit aber läßt sich auch Barths Intention besser verdeutlichen. Es geht nämlich gar nicht darum, die bestehenden Verhältnisse zu bestätigen und zu Ben Kopfe nimmt sie keck/Der Dinge Maß, die nur sich selber richten./Gleich heißt ihr alles schändlich oder würdig,/Bös oder gut - und was die Einbildung/Phantastisch schleppt in diesem dunklen Namen,/Das bürdet sie dem Leben auf und Wesen./Eng ist die Welt, und das Gehirn ist weit/Leicht beieinander wohnen die Gedanken/Doch hart im Räume stoßen sich die Sachen." 2 7 Barth: Der Christ in der Gesellschaft, S.33. 28 Ebenda, S.34. 2 9 Marquardt: Der Christ in der Gesellschaft, S.47. 3 0 Barth: Der Christ in der Gesellschaft, S.51. 31 Vgl. Löwith: Von Hegel zu Nietzsche, S.153ff.
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konservieren, sondern auf ihren wahren Kern hin zu verändern. Das Bestehende, das Barth schon in Tambach als Gleichnis versteht, stellt als solches auch Verheißung dar, und Verheißung will Erfüllung. Wenn also vom Neuen im Alten, von der Analogie im Bestehenden die Rede ist, heißt das nicht, daß das Bestehende nicht einer radikalen Kritik unterworfen werden dürfte. Dies bedeutet gleichzeitig die positive Würdigung aller gesellschaftlichen Bewegungen, die sich gegen das Bestehende wenden, sofern sich ihr Protest gegen alle, wie Barth es nennt, "Dinge an sich"richte.Mit den "Dingen an sich" meint Barth nicht Objekte, die unserer Erkenntnis unzugänglich und damit unverfügbar bleiben, sondern alle einen Eigenwert erheischenden Werte, die in der Neuzeit den Menschen um seine Selbstbehauptung betrogen hätten und denen er sich untergeordnet habe: Barth zählt auf: die "Autorität an sich", gegen die sich die Jugend wende, die "Kunst an sich", gegen die der Expressionismus stehe, die "Arbeit an sich", die die Spartakisten bekämpften, die "Familie an sich" - für Barth "der gefräßige Götze des bisherigen Bürgertums"32 - und schließlich die "Religion an sich". Alle diese "Dinge an sich" versteht Barth als Verstöße gegen das erste Gebot. Ihnen stehe die dem Menschen in Christus zuerkannte Unmittelbarkeit zu Gott gegenüber, so daß wir uns "in eine letzte selbständige Gültigkeit der Gesetze nicht mehr finden können."33 Der Glaube bedeute die Alternative zu einer gesetzlichen Auffassung von Kultur und Gesellschaft, er bringe den Menschen in einen kritischen Gegensatz zu seinem bisherigen Leben, so daß also, wie Walter Kreck schreibt, von Barth "keineswegs nur die Diastase aufgerissen, sondern die Lebensverneinung (...) zu einer Lebensbejahung in Bezug gebracht (werde)."34 Das Reich Gottes allerdings bleibe Verheißung, sei nicht Aufgabe des Menschen: "Unsere Sache kann nur das aufrichtige, nach allen Seiten eindringende (...) priesterliche Bewegen dieser Hoffnung und Not sein, durch das der Lösung, die in Gott ist, der Weg zu uns freier gemacht wird."35 Kam der Mensch im Tambacher Vortrag noch als Mitarbeiter Gottes in Betracht und stand das ganze überhaupt unter einem idealistischen Vorzeichen, so findet in der zweiten Auflage des Römerbriefs von 1922 ein solcher Umbruch statt, daß dieser nicht nur als eine Überarbeitung der ersten Auflage betrachtet werden kann, sondern daß er in dieser Hinsicht auch eine deutlich Distanzierung von den in Tambach vorgetragenen Thesen darstellt. Die Verneinung, die radikale Kritik, die in Tambach noch gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse gerichtet war, die verstanden wurden als Behinderungen der freien Bahn Gottes, trifft nun den Menschen selber, und zwar den einzelnen Menschen, der in Tambach noch gar nicht interessierte. Bedeutete der Tamba3 2 33 3 4 35
Barth: Der Christ in der Gesellschaft, S.46. Ebenda, S.44. Kreck: Grundentscheidungen in Karl Barths Dogmatik. Neukirchen-Vluyn 1978, S.15. Barth: Der Christ in der Gesellschaft, S.39.
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eher Vortrag schon eine vorsichtige Revidierung des in Röm.I vorgestellten Staatsverständnisses, da der Staat ja mit der Gesellschaft auch als ein simul iustus et peccator begriffen wurde, was die eher apokalyptische Sicht ablöste, erhält nun der Staat eine ganz andere Bedeutung. Im Vorwort seiner Arbeit Karl Barths frühe Publikationen und ihre Rezeption erklärt Ralph P. Crimmann die Renaissance des frühen Barth, hier des Barths des zweiten Römerbriefs, in den siebziger Jahren damit, daß nach der Studentenbewegung Heine nüchterne Betrachtungsweise (...) bei manchen Studenten die politische Euphorie der 60er Jahre (ersetzte), ohne daß jedoch das prinzipielle praktische Anliegen einer Gesellschaftsreform vergessen wurde."36 Neben Ernüchterung bleibt für Crimmann bei Barth also weiter die Veränderung gesellschaftlicher Strukturen im Blick. Damit bestätigt er F. W. Marquardt, der auch in Röm.II Barth die Forderung nach einer sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft erheben sieht, was seinerzeit ein Politikum darstellte.37 Immerhin wurde die Arbeit Marquardts Anfang der siebziger Jahre von der Kirchlichen Hochschule in Berlin nicht als Habilitationsschrift angenommen, was zur Niederlegung des Lehrauftrages von Helmut Gollwitzer führte, der politische Gründe für die Ablehnung vermutete. Auch Gollwitzer teilt Marquardts Ansicht: "An seiner (Barths; Anm. M.E.) Identifikation von Reich Gottes und wahrem Sozialismus wird er dabei nicht irre, jetzt nicht und, wie ich behaupten möchte, nie."38 Röm.II, so Marquardt in der Verteidigung seiner Habilitationsschrift, stelle keine Grundlage für eine revisionistische Entscheidung Barths dar: "Nichts falscher als das! (...) Der 2. 'Römerbrief steht ausdrücklich unter dem Zeichen der aktuellen Ereignisse in Rußland, dem Unentschieden zwischen Revolutionär und Konterrevolutionär; es wäre aber ein Irrtum, wenn man in der sozialdemokratischen Mitarbeit eine prinzipielle Position erblicken wollte. Sie ist eine taktische. Ihr Sinn ist Subversion. Sie hat keinen anderen Zweck, als die gegebenen Verhältnisse für die eigenen, ungebrochen marxistischdogmatischen Endzielzwecke auszunutzen."39 Aber das ist m.E. eine schon mehr als gewagte und verwegene Interpretation. Röm.II stellt nicht so sehr eine Auseinandersetzung mit den aktuellen politischen Verhältnissen dar, sondern wesentlich eine Distanzierung von der ersten Auflage, wie Barth das selber bezeugte. Der Einfluß der aktuellen Verhältnisse für die Wendung Barths kann überhaupt nur als ein 3 6 Crimmann: Karl Barths frühe Publikationen und ihre Rezeption. Bern, Frankfurt am Main und Las Vegas 1981, S.9. 3 7 Marquardt: Theologie und Sozialismus, l.Aufl. 1972. 38 Gollwitzer: Reich Gottes und Sozialismus bei Karl Barth, S.9. 3 9 in Jacobsen (Hrsg.): War Barth Sozialist? Ein Streitgespräch um Theologie und Sozialismus bei Karl Barth. Berlin und Schleswig-Holstein 1975, S.20.
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mittelbarer und nicht als ein unmittelbarer gewertet werden. Grundsätzlich gilt wohl, was Eberhard Jüngel über die politischen Aussagen Barths schreibt, daß nämlich "Barths politisches Engagement seiner 'theologischen Existenz' entspringt" und nicht umgekehrt.40 Auf der anderen Seite wird Röm.II sogar als Zeugnis der konservativen Revolution verstanden, etwa von Karl Dietrich Bracher: "Die Barthsche Theologie trat erstmals 1919 hervor - im Jahr der unmittelbaren Nachkriegsenttäuschung. Seine Kampfansage galt dem im Bildungsbürgertum verbreiteten Gleichsetzen von zivilisatorischem und christlichem Fortschritt. Aber mit diesem Angriff auf die heilsgeschichtliche Tradition in ihrer fundamentalen Bedeutung für die moderne Fortschrittsidee als säkularisierte, moralisierte Version der Heilsgeschichte traf er zugleich den politischen Liberalismus, die moderne Demokratie, die westliche Zivilisation, die im Vertrauen auf die vernünftige Einsichts- und Entscheidungsfreiheit des Menschen begründet waren."41 Wolf Dieter Marsch hat die Frage aufgeworfen, ob "sich nicht vieles, was in Karl Barths Namen verkündet und geschrieben worden ist, den Vorwurf einer prophetisch-willkürlichen Subjektivität gefallen lassen müsse(n), einer gut gemeinten Beliebigkeit, aber auch einer zuweilen hoffnungslosen Überschätzung der politischen Handlungsmöglichkeiten des einzelnen Christen wie auch der Kirche im Ganzen?"42 Und weiter heißt es: "Die Schwebe zwischen Nichts und Alles reduziert die Vielfalt politischer Entscheidungszwänge und möglichkeiten auf des Menschen Vogelfreiheit, heute dies und morgen jenes zu tun, sich gehorsam heute so und morgen so zu entscheiden."43 Barths politische Theologie sei darum nichts anderes als "religiös motivierter Dezisionismus."44 Auch Klaus Scholder vertritt die Auffassung, Barth habe den Weg zu den Vernunftrepublikanern trotz seines Anschlusses an die Sozialdemokratie nicht gefunden, "daß er vielmehr in jenen Jahren, als die Republik geistig sturmreif geschossen wurde, jedenfalls im Bewußtsein der weiteren Öffentlichkeit, auf der Seite derer stand, die da mitschossen, gehört zu den Merkwürdigkeiten, an
4 0
Jüngel: Barth-Studien. Gütersloh 1982, S.l09. Bracher: Zeit der Ideologien. Eine Geschichte politischen Denkens im 20. Jahrhundert. Stuttgart 1982 S.198f. 4 2 Marsch: "Gerechtigkeit im Tal des Todes. Christlicher Glaube und politische Vernunft im Denken Karl Barths, in: Dantine/Lüthi: (Hrsg.): Theologie zwischen Gestern und Morgen. München 1968 S. 168. 4 i Ebenda, S.174f. 4 4 Ebenda, S.175. In die gleiche Richtung zieh auch Honeckers Kritik, der sie nicht nur auf den frühen, sondern explizit auf den späten Barth bezieht (Honecker: Evangelische Theologie vor dem Staatsproblem. Opladen 1981, S.22). 41
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denen diese Zeit so reich ist."45 Insbesondere aus der liberalen Tradition heraus ist Barths Theologie, weil antiliberal, auch als antirepublikanisch kritisiert worden: "Antiliberale Motive prägen auch Karl Barths eigene Interpretation der von ihm inaugurierten Neuorientierung der dogmatischen Theologie. Barth hat deshalb sogar den 'Kirchenkampf gegen den Nationalsozialismus in den größeren Zusammenhang der Bekämpfung des Liberalismus gestellt.**46 Die Bandbreite der möglichen Interpretationen ist ähnlich groß wie bei Carl Schmitt, die Stellung Barths gegenüber der Weimarer Republik scheint ebenfalls ähnlich problematisch zu sein. Wie ist nun Röm.II zu bewerten, welche Stellung nimmt er in der Theologie Barths ein? Hans Urs von Balthasar hat, wie schon gesagt, die Methode, die gesamte Theologie nach rückwärts, also zu Röm.II hin auszulegen, **eine sachliche Absurdität und außerdem eine Beleidigung für den Autor** genannt, denn Barth habe sich mehrfach von Röm.II distanziert und vor dem Wörtlichnehmen gewarnt.47 Andererseits hat Barth aber die Notwendigkeit des damals gesagten Neins oft bestätigt, schließlich auch in einem Vortrag, der gerade ein Resümee seiner in der Kirchlichen Dogmatik zur Darstellung gebrachten Theologie zieht, in Die Menschlichkeit Gottes aus dem Jahr 1956, betont: **War das, was wir damals entdeckt zu haben meinten und vorbrachten, kein letztes, sondern ein retraktationsbedürfiiges, so war es doch ein wahres Wort, das als solches stehenbleiben muß, an dem es noch heute kein Vorbeikommen gibt, das vielmehr die Voraussetzung dessen bildet, was heute weiter zu bedenken ist.N48 Darum muß Crimmann wohl zugestimmt werden, wenn er schreibt: "Die große Entdeckung des jungen Barth, nämlich der 'unendlichequalitative Unterschied von Zeit und Ewigkeit*, den er als sein System bezeichnet, erachten wir für eine gegenwärtige Theologie nach wie vor als wesentlich."49 Mit der Formel qualitativ-unendlicher Unterschied ist der Tenor von Röm.II gekennzeichnet. Die wahre Natur des Menschen sei die Sünde, der der Mensch nicht entrinnen könne. Barth drückt das so drastisch aus, daß sogar Schöpfung, d.h. das Sein des Geschöpfs, als mit der Sünde gleichgesetzt wird. Alles Handeln des Menschen sei durch den Eros bestimmt, wobei Eros hier nicht auf das Gebiet des Erotischen beschränkt bleibt, sondern Begierde schlechthin meint. "Vielleicht verfehlen wir uns am wenigsten, wenn wir die 4 5 Scholder: Neuere deutsche Geschichte und protestantische Theologie, in ders.: Die Kirchen zwischen Republik und Gewaltherrschaft, S.84f. 4 6 Tanner: Die fromme Verstaatlichung des Gewissens. Zur Auseinandersetzung um die Legitimität der Weimarer Reichsverfassung in Staatsrechtswissenschaft und Theologie der zwanziger Jahre. Göttingen 1989, S.65. 4 7 Balthasar: Karl Barth, S.68. 4 8 Barth: Die Menschlichkeit Gottes. Zürich 1956, S.7. 4 9 Crimmann, S.14f.
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Teil III: Barth und Schmitt zur Weimarer Republik
'Gestalt dieser Welt' inhaltlich bestimmen als das 'Schema des Eros'. Diese 'Gestalt' der Welt tragen wir alle in allen unsern Handlungen alle Tage bis an der Welt Ende. Nur keine Illusionen, als ob es etwa ethische Handlungen gäbe, die ohne diese Gestalt, die unbekleidet d.h. nicht 'erotisch' als Liebe, Redlichkeit, Reinheit, Tapferkeit u. dgl. auftreten würden."50 Dies bedeutete dann die Krise der Ethik. Selbst in seinen edelsten Vorsätzen und Taten bleibe der Mensch Egoist, selbst die letzte Möglichkeit, der letzten Ausweg, der sich noch zu bieten scheint, nämlich der Suizid, stelle auch nur ein Mittel des Menschen dar, mit dem er vor Gott Recht behalten will. Der Unmöglichkeit des Menschen, gut und gottgewollt zu handeln, stehe der Anspruch Gottes gegenüber, geehrt zu werden. Die Ehrung Gottes finde aber ausschließlich im Opfer statt. Freilich sei auch das Opfer nur menschliches Tun und könne so dem Willen Gottes nicht entsprechen, aber: "Ein Opfer ist (...) eine Demonstration zur Ehre Gottes"51. Sich als Opfer hinzugeben heißt dann, auf sein Recht, das vor Gott nur Unrecht sein kann, zu verzichten, überhaupt den Anspruch auf Recht nicht zu erheben und in Bedrängnis auszuharren - "Ja, wo und wie könnten wir denn Gott die Ehre geben außer als Bedrängte."52 Seine These relativierend, Barth habe sich durchgehend zum Sozialismus bekannt, schreibt Helmut Gollwitzer: "Eine Zeitlang wird er es in den folgenden Jahren, Luther lesend, auch mit dessen Unterscheidung von Gesetz und Evangelium probieren"53, aber der Staat erscheint hier nicht als die gottgewollte Macht, die der Sünde des Menschen wehrt, sondern als die Ordnung, der gegenüber die Ehrung Gottes demonstriert werden soll. Die Revolution wird entsprechend abgelehnt. Was noch in Tambach als "Ding an sich" unter das Gericht Gottes gestellt worden ist, wird jetzt nicht etwa unmittelbar gerechtfertigt - Ulrich Dannemann merkt an: "Die Falschheit des reaktionärbürgerlichen Menschen ist für Barth so evident, daß darüber gar nicht eigens diskutiert werden muß"54 -, aber mittelbar: "Von den jeweiligen Ordnungen des menschlichen Gemeinschaftslebens haben wir zu reden und davon, daß dies die große Demonstration für die Ordnung der kommenden Welt sein soll, diese Ordnungen als solche nicht zu zerbrechen" 55 Analogie besteht hier nicht zwischen bestehender und kommender Ordnung, sondern, wie F. W. Marquardt aufzeigt, zwischen dem Nicht-Zerbrechen der alten und dem 5 0 51 5 2 53 5 4 55
Barth: Röm.II, S.419. Ebenda, S.417. Ebenda, S.442. Gollwitzer: Reich Gottes und Sozialismus, S.20. Dannemann: Theologie und Politik im Denken Karl Barths. München und Mainz 1977, S.l06. Barth: Röm.II, S.459f.
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Kommen der neuen Ordnung.56 Es ist für Barth ausgeschlossen, "daß man auf dem Boden des Römerbriefs ein reaktionärer Mensch wird"57, aber gerade der Revolutionär muß jetzt "(als ein besonders stattliches Opfer!) zur Strecke gebracht werde(n)"58, weil er sich mit seinem Nein dem Bestehenden gegenüber in gefährliche Nähe zu Gott begebe. "Es wird sogar zu sagen sein, daß der revolutionäre Titanismus gerade darum, weil er in seinem Ursprung der Wahrheit so viel näher kommt, um soviel gefährlicher und gottloser ist als der reaktionäre."59 Der Revolutionär, der versuche, sich an die Stelle Gottes zu setzen, müsse mit Notwendigkeit scheitern. "Er meinte die Revolution, die die unmögliche Möglichkeit ist, die Vergebung der Sünden, die Auferstehung der Toten. (...) Er hat aber die andere Revolution gemacht, die mögliche Möglichkeit der Unzufriedenheit, des Hasses, der Insubordination, des Aufruhrs und der Zerstörung. Sie ist nicht besser, sondern schlimmer als die gegenüberstehende Zufriedenheit, Sattheit, Sicherheit und Anmaßung, weil Gott dabei noch besser verstanden, noch schlimmer mißbraucht ist."60 Dies ist deutlich nicht Kritik an der Revolution, sondern am Revolutionär. Die Revolution selbst wird nicht mehr in der Zuständigkeit des Menschen, sondern in der Gottes gesehen. "Die extra nos stattfindende Revolution Gottes geschieht zwar pro nobis, aber anders als in R I nicht mehr cum nobis und in nobis, sondern grundsätzlich contra nos".61 Da sowohl die Revolution als auch die Konterrevolution abgelehnt werden, wird von dem Revolutionär ein Nicht-Handeln gefordert, das freilich nur auf revolutionäres Handeln bezogen wird. Indem der Mensch nicht versucht, zu tun, was Gottes ist, bezeugt er die Gottheit Gottes. In Röm.II wendet sich Barth von der Revolution ab, und zwar prinzipiell. Das Urteil, das in Röm.I gegenüber dem Staat ausgesprochen und das die Revolution zu vollziehen aufgefordert worden war, trifft nun die Revolution selbst, und Urteilsvollstrecker ist jetzt der Staat. Dies ist grundsätzlich und nicht nur für die aktuelle politische Situation gemeint. Die Kritik des Revolutionärs ist ja nicht unmittelbar aus der Analyse des politischen Geschehens erfolgt, sondern aus theologisch-anthropologischen Überlegungen heraus. Daß diese Überlegungen auch vor dem Zeithintergrund zu verstehen sind, dem kann nicht widersprochen werden, aber Barth beschreibt doch nicht den Menschen im Jahre 1922 unter dem Vorbehalt, er könne in den folgenden Jahren auch wieder ein ganz anderer sein. Ist Barth also 1922 noch Sozialist? Peter Winzeier beantwortet diese Frage mit ja, sei doch der Sozialismus eine "Erscheinung (...), die sich in immer neuen Gestalten und Formen präsentiert, 5 6 5 7 58 5 9 6 0 61
Vgl Marquardt: Theologie und Sozialismus, S.143. Barth: Röm.II, S.461. Ebenda, S.462. Ebenda, S.462. Ebenda, S.464f. Dannemann, S.l09.
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sei es als Genossenschafts-, Gewerkschafts- oder Friedensbewegung, als revolutionäre oder reformerische bzw. staatstragende Partei, als Staats- und Gesellschaftsform, Wissenschaft und Kunst, Ideologie oder Ideologiekritik, etc."62 Aber anders als Winzeier meint, handelt es sich bei den von ihm genannten Variationen nicht um verschiedene Spielarten von Sozialismus, sondern um verschiedene Wege hin zum Ziel des Sozialismus. Um den jeweiligen Weg, d.h. Strategie und Taktik festzulegen, bedarf es freilich keiner anthropologischen Untersuchung, sondern einer ökonomischen und politischen Analyse der jeweils aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse. Barths Röm.II stellt nicht mehr nur eine Abkehr von der Revolution dar, sondern konsequenter Weise auch eine vom Sozialismus als einem politischen Ziel. Das Ziel ist ihm nichts mehr. Damit ist Barths Auffassung des Sozialismus in Röm.II kongruent mit der des Sozialdemokraten Eduard Bernstein, der als der führende Kopf des Revisionismus innerhalb der deutschen Sozialdemokratie gelten kann: "Ich gestehe es offen, ich habe für das, was man gemeinhin unter 'Endziel des Sozialismus' versteht, außerordentlich wenig Sinn und Interesse. Dieses Ziel ist mir nichts, die Bewegung alles.1,63 Bernstein wurde, wie Barth, mißverstanden, so als habe er mit Bewegung die Organisation der Arbeiterbewegung verstanden, aber dazu heißt es bei ihm: "Unter Bewegung verstehe ich sowohl die allgemeine Bewegung der Gesellschaft, d.h. den sozialen Fortschritt, wie die politische und wirtschaftliche Agitation und Organisation zur Bewirkung dieses Fortschritts."64 Karl Barth wird Sozialdemokrat, allerdings kein revolutionärer, sondern ein revisionistischer. Keinesfalls geht es ihm um die Erhaltung des Bestehenden, im Gegenteil, und damit erklärt sich das etwas rätselhafte Nicht-Handeln, das vom Revolutionär gefordert wird: "Es gibt keine energischere Unterhöhlung des Bestehenden als das hier empfohlene sang- und klang- und illusionslose Geltenlassen des Bestehenden. Staat, Kirche, Gesellschaft, positives Recht, Familie, zünftige Wissenschaft usf. leben ja von der durch Feldpredigerelan und feierlichem Humbug aller Art immer wieder zu nährenden Gläubigkeit der Menschen. Nehmt ihnen das Pathos, so hungert ihr sie am gewissesten aus!"65 Damit erscheint wieder das, was bei Barth als das Kontinuum seiner Auffassung des Staates trotz aller Wandlungen festgestellt werden kann, nämlich die Entideologisierung des Staates. Sie ist direkt abhängig von seinem dogmatischen Ansatz und seiner Vorstellung der Freiheit als Unterordnung unter Gott, die alleine Freiheit von den "Mächten und Gewalten" bedeute, denen der 6 2
Winzeler: Widerstehende Theologie, S.30. Bernstein: Texte zum Revisionismus. Hrsg., eingeleitet und kommentiert von Horst Heimann. Bad Godesberg 1977, S.5. 6 4 Ebenda, S.5. 6 5 Barth: Röm.II, S.467. 6 3
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Mensch ansonsten unweigerlich in die Hände falle - wie am Beispiel des Atheismus gezeigt. Die neuzeitliche Autonomie ist für Barth in Wahrheit Heteronomie, und das gilt besonders auch für den Staat. Damit ist die Souveränität des Staates nur eine gewährte, eine geliehene Souveränität, der Begriff der Staatsraison dient dann als Tarnung partikularer Interessen und kann sein Gegenteil bedeuten, nämlich gerade Verlust von Staatlichkeit. Herfried Münkler schreibt über die Entstehung des Begriffs der Staatsraison in der frühen Neuzeit: "Aber der Staat handelt nicht selbst, und hinter ihm verbergen sich bestimmte Interessen. So fand denn der Begriff der Staatsraison zunächst Veibreitung im Umkreis einer kleinen Gruppe professionalisierter Politiker, die darin ihre politische Kompetenz, d.h. ihren Anspruch auf Zugang zum Machthaber, zu unterstreichen suchten."66 Später wird, wie schon gezeigt, der Führungsanspruch nicht mehr mit dem Begriff der Staatsraison, sondern mit dem der Nation legitimiert werden. Dem stellt sich Karl Barth entgegen: "Bei der Entwicklung des Phänomens der Verdinglichung des menschlichen Handelns geht Barth von der Überlegung aus, daß zwischen dem Ziel und dem Resultat der Götzenproduktion eine vollständige Inkongruenz besteht. Die Autonomie, die der Mensch in der Götzenproduktion anstrebt, offenbart sich als reale Heteronomie."67 Was Dannemann hier über den Menschen sagt, kann durchaus auch auf den Staat übertragen werden. Das klingt alles wie bei Carl Schmitt, der den Staat ja auch aus den Händen der sekundären Gewalten befreit sehen möchte, aber was bei Barth folgt, ist für Schmitt gerade gleichbedeutend mit Entmachtung des Staates, besser Entpolitisierung des Staates, nämlich Reduzierung des Staates auf eine Maschine, ein Instrument. Schmitt hätte gefragt: Für wen wird der Staat zum Instrument und zu welchem Zweck? Aber die Maschine Staat sollte für Barth eben nicht nur inhaltsleer Ruhe und Ordnung sicherstellen, sondern soziale Gerechtigkeit für möglichst alle fördern. Das ist sein Hintergrund. Es heißt bei Barth nicht, daß gewartet werden soll, bis das Pathos der Ideologien von selbst zusammenbricht, sondern es soll fortgenommen werden. Nicht passives Abwarten, sondern doch Handeln in irgend einer Form ist gefordert, und solches Handeln ist von dem einen Begründer der deutschen Sozialdemokratie, Ferdinand Lassalle, in ähnlicher, nämlich nachrevolutionärer Situation in folgender Weise formuliert worden: In seinem Vortrag Was nun über Verfassungswesen anläßlich des preußischen Verfassungskonflikts heißt es, daß die tatsächlichen Verhältnisse geschildert werden müssen, wie sie seien: "Dies ist die Macht des Aussprechens dessen, was ist. Es ist das gewaltigste politische Mittel! (...) Alle große politische Aktion besteht in dem
6 6 6 7
Münkler: Im Namen des Staates, S.l30. Dannemann, S.60.
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Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit.1*68 Die permanente Revolution verwandelte sich bei Barth in permanente Kritik, die aber wiederum nichts anderes darstellt als radikale Aufklärung. Ernst Bloch hat zwar die Methode der totalen Kritik, des totalen Zweifels, als defaitistisch abqualifiziert, als er schrieb: "Totaler Zweifel freilich, à tout prix, ist - aus Wohltat Plage werdend - noch denkfeindlicher als der massivste Köhlerglaube. Hier ist kein Stachel mehr, sondern eine Lähmung, und wenn sie nicht verzweifelt ausgeht, so in den meisten Fällen nur deshalb, weil sie mehr à la mode getragen wird."69 Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Verzweiflung in breiten Krisen a la mode getragen, und Karl Barth blieb dieser Vorwurf nicht erspart. Paul Tillich schreibt, daß es Barths Einfluß zu verdanken gewesen sei, "daß viele Theologen (...) abgehalten (wurden), sich den Kräften anzuschließen, die für soziale Gerechtigkeit und politische Freiheit eintraten"70. Barth teilte so das gleiche Schicksal wie Eduard Bernstein, dessen Satz, das Ziel sei ihm nichts, entsprechend mißverstanden wurde: "Folgt daraus, daß ich es ablehne, mich mit dem sogenannten 'Endziel' der sozialistischen Bewegung zu befassen, daß ich überhaupt jedes bestimmte Ziel dieser Bewegung leugne? Ich würde es bedauern, wenn meine Worte so verstanden würden. Eine Bewegung ohne Ziel wäre ein chaotisches Treiben, denn sie wäre auch eine Bewegung ohne Richtung."71 Der Einspruch Blochs war sowohl bei Bernstein als auch bei Barth mitbedacht worden, bei letzterem insofern, als er die Entzauberung der Politik und des Staates als gleichbedeutend mit republikanischer Gesinnung betrachtete, indem sie partikulären Interessen die Tarnung vorenthielt und nahm. Barth hat sich entsprechend in dem Rahmen, der ihm als einem Ausländer für sinnvoll erschien, am politischen Leben der Weimarer Republik beteiligt, insbesondere dann, als es mit ihr zu Ende ging. Er war seit dem Mai 1931 Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Als die SPD im März 1933 vor dem Hintergrund des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums sozialdemokratische Beamte aufforderte, sie sollten ihren Beamtenstatus nicht der Zugehörigkeit zur Partei opfern - wohl aus dem Motiv heraus, nicht jeglichen Kontakt mit den Behörden und damit einen gewissen Einfluß zu verlieren -, trat Barth nicht aus der Partei aus. Er korrespondierte mit Paul Tillich, der die Empfehlung der Partei guthieß, unter anderem verbunden mit dem Hinweis, die Zeit der parteilichen Organisation des Sozialismus sei ohnehin zu Ende gegangen. Barth aber wollte von einem inneren Sozialismus nichts wissen und schrieb an den Reichsminister des Innern: "Ich gehöre aus praktisch-politischen Gesichtspunkten der Sozialdemokratischen
68 6 9 7 0 71
Lassalle: Politische Reden und Schriften B.l, hrsg. von Erich Blum. Leipzig 1899, S.95f. Bloch: Tübinger Einleitung in die Philosophie. Frankfurt am Main 1979, S.23. Tillich: Begegnungen. Gesammelte Werke B.XII. Stggt. 1971, S.324f. Bernstein, S.64.
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Partei an (...). Ich könnte aber auch eine Aufforderung zum Austritt aus der S.P.D. als Bedingung der Fortssetzung meiner Lehrtätigkeit nicht annehmen, weil ich von der Verleugnung meiner politischen Gesinnung, bzw. von der Unterlassung ihrer offenen Kenntlichmachung, die dieser Schritt bedeuten würde, weder für meine Zuhörer, noch für die Kirche, noch auch für das deutsche Volk etwas Gutes erwarten könnte."72 Barth war somit bis zu seiner Amtsenthebung im Jahre 1935 wahrscheinlich der letzte ausgewiesene deutsche Sozialdemokrat im öffentlichen Dienst des nationalsozialistischen Deutschland. Die Bestätigung der Institutionen, insbesondere der Unterordnungen des Einzelnen, wird von Barth während der gesamten Zeit der Weimarer Republik wiederholt. Am Beispiel der Unterordnung der Frau unter den Mann in seinem Kommentar zum /. Korintherbrief heißt es, daß hier zum Ausdruck komme, "daß es besser, näherliegend, einsichtiger ist, in den natürlich gegebenen Unterordnungsverhältnissen des Lebens die Majestät Gottes zu verehren, als sich mit liberaler Gleichgültigkeit oder Protestfreudigkeit über diese primitiven, nicht unzweideutigen, nicht ewigen, aber immerhin vernehmbaren Gottesworte hinwegzusetzen."73 Im Sommer- und Wintersemester des Jahres 1928/29 hielt Barth in Münster Vorlesungen über Ethik. Allerdings sind diese Vorlesungen zu Barths Lebzeiten nicht im Druck erschienen, da Barth die hier von ihm zugrunde gelegte Lehre von den Schöpfungsordnungen im weiteren Verlauf verworfen hat. Diese Vorlesungen dürfen aber dennoch als das am weitesten ausgearbeitete Wort gelten, das Barth während der Weimarer Republik zum Staat gesagt hat, und sie repräsentieren damit Barths Staatsauffassung während dieser Zeit. Erst hier, anders als noch in Röm.II, tritt die lutherische Staatsbetrachtung in den Vordergrund, erhält der Staat nicht mehr nur eine mittelbare, sondern unmittelbare Rechtfertigung aus der Sünde, die auch als Bedrohung des Mitmenschen gesehen wird und nicht mehr alleine als Hybris gegenüber Gott. In der vorliegenden Ausgabe der Münsteraner Ethik ist der Abschnitt, der das Verhältnis von Kirche und Staat behandelt, in der Fassung aufgenommen, wie Barth sie aus Anlaß der Wiederholung seiner Vorlesungen in den Jahren 1930/31 in Bonn gegenüber der ersten Fassung verändert hat. Die ursprüngliche Fassung, allerdings eine Abschrift von unbekannter Hand, ist dem zweiten Band als Anhang beigefügt. Barths Auffassung über Recht und Staat werden in dem Kapitel über das Gebot Gottes als das Gebot des Versöhners dargelegt, denn theologisch betrachtet sei, wenn vom Menschen die Rede sei, vom
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Brief Karl Barths an den Reichsminister des Innern Rust vom 4.4.1933, in: Prolingheuer: Der Fall Karl Barth. Chronographie einer Vertreibung 1934-1935. Neukirchen-Vluyn 1984, S.233f. 73 Barth: Die Auferstehung der Toten. 2. Aufl., München 1926, S.31.
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begnadigten Sünder die Rede. Indem der Mensch als Sünder gerichtet und begnadigt werde, werde er an den an ihn ergehenden Anspruch des Nächsten gebunden. Dieser Anspruch des Nächsten trete dem Menschen im Recht gegenüber. Das Handeln des Menschen sei, qualifiziert als sündiges Handeln, Bedrohung des Mitmenschen, vor diesem Handeln müsse der Mitmensch geschützt werden. "Man wird sagen müssen, daß das Dogma von der Eibsünde bei der Polizei viel besser verwahrt ist als etwa bei der Lehrer- und heutzutage sogar als bei der Pfarrerschaft. H74 Im Widerstreit der Interessen der Einzelnen mit der Gesamtheit müsse aber bedacht werden, daß das Recht, das von der Gesamtheit aufgerichtet werde, weder göttliches Recht noch von Gott gestiftetes Recht sei, daß vielmehr, wenn Recht gesprochen werde, auch dies vor Gott nur Unrecht sein könne - summum ius summa irtiura. Durch das Recht werde der Mensch aber unter den Willen des Nächsten gebeugt und damit nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar unter den Willen Gottes. Beuge sich der Mensch dem Recht, unabhängig davon, ob er es als Recht empfinde oder als Unrecht, beuge er sich, der von Natur aus als böse zu betrachten sei, Gott: "Ich beuge mich dann: nicht vor dem Nächsten, nicht vor der Gesellschaft, sondern vor Gott, aber vor Gott, indem ich mich vor dem Nächsten, vor der Gesellschaft beuge, indem ich anerkenne, daß ich jenen an sich so kränkenden und fragwürdigen Anspruch des Königs oder der Mehrheit verdient habe und nötig habe."75 Der Staat könne in allen seinen Formen Diener Gottes sein, HGott (kann) sich je und je Gehorsam fordernd zu dieser und dieser bestimmten Staatsform bekennen"76, was aber auch wiederum heiße, daß keine Staatsform sicher vor der Infragestellung durch Gott sein könne. Entsprechend müsse man Gott mehr gehorchen als den Menschen, Gehorsam gegenüber dem Staat sei nur im Gehorsam gegenüber Gott möglich. Entsprechend kennt Barth auch ein Widerstandsrecht, das dann legitim sei, wenn der Staat vom Menschen verlangt, daß er seinen egoistischen Neigungen nachgehe.77 Dieses Widerstandsrecht könne aber niemals so weit gehen, daß der Staat zur Gänze abgelehnt werde: M,,Unzerbrechlich ist als christlicher Gehorsam nicht der Wille zu dieser oder jener Staatsform, wohl aber der Wille zum Staate im Gegensatz zu jeder die Wirklichkeit des Menschen vergessenden Anarchie.M78 Λ Widerstand gegenüber dem Staat sei also nur dann gerechtfertigt, wenn der Staat aufhöre, Staat zu sein. Das ist die Basis geworden, von der aus Barth dann zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus aufrief. Barth ging es um den Staat in diesem Sinne, Schmitt dagegen um Ordnung. War der Staat für Schmitt nicht
74 75 7 6 7 7 78
Barth: Ethik II. Gesamtausgabe B.II. Zürich 1978, S.216. Ebenda, S.224. Ebenda, S.334. Ebenda, S.227. Ebenda, S.335.
2. Karl Barth und der Sozialismus
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mehr in der Lage, für Ordnung zu sorgen bzw. die Ordnung zu garantieren, durfte der aus dem Bürgerkrieg siegreich hervorgegangenen Gruppe die Gefolgschaft nicht versagt werden, wenn sie Ordnung schuf. Konnte aber für Barth diese Gruppe nicht für Staat sorgen, mußte ihr die Unterstützung entzogen und zum Widerstand im Namen des Staates aufgerufen werden.
Teil IV
Karl Barth und Carl Schmitt gegenüber dem Nationalsozialismus
1. Bekenntnis als Widerstand a) Jesus und Pilatus Wenn in der Politik von Mythen die Rede sei, so Herfried Münkler, dann wecke das sogleich Assoziationen konservativer oder gar reaktionärer Politik, dem die Linke mit Aufklärung zu begegnen suche.1 So stünden sich Mythos und Aufklärung gegenüber, aber Nso klar und einfach sind die Dinge doch nicht, und fast möchte man meinen, die antithetische Kontrastierung von Mythos und Aufklärung zeige selbst Züge des Mythischen, wenn man dieses, noch ganz vorläufig, als eine dualistisch-dichotomische Weltsicht definiert, in der gut und böse, schön und häßlich, wahr und unwahr, klar und eindeutig voneinander getrennt und dementsprechend unterscheidbar sind.1*2 Dieser dualistischen Weltsicht entspräche auch die Unterscheidung von Freund und Feind. HDie dualistisch-dichotomische Sichtweise, wie sie dem Mythos in einer ersten vorläufigen Charakterisierung zugesprochen werden kann, gibt klare Orientierung und integriert so politisch handlungsfähige Gruppen und Parteien."3 Die biblische Überlieferung der Verurteilung Jesu ist in diesem Sinne kein Mythos, denn eine Unterscheidung von Gruppen oder Mächten, die Orientierung ermöglichen könnte, gibt es nicht, im Gegenteil: Die Evangelien betonen sowohl die Verantwortung der Juden, d.h. natürlich des jüdischen Establishments, als auch die der Heiden am Tod Jesu. Während aber der Hohe Rat als Religionsgemeinschaft ins Spiel gebracht wird, während er also im umfassenden Sinne die Kirche repräsentiert, so repräsentiert Pilatus den Staat, und nun nicht irgend einen Staat, sondern das sich als Rechtsstaat verstehende römi1 2 3
Münkler/Storch: Siegfrieden, S.50. Ebenda, S.50. Ebenda, S.51.
1. Bekenntnis als Widerstand
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sehe Imperium.4 Die Verlagerung des Vorgehens gegen Jesus durch den Hohen Rat auf das politische Gleis geschah vielleicht vor dem Hintergrund des in Rom erfolgten Sturzes des Seianus, so daß sich Pilatus Auffälligkeiten gegenüber dem tobsüchtig aus Capri in die Hauptstadt zurückgekehrten Tiberius nicht erlauben durfte. Dann würden die Evangelien hier sogar eine tiefe Krise des römischen Imperiums und ihre Folgen aufdecken. Auf jeden Fall schildern sie eine Entscheidungssituation und geben dem Prozeß dadurch eine die historische Dimension überbietende Qualität, abgesehen davon, daß die Verurteilung Jesu als heilsgeschichtlich notwendig geschildert werden mußte. Neben Carl Schmitt hat auch Hans Kelsen das Beispiel des Pilatus bemüht, allerdings nicht, um das Bürgertum als eine entscheidungs- und handlungsunfähige Klasse zu überfuhren, sondern um die Relativität der Werte als den entscheidenden Grundkonsens einer Demokratie zu illustrieren. In seiner 1919 erstmals und 1929 zum zweiten Male erschienenen Schrift Vom Wesen und Wert der Demokratie heißt es am Ende: H Im 18. Kapitel des Evangelium Johannis wird eine Begebenheit aus dem Leben Jesu geschildert. Die schlichte, in ihrer Naivität lapidare Darstellung gehört zu dem großartigsten, was die Weltliteratur hervorgebracht hat; und, ohne es zu beabsichtigen, wächst sie zu einem tragischen Symbol des Relativismus und der - Demokratie. Es ist zur Zeit des Osterfestes, als man Jesus unter der Anklage, daß er sich fur den Sohn Gottes und den König der Juden ausgebe, vor Pilatus, den römischen Statthalter fuhrt. Und Pilatus fragt ihn, der in des Römers Augen 4 Wenn hier von Rechtsstaat die Rede ist, dann natürlich nicht vom Rechtsstaat im modernen Sinne, d.h. im Sinne von Menschenrechten und Gewaltenteilung. Vielmehr steht der Aspekt der Rechtssicherheit im Vordergrund, wie ihn etwa Aristides in seiner Romrede zur Sprache brachte (Die Romrede des Aelius Aristides. Darmstadt 1983). Hier ist Rom sogar als eine Demokratie bezeichnet worden (S.38), während der Neutestamentler Wengst daraufhinweist, daß es sich bei dem römischen Recht um ein Ausbeutungssystem und eine Klassenjustiz gehandelt habe (Wengst: Pax Romana. Anspruch und Wirklichkeit. München 1986). Die Rechtssicherheit, die Rom verkörperte, wird im Lukasevangelium, in der Apostelgeschichte, von Paulus und den Pseudopaulinen und im 1. Petrusbrief betont, während besonders die Offenbarung des Johannes Rom als einen Macht- und Unrechtsstaat darstellt. Das Neue Testament enthält keine einheitliche Sicht und Wertung des römischen Imperiums. Die Reformatoren und auch Karl Barth stehen in der Tradition des Paulus und hier besonders von Röm.13. Der Frankfurter Neutestamentler Georgi ist wohl am weitesten gegangen, Paulus aus dem oben gezeigten Zusammenhang herauszunehmen (Georgi: Gott auf den Kopf stellen: Überlegungen zu Tendenz und Kontext des Theokratiegedankens in paulinischer Praxis und Theologie, in: Taubes (Hrsg.): Religionstheorie und Politische Theologie B.3: Theokratie. München, Paderborn, Wien und Zürich 1987). Paulus stehe in der Tradition der jüdischen Apokalyptik und Weisheitslehre (s.a. Georgi: Das Wesen der Weisheit nach der "Weisheit Salomos", in: Taubes (Hrsg.): Religionstheorie und Politische Theologie B.2: Gnosis und Politik. München, Paderborn, Wien und Zürich 1984), deren herrschaftskritische und demokratische Tendenz er radikal fortgesetzt habe. Dabei stelle die paulinische Identifizierung Gottes mit dem gekreuzigten Jesus nicht nur die herrschende Ordnung in Frage, vielmehr sei auch "Gottes Autorität, Herrschaft und Macht, ja seine Souveränität zur Disposition gestellt, und von Gott selbst dem kritischen Überdenken befohlen" (in Taubes: Theokratie S.160).
14 Eichhorn
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Teil IV: Barth und Schmitt gegenüber dem NS
nur ein armer Narr sein kann, ironisch: Also du bist der König der Juden? Und Jesus antwortet im tiefsten Ernste und ganz erfüllt von der Glut seiner göttlichen Sendung: Du sagst es. Ich bin ein König, und bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, daß ich der Wahrheit Zeugnis gebe. Jeder, der aus der Wahrheit ist, höret meine Stimme. Da sagt Pilatus, dieser Mensch einer alten, müde und darum skeptisch gewordenen Kultur: Was ist Wahrheit? - Und weil er nicht weiß, was Wahrheit ist und weil er - als Römer - gewohnt ist, demokratisch zu denken, appelliert er an das Volk und veranstaltet - eine Abstimmung. - Er ging hinaus zu den Juden, erzählt das Evangelium, und sprach zu ihnen: Ich finde keine Schuld an ihm. Es ist aber bei euch Herkommen, daß ich euch am Osterfeste einen freigebe. Wollt ihr nun, daß ich euch den König der Juden freigebe? - Die Volksabstimmung fällt gegen Jesus aus. Da schrien wiederum alle und sagten: Nicht diesen, sondern Barabbas. - Der Chronist aber fügt hinzu: Barabbas war ein Räuber. Vielleicht wird man, werden die Gläubigen, die politisch Gläubigen einwenden, daß gerade dieses Beispiel eher gegen als für die Demokratie spreche. Und diesen Einwand muß man gelten lassen; freilich nur unter der Bedingung: Wenn die Gläubigen ihrer politischen Wahrheit, die, wenn nötig, auch mit blutiger Gewalt durchgesetzt werden muß, so gewiß sind wie - der Sohn Gottes."5
Auf den ersten Blick handelt es sich bei diesen biblischen Geschichten um Beschreibungen einer Entscheidungssituation, die den Leser aufzufordern scheinen, selber Stellung zu nehmen. Sowohl Schmitt als auch Kelsen haben sie jedenfalls so interpretiert. Beide versuchen aber auch der Entscheidung und damit der unterstellten, dem Mythos analogen dualistisch-dichotomischen Struktur auszuweichen: Kelsen so, daß er aus der Geschichte einfach aussteigt, Schmitt so, daß er sie auf eine Gruppe überträgt, die in der Geschichte überhaupt nicht vorkommt. Die Entscheidung für Barrabas wird von Kelsen nicht als eine im Namen der Demokratie potentiell auch gegen die Demokratie gerichtete begriffen - Recht ist, was dem deutschen Volke nützt - auch konnte er sich wohl nicht mehr vorstellen, daß dann einige doch noch kommen würden, die sich einer Wahrheit so gewiß waren, daß sie blutig durchgesetzt wurde. Es ging aber gar nicht, wie Kelsen suggeriert, um Wahrheit, sondern um Anwendung des Rechts, und das vor dem Hintergrund, daß Jesus keine Schuld traf, was Pilatus ausdrücklich bestätigt: "Ich finde keine Schuld an ihm." (Joh 18,38). In Bezug auf den Gründungsmythos des Deutschen Reichs, den Nibelungenmythos und damit auf die Anspielungen auf die Nibelungensage, die die Politik des Reichs begleiteten, erklärt Herfried Münkler: "Aufklärung kann aus dem Mythos selbst kommen, und sei es nur, daß die künstlich verkürzte 5
Kelsen: Vom Wesen und Wert der Demokratie. Tübingen 1929, S.103f.
1. Bekenntnis als Widerstand
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Geschichte zu Ende erzählt wird.1*6 Was hier über den Mythos gesagt wird, kann auf die Geschichte von Jesus und Pilatus übertragen werden. Gegen die Verkürzungen bei Kelsen und bei Schmitt muß nämlich eingewendet werden, daß die Entscheidung des Pilatus zwei Folgen hatte, die beiden entgangen sind: Zum einen war sie die Voraussetzung der heilsgeschichtlich notwendigen Kreuzigung Jesu, zum anderen bedeutete sie aber auch die Freilassung des Verbrechers Barrabas, der allerdings nicht nur im Sinne des Strafgesetzbuches Verbrecher war, sondern sicher vor unserem zeitgenössischen Hintergrund gefordert hätte, als Kriegsgefangener behandelt zu werden - er war nämlich Zelot und gehörte damit einer terroristischen Gruppe an, die die Römer mit Gewalt aus Palästina vertreiben wollte. Barth ist aus der Geschichte von Pilatus nicht vor dem Ende ausgestiegen und hat sich somit im Sinne von Münkler als Aufklärer über den Staat - nicht gegen den Staat - erwiesen (vergi. Rechtfertigung und Recht, 1938). Davon soll jetzt die Rede sein. Vielleicht kann von diesem Ansatz her gegen Blumenberg eingewendet werden, daß das Dogma nicht eine sich einer Arbeit am Mythos analogen Arbeit verweigernde Größe ist7, sondern dieser ihre Richtung im Sinne der Legitimität der Neuzeit geben kann - als beständige Erinnerung an die Einlösung eines gegebenen Versprechens. b) Faschismus und Nationalsozialismus "Aber die Revolution ist gründlich. Sie ist noch auf der Reise durch das Fegefeuer begriffen. Sie vollbringt ihr Geschäft mit Methode. Bis zum 2. Dezember 1851 hatte sie die eine Hälfte ihrer Vorbereitung absolviert, sie absolviert jetzt die andre. Sie vollendete erst die parlamentarische Gewalt, um sie stürzen zu können. Jetzt, wo sie dies erreicht, vollendet sie die Exekutivgewalt, reduziert sie auf ihren reinsten Ausdruck, isoliert sie, stellt sie sich als einzigen Vorwurf gegenüber, um alle ihre Kräfte der Zerstörung gegen sie zu konzentrieren. Und wenn sie diese zweite Hälfte ihrer Vorarbeit vollbracht hat, wird Europa von seinem Sitz aufspringen und jubeln: Brav gewühlt, alter Maulwurf!" 8 Nun sprang Europa schon zu den Zeiten von Marx nicht jubelnd aus den Sitzen, sondern schaute ganz gelassen dem Sterben der letzten Kommunarden auf dem Friedhof Père Lachaise zu, wo man die Revolution, die auf Napoleon III folgte, zusammenschoß. Fataler aber war, daß die Marxsche Analyse der Machtergreifung des dritten Bonaparte von den Kommunisten und sicher auch Teilen der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung auf die Machtergreifung 6 7 8
Münkler/Storch: Siegfrieden, S.55. Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt am Main 1986, S.239ff. Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. Berlin 1974, S.l 14f.
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der Nationalsozialisten übertragen wurde. Die Linke dachte eben in der Weimarer Republik auch nicht republikanisch, war bis in die SPD hinein nur vernunftrepublikanisch eingestellt und erwartete entweder die soziale Revolution oder zumindest die soziale Umgestaltung der Gesellschaft.9 Hitler gab man nur eine kleine Frist, dann, so die Annahme, würde er den Weg für die soziale Umgestaltung der Gesellschaft freimachen müssen. Wir können heute freilich nicht mehr umhin, das Geschehen des Jahres 1933 vor dem Hintergrund von Auschwitz zu betrachten, und dann erscheinen die Stellungnahmen der Zeitgenossen zu den Ereignissen erschreckend naiv. Als ein Irrtum sollte sich aber auch erweisen, daß die Arbeiterbewegung wie auch das Bürgertum des Jahres 1933 vor dem Hintergrund der elf Jahre zurückliegenden Ereignisse in Italien die nationalsozialistische Machtergreifung als den Beginn einer faschistischen Diktatur interpretierten. Wenn hier von einem Irrtum die Rede ist, muß einschränkend gesagt werden, daß die Behauptung eines Unterschiedes zwischen Faschismus und Nationalsozialismus, der nicht nur Nuancen betrifft, heute noch umstritten ist. Den Hintergrund dieses Unterschiedes aber, d.h. das entscheidende Kriterium, bildet das jeweilige Verhältnis der faschistischen Partei Italiens und der NSDAP zum Staat. "Die Achse, um die sich das faschistische Regime organisierte, war das Verhältnis zwischen Partei und Staat. In Italien war dieses Verhältnis klar durch den Primat des letzteren bestimmt."10 In Deutschland verhielt es sich aber nicht so. Das Bemühen um das Verständnis der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland kennzeichnet die bundesdeutsche Geschichtsschreibung der Nachkriegszeit, in der sich, vor dem sogenannten Historikerstreit, im wesentlichen zwei Lager gegenüberstanden - und es fällt auf, daß, vollzieht man die Auseinandersetzungen zwischen beiden Positionen nach, der Vorwurf der Verharmlosung des Nationalsozialismus in der bundesdeutschen Geschichtsschreibung scheinbar Tradition hat. Die beiden sich vor dem Historikerstreit gegenüberstehenden Positionen sind von Tim Mason zum einen als die intentionalist, zum anderen als die functionalist position bezeichnet worden.11 Die von ihm so genannten Intentionalisten, für sie stehen u.a. die Namen Karl Dietrich Bracher und Klaus Hildebrand, führten die Verbrechen des Regimes 9
Vgl. Münkler: Die politischen Ideen der Weimarer Republik, in: Fetscher/Münkler: Pipers Handbuch der politischen Ideen B.5., S.287. 10 Breuer: Faschismus in Italien und Deutschland: Gesichtspunkte zum Vergleich, in: Leviathan (1) 1983, S.33. 11 Mason: Intentin and Explanation: A Current Controversy about the Interpretation of National Socialism, in: Hirschfeld/Kettenacker: Der "Führerstaat": Mythos und Realitât. Studien zur Struktur und Politik des Dritten Reiches. Stuttgart 1981.
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auf den verbrecherischen Willen der Verantwortlichen zurück, namentlich auf den des Hauptverantwortlichen Adolf Hitler, und sie betrachteten Geschichtsschreibung unter Berufung auf Jacob Burckhardt nicht als eine erklärende, sondern als eine moralisch aufklärende Disziplin: N it is clearly implied that it is the historican's duty to write in this way."12 Demgegenüber betrachteten die Funktionalisten oder auch Revisionisten, wie sie im Deutschen bezeichnet werden, die Verbrechen des Nationalsozialismus als Ausfluß des Zusammenspiels von Ideologie und Herrschaftsstruktur, wobei die Person Hitlers in den Hintergrund trat. So standen sich letztlich moralische Aufklärung und wissenschaftliche Erklärung gegenüber, wobei sich letztere dem Vorwurf der Verharmlosung des Nationalsozialismus aussetzte, was freilich nur folgerichtig ist, wenn Nationalsozialismus und Hitler als identisch betrachtet werden. Hans Mommsen und Martin Broszat haben auf die Strukturverwandtschaft zwischen NSDAP und nationalsozialistischem Regime hingewiesen, was verbiete, die nationalsozialistische Herrschaft als einen Staat zu betrachten. Die NSDAP sei "Nutznießer politischer Instabilität (gewesen). Diese in der ganzen Struktur der NS-Bewegung angelegte Einstellung blieb nach der Machtergreifung in vieler Hinsicht erhalten."13 Die Ausnahmesituation sei in Permanenz gehalten worden, was den permanenten Terror impliziert habe. Gleichzeitig habe das nationalsozialistische System "zu parasitärer Zersetzung der übernommenen staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen (tendiert), ohne neue Gestaltungen dauerhafter Art an die Stelle der bisherigen Einrichtungen zu setzen"14, was den Unterschied zum italienischen Faschismus markiere. Dies habe auch Konsequenzen für den Widerstand gehabt: "Mit der Konsolidierung des Führerstaates gab es, sehr im Unterschied zum faschistischen Italien, wo der Duce die ihm freilich willige Monarchie zu tolerieren hatte, keinerlei institutionelle Ansatzpunkte dafür, eine stabile Gegenkraft gegen die Alleinherrschaft Hitlers zu entfalten."15 Dagegen schreibt Ernst Nolte, Hitler habe schon vor Kriegsbeginn den Führerstaat "so vollkommen realisiert, daß Göring sagen konnte, er selbst und alle anderen Staats und Parteiführer hätten neben Hitler in den großen Fragen nicht mehr Entscheidungsbefugnis als die Steine, auf denen sie gerade ständen."16 Ernst Nolte spielte im sogenannten Historikerstreit Ende der 80er Jahre eine zentrale Rolle. Auch ihm ging es nunmehr darum, den Nationalsozialismus und insbesondere die nationalsozialistischen 12
Ebenda, S.29. Mommsen, Hans: Hitlers Stellung im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, in: Der "Führerstaat": Mythos und Realität. S.65f. Vgl. auch Broszat: Der Staat Hitlers. 12. Aufl., München 1989. 14 Mommsen, Hans, S.69. 15 Ebenda, S.44f. 16 Nolte: Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945. Nationalsozialismus und Bolschewismus. Frankfurt am Main und Berlin 1987, S.349. 13
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Verbrechen zu erklären, aber nicht mehr aus den Strukturen nationalsozialistischer Herrschaft, sondern aus der Ideologie heraus, die zudem gegenüber dem Bolschewismus als defensiv betrachtet wurde - der Klassenmord sei dem Rassenmord vorausgegangen.17 Damit wird die Singularität der nationalsozialistischen Verbrechen bestritten und als Reflex des bolschewistischen Terrors gedeutet. Es ist in diesem Zusammenhang aber von großer Bedeutung, daß zumindest Nolte insofern in der Tradition der von Tim Mason so genannten Intentionalisten steht, als auch er in Hitler die entscheidende Instanz des Systems sieht. Entsprechend konstatiert auch Nolte zwar ein "Nebeneinander von Ansprüchen und Kompetenzen, das man Neofeudalismus nennen mag, das aber keinesfalls eine Polykratie war, da es nie den geringsten Zweifel gab, wer die großen Entscheidungen zu treffen hatte."18 Aber was sind große Entscheidungen konkret und worin unterscheiden sich die großen Entscheidungen von kleineren oder gar kleinen Entscheidungen? Hier wird stillschweigend zwischen Entscheidungsbereichen unterschieden, ohne daß sie in eine Verbindung gebracht würden, und Nolte beschreibt damit ungewollt genau das, was das Chaos der nationalsozialistischen Polykratie ausmachte, und das Tim Mason wie folgt charakterisiert hat: "uncoordinated, unprepared, and arbitrary decisions, decisions taken with regard only to a single goal (...) and without reference either to side-effects or to their impact upon other imperative projects, always further fragmented the processes of policy-making, making them cummulatively more arbitrary in their character, more violent and radical in their implementation, more conducive to competitive struggle among the executive organs of the regime."19 So wie man vermuten darf, daß Nolte in die Falle nationalsozialistischer Propaganda gegangen ist, was die Rolle Adolf Hitlers im nationalsozialistischen Herrschaftssystem betrifft, so scheint es ihm auch hinsichtlich seiner Wesensbestimmung des Nationalsozialismus gegangen zu sein. Aber wer zwischen Bereichen von kleinen oder kleineren Entscheidungen gegenüber den großen Entscheidungen unterscheidet, der vergißt, daß die kleinen Entscheidungen entweder die großen vorbereiten, schließlich erzwingen, so daß die sogenannten großen Entscheidungen schließlich gar keine Entscheidungen im eigentlichen Sinne mehr sind - oder versuchen, Tendenzen umzukehren, was Politik zur Don Quichoterie werden läßt. Nolte scheint sich hier der Täuschung hinzugeben, Politik könne in cäsaristischer Manier vollzogen werden, und er gerät damit in die Nähe einer Vorstellung, die in deutschen konservativen Kreisen von vielen gepflegt wurde und nichts weiter ausdrückte als den 17 Ders.: Vergangenheit, die nicht vergehen will, in der FAΖ vom 6.6.1986, abgedruckt in: Historikerstreit. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung. München 1987. 18 Ders.: Der europäische Bürgerkrieg, S.352. 19 Mason, S.27.
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Wunsch nach einer unpolitischen Politik. Diese Distanz zum politischen Alltag, dem Kleinkram, charakterisiert die politische Kultur in Deutschland ohnehin.20 Das Bürgertum fühlte sich zwar berufen zur großen Politik, wollte Schicksal spielen oder ihm in den Arm fallen, mit dieser sogenannten großen Politik verbanden sich aber dann Vorstellungen von Nation und Geschichte, alles unpersönliche Größen, die zu Mythologisierungen geradezu verführten. "Dem mühevollen Ausgleichscharakter der politischen Wirklichkeit setzten sie ihre unbedingten Parolen entgegen und richteten den Alltag im Namen grandioser Mythen."21 Der Mythos war aber schon von sich aus, unabhängig von seinem jeweiligen Inhalt, Widerspruch gegen die entzauberte Welt. Politik im Sinne von Verwaltung und Ausgleich von Interessen kam hier nicht vor. Dem politischen Alltag, so Joachim C. Fest in seiner Hitlerbiographie, sei von weiten Kreisen des intellektuellen Bürgertums in Deutschland die Kunst gegenübergestellt worden, und mit dem Hinweis auf Julius Langbehns Rembrandt als Erzieher schreibt er: "Die Kunst (...) müsse der in die Irre gegangenen Welt Einfachheit, Natürlichkeit und Intuition zurückbringen, den Handel und die Technik beseitigen, die Klassen versöhnen, das Volk zusammenführen, die verlorene Einheit in der befriedeten Welt wiederbringen: sie war die große Überwinderin. Am Ende stand die Abschaffung aller Politik überhaupt und ihre Rückverwandlung in Rausch, Macht, Charisma, Genialität."22 Hitler habe diese Vorstellung verkörpert und den Kult des unpolitischen Politikers gepflegt. Nur vor dem Hintergrund dieses Kultes macht die Unterscheidung zwischen großen und kleinen Entscheidungen einen Sinn, die wirkliche Politik kennt sie nicht. Dem muß noch hinzugefügt werden, daß Fest den Nationalsozialismus zwar auch als einen Reflex der bolschewistischen Revolution begreift und den Antimarxismus als eines seiner Wesensmerkmale betrachtet, doch "hätte die bloße Revolutionsangst offenbar nicht jene vehemente und überrennende Energie entwickeln können, die imstande war, die Welttendenz in Frage zu stellen, zumal die Revolution für viele eine Hoffnung barg."23 So geht Fest tiefer in seiner Analyse und erklärt den Nationalsozialismus nicht alleine so, wie die Nationalsozialisten ihn dem Bürgertum darstellten, sondern aus einem allgemeinen antimodernistischen Affekt heraus, d.h. aus einer, wie er es überschreibt, großen Angst 2*, die den Kitt der Bewegung und der späteren Volksgemeinschaft gebildet habe.25 2 0
Vgl. auch Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen. Frankfort a.M. 1956. Fest: Hitler. Eine Biographie. Frankfurt am Main, Berlin und Wien 1973, S.524. Ebenda, S.523. 23 Ebenda, S. 133. 2 4 Ebenda, S.129ff. 25 Der Wunsch nach einer unpolitischen Politik drückt sich auch in dem Interesse an jenen historischen Personen aus, die den Typus des souveränen Entscheidungsträgers für die Historiker jener Zeit besonders zu verkörpern schienen, wobei zunächst an den Staufer Friedrich I I zu denken wäre (Kantorowicz, Ernst: Kaiser Friedrich der Zweite. Neuauflage Stuttgart 1987), besonders aber an 21
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Auch Sebastian Haffner hat das Chaos der nationalsozialistischen Herrschaftsstrukturen thematisiert und als ein wesentliches Merkmal der nationalsozialistischen Politik bezeichnet - "das Feste mußte beweglich gemacht und ins Rollen gebracht, alles mußte auf Vorläufigkeit gestellt werden und aus dieser Vorläufigkeit heraus ganz automatisch auf ständige Veränderung, Vergrößerung, Erweiterung drängen"26 - aber andere Schlüsse als Mommsen daraus gezogen. Biographien neigen freilich immer dazu, ihre Protagonisten überzubetonen. Im Sinne von Mommsen weist Haffner die Auffassung Joachim Fests, Hitler wäre im Falle eines plötzlichen Todes im Jahre 1938 wahrscheinlich als einer der größten Staatsmänner in die Geschichte eingegangen27, mit dem Hinweis zurück, daß im Jahre 1938 niemand mehr gewußt hätte, wie die Sache hätte weitergehen sollen, denn es habe keine Verfassung und damit auch keine Regelung der Nachfolge gegeben: "Alles in allem ein staatliches Chaos, das nur durch die Person Hitlers zusammengehalten und verdeckt wurde und durch den Wegfall dieser Person schonungslos enthüllt worden wäre."28 Bezeichnenderweise aber schreibt Haffner dies in dem Kapitel, das mit Leistungen überschrieben ist, denn er begreift dieses Chaos als eine Zerstörungsleistung Hitlers im Interesse seiner Allmacht: "Nur so konnte er sich selbst die vollkommen unbeschränkte Handlungsfreiheit nach allen Caesar. Abgesehen von Spengler hatte schon Matthias Geizer 1921 Caesar als den überragenden Staatsmann gepriesen (Geizer: Caesar. Der Politiker und Staatsmann. Wiesbaden 1960) und der wie Kantorowicz aus dem Georgekreis stammende Friedrich Gundolf schrieb 1924, die eigentümliche Interpunktion des Meisters berücksichtigend: "HEUTE, da das Bedürfnis nach dem starken Mann laut wird, da man der Mäkler und Schwätzer müd sich mit Feldwebeln begnügt statt der Führer, da man zumal in Deutschland jedem auffallenden militärischen wirtschaftlichen beamtlichen oder schriftstellerischen Sondertalent die Lenkung des Volkes zutraut und bald soziale Pfarrer bald unsoziale Generäle bald Erwerbs und Betriebsriesen bald rabiate Kleinbürger für Staatsmänner hält, möchten wir die Voreiligen an den großen Menschen erinnern, dem die oberste Macht ihren Namen und Jahrhunderte hindurch ihre Idee verdanket: Cäsar." (Gundolf: Caesar. Die Geschichte seines Ruhms. Darmstadt 1968, S.7) Dagegen urteilt der Historiker Christian Meier: "Jede Machtposition ist als eigentliche Mischung von vorhandener und fehlender Macht, von Bereichen der Macht und Bereichen der Ohnmacht zu definieren. Gerade der Mächtigste kann etwa schwach gegenüber seinen Gefolgsleuten sein. Diese Verteilung zwischen Macht und Ohnmacht kann sich zuspitzen auf ungeheure Macht in den Verhältnissen und geringe Macht über sie." (Meier: Die Ohnmacht des allmächtigen Diktators Caesar. Drei biographische Skizzen. Frankfurt 1980, S.26.) Vgl. auch Meiers Caesarbiographie Caesar, Berlin 1982. 2 6 Haffner: Anmerkungen zu Hitler. München 1978, S.60. 2 7 Fest, S.25. Fest relativiert allerdings seine hier im Vorwort gemachte Äußerung ("... würden nur wenige zögern, ihn einen der größten Staatsmänner der Deutschen ... zu nennen"), indem er später gerade die Nervenschwäche Hitlers in den Krisen des Jahres 1938 darstellt und mit der Kaltblütigkeit Görings konfrontiert (S.742ff). Dagegen hat Turner darüber spekuliert, was geschehen wäre, hätte Hitler sein Leben bei einem Autounfall im Jahre 1930 verloren (Geißel des Jahrhunderts. Hitler und seine Hinterlassenschaft. Berlin 1989) und kommt zu dem Schluß: "Die zentrale Folge eines frühen Todes von Adolf Hitler wäre sicherlich die gewesen, daß das 'Dritte Reich' nie stattgefunden hätte" (S.9), wenngleich er auch weiter schreibt, daß ein faschistisches System oder eine Militäijunta sicherlich mit dem Mittel eines allerdings begrenzten Krieges den Versuch unternommen hätte, den Vertrag von Versailles zu revidieren. 28 Haffner, S.57f.
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Seiten sichern, die er haben wollte.1129 Demgegenüber aber zeichnet Fest das Bild eines entscheidungsschwachen Hitlers, der Aktenstudium verabscheute und mit alltäglichen Problemen nicht belastet werden wollte. Entscheidungen ließ er von anderen vorbereiten und treffen, um sie schließlich nur noch abzusegnen, und er identifizierte sich öffentlich nie mit Maßnahmen, die ihm unpopulär erschienen. Hitler war mehr an seinem Kult als an tatsächlicher Führung interessiert, mit Ausnahme wahrscheinlich der außenpolitischen und, im Verlauf des Krieges, militärischen Entscheidungen. Da er aber Akten außer der diplomatischen Korrespondenz nicht las, entschied über die tatsächliche Macht derjenige, der Zugang zum Ohr des Machthabers hatte. Was damit erreicht wurde, war eine gewisse Selbstläufigkeit des Systems, das auf Katastrophe hin programmiert war, und die Entfernung Hitlers hätte, wie Haffner wohl zutreffend schreibt, das Chaos offenbar gemacht, aber nicht beseitigt, wenn nicht sogar noch verstärkt. In Italien bestand immerhin noch der sogenannte Faschistische Großrat, zwar, wie Raymon Cartier schreibt, "eine Art Reliquie des frühen Faschismus"30, der seit 1939 nicht mehr zusammengetreten war auf Grund der Auffassung seiner Mitglieder, "daß sie (diese Körperschaft; Anm.M.E.) durch das Autoritätsprinzip und die dem Duce zukommende politische Unfehlbarkeit ihre Daseinsberechtigung verloren hatte(n)"31, doch immerhin versammelte sich dieses Gremium am 24. Juli 1943 unter dem Eindruck des unmittelbar bevorstehenden militärischen Verlustes Siziliens, um den Beschluß zu fassen, den Duce abzusetzen, was der König am darauffolgenden Tag vollzog. So wie sich der 24. Juli 1943 vom 20. Juli 1944 unterscheidet, so unterscheiden sich auch Faschismus und Nationalsozialismus. Die Position der sogenannten Revisionisten in der bundesdeutschen Nachkriegshistoriographie war schon von dem der Kritischen Theorie nahestehenden Franz Neumann in seiner 1942 in den USA veröffentlichten Strukturanalyse des nationalsozialistischen Herrschaftssystems vertreten worden. "Da wir glauben, daß der Nationalsozialismus ein Unstaat ist oder sich dazu entwickelt, ein Chaos, eine Herrschaft der Gesetzlosigkeit und Anarchie, welche die Rechte wie die Würde des Menschen Verschlungen* hat und dabei ist, die Welt durch die Obergewalt überriesigeLandmassen in ein Chaos zu verwandeln, scheint uns dies der richtige Name für das nationalsozialistische System: DER BEHEMOTH".32 Der Staat ist bei Neumann allgemein durch die Herrschaft des Gesetzes charakterisiert, in einem eingeschränkten Sinne auch durch die Einheit der politischen Gewalt, was aber beides für das nationalso2 9
Ebenda, S.58. Cartier: Der Zweite Weltkrieg B.2, München o. J. S.649. 31 Ebenda, S.650. 32 Neumann, Franz: Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1944. Köln und Frankfurt am Main 1977, S.16. 3 0
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zialistische Deutschland nicht mehr zutreffe. 33 Vielmehr unterscheidet Neumann vier Bereiche, auf die sich die Herrschaft in Deutschland nach 1933 verteilt habe, nämlich Bürokratie, Wirtschaft, Partei und Wehrmacht, wobei insbesondere zwischen Partei und Bürokratie Kompetenzüberschneidungen auszumachen seien (sowohl was den Zugriff auf die Jugend anbelange als auch im Bereich der Polizeigewalt; Neumann betrachtet die SS als einen Teil der Partei), ohne daß klare Kompetenzgrenzen festgelegt worden seien. Was für die Bereiche Partei und Bürokratie gelte, ließe sich schließlich mehr oder weniger auch auf das Verhältnis aller Bereiche zueinander übertragen. Entsprechend wählt Neumann die Bezeichnung Behemoth und nicht Leviathan für den Nationalsozialismus, bezugnehmend auf die beiden Bücher des Thomas Hobbes: "Behemoth schildert England zur Zeit des Langen Parlaments und soll einen Unstaat, einen Zustand vollkommener Gesetzlosigkeit, darstellen. Der Leviathan verschlingt die Gesellschaft zwar, aber er verschlingt sie nicht ganz und gar. Seine souveräne Gewalt gründet sich auf den Konsens, die Zustimmung und Übereinkunft der Menschen. Die Rechtfertigung der souveränen Gewalt bleibt rational und ist folglich unvereinbar mit einem politischen System, in dem das Individuum gänzlich zum Opfer gebracht wird."34 Genau dies aber geschehe im nationalsozialistischen Deutschland, wo der Einzelne im Begriff des Volkes aufgehe: Du bist nichts, dein Volk ist alles! Vor diesem Hintergrund wird das Versagen der evangelischen Kirche ab dem Jahr 1933 in doppelter Weise problematisch: nicht nur, daß gegenüber dem sofort einsetzenden Terror geschwiegen wurde, sondern daß darüber hinaus die nationalsozialistische Herrschaft als Obrigkeit im Sinne Luthers mißverstanden worden ist. Dies konnte nur geschehen, wenn auch die für die Kirche Verantwortlichen einem antimodernen Affekt huldigten, der seine Basis nicht in der Reformation haben konnte. Mit Luther hatte das nichts mehr zu tun.35 c) Die Kirchen und das Jahr 1933 Ernst Nolte schreibt im Jahre 1987, ausgehend von der Überlegung, daß der Nationalsozialismus nunmehr kein politisches, sondern ein historisches Phänomen darstelle: "Wenn also die Furcht vor Wiederholungen gegenstandslos ist und volkspädagogische Besorgnisse überflüssig sind, dann sollte endlich 33
Ebenda, S.541ff. ^Ebenda, S.531. 35 Daß auch Luther durchaus ein Widerstandsrecht gegenüber Tyrannenherrschaft kannte, zeigt Marquardt auf: Martin Luther und Karl Barth: in tyrannos, in: Berliner Theologische Zeitschrift 2 1984.
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der Schritt getan werden dürfen, mit dem die nationalsozialistische Vergangenheit in ihrem zentralen Punkte zum Thema gemacht wird, und dieser zentrale Punkt ist weder in verbrecherischen Neigungen noch in antisemitischen Obsessionen zu suchen. Das wesentliche am Nationalsozialismus ist sein Verhältnis zum Marxismus und insbesondere zum Kommunismus in der Gestalt, die dieser durch den Sieg der Bolschewiki in der russischen Revolution gewonnen hatte."36 Der Antibolschewismus der Nationalsozialisten wird von Nolte also nicht etwa als ein Aspekt, vielleicht sogar Hauptaspekt ihrer Ideologie betrachtet, sondern als ein den Nationalsozialismus wesentlich bestimmendes, zentrales Anliegen. Der Unterschied besteht im ersten Blick lediglich in einer Nuance, aber diese Nuance trennt Welten. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß so, wie Nolte den Nationalsozialismus im Jahre 1987 wertet, er von weiten Teilen des deutschen Bürgertums betrachtet worden ist, als nämlich im wesentlichen antibolschewistisch, und daß ihn auch die Kirchen entsprechend sahen, namentlich die katholische Kirche. Hätten also einige Historiker, darunter Nolte, sich im Nationalsozialismus vielleicht so geirrt wie das deutsche Bürgertum vor und nach 1933? Dann hätte doch mit dem Verschwinden des Bolschewismus als des Feindes "in eigener Gestalt" auch der Nationalsozialismus verpuffen müssen. Es wird aber von Nolte unterschlagen, daß der Nationalsozialismus auch gegen den Westen gerichtet war, immerhin ein Aspekt, der dem deutschen Bürgertum 1933 nicht verborgen blieb, weil es weiterhin den Ideen von 1914 huldigte und sie im Nationalsozialismus verkörpert sah. Schon der Name der Bewegung suggerierte das. Nun darf aber auch nicht übersehen werden, daß sich das Verhältnis zwischen den Kirchen und dem Nationalsozialismus bis zum Jahre 1933 keinesfalls als unproblematisch und spannungsfrei gestaltet hatte und daß diese Spannungen nach 1933, unterbrochen durch eine kurze Zeit der friedlichen Koexistenz, während der sich das Regime konsolidierte, wieder ausbrachen.37 3 6
Nolte: Der europäische Bürgerkrieg, S. 15. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg sah die Kirchengeschichtsschreibung im Nationalsozialismus den dämonischen Feind, gegenüber dem die Kirchen heroischen Widerstand geleistet hätten. Für die katholische Seite wäre hier Johannes Neuhäuslers HKreuz und Hakenkreuz" (1946) und für die protestantische Seite Walter Künneths "Der große Abfair (1947) zu nennen. Wilhelm Niemöllers Beiträge wertet der Kirchenhistoriker Andreas Lindt dagegen als historiographisch bedeutsamer (vgl. Lindt: Kirchenkampf und Widerstand als Thema der Kirchlichen Zeitgeschichte, in: Besier/Ringshausen: Bekenntnis, Widerstand, Martyrium. Von Barmen 1934 bis Plötzensee 1944, Göttingen 1986) und nennt "Kampf und Zeugnis der Bekennenden Kirche" (1948), "Die evangelische Kirche im Dritten Reich. Handbuch des Kirchenkampfi (1956), "Wort und Tat im Kirchenkampf. Beiträge zur neuesten Kirchengeschichte" (1969) und "Der Pfarrernotbund. Geschichte einer kämpfenden Bruderschaft" (1973). Niemöller betrachtet die Geschichte des Kirchenkampfs wesentlich kritischer, aber auch er vertritt die Ansicht, ein harter Kern der Bekennenden Kirche habe die Bewährungsprobe wirklich bestanden. Für die katholische Kirche bedeutete erst Böckenfördes Aufsatz "Der deutsche Katholizismus im Jahre 1933 - eine kritische Betrachtung" (1961) einen Bruch mit dieser 3 7
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Freilich bestanden diese Spannungen auch während dieser Zeit fort, sie transformierten sich nur ins Innere, wurden auf Grund der verschiedenen Verfaßtheit der Kirchen im Katholizismus allerdings nicht so sichtbar, während sie im evangelischen Bereich zur Spaltung führten. Für die katholische Kirche in Deutschland galt, daß bis zum Jahre 1933 der Nationalsozialismus in verschiedenen Erklärungen der Bischöfe als eine Irrlehre verurteilt und die Mitgliedschaft in der Partei oder einer ihrer Gliederungen als unerlaubt erklärt worden war. Zudem hatte der Katholizismus mit dem Zentrum und der Bayerischen Volkspartei eigene politische Organisationen und parlamentarische Vertretungen, die sowohl im Reich als auch in den Ländern Regierungsverantwortung übernommen hatten so daß man überhaupt davon ausgehen muß, daß sich der Katholizismus mit der Weimarer Republik viel stärker identifiziert hat als mit dem protestantisch geprägten wilhelminischen Deutschland. Der Umschwung erfolgte dann, als man in Rom einen Fortschritt in den Konkordatsverhandlungen eher von Hitler denn von einem in Koalitionen eingebundenen Zentrum erwartete. Der Sicherung ihrer kirchlich-kulturpolitischen Interessen, die sie über ein Reichskonkordat genügend abgesichert glaubte, opferte aber die katholische Kirche nicht nur ihre politische Vertretung, sie nahm auch bewußt die Außerkraftsetzung der Verfassung und damit das Ende der Weimarer Republik in Kauf, was die Zustimmung des Zentrums zum Ermächtigungsgesetz dokumentiert. Kurz nach der Abstimmung im Reichstag hob die Fuldaer Bischofskonferenz ihre Beschlüsse hinTradition, auf evangelischer Seite gilt das für Friedrich Baumgärtels Buch "Wider die Kirchenkampflegenden"( 1958). Baumgärtel wies daraufhin, daß sich der Widerstand der BK nur auf den innerkirchlichen Bereich beschränkt hatte. Nachdem dann in der allgemeinen Geschichtsschreibung eine rationalere Sicht die Vorstellung ersetzte, mit dem Jahre 1933 seien dämonische Mächte über das deutsche Volk gekommen, orientierte sich auch die Kirchengeschichtsschreibung um. Zunächst sei auf Eberhard Bethges Biographie Dietrich Bonhoeffers hingewiesen (Dietrich Bonhoeffer. Theologe, Christ, Zeitgenosse, 1967), obwohl es sich hier nicht um Kirchengeschichtsschreibung im eigentlichen Sinne handelt; aber weil Bonhoeffer als einer der wenigen aus den Reihen der BK gelten kann, der sich auch dem politischen Widerstand angeschlossen hatte, erfolgte bei Bethge nicht nur eine kritischere Untersuchung der Haltung der BK gegenüber dem NS, auch der Ablauf der politischen Ereignisse im Vorfeld und während der NS-Zeit traten in den Blick. Schließlich ist hier noch auf das akribische und auf umfangreiches Quellenmaterial sich stützende, dreibändige Werk des Leipziger Kirchenhistorikers Kurt Meier hinzuweisen, "Der Evangelische KirchekampP (B.l und B.2 Göttingen 1976, B.3, Göttingen 1984) und auf Scholders zweibändiges Werk "Die Kirchen und das Dritte Reich" (B.l: Vorgeschichte und Zeit der Illusionen 1918-1934. Frankfurt am Main, Berlin und Wien 1977; B.2: Das Jahr der Ernüchterung 1934. Barmen und Rom. 1985). Die Schwäche des Werkes Meiers dürfte darin liegen, daß er die katholische Seite nicht so beleuchtet wie Scholder und auch die allgemeinpolitische Lage in seine Betrachtung nicht einbezieht, zwei Aspekte, die besonders Scholder für die Geschichtsschreibung des Kirchenkampfes als unverzichtbar bezeichnet hat (vgl. auch: Scholder: Politik und Kirchenpolitik im Dritten Reich. Die kirchenpolitische Wende in Deutschland 1936/37, in: Oberndörfer/Karl Schmitt (Hrsg.): Kirche und Demokratie. Paderborn 1983). Ein Überblick über die katholische Kirchenhistoriographie nach dem Zweiten Weltkrieg bietet Ulrich von Hehls Forschungsbericht "Kirche und Nationalsozialismus", in: Kirche im Nationalsozialismus. Hrsg. vom Geschichtsverein der Diözese Rotenburg-Stuttgart, 1984.
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sichtlich der Unvereinbarkeit zwischen Katholizismus und Nationalsozialismus auf. Abgesehen von der Ablehnung der modernen, säkularisierten Welt und dem dieser Haltung impliziten Antiliberalismus macht E.W. Böckenförde dafür auch die Staatslehre der Neoscholastik verantwortlich, die zwischen übergeschichtlichen naturrechtlichen Grundsätzen und den konkreten geschichtlichen Staatsformen, denen gegenüber sich die Kirche zu Neutralität verpflichtet fühlte, unterscheide (ganz auf der Linie, wie Carl Schmitt es beschrieben hat). MDie Treue zur bestehenden geschichtlichen Verfassung hatte keinen naturrechtlichen Ort."38 So seien denn alle Anstrengungen der Kurie auf einen Konkordatsabschluß gerichtet gewesen, u.a. wohl auch, wie Dieter Albrecht anmerkt, weil Pius XI und sein Kardinalstaatssekretär Eugenio Pacelli das nationalsozialistische Regime nicht wie viele andere als eine kurzfristige Angelegenheit betrachteten.39 Während Böckenförde in dem damaligen Vorsitzenden des Zentrums Kaas die treibende Kraft für das Konkordat sah, obwohl er gleichzeitig schreibt, daß im politischen Katholizismus in Deutschland auf Grund der Erfahrungen des Kulturkampfes Episkopat und Klerus eine vorherrschende Stellung einnahmen, muß dennoch betont werden, daß Rom am meisten an einem erfolgreichen Abschluß gelegen sein mußte. Klaus Scholder sieht denn auch in Eugenio Pacelli die treibende Kraft, der im Jahre 1917 "mit unbegrenztem Selbstbewußtsein und kühler Leidenschaft an die Aufgabe ging, die Interessen Roms in Deutschland zu vertreten."40 Die Interessen Roms aber waren mitnichten immer identisch mit den Interessen des politischen Katholizismus, auch nicht mit denen des deutschen Episkopats. Hintergrund der Politik Pacellis, so Scholder, sei die im Jahre 1917 erfolgte Publizierung des Codex Juris Canonici gewesen, der die Entwicklung der Zentralisierung, Vereinheitlichung und Verrechtlichung der Weltkirche abgeschlossen habe. Diese Leistung sei mit dem Namen von Pietro Gasparri verbunden, dessen engster Mitarbeiter Pacelli gewesen sei. "Eine der wichtigsten Aufgaben des neuen Codex war die Aufhebung der vielfaltigen Partikularrechte der nationalen Kirchen zugunsten eines einheitlichen, ausschließlich päpstlich bestimmten Rechtes."41 Ein wichtiger Punkt dabei sei die Bischofsernennung gewesen, ein Recht, das sich z.B. in Bayern, Preußen und Baden Staat und Kirche teilten. So erreichte denn auch gerade mit diesen Ländern der Vatikan im Verlauf der Weimarer 38 Böckenförde: Der deutsche Katholizismus im Jahre 1933. Eine kritische Betrachtung, in: ders.: Der deutsche Katholizismus im Jahre 1933. Kirche und demokratisches Ethos. Freiburg, Basel und Wien 1988, S.64f. 3 9 Albrecht: Der Vatikan und das Dritte Reich, in: Kirche im Nationalsozialismus, S.32. 4 0 Scholder: Eugenio Pacelli und Karl Barth. Politik, Kirchenpolitik und Theologie in der Weimarer Republik, in: ders.: Die Kirchen zwischen Republik und Gewaltherrschaft, S.99. 41 Ebenda, S.100.
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Republik Konkordate, wobei das Zustandekommen des badischen Konkordates im Jahre 1932 einherging mit dem Zerbrechen der letzten republikanischen Regierung im Reich, einer Koalition zwischen SPD und Zentrum, und dem Eintritt der Nationalsozialisten in Regierungsverantwortung. Gerade das badische Beispiel zeigt, daß Widerstände gegen das Konkordat nicht nur von der sozialdemokratischen Partei, sondern auch aus dem Bereich der Kirche kamen, namentlich von dem Freiburger Erzbischof Fritz, der dann aber für die Konkordatsbefürworter noch rechtzeitig im Dezember 1931 starb.42 Die evangelische Kirche ihrerseits war auch nicht grundsätzlich gegen die Republik von Weimar ausgerichtet, wenngleich für sie die Ereignisse des November 1918 tatsächlich eine Revolution bedeuteten: Sie verlor nicht nur ihre bisherige Verfassung, sondern büßte auch ihren Einfluß auf staatliche Stellen ein. Wenn hier freilich von der evangelischen Kirche gesprochen wird, geschieht es nur um der sprachlichen Einfachheit halber, denn tatsächlich handelte es sich (und handelt es sich heute noch) bei der evangelischen Kirche in Deutschland um voneinander unabhängige Landeskirchen, wobei damals die preußische Landeskirche, die altpreußische Union, die größte und entsprechend gewichtigste war. Eine Annäherung an die Republik erfolgte spätestens mit der Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten. Die Kirche verstand sich, wie Jonathan R.C. Wright es sieht, als "über den Parteien stehend"43, worin sich freilich auch ein Stück Distanz zum Politischen und Sehnsucht nach unpolitischer Politik ausdrückte. Eine Beteiligung am Kapp-Putsch von Seiten der evangelischen Kirchen erfolgte nicht, auch kein Gutheißen, allerdings auch keine Verurteilung des Attentats auf Matthias Erzberger. Der Verurteilung der Ermordung Walter Rathenaus durch die evangelische Kirche verweigerten sich schließlich die Landeskirchen von Mecklenburg-Schwerin und von Sachsen, so daß das Schweigen dieser beiden Landeskirchen hier mehr aussagt als das Schweigen der gesamten Kirche gegenüber dem Mord an Erzberger. Dennoch bewertet Wright die Kirche als im wesentlichen vernunftrepublikanisch, wobei er freilich nur die Kirchenleitungen im Blick hat. Anders sah es in dem Bereich aus, der auf ein pragmatisches Verhältnis zu staatlichen Stellen verzichten konnte, weil er in dem Sinne, wie es die Kirchenführung betraf, kein behördliches Verhältnis zum Staat pflegen mußte: gemeint ist der akademische Bereich, d.h. die akademische Theologie und die durch sie rekrutierte Pfarrerschaft. Zwar gab es nach dem Ersten Weltkrieg 4 2
Zum Zustandekommen des badischen Konkordates vgl. Plück: Das badische Konkordat vom 12. Oktober 1932. Scholders These, der Vatikan sei för den politischen Selbstmord des politischen Katholizismus am Vorabend des Ermächtigungsgesetzes verantwortlich zu machen, hat zu einer Kontroverse mit seinem katholischen Kollegen Repgen geführt, die Aretin in einer kurzen Notiz in dem von ihm mitherausgegebenen Band Die Kirchen zwischen Republik und Gewaltherrschaft (S. 171f) darstellt. 4 3 Wright: "Ober den Parteien". Die politische Haltung der evangelischen Kirchenführer 19181933. Göttingen 1977.
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auch sozialdemokratische Theologen, namentlich das Grüpplein der ReligiösSozialen, aber sie spielten zahlenmäßig keine Rolle. Die Mehrheit war deutschnational gesinnt und fand in der DNVP ihre politische Plattform. So wie man in diesen Kreisen die militärische Niederlage nicht akzeptierte bzw. wahrhaben wollte, wurde der Kampf als noch nicht beendet betrachtet, nur daß jetzt, nach der Revolution, der Feind als im eigenen Land stehend begriffen wurde. Was mit den Ideen von 1914 nach außen, gegen das westliche Gesellschafts- und Freiheitsverständnis, gerichtet war, richtete sich jetzt gegen die Verfassung von Weimar.44 Dieses den Ideen von 1914 zugrundeliegende, spezifisch deutsche Freiheitsverständnis ließ sich aber gerade unter Berufung auf Luther entwickeln, so daß es, wie Klaus Tanner darstellt, zu einem regen Gedankenaustausch zwischen den der Republik feindlich gegenüberstehenden Staatsrechtlern und Theologen kommen konnte, die sich zum Ziele setzten, die deutsche Kultur aus der Krise, die Weimar fur sie sowohl bedeutete als auch verstärkte, zu fuhren. HDas Zentrum des Ideals des Nationalen Kulturstaates' wurde, wie bei den Staatsrechtslehrern, auch von den Theologen in einem spezifischen Freiheitsverständnis gesehen, für das die wechselseitige harmonische Bezogenheit von Individuum und Gemeinschaft und die in dieser Relation begründete sittliche Verantwortung konstitutiv war. Sie setzten damit an jenem Punkt an, der als Hauptursache der 'Krise* diagnostiziert worden war, dem zersetzenden Individualismus und gehaltlosen Pluralismus."45 Zudem entwickelte sich seit dem Weltkrieg innerhalb der Theologie neben der dialektischen Theologie und ebenso in Gegnerschaft zur liberalen Theologie eine neue Richtung, die Klaus Scholder mit dem Begriff der politischen Theologie belegt. Es handelte sich hierbei um die theologische Entdeckung des Volkes, ein durch das Kriegserlebnis geprägter Versuch, die individualistisch orientierte liberale Theologie von dieser Seite her abzulösen. "Es war eine Entdeckung, die einen Teil dieser Generation offenbar geradezu überwältigt haben muß. Sie fand darin die Überwindung eines Individualismus, dessen sie längst überdrüssig war, weil er ihr eng, klein und kaltherzig erschien."46 Der Protagonist dieser Theologie war Paul Althaus, später stießen Emanuel Hirsch und andere dazu. "Für Althaus und Hirsch und ihre Freunde wurde die Verantwortung für die Gemeinschaft des Volkes zur entscheidenden theologischen Aufgabe, der sich Theologie und Kirche unter keinen Umständen ent4 4 Vgl. wieder Thomas Mann, der unter Berufung auf Dostojewski im Protest gegen Rom und den Westen den charakteristischen und wesentlichen Zug der Deutschen von Arminius über Luther bis hin zum Weltkrieg gesehen hat. Der Liberalismus wird hier als eine Variante des Gedankens der universalen Vereinigung der Menschheit begriffen, dem sich die Deutschen entziehen müßten (Betrachtungen eines Unpolitischen, S.34ff). 4 5 Tanner, S.211. 4 6 Scholder: Die Kirchen und das Dritte Reich B.l. Vorgeschichte und Zeit der Illusionen 19181934. Frankfurt am Main, Berlin und Wien 1977, S.125.
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ziehen durften. Hier entstand ein neuer, moderner Typus von Theologie: die politische Theologie. Gewiß ist jede Theologie politisch. In der modernen politischen Theologie aber wird die politische Ethik zur Schlüsselfrage politischen Verstehens und kirchlichen Handelns. Das ist ihr allgemeines Merkmal und Kennzeichen."47 Klaus Scholder zielte hier nicht nur auf die von ihm so genannte politische Theologie der zwanziger Jahre, er hatte auch aktuelle kirchenpolitische Auseinandersetzungen im Blick. Karl Barth freilich betrachtete diese Richtung, wie später die Deutschen Christen, die an dieser völkisch ausgerichteten Theologie anknüpften, ohne daß man sie mit ihr identifizieren darf, auch nur als eine Spielart der Theologie des 18. und 19. Jahrhunderts, d.h. der liberalen Theologie und damit einer Theologie, die ihre maßgeblichen Kriterien nicht mehr aus der Schrift und dem Bekenntnis, sondern anderswoher bezog. Ihn interessierte nicht dieses Anderswoher und ob es mehrere bzw. sich auch in Gegnerschaft gegenüberstehende Anderswohers gab, da für ihn die theologische Existenz nur in Schrift und Bekenntnis gründen konnte. Die Kontroversen außerhalb dieses Theologieverständnisses erschienen ihm für die Theologie unbedeutend. Mit dem Begriff der Theologischen Existenz ist der Titel der Schrift genannt, mit der Barth in die kirchenpolitischen Auseinandersetzungen im Jahre 1933 eingriff und die, mehr oder weniger, als das Programm der kirchenpolitischen Opposition gegen den Versuch der Gleichschaltung der evangelischen Kirche betrachtet werden darf. 48 Der Titel wurde dann auch als Name für eine Zeitschrift übernommen, die als Sprachrohr der dialektischen Theologie die Zeitschrift Zwischen den Zeiten ablöste. Der Versuch der Gleichschaltung wurde durch die, wie sie sich nannte, Glaubensbewegung Deutsche Christen (DC) unternommen, deren Geschichte und Herkunft hier nicht zu interessieren brauchen.49 Diese Bewegung versuchte mit der Unterstützung der NSDAP über die Kirchenwahlen des Jahres 1933 die Synoden mehrheitlich auf die nationalsozialistische Programmatik auszurichten. Als eine theologische Bewegung verstanden sich die DC ausdrücklich nicht, wohlwissend, daß theologische Diskussionen in einer zudem konfessionell unterschiedlich ausgerichteten Kirche zwangsläufig zu Fraktionierungen führen mußten, die gerade verhindert werden sollten. NAm Anfang der heftigsten theologischen Auseinandersetzung, die das 20. Jahrhundert bisher in Deutschland erlebte, stand der Verzicht auf alle Theologie.1150 Maßgebliches theoretisches Fundament dieser Richtung aber war ihr Antisemitismus, 4 7
Ebenda, S. 130. Barth: Theologische Existenz heute! Neu herausgegeben und eingeleitet von Hinrich Stoevesandt, München 1984. 4 9 Vgl. hierzu Meier, Kurt: Der Evangelische Kirchekampf, im Zusammenhang mit der DC besonders B. 1, Göttingen 1976. 5 0 Scholder: Die Kirchen und das Dritte Reich B.l, S.526. 4 8
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der ihr schließlich auch zum Verhängnis wurde, als sie forderte, nur noch ein artgerechtes Christentum unter Ausschluß des Alten Testaments und Teilen des Neuen Testaments, vor allem der Paulusbriefe, zu verkündigen. Diese Forderung, öffentlich verkündet auf einer Sportpalastkundgebung am 13. November 1933, führte dazu, daß sich die meisten Theologen, die vom völkischen Denken her zu den DC gestoßen waren, von ihnen trennten, aus dem einfachen Kirchenvolk übrigens auch viele Nationalsozialisten. Schon das Engagement der DC für die Übernahme des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums durch die Kirche, das die Entlassung u.a. auch aller Juden aus dem Staatsdienst vorsah, führte zur Gründung des Pfarrernotbundes, der später eine der Keimzellen der Bekennenden Kirche (BK) sein sollte. Populär dagegen war die DC-Forderung nach einer einheitlichen Reichskirche mit einem Reichsbischof an der Spitze. Die Reichskirche wurde dann auch tatsächlich geschaffen und zunächst von dem Leiter der Betheler Anstalten Friedrich von Bodelschwingh geführt, der aber schon nach kurzer Zeit dem Druck der DC weichen mußte, bis im September 1933, also noch vor der Sportpalastkundgebung der DC, der Hitlerfreund und Marinepfarrer Ludwig Müller, der sich einem gemäßigten DC-Kurs verpflichtet fühlte, durch die mittlerweile gebildete und von den DC dominierte Nationalsynode zum Reichsbischof gewählt wurde. Die Konstituierung der Bekennenden Kirche führte aber dazu, daß die Reichskirche als Partner des Staates nicht in Frage kam, so daß die Gleichschaltung der evangelischen Kirchen in Deutschland mißlang. So verlor der Reichsbischof denn auch im Verlauf der Zeit jegliche Bedeutung, was das Ausland übrigens nicht rückhaltlos anerkannte. Die BK erhob den Anspruch, die einzig rechtmäßige evangelische Kirche Deutschlands zu sein, Hein Sachverhalt, aus dem die Ökumene bei aller wohlwollenden Unterstützung der Bekennenden Kirche nie die vom radikalen Flügel der Bekenntnisfront erwartete Konsequenz zog, nur sie, nicht aber die als 'häretisch', d.h. ketzerisch beurteilte und darum abgelehnte offizielle Deutsche Evangelische Kirche zu ökumenischen Tagungen einzuladen."51 Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus blieb aber auch bei der Bekennenden Kirche immer innerkirchlich und wurde nie als ein politischer Widerstand verstanden. Von den bekannteren Theologen bildete alleine Bonhoeffer eine Ausnahme, und zwar schon von Anfang an: "Von einer politischen Opposition oder gar Widerstandsbewegung konnte keine Rede sein. Von der mehr oder weniger unkritisch gesehenen Untertanenpflicht der Christen ebenso wie von der nationalen Grundhaltung her bestimmt, lebte man in der Fiktion, man könne die weltanschauliche Ideologie des NS klar ablehnen, den von ihm getragenen Staat aber ebenso eindeutig bejahen. Bonhoeffer, der gerade darin klarer sah, resignierte und übernahm ein deutsches Pfarramt in London."52 Die 51 52
Meier, Kurt, S.178. Herbert: Der Kirchenkampf. Historie oder bleibendes Erbe? Frankfurt am Main 1985, S.83.
15 Eichhorn
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evangelische Kirche machte sich die gleichen Illusionen wie das konservative Bürgertum, was schon darum nicht verwundern kann, weil Kirche und konservatives Bürgertum, wenn schon nicht identisch, dann aber dennoch eng verzahnt waren. Von daher mag sich auch Hitlers Scheu erklären, direkt in die Belange der Kirche einzugreifen. Martin Broszat hat auf die Verbindungen hingewiesen, die zwischen Bürgertum und evangelischer Kirche bestanden und vor diesem Hintergrund erklärt, warum die Verfolgung der Katholiken ungleich schärfer gewesen sei.53 Für diese Veibindung steht der Name des Reichspräsidenten Hindenburg an erster Stelle, aber auch nach dem Tode des Reichspräsidenten konnte die Bekennende Kirche Beziehungen pflegen, die sie schützten. Was bewog Theologen, sich 1933 und davor, teilweise auch noch nach dem Sportpalastskandal der DC, der nationalsozialistischen Bewegung anzuschließen und sich ihr dienstbar zu machen? Selbst die von Scholder so bezeichnete völkische Theologie ging nicht so weit, das Volk über die Kirche zu stellen, wenngleich von allen Theologen dieser Richtung Emanuel Hirsch noch am weitesten ging. Karrieregründe mögen eine Rolle gespielt haben, aber sie alleine erklären die Begeisterung und Aufbruchstimmung in weiten Teilen der Kirche auch außerhalb der DC und bis hinein in die Bekenntnisfront nicht. Es ging der Kirche in ihrem Widerstand gegen die DC ja nicht gleichzeitig um einen Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime, wie sie es sah und das sie ausdrücklich begrüßte. Sie erwartete nur, daß sich vor allem die Partei, aber auch der Staat, aus den Angelegenheiten der Kirche heraushalten möge. Im Zusammenhang mit drei Theologen, nämlich Emanuel Hirsch, Paul Althaus und Gerhard Kittel, schreibt Robert P. Ericksen: H In the end arbitrary factors of background and environment may explain the political stance of these individuals more effectively than do their intellectual positions.H54 Aber eine solche Position wird von Seiten der Theologie nicht alleine darum nicht akzeptiert werden, weil damit jede theologische Distinktion als tendenziell überflüssig betrachtet wird zugunsten eines backgrounds , der Konkretion nur vortäuscht und, weil vom Individuum selten global zu verändern oder zu beeinflussen, zu einem seltsamen Freiheitsverständnis führt, das sich dann in letzter Konsequenz wieder als Einsicht in die Notwendigkeit darstellt. Betrachtet man dagegen den Verlauf des Kirchenkampfes, dann wird man sagen müssen, daß es gerade theologische Distinktionen waren, die die Beteiligten, unabhängig von ihrer jeweiligen politischen Grundeinstellung, in einander gegenüberstehende Gruppen aufteilten, denn es gab in den Reihen der BK durchaus überzeugte Nationalsozialisten. Darum muß mit Klaus 53
Broszat, S.283ff. Ericksen: Theologians under Hitler. Gerhard Kittel, Paul Althaus and Emanuel Hirsch. New Haven and London 1985, S.26. 5 4
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Scholder gesagt werden: "Am Ende schließlich entschieden tatsächlich nicht Politik und Kirchenpolitik, sondern Theologie und Glaube über die Zukunft der evangelischen Kirche im Dritten Reich."55 Von daher erklärt sich auch der erbitterte Streit, der sich nun innerhalb der evangelischen Kirche um die Frage ihrer Zukunft entzündete. Es ging schließlich nicht alleine darum, wer Reichsbischof sein sollte, ob man einen Arierparagraphen übernehmen sollte u.a.m., es ging um Theologie und damit um die Frage, ob die Kirche weiterhin an das Dogma von der in Jesus Christus geschehenen Menschwerdung Gottes gebunden bleibt, oder ob sie sich die Freiheit nimmt, noch andere Quellen der Offenbarung anzuerkennen, namentlich Volk und Geschichte. Dieses Entweder-Oder ist aber nun keines, das eine Vermittlung zulassen könnte. Hier entschied sich, ob Kirche Kirche bleiben oder so wie der Staat in den Begriffen Volk und Geschichte aufgelöst werden würde. Vor dem Dogma verblassen diese Größen als Quellen göttlicher Offenbarung, werden als Nichts erachtet, während umgekehrt Volk und Geschichte das Dogma von der Menschwerdung Gottes ins Nichts auflösen zugunsten der Geschichts- und Volkswerdung Gottes. Vor diesem Hintergrund war dann 1933 für die einen alles, für die anderen nichts geschehen. d) Als wäre nichts geschehen Für die Anhänger Hitlers innerhalb der Kirchen war die nationalsozialistische Machtergreifung, d.h. die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933, "kein politischer, sondern ein theologischer Vorgang".56 In diese Situation hinein formulierte Barth gleich zu Beginn seiner Schrift Theologische Existenz heute! (geschrieben im Juni, veröffentlicht am 1. Juli 1933): "Mir ist in einer zuletzt nicht mehr zu überhörenden Weise zugerufen worden, daß manche unter meinen ehemaligen akademischen Zuhörern und auch manche Andere von den an meiner theologischen Arbeit Beteiligten sich längst fragten, ob ich zu den uns alle nun seit Monaten beschäftigenden kirchlichen Sorgen und Problemen nicht auch etwas zu sagen haben möchte. Ich möchte dazu zunächst dies bemerken dürfen: das Entscheidende, was ich heute zu diesen Sorgen und Problemen zu sagen versuche, kann ich darum nicht zum Gegenstand einer besonderen Mitteilung machen, weil es sehr unaktuell und ungreifbar einfach darin besteht, daß ich mich bemühe, hier in Bonn mit meinen Studenten in Vorlesungen und Übungen nach wie vor und als wäre nichts geschehen - vielleicht in leise erhöhtem Ton, aber ohne direkte Bezugnahmen Theologie und nur Theologie zu treiben."57 Der entscheidende Satz, der wirk55 5 6 5 7
Scholder: Die Kirchen und das Dritte Reich B.l, S.326. Ebenda, S.212. Barth: Theologische Existenz heute, S.26.
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lieh alles entscheidet, ist nicht der, in dem es heißt, daß Barth "Theologie und nur Theologie" zu treiben beabsichtige, sondern daß er das zu tun beabsichtige, "als wäre nichts geschehen". Wer Ohren zu hören hatte, der hatte verstanden. Gerhard Kittel kritisierte im Jahre 1934 die Barmer Theologische Erklärung unter anderem damit, daß er ihr vorwarf, sie habe neben der damnatio der DC und den ihnen zugrundeliegenden theologischen Prämissen nicht auch jene Lehre Barths verworfen, "als ob es zu irgendeiner Zeit oder an irgendeinem Ort eine Verkündigung des Evangeliums ohne Bezogenheit auf den geschichtlichen Augenblick gäbe, welche erfolgen könnte, 'als wäre nichts geschehen'".58 Was ist aber damit anderes gemeint als die Übernahme des Prinzips der Akkomodation in die protestantische Theologie, die freilich damit eben aufhören würde, protestantische Theologie zu sein? Die Situation 1933 war gegenüber der von 1914, als Barth meinte, man könnte jetzt nicht weiter Theologie treiben, als wäre nichts geschehen, gar nicht so verschieden, wie denn auch viele Zeitgenossen den vermeintlichen nationalen Aufbruch von 1933 mit der Mobilmachung von 1914 verglichen haben - aber die Theologie war eine andere geworden. Wenn Barth hier von Theologie spricht, dann meint er natürlich seinen eigenen dogmatischen Ansatz, der die Verknüpfung von Christentum und Politik zerrissen hatte. "Ich hatte (...) nichts Neues zu sagen, sondern eben das, was zu sagen ich mich immer bemüht hatte."59 War diese Position Barths, die er gleich am Anfang von Theologische Existenz heute vertrat, eine unpolitische? In der Vorbemerkung zur zweiten Auflage seiner Schrift Politische Theologie hat Carl Schmitt im November 1933 geschrieben, und sicher dachte er dabei auch an die dialektische Theologie und die aktuellen Auseinandersetzungen im deutschen Protestantismus: "Inzwischen haben wir das Politische als das Totale erkannt und wissen infolgedessen auch, daß die Entscheidung darüber, ob etwas unpolitisch ist, immer eine politische Entscheidung bedeutet, gleichgültig wer sie trifft und mit welchen Beweisgründen sie sich umkleidet. Das gilt auch für die Frage, ob eine bestimmte Theologie politische oder unpolitische Theologie ist."60 Dieter Schellong versteht diese Sätze programmatisch und nicht analytisch, d.h. sie stellten politische Agitation dar und hätten den Totalitätsanspruch der Nationalsozialisten unterstützt. "Dabei urteilt er (Carl Schmitt; Anm. M.E.) in einer Hinsicht richtig: Wenn politische Machthaber einen totalen Staat errichten, in dem ihr Wille alles reglementiert und keine Argumente mehr gelten läßt, dann ziehen sie alles in den 58 5 9 6 0
Zitn. Meier, Kurt, S.197. Zit. n. Busch, S.239. Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Vorbemerkung.
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Sog des Politischen hinein."61 Damit wird Schmitt aber grob mißverstanden. Es gibt andere Beispiele, die sein Eintreten für den Nationalsozialismus dokumentieren, aber dieser Satz gehört sicher nicht dazu. Mit der Totalität des Politischen meint Schmitt hier nicht den Totalitätsanspruch einer Ideologie oder des Staates, denn dann wäre ja für ihn z.B. eine Ideologie in dem Sinne politisch, daß außerhalb ihrer selbst alles als unpolitisch betrachtet werden müßte - das liegt in der logischen Konsequenz des Schellongschen Arguments. Davon kann aber bei Schmitt gar keine Rede sein. Auch vom Staat ist hier weder explizit noch implizit die Rede, weil der Begriff des Staates, wie Schmitt in seiner Schrift Der Begriff des Politischen schon geschrieben hatte, den des Politischen voraussetze.62 Gerade weil der Staat das Monopol des Politischen verloren hat, erfolgt die für Schmitt wesentliche politische Unterscheidung, nämlich die zwischen Freund und Feind, nicht mehr durch eine zentrale Instanz, bzw. wird deren Unterscheidung nicht mehr von allen Betroffenen anerkannt. Damit besteht für ihn die wirkliche politische Beziehung nicht mehr zwischen den Staaten bzw. den Staaten und ihren Bürgern, d.h. sie wird nicht mehr ausschließlich durch den Staat vermittelt. Was Schmitt nicht ausdrücklich bemerkt, aber impliziert, wie im Zusammenhang mit seiner Hobbesrezeption noch darzustellen sein wird, ist die ebensowenig unbestreitbare Unmöglichkeit einer untheologischen bzw. unmythologischen Politik.63 Dies schreibt auch Schellong, ohne zu bemerken, daß er damit seine anfangs über Schmitt und die Totalität des Politischen gemachten Äußerungen konterkarriert: "Gerade die atheistische Profanität ist voller Religion, will sagen: voller letztgültiger, übermächtiger, die geistige und physische Todesbereitschaft fordernder Bindungen. Deshalb Schloß sich Barth auch nicht der späteren Bonhoeflferschen These an, die Moderne sei religionslos. Vielmehr sieht Barth die Menschen der Moderne wie einst die der Antike, nur unter anderen Erscheinungen, vor das Entweder-Oder von heidnischem und christlichem Gottesglauben gestellt."64 Staat und Ideologien fallen aber doch unter das, was Schellong hier "atheistische Profanität" nennt. Barth sieht im Jahre 1933 nicht nur allgemein den modernen Menschen vor dieses Entweder-Oder gestellt, sondern besonders und in erster Linie die Kirche. Seine Theologie impliziert nämlich eine radikale Religions- und Kirchenkritik. Religion und Atheismus setzt Barth insofern gleich, weil der Mensch in beiden sich selber zum Thema mache und versuche, sich selber zu 61
Schellong: Jenseits von politischer und unpolitischer Theologie, in: Taubes: Der Fürst dieser Welt S.292. Schmitt: Der Begriff des Politischen, S.20. 63 Vgl. in diesem Zusammenhang die schon 1923 von Schmitt veröffentlichte Schrift "Die politische Theorie des Mythus**, in: Positionen und Begriffe. 6 4 Schellong: Jenseits von politischer und unpolitischer Theologie, S.300.
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rechtfertigen und zu heiligen,65 und schon im Römerbrief von 1922 wurde Religion als Gesetz verstanden: "Christus (aber) ist des Gesetzes Ende, die Grenze der Religion."66 Dies impliziert gleichzeitig eine Kirchenkritik, wenn Kirche sich zum Sachwalter der Religion macht: Es geht mit anderen Worten wieder um nichts anderes als um das Problem der natürlichen Theologie. Klaus Scholder hat darauf aufmerksam gemacht, daß das Verhältnis der katholischen Kirche zur Weimarer Republik und die Politik Pacellis nicht ohne Einfluß geblieben sei auf den ein neues Verhältnis zum Staate suchenden Protestantismus und dessen Kirchenverständnis, daß also die evangelische Kirche unbemerkt einen katholischen Kirchenbegriff entwickelte und übernahm, zu dem Barth in schärfstem Widerspruch gestanden habe.67 Dies mag so stimmen, aber die Kritik Barths entzündete sich nicht an institutionellen, sondern an theologischen Fragen, die seinem Verständnis nach gerade den institutionellen vorausgehen müssen. Die Institution Kirche als solche mit all ihren Mängeln und Schwächen, Unzulänglichkeiten und Fehlern anerkannte Barth gerade als sichtbare Kirche, die als solche eben Kirche unter dem Kreuz sei. Verlasse sie aber diesen Platz, d.h. sehne sie sich nach Vollkommenheit, dann suche sie sich einen anderen Gott: "Es hat ja von Anfang an einen solchen anderen Gott, ja viele solche anderen Götter gegeben, ein Pantheon des Großen, Wahren, Guten und Schönen, der offenkundigen Synthese ohne Niedrigkeit und konkrete Zumutung, ohne das Ärgernis des Menschlichen, Allzumenschlichen, eine erhabene Welt des Geistes, der Reinheit und der Liebe über der Trivialität und Absurdität der menschlichen Wirklichkeit, Inseln der Seligen, der Heiligen, der Freien und Vornehmen inmitten der Kümmerlichkeit, Bedingtheit und Dämonisierbarkeit des Lebens der viel zuvielen. Daß die Tatsache dieses Geistes- und Geisterreiches vielleicht die Tatsache der furchtbarsten aller Illusionen ist, das mag hier auf sich beruhen. Ausgesprochen sei hier nur das eine, daß die evangelische Kirche dieses herrliche Reich jedenfalls nicht ist."68 Diese schon in einem Vortrag aus dem Jahre 1931 gemachten Äußerungen machen deutlich, daß es Barth nicht so sehr um Verfassungsfragen ging, daß er der sichtbaren Kirche keinesfalls eine Gemeinschaft der Heiligen gegenüberstellen wollte. Es ging um theologische Fragen, auf deren Grundlage die Verfassung überhaupt zum Problem wurde und als solches auch erst erkannt werden konnte. "Wer Kirche sagt, muß, 6 5
Vgl. Barth: KDI,2, S.354. Barth: Röm.II S.220. Auch in der Kirchlichen Dogmatik wird Religion als die "Angelegenheit des gottlosen Menschen" verstanden (KDI,2 S.357), die christliche Religion aber sei nur insofern wahre Religion, wie der Sünder gerecht sei, nämlich als der von Gott gerechtfertigte Sünder. Sie trage die Wahrheit nicht in sich und verfüge nicht über sie, sie sei ihr geschenkt Nicht der Mensch wählt Gott, auch nicht in der christlichen Religion, sondern Gott wählt den Menschen, dies bleibt Barths unerschütterlicher Grundsatz. 6 7 Scholder: Eugenio Pacelli und Karl Barth, S.105. 6 8 Barth: Die Not der evangelischen Kirche, in: Ders.: Der Götze wackelt, S.47. 6 6
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wenn er nicht faseln will, auch Theologie sagen."69 Dies wird besonders in Theologische Existenz heute deutlich: Ein sogenanntes Dreimännerkollegium, das einen Verfassungsentwurf der angestrebten Reichskirche ausarbeiten sollte (Hermann Kapler, Präsident der DEK und zugleich der altpreußischen Union, für die letztere, August Marahrens, Landesbischof von Hannover, für die Lutheraner und der Studiendirektor Hermann Albert Hesse aus Elberfeld für den Reformierten Bund), veröffentlichte am 25.4.1933 folgende Erklärung: "Eine mächtige nationale Bewegung hat unser deutsches Volk ergriffen und emporgehoben. Eine umfassende Neugestaltung des Reiches in der erwachten deutschen Nation schafft sich Raum. Zu dieser Wende der Geschichte sprechen wir ein dankbares Ja. Gott hat sie uns geschenkt, ihm sei die Ehre. In Gottes Wort gebunden erkennen wir in dem großen Geschehen unserer Tage einen neuen Auftrag unseres Herrn an seine Kirche".70 Damit habe die Kirche ein politisches Urteil theologisch verkleidet und alle, die politisch anders dächten, aus der Kirche gedrängt. Barth verbindet diese Anklage mit dem Hinweis, daß sie das zur Zeit der Revolution von 1918 unterlassen habe: "Es kann sich wirklich nicht darum handeln, den Kirchenmännern, die damals durch ihr Schweigen, heute durch ihr Reden ihrem politischen Urteil Ausdruck gaben, dieses Urteil als solches, sofern es ihrer persönlichen Überzeugung entsprach, zu verübeln. Wer aber gab ihnen das Recht, dieses ihr Urteil im Namen der Kirche auszusprechen ... (und) die unternommene Erneuerung der Kirche sofort mit der Proklamierung eines unerhört neuen Erkenntnis- und Normprinzips zu eröffnen? Oder ist das nicht die Proklamierung eines unerhört neuen Erkenntnis- und Normprinzips in der evangelischen Kirche, wenn man offen erklärt, den 'neuen Auftrag unseres Herrn an seine Kirche' nicht etwa in der heiligen Schrift, sondern 'in dem großen Geschehen unserer Tage' erkannt zu haben?"71 Bemerkenswert ist hier, daß Barth das Schweigen der Kirche 1918 auch als eine politische Stellungnahme versteht - Nicht-Intervention ist Intervention -, womit er einen Hinweis gibt, wie er sein Schweigen bzw. seine Einschätzung, es sei nichts geschehen, verstanden wissen will. Jedenfalls kritisiert Barth vor diesem Hintergrund die geplante Verfassungsreform, d.h. die geforderte Einrichtung eines Bischofsamtes, weil der Bischof entweder ein reiner Titularbischof sein müsse - was die Aufregung um die ganze Sache nicht rechtfertige - oder aber ein Bischof katholischer Prägung mit Vollmacht und Lehrautorität. Führung im Sinne des letzteren könne es in der Kirche nicht geben. Dabei spricht sich Barth nicht einmal gegen Führung aus, aber fur ihn ist Führung etwas ganz anderes als wie für die Kirchenleitung und die DC: Führung ist für ihn immer nur Ereignis. Um deutlich zu 6 9 Barth: Die theologischen Voraussetzungen kirchlicher Gestaltung, in: ders.: Theologische Fragen und Antworten. Gesammelte Vorträge B.3, Zürich 1957, S.250. Zit. n. Barth: Theologische Existenz heute, S.37. 71 Ebenda, S.40.
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machen, wie er es meint, schlüpft er sogar in die Rolle eines Nationalsozialisten und erklärt: "Wäre ich Nationalsozialist, so würde ich (...) argumentieren: Wir Nationalsozialisten haben nicht das Amt eines Führers als gut und notwendig erkannt, um es dann mit Adolf Hitler zu besetzen. Sondern Adolf Hitler war àà, führte und war der Führer - keines Amtes bedürftig, denn nicht seine oberste Charge in unserer Partei und nicht das Reichskanzleramt macht ihn zum Führer, sondern weil er Führer ist, hat er diese Charge und mußte er beim Sieg unserer Partei Reichskanzler werden."72 Freilich denkt Barth hier, wenn er von dieser Art Führung spricht, nicht an Hitler, sondern an Luther und Calvin, damit auch nicht an charismatische Führung im Sinne Max Webers. Gerade der Bezug auf die Reformation verlangt, daß auch der Hintergrund beleuchtet wird, und der ist bei Luther wie bei Calvin eben kein charismatischer, sondern ein biblischer. Weder Luther noch Calvin haben das Charisma auf sich bezogen, sondern auf Christus hingewiesen. Die Reformation war nicht an ihren persönlichen Erfolg gebunden - ein für Max Weber wesentliches Kennzeichen charismatischer Herrschaft 73 - und daß Luther z.B. in diesem Sinne auch nicht als charismatischer Führer begriffen wurde, darauf macht besonders das von Lucas Cranach d.Ä. gemalte Altarbild in der Stadtkirche zu Wittenberg aufmerksam: Zwar wird Luther der Gemeinde, die Cranach in der linken Bildhälfte darstellt, in der rechten Bildhälfte gegenübergestellt und so von ihr unterschieden, auf einer Kanzel stehend auch herausgehoben, aber Luther deutet auf den gekreuzigten Christus, der das Bild von der Mitte aus beherrscht. Christus ist die Mitte der Kirche, so auch bei Barth. So sehr Barth den Staat als eine Institution denkt, an ihm als einer Institution festhält, so sehr denkt er die Kirche gerade nicht als eine Institution. Das Institutionelle ist für ihn beim Staat das wesentliche, in der Kirche aber nur von sekundärer Bedeutung. Seit dem Vortrag Quosque tandem aus dem Jahre 1930, als Barth glaubte, es sei nun der Augenblick gekommen, "um grob zu werden"74, hatte er seine Vorstellung einer evangelischen Kirche als einer bekennenden Kirche vertreten. Bekennende Kirche heißt für ihn, daß das Bekenntnis im Mittelpunkt kirchlichen Handelns stehen müsse unter Hintanstellung aller anderen Belange. "Es wäre der evangelischen Kirche besser, sie würde auf ein Zehntel oder Hundertstel ihres Bestandes zusammenschmelzen und dann und so wieder ein Licht werden für alles Volk, statt daß ihr Leben fortwährend gestört und zerstört wird von den Unzähligen, die sie, weil sie es in ihrer Not nicht aushalten, anders haben und offen oder heimlich anders machen möchten, als sie von Haus aus nun einmal allein sein kann."75 Auf den ersten Blick scheint 7 2 73 7 4 75
Ebenda, S.47f. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen 1985, S. 654ff. Barth: Quosque tandem? in: Ders.: Der Götze wackelt, S.28. Ders.: Die Not der evangelischen Kirche, S.42.
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Barth hier, denkt man das Zehntel und Hundertstel konsequent weiter und kommt dann schließlich zu dem Einzigen, die katholische Lösung des Problems zu propagieren. Doch dieser eine, und darin unterscheidet sich Barths Auffassung von der des Katholizismus, wäre dann ja Prophet, was der Papst ausdrücklich nicht ist. Dagegen liegt die Annahme nahe, daß Barth mit dieser Auffassung an die Lehre von dem unus solus anknüpft, über deren Bedeutung für das Institutionenverständnis der Reformation Herfried Münkler schreibt: "Die traditionelle Vorstellung, der wahre christliche Glaube bestehe fort, selbst wenn nur noch ein einziger Mensch, 'unus solus', daran festhalte, erhielt plötzlich anti-institutionelle Sprengkraft." 76 Dies wird von Barth aber noch insofern radikalisiert, als für ihn dieser Einzige letztlich nur Christus selbst sein kann. Dem zweiten Teilband des ersten Bandes der Kirchlichen Dogmatik stellte Barth statt eines Vorwortes ein Lutherzitat voran: "Wir sind es nicht, die da künden die Kirche erhalten", heißt es da, denn "du und ich sind vor tausend jaren nichts gewest, Da dennoch die Kirche on Uns erhalten worden, Und hats der müssen thun, der da heißt, Qui erat, und Heri. So sind wirs jetzt auch nicht bey unserm Leben, Denn die Kirche wird durch uns nicht erhalten, weil wir dem Teufel im Bapst, Rotten und bösen Leuten nicht können wehren, Und unser halben die Kirche für unsern äugen, und wir mit ir, müsten zu gründe gehen (wie wir täglich erfahren) wo nicht ein ander Man were, der beide die Kirche und uns scheinbarlich erhielte". Mit seinem Kirchenverständnis hat sich Barth in der Tat von der Vorstellung Calvins distanziert, der betont hatte, "daß die subjektive Auslegung der Schrift zu religiöser Willkür führen müsse, daß es daher einer strikten Autorität bedürfe, die diese Interpretationsleistung erbringen könne, weil der einzelne, obgleich mit Vernunft begabt, zum Irrtum neige."77 Freilich hatte auch Calvin nicht ausschließlich auf Institutionen gesetzt, die "starke Betonung der Institutionen und des Amtsgedankens mit ihrer Tendenz der Depersonalisierung von Herrschaft findet in den 'öffentlichen Erweckern' (Inst. IV,20,30), den manifesti vindices, ein personales Gegenprinzip, das darauf hindeutet, daß den Institutionen eben noch nicht vollständig vertraut wird. Im Zusammenhang mit den Erwägungen zum Widerstandsrecht spricht Calvin davon, daß légitima Dei vocationa, also durch rechtmäßige, göttliche Berufung, außerordentliche Persönlichkeiten ähnlich den Propheten des Alten Testaments - einem manifesten Elend, das durch institutionelle Selbstkorrektur nicht behoben werden kann, spontan entgegentreten sollen: Personale Korrektur also dann, wenn im Ausnahmefall das Institutionen- und Ämtersystem krisenhaft versagt."78 Aber wer soll die 7 6 Göhler/Lenk/Münkler/Walther (Hrsg.): Politische Institutionen im gesellschaftlichen Umbruch. Ideengeschichtliche Beiträge zur Theorie politischer Institutionen. Opladen 1990, S.85. 7 Bermbach: Zum Institutionsverständnis in der Zeit der Reformation, in: Göhler u.a.: Politische Institutionen im gesellschaftlichen Umbruch, S.173. 78 Ebenda, S.177.
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Rechtmäßigkeit feststellen, wer entscheidet in der Kirche über den Ausnahmezustand? Die von Barth betonte konkurrenzlose Souveränität Gottes radikalisiert die Vorstellung über den unus solus von daher dahingehend, daß schließlich und endlich nur Christus selbst gemeint sein kann, so daß er mit seinem Kirchenverständnis, wie dies auch schon das als Vorwort genutzte Lutherzitat andeutet, auf lutherischem Boden steht.79 Damit ist nicht gesagt, daß die Institution Kirche Barth völlig gleichgültig gewesen wäre. "Es gibt keine Flucht von der sichtbaren zur unsichtbaren Kirche"80, aber nicht die Kircheneinheit, nicht Toleranz, sondern die Verkündigung des Evangeliums stehe im Mittelpunkt, also die Reinheit der Lehre, die keine Kompromisse dulde. "Der Ursprung der Toleranzidee liegt in politisch-philosophischen Erkenntnissen, die dem Evangelium nicht nur fremd, sondern entgegengesetzt sind. Ihr Sieg in den verschiedenen Kirchen war ein Dokument der inneren Schwäche, nicht der inneren Stärke dieser Kirchen."81 Wohlgemerkt, nicht vom Staat, sondern von der Kirche ist hier die Rede. Hier bedeute Ungehorsam, "daß dem Natürlichen, dem Individuellen, dem Völkischen, dem menschlich Geistigen und Moralischen, der historischen Beharrlichkeit ein Raum und eine Würde gegeben worden ist, die ihnen nicht zukommen können."82 Die Kirche kann dem Staat gegenüber nicht den Dienst tun, diese Dinge zu heiligen, weil sie dann ihrer Verantwortung weder gegenüber dem Evangelium noch, wie noch zu zeigen sein wird, gegenüber dem Staat gerecht werden könnte. Daß es eine unsichtbare Einheit innerhalb der Vielfalt der Kirchen dennoch gibt, zeigt sich für Barth darin, daß sich nicht die theologisch Interessierten und Bewegten von Kirche zu Kirche nicht verstünden, "sondern gerade die theologischen Müßiggänger, Amateure, Eklektiker und Historiker hüben und drüben".83 Es sind also gerade die Theologen, die die Einheit schaffen, aber freilich nur in Zeiten der Anfechtung. Das Zustandekommen der Barmer Theologischen Erklärung, dem Gründungsdokument der späteren Bekennenden Kirche, sollte ihm hier recht geben. Eine Verwechslung mit Carl Schmitts Überlegungen zur Herstellung politischer Einheit, d.h. Schmitts Dezisionismus, würde aber nicht berücksichtigen, daß es bei Barth hier eben nicht um den Staat, sondern um die Kirche geht und darum, daß sie das Monopol der Theologie behält. Barth stellt so sein Kirchenbild in den Zusammenhang mit der Reformation, wozu ihm gerade das Lutheijahr 1933 genügend Anlaß geboten hat. Be7 9
Zu Luthers Kirchenverständnis vgl. auch Kodalle: Institutionen - Recht - Politik im Denken Martin Luthers, in: Politische Institutionen im gesellschaftlichen Umbruch. 8 0 Barth: Die Kirche und die Kirchen (1935), in: ders.: Theologische Fragen und Antworten, S.219. 81 Ebenda, S.223f. 82 Ebenda, S.227. 83 Ebenda, S.231.
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kenntnis sei Entscheidung auf der Basis der Heiligen Schrift; aber dann weiter: "Sich entscheiden heißt: sich in Freiheit seiner Freiheit entäußern. Wer sich entschieden hat, der hat sich gebunden ,"84 Frei bleiben dürfe alleine, so Barth in einem Vortrag am Vorabend der Kirchenwahlen am 22. Juli 1933, das Evangelium: "Wenn die Kirche neben die heilige Schrift andere Bücher legt, wenn sie Moral predigt neben oder statt Gottes Wort, wenn sie kein eigenes Leben in die Sichtbarkeit zu stellen sich getraut, dann ist die Freiheit des Evangeliums in ihr dahin. (...) Hier gibt es kein 'Sowohl- als- auch', hier gilt: Entweder-Oder."85 Wenn Barth alle Belange der Kirche diesem EntwederOder unterordnet, dann natürlich auch die Kircheneinheit, die er insbesondere im Hinblick auf die DC nicht mehr als gegeben sieht - wobei natürlich, wie schon gesagt, auch die Kirchenleitung 1933 mit ihrer Bejahung eines politischen Sachverhaltes und seiner theologischen Legitimierung die Kircheneinheit stillschweigend aufgekündigt hatte, ohne sie genuin theologisch, sondern politisch zu begründen. Anders Barth: "Die Einheit der Kirche, wie wir sie jetzt zu kennen meinen, muß der Einheit in der Wahrheit geopfert werden."86 Das Bekenntnis, so Barth, bedeute "explizit oder implizit immer eine Polemik, eine Negation, ein damnamus"87 - entweder nach innen oder nach außen gerichtet, dürfen wir ergänzen. So wie für Schmitt der Begriff des Staates den des Politischen voraussetzt, so setzt für Barth der Begriff der Kirche die Theologie und damit die Unterscheidung zwischen Häresie und Theologie voraus. Die geplante Kirchenreform der DC stellte für Barth schlicht und einfach den Versuch dar, die Reformation rückgängig zu machen. Theologie sollte einer Form der Repräsentation unterworfen werden, nämlich der Repräsentation des deutschen Volkes, dem heilsgeschichtliche Bedeutung zuerkannt wurde. Das mag schließlich das Interesse erklären, mit dem Carl Schmitt die Auseinandersetzungen im Protestantismus verfolgte und in die er auch indirekt einzugreifen suchte. Der DC-Bischof von Köln-Aachen nämlich, Heinrich Oberheid, der Ende des Jahres 1933 Führer der DC und engster Berater des Reichsbischofs Ludwig Müller wurde, stand jedenfalls in enger Verbindung mit Carl Schmitt. Oberheid habe sich in seinen kirchenpolitischen Vorstellungen und Zielen, so Klaus Scholder, von Schmitts Verständnis des nationalsozialistischen Deutschlands als eines totalen Staates leiten lassen, demzufolge mit der nationalsozialistischen Revolution die Weimarer Verfassung nicht nur zeitweilig außer Kraft gesetzt, sondern gänzlich abgeschafft worden und entsprechend auch dem bisherigen Verhältnis zwischen Staat und Kirche der rechtliche Boden entzogen worden sei. Das Verhältnis sollte nun im Sinne der 84 85 86 8 7
Barth: Reformation als Entscheidung, in: Der Götze wackelt, S.75. Ders.: Für die Freiheit des Evangeliums. München 1933, S.8. Ebenda, S.9. Ders.: Das Bekenntnis der Reformation und unser Bekennen. München 1935, S.7.
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neuen Totalität, d.h. als Unterwerfung unter den Willen des Führers, bestimmt werden.88 Scholder weist zudem noch auf den Schmittschüler Ernst Forsthoflf hin, dessen Vater Heinrich Forsthoff zu den führenden DC-Pfarrern im Rheinland gehörte, und der sich in einem unter dem Pseudonym Friedrich Grüter erschienenen Aufsatz Gegen ein evangelisches Konkordat im zweiten Septemberheft der Zeitschrift Deutsches Volkstum 1933 gegen einen Vertragsabschluß zwischen Reich und evangelischer Kirche zugunsten einer Gleichschaltung gewandt hatte.89 Wenn nun auch dieser Beitrag, wie andere aus dem Umkreis Schmitts, gerade die Selbstbehauptung des Protestantismus gegenüber dem Katholizismus zum Ziel zu haben vorgab, Schmitts Verständnis des Verhältnisses von Theologie und Kirche, seine katholisch geprägte Vorstellung, daß die Theologie einem Lehramt zu unterwerfen sei, läßt vermuten, daß er noch andere Ziele verfolgte. Für Schmitt schien sich die Chance zu bieten, daß neben der Unterwerfung der Theologie unter ein juridisch gefaßtes Lehramt im Protestantismus und gleichzeitig über den protestantischen Verzicht auf Sichtbarkeit der Kirche im totalen Staat die Reformation endgültig rückgängig gemacht werden könnte. Auf die Sichtbarkeit einer evangelischen Kirche sollte ja ausdrücklich auch verzichtet werden, wie Forsthoff in seinem Beitrag Die staatliche Totalität und die evangelische Kirche für das deutsch Adelsblatt Nr.51 (1933) schrieb.90 Dieser Verzicht, verbunden mit dem Verzicht auf Theologie, die ja damit auschließlich dem Willen des Führers dienstbar gemacht werden sollte, mußte für den Katholiken Schmitt noch andere Konsequenzen haben als für die DC - dem totalen Staat stand als einige christliche Stimme nur noch der Papst in Rom gegenüber, ein Verhältnis, das keine Theologie mehr hätte stören können und das juristisch im Konkordat abgesichert wurde. Über die Auseinandersetzung mit der DC setzte sich Barth hier unbemerkt mit Carl Schmitt auseinander, und zwar gerade in der Frage, um die sich im Verhältnis beider alles drehte: ist die Kirche der Theologie oder ist die Theologie der Kirche zu unterwerfen? Daß beide sich nicht wenigstens in dieser Situation die Ehre erwiesen haben, sich gegenseitig beim Namen zu nennen, wobei nicht nur Schmitt wahrnehmen mußte, daß ihm der größte Widerstand von Seiten Barths entgegengesetzt wurde, sondern auch Barth sicher den Hintergrund Oberheids kannte, bleibt allerdings unerklärlich. So sehr nun aber Barths Äußerung, er treibe Theologie, als wäre nichts geschehen, von den DC und den Nationalsozialisten als Kampfansage verstanden werden mußte, so konnte sie doch auch als Gleichgültigkeit gegenüber der untergehenden Weimarer Republik interpretiert werden. Vertrat hier Barth denn im Grunde nicht auch eine der neoscholastischen Position gegenüber 88
Scholder: Die Kirchen und das Dritte Reich Band 2: Das Jahr der Ernüchterung 1934. Rom und Barmen. Berlin 1985, S.19ff. 8 9 Ebenda, S.22f. 9 0 Ebenda, S.24.
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ähnliche Auffassung, d.h. die Sicherung hehrer dogmatischer Grundsätze gegenüber der geschichtlichen Realität? Zwar heißt es am Ende von Theologische Existenz heute: HWo ist alles hingekommen, was noch vor einem Jahr und vorher hundert Jahre lang Freiheit, Recht und Geist hieß?" aber gleich anschließend schreibt Barth: "Nun, das sind zeitliche und irdische Güter. Alles Fleisch ist wie Gras ... H91 Gerhard Sauter geht sogar noch einen Schritt weiter, wenn er über Barth schreibt: "Auch er hat, trotz tiefster Abneigung gegenüber der braunen Revolution, das Toihne Unternehmen des totalen Staates' zunächst als ein Experiment angesehen, das man nicht nur von seinen politisch fragwürdigen Voraussetzungen, sondern auch von seinen sozialen Folgen her beurteilen müsse, und diese Betrachtungsweise hat sich erst allmählich als fatal herausgestellt."92 Dagegen spricht aber nicht nur Barths Verständnis des Bekenntnisses, sondern auch sein politisches Engagement während der Endphase der Weimarer Republik, das hier in zwei Beispielen dokumentiert werden soll. Als sein Freund und Kollege Günther Dehn 1931 auf den Lehrstuhl für praktische Theologie in Halle berufen wurde, drohte die Studentenschaft auf Grund der pazifistischen Überzeugung und einiger Äußerungen Dehns über Krieg und Soldaten aus dem Jahre 1928 mit Krawallen und Abwanderung. Eine Berufung Dehns nach Heidelberg war aus diesem Grunde schon einmal gescheitert, und nun gab Barth seine Zurückhaltung, die er sich als Schweizer in politischen Dingen aufzuerlegen verpflichtet fühlte, auf und unterstützte Dehn öffentlich. Im gleichen Jahr, und zwar am 1.5.1931, trat Barth der sozialdemokratischen Partei bei, "bei der er jetzt die 'Erfordernisse einer gesunden Politik' am besten wahrgenommen fand." 93 Neben dem Eintritt in die SPD ist von noch größerer Bedeutung, daß er, wie schon gesagt, nicht aus ihr austrat, als die Partei ihre Mitglieder im Beamtenstatus nach dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums forderte, ihren Status nicht der Parteimitgliedschaft zu opfern. Barth behielt sein Parteibuch und bekannte sich zur Sozialdemokratie auch über das Veibot der SPD hinaus. Dies ist zunächst vom zuständigen Kultusminister Rust toleriert worden unter der Auflage, daß Barth keine Zellen bilden dürfe. Als Barth nach dem Tode des Reichspräsidenten Hindenburgs den persönlichen Eid auf den Führer verweigerte bzw. nur mit dem Zusatz: "soweit ich es als evangelischer Christ verantworten kann", leisten wollte, wurde er zunächst vom Dienst suspendiert und schließlich am 20.12.1934 in einem Urteil der Dienstkammer bei der Regierung in Köln dienstentlassen. Nachdem aber die VKL 91
Barth: Theologische Existenz heute, S.85f. Sauter: "Freiheit" als theologische und politische Kategorie, in: Bekenntnis, Widerstand, Martyrium, S.151. 93 Busch, S.230. 9 2
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(Vorläufige Kirchenleitung der mittlerweile schon bestehenden Bekennenden Kirche) und der reformierte Bund im Dezember erklärt hatten, daß ein Eid durch die Berufung auf Gott stets ein Tun gegen das in der Schrift bezeugte Wort ausschließe, bestand Barth nicht mehr auf dem Zusatz und erreichte überraschenderweise in der Berufung vor dem Berliner Oberverwaltungsgericht im Juni 1935, die von der VKL übrigens nicht unterstützt worden war, eine Aufhebung des Kölner Urteils. Kultusminister Rust, der die Berliner Entscheidung nicht akzeptieren wollte, versetzte Barth in den Ruhestand, worauf dieser einen Ruf der Universität Basel annahm und Deutschland verließ. Besonders Hans Prolingheuer hat darauf hingewiesen, daß der Weggang Barths nicht so sehr vom nationalsozialistischen Deutschland als vielmehr von seinen Gegnern in der Bekennenden Kirche betrieben worden ist, die ihm keine Wirkungsmöglichkeit mehr bot, was denkbar gewesen wäre. Dennoch, trotz diesem politischen Engagement bleibt der bittere Nachgeschmack, daß dieses in Theologische Existenz heute geäußerte als wäre nichts geschehe auch auf den Untergang der Weimarer Republik bezogen war. Hinweise dafür finden sich durchaus im Text, wie etwa folgender: "Die Kirche glaubt an die göttliche Einsetzung des Staates als des Vertreters und Trägers der öffentlichen Rechtsordnung im Volke. Sie glaubt aber weder an einen bestimmten, also auch nicht an den deutschen Staat, und sie glaubt an keine bestimmte, also auch nicht an die nationalsozialistische Staatsform"94 - und ebenfalls nicht an die rechtstaatliche, muß bzw. kann hinzugefügt werden. Freilich konnte man hier auch schon Kritik herauslesen - es widerspricht nationalsozialistischer Staatsauffassung diametral, den Staat als von Gott eingesetzt zu betrachten -, aber im Großen und Ganzen darf vor dem Hintergrund der Theologie Barths vermutet werden, daß er ein deutliches theologisches Wort für die Republik nicht sprechen wollte, ohne daß er vorher das Verhältnis von Kirche und Staat noch einmal theologisch durchdacht hatte, um sich nun nicht gerade jetzt dem Vorwurf auszusetzen, er betreibe doch auch nur das, was er seinen Gegnern unablässig vorwarf, nämlich natürliche Theologie. Seine eigenen Waffen hätten sich gegen ihn selbst gewendet. Schließlich ging es Barth noch um etwas anderes. Er betonte ja, daß der Nationalsozialismus noch nicht als totaler Staat auftrete. 95 In dieser Situation wollte er die Getreuen sammeln und Standpunkte einnehmen gegen eine Gefahr, die er kommen sah: "Es würde so vielleicht auch ein Widerstandszentrum gegen die der Kirche heute von außen drohenden Gefahren gebildet"96; und dies sprengt den Rahmen der Kirchenpolitik, so auch, wenn es am Ende heißt, daß das deutsche Volk der Mahnungen noch bedürfe. Die Kirche ist die Grenze des totalen Staates - und
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Barth: Theologische Existenz heute S.59. Ebenda, S.38. Ebenda, S.79f.
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damit erinnert sie an die Unmöglichkeit des totalen Staates. Auf der Seite des sich als total verstehenden Staates hat man das verstanden. e) Die Barmer Theologische Erklärung Die Barmer Theologische Erklärung wird nicht als eine Bekenntnisschrift der evangelischen Kirche betrachtet, da sie im Verständnis des Luthertums nicht den Rang eines Bekenntnisses hat. Von daher erklärt sich die Bezeichnung Erklärung. In den Gesangbüchern der reformierten Gemeinden aber ist sie abgedruckt und in einigen Landeskirchen der EKD werden die Pfarrer auf sie vereidigt. Wie es zu diesem Gründungsdokument der Bekennenden Kirche gekommen ist, soll hier nur kurz skizziert werden. Die DC hatten in den Kirchenwahlen im Juli 1933 einen Wahlsieg errungen und besetzten in der Folge fast alle leitenden Stellen in den meisten Landeskirchen. Die von ihnen auch dominierte Nationalsynode der neuen Reichskirche wählte im September 1933 Ludwig Müller zum Reichsbischof. Erst am 13. November, nach der schon angesprochenen Sportpalastkundgebung, fand diese Glaubensbewegung ihr Ende und versank in der Bedeutungslosigkeit - und mit ihr auch die Reichskirche und der Reichsbischof. Es sei an dieser Stelle noch darauf hingewiesen, daß die DC ein Konglomerat verschiedener Strömungen bildeten und innerhalb der nationalsozialistischen Bewegung keineswegs unumstritten waren. Sie verstanden sich dort als ein Gegengewicht gegenüber der völkischen Richtung, die Alfred Rosenberg repräsentierte, und forderten natürlich den Widerstand dieser Seite heraus. Die Unterstützung durch die Partei war daher im Kirchenkampf nur halbherzig, was nicht nur darauf zurückgeführt werden kann, daß Hitler das konservative und überwiegend kirchlich-protestantische Bürgertum nicht brüskieren wollte, sondern daß die Auseinandersetzungen innerhalb der Kirche die ideologischen Differenzen in der Partei offenlegten. Hitlers Schwäche, das sei abschließend zu Hitler noch gesagt, zeigte sich so gerade in seiner Kirchenpolitik, weil hier sein Instinkt völlig versagte. Hitler überschätzte den Glauben anderer an Verfassungen, obgleich er doch an sich selber hätte studieren können, wie wenig sie bedeuten können. Er war Katholik und kannte die evangelische Kirche nicht. Darum setzte er auch im Bereich des Protestantismus auf die katholische Lösung, nämlich auf Verfassung und Bischof an der Spitze. Daß das alleine schon auf konfessionelle Grenzen stoßen mußte, hat er wohl nie begriffen. Sein Interesse an Kirchenfragen erlosch ziemlich rasch. Schon vor dem Sieg der DC in den Juliwahlen hatte es auf Gemeindeebene Versuche des organisierten Widerstandes gegen die Gleichschaltungsbemühungen gegeben, vor allem im reformierten Lager. Die geplante Durchführung des Arierparagraphen durch DC-dominierte Synoden führte dann im Septem-
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ber 1933 zur Gründung des Pfarrernotbundes. Im Januar 1934 trat die freie reformierte Synode zusammen, deren Resolution über das rechte Verständnis des reformatorischen Bekenntnisses von nachfolgenden freien Synoden, also von Synoden, die durch Gemeinden beschickt worden waren, in denen nicht oder, nach dem Sportpalastskandal, nicht mehr die DC die Mehrheit stellten. Zum Pfarrernotbund und den freien Synoden gesellten sich noch die Bischöfe der intakt gebliebenen Landeskirchen Bayern (Meiser) und Württemberg (Wurm), d.h. der Landeskirchen, in denen sich die DC bei den Wahlen nicht hatten durchsetzen können. Diese Gruppierungen bildeten im April 1934 die Bekenntnisgemeinschaß der Deutschen Evangelischen Kirche, deren A schuß bzw. Bruderrat die Einberufung einer Bekenntnissynode nach Barmen für die Tage vom 29.5. bis 31.5.1933 beschloß. Der Altonaer Pfarrer Hans Asmussen, der Münchner Oberkirchenrat Thomas Breit und Karl Barth wurden beauftragt, ein theologisches Programm zu entwerfen. Der Erlanger Kirchenhistoriker Herrmann Sasse sollte diesen Kreis noch ergänzen, er erkrankte aber und konnte bei dem Treffen in Frankfurt a. M. am 15. und 16. Mai 1933 nicht anwesend sein. Während des Mittagsschlafes von Asmussen und Breit entwarf Barth alleine die Barmer Theologische Erklärung - er spottete später: MDie lutherische Kirche hat geschlafen und die reformierte Kirche hat gewacht"97. Dieser sogenannten Frankfurter Konkordie ist besonders von lutherischer Seite widersprochen worden, sie stand bis zur Synode immer wieder auf der Kippe, setzte sich aber schließlich, nur unwesentlich verändert, durch, was wohl nicht ohne den Zeit- und Erfolgsdruck möglich gewesen wäre. Die erste von insgesamt sechs Thesen - alle stellen ein Schriftzitat voran, gefolgt von einer Erläuterung und abgeschlossen durch eine Verwerfung bekennt die Gebundenheit der Kirche an das Evangelium Jesu Christi, neben dem keine anderen Quellen der kirchlichen Verkündigung anerkannt werden dürften. Die zweite These betont entsprechend, daß es außer Christus keine anderen Herren der Kirche gebe unter Verwerfung der Lehre, "als gebe es Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären, Bereiche, in denen wir nicht der Rechtfertigung und Heiligung durch ihn bedürften." 98 Besonders die Verwerfung macht deutlich, daß Christus nicht nur als der Herr der Kirche verstanden wird, und somit weist die zweite These schon auf die fünfte These hin, die speziell das Verhältnis von Staat und Kirche thematisiert. Die dritte These weist den Anspruch zurück, die Kirche müsse ihre Botschaft jeweils herrschenden weltanschaulichen oder politischen Überzeugungen anpassen, die vierte These ver9 7 Barth in einem Gespräch mit Tübinger Studenten über die Entstehungsgeschichte der Barmer Theologischen Erklärung in: Barth: Texte zur Barmer Theologischen Erklärung. Zürich 1984, S.222 9 8 Die Barmer Theologische Erklärung. Einführung und Dokumentation. Hrsg. v. Burgsmüller/ Weth. Neukirchen-Vluyn 1984, S.35.
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wirft das Führerprinzip in der Kirche. Die sechste These betont abschließend die Aufgabe der Kirche, in Wort und Sakrament die freie Gnade Gottes zu verkündigen und verwirft die Vorstellung, diese Aufgabe müßte anderen Aufgabe untergeordnet oder dienstbar gemacht werden. Die fünfte These handelt, wie schon gesagt, über den Staat und nimmt, anders, als man es vielleicht erwartet hätte, nicht Bezug auf Röm 13, sondern auf den 1. Petrusbrief. Sie lautet im Ganzen: "Fürchtet Gott, ehret den König." (l.Petr 2,17) Die Schrift sagt uns, daß der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat, in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen. Die Kirche erkennt in Dank und Ehrfurcht gegen Gott die Wohltat dieser seiner Anordnung an. Sie erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten. Sie vertraut und gehorcht der Kraft des Wortes, durch das Gott alle Dinge trägt. Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen. Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne sich die Kirche über ihren besonderen Auftrag hinaus staatliche Art, staatliche Aufgaben und staatliche Würde aneignen und damit selbst zu einem Organ des Staates werden."99 Martin Honecker betrachtet diese These als den Ansatz "für eine entschiedene Annahme der rechtsstaatlichen Demokratie" nach 1945, sieht allerdings These 2 in Spannung zu These 5 stehen: "Während die fünfte These mit ihrer Unterscheidung der Aufgaben von Kirche und Staat im Sinne der Zweireichelehre zu deuten ist, wurde die zweite These der Anknüpfungspunkt für die Programmformel der Königsherrschaft Jesu Christi."100 Barth hat sich aber in späteren Interpretationen der Barmer Theologischen Erklärung zu diesem Widerspruch bekannt und ihn in Rechtfertigung und Recht (1938) aufzulösen versucht. Jedenfalls war es seUie Auffassung, daß die 2. These nicht ohne die 5. These und umgekehrt zu haben sei. Eine Vermischung beider Bereiche möchte aber auch Walter Kreck vermeiden, wobei er selber deutlich das Gewicht auf die Linie der Königsherrschaft Jesu Christi im Sinne der Vermischung legt, wenn er schreibt, die zweite These beinhalte eine Limitierung des Staates, menschenwürdiges Dasein möglichst aller als staatliche Aufgabe (Sozialstaatsgebot) und eine dieser Aufgabe entsprechende
9 9
Ebenda, S.38. Honecker: Evangelische Theologie vor dem Staatsproblem, S.14.
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Verfassung. 101 Kreck sieht weiterhin in Barmen und in späteren Ausführungen Barths keine christozentrische Staatslehre begründet, denn eine solche setze "eben doch ein Sein des Staates voraus, dessen Begründung und nähere Beschreibung man dann aus der Bibel erheben möchte."102 Bestreitet Kreck hier den Ansatz einer Staatslehre, weil er eine theologische Überhöhung des Staates vermeiden will, so hat Martin Honecker gerade die Selbständigkeit und eigenständige Würde des Staates im Blick, wenn er schreibt, daß der evangelische Glaube "nicht über eine zeitlos gültige, in sich geschlossene Staatslehre" verfüge. 103 "Bereits bei Karl Barth blieb letztlich offen, ob er beanspruchte, eine Staatslehre theologisch zu begründen und zu vertreten darauf weisen einige seiner Aussagen unverkennbar hin - oder ob er nur einen theologischen Beitrag zur Zeitdeutung leisten wollte, wofür die Berufung auf ein prophetisches Mandat anzuführen wäre."104 Dagegen hat Eberhard Jüngel betont, daß sich Barth das Problem des Staates "als eine fundamentaltheologische Aufgabe gestellt (hat), über deren Lösung bereits im Zusammenhang der Lehre vom Wort Gottes - und nicht etwa erst in der theologischen Ethik - entschieden wird." 105 Post ressurectione Christi übernimmt aber die Dogmatik das Amt der Prophetie, sie vertritt jetzt gegenüber den Mächten und Gewalten die Aufgabe, auf das erste Gebot hinzuweisen, und diese Aufgabe bleibt zeitlos, ist permanent. Eine theologische Aussage unterliegt keiner Zeitbedingtheit in dem Sinne, sie könne einmal gelten und einmal nicht. Barths Überlegungen zum Staat erheben somit sehr wohl den Anspruch, eine theologische bzw christologische Staatslehre zu sein, was gerade die Einheit von These 2 und These 5 in ihrer Spannung ausdrücken soll. Barths Anekdote von der schlafenden lutherischen Kirche im Zusammenhang mit dem Bezug auf l.Petr 2,17 anstatt auf Röm 13 läßt die Vermutung aufkommen, er habe sich hier von Luther gänzlich distanzieren wollen106, Wolfgang Pöhlmann macht dagegen darauf aufmerksam, "daß zwar die 'Akzentverschiebung* von Röm 13 zu l.Petr 2 nicht zu leugnen ist, daß aber die große Antithese zwischen einem bekennenden und einem schweigend gehorchenden Christentum weder neutestamentlich noch reformatorisch zu halten ist, sondern spätneuzeitliche Entwicklungen aufs Korn nimmt"107 - will
101 Kreck: Das Verständnis von Barmen I I unter dem Stichwort "Königsherrschaft Christi", in: Burgsmüller (Hrsg.): Zum politischen Auftrag der christlichen Gemeinde (Barmen II). Gütersloh 1974 S.79f. 102 Ebenda, S.70. 103 Honecker: Evangelische Theologie vor dem Staatsproblem, S.8. 104 Ebenda, S.24. 105 Jüngel: Zum Verhältnis von Kirche und Staat nach Karl Barth, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche, Beiheft Nr.6, Tübingen 1986, S.77. 106 Vgl. Huber: Folgen christlicher Freiheit. Ethik und Theorie der Kirche im Horizont der Barmer Theologischen Erklärung, 1983.
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sagen, daß weder die Schrift aufzuteilen sei in einen obrigkeitstreuen Paulus und einen den Staat eschatologisch relativierenden Jesus, noch daß dies auf die Reformatoren übertragen werden dürfe. Barth selbst hat die fünfte Barmer These später als einen "Versuch der Umschreibung von Röm 13" bezeichnet108 und schon in einem Vortrag am 9. Juni 1934 auf das in Barmen betonte Verständnis des Staates als einer Anordnung (