»München wird moderner«: Stadt und Atmosphäre in den langen 1960er Jahren [1. Aufl.] 9783839422823

München ist in den langen 1960er Jahren eine Stadt, in der alles vorstellbar und vieles möglich geworden ist. »München w

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German Pages 482 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
1. „MÜNCHEN. DEUTSCHLANDS HEIMLICHE HAUPTSTADT“
Dichte Beschreibung. Kultur als Gewebe
Im Organismus der Stadt. Ein empathischer Blick
2. MÜNCHEN. „HEIMAT UND WELTSTADT“ IN DEN LANGEN 1960ER JAHREN
Stadt und Gesellschaft in der Bundesrepublik
„München wird Olympiastadt!“
An der Schnittstelle. Relationen
3. „JA, MÜNCHEN! MÜNCHEN, WAS IST MÜNCHEN?“
Residenzstadt. Habitus und Dispositionen
„Schönes München“. Aus der Biographie der Stadt
Unter der Krone. „Festliches Bayernland“
Kunststadt und Bierstadt. Urbane Geschmackslandschaften
Schwabing und Wahnmoching
Zwischen Kriegen und politischen Extremen
4. MÜNCHEN LEUCHTET. ÄSTHETIK UND ATMOSPHÄRE
„Lebenskreise einer Stadt“ – „Das Münchner Jahr“
Wahrnehmung und ästhetische Wirklichkeit
Städte und Atmosphären
Befindlichkeiten und Situationen
5. ZEITREISEN. SZENENBILDER. STADTANSICHTEN
Urbane Anthropologie und historische Ethnographie
Kulturanalyse als Modus der Stadtforschung
6. 800 JAHRE MÜNCHEN. STADT UND REPRÄSENTATION
Die „Jubiläums-Ausstellung 1958“
Festwochen und ein nächtlicher Umzug
7. „MÜNCHEN OLYMPIASTADT 1972!“
Invitation to Munich. Entscheidung in Rom
Beziehungen, Netzpläne und Organisationsstrukturen
8. „MÜNCHEN WIRD MODERNER“. STADTENTWICKLUNG IM DISKURS
Der Jensen-Plan und das Münchner Forum. Prozesse und Positionen
Großstadträume. Neuperlach und der Arabellapark
S-Bahn, U-Bahn, Fußgängerbereich. „Ein neues Stadtgefühl“
9. „MÜNCHEN – WELTSTADT MIT HERZ“
München Hauptbahnhof. Munich Central Station
„Der Viktualienmarkt – ein letztes Reservat Altmünchner Gemütlichkeit“
„München macht weltweite Mode: Dirndl, weil sie so kleidsam sind“
10. „SCHWABING IST DER GROSSZÜGIGSTE BEZIRK DER TOLERANTEN STADT.“
„Zweite Heimat“, Sehnsuchtsort und Atmosphäre
Jugend als Lebensstil. Im Englischen Garten und auf der Leopoldstraße
In der Traumstadt. Von der Gentrifizierung einer Geschmackslandschaft
11. DIE SOMMERSPIELE DER XX. OLYMPIADE IN MÜNCHEN
Werte und Zeichen. „Dabei sein ist wichtig – nicht der Gewinn“
Das Oberwiesenfeld und die Geschichte von Väterchen Timofei
Unter dem Zeltdach. Architektur als Aufgabe und Vision
Olympia im Grünen. Eine urbane Parklandschaft
Otl Aicher und das visuelle Erscheinungsbild der Spiele
Olympia der kurzen Wege. Gesellschaft, Kunst und Raum
Der Königstiger Tuah. Ein Gastgeschenk aus Malaysia
Olympia der Musen und des Sports. „Ein Weltprogramm mit weißblauen Akzenten“
München 1972. Von den heiteren Spielen zur kosmopolitischen Tragödie
12. AM ENDE DER UTOPIE. SCHWABYLON
Stadt, Räume und Konfrontationen. „Weltstadt mit Herz vor dem Herzinfarkt?“
Zur Atmosphäre von München in den langen 1960er Jahren
13. BIBLIOGRAPHIE
Interviews und Gespräche
Vorträge und Termine
Quellen und Archive
Literatur und veröffentlichte Quellen
Film, Fernsehen und Internet
14. BILDER DER STADT. MÜNCHEN WIRD MODERNER
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»München wird moderner«: Stadt und Atmosphäre in den langen 1960er Jahren [1. Aufl.]
 9783839422823

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Simone Egger »München wird moderner«

Urban Studies

Simone Egger (Dr. phil.), Kulturwissenschaftlerin, arbeitet am Institut für Volkskunde/Europäische Ethnologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und ist als Kuratorin tätig. Ihr zentrales Thema ist die Stadtforschung.

Simone Egger

»München wird moderner« Stadt und Atmosphäre in den langen 1960er Jahren

Dissertation an der Ludwig-Maximilians-Universität München Hochschulpreis der Landeshauptstadt München 2012 Dissertationspreis der Münchner Universitätsgesellschaft 2012 Drucklegung mit freundlicher Unterstützung der Oskar-Karl-Forster-Stiftung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Im Olympischen Dorf 1972, Wolfgang Roucka, München Lektorat: Simone Egger, Christine Egger, Karl Egger, Barbara Lemberger, Julia Kastner Satz: Jenny Brouard, München Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2282-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

„Seien wir uns darüber im Klaren – München liegt ziemlich genau in der Mitte zwischen Hintertupfing und Paris.“ BAYERISCHES FERNSEHEN , „M ÜNCHEN BEI N ACHT “ IN DEN 1960 ER JAHREN

Mein Dank gilt besonders meiner Familie, meinen Betreuern Prof. Dr. Johannes Moser und Prof. Dr. Ferdinand Kramer, den zahlreichen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern, die mir von sich erzählt haben, und allen, die mir mit Rat und Tat zur Seite gestanden sind.

Inhalt

1. „M ÜNCHEN . D EUTSCHL ANDS HEIMLICHE H AUPTSTADT “ | 13 Dichte Beschreibung. Kultur als Gewebe | 16 Im Organismus der Stadt. Ein empathischer Blick | 20

2. M ÜNCHEN . „H EIMAT UND W ELTSTADT “ IN DEN L ANGEN 1960 ER J AHREN | 27 Stadt und Gesellschaft in der Bundesrepublik | 29 „München wird Olympiastadt!“ | 37 An der Schnittstelle. Relationen | 46

3. „J A , M ÜNCHEN ! M ÜNCHEN , WAS IST M ÜNCHEN ?“ | 55 Residenzstadt. Habitus und Dispositionen | 57 „Schönes München“. Aus der Biographie der Stadt | 60 Unter der Krone. „Festliches Bayernland“ | 66 Kunststadt und Bierstadt. Urbane Geschmackslandschaften | 72 Schwabing und Wahnmoching | 79 Zwischen Kriegen und politischen Extremen | 85

4. M ÜNCHEN LEUCHTET . Ä STHETIK UND A TMOSPHÄRE | 93 „Lebenskreise einer Stadt“ – „Das Münchner Jahr“ | 95 Wahrnehmung und ästhetische Wirklichkeit | 100 Städte und Atmosphären | 105 Befindlichkeiten und Situationen | 111

5. Z EITREISEN . S ZENENBILDER . S TADTANSICHTEN | 123 Urbane Anthropologie und historische Ethnographie | 128 Kulturanalyse als Modus der Stadtforschung | 142

6. 800 J AHRE M ÜNCHEN . S TADT UND R EPRÄSENTATION | 153 Die „Jubiläums-Ausstellung 1958“ | 155 Festwochen und ein nächtlicher Umzug | 166

7. „M ÜNCHEN O LYMPIASTADT 1972!“ | 171 Invitation to Munich. Entscheidung in Rom | 173 Beziehungen, Netzpläne und Organisationsstrukturen | 189

8. „M ÜNCHEN WIRD MODERNER “. S TADTENT WICKLUNG IM D ISKURS | 199 Der Jensen-Plan und das Münchner Forum. Prozesse und Positionen | 204 Großstadträume. Neuperlach und der Arabellapark | 215 S-Bahn, U-Bahn, Fußgängerbereich. „Ein neues Stadtgefühl“ | 221

9. „M ÜNCHEN – W ELTSTADT MIT H ERZ “ | 231 München Hauptbahnhof. Munich Central Station | 236 „Der Viktualienmarkt – ein letztes Reservat Altmünchner Gemütlichkeit“ | 255 „München macht weltweite Mode: Dirndl, weil sie so kleidsam sind“ | 261

10. „S CHWABING IST DER GROSSZÜGIGSTE B EZIRK DER TOLERANTEN S TADT .“ | 273 „Zweite Heimat“, Sehnsuchtsort und Atmosphäre | 277 Jugend als Lebensstil. Im Englischen Garten und auf der Leopoldstraße | 287 In der Traumstadt. Von der Gentrifizierung einer Geschmackslandschaft | 302

11. D IE S OMMERSPIELE DER XX. O LYMPIADE IN M ÜNCHEN | 309 Werte und Zeichen. „Dabei sein ist wichtig – nicht der Gewinn“ | 314 Das Oberwiesenfeld und die Geschichte von Väterchen Timofei | 325 Unter dem Zeltdach. Architektur als Aufgabe und Vision | 334 Olympia im Grünen. Eine urbane Parklandschaft | 346 Otl Aicher und das visuelle Erscheinungsbild der Spiele | 354 Olympia der kurzen Wege. Gesellschaft, Kunst und Raum | 374 Der Königstiger Tuah. Ein Gastgeschenk aus Malaysia | 387 Olympia der Musen und des Sports. „Ein Weltprogramm mit weißblauen Akzenten“ | 396 München 1972. Von den heiteren Spielen zur kosmopolitischen Tragödie | 404

12. A M E NDE DER U TOPIE . S CHWABYLON | 419 Stadt, Räume und Konfrontationen. „Weltstadt mit Herz vor dem Herzinfarkt?“ | 421 Zur Atmosphäre von München in den langen 1960er Jahren | 434

13. B IBLIOGRAPHIE | 441 Interviews und Gespräche | 441 Vorträge und Termine | 441 Quellen und Archive | 443 Literatur und veröffentlichte Quellen | 445 Film, Fernsehen und Internet | 469

14. B ILDER DER S TADT . M ÜNCHEN WIRD MODERNER | 473

1. „München. Deutschlands heimliche Hauptstadt“ 1

„Es gibt nur eine Stadt in Deutschland, der Hitler versprach, sie groß zu machen – und die es trotzdem geworden ist. Nur eine bundesdeutsche Großstadt, in der Nachtschwärmer und Nachtlärmer massenweise von der Polizei geknüppelt wurden – und die sich jetzt dennoch als ‚Weltstadt mit Herz‘ versteht. Nur eine Weltstadt, in der Leberkäs als delikat und Lederhosen als salonfähig gelten – und in der sich gleichwohl die meisten französischen Restaurants und die besten deutschen Couturiers angesiedelt haben. Nirgendwo sonst mischen sich Knödeldampf, Bierdunst und Weihrauch so innig mit dem Duft der großen Welt. Nirgendwo sonst fühlen sich Playboys und Professoren, Bayern und Preußen, Sozis und Spezis, Gamsjäger und Kulturkritiker, Dirndl-Matronen und Topless-Twens im gleichen Maße zu Hause wie in eben dieser Stadt. Denn nirgendwo sonst gibt es dieses magische Mixtum von Urwüchsigkeit und Urbanität: ein ‚Millionendorf‘ [...] als Metropolis.“2 Mit bilderreichen Worten berichtet das Hamburger Nachrichtenmagazin Spiegel im Herbst 1964 vom heiteren Leben an der Isar und kürt München mit dem Titel der Ausgabe zu „Deutschlands heimlicher Hauptstadt“3 . Der Text zeigt eine Momentaufnahme und reicht doch weit über den Augenblick hinaus. Die Reportage ist mehr als ein Artikel, eine dichte Beschreibung der Stadt in Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart. Zur Sprache kommen Befindlichkeiten, charakteristische Eigenschaften und Repräsentationen; Prozesse und Begebenheiten der städtischen Alltagswelt werden auseinandergesetzt, und auch Erkenntnisse aus Umfragen, Hochrechnungen und Statistiken fließen immer wieder in die Geschichte ein. „Jeder fünfte Bundesbürger sehnt sich nach dem kopfsteingepflasterten Himmel.“4 München ist zu einem „Mekka für die Massen“ geworden, eine Stadt der Jugend und der Freizeit, und wächst in den 1960er Jahren doppelt so schnell wie jede andere deutsche Großstadt. Vorgestellt werden Bewohnerinnen und Bewohner, Bewun1|

Deutschlands heimliche Hauptstadt – München (23. September 1964). In: Der Spiegel,

Ausgabe 39. 2|

München. O’ zapft is! (23. September 1964). In: Der Spiegel, Ausgabe 39; München.

Deutschlands heimliche Hauptstadt, S. 42-52. Hier: S. 42. 3|

Deutschlands heimliche Hauptstadt – München (23. September 1964). In: Der Spiegel,

Ausgabe 39. 4|

München. O’ zapft is! (23. September 1964). In: Der Spiegel, Ausgabe 39; München.

Deutschlands heimliche Hauptstadt, S. 42-52. Hier: S. 42.

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derer, Besucher und Institutionen. Von ehemaligen Honoratioren ist die Rede und von Protagonisten des Zeitgeschehens, von Kurt Eisner, Kardinal Faulhaber, Adolf Hitler, Werner Heisenberg und Thomas Mann, Karl Valentin, Liesl Karlstadt und der Schwabinger Gisela. Ob Ministerpräsident, Kleriker, Schriftsteller, Diktator, Wissenschaftler, Maler, Nobelpreisträger oder Unterhaltungskünstler, ob Sängerin oder Schauspielerin, im Gedächtnis der Stadt tritt eine auffallende Gleichzeitigkeit von unterschiedlichen Haltungen und Milieus zu Tage. All den Personen, die im Zusammenhang mit den 1960er Jahren in München genannt werden, ist jedoch ihre mitunter auch wechselvolle Beziehung zu der bayerischen Landeshauptstadt gemeinsam. „Eine Rolle in Münchens vielschichtiger Gesellschaft zu spielen, ist nicht halb so schwer wie in Düsseldorf, Frankfurt oder in Hamburg. Ein Elektrohändlerssohn namens Graser, 42, der sich als ‚James‘ und seine ewig überfüllte Luxusbar als ‚James Club‘ bezeichnet, bringt es fertig, seit einem Jahrzehnt ganz München an seinen zahllosen, unglücklichen Lieben teilhaben zu lassen und auch mit einem Toupet auf dem Scheitel als anerkannter Playboy zu gelten. Bei seinem Polterabend in einem Wirtshaus gab sich Münchens heitere Society ein Rendezvous bei Leberknödeln, Schweinsbraten und Bier. Ein Striptease-Ballett erquickte die grob gewandeten feinen Männer, die schon bald darauf eine neue Einladung vom mittlerweile geschiedenen Graser erhielten: ‚In Anlehnung an meinen vor kurzem stattgefundenen Polterabend... wollen wir diesmal einen Rückpolterabend feiern. Auch ist es diesmal erlaubt, die eigenen und weniger eigenen Damen mitzubringen, damit sie bayerisches Brauchtum erleben können.‘“5 Schwarz-Weiß-Fotografien illustrieren die Titelgeschichte vom 23. September 1964. Städtische Wahrzeichen wie die Bavaria und die Frauenkirche, und ebenso bekannte Ausflugsziele und Sehenswürdigkeiten wie der Starnberger See oder das Nymphenburger Schloß sind mit den Adjektiven „frisch, fromm, fröhlich, frei“6 versehen. Die meisten dieser Aufnahmen aber zeigen Münchnerinnen und Münchner und ihre Gäste auf rauschenden Festen und Feiern, bei gesellschaftlichen Anlässen am Abend oder in der Nacht. „In keiner deutschen Großstadt sieht sich der Student so sehr am Amüsement der Arrivierten beteiligt wie in München. In der ‚Kuhstall‘-Bar eines zur Gastronomie übergetretenen griechischen Studenten namens Alecos und im Hully-Gully-Keller ‚Big Apple‘ beherrschen akademische Bummler ebenso die Szene wie im ‚George-Club‘, einem neuen Society-Zirkel, der in der Georgenstraße eine Jugendstil-Villa samt Hauskapelle übernahm und dort Deutschlands erste busenfreie Abendgesellschaft gab. Hier wie in einem Dutzend anderer De-Lux-Kneipen des Künstlerviertels benehmen sich die Bürger wie Studenten und die Studenten wie Bürger.“7 Analog zu den illustren Ausführungen im Text werden Stillleben und Schauplätze in Gestalt von Filmstreifen präsentiert, 5|

Ebd.: S. 49.

6|

Ebd.

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Ebd.

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die Bildunterschriften lauten „Bier, Würste, Krawall in Schwabing, Beatniks, Modeschau“ und „Theater“. Der „Society beim Fasching“ ist ein Foto mit dem Titel „Penner unter der Isarbrücke“ gegenüber gestellt, allerdings sind auch diese zwei Dutzend Bewohnerinnen und Bewohner der Weltstadt, wie der Spiegel zu berichten weiß, durchaus von „internationalem Format“8 . Und „[ f ]rühmorgens räkeln sich zu Füßen einer wasserspendenden Nymphe, die Frank Wedekind gewidmet ist, die Beatniks beiderlei Geschlechts, – Bierflasche in der Rechten, Nirwana im ungewaschenen Gesicht“9 . Eine Überschrift bringt das Geschehen schließlich auf den Punkt, „Leben in München: ein weißwurstbekränztes Millionendorf wurde zur Hauptstadt der Freizeit-Bewegung“10. Der München-Report des Nachrichtenblatts mischt Bedeutsames mit vermeintlichen Nebensächlichkeiten. Ereignisse und Episoden sind ebenso Handlungen wie repräsentative Gesten und Symbole. „Der Gesellschaftsglossist Siegfried Sommer (‚Blasius der Spaziergänger‘), ein gelegentlich bitterer Kritiker des Münchner Lebens, kann an seinem Stammtisch im Münchner Augustiner-Keller, umgeben von Richtern, Schauspielern und Geschäftsleuten, Hof halten wie ein kleiner König.“11 In der Darstellung des Magazins verdichten sich Anmutungen, Analysen und Anekdoten zu einem komplexen Bild der Stadt. Glanzlichter folgen auf Schattenseiten, der oft schwierige Umgang mit dem Erbe des Nationalsozialismus wird gleichermaßen thematisiert wie die neueste Entwicklung in den Bereichen Wirtschaft und Politik. „Vor zwei Jahrzehnten, in der letzten Phase des Krieges, siedelten notgedrungen deutsche Rüstungsexperten aus dem bedrohten Berlin in die Isarstadt um, darunter eine Elite des Siemens-Stabes. Heute siedelt sich die Industrie nur zu gern in München an, wo die Attraktivität der Örtlichkeit eine erhöhte Stabilität des Personals verheißt (und allein Siemens 37 000 Menschen beschäftigt).“12 Zur Diskussion gestellt werden auch Mängel und Unzulänglichkeiten, vor allem in Bezug auf die stetig anwachsende Bevölkerungszahl, in der Kritik stehen fehlende wie geplante Umsetzungen auf dem Gebiet der Infrastruktur oder dringend notwendige Maßnahmen im Bereich des Wohnungsbaus. Zugleich aber streicht das Hamburger Magazin auch die Vorzüge und positiven Eigenschaften von München heraus. „Niemandem in dieser Stadt fällt es schwer zu glauben, daß es sich hier leichter leben lasse als anderswo. Millionäre und Habenichtse genießen die gleichen Hobbys, die gleiche Freizügigkeit und tauchen überwiegend auch an den gleichen Plätzen auf.“13 Oberbürgermeister von 1,17 Millionen Münchnerinnen und Münchnern ist 1964 der erst 38 Jahre alte Jurist Hans-Jochen Vogel. 8|

Ebd.: S. 42- 43.

9|

Ebd.: S. 42.

10 |

Ebd.: S. 42- 43.

11 |

Ebd.: S. 49.

12 |

Ebd.: S. 50.

13 |

Ebd.: S. 44.

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Der Sozialdemokrat sieht Bayerns Landeshauptstadt gerade wegen der kurz zuvor vollzogenen Teilung Deutschlands in einer besonderen Rolle. „Denn München hat, ob es will oder nicht, immer mehr die Funktion einer verborgenen Hauptstadt übernommen.“14 Dabei gibt selbst der Erste Bürgermeister zu bedenken, dass „[i]m Grunde vieles [...] von dem, was Münchens Renommee ausmacht, nichts weiter als eine Täuschung [ist]. ‚Und in der Anziehungskraft der Stadt bleibt‘, wie OB Vogel sagt, ‚etwas Irrationales‘“15 .

D ICHTE B ESCHREIBUNG . K ULTUR ALS G E WEBE In Anlehnung an Max Weber versteht der amerikanische Anthropologe Clifford Geertz Kultur als Gewebe. Demzufolge ist der Mensch in ein selbstgesponnenes Geflecht von Bedeutungen verstrickt, und eben diese Verknüpfungen bezeichnet Geertz als Kultur. Ausgehend von einem semiotischen Kulturbegriff, betrachtet er die Dinge dieser Welt, Wege, Orte und Objekte ebenso wie Träume, Wünsche oder Utopien, materielle wie immaterielle Phänomene, die er als Zeichen untrennbar miteinander verwoben sieht, aus einer hermeneutischen Perspektive.16 „Die Untersuchung von Kultur besteht darin (oder sollte darin bestehen), Vermutungen über Bedeutungen anzustellen, diese Vermutungen zu bewerten und aus den besten Vermutungen erklärende Schlüsse zu ziehen.“17 Geertz begreift menschliches Verhalten generell als symbolisches Handeln und fragt nach verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten, seine Überlegungen kreisen um Zuschreibungen, Kontexte und Vorstellungswelten.18 Das Erforschen kultureller Erscheinungen zielt aus Sicht des Anthropologen gerade nicht auf die Feststellung formaler Gesetzmäßigkeiten, sondern auf „[...] das Herausarbeiten von Bedeutungsstrukturen [...] und das Bestimmen ihrer gesellschaftlichen Grundlage und Tragweite“19 . Dieses komplexe Aufnehmen und analytische Erfassen einer „geschichteten Hierarchie bedeutungsvoller Strukturen“20 bezeichnet Geertz mit einem Begriff des britischen Philosophen Gilbert Ryle als dichte Beschreibung. Gemeint ist eine ganzheitliche Form des Denkens und weniger die Umsetzung und Operationalisierung einer Idee, wenngleich ein solcher Ansatz zweifelsohne Auswirkungen auf die Wahl der Methoden hat und eine entsprechend vielschichtig angelegte Feldanalyse nach sich

14 |

Ebd.: S. 43.

15 |

Ebd.: S. 52.

16 |

Vgl. Geertz, Clifford (1987): Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller

Systeme. Frankfurt am Main, S. 9, 16. 17 |

Geertz 1987: S. 30.

18 |

Vgl. ebd.: S. 16-17.

19 |

Ebd.: S. 14-15.

20 |

Ebd.: S. 12.

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zieht.21 „Ethnographie betreiben gleicht dem Versuch ein Manuskript zu lesen (im Sinne von ‚eine Lesart entwickeln‘), das fremdartig, verblaßt, unvollständig, voll von Widersprüchen, fragwürdigen Verbesserungen und tendenziösen Kommentaren ist, aber nicht in konventionellen Lautzeichen, sondern in vergänglichen Beispielen geformten Verhaltens geschrieben ist.“22 Ein Blick in die kulturwissenschaftliche Praxis macht gleichsam deutlich, dass auch der Modus der Ethnographie grundsätzlich als dichte Beschreibung verstanden werden kann. Wahrnehmen, Beobachten und Aufzeichnen sind doch stets mit Erläutern verbunden, Darstellen bedeutet immer auch Interpretieren und ist dem ethnographischen Vorgehen damit gewissermaßen inhärent. Schon während des Sammelns von Materialien, Eindrücken und Sichtweisen stellt sich immer auch die Frage nach den mehr oder weniger sichtbaren Kontexten und Bezügen. „So springen wir ständig von einer Seite auf die andere, betrachten das Ganze aus der Perspektive seiner Teile, die ihm zu Lebendigkeit und Nähe verhelfen, und die Teile aus der Perspektive des Ganzen, aus dem sie verständlich werden.“23 Auf der Basis dieses Denkens kann eine wissenschaftliche Studie zur Erweiterung des Diskursuniversums beitragen und analog auch dazu dienen, Bedeutungszusammenhänge vor dem Vergessen zu bewahren. Clifford Geertz spricht von der Möglichkeit, mithilfe der Forschung einen oft mikroskopischen Diskurs „dem vergänglichen Augenblick zu entreißen“24 . Vieles von dem, was im München der 1960er Jahre Alltag ist und damit auf eine unbewusste Weise gewöhnlich erscheint, verändert sich mit der Zeit, Bezugspunkte wandeln sich, das Wissen um Relationen geht verloren, und manche Verbindungen aus der Vergangenheit sind in der Stadt der Gegenwart überhaupt nicht mehr bekannt. „München, als geselligste Großstadt der Bundesrepublik, schätzt die regelmäßige Klatsch-Information so, daß selbst die anspruchsvoll redigierte ‚Süddeutsche Zeitung‘ sie in gemäßigter Form offeriert. Wer mit wem was tat und was er dafür bezahlte, erfahren die Bürger der herzigen Weltstadt und ‚Ganz privat‘ in ihrer ‚Abendzeitung‘, einem Boulevardblatt, dessen Auflage sich in den letzten drei Jahren verdoppelt hat (jetzt 180 000).“25 Vom allzu häufig zitierten Nachtleben in Schwabing, seinen Wirten, Gästen und Lokalen, dem kleinen Schusterladen, der Trambahnlinie 6 oder dem ersten Schnell-Restaurant auf der Leopoldstraße ist mit den Jahren kaum etwas geblieben, die Stadt verändert ihre Räume und Strukturen kontinuierlich. Zusammenhängend ist dazu wenig festgehalten, Filmaufnahmen und Texte beschreiben einzelne Sequenzen, bei der Recherche im Münchner Stadtarchiv und in privaten 21 |

Vgl. ebd.: S. 10, 12.

22 |

Ebd.: S. 15.

23 |

Ebd.: S. 307.

24 |

Ebd.: S. 30.

25 |

München. O’ zapft is! (23. September 1964). In: Der Spiegel, Ausgabe 39; München.

Deutschlands Heimliche Hauptstadt, S. 42-52. Hier: S. 49.

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Sammlungen finden sich Zeitungsartikel, offizielle Dokumente, Aufzeichnungen und Protokolle; viele Geschichten aber sind ausschließlich in den Erinnerungen der Münchnerinnen und Münchner präsent. Im Rahmen von Gesprächen, mittels Interviews oder in Form von beiläufigen Kommentaren am Bankschalter oder auf der Straße, bei Stadtführungen und anlässlich von öffentlichen Diskussionen kommen Stimmungen und Erfahrungen zur Sprache, mit dem Erzählen wird das Wissen um Verknüpfungen und die Gewichtung einzelner Momente im Alltag der Stadt evident. Das individuelle Gedächtnis knüpft dabei, wie sich immer wieder gezeigt hat, in vielen Belangen an die Entwicklung von München, Ereignisse und Begebenheiten in der städtischen Biographie werden zu Markern des eigenen Lebens. „Städte sind nicht nur einer langen und im Prinzip unaufhörlichen kulturhistorischen Transformation ihres physischen Raumes unterworfen“, erklärt der Geograph Jürgen Hasse, „[m]it dem Wandel der Substrate des Städtischen wandeln sich auch ihre Erlebens- und Erlebnisweisen. Die Bedeutungsskripte, die wie Drehbücher des Stadt-Machens und des Stadt-Lebens wie -Erlebens fungieren, sind letztlich nur aus der Perspektive einer gelebten Synthese von Sinn und Bedeutung, Sinnlichkeit und Sinn verständlich.“26 Clifford Geertz nimmt nun grundsätzlich zwei ineinander greifende Bezugsrahmen an, der Anthropologe unterscheidet zwischen Kultur und sozialer Interaktion. „Auf der einen Ebene liegt das Gefüge der Vorstellungen, expressiven Symbole und Werte, mit deren Hilfe die Menschen ihre Welt definieren, ihre Gefühle ausdrücken und ihre Urteile fällen. Auf der anderen Ebene findet der permanente Prozeß der Interaktion statt, dessen fassbare Form wir soziale Struktur nennen.“27 Bedeutungen aber werden alltäglich in Handeln übertragen, und damit sind Kultur und soziale Interaktion zwei Facetten des gleichen Gegenstands. Im Zuge einer Analyse erscheint es demnach weder zielführend, einzelne Zeichen komplett aus einem Rahmen zu extrahieren, um diese Versatzstücke hinterher wieder zusammenzusetzen, noch einträglich, Kultur immanente Anschauungen und soziale Praktiken in Form eines Textes zu simulieren.28 Ethnographie meint vielmehr eine Gratwanderung zwischen beiden Extremen, besonders wenn Geertz in seinen „Beiträgen zum Verstehen kultureller Systeme“ argumentiert, dass „[e]ine gute Interpretation von was auch immer – einem Gedicht, einer Person, einer Geschichte, einem Ritual, einer Institution, einer Gesellschaft – [...] uns mitten [...] in das [hinein versetzt], was interpretiert wird“29. Demzufolge lässt sich auch eine Stadt als Gewebe, als komplexes Geflecht aus Bedeutungen und Strukturen begreifen. Als 26 |

Hasse, Jürgen (2008 a): Stadt als „schwimmender“ Terminus. In: Berking, Helmuth;

Löw, Martina (Hg.): Die Eigenlogik der Städte. Neue Wege für die Stadtforschung. Frankfurt am Main; New York (Interdisziplinäre Stadtforschung, 1), S. 313-334. Hier: S. 332. 27 |

Geertz 1987: S. 99.

28 |

Vgl. ebd.: S. 9, 16-18.

29 |

Ebd.: S. 26.

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Einheit betrachtet, markieren Städte definierte Schnittstellen in einem weltumspannenden Netz aus Interaktionen und Ideen. Der Report im Spiegel fasst München ebenfalls als Flechtwerk auf. Unzählige Bezugssysteme verdichten sich in der Formation der Stadt, nehmen Einfluss auf Erscheinungen und Phänomene, artikulieren sich bewusst wie auch unbewusst, und führen dabei weit über das physische Stadtgebiet hinaus. „Städte sind nicht nur Siedlungen von besonderer Größe, Dichte und Heterogenität“, konstatieren die Kulturwissenschaftlerin Michi Knecht und der Kulturwissenschaftler Peter Niedermüller mit Blick auf die Stadt als einem komplexen Forschungsfeld, „nicht nur Lebenswelten verschiedener sozialer Gruppen und Bühnen für sehr unterschiedliche Lebens- und Kulturstile, sie sind stets auch symbolische Landschaften und ideologische Arrangements in einem historisch gesättigten Raum: materielle wie imaginäre Interpretationen von Geschichte, deren Deutungen jeweils neu zu bestimmen sind. In diesem Sinne kann man Städte als ein komplexes Gewebe verstehen, das eine spezifische kulturelle Textur aufweist, deren Fasern von der Dramaturgie gebauter Formen über performative Selbstinszenierungen bis hin zu alltagskulturellen Beständen und Handlungen reichen.“30 Angelehnt an den semiotischen Kulturbegriff funktioniert auch eine Stadt als „ineinandergreifendes System auslegbarer Zeichen“31 , in dessen Kontext Bilder und Verhaltensweisen von Akteurinnen und Akteuren nicht nur zugeordnet werden können, sondern überhaupt erkennbar und zumeist auch verständlich werden. Von einem analogen Standpunkt aus argumentiert der Kulturwissenschaftler Rolf Lindner, dass „[...] der Sinngehalt kulturaler Phänomene erst durch die Untersuchung des Beziehungsgeflechts entschlüsselt werden [kann], dem sie ihre spezifische Gestalt verdanken“32 . Selbst wenn der Ort der Forschung nach Auffassung von Geertz nicht zwingend Gegenstand der Arbeit sein muss, lässt sich die Kultur der Stadt aus Sicht einer urbanen Anthropologie als „geschichtete Hierarchie bedeutungsvoller Strukturen“33 begreifen. Die Komplexität des Feldes fordert gerade dazu auf, das „komplizierte intellektuelle Wagnis der dichten Beschreibung“34 einzugehen und dieses Konzept auf das Denken und die Interpretation des städtischen Gewebes zu übertragen. Das Hamburger Magazin spannt einen Bogen von dem „antikommunistischen Propaganda-Sender ‚Radio Freies Europa‘“ über die Tierliebe der Bewohnerinnen und Bewohner („30 000 zumeist vollfette Dackel, 30 |

Knecht, Michi; Niedermüller, Peter (1998): Stadtethnologie und die Transformation

des Städtischen. Eine Einleitung. In: Berliner Blätter. Ethnographische und Ethnologische Beiträge, H. 17, S. 3-13. Hier: S. 11. 31 |

Vgl. Geertz 1987: S. 21.

32 |

Lindner, Rolf (2003 a): Vom Wesen der Kulturanalyse. In: Zeitschrift für Volkskunde,

Jg. 99, S. 177-188. Hier: S. 179. 33 |

Vgl. Geertz 1987: S. 12.

34 |

Vgl. ebd.: S. 10.

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Zamperl und anderes Hundegetier“), den „Rolls-Royce-Fahrer, Stoffhändler und Exkonsul Herbert G. Styler“, der sich trotz vierfacher Pleite „noch immer seine öffentliche Rolle als Bonvivant“ bewahrt, bis hin zum Verkehrschaos in München, das in diesem Zeitraum bei weitem alles übertrifft, „was sich in den nicht eben untermotorisierten anderen Großstädten Deutschlands abspielt“35. Der Spiegel entwirft eine Stadt aus Geschichten, eine Stadt aus Bildern und charakteristischen Figuren und Episoden, deren Bedeutungen es zu verstehen gilt. Die MünchenReportage des Nachrichtenblatts führt auf prägnante Weise ein in die „historische Gleichzeitigkeit“36 der 1960er Jahre, diskutiert wird eine Fülle von Ansichten und Aspekten, Maxime der Berichterstattung bleibt jedoch stets der Gesamteindruck. Um sich den maßgeblichen Themen und Topoi einer Epoche auch aus einer kulturwissenschaftlichen Sicht annähern zu können, schlägt Rolf Lindner eine Herangehensweise vor, die sich mit der Auseinandersetzung kultureller Konstellationen befasst, „[...] bei denen soziale, kulturelle und biographische Komponenten auf eine zeitspezifische Weise zusammen treffen. Diese sichtbar zu machen und ihre Logik nachzuzeichnen ist Aufgabe der Feld-Analyse im Sinne einer Untersuchung kultureller Komplexe.“37 Sich einer Stadt innerhalb einer bestimmten Situation zu nähern, heißt aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive nicht nur ausdrucksvolle Sequenzen der städtischen Biographie zu rekonstruieren, sondern im Zuge des Vorgehens vor allem auch ein grundlegendes Verständnis für die Konstellationen der Zeit, ihre Themen und Topoi zu entwickeln.

I M O RGANISMUS DER S TADT. E IN EMPATHISCHER B LICK „The city”, erklärt Robert Ezra Park, ein amerikanischer Journalist, Forscher und Begründer der Chicago School of Urban Sociology, bereits im Jahr 1925, „[...] is something more than a congeries of individual man and of social conveniences – streets, buildings, electric lights, tramways, and telephones, etc; something more, also, than a mere constellation and administrative devices – courts, hospitals, schools, police, and civil functionaries of various sorts. The city is, rather a state of mind, a body of customs and traditions, and of the organized attitudes and sentiments that inhere in these customs and are transmitted with this tradition. The city is not, in other words, merely a physical mechanism and an artificial construction. It is involved in the little processes of the people who compose it; it is a product of na-

35 |

München. O’ zapft is! (23. September 1964). In: Der Spiegel, Ausgabe 39; München.

Deutschlands Heimliche Hauptstadt, S. 42-52. Hier: S. 43, 49. 36 |

Hans-Ulrich Gumbrecht spricht davon, als Forscher „ein Experiment in historischer

Gleichzeitigkeit zu wagen“ und sich auf diese Weise selbst in den Untersuchungszeitraum hineinzubegeben. Zitiert nach: Lindner 2003 a: S. 183. 37 |

Ebd.: S. 184.

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ture and particularly of human nature.”38 Von innen wie von außen wirken Kräfte auf die Gestalt der Stadt und halten den städtischen Organismus kontinuierlich in Bewegung. Eine Stadt ist ein denkbar vielschichtiges, räumliches, zeitliches, soziales und auch kulturelles Gebilde. „The fact is, however, that the city is rooted in the habits and customs of the people who inhabit it. The consequence is that the city possesses a moral as well as a physical organization, and these two mutually interact in characteristic ways to mold and modify one another. It is the structure of the city which first impresses us by its visible vastness and complexity. But this structure has its basis, nevertheless, in human nature of which it is an expression. On the other hand, this vast organization which has arisen in response of the needs of its inhabitants, once formed, imposes itself upon them as a crude external fact, and forms them, in turn, in accordance with the design and interests which incorporates. Structure and tradition are but different aspects of a single cultural complex which determines what is characteristic and peculiar to city [...].”39 In den 1960er Jahren strahlt München Heiterkeit und Zuversicht aus. Vor dem Hintergrund der jüngsten Vergangenheit, der Brüche und Kontinuitäten mit dem Ende des Nationalsozialismus, und der starken Spannungen im anhaltenden OstWest-Konflikt, wird München 1964 von dem überregional erscheinenden und zu diesem Zeitpunkt vor allem für seine kritische Berichterstattung bekannten Spiegel zu „Deutschlands heimlicher Hauptstadt“ erkoren. Wie keiner anderen Stadt in der Bundesrepublik ist es der einstigen „Hauptstadt der Bewegung“, der Stadt, in der 1938 auch das „Münchner Abkommen“ zu Wege gebracht und unterzeichnet worden ist, nach dem Ende des Krieges und des Nationalsozialismus 1945 gelungen, sowohl die physischen Dimensionen des städtischen Raums wieder instand zu setzen als auch in ideeller Hinsicht ein charakteristisches Profil auszubilden. Schon 1962 hat sich München selbst zur „Weltstadt mit Herz“ ernannt.40 Die Reportage des Spiegel öffnet den Blick für die Themen, Topoi und Motive, die jener Phase Kontur verleihen41 , und bezieht sich dabei stets auf München. Der Tenor ist wohlwollend, der Ton mitunter süffisant. Zur Sprache kommen konträre Ansichten und Konzepte, thematisiert wird so zum Beispiel die Debatte um die Rekonstruktion der Stadt. Ernst Maria Lang, Karikaturist, Architekt und Vorsitzender des Bundes Deutscher Architekten in Oberbayern, kritisiert die seiner Meinung nach allzu restaurativen Vorstellungen der Münchnerinnen und Münchner im Umgang mit Neubauten und den wiederherzustellenden Gebäuden, eine konservative Hal38 |

Park, Robert Ezra (1968): The City: Suggestions for the investigation of human be-

haviour in the urban environment. In: Park, Robert Ezra; Burgess, Ernest W.; McKenzie, Roderick D. (Hg.): The City. 5. Aufl. , 1925. Chicago; London, S. 1-46. Hier: S. 1. 39 |

Park 1968: S. 4.

40 |

Vgl. Bauer, Richard (2005): Geschichte Münchens. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart.

2. Aufl. München, S. 213. 41 |

Vgl. Lindner 2003 a: S. 184.

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tung, die seiner Ansicht nach einer generellen Befindlichkeit der Stadtgesellschaft entspricht: „Das ist genau die Form, in der sich der gehobene Erfolgsbürger wohlfühlt. Er braucht die Folie der Tradition, die er nicht hat, aber haben möchte.“42 Oberbürgermeister Vogel betont dagegen die Individualität von München, die besonders in der gewordenen Anlage der Innenstadt, ihrer Mannigfaltigkeit und Dichte zum Ausdruck kommt, was nicht zuletzt auch die Kommunikation zwischen den Menschen, die sich dort begegnen, fördert.43 Dem Artikel gelingt es, unterschiedliche Gesichtspunkte miteinander in Bezug zu setzen und an diversen, oft sogar widersprüchlich erscheinenden Positionen eine Ästhetik der Ambivalenz als Spezifikum von München herauszuarbeiten. Auch das Oktoberfest findet entsprechend Erwähnung als „[...] Fest der heimlichen Hauptstadt, dessen ursprünglicher Sinn sich dem heimlichen Reich zwischen Kaiserstuhl und Kieler Förde nicht erschließt, aber dessen Balzruf die Deutschen dennoch [...] in die Stadt ihrer Sehnsucht lockt: ‚O’zapft is‘“44 . Vor dem Hintergrund der Ausführungen von Clifford Geertz und seiner Idee der dichten Beschreibung lässt sich nun auch der Beitrag im Spiegel als Analyse eines kulturellen Komplexes interpretieren, vieles aber bleibt angedeutet, wirkt beinahe abstrahiert. Das Bezugssystem des Textes ergibt sich nicht allein aus der Lektüre des Nachrichtenmagazins. Mit einer Fülle an Worten und Bildern entwirft der Bericht ein Feld, dessen Verständnis auf einem mehr oder minder substantiellen Wissen um Akteurinnen und Akteure, Ordnungen und Verhältnisse beruht. Dabei geht es immer auch um die ästhetischen Qualitäten der Stadt München, die Ausführungen im Text erzeugen über die Produktion von Atmosphäre ein Gefühl für die Befindlichkeiten jener Jahre. 1971 untersucht der Kulturgeograph Gernot Ruhl „Das Image von München als Faktor für den Zuzug“ und fragt nach der Genese von Vorstellungsbildern und deren Eingebundensein in Situationen, die er als Abschnitte von Raum und Zeit versteht und die sich ihrerseits über Symbole vermitteln. Der Wissenschaftler zeigt mit seiner Arbeit, dass sich das Bild einer Stadt immer aus der Perspektive der Selbst- und der Fremdwahrnehmung zusammensetzt. „Das Selbstimage von München bezeichnet die Summe aller symbolisierten sozialräumlichen Situationselemente und deren Eigenschaften, die von der Mehrzahl seiner Bewohner als typisch erachtet werden.“45 Das Fremdbild von München basiert indessen auf der Summe, „[...] die von den Bewohnern anderer Teilräume aus der Menge der über diese Stadt verbreiteten Informationen selektiert und als typisch erachtet werden“46. Aus Arti42 |

München. O’ zapft is! (23. September 1964). In: Der Spiegel, Ausgabe 39; München.

Deutschlands Heimliche Hauptstadt, S. 42-52. Hier: S. 49. 43 |

Vgl. ebd.

44 |

Ebd.: S. 52.

45 |

Ruhl, Gernot (1971): Das Image von München als Faktor für den Zuzug. (Münchner

Geographische Hefte, 35) Kallmünz; Regensburg, S. 38. 46 |

Ruhl 1971: S. 38.

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keln und Reportagen in Tageszeitungen filtert Ruhl entscheidende Kategorien im Situationsfeld der Stadt heraus, mit Blick auf die städtische Selbstwahrnehmung spricht der Geograph von sozialen Situationsbestandteilen wie den Bewohnerinnen und Bewohnern, von soziokulturellen Bestandteilen, lokalen Besonderheiten, physischen Situationsbestandteilen wie etwa Gebäuden, Fassaden, Grünanlagen oder Stadtvierteln, und dem allgemeinen Situationsrahmen, der auf der geographischen Lage und dem Klima der Stadt basiert. Des Weiteren veranschaulicht Ruhl die fremde Sicht am Beispiel von Schwabing als Situationssymbol mit den kommunikativ verbreiteten Situationsmerkmalen Liberalität und Toleranz, als soziale Elemente werden Maler, hübsche Mädchen, Studenten, Playboys, Münchner Bürger oder auch Gammler benannt, mit der Physis der Situation sind beispielsweise die Leopoldstraße und das Straßengrün gemeint.47 Der Kulturgeograph schließt aus seinem Material, dass signifikante Charakteristika wie der überaus hoch eingeschätzte Freizeitwert von Umland und Region, die „dynamische Weltstadtatmosphäre“48 oder das umfassende Kultur- und Bildungsangebot der Stadt in den späten 1960er Jahren für die Attraktivität von München stehen, und gelangt im Rahmen seiner Studie zu der Einsicht, dass das Image der Stadt nicht nur in diesem Moment positiv bewertet ist, sondern mit Blick auf die Olympischen Spiele von 1972 auch noch an Zuspruch gewinnen wird. Wie Gernot Ruhl im Kontext seiner wissenschaftlichen Untersuchung nimmt auch der Spiegel die Stadt München unter verschiedenen Gesichtspunkten in den Blick. Im städtischen Organismus werden Gegensätze, Differenzen, Möglichkeiten und Utopien mit- und nebeneinander aufgenommen und zusammenhängend gedacht. Der amerikanische Soziologe Richard Sennett setzt sich in „Civitas“, dem letzten Teil seiner Trilogie zum Wesen der Großstadt ebenfalls mit der Empathie für Feld und Gegenstand auseinander. Sennett unterstreicht die Vielfalt der Heterogenität, die eine Stadt aus seiner Sicht im Wesentlichen ausmacht, und bedauert zutiefst eine, wie er schreibt, auf der Kultur des Unterschieds beruhende Indifferenz der Städterinnen und Städter, denn schließlich nimmt doch „das Auge [...] Unterschiede wahr, auf die es mit Gleichgültigkeit reagiert“49 . Der Soziologe, der sich eingehend mit dem Themenkomplex Stadt und urbane Gesellschaft befasst, versucht mit seinen Ausführungen zu deutlich zu machen, „wie die Erfahrung der Komplexität in der städtischen Lebenswelt mit Hilfe der Kraft zur visuellen Deutung, mit der die Menschen ausgestattet sind, gewonnen werden kann“50. Es geht also nicht nur um die grundlegende Einsicht, dass und auf welche Weise eine Stadt vielschichtig mit Vorstellungen, Situationen und Geschichten aufgeladen ist, son47 |

Vgl. ebd.: S. 37-51.

48 |

Ebd.: S. 93.

49 |

Sennett, Richard (1991): Civitas. Die Großstadt und die Kultur des Unterschieds.

Frankfurt am Main, S. 169. 50 |

Sennett 1991: S. 173.

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dern mehr noch um eine empathische Perspektive, die ihrerseits die Vorraussetzung dafür bildet, dass komplexe Zusammenhänge im Auge der Betrachterin oder des Betrachters erkennbar werden. Ein derart motiviertes Vorgehen gleicht einem permanenten Hinterfragen, ohne dabei aber jedes Detail dekonstruieren und jede Quelle in der gleichen Tiefe analysieren zu müssen. Mit dem Begriff der Emphatie bezeichnet Sennett generell die Fähigkeit, Eindrücke, Szenen, Ereignisse, Eventualitäten und auch Widersprüche gleichzeitig aufnehmen zu können und diese unterschiedlichen Aspekte auf den Gegenstand einer Stadt zu beziehen. Die Kulturanthropologin Elisabeth Katschnig-Fasch plädiert ihrerseits für ein vernetztes Denken, für das komplexe Wahrnehmen von Menschen, Objekten, Räumen, Verknüpfungen und Subjektivationen. „Durch die Überschätzung der Simulakren der Zeichen und der Medienwelt“, kritisiert Elisabeth Katschnig-Fasch, „wird die kulturelle Kraft des Sozialen unterschätzt und das Auslaufen der langen Wellen historischer Eigenarten im Strudel der spätmodernen Bedingungen des globalen Marktes und der Virtualität forciert. Mehr denn je bedarf es daher einer Aufmerksamkeit für die Konstituierung der soziokulturellen Bedingungen der Produktion von kulturellen Codes und einer Wahrnehmung, die an den Menschen orientiert ist.“51 Einer derart ausgerichteten Wissenschaft geht es um das Verstehen, ein solches Denken nimmt grundsätzlich verschiedene Haltungen und Standpunkte ein, agiert immer, auch methodisch, in analogen Dimensionen, bewegt sich mit einem ganzheitlichen Ansatz um den Gegenstand, in diesem Fall die Stadt, und arbeitet dabei stets auch mit Zugängen und Konzepten aus unterschiedlichen Disziplinen. „Der Blazer, Deutschlands beliebtes Weltmannkostüm, verdrängt den Pullover“, berichtet der Spiegel in seiner Reportage, „Und doch behauptet sich auf den Straßen wie auf dem Parkett – mehr denn je an norddeutschen Leibern – auch der Trachtenanzug; er ist zu Staatsempfängen zugelassen.“52 Mit Blick auf das Alter der Bewohnerinnen und Bewohner kommt der Artikel außerdem zu dem Schluss, dass das „Jamboree der Jugend die Rentnerstadt mit überwiegender Sterblichkeit, die München noch bis 1960 war, in eine City mit hohem Geburtenüberschuß (1963: 4500) und den relativ meisten unehelichen Kindern (13,5 Prozent) verwandelt. Und die Selbstmord-Rate sinkt und sinkt und sinkt“53 . Mit jedem Aspekt reißt die Reportage ein weiteres Thema an und doch haben alle Bestandteile des Textes vor dem Hintergrund der Stadt München und ihrer Entwicklung in den 1950er und 1960er Jahren auf eine Weise miteinander zu tun. Im Gefüge der Stadt überlagert sich eine Vielzahl von unterschiedlichen Momenten, charakteristische Beson51 |

Katschnig-Fasch, Elisabeth (2002): Im Wirbel städtischer Raumzeichen. In: Wil-

helm, Karin; Langenbrinck, Gregor (Hg.): City-Lights – Zentren, Peripherien, Regionen. Interdisziplinäre Positionen für eine urbane Kultur. Wien u. a., S. 120-129. Hier: S. 120. 52 |

München. O’ zapft is! (23. September 1964). In: Der Spiegel, Ausgabe 39; München.

Deutschlands Heimliche Hauptstadt, S. 42-52. Hier: S. 49. 53 |

Ebd.: S. 44.

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derheiten beeinflussen das städtische Selbst- und Fremdbild ebenso wie zunächst einmal unspezifisch erscheinende Eigenschaften von Urbanität. Einer ethnographischen Auseinandersetzung mit dem städtischen Organismus soll es in diesem Sinn gelingen, einzelne Fäden des Gewebes aufzunehmen, ihren Wegen zu folgen und die diversen Bedeutungen innerhalb des Stadtgeflechts zu interpretieren. Die schillernde Figur des Münchner Playboys James Graser hat er mit seinen Kolumnen eigentlich erst kreiert, gibt der prominente Boulevardreporter Michael Graeter auf Nachfrage zu. Graser hat allerdings auch über die „entsprechende Substanz“ verfügt, und schließlich ist „Sauregurkenzeit“54 gewesen. Als Vorbild für Helmut Dietls Figur des Lokaljournalisten Baby Schimmerlos, der in der TV-Serie Kir Royal den Aktivitäten der Münchner Schickeria nachspürt, ist Graeter sogar selbst in die Narration der Stadt eingegangen.55 „We need such studies“, schreibt Robert Ezra Park in seiner wegweisenden Einführung in die Stadtforschung, „if for no other reason than to enable us to read the newspaper intelligently. The reason that the daily chronicle of the newspaper is so shocking, and at the same time so fascinating, to the average reader knows so little of which the newspaper is the record. The observations which follow are intended to define a point of view and to indicate a program for the study of urban life: its physical organization, its occupations, and its culture.“56

54 |

Michael Graeter im Gespräch mit den Journalisten Arno Makowski, Christian Mayer

und Kimberly Hoppe im Rahmen der Lokalrunde „HeimAZbend“, veranstaltet von der Abendzeitung im Vereinsheim München, Occamstraße 8, am 9. Dezember 2009. 55 |

http://www.br-online.de/bayerisches-fernsehen/ois-chicago-sowieso/ois-chicago-

sowieso-serienlexikon-kir-royal-ID1313156730171.xml, (12. August 2011). 56 | Park 1968: S. 3.

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2. München. „Heimat und Weltstadt“ 57 2. in den langen 1960er Jahren

Der Stadtdirektor und langjährige Leiter des statistischen Amts der Landeshauptstadt München, Egon Dheus, legt 1968 eine umfassende Dokumentation der Stadt in Zahlen vor. Es geht um die demographische Entwicklung der Münchner Bevölkerung, um das Gesundheitswesen und den Wohnungsbau, um Sportstätten und Bildungseinrichtungen, die Ökonomie von Stadt und Region sowie den Verkehr und die Infrastruktur etc. Dheus macht sich allerdings auch über das „Wesen der Stadt“ Gedanken. „Wenn man das Strukturbild einer Großstadt vermitteln will, so muß man zunächst versuchen, den Typ dieser Stadt zu charakterisieren und ihre besonderen Eigenschaften zu erfassen. Jeder großen Stadt haften mehr oder weniger schlagwortartige Attribute an. Sachlich gesehen ist München die bayerische Landeshauptstadt und nach den Stadtstaaten Berlin und Hamburg die größte Stadt der Bundesrepublik, Millionenstadt seit 1957. Im Laufe einer mehr als 800-jährigen Geschichte erhielt sie darüber hinaus viele Beinamen und viele Eigenschaften wurden ihr zugeschrieben. Die Stadt ist uns vertraut als Heimat bedeutender Bildungsinstitute, sie ist Residenzstadt gewesen und heute bayerische Landeshauptstadt. Die Nähe der Berge und Seen machte sie zu einem zentralen Punkt des Fremdenverkehrs. Durch ihre kulturelle und soziologische Anziehungskraft konnte sie sich gewissermaßen zur heimlichen Hauptstadt Deutschlands entwickeln [...]. Nun mehr hat die besondere Atmosphäre dieser Stadt auch darin eine Art Krönung erfahren, daß sie zum Austragungsort der Olympischen Spiele 1972 auserwählt wurde.“58 Stadtdirektor Dheus betrachtet München in seinen räumlichen, zeitlichen, sozialen und kulturellen Dimensionen, er betont zum Teil lange Kontinuitäten, verweist auf Bezugssysteme und spricht in seinen Schilderungen eine ganze Reihe positiver Begebenheiten an. Aus Sicht der ausgehenden 1960er Jahre gleicht der Werdegang der Stadt einer linearen Erfolgsgeschichte. Dabei lag München im Frühjahr 1945 nicht nur sprichwörtlich am Boden, und die Situation der Stadt schien zunächst aussichtslos. „München“, konstatiert der amerikanische Historiker Gavriel D. Rosenfeld, „war [...] eine schwer verwundete Stadt. Die ehemalige Hauptstadt der Nazibewegung war von Bomben zertrümmert worden, war mit den Ruinen ihres einst so glorreichen historischen Vermächtnisses übersät, war von den Streitkräften des Feindes besetzt worden und hatte so 57 |

Vgl. Fingerle, Anton (1977): München. Heimat und Weltstadt. München.

58 |

Dheus, Egon (1968): Die Olympiastadt München. Entwicklung und Struktur. Stuttgart

(Zahl und Leben, 12), S. 9.

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den Tiefpunkt ihres über 750-jährigen Bestehens erreicht.“59 Nach dem Rausch der nationalsozialistischen Ideologie ist die Realität des Krieges auch in München spürbar geworden. Die physischen Strukturen der Stadt, Wohnungen, Straßen, Transportmittel und öffentliche Gebäude, waren zum Teil derart beschädigt, dass einer der Architekten im Zuge des Wiederaufbaus angeregt hat, den Standort an der Isar zu verlassen und ein neues München am Ufer des Starnberger Sees zu errichten.60 Als Truppen der 7. US-Armee am 30. April 1945 die Stadt einnahmen, waren allerdings auch die kulturellen Bedeutungs- und Vermittlungsräume, wie der Volkskundler Helge Gerndt die kommunikativen und sozialen Praktiken, Ideen, Vorstellungen und Bilder einer Stadt bezeichnet, in vielfacher Hinsicht unterbrochen oder ganz zerstört.61 In der „Hauptstadt der Bewegung“ wurden die Hakenkreuzfahnen eingeholt, weiße Leintücher signalisierten die Kapitulation im Zentrum von München. Nachdem das nationalsozialistische Regime über Jahre hinweg Positionen gleichgeschaltet und Anschauungen wie Menschenleben gleichermaßen ausgelöscht hatte, war die NSDAP nun augenblicklich von der Oberfläche der Stadt und ihren Schauplätzen verschwunden. Weit entfernt schienen mit einem Mal frenetisch umjubelte Massenszenen und ebenso die alles beherrschenden Akteurinnen und Akteure, Systeme, Symbole und Ideale der Partei. Übrig blieben zersprengte Kulissen und Dekorationen, Kostüme, Requisiten, Statisten, Darstellerinnen, Darsteller und geplatzte Illusionen. Den einen schien mit dem Untergang des Nationalsozialismus alles verloren, anderen galt der Zusammenbruch der Diktatur als Befreiung.62 Die Zahl der Bewohnerinnen und Bewohner Münchens hatte sich von 830.000 vor Beginn des Krieges auf weniger als 480.000 im Frühjahr 1945 dezimiert.63 Erst mit dem Ende der Luftangriffe und der Besetzung durch die amerikanische Armee kamen nach einem anfänglichen Zuzugsstopp immer mehr Menschen in die zerstörte Stadt. Ehemalige Parteigänger, SS-Kämpfer, Verantwortliche, Mitläu59 |

Rosenfeld, Gavriel D. (2004): Architektur und Gedächtnis. München und Nationalso-

zialismus. Strategien des Vergessens. München; Hamburg, S. 37. 60 |

Vgl. Hoffmann, Lutz (2004): Aufstieg aus Trümmern. 1945-1960. In: Landeshaupt-

stadt München; Münchner Stadtmuseum (Hg.): München wie geplant. Die Entwicklung der Stadt von 1158 bis 2008. München, S. 107-134. Hier: S. 110. 61 |

Vgl. Gerndt, Helge (1985): Großstadtvolkskunde – Möglichkeiten und Probleme.

In: Kohlmann, Theodor; Bausinger, Hermann (Hg.): Großstadt. Aspekte empirischer Kulturforschung. 24. deutscher Volkskunde-Kongreß in Berlin vom 26. bis 30. September 1983. (Berlin Schriften des Museums für Deutsche Volkskunde Berlin, 13), S. 11-19. 62 |

In seiner Rede zum Gedenken an den 8. Mai 1945 spricht Richard von Weizsäcker

als Bundespräsident 1985 erstmals vom „Tag der Befreiung“. Vgl. Weizsäcker-Rede 1985 (8. Mai 2005). In: Der Spiegel. Verfügbar unter: www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,354568,00.html, (10. November 2008). 63 |

Vgl. Dheus 1968: S. 31.

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fer, Nationalsozialisten, Freunde und Feinde, Nachbarn, Gegnerinnen und Gegner, Denunzianten, Politiker und Kirchenvertreter, Mitglieder des Widerstands, Exilanten, Flüchtlinge und Heimatvertriebene, Displaced Persons, Witwen und Waisen, Überlebende, Kriegsversehrte, Opfer und Täter, Wehrmachtsangehörige und amerikanische Soldaten trafen Mitte der 1940er Jahre in München zusammen und mit ihnen begegneten sich ganz unterschiedliche Biographien. Viele waren von Brüchen, Ängsten und Verlusten gezeichnet, in der Erinnerung blieben aber auch diejenigen präsent, die nicht zurückgekehrt waren, die Gefallenen und Ermordeten, die Millionen Toten des Dritten Reichs und des Krieges. „Männer in zerschlissenen Uniformen, Frauen in abgetragenen Kleidern und Mänteln. Die Gesichter waren ohne Ausdruck, die Augen tiefliegend und ohne jegliche Regung. Kinder sah ich nicht. Mich ergriff eine ungeheure Einsamkeit und Verzweiflung. Weg von dieser Stätte, nichts wie weg!“64 Der ehemalige Wehrmachtssoldat Walter Kolbenhoff erschrickt zutiefst, als er sich im Frühjahr 1946 einen Weg durch die zerbombte Innenstadt von München bahnt und die Menschen in der Trümmerlandschaft sieht. Der Schriftsteller hält seine Eindrücke in dem autobiographischen Roman „Schellingstraße 48. Erfahrungen mit Deutschland“ fest. Kolbenhoff ist dennoch geblieben, inmitten der Wüste, am Marienplatz, findet er eine Anzeige und fängt bald darauf an, als Journalist zu arbeiten. Nicht nur im Roman schreibt er unter dem prominenten Chefredakteur Erich Kästner für das Feuilleton der Neuen Zeitung.65

S TADT UND G ESELLSCHAF T IN DER B UNDESREPUBLIK „Noch lastet das Martyrium der jahrelangen Luftangriffe auf den Münchnern“, gibt der Historiker Richard Bauer zu bedenken. „Und doch war der Einmarsch der Amerikaner Anlaß zur Freude: Für München war der Zweite Weltkrieg zu Ende.“66 Not, Hunger und Kälte bestimmten weiterhin den Alltag der Bevölkerung, und in den Ruinen blühte der Schwarzmarkt.67 Die Chronik der Stadt berichtet am 16. August 1946 von einer Razzia, bei der „[...] große Mengen von Rauchwaren, Lebensmittelmarken, Schuhen, Radioröhren und Fahrrädern, nicht zuletzt namhafte Geldbeträge [...] beschlagnahmt [und] 514 Personen [...] festgenommen [wurden] [...]“68. Die Jahre nach 1945 waren nicht nur auf politischer Ebene überwiegend 64 |

Kolbenhoff, Walter (2008): Schellingstraße 48. Erfahrungen mit Deutschland. Mün-

chen 1984, S. 15-16. 65 |

Vgl. Ebd.

66 |

Vgl. Bauer 2005: S. 197.

67 |

Vgl. Krieg, Nina (1992): „Solang’ der alte Peter…“. Die vermeintliche Wiedergeburt Alt-

Münchens nach 1945. In: Bauer, Richard (Hg.): Geschichte der Stadt München. München, S. 394-412. Hier: S. 396. 68 |

http://www.muenchen.de/Rathaus/dir/stadtarchiv/chronik/1946/82446/1946.html,

(1. Dezember 2008).

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von Aktivitäten der Neuordnung und Wiederherstellung geprägt. Unter dem Oberbefehl der amerikanischen Besatzer taten sich in dieser Zeit besonders die beiden Oberbürgermeister Karl Scharnagl und Thomas Wimmer hervor. Scharnagl, Mitglied der Bayerischen Volkspartei, Landtagsabgeordneter und schon vor 1933 gewählter Bürgermeister von München, wurde nach seiner Befreiung aus dem KZ Dachau, vom amerikanischen Stadtkommandeur Oberst Eugene Keller ins Münchner Rathaus zurückberufen.69 Als Bayerischer Ministerpräsident fungierte nach der Kapitulation zuerst Scharnagls Parteifreund Fritz Schäffer, nach seiner Rückkehr aus dem Schweizer Exil wurde der SPD-Politiker Wilhelm Högner kurze Zeit später von der amerikanischen Militärregierung unter dem Oberbefehl von General Lucius D. Clay als Ministerpräsident eingesetzt. Mit vereinten Kräften wurde eine neue Verfassung vorbereitet und am 1. Dezember 1946 per Volksentscheid von den Bürgerinnen und Bürgern des Freistaats Bayern angenommen.70 1948 folgte der Sozialdemokrat Thomas Wimmer im Amt des Oberbürgermeisters, und der gelernte Schreiner waltete, so Bauer, bis zum Ende seiner Ära im Jahr 1960 als „guter Geist der Konsolidierung“71 Münchens. Der Wimmer Dammerl, wie der populäre Politiker von der Bevölkerung genannt wurde, veranlasste eine große Brennholzaktion und rief die Münchnerinnen und Münchner mit der Parole „Rama dama“ nach seinem eigenen Vorbild mit Schaufel und Schürze zum Räumen von Schutt und Unrat auf. Seinen Vorstellungen entsprechend, förderte der Sozialdemokrat, wie auch sein Vorgänger Scharnagl, ganz maßgeblich den Wiederaufbau der Stadt in ihren historischen Formen; eine Umgestaltung des Zentrums im Interesse des Autoverkehrs lehnte Thomas Wimmer kategorisch ab. „Wenn’s nicht mehr fahren können, dann bleiben die Stinkkarren halt stehen.“72 Den Sorgen und Nöten der Bewohnerinnen und Bewohner hörte Wimmer in seinen Sprechzeiten aufmerksam zu und demonstrierte auch auf diese Weise Autorität und Nähe zur Bevölkerung. Mit seiner authentischen Erscheinung wirkte der Oberbürgermeister mehr als andere Zeitgenossen als identitätsstiftende Figur. Im Jahr 1950 führte Wimmer den offiziellen Anstich des ersten Fasses durch den Oberbürgermeister der Stadt im Festzelt der Familie Schottenhamel auf dem Oktoberfest ein: „Aber warum hab ich denn das gemacht? München hat eine Zeit gehabt, wo das Braugewerbe das zweistärkste Gewerbe war und aus Freude und 69 |

Vgl. Kock, Peter Jakob (2000): Bayern nach dem Zweiten Weltkrieg. In: Treml, Wolf-

gang (Hg.): Geschichte des modernen Bayern. Königreich und Freistaat. 2. Aufl. München, S. 375-497. Hier: S. 390. 70 |

Vgl. Gelberg, Karl-Ulrich (2003): Vom Kriegsende bis zum Ausgang der Ära Goppel

(1945-78). In: Spindler, Max; Schmid, Alois (Hg.): Handbuch der bayerischen Geschichte, VI/1. München, S. 635-956. Hier: S. 645, 689. 71 |

Vgl. Bauer 2005: S. 203.

72 |

http://www.muenchen.de/Rathaus/dir/stadtspitze/buergermeister/100576/

wimmer.html,

(10. November 2010).

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aus Dankbarkeit dem Schicksal, daß wir wieder ein richtiges Bier kriegen und wieder ein richtiges Oktoberfest [...].“73 Fotoaufnahmen aus den 1950er Jahren zeigen Wimmer bei zahllosen Einweihungen und Richtfesten, zum Beispiel vor den fast fertig gestellten, neuen Verkaufsständen auf dem Viktualienmarkt. Auch die Baumaßnahmen der Nachkriegsjahre entsprachen in vieler Hinsicht dem Prinzip der Neuordnung und rekurrierten dabei im Wesentlichen auf dem so genannten Meitinger Plan vom November 1946, einer Art Leitfaden für die Wiederherstellung des zerstörten Stadtgefüges. Erklärtes Ziel war die Rekonstruktion von München in seinen gewachsenen Strukturen, denn auf diese Weise wird die Stadt „[...] eines Tages wieder Brennpunkt für den neuen Fremdenverkehr sein, und [...] [ihr] alter Ruf als deutsche Kunststadt wird neu erblühen“74 . Wie Rosenfeld deutlich macht, ist die Rekonstruktion eines bestimmten, meist früheren Zustands, und damit verknüpft auch die Herstellung von Normalität, aufs Engste mit der Rekonstruktion der städtischen Physis verbunden.75 Die Absichten des Münchner Stadtbaurats Karl Meitinger, der sein Amt auch während der Zeit des Nationalsozialismus bekleidet hatte, waren dabei keineswegs unumstritten und ließen in der Debatte ganz unterschiedliche Haltungen zu Tage treten.76 Während viele Münchnerinnen und Münchner das Stadtbild der Zukunft vor allem in modernen Bauten repräsentiert sehen wollten – auch die Wiederherstellung historischer Strukturen lässt sich als Strategie des Verdrängens interpretieren – bekundete etwa Karl Scharnagl seine Sorge über eine Vermassung von Wohnen und Leben in allzu monoton gestalteten Gebäudekomplexen, weil der OB eine erneute Gleichschaltung des Denkens in einer solchen Umgebung befürchtete.77 Die Historikerin Adelheid von Saldern unterteilt die Genese westdeutscher Städte nach 1945 in drei große Abschnitte. „Die erste Phase bildet die ‚Wiederaufbauzeit‘ der 1950er Jahre. Sie wird durch konzeptionelle und personelle Kontinuitäten zur NS-Zeit geprägt; allerdings wurden die Leitbilder einer ‚gegliederten und aufgelockerten‘ Stadt sowie einer Stadtlandschaft in quasi entnazifizierter Form in

73 |

Vgl. Stadtarchiv München (Hg.) (2003): Thomas Wimmer 1887 bis 1964. Der Wim-

mer Dammerl erzählt. Hörbuch mit Booklet. Ebenhausen; München. 74 |

Vgl. Meitinger, Karl (1946): Das neue München. Vorschläge zum Wiederaufbau.

München. 75 |

Vgl. Rosenfeld 2004: S. 37.

76 |

Vgl. ebd.: S. 113 und Nerdinger, Winfried (1984): Aufbauzeit. Planen und Bauen.

München 1945-1950. Katalog zum Architekturteil der Ausstellung Trümmerzeit im Münchner Stadtmuseum vom 2. Februar bis zum 29. April 1984. München, Einleitung. 77 |

Vgl. Scharnagl, Karl (1948): Wir und der Städtebau. München.

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die neue Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik eingepasst.“78 Mit dem Sieg über die Nationalsozialisten und dem Ende des Krieges im Mai 1945 suchten die Alliierten das Gedächtnis der Deutschen zu entnazifizieren, Kriegsverbrecher zu fassen und anzuklagen sowie die Menschen mittels Reeducation-Maßnahmen zu demokratischem Denken und Handeln zu erziehen. Neben der Denazifizierung und Demokratisierung von Staat und Gesellschaft verfolgten die Siegermächte die Dezentralisierung und Demilitarisierung des Landes. Nachdrücklich wurden diese Prozesse in der US-Besatzungszone vorangetrieben, in einer Münchner Papierfabrik stießen die Amerikaner auf die Mitgliedskartei der NSDAP, was systematische Verhaftungen in der Stadt ermöglichte. Jeder Deutsche im Alter von über 18 Jahren hatte sich in einem Fragebogen zu erklären, Parteigänger und Repräsentanten der NSDAP wurden vor Spruchkammern verhört und je nach Grad der Beteiligung zu Geldbußen, dem Einzug ihres Vermögens, dem Verlust des Arbeitsplatzes oder auch der Internierung in ein Arbeitslager verurteilt, analog wurden die Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg vor Gericht gestellt. Diese Verfahren der Entnazifizierung dauerten in Westdeutschland bis Februar 1950.79 Viele Biographien weisen in der Zeit von 1933 bis 1945 deutliche Leerstellen und Unklarheiten auf, manch einer konnte seinen Status behalten, viele fanden nach einiger Zeit wieder auf ihre Posten zurück. „Die ‚zweite Schuld‘ bestand in der Rückkehr der alten Eliten“, meint der Historiker Hermann Glaser, „auch gefördert durch den westlichen Antikommunismus, der Deutschland als wichtiges Bollwerk betrachtete, das nicht durch innere Auseinandersetzungen in seiner Konsistenz gefährdet werden sollte. Diese alten Eliten zeigten wenig Bereitschaft zu einer tief greifenden Läuterung, mieden aber auch als wendige Opportunisten und Karrieristen die offene Obstruktion des demokratischen Fortschritts.“80 Wie Gavriel Rosenfeld an der Thematik von „Architektur und Gedächtnis“ zeigt, lässt sich auch an den Bauten im Stadtraum nachvollziehen, auf welche Weise diverse „Strategien des Vergessens“81 zum raschen Aufschwung von München und anderen Städten der Bundesrepublik nach 1945 beitrugen. Auf den kollektiven Schuldspruch der alliierten Sieger folgten Jahre der Verdrängung und Wiedereingliederung in der Bundesrepublik, der Historiker Detlef Siegfried spricht erst zum Ende der 1950er Jahre von einer „Rückkehr der 78 |

Saldern, Adelheid von (2006): Kommunikation in Umbruchszeiten. Die Stadt im

Spannungsfeld von Kohärenz und Entgrenzung. In: Saldern, Adelheid von (Hg.): Stadt und Kommunikation in bundesrepublikanischen Umbruchszeiten. Stuttgart (Beiträge zur Kommunikationsgeschichte, 17), S. 11-44. Hier: S. 13. 79 |

Görtemaker, Manfred (2004): Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der

Gründung bis zur Gegenwart. Frankfurt am Main, S. 25-27. 80 |

Glaser, Hermann (2004): Kleine deutsche Kulturgeschichte. Eine west-östliche Er-

zählung vom Kriegsende bis heute. Frankfurt am Main, S. 126. 81 |

Rosenfeld 2004: S. 37.

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NS-Vergangenheit“82 . Ausgelöst wird die Auseinandersetzung durch verschiedene Ereignisse, zum Beispiel durch eine Welle antisemitisch motivierter Übergriffe in Westdeutschland, die Frage, was Kinder und Jugendliche in der Gegenwart der 1960er Jahre überhaupt von der Geschichte wissen, die mediale Berichterstattung über den Eichmann-Prozess, der 1961 in Israel stattfand, weitere Urteile gegen Verantwortliche des NS-Regimes. Auch durch die Verhandlung der bis dato weitenteils ausgeblendeten Vergangenheit in der Literatur von Max Frisch oder Günther Grass, findet die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus neuerlich Eingang in den gesellschaftlichen Diskurs der Bundesrepublik. Siegfried weist jedoch auf die wachsende Diskrepanz zwischen der öffentlichen Haltung und weiterhin bestehenden privaten Ansichten hin.83 Mit der Studentenbewegung und dem weit reichenden Wandel in vielen Bereichen der Gesellschaft kommt es in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre zu einer intensiven Debatte über die Aufarbeitung des Nationalsozialismus und die Rolle verschiedener Akteurinnen und Akteure. Wenngleich die Meinungen in dieser Frage divergieren und ein nicht unerheblicher Teil der Bundesbürgerinnen und Bundesbürger einen Schlußstrich unter der jüngsten Vergangenheit bevorzugt, sieht Detlef Siegfried in der kontroversen Besprechung der eigenen Geschichte insgesamt eine Voraussetzung für das gesteigerte Problembewusstsein in der Bundesrepublik.84 Nicht nur im Hinblick auf die Entwicklung der Städte begann „[u]m 1960 [...] die zweite Phase des technischen Modernismus, in der ein rigider Funktionalismus, ein weit greifender Fortschrittsglaube, ein soziales Gleichheitspostulat und eine professionsgebundene Planungseuphorie vorherrschten“85 . Im Stadtraum kommen diese Paradigmen ganz besonders in Gestalt von Wohnkomplexen und modernen Neubauvierteln an der urbanen Peripherie zur Sprache. Um die akute Wohnungsnot zu lindern und das enorme Wachstum der Bevölkerung auffangen zu können, wird im Süden von München beispielsweise die Entlastungsstadt Neuperlach realisiert. Adelheid von Saldern verweist zudem auf den massiven Ausbau der sozialen Infrastruktur, den Bau von Schulen und Freizeiteinrichtungen, Schwimmbädern, Sportplätzen und Bibliotheken in jenen Jahren.86 „Auf fast allen Gebieten“, berichtet der Spiegel 1964 in seiner München-Reportage, „sieht sich die Stadt mit dem Milliarden-Etat und 1,4 Milliarden Mark Schulden längst an die 82 |

Vgl. Siegfried, Detlef (2000): Zwischen Aufarbeitung und Schlußstrich. Der Umgang

mit der NS-Vergangenheit in beiden deutschen Staaten 1958 bis 1969. In: Schildt, Axel; Siegfried, Detlef; Lammers, Karl Christian (Hg.): Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre den beiden deutschen Gesellschaften. Hamburg (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, 37), S. 77-113. Hier: S. 78. 83 |

Vgl. Siegfried 2000: S. 83.

84 |

Vgl. ebd.: S. 79-80, 113.

85 |

Saldern 2006: S. 13.

86 |

Vgl. ebd.: S. 13-14.

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Grenzen ihrer Leistungsmöglichkeiten gedrängt. Sie baute in vier Jahren 40 000 Wohnungen, dazu 40 Schulen, 63 Turnhallen, 16 Gymnastikschulen, zwei Hallenbäder, neun Sportanlagen, acht Freizeitheime – zu wenig. Denn viele Schulen sind noch immer zum Schichtunterricht gezwungen. Und bis 1973 wird sich, wie die Bevölkerungsstatistik errechnet, allein die Zahl der Volksschüler in der Stadt von 80 000 auf 131 000 erhöhen.“87 Analog wird auch über pädagogische Ansätze nachgedacht, im Juli 1969 stimmt der Schulausschuss im Münchner Stadtrat einem Antrag der SPD-Fraktion auf Errichtung einer integrierten Gesamtschule zu. Das Schulreferat wird in Folge beauftragt, zusammen mit dem Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus zu klären, ob der Schulversuch durchgeführt werden kann. Das Konzept wird genehmigt und im September 1970 nimmt die Willy-Brandt-Gesamtschule ihren Unterricht in den Räumlichkeiten einer Hauptschule auf. 1973 kann schließlich ein neues Schulhaus an der Freudstraße im Norden von München bezogen werden.88 „Dynamische Zeiten“ lautet der Titel eines Sammelbands über „Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften“; wie der Historiker Axel Schildt konstatiert, folgt auf die Zeit des strukturellen und mentalen Wiederaufbaus „ein Jahrzehnt des beschleunigten Wandels“89 . International zeugen Ereignisse, Bilder und Debatten in dieser Epoche auf durchaus unterschiedliche Art und Weise von kulturellen und gesellschaftlichen Transformationsprozessen. In Berlin wird 1961 die Mauer gebaut und nicht nur Deutschland, sondern die Welt spaltet sich im OstWest-Konflikt, der Kalte Krieg wird zum alles beherrschenden Thema. Im Lauf der 1960er Jahre kommt es in den USA, Europa und der Bundesrepublik zu Studentenbewegungen und zahllosen Protestaktionen, die nationalsozialistische Vergangenheit, die Apartheid, der Umgang der Gesellschaft mit ihrer Geschichte und ihren Akteurinnen und Akteuren, die Frage der Schuld auch an neuen Kriegen, der Machtanspruch von Autoritäten, die Rolle der Frauen in den Gesellschaften oder die Struktur der Familie, immer eindringlicher werden bestehende Ordnungen hinterfragt. 1968 gilt im kollektiven Gedächtnis als Schlüsseljahr, zu dem sich Ereignisse und komplexe Entwicklungen verdichten. Die Verknüpfungen, aus denen signifikante Zeichen hervorgegangen sind und auf welche diese Repräsentationen eigentlich verweisen, geraten jedoch zusehends in Vergessenheit, wie der Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar bemerkt. Nicht kulturelle Konstellationen werden mit dem Erinnerungsort 1968 in Verbindung gebracht, „sondern Bilder 87 |

München. O’ zapft is! (23. September 1964): (23. September 1964). In: Der Spiegel,

Ausgabe 39; München. Deutschlands Heimliche Hauptstadt, S. 42-52. Hier: S. 50. 88 |

Vgl. http://www.wbg.musin.de/escms/index.php?page=menupunkt2,

( 20.

Oktober 2010).

89 |

Vgl. Schildt, Axel; Siegfried, Detlef; Lammers, Karl Christian (Hg.) (2000): Dyna-

mische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften. (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, 37) Hamburg.

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und Personen, die für das Ganze stehen“90. Rudi Dutschke, der Studentenführer im Strickpullover, Fritz Teufel, Rainer Langhans, Uschi Obermaier und die Kommune 1, Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Demonstrationszügen, „Ho-Chi-Minh“Poster oder das belagerte Hochhaus des Axel Springer-Verlags in West-Berlin sind zu Ikonen der Epoche geworden. Mit der Publikation „1968. Das Jahr das alles verändert hat“ versucht Kraushaar zu den Ereignissen selbst zurückzukehren, um der Mythologisierung auf der einen und der Diffamierung auf der anderen Seite entgegenzuwirken, und stellt das politische Geschehen des Jahres 1968 in West-Berlin, Köln, Bonn und Frankfurt am Main, Mexiko-City, Tennessee, New York, Damaskus, Nanterre und Stockholm, Moskau, Prag und Ost-Berlin etc. in chronologischer Reihung vor.91 Bezeichnenderweise beginnt die Studie mit zwei Münchner Geschichten. Am 3. Januar 1968 lädt der Schriftsteller Frank Arnau zu einer Pressekonferenz und vermeldet die Gründung einer überparteilichen, demokratischen „Aktion gegen Restauration, Rechtsradikalismus und Notstandspläne“92 . Ebenfalls in München feiert tags darauf der Film „Zur Sache Schätzchen“, gedreht von der 26 Jahre alten Regisseurin May Spils, Premiere. In der populären Komödie trifft die bürgerliche Barbara, gespielt von Uschi Glas, in Münchens Künstlerviertel Schwabing auf den Schlagertexter Martin, verkörpert durch den Schauspieler und Drehbuchautor Werner Enke.93 Nahezu zeitgleich finden in München zwei Ereignisse statt, die sich erst einmal nicht zueinander verhalten und dennoch miteinander in Verbindung stehen. Beide Begebenheiten lassen sich im Gefüge der Stadt, und analog auch darüber hinaus, als Phänomene einer immer weiter voranschreitenden Auflösung eindeutiger Ordnungen verstehen, bei aller Verschiedenheit werfen beide Veranstaltungen verwandte Fragen auf und folgen dabei ähnlichen Erzählweisen. Vom Umgang mit der Vergangenheit über kulturelles Handeln oder Moralvorstellungen im Konflikt unterschiedlicher Milieus und Generationen bis hin zur Modernisierung der Stadt öffnet sich eine Vielzahl von Themen und Motiven, in beiden Geschichten tritt das eigentliche Feld, München, im Januar 1968 in seiner ganzen Dichte und Komplexität hervor. Der Sozialwissenschaftler Ulrich Beck diagnostiziert mit seiner Theorie einer reflexiven Modernisierung einen „Meta-Wandel, in dem sich die Koordinaten, Leitideen und Basisinstitutionen einer bestimmten, längere Zeit stabilen Formation west-

90 |

Vgl. Kraushaar, Wolfgang (1998): 1968. Das Jahr, das alles verändert hat. 2. Aufl.

München; Zürich, S. 7. 91 |

Vgl. Kraushaar 1998: S. 7.

92 |

Ebd.: S. 9.

93 |

Vgl. ebd.: S. 10.

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licher Industriegesellschaften und Wohlfahrtsstaaten verändern“94 . Im Gewebe der Städte verschieben sich Diskurse, Umgangsformen und Deutungshoheiten im Verlauf der 1960er Jahre. Die Moderne beginnt ihre Wirkung zu hinterfragen und differenziert sich in ihrer Bestimmtheit aus. Zusehends verlangen Bürgerinnen und Bürger an Entscheidungen zu partizipieren und nicht mehr den Zielsetzungen autoritärer Gremien und Institutionen folgen zu müssen. Gesellschaftliche und kulturelle Wandlungsprozesse finden ihre Entsprechung im Bereich der Stadtstruktur. Schon 1965 klagt der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich über die „Unwirtlichkeit unserer Städte“95 und denkt, ausgehend von der Krise der Stadt und den Ideen moderner Raumnutzung in der Gegenwart der 1960er Jahre, über die Zukunft nach. Innerhalb von einem Jahrzehnt verändert sich die Auseinandersetzung mit der Stadt, analog lässt sich die Wirkung sozialwissenschaftlich argumentierender Akteurinnen und Akteure sowie entsprechender Konzepte und Methoden auf kommunalpolitische Entscheidungen, wenn auch unter wechselnden Prämissen, den gesamten Zeitraum hindurch verfolgen. „Der Stadtbegriff dynamisiert sich mehr und mehr. Stadt ist nicht mehr länger ein Zustand, sondern ein Prozeß. Über Jahrhunderte hinweg und bis in das 19. Jahrhundert hinein war die Stadt gerade in Mitteleuropa ein Sinnbild des Beständigen, Unveränderlichen, Kompakten. [...] Heute verändern sich unsere Städte unaufhörlich. Alles ist mobil geworden.“96 Zu diesem analytischen Schluss gelangt Münchens Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel im Rahmen eines Vortrags bei der Katholischen Akademie in Bayern. Im Oktober 1969 referiert Vogel über die „Stadtregion als Lebensraum“ und kommt zu der Erkenntnis, dass „[...] der Aggregatszustand der Städte, der ehedem fest war, [...] nunmehr flüssig geworden ist“97. Eine dritte Episode in der Entwicklung westdeutscher Städte nach 1945 sieht Adelheid von Saldern mit der Ölkrise 1973 beginnen. Die Historikerin versteht das Ereignis als ein Symbol der Wende, das im weiteren Verlauf nicht nur die Weltwirtschaftskrise der Jahre 1973/74 ausgelöst hat. „Das Wirtschaftswachstum verlangsamte sich seither, während die Sockelarbeitslosigkeit kontinuierlich anstieg. Reformmaßnahmen, die den Staat unnötig Geld kosteten, mussten angesichts leerer Haushaltskassen fallen gelassen oder ‚abgespeckt’ werden.“98 Auf die boomende Konjunktur der 1950er und 1960er Jahre folgt eine Episode der ökonomischen, aber auch sozialen Rezession, die Zeit der Krise gleicht wie die folgende Phase ei94 |

Beck, Ulrich; Bonß, Wolfgang; Lau, Christoph (2001): Theorie reflexiver Modernisie-

rung. Fragestellungen, Hypothesen, Forschungsprogramme. In: Beck, Ulrich; Bonß, Wolfgang (Hg.): Die Modernisierung der Moderne. Frankfurt am Main, S. 11-59. Hier: S. 31. 95 |

Vgl. Mitscherlich, Alexander (1970): Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung

zum Unfrieden. Frankfurt am Main. 96 |

Vogel, Hans-Jochen (1971): Städte im Wandel. Stuttgart u. a., S. 25-26.

97 |

Ebd.

98 |

Vgl. Saldern 2006: S. 14.

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nem retardierenden Moment. Unter sich abermals wandelnden Voraussetzungen werden in den Städten wieder neue Fragen aufgeworfen, zusehends differenzieren sich in den 1970er Jahren ökonomische Konzepte im Umgang mit urbanen Räumen auf der einen und immer bewusster werdende Artikulationen und Strategien von Lebensstilen auf der anderen Seite aus. Der Historiker Anselm DoeringMannteufel warnt seinerseits davor, Bezüge und Prozesse im Kontext der 1960er Jahre verkürzt darzustellen, und geht analog davon aus, dass „[d]ie mannigfaltigen, scheinbar unspektakulären Veränderungen im Zeitraum von etwa 1957/58 bis 1972/73 [...] Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur samt und sonders [ergriffen] und sie so tiefgreifend [durchformten], daß erst während dieser Jahre die Gesellschaft der Bundesrepublik ihr unverwechselbares westdeutsches Profil ausbildete“99 . In diesem Sinn ist von den langen 1960er Jahren die Rede.

„M ÜNCHEN WIRD O LYMPIASTADT “100 „Liebe Buben und Mädel!“, mit diesen Worten beginnt ein 1967 vom Franz Schneider Verlag in München herausgegebener Band des Autors Tony Schwaegerl, „[...] [d]ie Schönheit unserer Stadt und ihr weltweiter Ruhm als eine Stadt der Kunst und Kultur haben wesentlich dazu beigetragen, daß das Internationale Olympische Komitee in seiner 64. Sitzung in Rom am 26. April 1966 entschieden hat, die Olympischen Sommerspiele 1972 nach München zu vergeben. Die Münchner wissen, daß ihnen damit eine große und ehrenvolle Auszeichnung zuteil wurde. Sie wissen aber auch, daß sie in den kommenden sechs Jahren alle Kräfte darauf konzentrieren müssen, ihre Stadt olympiareif zu machen. [...] Zum Gelingen der Olympischen Spiele genügen aber Stadien und Arenen allein nicht. Sollen die Spiele ein Erfolg werden, so müssen alle, ob sie als aktive Sportler oder nur als Zuschauer daran teilnehmen, den Willen haben, diese Spiele im Geist weltweiter Freundschaft auszutragen.“101 Mit dem farbenfrohen Kinderbuch können sich nicht nur die jungen Leserinnen und Leser unter dem Motto „München wird Olympiastadt“ auf das bevorstehende Großereignis, seine Anforderungen und die baulichen Auswirkungen einstimmen und noch dazu alles über die Stadt und ihre sportlichen Aktivitäten erfahren. Wie Phoenix stieg München im Verlauf der Wirtschaftswunderjahre aus Trümmern, Schutt und Asche. In nur einem Jahrzehnt hatte sich Bayerns Landeshauptstadt „[...] eindrucksvoll [...] wieder erholt – etwas das nach Kriegsende vollkom99 |

Doering-Mannteufel, Anselm (2000): Westernisierung. Politisch-ideeller und gesell-

schaftlicher Wandel in der Bundesrepublik bis zum Ende der 1960er Jahre. In: Schildt; Siegfried; Lammers: S. 311-341. Hier: S. 311. 100 |

Schwaegerl, Toni (1967): München wird Olympiastadt. München.

101 |

Schwaegerl 1967: S. 9.

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men undenkbar schien“102 . Schon im Jahr 1950 wurden in München eine Million Übernachtungsgäste gezählt, neben dem Fremdenverkehr war und ist vor allem das Messewesen ein bedeutender Wirtschaftszweig der bayerischen Landeshauptstadt. Zur „Deutschen Verkehrsausstellung“ mit zahlreichen technischen Neuerungen auf dem Gebiet der öffentlichen Personenbeförderung kamen schon im Jahr 1953 rund drei Millionen Besucherinnen und Besucher auf das Messegelände an der Theresienhöhe.103 Und München konnte 1950 mit fast 830.000 Bewohnerinnen und Bewohnern an die Bevölkerungsstatistik der 1930er Jahre anknüpfen. Seit 1946 zogen durchgängig mehr Menschen aus dem In- und Ausland zu als weg, unter ihnen zunächst auch Rückkehrerinnen und Rückkehrer, Flüchtlinge und Vertriebene; in den darauf folgenden Jahren kamen mit dem ökonomischen Aufschwung jedoch mehr und mehr Fachkräfte, Auszubildende und Studierende nach München. 1955 schloss die Bundesrepublik erstmals einen Vertrag zur Anwerbung von Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern mit der italienischen Staatsregierung. Weitere Vereinbarungen wurden in der Zeit getroffen, auch aus Italien, Griechenland, Spanien, Portugal und der Türkei machten sich Menschen auf den Weg nach Deutschland, und viele von ihnen blieben aufgrund des hohen Bedarfs in München.104 Egon Dheus vom Statistischen Amt der bayerischen Landeshauptstadt führt die positive Entwicklung der Ökonomie in jenen Jahren auf die Schaffung von zehntausenden Arbeitsplätzen in Folge der städtischen Wirtschaftspolitik und die parallel aufgenommenen Wohnungsbaumaßnahmen zurück.105 Mit der Geburt von Thomas Seehaus, dem Sohn eines Kaminkehrermeisters aus Pasing, stieg München am 15. Dezember 1957 offiziell in den Rang einer Millionenstadt auf, gleichzeitig wurde auch der Topos vom Millionendorf geprägt.106 „Die Jahre zwischen 1958 und 1960 waren für München in gewissem Sinne eine Zäsur“, erklärt Hans-Jochen Vogel in der Rückschau auf seine Zeit im Rathaus, „[d]er Wiederaufbau war nahezu abgeschlossen, eine Phase stürmischen Wachstums hatte begonnen.“107 1958 feiert die Stadt ihr 800stes Jubiläum, und mit dem Gründungsfest bietet sich erstmals nach dem Krieg die Möglichkeit, ein modernes Erscheinungsbild von München zu artikulieren und damit Zukunftsvisionen für die Bevölkerung zu entwerfen. „Jede Zeit schafft sich ihre Stadt“, sagt der Geo102 |

Rosenfeld 2004: S. 37.

103 |

Vgl. Dheus 1968: S. 114-117.

104 |

Vgl. Schrettenbrunner, Helmut (1971): Gastarbeiter. Ein europäisches Problem aus

Sicht der Herkunftsländer und der Bundesrepublik. Frankfurt am Main; Berlin; München. 105 |

Görtemaker 2004: S. 43, 45.

106 |

Friedmann, Werner (23. November 1957): Das Millionendorf. In: Süddeutsche Zei-

tung. Zitiert nach: Grossherr, Dieter (Hg.) (2003): Das Millionendorf. Münchner Gschichten aus den 50er Jahren. Gudensberg-Gleichen, S. 10-11. 107 |

Vogel, Hans-Jochen (1972 a): Die Amtskette. Meine 12 Münchner Jahre. München,

S. 32.

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graph Heinz Fassmann, „[d]ie Städte sind Ausdruck der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und technologischen Entwicklung und damit immer auch zeitgebunden.“108 Ohne die jüngste Vergangenheit in irgendeiner Weise zu thematisieren, wird nach positiven Bezugspunkten und Symbolen in der Biographie von München gesucht. In seiner Gesamtheit trägt das Jubeljahr – nach innen wie auch nach außen – ganz maßgeblich zum mentalen Wiederaufbau der städtischen Identität bei. Mit einem Preisausschreiben wird 1962 ein passender Slogan für das moderne München ermittelt, und die „Weltstadt mit Herz“ kann sich als Motto des Jahrzehnts etablieren, während am Beispiel der so genannten „Schwabinger Krawalle“109 schon im Juni des selben Jahres deutlich wird, dass die Ordnung gesellschaftlichen Handelns gerade im Kontext urbaner Räume nachhaltig im Wandel begriffen ist. Mit der Ernennung zur „Deutschlands Heimliche Hauptstadt“ scheint die „Hauptstadt der Bewegung“ Mitte der 1960er Jahre endgültig zurückgelassen. München und Bayern profitierten in den 1950er Jahren ganz enorm von Einrichtungen und Institutionen, Firmen und Unternehmen wie etwa Siemens und Halske, Osram und Agfa, die in den 1940er Jahren vor den Bombenangriffen der Alliierten aus Berlin geflohen waren bzw. die sowjetische Besatzungszone und die geteilte Stadt nach Kriegsende verließen, um sich im Großraum München anzusiedeln.110 „Die Hamburger Perspektive des SPIEGEL“, kommentiert der Historiker Stephan Deutinger, „erklärt so manchen Ausfall des kritischen Berichts gegen bayerisch-münchnerische Eigentümlichkeiten und Lebensart. Aufgezeigt wurde jedoch ohne Ressentiments, worin der harte Kern [...] der ‚heimlichen Hauptstadt‘ bestand: München war unwiderruflich zur führenden Industriestadt geworden. Zwischen 1950 und 1964 hatte sich der Gesamtumsatz der Münchner Wirtschaft auf 31 Milliarden DM verfünffacht, die Zahl der Arbeitsplätze war von 420.000 auf 700.000 gestiegen.“111 Nicht nur die Umsätze der Industrie schnellten derart in die Höhe, dass München bald vor industriellen Zentren wie Düsseldorf oder Essen rangierte, allein Hamburg und West-Berlin erzielten noch bessere Bilanzen, „[ä] ußerlich sichtbar war die hauptstadtähnliche Verdichtung administrativ und kulturell bedeutsamer Institutionen, Behörden, Museen und Sammlungen“112 . Stephan 108 |

Fassmann, Heinz (2004): Stadtgeographie I. Allgemeine Stadtgeographie. Braun-

schweig, S. 66. 109 |

Vgl. Fürmetz, Gerhard (Hg.) (2006): „Schwabinger Krawalle“. Protest, Polizei und

Öffentlichkeit zu Beginn der 60er Jahre. Essen. 110 |

Vgl. Hefele, Peter (1998): Die Verlagerung von Industrie- und Dienstleistungsunter-

nehmen aus der SBZ/DDR nach Westdeutschland. Unter besonderer Berücksichtigung Bayerns (1945-1961). (Beiträge zur Unternehmensgeschichte, 4) Stuttgart. 111 |

Deutinger, Stephan (2001): Vom Agrarland zum High-Tech-Staat. Zur Geschichte

des Forschungsstandorts Bayern 1945-1980. München; Wien, S. 25-26. 112 |

Ebd.

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Deutinger betont die Rolle der Wissenschaft mit Blick auf diese Entwicklungen und verweist abermals auf den Report im Spiegel, der den international renommierten Physiker Werner Heisenberg zitiert, „dem München als die Stadt mit dem ‚idealen wissenschaftlichen Klima‘ galt“113 . Bereits in den ausgehenden 1940er Jahren wurde von Seiten der Politik und auch auf Betreiben der Wirtschaft nach innovativen Möglichkeiten der Verknüpfung von Industrie, Grundlagenforschung und Wissenschaft gesucht, auch die Gründung der Fraunhofer Gesellschaft „[...] am 26. März 1949 war das Ergebnis einer ganzen Reihe von Ansätzen zur Umgestaltung der bayerischen Wissenschafts- und Forschungslandschaft“114 . Der Ruf des Nobelpreisträgers in die bayerische Landeshauptstadt, in der Heisenberg größtenteils auch aufgewachsen war, wo er studiert hatte und nach Jahren im In- und Ausland von 1958 bis 1970 das Max-Planck-Institut für Physik leiten sollte, war ein klares Signal für den Wissenschaftsstandort München.115 Der Physiker, der wegen seiner Arbeit im Uran-Programm der Nationalsozialisten durchaus umstritten war, beteiligte sich schon im Vorfeld federführend an der Konzeption des Garchinger Forschungszentrums im Norden von München, das Atom-Ei, ein Reaktor zu Studienzwecken und Symbol der Modernität, konnte 1957 den Betrieb aufnehmen.116 „Den technischen Fortschritt zu finden“, äußerte Karl Scharnagl rund zehn Jahre zuvor, „braucht uns keine Sorge zu sein. Eine Sorge muß nur sein, seine vernünftige Anwendung zu sichern. Augenblicklich ist der Gipfel dieses Fortschritts die Atomforschung. Ihr Produkt, die Atomenergie, zu einer dem kulturellen Wert dienenden Anwendung zu bringen statt zu den zerstörenden Anwendungen der Kriegsführung, ist die edelste Aufgabe, die der Menschheit seit Generationen, ja vielleicht seit jeher gestellt war.“117 Im Rahmen der offiziellen Sitzung zum 800sten Jubiläum der Stadt hält Werner Heisenberg 1958 die Festrede im Kongresssaal des Deutschen Museums, neben dem amtierenden Oberbürgermeister Thomas Wimmer und dem Münchner Stadtrat sind auch Vertreter der Bundes- und der Landesregierung anwesend.118

113 |

Ebd.

114 |

Egger, Christine (22. Oktober 2010): Nachdenken im Auftrag. Eine Geschichte der

Fraunhofer-Gesellschaft. aventinus bavarica Nr. 18). Verfügbar unter: http://www.aventinus-online.de/no_cache/persistent/artikel/ 7954/, (11. November 2010). 115 |

Vgl. Böhm, Laetitia (2007): Universitäten und Wissenschaften im neubayerischen

Staat. In: Spindler, Max; Schmid, Alois (Hg.): Handbuch der bayerischen Geschichte, VI/2, München, S. 439-494. Hier: S. 470. 116 |

Vgl. Heßler, Martina (2007): „Die kreative Stadt“. Zur Neuerfindung eines Topos.

Bielefeld, S. 71-74. 117 |

Scharnagl 1948: S. 17.

118 |

Vgl. Landeshauptstadt München (Hg.) (1988): Weltstadt München. Meine Heimat.

München, S. 126.

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Die Zukunft von Stadt, Struktur und Raum wird seit den frühen 1960er Jahren im so genannten Jensen-Plan verhandelt. Mit einem nahezu uneingeschränkten Vertrauen auf Expertenwissen wird die urbane Entwicklung von Verantwortlichen der Landeshauptstadt gemeinsam mit den entsprechenden Fachleuten am Reißbrett geplant. Schon in den 1950er Jahren wurde neben einer Vielzahl von Wohnungen und Appartements, Kaufhäusern und Büroeinheiten in München auch ein modernes Bahnhofsgebäude errichtet. Mit Projekten wie der Maxburg, einem Verwaltungsgebäude mit Geschäftseinheiten, oder dem Wohnhaus an der Theresienstraße prägte der Architekt Sep Ruf das moderne Gesicht der Stadt wie kein anderer in dieser Phase.119 Alle Schritte in Bezug auf den weiteren Ausbau des Stadtgefüges orientieren sich seit 1963 an dem ganzheitlich aufgestellten Konzept des Raumplaners Herbert Jensen. „Auf der Grundlage des [...] Planwerks holte München in einem gewaltigen Kraftakt die Modernisierung der Stadt nach.“120 Mit dem Bau der U-Bahn, der Anlage einer S-Bahn und der Führung des Individualverkehrs in Ringen um die Innenstadt soll das seit Jahren anwachsende Problem der Infrastruktur auf mehreren Ebenen angegangen werden.121 „Das einzige Massenverkehrsmittel der berstenden Millionenstadt ist die weiß-blaue Trambahn“, spottet der Spiegel im Jahr 1964, „[i]m gleichen Zeitraum, in dem die Einwohnerzahl um 40 Prozent und die Zahl der Kraftfahrzeuge um 500 Prozent zunahm, verlängerte sich ihr Streckennetz von 121 auf 123 Kilometer. Seit zehn Jahren debattiert München über seine U-Bahn, mit deren Bau soeben begonnen wurde. Aber erst nach weiteren zehn Jahren – wenn sich der Verkehr wiederum verdoppelt haben wird – kann die Stadt nach optimistischen Prognosen über eine erste Untergrund-Querverbindung vom Norden (Freimann) nach Süden (Sendling) verfügen und über eine unterirdische Bundesbahn-Verbindung vom Hauptbahnhof (West) zum Ost-Bahnhof. Und erst gegen Ende dieses Jahrtausends darf sie mit einem kompletten, gut funktionierenden S- und U-Bahnsystem (14 Linien) rechnen.“122

119 |

Vgl. Wichmann, Hans (Hg.) (1985): In memoriam Sep Ruf. Katalog zur gleichnami-

gen Ausstellung in der Neuen Sammlung, Staatliches Museum für Angewandte Kunst, München, Dezember 1985 bis Februar 1986. Stuttgart und Kniep, Jürgen (2009): Wiederaufbau und Wirtschaftswunder. Bildband zur Bayerischen Landesausstellung 2009 (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur, 56). Regensburg, S. 96, 101. 120 |

Hoffmann, Lutz: stadt.bau.plan. 850 Jahre Stadtentwicklung München. Auf der

Überholspur in die Moderne 1960-1972. Verfügbar unter: www.muenchen.de/Rathaus/ plan/stadtentwicklung /flaechennutzplan/stadt_bau_plan_index/91930/abteilung6. html, (4. Dezember 2010). 121 |

Vgl. Hoffmann, Lutz (2004): Aufstieg aus den Trümmern. 1945-1960. In: Landes-

hauptstadt München; Münchner Stadtmuseum (Hg.): München wie geplant. Die Entwicklung der Stadt von 1158 bis 2008. München, S. 107-134. Hier: S. 122, 127. 122 |

München. O’ zapft is! (23. September 1964). In: Der Spiegel, Ausgabe 39; München.

Deutschlands Heimliche Hauptstadt, S. 42-52. Hier: S. 50.

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An diesem Punkt kommt die Idee auf, München zur Olympiastadt zu machen. Nicht nur das Großstadion, auch andere Vorhaben wie die Ausweitung von Erholungsflächen oder die Einrichtung von Studentenwohnheimen sind bereits im Jensen-Plan angesprochen.123 Erste Entwürfe liegen vor, und an vielen Stellen wird gebaut. Für München als Austragungsort der XX. Olympischen Sommerspiele setzen sich in erster Linie Willi Daume, Präsident des Nationalen Olympischen Komitees (NOK) und Mitglied des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), sowie der Jurist Hans-Jochen Vogel, der Thomas Wimmer 1960 im Amt des Oberbürgermeisters nachgefolgt ist, ein. Für „München – Munich – Monaco“ wird mit drei bezeichnenden Devisen geworben, die Rede ist von den „Spielen der kurzen Wege“, zum Schauplatz soll die „Stadt im Grünen“ werden, und nachdrücklich wird die Bedeutung Münchens als „Zentrum der Kultur“ in den Bewerbungsunterlagen hervorgehoben.124 Hostessen im Dirndl repräsentieren die „Weltstadt mit Herz“ auf der alles entscheidenden Ausstellung für die Mitglieder des IOC in Rom.125 Als Vogel und Daume am 26. April 1966 tatsächlich den Zuschlag für Olympia 1972 erhalten, beschleunigen sich die im Strategiepapier von 1963 genannten und bis in die 1990er Jahre hinein angelegten Bauvorhaben mit der finanziellen Unterstützung von Bund und Land. „Was für 30 Jahre im Stadtentwicklungsplan von den Verantwortlichen konzipiert oder angedacht war, sollte jetzt in wichtigen Teilen in nur sechs Jahren umgesetzt werden“,126 fasst der Historiker Ferdinand Kramer zusammen. Während der Vorbereitungen zu den kommenden Ereignissen schreitet die technische Modernisierung der Stadt seit Mitte der 1960er Jahre in ungeheuren Schritten voran. „München wird moderner“ steht an den zahllosen Baustellen und Gräben für das S- und U-Bahn-Netz weithin sichtbar auf großen Tafeln geschrieben.127 „Jede Phase und Form der gesellschaftlichen Modernisierung schafft eigene Organisationsformen des Raumes“, erklärt der Stadtforscher Detlev Ipsen, „verändert Teile seiner Gestalt und wirkt sich so auf die Wahrnehmung des Raumes aus. Die Wahrnehmung wirkt auf das Verhalten und damit auf die funktionelle Organisation des Raumes, auf seine materielle Struktur und ästhetische Gestalt.“128 Nur we123 |

Vgl. Kramer, Ferdinand (2008): München und die Olympischen Spiele von 1972.

In: Koller, Christian (Hg.): Stadt in der Geschichte. Sport als städtisches Ereignis. (Veröffentlichungen des Südwestdeutschen Arbeitskreises für Stadtgeschichtsforschung, 33) Ostfildern, S. 239-252. Hier: S. 242-243. 124 |

Landeshauptstadt München (Hg.) (1966): München. Bildband zur Bewerbung um

die XX. Olympischen Sommerspiele. München. 125 |

Vgl. Fotografien von Georg Rauchwetter, Bildbestand Wolfgang Roucka.

126 |

Kramer 2008: S. 243.

127 |

Vgl. Pohlmann, Ulrich (Hg.) (2008): Dimitri Soulas. Augenblicke, Fotografien 1967-

1974. München, S. 80. 128 |

Ipsen, Detlev (2006): Ort und Landschaft. Wiesbaden, S. 13.

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nige Kilometer vom Marienplatz im Zentrum der Stadt entfernt, wird das Oberwiesenfeld, ein ehedem militärisch genutzte Brache, zum zentralen Austragungsort der Spiele, in unmittelbarer Nähe zu den Sportstätten liegt das Olympische Dorf. Der Landschaftsarchitekt Günther Grzimek hat aus dem Gelände und den dort deponierten Trümmern der Stadt einen Park geformt, der als Gebrauchsgegenstand von allen Menschen gleichermaßen für Spiel, Sport und Erholung genutzt werden kann. Grzimek begreift die Fläche als Freiraum, der „[...] die Stadt visuell betont einbeziehen, d.h. das Gelände zur städtischen Umgebung öffnen [soll] [...], so daß die Besucher sich zwar inmitten eines autonomen Grünkomplexes befinden, aber die Stadt von hier aus erleben, in der Stadt bleiben.“129 Eingebunden in das rund 280 Hektar umfassende Areal des Olympiaparks liegen die Olympiahalle, die Schwimmhalle, der Fernsehturm und das Stadion. Konzipiert von dem Architekturbüro Günter Behnisch und Partner aus Stuttgart, werden die zentralen Bauten von der geschwungenen Zeltdachkonstruktion des Ingenieurs Frei Otto überspannt und auf diese Weise fließend mit der modellierten Landschaft um den See in der Mitte verknüpft. „Wer in einer Stadt wie München die einmalige Chance hat, einen großen, Landschaft und Architektur übergreifenden Bereich zu planen und zu bauen, muß sich mit den vorhandenen großartigen Schöpfungen des 17., 18. und 19. Jahrhunderts, dem Nymphenburger Park und dem Englischen Garten auseinandersetzen. Wie diese Anlagen aus dem Geist ihrer Zeit entstanden, so gilt es heute, auf dem Oberwiesenfeld eine Anlage zu schaffen, die für unsere Auffassungen und Möglichkeiten charakteristisch ist.“130 Für das Erscheinungsbild der Olympischen Sommerspiele ist der Ulmer Designer Otl Aicher verantwortlich und hat in seiner Funktion als Gestaltungsbeauftragter des Organisationskomitees neben einem komplexen Farbsystem, das auf den Tönen Silber, Hellgrün und Lichtblau basiert, mit den für alle verständlichen Piktogrammen sogar eine eigene Zeichensprache für München 1972 entworfen.131 Um den Unterschied zu den Olympischen Spielen von Berlin, dem Geist von 1936 und der von Leni Riefenstahl geprägten Ästhetik der Nationalsozialisten klar ersichtlich zu machen, werden die Farben Schwarz, Rot, Gold in der visuellen Konzeption der Münchner Spiele bewusst ausgeklammert.132 Als außergewöhnlich ist überhaupt das Spektrum an Innovationen auf den Gebieten der Technologie und der Gestaltung anzusehen, das seit der Mitte der 1960er Jahre von zahlreichen Akteurinnen 129 |

Grzimek, Günther (1972 a): Spiel und Sport im Olympiapark München. In: Gollwitzer,

Gerda (Hg.): Spiel und Sport in der Stadtlandschaft. Erfahrungen und Beispiele für morgen. München (Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Gartenkunst und Landschaftspflege, 9), S. 10-33. Hier: S. 12. 130 |

Behnisch, Günter (1968): Atmosphäre der Offenheit, Leichtigkeit und Menschlich-

keit. In: Münchner Leben, Olympia-Sonderheft Oktober 1968, S. 42-43. Hier: S. 43. 131 |

Vgl. Rathgeb, Markus (2007): Otl Aicher. London, S. 78-111.

132 |

Vgl. Rathgeb 2007: S. 83.

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und Akteuren, Firmen und Institutionen für Olympia geplant und umgesetzt worden ist. „Am Oberwiesenfeld“, meint der Geograph Robert Geipel, „entstand statt eines Naturstein-Monuments eine voralpine künstliche Endmoränenlandschaft. Statt demonstrativ überhöht zu sein, versinkt das Hauptstadion in einer Mulde, überwölbt von einem durchscheinenden, 75 000 Quadratmeter großen Acryldach, angelehnt an eine Seenkette, eingebettet in Grünanlagen und überhöht von einem Aussichtsberg aus dem Schutt der kriegszerstörten Stadt sowie dem Fernsehturm, einer Startrampe gleich, von der mit der Schubkraft von 2000 TV-Spezialisten das Image Münchens in alle Welt übertragen wird: ‚Spiele der Heiterkeit‘ mit Courrèges-Kostümen für die Ordner und Farbbändern statt Fahnen.“133 Ein großer Enthusiasmus hat die Stadt und ihre Bewohnerinnen und Bewohner im Laufe der 1960er Jahre ergriffen. Weitenteils rekonstruiert, wiederhergestellt und noch dazu modernisiert, strahlt München in dieser Phase eine besondere Stimmung aus. „München – das ist die Gleichnamigkeit für Heiterkeit und Gemütlichkeit, für Weltoffenheit und bayerisches Kolorit, für Kunst und Kultur, für Handwerk und Handel, für Wissenschaft und Technik. München – die Weltstadt mit Herz, München – die heimliche Hauptstadt Deutschlands, München, die Olympiametropole 1972.“134 Die Ästhetik der Spiele, so die grundlegende Annahme, bedingt sich wechselseitig mit der Atmosphäre der Stadt und den Befindlichkeiten ihrer Bewohnerinnen und Bewohner. Gäste aus aller Welt reisen nach München, und schon im Vorfeld von Olympia wird ein überaus abwechslungsreiches Kunstund Kulturprogramm geboten. Im August 1972 erstrahlt München bei Sonnenschein in leuchtenden Farben, eine nie zuvor da gewesene Zahl von Journalisten und Reporterinnen aus dem In- und Ausland berichtet aus der bayerischen Landeshauptstadt. „Es wurde eine heitere Eröffnung, ein beschwingter Auftakt. Der Reigen der 3200 Schulkinder mit ihrem Blumenspiel – wann hat es jemals etwas Schöneres gegeben?“135 Begeisterung erfüllt die Stadt, getragen wird die Freude auch von hunderttausenden Besucherinnen und Besuchern, die Ausstrahlung von München geht auf in einer Art kollektiven Euphorie. Rund um die Sportstätten verdichten sich die Emotionen, in persönlichen Begegnungen, bei Vorrundenspielen ebenso wie bei finalen Entscheiden, bei Niederlagen und natürlich bei Erfolgen, an jedem Wettbewerb und jeder Disziplin nehmen die Zuschauerinnen und Zuschauer leidenschaftlich Anteil. In der Rezeption der Olympischen Spiele vermittelt sich die heitere Gestimmtheit von München, die von der medialen Berichterstattung 133 |

Geipel, Robert (1987): Münchens Images und Probleme. In: Geipel, Robert; Heinritz,

Günter (Hg.): München. Ein sozialgeographischer Exkursionsführer. (Münchner Geographische Hefte, 55/56) Kallmünz; Regensburg, S. 17-42. Hier: S. 25. 134 |

Kaiser, Ulrich; Scherer, Karl Adolf (1972): Ortsbestimmung. In: Olympische Sport

Bibliothek (Hg.): München 72. Sapporo 72. Zürich-Oberrieden, S. 41-43. Hier: S. 41. 135 |

Scherer, Karl Adolf (1972 a): Die Spiele der zehn Tage. In: Olympische Sport Biblio-

thek (Hg.): München 72. Sapporo 72. Zürich-Oberrieden, S. 44-50. Hier: S. 44.

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weltweit verbreitet und damit noch zusätzlich gesteigert wird. „Es war der Tag, als [Lasse] Viren die 10 000 Meter gewann: 3. September 1972. Alle, die im Olympiastadion gesessen und gestanden, gefiebert und gezittert haben, sie könnten diesen Nachmittag nicht vergessen. Es war ein Sonntag, ein Sonnentag für die Deutschen. [...] Es geschah, daß sich Klaus Wolfermann als wahrer olympischer Athlet erwies, der in der Stunde der höchsten Bewährung die Kraft hatte, den Speer über 90 m zu werfen, genau 90, 48.“136 Für die Bundesrepublik wird an diesem goldenen Sonntag auch Bernd Kannenberg über 50 km Gehen siegen, während die überragende deutsche Leichtathletin Heide Rosendahl nach einem dramatischen Zweikampf mit der US-Amerikanerin Mary Peters die Silbermedaille im Fünfkampf erringen kann. „Der 3. September blieb ein Höhepunkt; einen Tag später forderte Ulrike Meyfarth zu Jubelstürmen heraus.“137 Zwei Tage darauf wird die heitere Stimmung plötzlich und unvermittelt unterbrochen, eine entsetzliche Tragödie ereignet sich auf der Bühne der XX. Olympischen Sommerspiele. „Am Morgen des 5. September 1972 geschah das Unfaßliche. Zwischen 4.30 und 5.00 Uhr drangen acht arabische Extremisten – als Sportler verkleidet – in das Haus Connollystraße 31 im Olympischen Dorf ein, töteten zwei der jüdischen Sportler und setzten neun als Geiseln fest.“138 Dreizehn Stunden dauern die Verhandlungen zwischen den Terroristen und der Polizei, Verantwortlichen der Stadt, des IOC, der Bundes- und der Landesregierung. Mit Hubschraubern werden die Palästinenser und ihre israelischen Geiseln, darunter Sportler, Betreuer und Offizielle, am Abend zum Militärflugplatz in Fürstenfeldbruck gebracht, auf dem eine Boeing 727 zum Weiterflug nach Ägypten bereitsteht. Doch „[d]er Versuch der deutschen Polizei, die Geiseln zu befreien und die Terroristen zu erschießen, endete mit einem Massaker“139 . Am 5. September 1972 verlieren 17 Menschen ihr Leben, elf Israelis, fünf Palästinenser und ein deutscher Polizist sterben.140 Im Brennpunkt einer niemals zuvor da gewesenen Medienpräsenz, die sich gleichermaßen auf den Empfang von Bildern und Informationen wie auch auf die Berichterstattung bezieht, wird München, Munich, vor den Augen der Welt zum globalen Erinnerungsort.141 Der Graphikdesigner Rolf Müller, der sich zum Zeitpunkt des Geschehens in Otl Aichers Büro im Olympischen Dorf befunden hat, schildert seinen Eindruck von den Ereignissen: „Mit einem Mal habe ich ge136 |

Scherer 1972: S. 47-48.

137 |

Ebd.: S. 48.

138 |

Ebd.: S. 46.

139 |

Ebd.

140 |

Vgl. Deutsche Olympische Gesellschaft (Hg.) (1972): Die Spiele der XX. Olympiade

München-Kiel 1972 und die XI. Olympischen Winterspiele Sapporo 1972. Das offizielle Standardwerk des Nationalen Olympischen Komitees für Deutschland. Freiburg; Basel; Wien, S. 227. 141 |

Vgl. Spielberg, Steven (2005): Munich. Spielfilm.

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merkt, wie empfindlich das alles war.“142 80.000 Menschen nehmen am folgenden Tag an einer bewegenden Trauerfeier im Olympiastadion teil, die Fahnen wehen auf Halbmast, das Sport- und Kulturprogramm ist bis auf weiteres unterbrochen. In ihren Ansprachen plädieren der deutsche Bundespräsident Gustav Heinemann und Shmuel Lalkin, der israelische Chef de Mission, gerade vor dem Hintergrund des Geschehens für eine Fortführung der XX. Olympischen Sommerspiele, und Avery Brundage, Präsident des IOC, schließt seine Rede mit den markanten Worten: „The Games must go on!“143

A N DER S CHNIT TSTELLE . R EL ATIONEN Der französische Soziologe Pierre Bourdieu bemüht sich um eine Wissenschaftsphilosophie, die das Denken in Relationen nicht nur als Haltung postuliert. Zwar wird, wie Bourdieu erklärt, theoretisch immer wieder auf eine solche Einstellung hingewiesen, bei der operationalen Umsetzung einer Forschungsfrage geht es jedoch allzu oft um substantielle Realitäten, Individuen, Gruppen etc. und viel weniger um „[...] objektive Relationen, die man nicht herzeigen und nicht anfassen kann, sondern durch wissenschaftliche Arbeit erobern, konstruieren und verifizieren muß [...]“144 . Bourdieu entwirft „[...] eine – mitunter auch dispositionell genannte – Philosophie des Handelns, die den Möglichkeiten Rechnung trägt, welche im Körper der Akteure und in der Struktur der Situation, in der sie agieren, oder, genauer gesagt, in der Relation zwischen diesen beiden angelegt sind“145 . Eine derart verstandene Philosophie lässt sich in „Grundbegriffen wie Habitus, Feld, Kapital“ ausdrücken und basiert in ihrem Kern „[...] auf der doppelsinnigen Relation zwischen den objektiven Strukturen (den Strukturen der sozialen Felder) und den inkorporierten Strukturen (den Strukturen des Habitus) [...]“146. Individuen sollen in ihrer Autonomie und Urteilskraft nicht überschätzt, aber auch nicht auf Endpunkte von Strukturen reduziert werden, sondern im Sinne einer Philosophie des Handelns als relationale Akteurinnen und Akteure eines bestimmten Feldes aufgefasst sein.147 Der Wissenschaftler veranschaulicht am Exempel seiner komplexen Studie zum strukturellen Aufbau der französischen Gesellschaft in den 1970er Jahren, wie sich Handlungs- und Symbolpraktiken und die damit verknüpften Distinktionsmechanismen anhand von feinen Unterschiede festmachen lassen. Dabei betont Bourdieu, dass theoretische Ansätze in seiner Arbeit niemals der bloßen 142 |

Gespräch mit dem Gestalter Rolf Müller am 27. Oktober 2010.

143 |

Deutsche Olympische Gesellschaft 1972: S. 235-236.

144 |

Bourdieu, Pierre (1998 a): Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt

am Main, S. 7. 145 |

Bourdieu 1998 a: S. 7.

146 |

Ebd.

147 |

Vgl. ebd.: S. 8.

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Darbietung einer Hohen Theorie dienen, sondern von der konkreten Auseinandersetzung mit empirischen Realitäten ausgehen und sich wechselseitig aufeinander beziehen. Begriffe oder Konzepte wie die Konstruktion des sozialen Raums werden nicht um ihrer selbst willen untersucht, theoretische Ansätze und Überlegungen „[...] müssen sich in einem Forschungszusammenhang anwenden lassen und bewähren, der untrennbar immer theoretisch und empirisch zugleich ist und in dem mit einer Vielfalt von Beobachtungs- und Meßmethoden quantitativer und qualitativer, statischer und ethnographischer, makrosoziologischer und mikrosoziologischer Art gearbeitet wird (ein Gegensatzpaar so sinnlos wie das andere), um sich einem räumlich und zeitlich genau bestimmten Objekt zu nähern, der französischen Gesellschaft der 1970er Jahre“148. Seinem Vorgehen im Feld gemäß, wendet der Wissenschaftler für die schriftliche Ausarbeitung seiner Resultate und Gedanken eine diskursive Montagetechnik an, „[...] mit der man eine Statistiktabelle, eine Photographie, einen Auszug aus einem Interview, ein Dokumentenfaksimile und die abstrakte Sprache der Analyse zusammenbringen kann, so daß das ganz Abstrakte eine Verbindung mit dem Konkreten eingeht [...]“149 . In Anlehnung an den französischen Philosophen Gaston Bachelard spricht Pierre Bourdieu von seiner grundlegenden Überzeugung, dass sich die innerste Logik der sozialen Welt allein dann begreifen lässt, „[...] wenn man ganz in die Besonderheit einer empirischen, in der Geschichte räumlich und zeitlich bestimmbaren Realität eindringt, aber nur um sie als ‚besonderen Fall des Möglichen‘ [...]“150 innerhalb einer endlichen Zahl an Konfigurationen zu entwerfen. „Konkret bedeutet dies“, so Bourdieu, „daß eine Analyse des sozialen Raums, wie ich sie am Beispiel Frankreichs in den 1970er Jahren entwickelt habe, eine auf die Gegenwart angewandte vergleichende Geschichtswissenschaft ist oder eine mit einem besonderen Raum befaßte vergleichende Anthropologie, die den Zweck verfolgt, das Invariante, die Struktur, in der beobachteten Variante zu erfassen.“151 Eingehend geforscht werden soll nach Mechanismen und Prinzipien, die sich, „wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, dem Blick des Einheimischen ebenso entziehen wie dem des Fremden“ 152 . Ziel eines solchen Unterfangens ist es, zu einem theoretischen Modell von universeller Gültigkeit zu gelangen. Bei der Umsetzung dieser Idee steht allerdings nicht das Aufspüren von evidenten Gegensätzen im Vordergrund, vielmehr geht es um das Herausarbeiten von möglichen Differenzen an den „Besonderheiten unterschiedlicher Kollektivgeschichten“153 .

148 |

Ebd.: S. 13-14.

149 |

Ebd.: S. 14.

150 |

Ebd.

151 |

Ebd.

152 |

Ebd.: S. 15.

153 |

Ebd.

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Wie Bourdieu in Bezug auf das Verhältnis von physischem Raum und Sozialraum erläutert, sind Menschen „[a]ls Körper (und als biologische Individuen) [...] immer ortsgebunden und nehmen einen konkreten Platz ein (sie verfügen nicht über Allgegenwart und können nicht an mehreren Orten gleichzeitig anwesend sein). Der Ort kann absolut als der Punkt im physischen Raum definiert werden, an dem sich ein Akteur oder ein Ding platziert findet, stattfindet, sich wiederfindet. [...] Die gesellschaftlichen Akteure, die als solche immer durch die Beziehung zu einem Sozialraum (oder besser: zu Feldern) herausgebildet werden, und ebenso die Dinge, insofern sie von Akteuren angeeignet, also zu Eigentum gemacht werden, sind immer an einem konkreten Ort des Sozialraums angesiedelt, den man hinsichtlich seiner relativen Position gegenüber anderen Orten (darüber, darunter, dazwischen etc.) und hinsichtlich seiner Distanz zu anderen definieren kann. So wie der physische Raum durch die wechselseitige Äußerlichkeit der Teile definiert wird, wird der Sozialraum durch die wechselseitige Ausschließung (oder Unterscheidung) der ihn bildenden Positionen definiert, d.h. als eine Aneinanderreihung von sozialen Positionen.“154 Soziale Standpunkte werden im physischen Raum nicht nur symbolisiert und damit sichtbar gemacht, der physische Raum entsteht überhaupt durch Aneignung und Artikulation. Diese Felder oder physisch objektivierten sozialen Räume zeichnen sich einerseits durch Überlagerungen aus, und andererseits schreiben sich soziale Wirklichkeiten mitunter auch dauerhaft in Räume ein.155 An einem Ort wie der Münchner Maximilianstraße, die im 19. Jahrhundert bereits als Prachtboulevard konzipiert worden ist, reproduzieren nicht nur die Gebäude und ihre Dekorationen, sondern auch die Luxuswaren, Boutiquen, Mode-Labels, Schmuckgeschäfte und Galerien, das Hotel „Vier Jahreszeiten“ mit seinen livrierten Portiers, die Bayerische Staatsoper und ihre Besucherinnen und Besucher in Abendgarderobe, die Münchner Kammerspiele als Theater der Stadt in einem prachtvollen Jugendstilbau, Clubs, Bars und Restaurants, das Residenztheater und in der unmittelbaren Nähe auch die Schauspielschule Otto Falckenberg, mehrere ehemals königlich bayerische Hoflieferanten, Schönheitschirurgen ebenso wie exklusive Hundeausstatter, das Cuvilliés-Theater und allen voran die Wittelsbacher Residenz selbst den Eindruck von Pomp, Eleganz und glänzenden Oberflächen. In den Räumen bewegen sich entsprechende Akteurinnen und Akteure, Schauspielerinnen, Beraterinnen, Juristen, Kunsthistoriker, Händler, Galeristinnen mit ihrem Kapital, ihren Verbindungen, Kontakten, Freundschaften, Aufgaben, Geschäften, Appartements, Wohnungen, Autos, Kleidern etc. Auf unterschiedliche Weise rekurriert das Feld mit seinen Handlungen und Repräsentationen immer wieder auf die Themen Inszenierung, Zurschaustellung und Performanz, die im Gesamtkon-

154 |

Bourdieu, Pierre (1998 b): Ortseffekte. In: Göschel, Albrecht; Kirchberg, Volker

(Hg.): Kultur in der Stadt. Stadtsoziologische Analysen zur Kultur. Opladen, S. 17-25. Hier: S. 17. 155 |

Vgl. Bourdieu 1998 b: S. 19-21.

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text des schönen München eine essentielle Rolle spielen.156 Anmutung und Gestalt setzen sich aus verschiedenen Bestandteilen zusammen, auch weitaus weniger schön, dominant und ausdrucksstark besetzte Räume und Felder prägen München in elementarer Weise. Eine Stadt ist demnach stets als vielschichtige Anordnung aufzufassen und bezeichnet in ihrer Gesamtheit nicht nur eine beliebige Summe von Bauwerken oder Tätigkeiten, sondern immer auch ein ganz spezifisches Gebilde und seine Gestimmtheit. Eine Stadt ist als Multiplikation und Überlagerung von Standpunkten zu begreifen, die sich relativ zueinander und gleichzeitig in Abgrenzung zu anderen Orten verhalten. Eine Stadt kann als komplexes Geflecht aus gesellschaftlichen und kulturellen Strukturen, Bildern, Räumen und Zeiten sowie permanenten Aushandlungsprozessen betrachtet werden, das Gewebe einer Stadt weist eine außerordentliche Dichte an Bedeutungen auf. Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann bezeichnet die Stadt in diesem Sinne als einen dreidimensionalen Palimpsest; „auf konzentriertem Raum“, erklärt Aleida Assmann, „ist Geschichte immer schon geschichtet als Resultat wiederholter Umformungen, Überschreibungen, Sedimentierungen. [...] Die Formel von der ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘ gilt nicht weniger als für die miteinander lebenden Generationen auch für die unterschiedlichen Schichten urbaner Bausubstanz. Obwohl im Stadtraum alles gleichzeitig anwesend ist, heißt das jedoch keineswegs, dass jeweils alle Schichten auch gleichzeitig wahrgenommen werden und im Bewusstsein präsent sind.“157 Auf unterschiedlichen Ebenen wird eine Stadt immer auch von übergeordneten Entwicklungen und den allgemeinen urbanen Qualitäten Dichte, Größe und Heterogenität geprägt. „Urbanität beinhaltet ein Spannungsverhältnis zwischen physischer Nähe und sozialer Distanz, zwischen Dichte und Fremdheit, zwischen historischer Bedeutung und aktueller Nutzung“, argumentiert der Stadtforscher Walter Siebel, „[s]olche produktive Spannung konzentriert sich an bestimmten Orten zu bestimmten Zeiten, dann und dort, wo etwa eine neue Gesellschaft sich die Gehäuse einer historisch gewordenen aneignet.“158 Zeittypische Positionen und damit verbundene Prozesse sind am Exempel der Stadt ebenso festzumachen, gehen häufig von großstädtischen Zentren aus und beeinflussen gleichzeitig auch deren Genese. Nach 1945 setzt vor dem Hintergrund der sozialen, physischen und kulturellen Reorganisation von München eine Beschäftigung mit der Stadt und ihrer Geschichte ein, die von der bewussten wie 156 |

Vgl. Moser, Johannes; Egger, Simone (2010): Vom Glück, eine schöne Stadt zu sein.

Zur Ästhetik von Elbflorenz und Isarathen. In: Tomkowiak, Ingrid; Muri, Gabriela (Hg.): Alltagsglück. Populäre Befindlichkeiten, Sinnkonstrukte und Praktiken. Festgabe für Ueli Gyr. Schweizerisches Archiv für Volkskunde. 106. Jg. 2010/I, S. 91-104. 157 |

Assmann, Aleida (2007): Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfah-

rung zur öffentlichen Inszenierung. Regensburg, S. 111-112. 158 |

Siebel, Walter (2004): Einleitung: Die europäische Stadt. In: Siebel, Walter (Hg.):

Die europäische Stadt. Frankfurt am Main, S. 11-50. Hier: S. 50.

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auch unbewussten Ausblendung von Ereignissen über eine intensive Auseinandersetzung von Zeiten und Räumen bis hin zu der neuerlichen Konstruktion einer städtischen Identität auf der Grundlage ihrer Vergangenheit reicht. In den langen 1960er Jahren ist München in vieler Hinsicht als Schnittstelle und Schlüsselort zu begreifen. Ein Spannungsbogen zieht sich durch das Jahrzehnt. Im Zeitraum von 1958 bis 1973/1974 lassen sich ganz unterschiedliche Entwicklungen und Ereignisse in der Biographie der Stadt beobachten. Akteurinnen und Akteure werden auf der städtischen Bühne sichtbar, können wie Bilder und Phänomene, Handlungen und Repräsentationen in Debatten und Diskursen der Stadt wahrgenommen werden und sind innerhalb des urbanen Gewebes mit auffallenden und verborgenen Mustern und Konstellationen verbunden. „München wird moderner“ heißt es auf den Tafeln, die das städtische U-Bahn-Referat 1965 an den unzähligen Baugruben der Stadt aufstellen lässt. „München wird moderner“ lautet der Titel der vorliegenden Arbeit, die sich mit der Frage befasst, was in den langen 1960er Jahren mit der Stadt München und den Befindlichkeiten ihrer Bewohnerinnen und Bewohner geschehen ist. Die Entscheidungen, die in der Phase getroffen werden, beziehen sich nicht nur auf die Vergangenheit und die Gegenwart, sondern markieren auch bedeutende Schritte für die Zukunft der Stadt. Nachdem München am 26. April 1966 in Rom den Zuschlag für die Austragung der XX. Olympischen Sommerspiele 1972 erhalten hat, beschleunigen sich die bereits 1963 beschlossenen Maßnahmen eines umfangreichen Strukturwandels in ungeheurer Weise. Die Studie setzt sich mit der Herstellung von Räumen und Bildern unter den besonderen Bedingungen der Epoche auseinander. Am Exempel von München lassen sich Aspekte des gesellschaftlichen Wandels in der Bundesrepublik ebenso nachvollziehen wie lokalspezifische Fragen und Probleme oder die Auswirkungen der Globalisierung auf die Stadt. Aus dem modernen München wird innerhalb von einer Dekade eine postmoderne Großstadt. Die Studie ist als „Anthropology of the City“159 zu verstehen und nimmt am Beispiel von Orten, Ereignissen und Biographien immer auch die Situation der gesamten Stadt in den Blick. In einem einführenden Kapitel stellt sich die Frage nach dem Wesen von München; die bayerische Hauptstadt erfährt ihre Prägung als Residenz der Wittelsbacher in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In welcher Form wirken sich die grundlegenden Dispositionen auf den Charakter von München aus? Eine zentrale Rolle spielen die Ästhetik der Stadt und ihre Atmosphären, die Konzepte beziehen ihre Relevanz aus dem Feld und verweisen gleichzeitig auf eine philosophische Theorie, die sich sowohl mit dem Wahrnehmen als auch mit dem Herstellen von Stimmungen und Qualitäten befasst. Das ästhetische Denken, von dem die Arbeit ausgeht, bildet sich ebenso in methodischer Hinsicht ab, neben scheinbar 159 |

Hannerz, Ulf (1980): Exploring the City. Inquiries Toward an Urban Anthropology.

New York.

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rationalen Fakten fließen auch Eindrücke und Emotionen in die Studie ein. Der ethnographische Ansatz, der verschiedene Zugänge, Perspektiven und Materialien mit theoretischen Überlegungen verbindet, findet seine Entsprechung in dem kulturanalytischen Verfahren der vorliegenden Untersuchung. Akten, Korrespondenzen, Artikel in Zeitschriften und Zeitungen, Broschüren, Reportagen, Filme und Fotografien, alles ist im Kontext dieser Studie als Quelle zu verstehen. Das besondere Augenmerk gilt im Zusammenhang mit der Fragestellung stets dem Erleben der Akteurinnen und Akteure, die sich als Zuschauerinnen und Zuschauer an verschiedene Momente der langen 1960er Jahre erinnern oder auch aktive Sprecherpositionen eingenommen haben. Mit dieser Forschungsarbeit sollen Verflechtungen aufgezeigt werden, es geht um Prozesse der Globalisierung, Regionalisierung, Modernisierung, Liberalisierung, Ästhetisierung, Kommerzialisierung etc. Eine Ausstellung, die seit der Mitte der 1950er Jahre geplant und doch nicht gezeigt worden ist, führt ein in die Identität des konsolidierten Raums. Die Bewerbung für die Spiele stellt München vor dem IOC als europäische Stadt zur Schau. Am Übergang zur Postmoderne weiten sich die Bezugssysteme, und in der „Weltstadt mit Herz“ gewinnen neben transnationalen Räumen auch lokale und regionale Symbole an Bedeutung. Bewegungen von Mobilität und Migration lassen sich um den Hauptbahnhof verfolgen, während das Dirndl die Stadt auch im Kanon der internationalen Folklore verortet. München ist in dieser Phase ein Mythos, der sich wesentlich auf den Stadtteil Schwabing bezieht. Am Beispiel des Viertels werden zeittypische Themen wie Jugend und Freizeit und ebenso konkrete wie ersehnte Verbindungen mit der glanzvollen Geschichte des Quartiers auseinandergesetzt. Die Olympischen Spiele sind das ausschlaggebende Ereignis in den langen 1960er Jahren, die Verbindung von allgemeineren Tendenzen und den Besonderheiten der Stadt lässt sich in unterschiedlichen Feldern nachvollziehen. Der Fokus der Betrachtung richtet sich des Weiteren auf die Architektur und die Ausstattung der Spiele. Gerade an diesen Beispielen wird deutlich, dass München nicht nur der Ort des Geschehens ist, sondern konkrete Auswirkungen auf die Gestalt von Olympia hat. Vor den Augen der Welt setzt sich München auf seine eigene Weise in Szene. Nachdem sich die Entwicklungen und auch die Repräsentationen im Kontext der Spiele verdichtet haben, ist die Krise der Städte zu Beginn der 1970er Jahre auch in der bayerischen Landeshauptstadt zu spüren. Allzu utopisch erscheint mit einem Mal das Vorhaben, die Atmosphäre von Schwabing in einem Einkaufscenter künstlich zu erzeugen. Michi Knecht und Peter Niedermüller verweisen im Zusammenhang mit der kulturwissenschaftlichen Stadtforschung auf die US-amerikanische Anthropologin Setha M. Low, die ihrerseits davon ausgeht, dass Großstädte „[...] privilegierte Orte für die Wahrnehmung und Erforschung von Transformationsprozessen sind, weil sich in ihnen und im urbanen Prozess das Ineinanderwirken von Makro- und Mikroebenen, die Artikulation von strukturellen Veränderungen mit alltäglichen

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Lebensformen und -erfahrungen, die Überlappungen zwischen lokalen und globalen Entwicklungen besonders intensiv verdichten und zum Teil beschleunigt abspielen und zeigen.“160 Obgleich sich Setha M. Low in ihren Ausführungen auf die Gegenwart der 1990er Jahre bezieht, lassen sich die Überlegungen auch auf andere Phasen der Großstadt übertragen. In Abhängigkeit von Situationen nehmen unterschiedliche Faktoren Einfluss auf die Entwicklung einer Stadt, zugleich wirken Bedingungen und Kräfte von außen auf das städtische Gewebe. 1972 begegnen sich in München internationale, nationale, regionale und lokale, kollektive und individuelle Interessen aus Anlass der Olympischen Spiele. Die sozialen und politischen Bewegungen der Epoche, Merkmale von Urbanität und die Kennzeichen der Globalisierung werden durch das bevorstehende Spektakel ebenso wie die Bilder der Zeit potenziert, und dabei ereignen sich sämtliche Begebenheiten und Transformationen im Kontext einer Stadt auf spezifische Weise. Unter dem Titel „München. Heimat und Weltstadt“ gibt der Stadtschulrat Anton Fingerle Mitte der 1970er Jahre einen Band heraus, den die Schülerinnen und Schüler der bayerischen Landeshauptstadt „mit den besten Wünschen für die Zukunft“161 zu ihrem Abschluss erhalten. „[...] [D]ie Eigenart Münchens beruht nicht nur darauf“, heißt es in dem Buch, „daß es überraschend viel von seiner bayerisch-bäuerlichen Tradition gerettet hat, sondern ebensogut darauf, daß es in seine weltstädtische Rolle in einer besonderen, eben in einer münchnerischen Weise hineinwächst.“162 Ausgehend von der Idee des relativen Raums und dem Konzept der Glokalisierung, mit dem angenommen wird, dass lokale Eigenheiten im Zusammenhang mit der immer weiter voran schreitenden Globalisierung nicht verschwinden, sondern im Gegenteil noch verstärkt werden, fragen die Sozialwissenschaftlerin Martina Löw und der Sozialwissenschaftler Helmuth Berking nach den Zielen und Möglichkeiten einer ebenso gedachten Stadtforschung. „Wenn man den distinkten Charakter eines Ortes darüber beschreibt, wie sich die ganze Welt in ihm Ausdruck und Anwesenheit verschafft, stößt man auf die kumulative Struktur lokaler Kulturen, auf die Sedimentbildungen einer bestimmten Stadt als das entscheidende Material, das die kognitive Rahmung sowohl für Handlungs- und Zukunftsentwürfe wie für die Adaption und lokale Umschreibung global zirkulierender Wissensbestände und kultureller Artefakte liefert.“163 Auf der Basis dieser Überlegungen gelangen Helmuth Berking und Martina Löw schließlich zu einer Perspektive, „[...] welche die Eigenlogik von Städten und lokalen Besonderheiten als konstitutive Elemente städtischer Wirklichkeit ins Zentrum sozialwissenschaftlicher Wissensproduktion 160 |

Knecht; Niedermüller 1998: S. 3.

161 |

Vgl. Fingerle 1977.

162 |

Ebd.: S. 11.

163 |

Vgl. Berking, Helmuth; Löw, Martina (2005): Wenn New York nicht Wanne-Eickel

ist… Über Städte als Wissensobjekt der Soziologie. In: Berking, Helmuth; Löw, Martina (Hg.): Die Wirklichkeit der Städte. Baden-Baden (Soziale Welt, 16), S. 9-22. Hier: S. 19.

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stellt“164 . Angelehnt an die Thesen von Bourdieu spricht Rolf Lindner aus kulturwissenschaftlicher Sicht von einer habituellen Matrix, auf die sich die essentiellen Eigenheiten und Verhaltensweisen einer bestimmten Stadt zurückführen lassen. Dieses gewissermaßen vertikal orientierte Denken richtet sich ebenfalls gegen die eindimensional erscheinende Folgerung, dass globalisierte Ökonomien ebenso wie auch andere Entwicklungen und Erscheinungen der Postmoderne auf einer horizontalen Ebene zur Nivellierung von kulturellen Besonderheiten und Unterschieden zwischen Gesellschaften in Städten und Regionen führen. „Wie immer wir ‚Habitus‘ definieren, stets ist damit etwas Gewordenes gemeint, das das Handeln nach der Kausalität des Wahrscheinlichen leitet, indem es etwas Bestimmtes aufgrund von Geschmack, Neigungen und Vorlieben, kurz: Dispositionen, ‚nahe legt‘. In diesem Sinne von einem Habitus der Stadt zu sprechen, heißt zu behaupten, dass auch Städten aufgrund ‚biographischer‘ Verfestigung bestimmte Entwicklungslinien näher liegen, andere ferner stehen.“165

164 |

Berking, Helmuth; Löw, Martina (Hg.) (2008): Die Eigenlogik der Städte. Neue Wege

für die Stadtforschung. (Interdisziplinäre Stadtforschung, 1) Frankfurt am Main; New York, S. 10. 165 |

Lindner, Rolf (2003 b): Der Habitus der Stadt. Ein kulturanthropologischer Versuch.

In: Petermanns Geographische Mitteilungen, H. 2, S. 46-53. Hier: S. 52.

53

3. „Ja, München! München, was ist München?“ 166

„München, wieso München? Was soll das Theater um München? München ist eine Stadt mit beinahe eineinhalb Millionen Einwohnern und dem schnellsten Wachstum in der Bundesrepublik. München, steht da nicht das Hofbräuhaus? Ja, freilich! München ist ein Millionendorf. München hat sogar noch einen Maibaum auf dem Viktualienmarkt, wie jedes oberbayerische Dorf. München erstickt in Autoabgasen, [...] sperrt seine Innenstadt für den Autoverkehr. München liegt ‚eigentlich‘ schon mitten in den Alpen. München liegt weit weg vor den Bergen (die auf Postkarten bloß dazu retuschiert sind) auf einer brettelflachen Ebene. München ist eine Legende. Denn München war früher einmal München. Aber das ist schon lange her. München ist die Stadt mit der größten Zukunft. München liegt mitten zwischen Bauerndörfern. Und darin leben bauernschlaue Typen, wie sie Ludwig Thoma, Georg Queri und Oskar Maria Graf geschildert haben. München hat die Olympischen Spiele und die Olympischen Spiele haben München. München hat mit den Olympischen Spielen unglaubliches Glück gehabt. Aber man weiß nicht, ob es wirklich auch Glück war.“167 In seinem Band „München, ein deutscher Himmel“ trägt Jürgen von Hollander allerlei Bemerkenswertes und durchaus Ambivalentes über die Stadt an der Isar zusammen. Humorvoll und doch kritisch setzt sich der Schriftsteller 1972 mit der Frage auseinander, wie man dieses München überhaupt kennen lernen kann. „Was soll [...] [man] am ersten Tag mit der Stadt anfangen? Am besten ist: [...] [man] versucht zu begreifen, warum München so ist, wie es ist, und wie es zu dieser einmaligen Stadt gekommen ist.“168 Der Text skizziert die Stadt auf seine Weise auch in Bildern. Eine Stadt aber ist, wie Rolf Lindner erläutert, „[...] kein neutraler, beliebig zu füllender Behälter, sondern ein von Geschichte durchtränkter, kulturell kodierter Raum, der bereits mit Bedeutungen angefüllt ist“169 . Beständig wird die Stadt in Magazinen, Filmen, Reiseführern und Dokumentationen, Zeitungen und Zeitschriften, Erzählungen, Gedichten und Romanen, Werbebeilagen und Broschüren, anthropologischen Studien etc. in Gestalt von Collagen und Mosaiken zusammengefügt, und diese Darstellungen können auch innerhalb eines Spektrums variieren, dennoch bezieht sich der Kanon möglicher Topoi und Motive immer auf die charakteristische 166 |

Hollander, Jürgen von (1972): München, ein deutscher Himmel. München, S. 8.

167 |

Hollander 1972: S. 8.

168 |

Ebd.: S. 20.

169 |

Lindner 2003 a: S. 182.

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kulturelle Textur170 einer Stadt. Über die Images und Klischees hinaus, die an der Oberfläche der Stadt sichtbar werden, muss sich eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Raum, wie Bourdieu betont, immer auch mit den konkreten Orten befassen und den Wechselwirkungen zwischen physischen und sozialen Räumen nachgehen, um Verkennungen und „falsche Plausibilitäten“171 feststellen und, so ließe sich ergänzen, auch Prozesse des Wandels ausmachen zu können. Über einen relativ kurzen Zeitraum erfahren nicht nur die Repräsentationen der bayerischen Landeshauptstadt eine extreme Transformation; als „Hauptstadt der Bewegung“ tief gestürzt, ernennt sich München zu Beginn der 1960er Jahre selbst zur „Weltstadt mit Herz“, 1964 folgt die Kür zur „Deutschlands Heimliche Hauptstadt“, und auf dem Höhepunkt der städtischen Entwicklung strahlt München als weltweit beachtete „Olympiastadt“. Alle Bilder und Bezeichnungen nehmen Bezug auf Situationen, die sich in kurzen Abständen verändert haben und doch im Zusammenhang mit der Stadt München und ihrer spezifischen Entwicklung zu sehen sind. Schließlich haben sich, wie Lindner konstatiert, sämtliche „[...] Strategien der Inszenierung, Repräsentation und Rekodierung [...] an den Kriterien der Plausibilität, das heißt der Vorstellbarkeit und Glaubwürdigkeit von ‚Aussagen‘ zu orientieren, die mit dem Imaginären verbunden sind“172 . Das Imaginäre meint eine urbane Basensequenz, ein Koordinatensystem, das die Stadt bei aller Diversität und ihren zahllosen Facetten ganz generell charakterisiert. Das Imaginäre ist demnach als städtische Tiefengrammatik zu begreifen.173 Die Matrix einer Stadt lässt zwar unterschiedliche Interpretationen zu und wird in Auseinandersetzung mit sich verschiebenden Konstellationen auch immer wieder neu verhandelt, prinzipiell entwickelt sich eine Stadt aber nicht willkürlich, sondern auf der Grundlage eines eigenen Habitus, der in den auffallenden, typischen, aber auch in den überraschenden, leisen, verborgenen, auf den ersten Blick eher unscheinbaren Merkmalen und Besonderheiten zum Ausdruck kommt. Das Konzept eines urbanen Habitus zielt auf das komplexe Denken der Stadt in ihrer ganzen Vielschichtigkeit. Angenommen, die städtische Biographie verfolgt eine subjektive Logik, wovon Martina Löw und Helmuth Berking ausgehen174 , oder die Stadt generiert einen Habitus, was Rolf Lindner und der britische Anthropologe Martyn Lee annehmen175 , stellt sich nun weiterhin die Frage, was für Dispositionen 170 |

Vgl. Lindner, Rolf (2008 b): Die kulturelle Textur der Stadt. In: Schweizerisches

Archiv für Volkskunde, H. 104, S. 137-147. 171 |

Bourdieu 1998 b: S. 18.

172 |

Lindner 2008 a: S. 87.

173 |

Vgl. ebd.

174 |

Vgl. Berking; Löw 2008.

175 |

Vgl. Lindner 2003 b und Lee, Martyn (1997): Relocating Location. Cultural Geog-

raphy, the Specificity of Place and the City Habitus. In: McGuigan, Jim (Hg.): Cultural Methodologies. London; Thousand Oaks; New Delhi, S. 126-141.

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eine Stadt jeweils prägen und auf welche Weise entsprechende Befindlichkeiten an der Beschaffenheit und den Eigenheiten der Stadt abzulesen sind. Aus kulturanthropologischer Sicht geht es nicht um die Produktion von Beständigkeit oder das Herstellen von linearen Erzählungen und Kontinuitäten, sondern um eine ebenso empathische wie konsequente Zusammenschau von Verbindungen, Feldern, Möglichkeiten, Ambivalenzen und durchaus unterschiedlichen Positionen im Gewebe der Stadt. Der Kulturwissenschaftler Lutz Musner führt aus, dass „[...] der Habitus als ein organisierendes Prinzip [...] in Wahrnehmungen und Handlungen praktische Schemata [aktiviert], die in sozialen Strukturen angelegt sind, die sich in der historischen Arbeit vieler Generationen herausgebildet haben. Er ist damit relativ konstant, aber nicht veränderungsresistent, denn als Produkt der Geschichte ist er immer wieder Revisionen und Veränderungen ausgesetzt. Manifest wird der Habitus im Verhältnis der Akteurinnen und Akteure zu bestimmten Situationen, in denen Evidenzen, Konventionen und Routinen infrage gestellt werden.“176 Auf welche Weise funktioniert nun aber der Habitus einer Stadt als „[...] abstrakte[s], organisierende[s] Prinzip, das Sichtweisen, kollektive Handlungen und Handlungsoptionen sowie Entwicklungspfade einer Stadt präfiguriert“177?

R ESIDENZSTADT. H ABITUS UND D ISPOSITIONEN „Zu dem Wesen einer Stadt gehört nicht nur, was man auf einem Atlas, einem Stadtplan, in einem Adreßbuch oder in Statistiken und Handbüchern finden und fassen kann. Es genügt auch nicht, die Stadt zu durchwandern und ihre räumlichen Dimensionen, ihre Länge und Breite und Höhe, kennenzulernen und den Lärm des Tages in sich aufzunehmen. Auch die ‚vierte Dimension‘ muß man dazunehmen. Und sie ist vielleicht die wichtigste. Diese vierte Dimension heißt: Zeit, Geschichte, Werden, Entwicklung. Sie weist nicht nur in die Vergangenheit zurück, sondern in die Zukunft hinein.“178 1963 betont das Schulreferat der Landeshauptstadt München in einer Broschüre für die Jugend die Bedeutung der städtischen Genese und sucht ausdrücklich an den Status der historischen Fürstenstadt anzuknüpfen. „Das Individuelle an München“, analysieren die Sozialgeographen Günter Heinritz und Robert Geipel, „stammt aus einer residenzstädtischen Wurzel im katholischen Süddeutschland, arm an industriellen Impulsen, revierfern, aber dadurch auch frei von industriellen Altlasten und damit Wanderungszielpunkt für die modernen Wachstumsbranchen einer nachholenden Industrialisierung. Nach dem Zweiten Weltkrieg erst schlägt positiv zu Buch, was über ein Jahrhundert hinweg als indust176 |

Musner, Lutz (2009): Der Geschmack von Wien. Kultur und Habitus einer Stadt.

(Interdisziplinäre Stadtforschung, 3) Frankfurt am Main; New York, S. 47. 177 |

Musner 2009: S. 47.

178 |

Landeshauptstadt München (1963 a): Landeshauptstadt München. Beiheft zum

Bilderwerk Deutschland. 5. Aufl. München, S. 5.

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rielle Entwicklungsbremse gewirkt haben mag (Beschränkungen auf residenzstädtische Funktionen, Kunst und Wissenschaft, behaglich-biedermeierlicher Lebensstil der tonangebenden Schichten).“179 Eine städtische Biographie lässt sich allein aus der Perspektive einer longue durée verstehen. Die Bezugspunkte und Motive einer Stadt sind nicht nur innerhalb einer bestimmten Phase festzumachen, sondern reichen, sowohl zeitlich und räumlich als auch sozial und kulturell gedacht, immer noch über das engere Gewebe der Stadt hinaus. In seinen Ausführungen zu einer „Typologie der Städte“ geht Max Weber, der Nationalökonom und Soziologe, schon zu Beginn der 1920er Jahre davon aus, dass sich eine Stadt gerade auf der Basis ihrer ökonomischen und politischen Organisation einem idealen Typus zuordnen lässt.180 München ist nun keine Handels- und keine Produzentenstadt, Bayerns Landeshauptstadt fällt nach der Klassifizierung die längste Zeit relativ eindeutig in die Kategorie der Konsumentenstadt, „[...] bei der die Erwerbschancen der Gewerbetreibenden und Händler von der Ansässigkeit von Großkonsumenten an Ort und Stelle abhängig sind“181 . In Analogie zu Max Weber spricht der schwedische Kulturanthropologe Ulf Hannerz in diesem Kontext auch von der Courttown, der Fürstenstadt, die neben der Commercetown, der Handelsstadt, und der Coketown, der Industriestadt, als eine der drei grundlegenden Formen von Stadt ausgemacht werden kann.182 Im konkreten Fall differenzieren sich die Typisierungen freilich aus, und auch innerhalb der Einteilung sind wesentliche Unterschiede festzumachen, wie die Kulturwissenschaftler Rolf Lindner und Johannes Moser zeigen. So ist es für den Status einer Produzentenstadt von elementarer Bedeutung, ob der zentrale Wirtschaftszweig im Bereich der Schwerindustrie oder auf dem Gebiet der Halbleiterfertigung angesiedelt ist.183 Im Rahmen eines Forschungsprojekts haben sich Lindner und Moser gemeinsam mit einer Gruppe von Studierenden zum 800. Jubiläum von Dresden eingehend mit den Realitäten einer Residenzstadt auseinandergesetzt und die Konzeption des Habitus am Exempel von Elbflorenz und dessen Bürgerschaft detailliert be-

179 |

Geipel, Robert; Heinritz, Günter (Hg.) (1987): München. Ein sozialgeographischer Ex-

kursionsführer. (Münchner Geographische Hefte, 55/56) Kallmünz; Regensburg, S. 14. 180 |

Vgl. Weber, Max (1980): Die nichtlegitime Herrschaft (Typologie der Städte). In:

Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Tübingen 1920, 1921, S. 727-814. Hier: S. 729. Zitiert nach: Lindner, Rolf; Moser, Johannes (2006): Dresden. Ethnografische Erkundungen (in) einer Residenzstadt. In: Lindner, Rolf; Moser, Johannes (Hg.): Dresden. Ethnografische Erkundungen einer Residenzstadt. (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde, 16) Leipzig, S. 11-34. Hier: S. 15-16. 181 |

Lindner; Moser 2006: S. 16.

182 |

Vgl. Hannerz 1980: S. 243. Zitiert nach: Lindner; Moser 2006: S. 16.

183 |

Lindner; Moser 2006: S. 16-17.

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schrieben. In erster Linie ist es der „stadtprägende Sektor der Ökonomie“184 , der grundlegend mit der geographischen Lage und den strukturellen Bedingungen einer Stadt zusammenhängt, und sich, wie die Kulturwissenschaftler in ihrer Publikation ausführlich darlegen, „[...] nicht nur in entsprechenden gewerblichen und verwaltungstechnischen Einrichtungen nieder[schlägt], sondern auch in Konsum-, Kultur- und Freizeiteinrichtungen, die den Bedürfnissen, Interessen und Artikulationsformen der mit den Einrichtungen verbundenen Akteure entsprechen“185 . Die ökonomische Organisation einer Stadt ist dabei niemals ohne die entsprechenden Machtverhältnisse zu denken und wird entscheidend vom jeweiligen System des Regierens geprägt. Eine weltliche, aber auch eine kirchliche und zumal eine katholisch geprägte Fürstenstadt ist zentral auf ein Herrscherhaus, einen Hof, einen Regenten ausgerichtet, und ihre Spezifik gründet ganz wesentlich auf Dispositionen der Performanz. Formen der Darstellung und Inszenierung spielen proportional gesehen eine übergeordnete Rolle in den Äußerungen einer Residenzstadt. Prachtvolle Bauten, Einrichtungen wie Theater, Luxuswaren, kostspielige Güter und damit verknüpfte Tätigkeiten – der italienische Kaffeesieder Luigi Tambosi war schon im München des 18. Jahrhunderts berühmt für seine ausladenden Büffets – kennzeichnen den Habitus einer Residenz ebenso wie erlesene Stile, Manieren oder exklusive Moden und reproduzieren die Anmutung der höfischen Stadt darüber hinaus auch unentwegt in Bildern, Räumen und Atmosphären. In Dresden wie in München bestimmen hierarchische Strukturen die Figuration der Stadt und ihrer Berufskulturen, die dominierende Bevölkerungsschicht setzt sich aus Mitgliedern des Adels, des Beamtentums, des Militärs sowie aus ökonomisch vermögenden und politisch einflussreichen Bürgern zusammen. Die Bewohnerinnen und Bewohner der Fürstenstädte sind sowohl direkt als auch indirekt in die Inszenierungen und Repräsentationen ihrer Regenten eingebunden, als Funktionsträger oder auch als Rezipienten.186 In erster Linie bewirken hegemoniale und ökonomische Faktoren, aber auch geographische Voraussetzungen, ein Zusammenspiel der Kräfte im urbanen Raum. Im Lauf der Zeit schreiben sich Eigenarten in Form von kulturellen Codierungen in die Grammatik einer Stadt ein und verfestigen sich in einer bestimmten, im Einzelfall zu betrachtenden Episode der städtischen Genese, auf diese Weise verdichtet sich der Habitus einer Stadt.187 Inhalte und Gestaltungsformen sind aber auch situativen Bedingungen geschuldet, und die Stadt der Zukunft positioniert sich stets in Abhängigkeit oder in Auseinandersetzung zu den Ereignissen in Vergangenheit und Gegenwart. „Es gibt Perioden, in denen Bilder gleich bleiben“, gibt der Stadtforscher Detlev Ipsen zu bedenken, „es gibt Zeiten des Kampfes um 184 |

Ebd.: S. 16.

185 |

Ebd.

186 |

Vgl. Ebd.: S. 19-21.

187 |

Vgl. Lindner 2003 b: S. 48.

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Bilder, Zeiten des Übergangs und es gibt Phasen, in denen eine Reihe vormals widersprüchlicher Bilder nebeneinander existieren. In welchem Zeitraum man sich befindet, hängt wesentlich vom Wechselspiel von Ökonomie und Kultur ab.“188 Analog nehmen diverse Konstellationen, Akteurinnen und Akteure, Entwicklungen und Prozesse von innen wie von außen Einfluss auf die städtische Genese, und doch orientiert sich die Ausrichtung der Stadt wesentlich an der Logik ihrer habituellen Basis. Wiederholt finden sich Momente, Sequenzen und Phänomene, die in ihrer Anmutung und Zusammensetzung eine ganz bestimmte Stadt bezeichnen.

„S CHÖNES M ÜNCHEN “189 . A US DER B IOGR APHIE DER S TADT „Jede Stadt“, schreibt der Journalist Walther Kiaulehn, Feuilletonchef des Münchner Merkur, 1958, „ist das Ergebnis aus Notwendigkeit und Traum. So mußt du sein und so sollst du sein, sind die beiden Leitmotive, nach denen die Städte wachsen. Das historische München ist ein Doppelgebilde aus bürgerlichen und fürstlichen Notwendigkeiten, aber auch aus bürgerlichen und fürstlichen Träumen.“190 Am Beispiel von München lässt sich die Nähe zum Hof und namentlich der Einfluss des Hauses Wittelsbach Jahrhunderte hindurch verfolgen. Der bayerische Löwe ist anfangs jedoch ein welfischer Löwe, da der Gründungsmythos der Stadt auf einen Streit zwischen dem Welfenherzog Heinrich dem Löwen und Bischof Otto I. von Freising zurückzuführen ist. Im Zuge einer Auseinandersetzung um Münz- und Marktrechte sowie die damit verbundenen Privilegien und Zolleinnahmen verlagerte Heinrich die Salzroute im Jahr 1158 von der Isarbrücke in Föhring auf einen Handelsplatz an der Landstraße von Haidhausen nach Pasing, umgeben von Liegenschaften der Benediktinerklöster Schäftlarn im Süden und Weihenstephan im Norden. Dabei spricht, wie Stadtarchivar Richard Bauer erläutert, allerdings vieles „[...] dafür, dass die Münchner Kernanlage im Herzen der heutigen Altstadt überhaupt erst der nach 1180 einsetzenden, bischöflich-wittelsbachischen Entwicklung zuzurechnen ist“191 . München erfuhr in dieser Zeit einen ersten wirtschaftlichen Aufschwung und damit verbunden einen merklichen Bevölkerungszuwachs, infolge dessen weitere Klöster und Pfarreien auf dem Gebiet der noch jungen Stadt gegründet wurden. Die Fläche der Stadt dehnte sich aus und die Stadtmauer er188 |

Ipsen, Detlev (2003): Raumbilder – Bildpolitik. In: Dérive. Zeitschrift für Stadtfor-

schung. Produkt Wohnen. Heft 10, Jänner/März 2003, S. 4-5. Hier: S. 5. 189 |

Münchener Zeitungsverlag (Hg.) (1958): Schönes München. Festliches Bayernland.

München. 190 |

Kiaulehn, Walter (1958): Ein Wort zum heutigen München. In: Flügel, Rolf (Hg):

Lebendiges München. Hg. im Auftrag der Landeshauptstadt München. München, S. 7390. Hier: S. 76. 191 |

Bauer 2005: S. 22.

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reichte bereits um das Jahr 1310 den Umfang, den sie bis 1791, nahezu ein halbes Jahrtausend hindurch, beibehalten sollte. Das städtische Leben spielte sich bald in verhältnismäßig engen Räumen rund um den Petersberg ab. München wuchs und entwickelte sich im Spannungsfeld landesherrlicher, bischöflicher und bürgerlicher Interessen. Die Bewohnerinnen und Bewohner der sich verdichtenden Stadt waren in erster Linie als Kaufleute und Händler tätig, transportierten Güter, beherbergten Reisende und verkauften Waren. Bereits Ende des 13. Jahrhunderts konnte sich eine Patrizierschicht herausbilden, und gleichzeitig erhielt München auch eine erste Residenz, den Alten Hof.192 Die Stadt erweiterte ihren Burgfrieden um Gebiete außerhalb des eigentlichen Zentrums, auf die andere Seite der Isar, bis zum Sendlinger Berg und hinaus nach Schwabing. Unter Ludwig dem Bayern, dem ersten und einzigen Wittelsbacher Kaiser, erlebte die junge Stadt München, die Hofhaltung ebenso wie das bürgerliche Stadtregiment, eine erste Hochphase, und „[o]hne des Reiches Hauptstadt zu sein, gab die europaweite Politik dieses Herrschers dieser Comune ein großes Gewicht als Propagandazentrum gegen das avignonesische Papsttum [...]“193. Der Alte Hof und insbesondere das Franziskanerkloster an Stelle des späteren Max-JosephsPlatzes wurden zu Aufenthaltsorten und Treffpunkten intellektueller Exilanten wie William von Occam, Michael von Cesena oder Marsilius von Padua. In den Jahren von 1330 bis 1340 war München neben Paris und Oxford „[...] ein ebenbürtiger Antipode im letzten geistigen und politischen Ringen zwischen Kaiser und Papst, Kirche und Staat um die Herrschaft in der Welt [...]“,194 wie der bayerische Landeshistoriker Karl Bosl erläutert. Trotz dieser bezeichnenden Episode und des steten Wachstums der Stadt blieb München doch lange Zeit ein oberbayerischer Zentralort mit einer hauptsächlich regional orientierten Marktfunktion. Im Vergleich zu anderen bayerischen Städten wie Nürnberg, Regensburg, Bamberg oder Augsburg, die mit ihrer politischer Bedeutung, ihren Handelsbeziehungen und den bekanntesten Künstlern schon im Mittelalter als Weltstädte galten, blieb München landständisch und hatte, obgleich Bosl von der vornehmsten unter diesen Städten spricht, zunächst keine herausragende Position. 195 Im 15. Jahrhundert gelangte die städtische Bürgerschaft erstmals zu großer Blüte, die im spätgotischen Stil erbaute Frauenkirche zeugt auf eindrucksvolle Weise von Glauben und Geltung der Münchnerinnen und Münchner.196 Anfang des 16. Jahrhunderts gewann die Stadt an der Isar insgesamt an Bedeutung und wurde in 192 |

Vgl. Bosl, Karl (1971): München. Bürgerstadt – Residenz – heimliche Hauptstadt

Deutschlands. Stuttgart; Aalen, S. 16-20. 193 |

Bosl 1971: S. 22.

194 |

Ebd.: S. 24-25.

195 |

Vgl. Bosl 1971: S. 30 und Bauer 2005: S. 38.

196 |

Vgl. Bosl 1971: S. 27.

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der Folge „Wittelsbachischer Machtkonzentration“197 mit immer mehr Beamten, Räten, Einrichtungen und Institutionen nach und nach zum Verwaltungsmittelpunkt Bayerns. Unter Albrecht V. entwickelte sich der Hof zum zentralen Bezugspunkt der Stadt, und der 1508 fertig gestellte neue Sitz der Regenten, die Residenz, bis dato schon „ein wichtiger Teil des Stadtorganismus“, sollte in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, im absolutistischen Sinne, gar zum „maßgeblichsten Impulsgeber“198 Münchens werden. Der Herzog förderte die Künste, allen voran die Architektur und die Malerei, aber auch die Wissenschaft und die Musik, und „[...] investierte mit Eifer in die prächtige Schauseite des Hoflebens“199, was die Bevölkerung auch finanziell zu spüren bekam. Albrecht war vielseitig interessiert, sammelte Antikes, Kunst und Pretiosen und gab die Kartierung des ganzen Landes sowie Modelle seiner Hauptstädte in Auftrag. Im Jahr 1570 konnte der Straubinger Drechslermeister Jakob Sandtner sein München-Modell im Verhältnis 1:750 fertig stellen. In der detailgetreuen und immer wieder ergänzten Anlage aus Holz werden die Stadt und ihre Regentschaft physisch und symbolisch erfahrbar. Während nun die Macht des Hauses Wittelsbach weiteren Auftrieb erhielt, 1624 erlangte Bayern schließlich die Kurfürstenwürde und München wurde zur fürstlichen Hauptstadt, verlor die kommunale Bürgerschaft wieder an Einflussnahme.200 Im Zeitalter der konfessionellen Kämpfe war die Stadt gleichzeitig Vorhut der evangelischen Bewegung und Hort des katholischen Glaubens in Bayern. Während Luthers Ideen beim Adel und der Bürgerschaft ebenso wie in Handwerkerkreisen Anklang fanden, wurde seit der Mitte des 16. Jahrhunderts der Jesuitenorden als Träger der Gegenreformation in München eingesetzt und konnte vor allem unter Herzog Wilhelm V. erstarken. Im Rahmen eines Vortrags verweist der bayerische Landeshistoriker Max Spindler im Jahr 1958 neben der erbaulich volkstümlichen Barockliteratur jener Epoche auch auf die „Jesuitenbühne mit ihren Massenszenen und Massenchören und unerhörten Bühneneffekten“201 , die weitaus mehr als eine Schulbühne war, weil sich mitunter die ganze Stadt beteiligte und sogar das Fürstenhaus die Kostüme verlieh, „ein Hof- und Stadttheater mit heute kaum vorstellbaren Wirkungen“202 . Parallel verließen einige der reichsten und angesehensten Bürgerinnen und Bürger die Stadt München, um ihren protestantischen Glauben an einem anderen Ort leben zu können. Wie Bosl resümiert, bietet diese konfessi197 |

Bauer 2005: S. 51.

198 |

Ebd.: S. 62.

199 |

Ebd.: S. 61-62.

200 |

Vgl. Bosl 1971: S. 35 und Till, Wolfgang; Weidner, Thomas (2008): Typisch Mün-

chen! Das Jubiläumsbuch des Münchner Stadtmuseums. München, S. 40- 41. 201 |

Spindler, Max (1958): Dreimal München. Vortrag, gehalten am 10. Mai 1958 vor

den katholischen Vereinen Münchens anlässlich der 800-Jahr-Feier der Stadt. In: Jahrbuch der Ludwig-Maximilians-Universität München 1957/58, S. 37-61. Hier: S. 43. 202 |

Spindler 1958: S. 43-44.

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onelle Auseinandersetzung „[...] den ersten klaren Einblick in die geistige Struktur und Mentalität der Bürger [...]. Zum ersten Mal tritt neben den Landesherrn, seine Beamten und den Klerus der Laie, das Volk, die weltlich-bürgerliche Gesellschaft als mündige, aktiv handelnde, selbstbewusste Kraft, die nur Terror und Härte bändigen konnten, selbst um den Preis des Verlustes großer Vermögen und höchst aktiver, kraftvoller Menschen. Darum kam in Bayern so früh der Absolutismus hoch, darum wurde München so ausschließlich ‚Haupt- und Residenzstadt‘“203 . Während freie Kaufleute und Händler in München eine immer geringere Rolle spielten, lebten die meisten Handwerker bald von höfischen Aufträgen.204 Schon für die großen Baumaßnahmen im 15. und 16. Jahrhundert, zur Errichtung der Frauenkirche, des Alten Rathauses, des Jesuitenkollegs oder der Herzog-Max-Burg, wurden außerdem zahlreiche Tagelöhner und Handlanger benötigt. Allerdings hatte die Stadtobrigkeit, „[...] um die Herausbildung einer städtischen Unterschicht zu verhindern, den in Massen zuwandernden Arbeitskräften jegliches Niederlassungsrecht verwehrt“205 . Mit Anbruch der Dunkelheit mussten die Arbeiterinnen und Arbeiter die Stadt München verlassen und bezogen ihr nächtliches Quartier zumeist an den Bächen südlich der Isar, der Historiker Karl Gattinger spricht in diesem Zusammenhang auch vom „Hinterhof der Musenstadt“206 . Die Bereiche vor den Toren Münchens, um die Dörfer Haidhausen, Au und Giesing, entwickelten sich zu Elendsvierteln, die Bezirke wuchsen ohne ordnende Maßnahmen oder strukturelle Vorgaben und waren bald wegen ihrer überaus hohen Rate an kriminellen Frauen und Männern verschrien. Die topographische Lage zwischen dem Fluss und der Isarhangkante zwang die Menschen auf begrenztem Raum zusammen, an dieser Situation sollte sich auch in den folgenden Jahrhunderten nichts ändern.207 Insgesamt hatten die Untertanen in Stadt und Land durch erhebliche Abgaben, die Schuldenpolitik ihrer Regenten, wiederkehrende Epidemien, Kriege und Konflikte streckenweise große Not zu leiden. 1632 besetzte der schwedische König Gustav Adolf im 30-jährigen Krieg die Stadt mit seinen Truppen und tat den berühmten Ausspruch, München sei im Vergleich zum restlichen Bayern doch wie „ein goldener Sattel auf einem mageren Pferde“208 . Mit Kurfürst Ferdinand Maria und seiner Frau Henriette Adelaide von Savoyen kam die Stadt im 17. Jahrhundert zur Ruhe und eine italienische Atmosphäre hielt 203 |

Bosl 1971: S. 46.

204 |

Vgl. ebd.: S. 58- 59.

205 |

Gattinger, Karl (2010): Im Hinterhof der Musenstadt. Lebenswelten der Münchner

Vorstädte Au, Haidhausen und Giesing. In: Greipl, Egon (Hg.): Münchner Lebenswelten im Wandel. Au, Haidhausen und Giesing. 1890-1914. 2. Aufl. München, S. 18-25. Hier: S. 19. 206 |

Ebd.

207 |

Vgl. ebd.: S. 23.

208 |

Vgl. Bauer, Reinhard; Piper, Ernst (2008): Kleine Geschichte Münchens. München,

S. 82-83 und Bauer 2005: S. 71.

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Einzug in München. Neben Handwerkern, Künstlern, Architekten und ihren Bauwerken wie der Theatinerkirche am Odeonsplatz verbreiteten auch Schauspieler, Komödianten, Sänger, Händler und allerlei andere Akteurinnen und Akteure ein Gefühl der italianità in der Stadt.209 Im Westen von München wurde gleichzeitig Schloss Nymphenburg errichtet, das einem italienischen Landhaus nachgebildet war und unter der Bezeichnung borgo delle nimpfe ländliche und urbane Anklänge verband. Mit dem Begriff borgo ist allerdings keine Burg, sondern eine Art fürstliche Gartenstadt gemeint. Richard Bauer geht davon aus, dass das erst im Jahr 1726 unter Henriettes Sohn Max Emanuel vollendete Sommerschloss „[...] wohl nicht zufällig die Konturen der Münchner Stadtanlage nach[zeichnete] und [...] so dem verwinkelten und beengten Stadtkörper einen aufgefächerten, von Baum und Busch geformten und von mannigfaltigen Wasserkünsten bereicherten grünen Gegenentwurf [bot]“210. Max Emanuels außenpolitisches Streben scheiterte mit der Schlacht von Blindheim im Jahr 1704, mit der Niederlage verlor der unterlegene Kurfürst die Hoheit sowie all seine Privilegien an die Habsburger in Wien. Die Allegorie des legendären Schmied von Kochel, der dem Mythos nach einen Bauernaufstand anführte, um sich aus der Unterjochung durch die Österreicher zu befreien, erzählt vom Leid der bayerischen Bevölkerung und endet tragisch in der Sendlinger Mordweihnacht.211 1715 wurde Frieden geschlossen, Max Emanuel kehrte zurück nach München und 1726 folgte ihm sein Sohn Karl Albrecht auf den Thron. „Fürstliche Repräsentationssucht, hemmungslose Schuldenmacherei und das ständige Bemühen um eine Rangerhöhung des Hauses Wittelsbach war oberstes Regierungsprinzip.“212 Die bei einem Brand beschädigte Residenz wurde im Stil des europäischen Rokoko noch kostspieliger aufgebaut, es brannte erneut, und noch einmal wurden kunstfertige Architekten und Maler beschäftigt; 1753 eröffnete das prachtvolle CuvilliésTheater zur Unterhaltung des Hofs unweit der Residenz. Bezüglich der Machtverteilung sollte auch Karl Albrecht den Habsburgern, diesmal in Person der Kaiserin Maria Theresia, unterliegen. Wie schon sein Vater ließ er Manufakturen für Seiden, Stoffe und Golddrähte einrichten, all diese Betriebe gingen jedoch aufgrund schlechter Führung wieder ein. Einzig die 1747 gegründete Porzellanmanufaktur hielt sich in den folgenden Jahrhunderten und sollte in den Räumlichkeiten von Schloss Nymphenburg überaus bedeutend werden. In dieser Situation kamen immer mehr Menschen auf der Suche nach Arbeit in die Stadt und siedelten sich im Umfeld der ersten Fabriken an. Die Quartiere im Schwemmbereich der Isar, zwi209 |

Vgl. Werr, Sebastian (2010): Politik mit sinnlichen Mitteln. Oper und Fest am

Münchner Hof (1680-1745). Köln; Weimar; Wien. 210 |

Vgl. Bauer; Piper 2008: S. 84-85 und Bauer 2005: S. 76.

211 |

Vgl. Haus der Bayerischen Geschichte (Hg.) (2005): Memento 1705. Die Sendlinger

Mordweihnacht. (Hefte zur bayerischen Geschichte und Kultur, 32). 212 |

Bauer 2005: S. 80.

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schen der Stadtmauer und den nahen Dörfern, wuchsen stetig weiter und brachten gravierende soziale Probleme hervor, die aber lange Zeit nicht in Angriff genommen wurden.213 Parallel und doch im krassen Gegensatz zur Vorstadtbevölkerung suchten auch viele adelige Familien aus Bayern und Italien Protegierung durch die Mächtigen und ließen sich prächtig ausgestattete Domizile in unmittelbarer Nähe zum Herrscherhaus errichten.214 Die luxuriösen Palais sind als aufwendige Zurschaustellungen des sozialen, kulturellen, ökonomischen und symbolischen Kapitals in der Stadt zu verstehen. Die Münchner Hofhaltung galt unter den Kurfürsten Ferdinand Maria, Max Emanuel und Karl Albrecht als eine der glanzvollsten und feudalsten in ganz Europa. „Die Prunkfeste am Hofe, wurden mit verschwenderischer Pracht gefeiert. Opern, Komödien, Kammermusik und Ballett, Ritter- und Turnierspiele, Fastnachtsrennen, Karussells, Schäferspiele, Gondelfahrten, Schlittenfahrten und Jagden, maskierte Akademien und ‚Bauernhochzeiten‘ nahmen nicht nur für Tage, ja Wochen die Hofgesellschaft in Anspruch, sondern brachten auch einen großen Schein von Fest und Freude in das graue, einfache Leben der Bürger, der Arbeiter und Bauern, die sich am Zuschauen belustigten und vergnügten. [...] Fest und Prunk, Plastik und Malerei, Oper und Drama aber dienten der Darstellung des idealen Fürsten [...].“215 Diese Großmachtpolitik der Regenten fand mit Max III. Joseph ein Ende, zwar hatte auch der Kurfürst keine bemerkenswerten Leistungen auf den Gebieten der Sozial- und Wirtschaftspolitik erbracht, doch war er äußerst populär und unterstützte im Jahr 1756 die Gründung der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München. Sein Nachfolger Karl Theodor aus der Pfälzer Linie des Hauses Wittelsbach stieß indessen niemals auf die ersehnte Gegenliebe bei den Bürgerinnen und Bürgern und verschlechterte noch die ohnehin schon miserable Wohnungssituation in der Residenzstadt durch den Umzug seines gesamten Hofstaats nebst allen Beamten infolge der Verlegung seines ständigen Aufenthalts von Mannheim nach München. Und selbst der von ihm 1789, im Jahr der Französischen Revolution, in Auftrag gegebene Landschaftspark wurde von den Münchnerinnen und Münchnern zunächst einmal abgelehnt, Setzlinge wurden mutwillig ausgerissen und erst mit der Zeit fand der Englische Garten wachsenden Anklang.216

213 |

Vgl. Till; Weidner 2008: S. 138-139.

214 |

Vgl. Bauer 2005: S. 82-83.

215 |

Vgl. Bosl 1971: S. 62.

216 |

Vgl. Bauer 2005: S. 90.

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U NTER DER K RONE . „F ESTLICHES B AYERNL AND “217 Mit der Erhebung Bayerns zum Königreich durch Napoleon am 1. Januar 1806 begannen die Wittelsbacher unter dem ersten bayerischen König Max I. Joseph, München zur Hauptstadt ihres Landes zu machen. Die Stadt an der Isar wurde umgestaltet und erweitert, erfuhr bedeutende Impulse und eine Aufwertung ihrer Rolle im nationalen und europäischen Machtgefüge. München sollte zum politischen Zentrum des souveränen neubayerischen Reiches werden und dabei, weit über die bisherige Rolle als süddeutsche Residenzstadt hinaus, „alle anderen Städte des Landes überflügeln“218. Den Wittelsbachern gelang es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die Position ihrer Hauptstadt nachhaltig aufzuwerten. „Kein Monarch hat das Gesicht Münchens so stark verändert wie Ludwig I. Seine Haupt- und Residenzstadt profitierte nämlich in hohem Maße von seinem KunstKönigtum“,219 fasst der Historiker Peter Claus Hartmann zusammen. Schon als junger Mann entwickelte Kronprinz Ludwig eine große Leidenschaft für die schönen und die bildenden Künste, für Architektur, Malerei, Musik und Theater, reiste zu seinen Malerfreunden nach Rom und soll von sich selbst sogar behauptet haben: „Ich werde nicht ruhen bis München aussieht wie Athen.“220 Im Jahr 1826 ließ Ludwig als König mit einer seiner ersten Amtshandlungen die Universität von Ingolstadt nach München verlegen und ein eigenes Universitätsgebäude errichten. Der Regent förderte die Künste und an die Isar kamen Wissenschaftler und Professoren, Forscher, Gelehrte, Künstler, Maler, Bildhauer, Dichter und Literaten. In der Zusammenarbeit mit immer wieder wechselnden Architekten, Carl von Fischer, Leo von Klenze und Friedrich von Gärtner, vermochte Ludwig die Stadt wie kein anderer nach seinen Idealen zu gestalten und damit auch Münchens Identität in der gleichen Weise nach innen wie nach außen zu bestärken. „Durch die moralische und finanzielle Unterstützung durch die Dynastie Wittelsbach sei aus dem Mutterboden des Abendlandes wieder ein grünendes Bäumchen emporgewachsen“,221 sollte die unmissverständliche Botschaft der regen Bautätigkeiten lauten. Der Königsplatz mit den Propyläen, die verschiedenen Sammlungen, die Alte Pinakothek, die Feldherrnhalle und ganz besonders die Ludwigstraße mit ihren prachtvollen Bauten und dem Siegestor zeugen meisterlich von Ludwigs Wirken. Die schönsten Münchnerinnen, die dem König am Hof oder auf seinen Kutschfahrten in der Stadt begegneten, ließ Ludwig, unabhängig davon, ob es sich um adelige Damen oder um Frauen wie das Dienstmädchen Helene Sedlmayer handelte, über alle Standesunterschiede hinweg von dem Hofmaler Joseph Karl Stieler porträtieren. 217 |

Münchener Zeitungsverlag 1958.

218 |

Bauer 2005: S. 109 und Hartmann, Peter Claus (2008): Münchens Wege in die

Gegenwart. Von Heinrich dem Löwen zur Weltstadt. Regensburg, S. 133-137. 219 |

Hartmann 2008: S. 148.

220 |

Till; Weidner 2008: S. 112.

221 |

Bauer 2005: S. 108.

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Die Schönheitsgalerie, die in einem Zeitraum von 25 Jahren entstanden ist, umfasst insgesamt 36 Gemälde und war im Festsaalbau der Residenz täglich für eine Stunde zugänglich, damit „[...] sich die Öffentlichkeit vom Geschmack und von der Kennerschaft des bayerischen Landesherrn überzeugen mochte“222 . Am Ende war es auch eine Affäre, die Beziehung von Ludwig I. zu Lola Montez, die den König im Zuge der Revolution von 1848 zum Abdanken zwang. Dabei ist zunächst noch ein anderes Ereignis auf die frühen Jahre des bayerischen Königtums zurückzuführen. Am 12. Oktober 1810 heiratete Kronprinz Ludwig seine junge Braut Therese Prinzessin von Sachsen-Hildburghausen in der Hofkapelle der Münchner Residenz. Aus diesem Anlass lud Max I. Joseph rund 6000 Bürgerinnen und Bürger in vier große Gasthäuser der geschmückten Stadt. Unter freiem Himmel wurden auf Weisung des Königs außerdem reichlich Speisen und Getränke an die breite Masse der Münchner Bevölkerung ausgegeben. Der Unteroffizier Franz Baumgartner hatte nun die Idee aufgebracht, ein Pferderennen zu veranstalten. Unter der Leitung von Major Andreas von Dall’Armi sollte dieses Ereignis die Feierlichkeiten glanzvoll beenden. In Anwesenheit der königlichen Familie wurde das Spektakel zwischen Allgemeinem Krankenhaus und Sendlinger Berg ausgetragen und das Feld zu Ehren der Braut fortan Theresens-, und später Theresienwiese genannt.223 In jenen Jahren lag es an den Wittelsbachern, neu hinzugewonnene Territorien wie Schwaben und Franken mit den altbayerischen Besitztümern und der Pfalz sowohl auf struktureller als auch auf ideeller Ebene zu einen; der König und seine Minister zielten auf ein „neu-bayerisches Zusammengehörigkeitsgefühl“224 , und mit den festlichen Ereignissen im Rahmen der Hochzeitsfeier war „[...] der erste Impuls zur Installierung eines Nationalfestes gegeben, das die Ausrichtung der bayerischen Bevölkerung auf die Haupt- und Residenzstadt und auf das bayerische Herrscherhaus stützen sollte.225 Schon bei dem ersten Rennens hatte Felix Joseph von Lipowsky, der Archivar der Ständeversammlung, den Auftritt von Münchner Kindern in Trachten organisiert; gekleidet nach Vorbildern aus den neuen und alten bayerischen Kreisen, und zudem in einer so bezeichneten Alt-Wittelsbacher Tracht, huldigten die Kinderpaare dem Prinzen

222 |

Ebd. S. 137.

223 |

Vgl. Dering, Florian; Eymold, Ursula (2010): 200 Jahre Oktoberfest. 1810-2010.

München, S. 20-22. 224 |

Sünwoldt, Sabine (1985): 1810: Ein Hochzeitsfest für die Nation. In: Das Oktober-

fest. Einhundertfünfundsiebzig Jahre bayerischer National-Rausch. Katalog zur Jubiläumsausstellung im Münchner Stadtmuseum vom 25. Juli bis 3. November 1985. München, S. 19-21. Hier: S. 21. 225 |

Sünwoldt 1985: S. 21 und 175 Jahre Oktoberfest. 1810-1985 (1985). Hg. von der

Landeshauptstadt München. Zsgest. von Richard Bauer und Fritz Fenzl. München, S. 16.

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und seiner jungen Gemahlin vor den Augen der Öffentlichkeit.226 Im Lauf der Jahre schlossen sich weitere Szenen an, und „[a]ls 1826 Ludwig I., erstmals als König, das Oktoberfest besucht, begrüßt ihn die Münchner Bürgerstochter Creszenz Orff als Bavaria, wohlgemerkt in der Miesbacher Tracht, mit einem patriotischen Gedicht. Die Tracht wird ein Politikum, sie wird zum Ausdruck bayerisch-patriotischer Gesinnung, sie wird zum Dekor vaterländischer Feste.“227 Im Zuge des bayerischen nation building-Prozesses wird zusehends wichtiger, was Volksnähe ausmacht und von allen Untertanen in gleicher Weise verstanden werden kann. Wie der Historiker Ferdinand Kramer anführt, unterhielt sich schon der Bürgerkönig Max I. Joseph beinahe jeden Tag auf den Straßen und Plätzen seiner Stadt mit den Münchnerinnen und Münchnern. „In einer stark auf den Fürsten ausgerichteten politischen Kultur“, erläutert Kramer, „und in einer immer bedeutender werdenden bürgerlichen Öffentlichkeit erleichterte die Beliebtheit des Königs die Loyalität für den Landesherrn, für die Dynastie und auch für den neu organisierten bayerischen Staat.“228 Zu den folgenden Epochen lassen sich ähnliche Anekdoten erzählen, um Land und Leute, die Sitten und Gebräuche der bayerischen Nation zu studieren, begab sich Ludwigs Sohn Maximilian II. 1858 gar zu Fuß auf den Weg von Lindau nach Berchtesgaden.229 Max II. erscheint im Gegensatz zu Max I. Joseph und Ludwig I. geradezu verhalten, der König unterstützte Bildungseinrichtungen, holte bedeutende Forscher wie Justus von Liebig nach Bayern und arrangierte wissenschaftliche Symposien in den Räumlichkeiten der Residenz. Nach den Plänen des Mediziners Max Pettenkofer wurde die Stadt untertunnelt und ein System von Abwässerkanälen eingezogen, nachdem zum wiederholten Male die Cholera in München ausgebrochen und sogar Königin Therese an der heimtückischen Krankheit gestorben war. Mit dem Maximilianeum ließ Max II. einen prunkvollen Bau über der Isar errichten, der seit 1857 eine Studienstiftung für besonders begabte Schüler beherbergt und nach 1945 auch Sitz des Bayerischen Landtags wurde. Die ebenfalls nach ihm benannte Maximilianstraße im historisierenden Stil sollte prachtvoll werden und sich bald zur luxuriösesten Straße der Stadt entwickeln, die Bauweise stieß zunächst aber nicht auf die ersehnte Begeisterung. Der König gründete nach den Plänen von Archivdirektor Karl Maria Freiherr von Aretin 1855 außerdem ein Bayerisches Nationalmuseum, ein erster Sitz an der Maximilianstraße konnte schon 1867 bezogen werden. „Bayern und Schwaben, Franken und Pfalz durften sich in der Geschichtsschau 226 |

Vgl. Möhler, Gerda (1981): Das Münchner Oktoberfest. Vom bayerischen Landwirt-

schaftsfest zum größten Volksfest der Welt. München u.a., S. 180. 227 |

Rattelmüller, Paul Ernst (Hg.) (1970): Dirndl, Janker, Lederhosen. Künstler entdek-

ken die oberbayerischen Trachten. München, S. 17. 228 |

Kramer, Ferdinand (2006): Max I. Joseph. In: Fischer, Ernst; Kratzer, Hans (Hg.):

Unter der Krone. Das Königreich Bayern und sein Erbe. München, S. 36. 229 |

Vgl. Rattelmüller 1970: S. 18.

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des Museums gleichberechtigt verwurzelt fühlen, fanden sich unter dem gemeinsamen Dach eines bayerischen Nationalgefühls zusammen.“230 Entsprechend sollte auch die feierliche Aufstellung der Bavaria als allegorisches Sinnbild der bayerischen Landesherrlichkeit an der Münchner Theresienhöhe wirken. Von Ludwig I. bei dem Bildhauer Ludwig Schwanthaler und dem Erzgießer Ferdinand Miller in Auftrag gegeben, wurde die Zurschaustellung politischer Macht, technischer Fertigkeit und ästhetischen Verständnisses im Jahr 1850 unter Maximilian II. und in Anwesenheit Ludwigs I. von einem prunkvoll gestalteten Festzug Münchner Künstler begleitet. Als „schönstes Vermächtnis“ dieses dritten bayerischen Königs nennt der Kunsthistoriker Reinhold Baumstark allerdings die Erhaltung der zu dieser Zeit bereits im Verschwinden begriffenen historischen Trachten sowie die staatliche Förderung „bayerischer Eigenart und Eigenständigkeit“231, die ebenfalls unter der Ägide von Max II. begann. Geographisch betrachtet, liegt München nahe den Alpen an der Isar und wird von charakteristischen Landschaften umgeben. Die Einbettung in die Region kennzeichnet das Bezugssystem der Stadt, und während sich München im Laufe des 19. Jahrhunderts von einem oberbayerischen Zentralort zur Hauptstadt der bayerischen Nation entwickelte, gewann auch die Verknüpfung von München und den Landesteilen weiter an Einfluss. Mit der Einführung der Eisenbahn im Jahr 1840 unter Ludwig I. und dem fortschreitenden Ausbau des bayerischen Schienennetzes vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erhielten immer mehr Dörfer und Landstriche über die Zugstrecke eine direkte Verbindung nach München. Als administratives Zentrum wurde die Hauptstadt, wie politisch gewollt, mit den Jahrzehnten zum Dreh- und Angelpunkt des Landes. Spezialisten, Ämter, offizielle Einrichtungen und Institutionen haben bis heute ihren Sitz in München. Museen, Bühnen, Lokale und Theater dienen der Unterhaltung, der Bildung und dem kurzweiligen Vergnügen. München war und ist nicht nur ein Ort des Konsums, zahlreiche Händler und Geschäfte ziehen Besucherinnen und Besucher aus der Region in die Stadt. Das Leben in München verspricht auch geistige Freiräume, in erster Linie aber bietet der städtische Raum Arbeit und Ausbildungsplätze; vor allem junge Männer und Frauen aus dem weiteren Umland suchten und suchen deshalb ihr Glück in der wachsenden Großstadt. In der bayerischen Hauptstadt siedelten sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer mehr Menschen aus bäuerlich geprägten Gegenden an, um in der Fabrik oder als Hausangestellte ein Auskommen zu finden. Im Hinblick auf Dresden sprechen Lindner und Mo230 |

Baumstark, Reinhold (2006 a): Der König, der die „Nordlichter“ holte. In: Fischer,

Ernst; Kratzer, Hans (Hg.): Unter der Krone. Das Königreich Bayern und sein Erbe. München, S. 74-78. Hier: S. 77. 231 |

Baumstark, Reinhold (2006 b): Dirndl, Janker, Lederhose. In: Fischer, Ernst; Krat-

zer, Hans (Hg.): Unter der Krone. Das Königreich Bayern und sein Erbe. München, S. 79-81. Hier: S. 79.

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ser ebenfalls von einem Anwachsen des Arbeiterproletariats mit der Industrialisierung.232 Wohnungsnot, Armut und Überbevölkerung prägten das Leben in den großteils aus Holz gezimmerten Herbergshäusern der Münchner Vorstädte. Bei diesen Gebäuden handelte es sich um eine spezielle Variante der Mietskaserne, in der einzelne Wohnräume nach und nach angebaut, aufgestockt, verkauft oder verpachtet wurden, so dass die verwinkelten Häuser über zahllose Kammern und Verschläge sowie diverse Ein- und Aufgänge verfügten, ein zentrales Treppenhaus gab es jedoch nicht. „Enge, Dumpfheit, eine ständige, durch die Nähe des Flusses und die zahlreichen Bäche verstärkte Feuchtigkeit sowie ein permanenter Mangel an Licht und frischer Luft zehrten an der Gesundheit der Bewohner.“233 München hatte 1852 schon beinahe die Marke von 100.000 Einwohnern überschritten und galt fortan als Großstadt. 1883 hatte die Stadt 250.000 Bewohnerinnen und Bewohner, bis 1901 verdoppelte sich die Zahl auf rund 500.000. Damit war München nach Berlin und Hamburg die drittgrößte Stadt im Deutschen Reich.234 Welch enges Gewebe Stadt und Region bilden, lässt sich am Beispiel der Trachtenbekleidung nachvollziehen. Wie ihre Gefährten bei der Jagd trugen die Könige auch selbst Lodenjanker und Lederhosen; und damit stieg, wie der österreichische Volkskundler Franz Grieshofer erklärt, die Wertigkeit der Gebirgstracht. „[D]ie kurze Lederhose [ fand] zusammen mit dem kurzen grau-grünen Rock weite Anerkennung und Verbreitung.“235 Die rustikale Kleidermode wurde zunächst in Adelskreisen getragen. Aus einer romantischen Stimmung heraus, begann sich gleichzeitig aber auch das erstarkende Bürgertum für das Leben auf dem Land zu begeistern. Erste volkskundliche Erhebungen wurden angestellt, und auch die Künstler wussten das urbane Interesse an der Heimat bald mit lieblichen Sujets und pittoresken Trachtengraphiken zu bedienen.236 Zugleich brachten die Menschen, die vom Land in die Stadt kamen, kulturelle Besonderheiten aus allen Teilen Bayerns mit nach München. Im Wechsel wurden signifikante Stücke wie das bürgerliche Schnürmieder über Dienstmädchen, die das Gewand in München von ihrem Lohn hatten anfertigen lassen, mit ihrer Rückkehr im Oberland verbreitet.237 Betuchte Städterinnen und Städter reisten im Gegenzug bald zur Sommerfrische an die unweit von München gelegenen bayerischen Seen. Künstlerinnen und Künstler zogen für Wochen und Monate in Ateliers auf dem Land, malten, dichteten, kom232 |

Vgl. Lindner; Moser 2006: S. 20.

233 |

Gattinger 2010: S. 23.

234 |

Vgl. Hartmann 2008: S. 162 und Dheus 1968: S. 34.

235 |

Grieshofer, Franz J. (1996): Die Lederhose. Kleine Kulturgeschichte des alpenlän-

dischen Beinkleids. Hg. von Christian Brandstätter und Franz Hubmann. Husum, S. 6. 236 |

Vgl. Rattelmüller 1970: S. 15.

237 |

Vgl. Laturell, Volker D. (1998): Trachten in und um München: Geschichte – Entwick-

lung – Erneuerung. Hg. vom Kulturreferat der Landeshauptstadt München. München, S. 37-38.

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ponierten und bildeten ihre Umgebung auf vielfältige Weise ab.238 Das Dirndl ist in den 1870er Jahren an der Schnittstelle von Tradition und Moderne, Stadt und Land, Identitätssuche und Inszenierung aus dem Untergewand der Mägde oder Mädchen in der bayerisch-österreichischen Alpenregion entstanden.239 Für Ludwig II., den vierten bayerischen Monarchen, waren die Region, besonders aber das Allgäu und das Oberland, ebenso Traumwelt wie Zufluchtsort. Vor der eindrucksvollen Kulisse der Alpen ließ der Märchenkönig seine Schlösser errichten, Grotten und Pavillons erbauen und Parkanlagen gestalten. Von allen Wittelsbacher Regenten hat Ludwig II., der große Verehrer Richard Wagners, die Idee der Inszenierung und Performanz sicherlich am eindrucksvollsten verkörpert. Wenngleich der König mit dem Zusammenschluss des Deutschen Bundes im Jahr 1870/71 politisch unterlegen war, von seinen Ministern wegen Unzurechnungsfähigkeit entmündigt wurde und am Ende tragisch im Starnberger See ums Leben kam, hat Ludwig II. mit seinem Wirken doch maßgebend zu den Bildern und Räumen beigetragen, die bis in die Gegenwart hinein nachhaltig für Bayern und München stehen. Besonders in den Anfangsjahren seiner Regentschaft hielt sich der Märchenkönig in der Hauptstadt auf, auch die Gründung der Technischen Universität im Jahr 1868 geht auf den Monarchen zurück. Gleichzeitig entfernte sich die Stadt „[u]nter Ludwig II. (1864-86) [...] immer stärker vom Hof. Als der König München unter Federführung seines Günstlings Richard Wagner zu einer besonderen Musikmetropole mit einem eigenen Festspielhaus machen wollte, stieß er dort auf so große Widerstände, dass er seine Pläne lieber in Bayreuth verwirklichte“240. Bei allen Widrigkeiten fungierte aber auch Ludwig II. mit seiner Hofhaltung als bedeutender Auftraggeber und war damit Förderer der Musik, der Architektur, der Kunst und des dekorativen Handwerks in Bayern und besonders in München. Mit der Gemeindeordnung von 1869 und der Eingliederung des Landes in das kleindeutsche Kaiserreich gewannen die wahlberechtigten Bewohner, vertreten durch den städtischen Rat, jedoch zusehends an politischem Einfluss, und München entwickelte sich zur Bürgerstadt.241

238 |

Vgl. Tostmann, Gexi (1998): Das Dirndl. Alpenländische Tradition und Mode. Wien;

München, S. 11. 239 |

Vgl. Egger, Simone (2008): Phänomen Wiesntracht. Identitätspraxen einer urbanen

Gesellschaft. Dirndl und Lederhosen, München und das Oktoberfest. München. 240 |

Hartmann 2008: S. 164.

241 |

Vgl. ebd.: S. 166.

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K UNSTSTADT UND B IERSTADT. U RBANE G ESCHMACKSL ANDSCHAF TEN Anhand dieser Skizze, einiger wesentlicher Entwicklungen und Positionen in der städtischen Biographie, wird bereits im groben Raster ersichtlich, dass sich nach einer Epoche des Handels, vor allem Prägungen der Fürstenstadt über Jahrhunderte in das Wesen von München eingeschrieben haben. Die Residenz mit all ihren Glanz- und Schattenseiten ist zum zentralen Moment der städtischen Matrix geworden, München gebärdet sich in großen Gesten, wiederholt geht es um Fragen der Repräsentation, der Inszenierung und Performanz sowie den schönen Schein der Stadt. Ausnehmend zeichnet sich an der Gestaltung der städtischen Räume ab, welchen Einfluss die Wittelsbacher und mit ihnen eine Vielzahl von Architekten, Malern, Künstlern, Bildhauern, Vergoldern, Stuckateuren und Gartenbaumeistern auf die Ästhetik der Stadt ausgeübt haben. Das Setting des Schönen erklärt sich insgesamt durch das habituelle Muster der Residenz und zeigt sich auch im Konsumverhalten, in den Berufen und den geschmacklichen Vorlieben der Stadt. Die formative Phase des modernen München aber lässt sich mit Blick auf die gesamte Entfaltung von Stadt und Region doch erst im 19. Jahrhundert verorten, in dieser Epoche verfestigen sich charakteristische Eigenschaften, wesentliche Themen, Merkmale und Topoi kommen hinzu und differenzieren sich, der Logik der Stadt entsprechend, in Gestalt von signifikanten Geschmackslandschaften aus.242 „München war Haupt- und Residenzstadt eines um das mehrfache vergrößerten Bayerns geworden. Erst jetzt wird die Ballung der kulturellen Kräfte in München so stark, daß die Hauptstadt das Land zur ‚Provinz‘ degradiert, so daß im 19. Jh. außerhalb der Hauptstadt auf künstlerischem Gebiet nichts Überragendes, kaum Gleichwertiges entstehen kann“,243 fasst der Kunsthistoriker Heinrich Kreisel im Katalog zu der Ausstellung „Bayern. Kunst und Kultur“, die 1972 anlässlich der Olympischen Spiele im Münchner Stadtmuseum gezeigt worden ist, zusammen. Der Charakter der Fürstenstadt strukturiert das Wesen von München in maßgebenden Dispositionen, das Besondere der Stadt ist aber nicht ihr Status als Residenz. Wien und Dresden sind per Definition ebenfalls ideale Courttowns oder Konsumentenstädte, von allen drei Metropolen fertigte der venezianische Maler Bernardo Bellotto, auch genannt Canaletto, im 18. Jahrhundert ausdrucksstarke

242 |

Vgl. Lindner, Rolf; Musner, Lutz (2005): Kulturelle Ökonomien, urbane „Geschmack-

slandschaften“ und Metropolenkonkurrenz. In: Informationen zur modernen Stadtgeschichte, H. 1, S. 26-37. 243 |

Kreisel, Heinrich (1972): Kunst in Bayern. In: Bayern. Kunst und Kultur. Katalog zur

gleichnamigen Ausstellung des Freistaates Bayern und der Landeshauptstadt München, veranstaltet von den Münchner staatlichen und städtischen Museen, dem Zentralinstitut für Kunstgeschichte und dem Bayerischen Rundfunk im Münchner Stadtmuseum vom 9. Juni bis 15. Oktober 1972. München, S. 23-32. Hier: S. 30.

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Vedutten und beeinflusste damit das Sujet der Stadtansichten.244 Bei der Betrachtung der Bilder kommt jedoch selbst in der Konstruktion einer idealen Stadt deutlich zum Ausdruck, dass sich Wien, München und Dresden trotz aller Gemeinsamkeiten ganz wesentlich voneinander unterscheiden. Schon die Nennung der Namen lässt vor dem geistigen Auge verschiedene Städte erscheinen. „Ausgehend von den für einen bestimmten Typus von Umgebung konstitutiven Strukturen, dem jeweils stadtprägenden Sektor der Ökonomie, entsteht durch kulturelle Codierungen über die Zeit der Habitus einer Stadt.“245 Im konkreten Fall bilden sich auf der Grundlage der jeweiligen Koordinaten städtische Eigenheiten und Spezifika, differenzieren sich aus und werden in urbanen Phänomenen sichtbar, auf welche Weise eine Residenzstadt allerdings zu einer Kunststadt werden kann, bleibt Spekulation. Am Exempel von Dresden und München lässt sich gleichsam rekonstruieren, unter welchen Umständen und Bedingungen Elbflorenz und Isarathen im 18. bzw. 19. Jahrhundert entstanden sind.246 Unter der Überschrift „Collage City“ denken die Architekturhistoriker Colin Rowe und Fred Koetter über die Akteurinnen und Akteure, Auswirkungen und Effekte von derartigen Erscheinungsformen im urbanen Gefüge nach. „Die Stadt als Museum, die Stadt als massgebendes Zusammenwirken von Kultur und erzieherischer Absicht; die Stadt als wohlwollende Quelle beliebiger, aber sorgfältig ausgewählter Unterweisung sollte vielleicht am reichhaltigsten im München Ludwigs I. und Leo von Klenzes verwirklicht werden, in jenem Biedermeier-München mit seiner überaus gewissenhaften Fülle von Anspielungen – florentinischen, mittelalterlichen, byzantinischen, römischen, griechischen –, die alle aussahen wie Tafeln aus Durands ‚Précis de Leçons‘. Aber wenn auch die Idee dieser Stadt, die ihre Zeit im Jahrzehnt nach 1830 gehabt zu haben scheint, sicherlich in der Kulturpolitik des frühen 19. Jahrhunderts beschlossen liegt, ist ihre Bedeutung noch nicht abgeschätzt worden.“247 Eine immer einflussreicher werdende Bürgerschaft begann im ausgehenden 19. Jahrhundert physisch und ideell die Dispositionen der Residenz in München zu übernehmen. Am Beispiel der gebauten Stadt lässt sich, begreift man „Architektur als zentralen symbolischen Ausdruck einer Gesellschaft [...], in der sich diese aber zugleich erfindet und eine bestimmte Lebensform konstituiert“,248 wie der Phi244 |

Vgl. Düringer, Jana; Lange, Rainette (2006): Dresden bleibt Dresden. Die Stadt

in der Reiseliteratur. In: Lindner, Rolf; Moser, Johannes (Hg.): Dresden. Ethnografische Erkundungen einer Residenzstadt. (Schriften sächsischen Geschichte und Volkskunde, 16) Leipzig, S. 37-73. Hier: S. 47. 245 |

Lindner 2003 b: S. 48.

246 |

Vgl. Moser; Egger 2010: S. 91-104.

247 |

Rowe, Colin; Koetter, Fred (1984): Collage City. (Geschichte und Theorie der Archi-

tektur, 27) Basel; Boston; Stuttgart, S. 186-187. 248 |

Illies, Christian (2. September 2010): Hauptbahnhof Heidegger. In: Süddeutsche

Zeitung, S. 11.

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losoph Christian Illies meint, eindrücklich nachvollziehen, auf welche Weise die Eigenschaften der königlichen Metropole in der Hauptstadt des Bürgertums aufgehen und darin auch bewusst eingebracht werden. „In der Bauweise“, argumentiert Illies, „gewinnt das Imaginäre einer Zeit Gestalt, also das was sie sein könnte oder idealerweise sein will. Architektur ist unübersehbar und kommuniziert so deutlicher als andere Medien diese Vorstellungen.“249 Fast emblematisch steht das neue Rathaus, das der Grazer Architekt Georg von Hauberisser in den Jahren von 1867 bis 1909 am Marienplatz im Zentrum der Stadt erbaute, für Münchens Emanzipation von der Haupt- und Residenzstadt der Monarchie zur selbstbewussten Bürgerstadt.250 Der historisierend neogotische Stil des städtisch-bürgerlichen Rathauses, hält der Historiker Peter Claus Hartmann fest, schlägt eine Brücke zur bedeutendsten Phase des Bürgertums im 15. Jahrhundert.251 Den Sitzungssaal des neuen Rathauses schmückt das größte Gemälde, das je von der Stadt München in Auftrag gegeben wurde. Ins Zentrum des 15 Meter langen Bildes stellt der Maler Karl Theodor von Piloty 1879 nicht mehr die landesherrliche Allegorie der Bavaria, sondern rückt programmatisch die städtische Monachia in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, umgeben von über hundert städtischen Persönlichkeiten, während die Wittelsbacher schemenhaft zurück treten.252 Dennoch sollten die Regenten in einer späteren Version des Bildes wieder an Bedeutung gewinnen. In vielerlei Hinsicht parallel bzw. entgegengesetzt zum Bau des neuen Rathauses in München ließ Ludwig II. im Allgäu fast zeitgleich Schloß Neuschwanstein im neoromantischen Stil errichten. Unter Führung der Bürgerschaft entwickelte sich München seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in rasanter Geschwindigkeit zur Metropole, besonders der Mittelstand trieb die ökonomische Entwicklung der Stadt nachhaltig voran. Die Bevölkerung Münchens setzte sich zu diesem Zeitpunkt etwa zur Hälfte aus Arbeitern, zu 40 Prozent aus einer heterogenen Mittelschicht und zu etwa 10 Prozent aus einer Oberschicht von freien Akademikern, Kaufleuten, Fabrikbesitzern und deren Familien zusammen.253 Aufgrund der anwachsenden Bewohnerschaft breitete sich die Stadt physisch immer weiter aus. Neben den Eingemeindungen der umliegenden Dörfer wurden neue Quartiere angelegt und mittels Brücken und Straßen auch strukturell erschlossen. Nachdem Spekulanten in rascher Folge vornehmlich geometrisch angeordnete Immobilien errichten ließen, ohne dabei in irgendeiner Form an städteplanerische Konzepte zu denken, koordinierte seit 1892 das „Stadterweiterungsbüro“ unter der Leitung des Architekten Theodor Fischer 249 |

Illies 2010: S. 11.

250 |

Vgl. Bauer 2005: S. 120-122.

251 |

Vgl. Hartmann 2008: S. 164-168 und Bosl 1971: S. 27.

252 |

Vgl. ebd. und http://www.stadtmuseum-online.de/typisch/typisch25.html, (15. Sep-

tember 2010). 253 |

Vgl. Hartmann 2008: S. 166-167.

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die systematische Gestaltung der Stadt. „Die vordem exklusiv königliche Architekturinitiative“, merkt Richard Bauer an, „wurde von den städtischen Gremien weiterentwickelt. Das eindrucksvolle Erscheinungsbild des ludovizianischen ,Isarathen’ wurde durch qualitätsvolle Baukörper und [...] brunnengeschmückte, weiträumige Platzanlagen gesteigert.“254 Mit der Verbesserung der Verkehrswege lebten immer weniger Menschen im eigentlichen Zentrum der Stadt. „Dieser Prozeß der ,Citybildung‘, der mit dem Verschwinden vieler Altmünchner Bürgerhäuser und der Errichtung imposanter Bankgebäude, Bierhallen, Geschäfts- und Kaufhäuser einherging, nahm massiven Einfluß auf das Altstadtbild, ohne jedoch die künstlerisch sensibel akzentuierten architektonischen Charakterzüge Münchens zu verwischen.“255 Trotz großer Einschnitte und einer Vielzahl von Baumaßnahmen sollte es Architekten wie Gabriel und Emmanuel von Seidl oder auch Theodor Fischer mit dem so genannten Heimatstil gelingen, relativ harmonische Übergänge zwischen den alten und neuen Bestandteilen von München zu schaffen.256 Der Umbau der Stadt lief aber auch um die Jahrhundertwende nicht ohne Auseinandersetzungen ab, über die Angemessenheit des Vorgehens wurde viel debattiert und doch keine Einigkeit erzielt. In seinem Roman „Münchnerinnen“, Schauplatz ist die Stadt um 1900, lässt der bayerische Schriftsteller Ludwig Thoma die Protagonisten seiner Geschichte beim Frühschoppen in einem Weinbeisl zusammentreffen und über die Umgestaltung der Stadt und den damit einhergehenden Wandel von München sinnieren. Ein Major im Ruhestand, Max Prechtl, beklagt sich darüber, wie der „Charakter der Stadt“257 zusehends verschandelt wird. Dr. Walter Kresin, Kunsthistoriker nach eigenem Bekunden, gibt sich indessen optimistisch: „Da muß ich als Hamburger eine Lanze für München brechen. [...] Sehen Sie, ich kenne doch Deutschland nicht wahr? Und ich versichere Sie, [...] ich habe nirgends den Eindruck einer so eigenartigen, sofort auf den Beschauer wirkenden Großstadt gehabt wie hier… Was haben Sie immer noch für gute Architektur, was haben Sie für reizvolle Städtebilder!“258 Die Dimensionen der Darstellung weiteten sich im Laufe des 19. Jahrhunderts mit den fortschreitenden Möglichkeiten der technischen Reproduzierbarkeit in rasanter Geschwindigkeit aus. „Seit 1862 zierten die ersten Plakattafeln das alte Rathaus, 1880 wurde die erste Plakatsäule aufgestellt, zehn Jahre später tauchte mit dem ‚Chrystall-Plakat-Kiosk‘ am Maximiliansplatz die erste elektronische Nachtreklame auf.“259 Eine wachsende Zahl an Verlagen gab Zeitungen und Zeitschriften heraus 254 |

Bauer 2005: S. 125.

255 |

Ebd.

256 |

Vgl. ebd.: S. 126.

257 |

Thoma, Ludwig (2008): Münchnerinnen. München 1919, S. 157.

258 |

Thoma 2008: S. 157.

259 |

Tworek, Elisabeth (2008): „… und dazwischen ein schöner Rausch“. Dichter und

Künstler aus aller Welt in München. München, S. 54.

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und Druckereien wie zum Beispiel Knorr & Hirth vervielfältigten Bilder, Texte und Motive, die in München geschaffen wurden, mittels neuer Verfahren.260 Ebenso wurden Städte ansprechend in Szene gesetzt und Stadtansichten immer wieder reproduziert. Im Zuge der Industrialisierung und Umverteilung von Ressourcen nach dem Zusammenschluss des Deutschen Reichs begann sich analog auch der Wettbewerb unter den Städten zu verschärfen. Nachdrücklich beeinflusste der aufkommende Fremdenverkehr, und damit der Blick von außen, die anwachsende Bedeutung städtischer Wahrzeichen und Symbole. Zugleich identifizierten sich die Bewohnerinnen und Bewohner in Zeiten des Wandels stärker mit den Besonderheiten ihrer Stadt. Mit der Verdichtung der ökonomischen Strukturen oder dem Anwachsen der Mobilität durch den zunehmenden Eisenbahnverkehr setzten allgemeine Entwicklungen in München ein, die Prozesse ereigneten sich jedoch an konkreten Orten, erhielten im Kontext der Stadt eine spezifische Form und Färbung und drückten sich auch in den kulturellen Codierungen261 aus. „Viele Städte und Länder verbreiten einen charakteristischen Geruch“, wusste der Schriftsteller August Lewald bereits 1835 zu berichten, „[...] Hamburg hüllt sich in Torf- und Steinkohlendunst, Bremen riecht nach Fischen, Edam und Limburg nach Käse, Ellfeld nach Most, Wiesbaden nach Schwefelleber, Schiras nach Rosen, Messina nach Limonen, Wien nach Kreutzerwürsteln und München – ja! dies möcht’ ich meine Leser gern errathen lassen! Nicht wahr? München – Neu-Athen – der Sitz der bayerisch-römischen Schule – wo die 800 Maler wohnen! da sollte man die Oelfarbe schon vor den Thoren wittern, wie man die portugiesische Küste an ihren Orangendüften schon auf hohem Meere erkennt, wenn man sie noch gar nicht sieht! Aber so ist es nicht! Ein ganz eig’ner Duft strömt uns entgegen, jeden anderen bewältigend: München riecht nach Hopfen!“262 „Gruß aus der Kunst- und Bierstadt München“, heißt es auf einer Bildpostkarte aus dem Jahr 1901. Gezeigt werden das Hofbräuhaus und der weiß-blaue Himmel, ein Maßkrug, ein Rettich sowie das Münchner Kindl, angeordnet sind die Motive auf einer Palette nebst Farbtopf und Pinseln.263 Bier wurde und wird zweifelsohne nicht nur in München gebraut, gleichwohl trugen neben der Jahrhunderte alten Tradition des Bierbrauens, die sich vor allem über das von Herzog Albrecht IV. im Jahr 1487 erlassene Reinheitsgebot vermittelt, sowohl Entwicklungen wie der Übergang von der gewerblichen hin zur industriellen Bierproduktion, die Einführung der Kältetechnik durch Carl von Linde Anfang der 1870er Jahre und der damit mögliche Export, als auch Bilder und Gemälde wie das Portrait der schönen Coletta 260 |

Vgl. Hoser, Paul (28. Februar 2011): Knorr & Hirth. In: Historisches Lexikon Bayerns.

Verfügbar unter: http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/artikel/artikel_44901, (19. Juli 2011). 261 |

Lindner 2003 b: S. 48.

262 |

Lewald, August (1835): Panorama von München. Stuttgart, S. 47.

263 |

Vgl. Weidner; Till 2008: S. 172-173.

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Möritz, das der Maler Toni Aron im Auftrag des Bürgerbräu von dem bekanntesten Münchner Biermädchen angefertigte, oder die Figur der „Schützenlisl“, die der Künstler Friedrich August von Kaulbach im ausgehenden 19. Jahrhundert, inspiriert von dem Konterfei der jungen Kellnerin, als frühe Werbeikone entwarf, und auch Bauwerke wie das Hofbräuhaus am Platzl, das sich auf die Wittelsbacher zurückführen lässt und noch dazu einen prachtvollen Bierpalast bezeichnet, der Ende des 19. Jahrhunderts als Attraktion für den Fremdenverkehr an Stelle der alten Schwemme errichtet worden war, zur Entfaltung der populärsten Münchner Geschmackslandschaften bei.264 „Mit diesem Begriff sind historisch gewachsene städtische Räume angesprochen, in denen das symbolische Kapital eines Ortes und die durch sie vermittelten sozialen und ökonomischen Verhältnisse und Unterschiede nicht nur einen singulären kulturräumlichen Ausdruck finden“, wie die Kulturwissenschaftler Lutz Musner und Rolf Lindner erklären, „sondern auch ein spezifisches Flair, eine Aura bzw. ein urbanes Imago ausstrahlen.“265 Im Zentrum der Überlegungen stehen die wechselseitigen Bezugnahmen zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem sowie deren Verwertbarkeit in Form von symbolischen Ökonomien. „Mit dem heuristischen Begriff der Geschmackslandschaften sind Konfigurationen von kulturellen Codierungen, sozialen Praktiken und topographischen Besonderheiten gemeint, in denen das symbolische Kapital des Ortes, d.h. eine singuläre Koppelung von materieller und zeichenhafter Kultur, von ästhetischen Präferenzen und stilistischen Konventionen vergegenständlicht und verräumlicht ist.“266 Die Stadtforscher nehmen an, dass sich Geschmackslandschaften nicht einfach formen oder entwickeln lassen, sondern ihrer eigenlogischen Dynamik nach, vergleichbar einer Naturgeschichte, auf der Basis eines urbanen Habitus historisch wachsen und darüber hinaus auch den Eindruck einer Stadt anhaltend beeinflussen.267 Lutz Musner, der sich auf komplexe Weise mit der Kultur und dem Habitus einer anderen Residenzstadt, Wien, auseinandergesetzt hat, zeigt in seiner Studie zum Geschmack der Donaumetropole, wie grammatische Grundlagen, strukturelle Einflüsse und situative Faktoren die Musikstadt ausmachen und sich die Konjunktur des Musikstadtimages seit der Mitte des 19. Jahrhunderts auch als politisch gewollte, kulturelle Positionierung der Stadt Wien gegenüber anderen miteinander konkurrierenden Städten im deutschsprachigen Raum erklären lässt.268 Geschmackslandschaften funktionieren auf unterschiedlichen Ebenen gleichzeitig, einzelne Aspekte können in einer übergeordneten Thematik aufgehen, und analog spielen Bilder und Befindlichkeiten, die nicht in irgendeiner Art und Weise mit den dominierenden Geschmackslandschaften einer 264 | Vgl. ebd.: S.172-179. 265 |

Lindner; Musner 2005: S. 33.

266 |

Ebd.: S. 35-36.

267 |

Vgl. ebd.

268 |

Vgl. Musner 2009.

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Stadt übereinstimmen, in der städtischen Narration kaum eine Rolle und lassen sich in einem urbanen Bezugssystem nur schwer oder auch gar nicht etablieren. Das Doppel der „Bier- und Kunststadt“ kann als erste Kampagne des Münchner Stadtmarketings gelten.269 Überaus erfolgreich baut das zweifache Image substantiell auf den grundlegenden Dispositionen von München auf und deckt sich in seiner repräsentativen Gestalt mit der kulturellen Textur und dem Habitus der Stadt. Analog wäre allerdings auch die Entwicklung eines derartigen Phänomens ohne die Menschen, Ereignisse und Voraussetzungen, die München über Jahrhunderte prägten und damit die Stadt in ihrer spezifischen Vielschichtigkeit formten, nicht in der Weise vorstellbar. Die Blüte der „Bier- und Kunststadt“ fällt mit der Regierungszeit des Prinzregenten Luitpold zusammen, nach der Entmündigung von Ludwig II. im Juni 1886 wurden seinem Cousin sämtliche Aufgaben und Ämter übertragen.270 Schon 1880 wurde in Schwabing das neue Akademiegebäude feierlich eingeweiht, die Nachkommen von Ludwig I. förderten die schönen Künste ihrerseits nach Kräften. Während Ludwig II. nach seinem Tod trotz aller Kritik in den Status einer Ikone erhoben wurde, war sein Nachfolger bei der Bevölkerung zunächst wenig beliebt. Der Prinzregent gab sich indessen unprätentiös und konnte sein Ansehen bald durch große Tatkraft steigern.271 „Luitpolds wahres Wesen drückte sich vielmehr in der ledernen Kniehose, der rauen Joppe und dem abgegriffenen Jägerhut aus. Als Waidmann, als Bergsteiger, als Schütze fühlte er sich Zeit seines Lebens am wohlsten.“272 In der Phase um 1900 erlebte München goldene Jahre, die prächtige Erscheinung der Stadt setzte sich in gebauter und ideeller Form aus zahlreichen Museen, Konzerthallen, Boulevards, Palais und Plätzen zusammen, mit denen die Wittelsbacher ihr Kapital auf dem Gebiet der königlichen Haupt- und Residenzstadt manifestierten. Um die Jahrhundertwende gab es in München zudem mehr als 20 Brauereien.273 Villen von Fabrikdirektoren, die im Zuge der Industrialisierung zu Geld gekommen waren, Besitzungen von alteingesessenem Adel und stattliche Anwesen von einflussreichen Bürgern, Forschern, Wissenschaftlern, Künstlern, Opernsängern, Brauereibesitzern, Privatiers und anderen Granden der Münchner Gesellschaft ergänzten das Bild. Fertigungshallen wurden dagegen an den Rändern der Stadt gebaut, rauchende Schlote und Ar269 |

Vgl. Weidner; Till 2008: S. 172-174.

270 |

Vgl. Immler, Gerhard (2010): Die Entmachtung des König Ludwigs II. als Problem

der Verfassungsgeschichte. In: Wolf, Peter; Brockhoff, Evamaria; Hamm, Margot; Kink, Barbara (Hg.): Götterdämmerung. König Ludwig II. von Bayern. Aufsätze. (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur, 59) Augsburg, S. 55-59. Hier: S. 56. 271 |

Vgl. Treml, Wolfgang (Hg.) (2000): Geschichte des modernen Bayern. Königreich

und Freistaat. 2. Aufl. München, S. 103-105. 272 |

Bauer, Richard (30. Dezember 2005): Regent in der rauen Joppe. In: Süddeutsche

Zeitung, S. 40. 273 |

Vgl. Weidner; Till 2008: S. 181.

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beiterunterkünfte blieben gewissermaßen außerhalb der Sichtweite. Wenngleich sich die ökonomische Situation der Stadt wandelte, und die Produktion von Lokomotiven und Motoren entscheidend zur Wirtschaftskraft beitrug, wurde das Gesicht von München weiterhin von Bierkellern und Wirtsgärten geprägt. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert wurden im Zentrum der Stadt prächtige Bierpaläste errichtet, die Architektur der Gemütlichkeit erwies sich nebenbei selbst als beliebter Export aus München. Musner spricht in dem Zusammenhang von Stadtlandschaften, diese kulturgeographischen Gliederungen sind „[...] geordneter und repräsentativer Raum zugleich, und sie sind gleichermaßen reale Orte wie auch deren Inszenierungen. Stadtlandschaften sind zum einen konkrete topographische Ensembles mit bestimmten Merkmalen und zum anderen organisieren sie die Wahrnehmung von Orten und Räumen als gleichsam natürliche, immer schon da gewesene Raumformen und prägen dieserart Urbanität“274 . Die Besonderheit der Stadt München liegt augenscheinlich in der Kombination von zwei, auf den ersten Blick überhaupt nicht miteinander zu vereinbarenden Stadtlandschaften und deren immanenter Ambivalenz. Die offenkundigen Kennzeichen und Attribute der Bierstadt scheinen zunächst einmal gar nicht zu den mutmaßlichen Befindlichkeiten einer Kunststadt zu passen. Gerade in dieser ganz eigenen Verbindung, den städtischen Praktiken, Räumen und Symbolen des doppelten Images aber gründet sich die wesentliche Eigenart von München.

S CHWABING UND W AHNMOCHING In „Bruckmanns Illustrirtem Reiseführer“ von 1903 wirbt eine bebilderte Annonce, der Text wird von einer Palette und vier stilisierten Farbtuben gerahmt, für die Künstler- und Malerrequisiten-Fabrik Richard Wurm in München und deren „Versand ins In- und Ausland, Katalog auf Verlangen“275 . Auf der gleichen Seite inseriert Adrian Brugger, königlich bayerischer Hoflieferant der Haupt- und Residenzstadt München, für seine „Grosse Auswahl von Utensilien für Oel-, Aquarell-, Gouache-, Porzellan-Malerei in bester Qualität zu billigen Preisen“276, das Ladengeschäft befindet sich in der Theatinerstraße 1. Die detaillierten „Ortsbeschreibungen“ des Literaturwissenschaftlers Dirk Heißerer zeigen die enorme Dichte an zentralen Räumen rund um die Akademie, Galerien, Ateliers, Kneipen und anderen Institutionen, wie auch die große Zahl an Personen, die die Kunststadt München mit ihren Gepflogenheiten um 1900 ausmachten.277 Die Malerfürsten 274 |

Musner 2009: S. 49.

275 |

Gsell Fels, Johann Theodor (1903): München und Umgebung. (Bruckmann’s Illu-

strirte Reiseführer) München. 276 |

Gsell Fels 1903.

277 |

Vgl. Heißerer, Dirk; Jung, Joachim (1998): Ortsbeschreibung. Tafeln und Texte in

Schwabing. Ein Erinnerungsprojekt. München.

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Franz von Stuck und Franz von Lenbach, die in prächtigen Villen an der Äußeren Prinzregentenstraße und am Königsplatz residierten, fassten das Geschehen nicht nur in zeitlicher und räumlicher, sondern auch in ideeller Hinsicht ein. Obgleich sich das Geflecht der Kunststadt über ganz München erstreckte, konzentrierten sich die meisten Arbeitsräume, Malklassen, Kunstgewerbeschulen, Verlags- und Geschäftshäuser, Lokale und Bühnen wie auch die verschiedenen Unterkünfte, Herbergen, Wohnungen und Appartements, Keller, Zimmer, Dachkammern etc. besonders auf die Stadtviertel Maxvorstadt und Schwabing. Im Reiseführer präsentiert sich neben der Pension Potlech, der Pension Grabenau und der Pension Bellevue auch die Pension Cortin-Gehr in der Kaulbachstraße 47 als „[v]ornehme Fremdenpension, Villa mit Park, in schönster Lage der Stadt, nächst Ludwigstrasse, Engl. Garten, Universität u. Galerien, englische und französische Konversation, Vorzügliche Küche; 5-6 M., für jede Zeitdauer. Bestens empfohlen“278. Orte wie das Café Stefanie an der Ecke Theresien-/Amalienstraße oder der „Simplicissimus“ in der Türkenstraße 57 galten als Treffpunkte der Boheme. „Mitternacht ist’s. Längst im Bette liegt der Spießer steif und tot, Ja, dann wirkt das nette Simpl-Glasglüh-Morgenrot“,279 dichtete Joachim Ringelnatz 1909. Namen und Emblem ihrer 1903 eröffneten Künstlerkneipe entlieh die Wirtin Kathi Kobus der satirischen Wochenzeitschrift Simplicissimus, die der Verleger Albert Langen seit 1896 mit wachsendem Erfolg herausbrachte. Das kritische Magazin mit dem Signet der roten Bulldogge, die sich von der Kette losgerissen hat, fiel durch ebenso bissige Texte und Karikaturen auf. Bedeutendster Zeichner und Urheber des Emblems war der Künstler Thomas Theodor Heine, der Schriftsteller Ludwig Thoma spottete spitzfindig und in derben Worten über das wilhelminische Deutschland und den Katholizismus in Bayern.280 Zu den einflussreichsten Künstlerinnen und Künstlern, die den Simplicissmus prägten und gleichzeitig ein finanzielles Auskommen durch das Blatt fanden, gehörte der Dichter, Dramatiker und Schauspieler Frank Wedekind. Zusammen mit anderen gründete er die „Elf Scharfrichter“ in der Türkenstraße 28 als erstes literarisches Brettl nach dem Vorbild des französischen Künstlerkabaretts.281 Seit 1896 gab der Verleger Georg Hirth ein Journal mit dem Titel Jugend heraus, und aus der Literatur- und Kunstzeitschrift Insel, die von 1899 bis 1901 in München erschien und deren Logo, ein Schiff mit zwei Masten, von dem Architekten Peter Behrens stammt, ging auch der gleichnamige Verlag

278 |

Gsell Fels 1903.

279 |

Vgl. Diehl, Walter (1989): Die Künstlerkneipe Simplicissimus. Geschichte eines

Münchners Kabaretts. 1903 bis 1960. München. 280 |

Vgl. Large, David Clay (1998): Hitlers München. Aufstieg und Fall der Hauptstadt

der Bewegung. München, S. 40-41. 281 |

Vgl. Regnier, Anatol (2010): Frank Wedekind. Eine Männertragödie. München, S.

203-204.

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hervor.282 In Schwabing lebten Literatinnen und Literaten, Malerinnen und Maler, bildende Künstlerinnen und Künstler, Dichterinnen und Denker, Schauspielerinnen und Schauspieler, Tänzerinnen und Tänzer, der Kreis der Kosmiker, emanzipierte Männer und Frauen, Politiker, auch Journalisten, Redakteure, Kritiker und Zeitungsmacher bewegten sich in den gleichen Kreisen. „In der näheren Umgebung von Universität und Akademie der schönen Künste verdichteten sich künstlerische Produktions- und Lebenssituationen.“283 Thomas Mann und seine Frau Katja wohnten seit 1905 in der Franz-Joseph-Straße 2, seit seiner Ankunft aus Lübeck hatte der Schriftsteller bereits in der Theresienstraße, der Marktstraße, der Feilitzsch-, Gisela- und Konradstraße gelebt. Der Dramatiker Henrik Ibsen bezog ein Quartier in der Amalienstraße, und Joachim Ringelnatz führte in der Schellingstraße von 1908 bis 1909 den Tabakladen „Zum Hausdichter“.284 Viele Bewohnerinnen und Bewohner der Kunststadt verfolgten gleich mehrere Talente, spielten, schrieben, formulierten, zeichneten und entwarfen Skizzen, Bilder, neue Lebensformen, Weltanschauungen und politische Systeme. Die Bewegungen umkreisten aber stets den Stadtteil Schwabing. Der Maler August Diefenbach war ein Vorreiter der Vegetarierbewegung, Gusto Gräser mit langem Bart und Kutte galt als Lebenskünstler, andere übten sich im Ausdruckstanz. Dieses Netz an Personen erstreckte sich von München bis zu einer Kolonie im Tessin, dem so genannten Berg der Wahrheit, „[...] ein bekannter Begriff in Schwabing – eine Legende, ein Gerücht, eine Verheißung, ein Ort, der die Fantasie beflügelte und ganz real ein Ziel war für alle Arten von Aussteigern, Zivilisationsflüchtigen, der Stadt und des Staates Überdrüssigen“285 . Die Literaturwissenschaftlerin Ulrike Voswinckel hebt die Wechselwirkungen zwischen Schwabing und Ascona hervor, die Gründer des „Monte Verità“ kannten sich aus München. Lenin verbrachte eine Zeit in der Ungererstraße, der Künstler Franz Marc unterhielt Atelierräume in der Schellingstraße, der Maler Paul Klee und seine Ehefrau, die Pianistin Lily Stumpf, wohnten in der Ainmillerstraße. Die Künstlerin Marianne von Werefkin lebte in der Giselastraße 23 und der Maler Lovis Corinth war von 1897 bis 1901 in der Nummer 7 gemeldet. Auch Olaf Gulbransson und Karl Arnold, beide Karikaturisten des Simplicissimus, ließen sich in Schwabing nieder, des Weiteren die Maler Giorgio de Chirico, Wassily Kandinsky, Alexej von Jawlensky und die Malerin Gabriele Münter.286 Unter den Genannten sind große Berühmtheiten, das Milieu der Boheme war aber weitaus öfter auch von ganz anderen Schicksalen 282 |

Vgl. Heißerer, Dirk (1993): Wo die Geister wandern. Eine Topographie der Schwa-

binger Bohème um 1900. München, S. 131-133. 283 |

Bauer 2005: S. 133.

284 |

Vgl. Heißerer; Jung 2008.

285 |

Voswinckel, Ulrike (2009): Freie Liebe und Anarchie: Schwabing – Monte Verità.

Entwürfe gegen das etablierte Leben. (Edition Monacensia) München. 286 |

Vgl. Heißerer; Jung 2008.

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geprägt. Häufig ist in den Biographien der Künstlerinnen und Künstler auch von Sorgen und Nöten die Rede, in Briefen wurde von Gönnern und Verwandten Geld erbeten, um den Lebensunterhalt in der Stadt finanziell bestreiten zu können. Der Maler Carl Spitzweg hielt eine solche Szene bereits 1839 auf einem Gemälde fest, „Der arme Poet“ sitzt unter einem Regenschirm in seinem Bett und arbeitet über den schneebedeckten Dächern von München. Der Schriftsteller Oskar Maria Graf aus Berg am Starnberger See erzählt in seinem autobiographischen Roman „Wir sind Gefangene“ von 1927, wie er in München die gesamten Ersparnisse seines Bruders für seinen eigenen Lebensunterhalt und ein Zimmer zur Untermiete ausgegeben hatte, während er sich als Autor versuchte.287 In immer neuen Vereinigungen taten sich Kunstschaffende zusammen und definierten damit wiederholt ihre Auffassung von Innovation, 1892 spaltete sich die Münchner „Secession“ von der Künstlergenossenschaft ab, die 1868 mit Genehmigung von Ludwig II. ins Leben gerufen worden war. 1901 folgte die Gruppe „Phalanx“, 1909 entstand die „Neue Künstlervereinigung“, und 1912 legte Wassily Kandinsky mit seinem Kreis den wegweisenden Almanach „Der Blaue Reiter“ vor.288 Nach dem Historismus entwickelte sich im ausgehenden 19. Jahrhundert der Jugendstil, benannt nach der bereits etablierten Zeitschrift von Georg Hirth, und markierte zugleich einen Übergang zur modernen Kunst.289 Populäre Vertreter dieser Variante des art nouveau waren in München zum Beispiel Richard Riemerschmid, Hermann Obrist oder auch August Endell, der 1898 mit der Fassade des Fotoateliers Elvira an der Von-der-Tann-Straße für Aufsehen sorgte. Ein prächtiges Ornament mit einer geschwungenen Drachengestalt zierte das Gebäude, in dem die bekannten Frauenrechtlerinnen und Unternehmerinnen Anita Augsburg und Sophia Goudstikker ein Hofatelier und einen Salon unterhielten.290 Bemerkenswert ist die Ausweitung der künstlerischen Aktivitäten auf verschiedene Zweige, neben Skulpturen, Aquarellen oder Gemälden wurden Illustrationen, Plakate, Stickereien, diverse Dekorationsartikel und Einrichtungsgegenstände, Leuchten, Möbel und andere Sorten von Kunsthandwerk gefertigt.291 Gleichzeitig begannen sich Personen aus gehobenen Kreisen wie zum Beispiel der Architekt Gabriel von Seidl auch für regionale Spezifika in München und Umgebung zu interessieren 287 |

Vgl. Graf, Oskar Maria (2008): Wir sind Gefangene. Ein Bekenntnis. München 1927.

288 |

Vgl. Heißerer 1993: S. 212-215.

289 |

Vgl. Bauer 2004: S. 18-19 und Ottomeyer, Hans (1997): Wege in die Moderne. Der

Münchner Jugendstil 1896 bis 1914. In: Ottomeyer, Hans; Brandlhuber, Margot (Hg.): Wege in die Moderne. Jugendstil in München 1896 – 1914. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Fridericianum Kassel vom 24. November 1996 bis zum 26. Januar 1997. München; Berlin. S. 9-11. Hier: S. 10. 290 |

Vgl. Wilhelm, Hermann (1993): Die Münchner Bohème. Von der Jahrhundertwende

bis zum Ersten Weltkrieg. München, S. 115-123. 291 |

Vgl. Ottomeyer (1997): S. 11.

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und gründeten 1902 den „Verein für Volkskunst und Volkskunde“.292 Kandinsky und Gabriele Münter lernten im Blauen Land am Staffelsee die Hinterglasmalerei, zu ihren abstrakten Interpretationen ließ sich das Künstlerpaar von Pferden und Kühen, dem Murnauer Kirchturm und der bayerischen Landschaft inspirieren.293 In den vielen Museen, Galerien und Ausstellungshallen der Stadt, vor allem aber im prächtigen Glaspalast am Alten Botanischen Garten, wurden Bilder und Objekte aus dem In- und Ausland zur Schau gestellt.294 Während der Sommermonate zogen viele Künstlerinnen und Künstler, wie es in München um die Jahrhundertwende üblich war, in das nahe gelegene Umland, und prägten mit ihren festgehaltenen Eindrücken nachhaltig das Bild von Stadt und Region. Erfolgreiche Maler wie Gabriel von Max und namhafte Literaten wie Thomas Mann ließen sich wie andere vermögende Städter Villen am Starnberger See und am Staffelsee, in Bad Tölz und an anderen Orten des bayerischen Oberlands bauen, weniger vermögende Gäste mieteten sich über den Sommer in Bauernhöfen ein, die Schriftsteller Ludwig Ganghofer und Ludwig Thoma kamen wie zahlreiche andere Stadtbewohnerinnen und -bewohner auch selbst aus der Gegend.295 In der Sommerfrische trafen die Künstlerinnen und Künstler auf Strukturen, die dem Stadtteil Schwabing nicht unähnlich waren. Erst mit der Eingemeindung im Jahr 1890 ist aus dem Dorf nördlich von München ein Stadtteil geworden, nach und nach wurde die ländliche Struktur, Bauernhöfe, Wiesen und Felder, aber auch die Haltung zu manchen Themen urbanisiert und überschrieben. Das Viertel wurde von einer Villenkolonie am Rande des Englischen Gartens und einer Ansiedlung von Fabriken in Richtung Oberwiesenfeld gerahmt, bald definierten auch Gebäude und Einrichtungen wie das Schwabinger Krankenhaus oder die Kirche St. Ursula die Gestalt des Areals. Die Schwabinger Landstraße hatte Ludwig I. schon in den 1820er Jahren zur Ludwigstraße ausbauen lassen, die Ansiedlung der Universität und die Einrichtung der Akademie veränderten das Leben in dem kleinbürgerlich-bäuerlich ausgerichteten Stadtteil nachhaltig.296 „Die neuen Einwohner Schwabings amüsieren sich über die vorgefundenen Sitten 292 |

Vgl. Roth, Hans (2002): Erbe und Auftrag. Heimatschutz und Heimatpflege in Bay-

ern im Wandel der Zeit. In: Bayerischer Landesverein für Heimatpflege e.V. (Hg.): Heimat erleben – bewahren – neu schaffen. Kultur als Erbe und Auftrag. 100 Jahre Bayerischer Landesverein für Heimatpflege e.V., S. 9-108. Hier: S. 9-11. 293 |

Vgl. Tworek, Elisabeth (2004): Spaziergänge durch das Alpenvorland der Literaten

und Künstler. Zürich; Hamburg. 294 |

Vgl. Hollweck, Ludwig (1982): München in den Zwanziger Jahren. Zwischen Tradition

und Fortschritt. München, S. 95-98. 295 |

Vgl. Tworek, Elisabeth (2011): Literarische Sommerfrische. Künstler und Schrift-

steller im Alpenvorland. München. 296 |

Vgl. Bauer, Reinhard (2004): Schwabing leuchtet. Geschichte, Kultur, Wirtschaft. Mün-

chen, S. 15-17.

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und integrieren sie gerne in ihre Lebensform. Die seit 1895 jährlich an Fasching in der Schwabinger Brauerei abgehaltene Bauernkirta ist ein Beispiel für die Anpassung an gegebene ethnographische Konditionen“, erklärt der Historiker Helmut Bauer.297 Die rauschenden Feste der Kunststadt und besonders die zahlreichen Geschichten und Episoden über die Feiern in phantasievollen Kostümen, die Bandbreite reichte von historischen Trachten aus dem Umland bis hin zu griechisch anmutenden Gewändern, schlossen immer auch Momente der Bierstadt mit ein, der weithin bekannte Münchner Fasching galt seit dem späten 19. Jahrhundert als legendär.298 „Waren die ersten Bauernbälle ausgesprochenermaßen oberbayerischalpin, kurzhöslerisch, in Tracht und ‚Kluft‘, so machte man bald Konzessionen und ließ Bauerntrachten, besonders wenn sie echt und schön waren, aus ganz Deutschland, ja selbst aus dem Ausland, aus Holland, Ungarn und dem Balkan zu“,299 sinnierte der Münchner Autor Georg Jacob Wolf 1925 in einem Rückblick auf die Feste der Jahrhundertwende. Aber nicht nur in den alpenländisch dekorierten Sälen der Max-Emanuel-Brauerei in der Adalbertstraße trafen sich namhafte Persönlichkeiten der Münchner Gesellschaft. Der populäre bayerische Dichter Ludwig Ganghofer feierte am 7. Juli 1905 seinen 50. Geburtstag, aus diesem Anlass organisierte der Literat Ludwig Thoma das so genannte Ganghofer-Gedächtnis-Schießen auf dem Hof des Sixbauern in Finsterwald. Eine Aufnahme zeigt die Besucherinnen und Besucher, vorwiegend Künstlerinnen und Künstler aus München, unter ihnen auch der norwegische Zeichner Olaf Gulbransson, in Dirndl und Lederhosen auf einem Wagen.300 „‚Aber lieber Herr Doktor, sagen sie mir nur noch das eine: was hat das alles damit zu tun, daß dieser Stadtteil Wahnmoching heißt?‘“301 Franziska Gräfin zu Reventlow, eine der auffälligsten Persönlichkeiten in der Stadt um 1900 und die „Königin von Schwabing“302 , wie sie der amerikanische Historiker David Clay Large nennt, Schriftstellerin und ausgebildete Malerin, war mit den Literaten Rainer Maria Rilke, Erich Mühsam, Heinrich Wolfskehl bekannt und ebenso berühmt für ihre Affären. Mit „Herrn Dames Aufzeichnungen“ gelang Fanny Reventlow im Jahr 1913 ein Schlüsselroman zu den „Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadt297 |

Bauer, Helmut (1998): Schwabing. Kunst und Leben um 1900. Publikation zur

gleichnamigen Ausstellung vom 21. Mai bis 27. September 1998 im Münchner Stadtmuseum. München, S. 118. 298 |

Vgl. Kapfhammer, Günther (1977): Brauchtum in den Alpenländern. Ein lexikali-

scher Führer durch den Jahreslauf. München, S. 59. 299 |

Vgl. Wolf, Georg Jacob (1925): Münchner Künstlerfeste. Münchner Künstlerchroniken.

München, S. 191. 300 |

Vgl. Bauer 1998: S. 57.

301 |

Reventlow, Franziska Gräfin zu (2008): Herrn Dames Aufzeichnungen. Begebenhei-

ten aus einem merkwürdigen Stadtteil. München 1913, S. 26. 302 |

Large 1998: S. 50.

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teil“: „‚Herr Dame – denn sie heißen ja wirklich so‘, sagte der Philosoph, und ich konnte es ihm in diesem Augenblick nicht übel nehmen – ,Wahnmoching heißt wohl ein Stadtteil, eben dieser Stadtteil, aber das ist nur ein zufälliger Umstand. Er könnte auch anders heißen oder umgetauft werden, Wahnmoching würde dennoch Wahnmoching bleiben. Wahnmoching im bildlichen Sinn geht weit über den Rahmen eines Stadtteils hinaus. Wahnmoching ist eine geistige Bewegung, ein Niveau, eine Richtung, ein Protest, ein neuer Kult oder vielmehr der Versuch, aus uralten Kulten wieder neue religiöse Möglichkeiten zu gewinnen – Wahnmoching ist noch vieles, vieles andere und das werden sie erst allmählich begreifen lernen. Aber für heute sei es des Guten genug, sonst möchte noch die aufgehende Sonne uns hier im Zwiegespräch überraschen.‘“303 Unter der Überschrift Wahnmoching fängt Franziska zu Reventlow retrospektiv die Atmosphäre des Viertels ein und trägt damit maßgeblich zur Verklärung von Schwabing bei. Richard Bauer versteht Fanny Reventlows Bild als eine geniale „[...] Abbreviatur der dörflich-kleinbürgerlichen Lebensverhältnisse, überlagert von geistiger Bewegung, radikalem Protest und sexueller Libertinage“304 .

Z WISCHEN K RIEGEN UND POLITISCHEN E X TREMEN Spätestens mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs war diese freizügige Epoche jedoch vorbei. „Wäre in den Leuten nur etwas von der großzügigen Art König Ludwigs I. lebendig gewesen“, klagt Ludwig Thoma im Jahr 1911, „dann müsste Dresden hinter diesem Neu-München weit zurückstehen. So haben wir nichts als öde Straßen, noch ödere Plätze und die Aussicht, daß neben zehn traurigen Mietspeichern aber zehn ebenso traurige hingeklebt werden. Hätten die Arrangeure der törichten Trachten- und Jodelfeste das zu verhindern gewusst, dann hätten sie wirkliche Anstrengungen gemacht, um München zur Fremdenstadt auszubauen.“305 Das Ableben von Prinzregent Luitpold am 12. Dezember 1912 beendete in jenen Jahren auch symbolisch eine Zeit, die weit über ihre eigentliche Dauer hinausreicht. Während sich Stadtraum und Stadtgesellschaft zusehends verändern, bleibt das München der Jahrhundertwende über zahllose Darstellungen und Auseinandersetzungen in der Architektur, der Philosophie, der Kunst und der Literatur, unvermittelt oder mittelbar in Gestalt von Ideen, Bauwerken, Skulpturen, Gemälden, Zeichnungen, Gedichten und Romanfiguren, anhaltend und dabei überaus wirkmächtig bestehen. „Stadttexte dieser Art, die ihr Beobachtungsfeld nicht bloß inventarisieren, sondern den Rhythmus und die atmosphärische Gemengelage der Stadt in Form einer Sprachemotion nachzuzeichnen versuchen, schaffen ein Double, gleichsam 303 |

Reventlow 2008: S. 26.

304 |

Bauer 2005: S. 135.

305 |

Thoma, Ludwig (1957/58): Die Fremdenstadt. München 1911. In: Blätter des Bay-

erischen Staatsschauspiels, Jg. 10, H. 12, S. 114-115. Hier: S. 115.

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eine ‚Verdoppelung‘ der Stadt, ein Feld von Zeichen und Bedeutungen im Spannungsfeld von Faktizität und Fiktionalität.“306 Lutz Musner geht bei seinen Überlegungen davon aus, dass ein solches Double eine Eigendynamik entwickeln kann und sich gewissermaßen als Filter vor jede Beobachtung und Beschreibung einer Stadt legt.307 Der Kulturwissenschaftler nimmt weiter an, dass Wien – sein Schluss lässt sich auch am Beispiel von München und der Biographie dieser Stadt nachvollziehen – über einen längeren Zeitraum ein charakteristisches Profil entwickelt hat, das „in einem klar umrissenen Korpus von Assoziationen, Bildern, Erzählungen“308 etc. zum Ausdruck kommt. Mittels Reproduktionen, die Neuauflage von Büchern, die Herstellung von Kunstdrucken oder die Erwähnung in Reiseführern, und selbst in der Kritik an bestehenden Narrationen, wird das Double der Stadt anhaltend beschworen. Im Zuge des aufkommenden Fremdenverkehrs und den technischen Möglichkeiten der Zeit kommt der städtischen Repräsentation im ausgehenden 19. Jahrhundert mit Blick auf den steigenden Inszenierungswert mehr und mehr Bedeutung zu. Kunst meint in München vor allen Dingen die Kunst der Kopie, heißt es noch im Spott über die Stadt des schönen Scheins. Am Beispiel von Wien kann Musner zeigen, dass sich das Imaginäre der Donaumetropole nicht als urbaner Mythos wie im Fall von Paris entwickelt hat und auch nicht allein über die „literarische Semiotisierung der Stadt“309 gedeutet werden kann, „[...] sondern Ergebnis einer komplexeren und vielschichtigeren Zeichenproduktion [ist], die Texte, Bilder, topographische und architektonische Chiffren und nicht zuletzt Klangsignifikanten zu einer typischen Stadtgestalt zusammenfügt“310. Demnach lässt sich eine Stadt nicht als eine ganzheitliche Erfahrung lesen oder mit einem Urtext in ihrer Diversität verstehen, vielmehr ist der städtische Organismus als ein überaus komplexes Gewebe „bedeutungsstiftender Verschaltungen von Ikonen, Legenden, Klischees, rationalisierten Narrativen und Zuschreibungen, die den Ort als solchen kenntlich und unverwechselbar machen“311 und sich dabei permanent zwischen dem räumlichen Gefüge der Stadt und ihren Repräsentationen hin und her bewegen, zu begreifen. Ausgehend von dieser Perspektive gilt es aus Sicht einer urbanen Anthropologie zu beobachten, wie sich Felder formieren, Akteurinnen und Akteure über Praktiken und Symbole in Erscheinung treten und Bedeutungen im Geflecht der Stadt generieren.

306 |

Musner 2009: S. 93.

307 |

Ebd.

308 |

Ebd.: S. 93-94.

309 |

Ebd.: S. 136.

310 |

Ebd.

311 |

Ebd.

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Schwabing bezeichnet in verdichteter Form, was München bis in die 1910er und in Teilen auch bis in die 1920er Jahre hinein zu sein vermochte. Die Atmosphäre der Stadt begann sich bald nachhaltig zu verändern. Ludwig III. folgte Luitpold auf den Thron, während die königliche Haupt- und Residenzstadt schon merklich an Glanz verlor. David Clay Large beschäftigt sich in seiner breit angelegten Studie mit den politischen Entwicklungen in München, und zeichnet in diesem Zusammenhang nach, wie der Postkartenmaler Adolf Hitler, angezogen von der Ausstrahlung des Künstlerviertels, noch im Jahr 1913 voller Bewunderung für Ludwig I. und dessen Schaffenskraft an die Isar kam und sich für das unorthodoxe Leben in Schwabing begeisterte.312 Die Kunstakademie verlor in jener Zeit beträchtlich an Geltung, sämtliche Künstlerinnen und Künstler aus dem Ausland verließen München mit Beginn des Krieges, die Avantgarde zog weiter in die Metropolen Paris und Berlin.313 Konservative Kräfte gewannen gleichzeitig an Einfluss in München, und Dichter wie Frank Wedekind gerieten zusehends in Konflikt mit der Zensurbehörde. Analog zu dem Klima der Repression und der immer lauter werdenden Kritik an dem Lebensstil der Boheme, blieben Aufträge und Ankäufe aus, und die wirtschaftliche Lage der Bewohnerinnen und Bewohner von Schwabing verschlechterte sich dramatisch. Viele Menschen bejubelten die politischen Ereignisse jener Jahre, andere sprachen sich wie der Schriftsteller Oskar Maria Graf ganz entschieden gegen den beginnenden Krieg aus.314 Aber nicht nur in Schwabing, sondern in der ganzen Stadt litt die Bevölkerung unter der katastrophalen ökonomischen Situation, immer drängender wurden die Probleme, der Mangel an Nahrungsmitteln und die Wohnungsnot in München machten der Bevölkerung zu schaffen. Immer extremer wurden analog auch die politischen Positionen, die in den viel besuchten Bierkellern und Brauhäusern der Stadt zu hitzigen Debatten führten. David Clay Large skizziert den Niedergang der Kunststadt mit Thomas Manns Novelle „Gladius Dei“, die sich mit der intellektuell wie durch kommerzielles Streben bedrohten Freiheit der Kunst befasst. „Auch wenn Mann dem München des frühen 20. Jahrhunderts sicherlich kein solches Schicksal wünschte, hatte er doch wohl erkannt, daß hinter der leuchtenden Fassade des kulturellen Lebens der Stadt vieles verkommen und verlogen war. Die Stadt war eine Bühne des schönen Scheins, ausgestattet mit größtenteils geborgten Requisiten. Das Kunstwerk, an dem sie sich in der Erzählung entzündete, war eine Reproduktion, wie alles andere in der Kunsthandlung auch.“315 Die 312 |

Vgl. Large 1998: S. 75.

313 |

Vgl. Böller, Sandra (1998): Die Akademie feiert sich selbst. In: Bauer, Helmut; Tworek,

Elisabeth (Hg.): Schwabing. Kunst und Leben um 1900. Essays. Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung vom 21. Mai bis 27. September 1998 im Münchner Stadtmuseum. München, S. 269-283. Hier: 283. 314 |

Vgl. Large 1998: S. 83.

315 |

Ebd.: S. 69.

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Monarchie wurde schließlich gestürzt; mit einer sozialistischen Regierung, deren Mitglieder sich ebenfalls in den Schwabinger Kreisen begegnet waren, konstituierte sich der Freistaat Bayern auf der Grundlage bestehender Strukturen.316 „Führer der Münchner Revolution am 7. November des letzten Kriegsjahrs war ein gewisser Kurt Eisner, ein in Berlin geborener jüdischer Schriftsteller. Am 21. Februar des nächsten Jahres, nachdem dieser Eisner als Ministerpräsident in Bayern Ordnung geschafft hatte, schoß nach der Lektüre klerikaler Zeitungen ein junger Leutnant, ein gewisser Graf Arco, ihn nieder. Das geschah auf dem Weg zum Parlament, in dessen Hände Eisner sein Amt zurückgeben wollte. Soldaten säumten die Pflastersteine, die rot waren von dem vergossenen Blut des Mannes Eisner, mit einer Pyramide von Gewehren, die sie mit Blumen schmückten. Viele weinten. Fünfzigtausend Münchner brachten den Ermordeten zu Grabe. Acht Monate später war der Mörder sehr populär. Er wurde zum Tode verurteilt, zu Festungshaft begnadigt, während der Haft tagsüber als Praktikant auf einem Gut in der Nähe Landsbergs beschäftigt. Auch ein Flugzeug wurde ihm zur Verfügung gestellt. Kurze Zeit später wurde er von einer vom Staate subventionierten Gesellschaft in eine führende Stellung berufen.“317 In dem Roman „Erfolg. Drei Jahre Geschichte einer Provinz“ zeichnet der Schriftsteller Lion Feuchtwanger nach, wie sich die Atmosphäre in Bayern und seiner Heimatstadt München zu Beginn der 1920er Jahre verändert. Der jüdische Literat verließ München aufgrund der drückenden Stimmung und ging mit seiner Familie zunächst nach Berlin. Aus der Perspektive des Exils verfasste Feuchtwanger um 1930 den „Erfolg“, in dem Text setzt er sich kritisch, aber auch voller Empathie mit den Ereignissen in Stadt und Land auseinander. In seinem Vorwort erklärt der Autor, dass der Text aus der Sicht eines Historikers, der im Jahr 2000 lebt, geschrieben ist.318 Der Roman ist eine dichte Beschreibung des Zeitgeschehens in München und der Region, es geht um Menschen, ihr Denken und Tun. Feuchtwanger belässt seine Handlung nicht im engeren Zirkel der Stadt, sondern entfaltet immer wieder auch Bewegungen und Räume wie die Autofahrten im Alpenvorland, einen Stierkampf in Spanien, den Aufenthalt in Paris, Begegnungen beim Wintersport in Garmisch, einen Kinobesuch in Berlin etc., die im Bezugssystem der Stadt München eine Rolle spielen. Der Schriftsteller öffnet auch die Chronologie und befasst sich über den Zeitraum von drei Jahren hinaus mit Zusammenhängen und Konstellationen, die in der städtischen Biographie von Bedeutung sind. Angereichert mit Statistiken und Zitaten, wiederholt kommt Feuchtwanger beispielsweise auf die wachsende Inflationsrate zu sprechen, und in der Beschäftigung mit den Themen und Topoi jener Phase, dazu gehört die Mode ebenso wie die Unterhaltung 316 |

Vgl. Ebd.: S. 123-126.

317 |

Feuchtwanger, Lion (2006): Erfolg. Drei Jahre Geschichte einer Provinz. Berlin

1930, S. 585-586. 318 |

Vgl. Feuchtwanger 2006: Vorwort.

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im Varieté oder das Tennisspiel, entspricht der „Erfolg“ in seiner Konzeption einer kulturwissenschaftlichen Analyse. Der Autor entwickelt ein Feld aus Beziehungen und Relationen und strickt aus Lebensgeschichten, die alle in irgendeiner Weise miteinander in Verbindung stehen, ein komplexes Bild der Stadt. Befreundete Künstler wie Ludwig Thoma, Bert Brecht und Karl Valentin kommen in dem Roman ebenso vor wie Politiker aller Couleur, Konservative und Kommunisten sitzen in der Tiroler Weinstube am Platzl zusammen, selbst die eigenen Züge fließen wie viele Eigenschaften seiner Frau Marta in den Roman ein. Die Erzählung folgt einem Prozess, auf der Anklagebank sitzt der Kunsthistoriker Martin Krüger, wegen eines Meineids soll der allzu eigensinnige Direktor der Bayerischen Staatsgalerie zur Räson gebracht werden. An der Person von Rupert Kutzner, dem Anführer der Wahrhaft Deutschen, zeigt Feuchtwanger gleichzeitig den Aufstieg von Adolf Hitler, den er im Kapuzinerbräu, gemeint ist der Bürgerbräukeller, 1923 zum finalen Marsch auf die Feldherrnhalle aufrufen lässt. Auch der Antiquitätenhändler Cajetan Lechner nimmt an dem Putschversuch teil, der Autor macht an seinem Beispiel deutlich, wie das Scheitern am eigenen Anspruch zu einer extremen politischen Haltung führen kann. Ausgerechnet ein jüdischer Anwalt verhilft Cajetan Lechner, der noch dazu den Namen des katholischen Schutzheiligen von München trägt, nach der blutigen Niederschlagung der Revolte zur Flucht. „Im übrigen lebte die Stadt sich selber, ein lautes, ungeniertes Leben in Fleisch und im Gemüt. Sie war zufrieden mit sich. Ihr Wahlspruch war: Bauen, brauen, sauen.“319 1931 brannte der Glaspalast nieder und mit dem modernen Bau aus Stahl wurden mehrere tausend Gemälde der Romantik, darunter auch Bilder von Caspar David Friedrich, unwiederbringlich zerstört.320 Hitler und die Nationalsozialisten, die sich in den Jahren nach dem gescheiterten Putsch mit Hilfe von einflussreichen Geldgebern, schlagkräftigen Fußtruppen und der Unterstützung aus allen gesellschaftlichen Kreisen zur mächtigsten Partei im Deutschen Reich entwickelt hatten, gelangten mit den Wahlen vom Januar 1933 an die Macht. Noch im gleichen Jahr wurde der Titel „Hauptstadt der Deutschen Kunst“ verliehen. „Hitler ernannte München zur Kunstmetropole des Deutschen Reiches. Damit knüpfte der verhinderte Künstler, als der er sich bekanntlich betrachtete, an die Traditionslinie des Wittelsbacher Mäzenatentums an und bog sie ins Völkisch-Reaktionäre um“,321 resümiert der Historiker Hans Günter Hockerts. Das Bayerische Kultusministerium bemühte sich schon seit einiger Zeit um eine Ausstellungshalle als Ersatz für den Glaspalast, die Pläne für einen Bau am Alten Botanischen Garten waren bereits 319 |

Ebd.: S. 552-553.

320 |

Vgl. http://www.hausderkunst.de/geschichte/historische_dokumentation/vorlaeufer.

php, (10. Juli 2009). 321 |

Hockerts, Hans Günter (2008): Warum war München die „Hauptstadt der Bewe-

gung“? In: Hajak, Stefanie; Zarusky, Jürgen (Hg.): München und der Nationalsozialismus. Menschen. Orte. Strukturen. Berlin, S. 23-40. Hier: S. 34-35.

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fertig. Hitler übernahm das Konzept und ließ das Vorhaben an den Südrand des Englischen Gartens verlegen, der Architekt Paul Ludwig Troost sollte sich mit dem ersten repräsentativen Monumentalbau des Dritten Reichs befassen und wurde „[...] nach seinem frühen Tod im Januar 1934, wenige Monate nach der Grundsteinlegung, [...] zum ‚ersten Baumeister des Führers‘“322 ernannt. Auch etablierte Orte der Kunststadt München wurden zu Inszenierungszwecken angeeignet und wie der Königsplatz von den Nationalsozialisten mit Bedeutungen belegt.323 Die Ehrentempel an der Arcisstraße verknüpften die klassizistischen Bauwerke Ludwigs I. in einer Achse mit der Parteizentrale im Braunen Haus. Der Königsplatz, mit Steinplatten bedeckt und von meterhohen Fahnen überragt, ist in den 1930er und 1940er Jahren ein oft verwendetes Postkartenmotiv, die Briefmarken auf der Rückseite zeigen Hitlers Konterfei. Seit der imposanten Eröffnung im Jahr 1937 wurden in dem neoklassizistisch aufgemachten „Haus der Deutschen Kunst“ an der Prinzregentenstraße die „Großen Deutschen Kunstausstellungen“ mit Arbeiten von ideologisch konformen Künstlerinnen und Künstlern gezeigt. In der unmittelbaren Nähe zu dieser Schau wurden in der Galerie am Hofgarten Werke von Malerinnen, Malern, Bildhauerinnen und Bildhauern, die dem nationalsozialistischen Verständnis nicht entsprachen, als „Entartete Kunst“ diffamiert.324 Ausgehend von der Adaption der Kunststadt stellt sich weiterhin die Frage, inwieweit die Nationalsozialisten nicht auch den städtischen Hang zur Performanz übernommen haben, um die Dispositionen von München in der Zurschaustellung der Diktatur aufgehen zu lassen. Johannes Moser schließt in seine Überlegungen zu einer Anthropologie der Stadt auch die Möglichkeit ein, dass sich der Habitus verschieben und sogar vollständig verlieren kann, am Beispiel von Dresden wird jedoch trotz massiver Brüche in der städtischen Biographie evident, wie sich „die spezifische Wirkung historisch verfestigter Traditionslinien“325 anhaltend entfalten kann. In seinem Beitrag zu den „Deutschen Erinnerungsorten“, herausgegeben von den Historikern Hagen Schulze und Etienne François, erklärt der Historiker Olaf Rader, dass Dresden nach der Aktion Donnerschlag vom Februar 1945 und den verheerenden Zerstörungen in Folge alliierter Luftangriffe „im kollektiven Gedächtnis nicht mehr als Stadt

322 |

http://www.hausderkunst.de/geschichte/historische_dokumentation/haus_der_

deutschen_kunst.php, (10. Juli 2009). 323 |

Vgl. Köpf, Peter (2005): Der Königsplatz in München. Ein deutscher Ort. Berlin.

324 |

Vgl. Brantl, Sabine (2007): Haus der Kunst, München. Ein Ort und seine Geschich-

te im Nationalsozialismus. München und Rinser, Luise (1990): Bloßgestellte Sudler. In: Schwab, Hans-Rüdiger(Hg.): München. Dichter sehen eine Stadt. Texte und Bilder aus vier Jahrhunderten. Stuttgart, S. 274-275. 325 |

Moser; Egger 2010: S. 97.

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mit barockem Glanz und höfischer Raffinesse wahrgenommen“326 wird. Moser macht hingegen plausibel, dass nicht nur aus Sicht der Bewohnerinnen und Bewohner genau das Gegenteil eingetreten ist, „[...] weil doch gerade die physische Zerstörung dazu geführt hat, den Mythos Dresden in einer solchen Form wieder zu beleben, dass heute viele Menschen daran glauben“327. Der Kulturanthropologe zitiert den sächsischen Dichter Durs Grünbein, der sich seinerseits auf die wirkmächtige Erinnerung an das Bild von Elbflorenz bezieht. Zwar ist das physische Gefüge von Dresden faktisch vernichtet worden, aber noch als Schatten teilt sich der immanente Eindruck der Residenzstadt zum Beispiel bei Planungsvorgängen fortwährend mit.328 „Dresden ist diesbezüglich wohl ein Beleg für die Behauptung, dass sich die Identität einer Stadt, trotz schwerwiegender materieller Schäden, im Lebensstil, in den Gewohnheiten und im Gedächtnis ihrer Bewohner erhält.“329 Die Wahrnehmung von Elbflorenz ist stets verbunden mit der Ko-Präsenz einer Stadt, die nicht mehr existiert, argumentiert auch der Kultursoziologe Karl-Siegbert Rehberg.330 Das Double, von dem Lutz Musner spricht, ist offensichtlich in einer Weise eingeschrieben, die fortgesetzt bewirkt, dass Dresden trotz des verheerenden Infernos im Zweiten Weltkrieg und der unmittelbar an die nationalsozialistische Diktatur anschließenden Phase des sozialistischen Regimes mit seinen Parametern immer noch als Residenzstadt begriffen wird. Bezogen auf München geht die Historikerin Nina Krieg von einer analogen Entwicklung nach 1945 aus und konstatiert, dass „[d]as vor dem ersten Weltkrieg geprägte und kultivierte AltMünchen-Ideal [...] also ganz offensichtlich die zwanziger Jahre und den Nationalsozialismus, den Bombenkrieg und die Wiederaufbauphase überdauert [hatte]. Mehr noch: es erlebte nach Kriegsende eine Renaissance ungeahnten Ausmaßes. Das ist verständlich, denn die stetig gepflegte Erinnerung an das ‚liebe alte München‘, an seine traditionsgesättigte wie gleichermaßen liberale Atmosphäre und an seine Kunst- und Kulturbauten vermochte den Bürgern gerade in der ‚Stunde null‘ 1945 Orientierungs- und sogar Überlebenshilfe zu geben“331 .

326 |

Vgl. Rader, Olaf B. (2001): Dresden. In: François, Etienne; Schulze, Hagen (Hg.):

Deutsche Erinnerungsorte III. München, S. 451-470. Hier: S. 455. Zitiert nach: Moser; Egger 2010: S. 97. 327 |

Moser; Egger 2010: S. 97.

328 |

Vgl. Deckert, Renatus (2005): Gespräch mit Durs Grünbein. In: Deckert, Renatus

(Hg.): Die wüste Stadt. Sieben Dichter über Dresden. Frankfurt am Main, S. 189-212. Hier: S. 190-191. Zitiert nach: Moser; Egger 2010: S. 98. 329 |

Moser; Egger 2010: S. 98.

330 |

Vgl. Rehberg, Karl-Siegbert (2002): Das Canaletto-Syndrom. Dresden als imagi-

näre Stadt. In: Ausdruck und Gebrauch 1/1, S. 78-88. Hier: S. 79. Zitiert nach: Moser; Egger 2010: S. 98. 331 |

Krieg 1992: S. 395.

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Wie sich an der Biographie der Stadt zeigen lässt, ist München geradezu paradigmatisch als Residenzstadt zu verstehen; Jahrhunderte hindurch haben Herzöge, Kurfürsten und ebenso die katholische Kirche auf die Entwicklung der Region Einfluss genommen, und doch ist München lange Zeit nicht über den Status eines oberbayerischen Zentralorts hinausgewachsen. Der Grundstein für die Entwicklung des modernen Bayern ist im ausgehenden 18. Jahrhundert gelegt worden, mit der Erhebung zum Königreich im Jahr 1806 hat sich auch die Bedeutung von München nachhaltig gewandelt. Wie Bühnenbildner haben die Wittelsbacher, stets Bezug nehmend auf die Landschaft und die Kultur der bayerischen Nation, mit ihrem politischen Handeln einen Kanon an signifikanten Bildern und Motiven geschaffen. München ist in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach den Vorstellungen von Ludwig I. ausgebaut und umgestaltet worden, in der Folge sind weitere Schichten hinzugekommen. An der Hand der Bavaria ist München im 19. Jahrhundert zur königlichen Haupt- und Residenzstadt geworden und hat sich an der Hand der Monachia zu einer bürgerlichen Großstadt gewandelt. Die Ästhetik der Stadt hat sich in ihrem Erscheinen über Jahrzehnte ausdifferenziert, im Wesentlichen aber sind die Präsentation und in abstrakter Weise auch die Praxis von München auf Vorlieben und Eigenschaften zurückzuführen, die sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entfaltet und unter den Bedingungen der Zeit verstetigt haben. In der kulturellen Textur der Stadt lassen sich drei zentrale Stränge ausmachen, wiederkehrend geht es um München als kreative Stadt der Bildung und Wissenschaft, um München als leuchtende Metropole der Kunst und Kultur, und unter dem Etikett Volkskultur wird München als eine Stadt mit starken regionalen Bezügen und einer Fülle von lokalen Traditionen verhandelt. Bezeichnend scheint vor allem die Verflechtung der einzelnen Bilder und Narrative. Nachdem die Bezugssysteme der Stadt im Zweiten Weltkrieg schwer getroffen waren, suchte München nach 1945 wieder eine Identität zu finden. Die städtische Bevölkerung ist weitenteils einem konservativ-bürgerlichen Milieu zuzuordnen und nachdrücklich vom katholischen Glauben geprägt. In den folgenden Jahrzehnten werden bewusst oder unbewusst gerade die Komponenten, die auf den Habitus und die Dispositionen der Stadt zurückzuführen sind, betont. Gleichzeitig kommen die spezifischen Eigenheiten von München im Laufe der langen 1960er Jahre auch unter den Vorzeichen einer voranschreitenden Ästhetisierung immer deutlicher zum Tragen.

4. München leuchtet. Ästhetik und Atmosphäre

„Städte prägen sich uns gestalthaft ein“, gibt der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich Mitte der 1960er Jahre zu bedenken, „aber auch gleichsam in ihrer Anatomie. Wo immer wir uns durch die Gassen von Paris bewegen, wir behalten ein Gefühl für das Ganze dieses Körpers, für seine Topographie. Wien, das alte Köln, Gent, sind mehr als die Summe der Straßen und Häuser. Wie sehr eine Stadt ein lebender Organismus ist, ein Antlitz hat, erfährt man im sinnlos gespaltenen Berlin; an jeder Stelle in Ost und West fühlt man die schwere Krankheit, welche die Stadt wie in fiebrigem Schlaf hält, in einer müden Agonie, über die keine Betriebsamkeit täuschen kann. Stadt ist – gelungen oder mißlungen, kultiviert oder trübsinnig – Gruppenausdruck und Ausdruck der Geschichte von Gruppen, ihrer Machtentfaltung und Untergänge; ein unsichtbares, aber ein sehr wirksames Band verknüpft Einstellungen, Mentalität, Beweglichkeit, Traditionalismus der in einer Stadt lebenden Geschlechterfolge. Ein Stilgefühl besonderer Art ist der ‚Stadtgeist‘. Neigung und Abneigung gegenüber dieser ‚Gestalt‘ einer Stadt bilden sich auf eine so komplexe Weise, daß das ABC der Ästhetik sie nicht erklären kann, und auch unsere Psychologie ist noch viel zu schwerfällig dazu. Da gibt es etwa imposante Stadtareale, die man gesehen haben muß, nach denen es einen aber später nicht mehr zurückzieht. Und dann wieder sind es volkreiche oder stille Straßen und Plätze, zu denen wir zurückkehren mit dem tiefen Glücksgefühl des Land- oder Meerfahrers, der nach Hause kommt. Es spielen sich also Neigungs- bzw. Abneigungsbegegnungen ab, die, wie die Begegnungen der Menschen untereinander, Glückliches oder Unglückliches verheißen. Wie weit das Cachet der Städte, das sie so anziehend oder abstoßend (für den Fremden) macht (man vergleiche hier das alte Dresden mit dem alten Leipzig), wie weit diese ganze eigentümliche Lebensluft bestimmend in die Biographie der Bürger hineinwirkt, wissen wir keineswegs. Wahrscheinlich wirkt sie sehr tief.“332 Eine Stadt kann ihren eigenen Lebensstil manchmal in einem einzigen Augenblick offenbaren. Ein flüchtiger Moment, eine Melodie, ein Bild oder die qualitative Anmutung eines Ortes genügen, um die Gestimmtheit der ganzen Stadt mit einem Mal zu erfassen. „Es ist durchaus nichts Ungewöhnliches, von der Atmosphäre einer Stadt zu reden“,333 erklärt der Philosoph Gernot Böhme, der sich eingehend mit einer Ästhetik des Alltags und dem sinnlichen Erfahren von Räumen 332 |

Mitscherlich 1970: S. 32-33.

333 |

Böhme, Gernot (2006): Architektur und Atmosphäre. München, S. 131.

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auseinandersetzt. Bezogen auf die Stadt, wird der Begriff der Atmosphäre sowohl in der Literatur als auch in anderen Texten häufig gebraucht, „[...] man findet ihn in den Werbematerialien der Städte und in den Reisebeilagen der Zeitungen. Für diese alltagssprachliche Verwendung des Ausdrucks gilt zweierlei: erstens wird von der Atmosphäre in der Regel aus der oder für die Perspektive des Fremden gesprochen, zweitens versucht man damit etwas für eine Stadt Charakteristisches zu benennen. Wenn nun von Atmosphäre als etwas gesprochen wird, was der StadtFremde erfährt, so heißt das gerade nicht, dass damit die Stadt in der touristischen Perspektive gemeint sei. Vielmehr meint man mit Atmosphäre das, was für den Bewohner gerade alltäglich und selbstverständlich ist und das der Einheimische durch sein Leben ständig mitproduziert, das aber erst für den Fremden als Charakteristikum auffällt. Die Atmosphäre einer Stadt ist deshalb nicht dasselbe wie ihr Image. Das Image einer Stadt ist das bewusst nach außen gekehrte Bild ihrer selbst bzw. die Gesamtheit der Vorurteile.“334 Weiterhin führt Böhme aus, dass die Atmosphäre einer Stadt immer als etwas Besonderes und dabei Unverwechselbares erscheint, „[...] d.h. etwas, was einer Stadt eigentümlich ist, das worin sie individuell ist und das sich deshalb auch nicht in allgemeinen Begriffen mitteilen lässt.“335 Nichtsdestoweniger kann und soll über Städte und ihre charakteristischen Atmosphären nachgedacht werden, der Philosoph gibt allerdings zu bedenken, „[...] dass die Atmosphäre etwas ist, das man spüren muß, um zu verstehen, worum es in solchen Reden eigentlich geht“336. Das Spezifische vermittelt sich wie das Urbane über die Wahrnehmung der Menschen, die in einer Stadt leben, eine Stadt besuchen und durch die Stadt flanieren, über eine Stadt schreiben, sprechen, berichten, Ansichtskarten versenden, und ebenso von einer Stadt hören, Bilder der Stadt sehen etc. Die Wahrnehmung orientiert sich primär an geographischen Bedingungen, den gebauten Formen, und offenkundigen Handlungspraxen, den Repräsentationen, den Zeichen und Symbolen einer Stadt. Gleichzeitig spielen Erfahrungen, Empfindungen und Erzählungen in kollektive wie auch in individuelle Stadtansichten hinein und lenken den Blick der mehr oder minder mit der Stadt und ihren Eigenheiten vertrauten Betrachterinnen und Betrachter. „Auf Basis dieser Konstruktionen findet ein wichtiger Teil der sinnlichen Wahrnehmung statt“,337 schreibt der Kulturwissenschaftler Tom Götz in Anlehnung an Böhme. Götz betrachtet die Verknüpfung von „Stadt und Sound“ am Beispiel der englischen Hafenstadt Bristol. „Häufig bestehen bereits Bilder und Vorstellungen von einer Stadt – schon bevor sie leiblich betreten und gespürt wird – die dann einen entscheidenden Einfluss auf die Wahrnehmung 334 |

Böhme 2006: S. 131.

335 |

Ebd.

336 |

Ebd.

337 |

Götz, Thomas (2006): Stadt und Sound. Das Beispiel Bristol. (Berliner Ethnographi-

sche Studien, 11) Berlin, S. 97-98.

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ausüben.“338 Unterschiedliche Akteurinnen und Akteure, in erster Linie aber Künstlerinnen und Künstler oder überhaupt Personen mit kreativen Aufgaben und Berufen, im Zeitalter der Postmoderne ist zusehends von einer creative class die Rede, und darunter sind Graphikerinnen, Architekten, Malerinnen und Maler, Filmemacher, Regisseurinnen, Musikerinnen und Musiker, Journalistinnen, Bildhauer, Designer, Postkarten- und Souvenirverkäufer ebenso wie Kulturwissenschaftlerinnen, Historiker und Ethnologen zu verstehen, die sich mit einer Stadt und ihrer Anmutung beschäftigen oder in der Vergangenheit beschäftigt haben. Ihre Bauwerke, Tagebücher, Notizen, Partituren, Gemälde, Dokumentationen, Zeichnungen, Aquarelle, Schriften, Essays und Romane wirken wie die Darstellungen auf Fotografien, in Zeitschriften und Handbüchern auf das Selbst- und Fremdbild einer Stadt. Nicht nur implizit klingt in diesem Zusammenhang immer auch eine vergleichende Perspektive an, erst in der Differenz treten die Konturen von Feld und Gegenstand in ihrer ganzen Deutlichkeit hervor. Den Werdegang von München in den langen 1960er Jahren zu verfolgen, meint die Stadt einmal vor dem Hintergrund ihrer eigenen Biographie zu sehen und die Ereignisse und Entwicklungen dieser Phase stets auch in Verbindung mit den signifikanten Konstellationen der Epoche zu sehen.

„L EBENSKREISE EINER S TADT “339 – „D AS M ÜNCHNER J AHR “340 In den Antiquariaten der Münchner Maxvorstadt ist zumeist wenig Platz und doch sind die Räume über und über gefüllt. Regale reihen sich aneinander, in der Luft liegt dumpf der Geruch von Moder und Staub. Dicht an dicht stehen Bücher, Magazine und sonstige Publikationen, in Kartons und in Kisten, auf Tischen und Stühlen, gestapelt und einsortiert, kommen weitere Bestände des durchweg breit gefächerten Sortiments hinzu. Der jeweiligen Ordnung entsprechend, finden sich in den Kategorien Belletristik, Kunst, Kochbuch, Kriminalliteratur, Kulturwissenschaft, Musik oder Philosophie, diverse Romane, Heftchen, Broschüren, Lexika und Erstausgaben; teilweise werden auch Stiche, Graphiken, Fotos oder Gemälde angeboten. Immer reich gefüllt sind die Kategorien Monacensia und Bavarica. „Atmosphäre assoziiert Vergangenheit und Zukunft, bringt biographisches und historisches Wissen ins Spiel, Gefühle und Facetten einer Lebenssituation werden wachgerufen“,341 konstatiert die Stadtplanerin Sophie Wolfrum in Anlehnung an 338 |

Götz 2006: S. 97-98.

339 |

München. Lebenskreise einer Stadt (1955). Lindau (Bilderbücherei Süddeutsch-

land, 17). 340 |

Niggemeyer, Elisabeth (1955): Das Münchner Jahr. Ein Fotobuch. 2. Aufl. München.

341 |

Wolfrum, Sophie (2003): Haben Städte eine Seele? Verfügbar unter: www.janson-

wolfrum.de/seele.htm, (10. September 2008).

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den Philosophen Martin Seel. In ungezählten Schichten überlagern sich Texte und mit ihnen Zeiten, Räume, Erinnerungen und Bezüge im Antiquariat. Ein Reiseführer aus dem Jahr 1925 gibt Auskunft über die Pferde- und MotordroschkenStandplätze der Stadt und informiert detailliert über die Sammlungen der zahlreichen Münchner Museen, angefangen bei der Schatzkammer der Residenz über das Völkerkundemuseum in der Maximilianstraße bis hin zur Neuen Staatsgalerie am Königsplatz. Feuchtwangers „Erfolg“, der Almanach des „Blauen Reiter“, Schriften zu Wassily Kandinsky, Franz Marc und Gabriele Münter sind ebenso häufig zu finden wie Literatur von und zu Thomas Mann, seinem Bruder Heinrich oder dem Sohn Klaus. Ludwig Thomas „Lausbubengeschichten“ erzählen Heiteres aus Stadt und Region. In einem Handbuch wird die Geschichte der Münchner Frauenkirche unter kunsthistorischen Gesichtspunkten erklärt, ein Prospekt bespricht die Wallfahrtskirche zum Gegeißelten Heiland auf der Wies in Steingaden, und ein weiterer Bildband stellt die Landschaftsmalerei der „Münchner Schule“ vielfarbig zur Schau. Auch Publikationen zu Schnitzarbeiten in Oberammergau, Volkskundliches aus der Region um Zwiesel oder Studien über historische Trachten in Niederbayern liegen in den Geschäften aus. Viele Veröffentlichungen aus unterschiedlichen Epochen erinnern an das Dasein und Schaffen prominenter, aber auch weniger bekannter und mit den Jahren in Vergessenheit geratener Persönlichkeiten der Stadt wie Karl Valentin, Kathi Kobus, Erich Mühsam, Stefan George oder auch Marietta di Monaco. Neben den Erzählungen von Lena Christ und Anette Kolb steht ein Buch von Frank Wedekind, Jugendstilmotive zieren den Einband der Ausgabe, in den Regalen finden sich außerdem Gedichte von Klabund, Peter Paul Althaus und Joachim Ringelnatz. Ein kleines Bändchen mit rosafarbener Hülle zeigt Skizzen des Zeichners Karl Arnold, gegenübergestellt werden Karikaturen aus spezifischen Berliner Milieus, Szenen im Grunewald, Heroinabhängige oder der Alltag in der Mietskaserne, und Münchner Typen, Bürgerinnen und Bürger im Englischen Garten, ein Maler vor der Staffelei, sein Aktmodell, Touristinnen und Touristen in der Sommerfrische etc.342 „Published under Military Government Information Control. License Number USE-172 – Office of Military Government for Bavaria, Information Control Division U.S. Army“,343 heißt es in einem schmalen Heft mit Gelb/Schwarzem Umschlag und dem „Münchner Kindl“ auf dem Titelblatt, die Rechtmäßigkeit des Drucks wird von Seiten der amerikanischen Administration auf dünnem Papier festgehalten. Herausgegeben von Hans Ludwig Held, dem Gründer der Münchner Stadtbibliothek sowie dem städtischen Literaturarchiv Monacensia, und dem Publizisten Otto Groth beinhaltet die Broschüre einen von Karl Scharnagl gehaltenen Vortrag, 342 |

Die Beschreibung des Antiquariats setzt sich idealtypisch aus vielen einzelnen

Momenten zusammen. Es ist allerdings auch möglich, die Eindrücke bei einem einzigen Besuch in der Maxvorstadt zu gewinnen. 343 |

Scharnagl 1948.

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in dem der Oberbürgermeister einen möglichen Zusammenhang zwischen der Mentalität der Bevölkerung und dem modernen Städtebau diskutiert.344 Das Heft ist 1948 bei der Bruckmann KG in München gefertigt worden. Während das Unternehmerehepaar Hugo und Elsa Bruckmann schon Anfang der 1920er Jahre zu dem engsten Freundes- und Unterstützerkreis um Adolf Hitler gehört hatte, wurde Hans Ludwig Held im Oktober 1933 aus dem Dienst der Stadt entlassen.345 Noch im selben Jahr wurden Bücher von Autorinnen und Autoren, unter ihnen zum Beispiel Berthold Brecht, Kurt Eisner, Lion Feuchtwanger, Maximilian Harden, Erich Kästner und Klaus Mann, deren Werke selbstverständlich im Bestand des Antiquariats zu finden sind und in den 1960er Jahre häufig in Zeitschriften und Magazinen zitiert und besprochen werden, in einer reichsweit inszenierten Aktion, die in München von der Universität ausging, öffentlich verbrannt.346 Im Fach darunter liegt ein Katalog aus dem Jahr 1937, unter den Symbolen von Adler und Hakenkreuz sind Bilder und Objekte aufgelistet, die von den Nationalsozialisten im Rahmen der „Großen Deutschen Kunstausstellung“ zur Schau gestellt wurden. Ein Roman aus der Zeit nach dem Krieg beschreibt das tragische Schicksal eines jungen Mädchens, der Text von 1949 ist ebenfalls mit Zustimmung der Amerikaner und einer entsprechenden Lizenz gedruckt. In der Auslage eines Antiquariats in der Schellingstraße wird „Das Münchner Jahr“, ein Bildband von 1955, angeboten. Die 1930 in Bochum geborene Elisabeth Niggemeyer hat nach ihrer Ausbildung in München damit begonnen, deutsche Städte in Zeiten des Wirtschaftswunders zu portraitieren und Phänomene des Wandels mit der Kamera einzufangen.347 Die Texte zu den Schwarz/Weiß-Aufnahmen lieferte Walter Foitzick; 1886 im schlesischen Ratibor geboren, starb der Kunsthistoriker und Journalist im Erscheinungsjahr des Buchs in München. Foitzick war von 1938 bis 1944 Chefredakteur des ebenfalls gleichgeschalteten Simplicissimus.348 „Das Antiquarische war immer ein Reiz der Künstlerstadt“, schreibt der Autor im Rückblick auf vergangene Jahrzehnte, „und noch heute ist München der große Antiquitätenladen Deutschlands. Nirgendwo anders wird soviel in Buchan-

344 |

Vgl. ebd.

345 |

Vgl. http://www.muenchner-stadtbibliothek.de/stadtbibliothek/stadtbib-chronik.

html#held, (1. Januar 2011) und Heusler, Andreas (2008): Das braune Haus. Wie München zur „Hauptstadt der Bewegung“ wurde. München, S. 80-90. 346 |

Vgl. Vortrag von Hans Günter Hockerts, Professor für Neueste Geschichte und

Zeitgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität, zum Thema „Verbrannte Bücher, zerstörte Demokratie. Der 10. Mai 1933 in historischer Perspektive“ im Audimax der Ludwig-Maximilians-Universität München am 9. Mai 2008. 347 | Vgl.

http://www.scheinschlag.de/archiv/2007/01_2007/texte/22.html, (20. Dezem-

ber 2010). 348 |

Vgl. http://simplicissimus.info/item/378, (20. Dezember 2010).

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tiquariaten geschmökert.“349 Von der Literatur leitet der Kommentar über zu den Altwaren- und Antiquitätenhändlern der Stadt, die auf ihre Weise von München erzählen. „Genüßlich ist so ein Spaziergang durch die Geschäfte mit Altertümern und zu den kleinen Tandlern, versteckt in der Altstadt und in farblosen Straßen am Stadtrand. Da kann es einem passieren, daß man zwischen alten Matratzen und Nachtkasteln einen hübschen Kupferstich, ein schönes altes Glas entdeckt. Ja, das gibt es noch, besonders auf der Auer Dult, dem großen Tandlmarkt, wenn auch behauptet wird, daß es dort nichts mehr zu finden gibt. Stimmt ja gar nicht; nur erwarte man keine gotische Madonnen und Altarfiguren von Ignaz Günther. Aber die neuen Antiquitäten aus dem 19. Jahrhundert, die reifen heran. Doch genug von soviel Staubigem und Verblichenem. Ein ganz neues München wächst heran, mit Stahlgerüsten und spiegelnden Glaswänden. Auch dieses Hinwenden zum Neuen, dieses Experimentieren ist Münchner Tradition.“350 Eine ganze Reihe von Bildbänden ist anlässlich des 800sten Jubiläums der Stadt erschienen und zeigt Streifzüge durch das historische und mit den ausgehenden 1950er Jahren immer moderner werdende München, seit der Mitte der 1960er Jahre setzt sich die Serie an Veröffentlichungen mit dem Zuschlag für Olympia fort. Die „Lebenskreise einer Stadt“ sind bereits 1955 in der „Bilderbücherei Süddeutschland“ herausgegeben worden und zudem mit einer Widmung versehen; „[i]n der Hoffnung, daß Sie bald wieder herkommen und in der Freude über die gemeinsamen Tage, herzlich Ihre Dorothea, 25.9.1957“351 . In Form einer Chronologie oder mittels Episoden versuchen viele weitere Publikationen, die Atmosphäre von München zu erfassen, einzufangen und damit gleichzeitig zu erzeugen. Otto Zierer schildert die „Abenteuer der vielgeliebten Stadt München“ von den Anfängen bis zur Gegenwart von 1958; im selben Jahr zeichnet Franziska Bilek „Mir gefällt’s in München“. Der Schriftsteller Herbert Schneider, der 1962 den Literaturpreis der Landeshauptstadt erhalten hat, fügt seine Stadtansichten ebenfalls aus heiteren „Münchner Gschichten“ zusammen. Auch dieser Band von 1967 ist ein Geschenk: „Lieber Adalbert – Zur Erinnerung an so viele gemeinsame Sendungen! Herzlichst Jimmy (Und auch von Lylott – der Ex-Berlinerin!)“352 . Die eingeklebte Karte zeigt den Kopf eines lachenden Mannes, Jimmy, inmitten von Vinyl-Schallplatten. Eine ganze Serie von Büchern beschäftigt sich mit Schwabing und seinen Lebenswelten in Vergangenheit und Gegenwart. „Zwei Mädchen, beides Aktmodelle, tranken auf die Schnelle, zwei frische, halbe Helle. Könnte ich sie bezahlen, würde ich sie malen“,353 dichtet Walter Rufer 1963. „München – Wo?“, lautet der prägnante Titel eines Ratgebers, „[w]o treffen sich in München Prominente und Gammler, Snobs 349 |

Niggemeyer 1955: S. 62.

350 |

Ebd.

351 |

Vgl. München. Lebenskreise einer Stadt 1955.

352 |

Vgl. Schneider, Herbert (1967): Münchner Gschichten. München.

353 |

Rufer, Walter (2007): Der Himmel ist blau. Ich auch. München 1963, S. 71.

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und Penner, Stars und Sternchen, Verliebte und Teenager, Intellektuelle und Bierdimpfl, Künstler und Schwabinger, Hippies und Leute ohne Geld?“354 Antworten auf diese und weitere Fragen verspricht Richard Kerlers „unentbehrlicher Reiseführer“ aus dem Jahr 1970. „In der Wahrnehmung der Atmosphäre spüre ich, in welcher Art Umgebung ich mich befinde. Diese Wahrnehmung hat also zwei Seiten: auf der einen Seite die Umgebung, die eine Stimmungsqualität ausstrahlt, auf der anderen Seite ich, indem ich mit meiner Befindlichkeit an dieser Stimmung teilhabe und darin gewahre, daß ich jetzt hier bin. Wahrnehmung qua Befindlichkeit ist also spürbare Präsenz. Umgekehrt sind Atmosphären die Weise, in der sich Dinge und Umgebungen präsentieren.“355 Mit jedem Band und jedem Objekt in den Regalen des Antiquariats stellt sich ein anderer Aspekt der Stadt dar. Mit jedem Exemplar sind Inhalte verknüpft und das Buch selbst ist als Objekt, in seiner Materialität erkennbar vorhanden, ein Band strahlt aber durch seine Typographie, die Haptik des Papiers oder aufgrund seines Geruchs nach Feuchtigkeit und Zigarrenrauch immer auch eine Anmutung aus. Der Text und sein Autor oder seine Autorin sind Teil eines Netzwerks oder Bezugssystems und in Verbindung mit Verlagen, Rezipientinnen und Rezipienten, Druckereien, dem Handel etc. zu sehen. Die Biographie der Verfasserin oder des Verfassers lässt auf weitere Kontakte schließen. Bei genauerer Betrachtung kann eine Publikation mitunter auch Einblicke in die Umstände ihres Entstehens eröffnen, politische Prozesse werden ebenso nachvollziehbar wie soziale Realitäten, Wirklichkeiten oder Ereignisse des täglichen Lebens. Im Antiquariat überlagern sich zahllose Eindrücke und Geschichten, die Gestimmtheit eines solchen Ortes ergibt sich aus der Vielzahl von Dingen und ihrem Zusammenwirken, wahrgenommen wird eine unverwechselbare Atmosphäre. Mit jeder Band und jeder Ausgabe im weiten Feld der Monacensia und Bavarica verdichtet sich das Wissen um die kulturelle Textur356 der Stadt. Motive, Bilder und Narrationen wiederholen sich, gehen verloren und haben erneut Konjunktur. Das Antiquariat scheint ein eigener Kosmos und zugleich auch ein Schlüsselort für die Auseinandersetzung mit München zu sein, inmitten von Katalogen, Büchern und Gedanken, Relationen, Gesprächen, Beschriftungen, Bildern, Teppichen, Anekdoten, Schachteln und Kisten, der Ordnung der Dinge und den lackierten Holzregalen, einer handgeschriebenen Notiz am Fenster oder dem Schriftzug über der Eingangstür, wird auf wenigen Quadratmetern evident, was die Atmosphäre einer Stadt ausmachen kann. 354 |

Kerler, Richard (1970 a): München – Wo. Ein unentbehrlicher Führer durch die

Weltstadt mit Herz mit einem Verzeichnis der Sportstätten für die Olympischen Spiel 1972. München. 355 |

Böhme, Gernot (1995): Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik. Frankfurt am

Main, S. 96. 356 |

Vgl. Lindner 2008 b.

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W AHRNEHMUNG UND ÄSTHE TISCHE W IRKLICHKEIT Gernot Böhme plädiert grundlegend für ein Umdenken auf dem Gebiet der Ästhetik, als Gegenstand einer philosophischen Anthropologie soll die Ästhetik ganz allgemein in den Blick genommen werden und nicht mehr auf Schönheit und Stilvermögen begrenzt sein. „Wenn bisher ästhetische Erziehung wesentlich in der Ausbildung eines Geschmacks und darüber hinaus in einer Urteilskompetenz im Bezug auf Kunstwerke bestand, so geht es nach diesem Konzept darum, bei jungen Menschen ein Bewusstsein zu entwickeln, dass sie ständig in Atmosphären leben, die Fähigkeit, sich gegebenen Falls davon kritisch abzusetzen, und schließlich, was an ihnen liegt, Atmosphären auch produktiv zu gestalten.“357 In der gleichen Weise spricht sich der Philosoph Wolfgang Welsch für die Öffnung der allzu eng gedachten Thematik aus. „Wer den Begriff des Ästhetischen exklusiv an die Provinz Kunst binden und seine Grenze gegenüber dem Alltag und der Lebenswelt dichtmachen will, betreibt ästhetiktheoretischen Provinzialismus.“358 Eine solch determinierende Auffassung wird, wie Welsch darlegt, letztlich weder der Kunst noch der Ästhetik gerecht. Trotz seiner Vieldeutigkeit ist der Ästhetikbegriff überaus leistungsfähig, und dabei muss die Idee noch nicht einmal auf ein zentrales Moment herunter gebrochen werden, damit sowohl in einem übergeordneten Zusammenhang als auch in einzelnen und durchaus unterschiedlichen Feldern von Ästhetik die Rede sein kann. Selbstverständlich ist es schwieriger, ein weites Konzept anzunehmen, aber nur diese Form kann der Komplexität des Ästhetischen tatsächlich entsprechen. Der Philosoph konstatiert, dass die Kunst gewiss eine besonders wichtige Provinz der Ästhetik ist, aber eben nicht die einzige ästhetische Domäne markiert. „Die heutige Aktualität des Ästhetischen resultiert gerade daraus, daß die konventionelle Gleichsetzung von Ästhetik und Kunst unhaltbar geworden ist und andere Dimensionen des Ausdrucks in den Vordergrund gerückt sind.“359 Ästhetik ist „[a]ufs Ganze gesehen [...] nicht Aisthetik“, kritisiert Böhme, „d.h. gerade die Sinnlichkeit in ihr kommt zu kurz. Sie ist nicht eine Theorie sinnlicher Erfahrung, sondern der intellektuellen Beurteilung“360. Die menschliche Leiblichkeit wird nach der gängigen Interpretation zu Gunsten einer ausschließlich rational argumentierenden Betrachtung der Dinge und ihrer Gestalt zurückgedrängt. „Obgleich Epiphanie, Erscheinung, das Scheinen eine zentrale Rolle in der Ästhetik spielen, wird der, dem etwas erscheint, quasi wie ein außerirdisches

357 |

Böhme 2006: S. 32.

358 |

Welsch, Wolfgang (1993): Das Ästhetische – Eine Schlüsselkategorie unserer Zeit. In:

Welsch, Wolfgang (Hg.): Die Aktualität des Ästhetischen. München, S. 13-47. Hier: S. 30. 359 |

Welsch 1993: S. 32.

360 |

Böhme, Gernot (2001): Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahr-

nehmungslehre. München, S. 30.

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Subjekt behandelt und nicht in seiner leiblichen Anwesenheit.“361 Auf der Basis dieser Überlegungen entwickelt Böhme eine neue Ästhetik, die von den ästhetischen Erfahrungen des Alltags ausgeht und als Wahrnehmungslehre verstanden werden kann. Den Begriff will der Philosoph nicht einfach als „Informationsverarbeitung, Datenbeschaffung oder Situationserkennung“362 verwendet sehen, sondern mit seinem gesamten Facettenreichtum in den ästhetischen Diskurs der Zeit mit einbeziehen. „Zur Wahrnehmung gehört die affektive Betroffenheit durch das Wahrgenommene, gehört die Wirklichkeit der Bilder, gehört die Leiblichkeit. Wahrnehmen ist im Grunde die Weise, in der man leiblich bei etwas ist, bei jemandem ist oder in Umgebungen sich befindet.“363 Den zentralen Gegenstand des ästhetischen Bewusstseins und analog auch sein bestimmendes Konzept bilden für Böhme aus einer praxeologischen wie aus einer erkenntnistheoretischen Perspektive die Atmosphären, durch die hindurch Ausprägungen, Gefüge und Strukturen in der Wahrnehmung erst sichtbar werden. Im Bereich zwischen Subjekt und Objekt angesiedelt, nehmen Atmosphären zumeist einen „eigentümlichen Zwischenstatus“364 ein. Als elementare Bestandteile einer Ästhetik des täglichen Lebens, sollen gerade die diffusen und zunächst kaum greifbaren Anmutungen in aller Vernehmlichkeit ausgedrückt und bezeichnet werden; den Bezügen zwischen den Qualitäten der Umwelt und dem Befinden der Menschen gilt schließlich das Interesse dieser neuen Ästhetik.365 „Der zentrale Begriff, von dem her das Phänomen leiblicher Anwesenheit beschrieben werden muss, ist der Begriff der Befindlichkeit. Wir haben das außerordentliche Glück, dass der deutsche Ausdruck sich befinden eine Doppeldeutigkeit enthält, die dem Phänomen leiblicher Anwesenheit im Raume aufs Beste entspricht. Sich befinden heißt einerseits sich in einem Raum befinden und heißt andererseits sich so und so fühlen, so und so gestimmt sein. Beides hängt zusammen und ist in gewisser Weise eins: In meinem Befinden spüre ich, in welchem Raum ich mich befinde.“366 Des Weiteren spricht Böhme von Ekstasen, um zu benennen, wie etwas spürbar wird und dabei über seine relative Position im Raum hinausreicht. Der Philosoph konstatiert, dass neben der Farbe, dem Klang oder dem Geruch einer Sache auch die Form, die ein Ding durch sein Volumen zunächst begrenzt, Wirkung nach außen entfaltet. „Sie strahlt gewissermaßen in den Raum hinein, nimmt dem Raum seine Homogenität, erfüllt ihn mit Spannungen und Bewegungssuggestionen.“367 Aus der Dingontologie lässt sich schließen, dass At361 |

Böhme 2001: S. 31.

362 |

Böhme 1995: S. 47.

363 |

Ebd.: S. 46-47.

364 |

Ebd.: S. 22.

365 |

Vgl. ebd.: S. 21-23.

366 |

Böhme 2006: S. 122.

367 |

Böhme 1995: S. 33.

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mosphären nicht einfach schweben und dabei unabhängig von ihrer Umgebung existieren, sondern von konkreten Dingen ausgehen, Räume mittels Ekstasen tönen, tingieren und „die Sphären ihrer Anwesenheit artikulieren“368. Atmosphären sind demzufolge weder etwas eindeutig Objektives noch etwas klar Subjektives, vielmehr ist ihnen eine synthetische Funktion zu eigen. Eine Atmosphäre bezeichnet damit die gemeinsame Wirklichkeit des Wahrgenommenen und des Wahrnehmenden. Subjekthaft werden Atmosphären allerdings im leiblichen Spüren der Menschen, was wiederum als Befinden aufgefasst werden kann.369 In der Argumentation wird „[...] Atmosphäre als Grundtatsache menschlicher Wahrnehmung deutlich [...]. So gesehen sind Atmosphären etwas, was das menschliche In-der-Welt-Sein im Ganzen bestimmt, also seine Beziehung zu Umgebungen, zu anderen Menschen, zu Dingen und Kunstwerken“370. Wie jedes Ding strahlt auch jede Person eine spezifische Anmutung aus und beteiligt sich ebenso bewusst oder unbewusst an der Schaffung von Räumen und Atmosphären, diese ästhetische Geltung scheint oft einflussreicher als die Wirkung von Worten.371 Dabei ist zu berücksichtigen, dass das „[...] was man wahrnimmt sehr stark von der Wahrnehmungssozialisation und auch von der jeweiligen Handlungssituation abhängig [ist]. Trotzdem geht das Spüren von Atmosphären niemals verloren. Es tritt vielleicht nicht ins Bewußtsein, aber wirkt sich doch auf die Befindlichkeit aus“372 . Mit der Idee einer allgemeinen Ästhetik, die in erster Linie von der sinnlichen Wahrnehmung von Atmosphären ausgeht, begibt sich Böhme nicht nur „in den anthropologisch wichtigen Bereich der Stimmungen, Gefühle und Affekte“373, sondern drückt vor allem auch eine wissenschaftliche Haltung aus, die sich grundsätzlich um ein empathisches Denken bemüht. In der Auseinandersetzung mit den Atmosphären soll das komplette Spektrum der ästhetischen Wirklichkeit von der Warenästhetik bis hin zu einer politisch konzipierten Ästhetik „durchsichtig und sprachfähig“374 gemacht werden. Auf Grund der räumlichen Dimension, die den Atmosphären in ihrem Vorhandensein gewissermaßen immanent ist, spricht der Philosoph analog auch von gestimmten Räumen. „Räumlichkeit bedeutet, dass sie unbestimmt in die Weite ergossen sind, bedeutet aber ebenso, dass sie vom Menschen in seiner leiblichen Präsenz erfahrbar werden.“375 So gesehen stehen Atmosphären den topolo368 |

Ebd.: S. 31-33.

369 |

Vgl. ebd.: S. 34.

370 |

Böhme 2006: S. 105.

371 |

Vgl. Böhme 1995: S. 33.

372 |

Ebd.: S. 97.

373 |

Böhme 2006: S. 25.

374 |

Böhme 1995: S. 47.

375 |

Ebd.

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gisch aufgefassten Räumen mit ihren Nachbarschaften und Umgebungen näher als den Orten, die sich auf das Prinzip des Spatium beziehen und damit einen physischen Raum beschreiben.376 Die Gestimmtheit von Räumen, die über die leibliche Anwesenheit gespürt werden, lässt sich in ihrer emotionalen Wirkung durch atmosphärische Charaktere benennen. Eine Atmosphäre kann fröhlich, heiter, angenehm, ausgelassen und im Gegensatz auch beklemmend, traurig und sogar Angst erfüllt sein. Gernot Böhme zählt mehrere Hauptgruppen von Atmosphären mit unterschiedlichen Anmutungsqualitäten auf. Neben den Stimmungen und den kommunikativen Charakteren, hebt der Philosoph besonders zwei Varianten hervor; einmal ist die Rede von synästhetischen Charakteren, die auf eine Modifikation von Befindlichkeiten hindeuten, Farben werden zum Beispiel auf komplexe Weise wahrgenommen und können affektive Reaktionen auslösen. Zum anderen geht es um die Wirkung gesellschaftlicher Charaktere, die der Anschauung einer sozialen Gruppe oder Gemeinschaft entsprechen, denkbar ist auch die Wahrnehmung der Bewohnerinnen und Bewohner einer Stadt. Eine Sache, ein Vorhaben oder ein Gebäude wird in einem sozialen Kontext als luxuriös und gemütlich aufgefasst und in einem differierenden Umfeld als bescheiden oder auch unwirtlich bezeichnet. Bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert hat der Landschaftsarchitekt Christian Cay Lorenz Hirschfeld über die Anlage des Englischen Gartens, seine Ausstattung und die Anmutungsqualitäten von Parkszenerien nachgedacht.377 Wie Böhme in seinen Publikationen mehrfach zum Ausdruck bringt, handelt es sich bei der Idee, Umwelten mit Blick auf das „Lebensgefühl der Menschen“378 zu hinterfragen, aus einer historischen Perspektive um eine Erweiterung der Inhalte und Gedanken, die Hirschfeld bereits im Rahmen seiner Arbeit angesprochen hat. Aus der Perspektive der neuen Ästhetik kommt dem leiblichen Spüren und der Wahrnehmung von Atmosphären entscheidende Bedeutung zu, zum anderen lassen sich Atmosphären aber „[...] nicht bloß von der Seite des Subjektes, d.h. also dadurch, dass man sich ihnen aussetzt, studieren, sondern durchaus auch von der Seite der Objekte her, nämlich der Instanzen, durch die sie erzeugt werden. Das Paradigma für diese Betrachtungsweise liefert das Bühnenbild. Generelles Ziel der Bühnenbildnerei ist die Erzeugung von Atmosphären mit Hilfe von Licht, Musik und Geräuschen, von räumlichen Konstellationen und durch den Einsatz charakteristischer Objekte.“379 Mit der Bühne greift Böhme eine bestechende Metapher auf, denn nicht nur das Herstellen von Räumen und Atmosphären, sondern auch das leibliche Spüren ist nirgendwo derart ausprägt wie im Theater. An einem auch im Kunstsinn gänzlich ästhetischen Ort werden in Stücken, Lesungen und anderen Arbeiten permanent Räume entworfen. Kostüme, das Handeln, die Gestik und 376 |

Vgl. ebd.: S. 15-16.

377 |

Vgl. Böhme 2006: S. 132-133.

378 |

Ebd.: S. 133.

379 |

Ebd.

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Mimik der Akteurinnen und Akteure, Requisiten und vor allem die Ausstattung, das Mobiliar oder auch Videoprojektionen strahlen einzeln und gerade im Zusammenspiel ganz verschiedene, dabei durchaus auch widersprüchliche Ekstasen aus und sollen in der Gegenwart häufig den Alltag mit den Mitteln der Kunst befremden. Ereignisse, Vorstellungen und gesellschaftliche Tendenzen werden hervorgehoben, beleuchtet, aus ungewohnten, veränderten Blickwinkeln betrachtet, überzeichnet und auf diese Weise auseinandergesetzt. Die Artikulation des Theaters spricht gleichzeitig und in unterschiedlichen Gewichtungen ein rationales Verstehen und das leibliche Spüren der Zuschauerinnen und Zuschauer an. Der Philosoph, der mit dem Beispiel vor allem ein Nachdenken im Bereich der Raumplanung anregen will, gibt zu bedenken, dass der Vergleich noch gar nicht alle Aspekte berücksichtigt, die für das Entwerfen einer Stadt der Zukunft relevant sind. „Aber das Paradigma des Bühnenbildes bietet doch den Vorteil, dass es ein reiches Spektrum von Kategorien und Instrumenten zur Verfügung stellt, nachdem Atmosphären von der Seite ihrer Erzeugung her bestimmt werden können.“380 Ein entscheidendes Moment des erweiterten ästhetischen Denkens ist auch aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive die Machbarkeit von Atmosphären, mit seinem pragmatischen Ansatz bezieht Böhme die Herstellung in die Auseinandersetzung der Ästhetik ein. Mit dem Erzeugen von Atmosphären ist mehr als das Produzieren von visuell erfahrbaren Bildern und Oberflächen gemeint. Böhme geht davon aus, dass in den alltäglichen Lebenswirklichkeiten der Menschen unentwegt ästhetische Phänomene erscheinen und in ihrer Anwesenheit immer auch etwas leisten. „Bezeichnet man als ästhetische Praxis den Umgang mit den Erscheinungen, so könnte man diesen Umgang, wenn man die Härte der Ausdrücke nicht scheut, in ästhetische Arbeit und ästhetischen Konsum einteilen. Solche Ausdrücke dienen der Ernüchterung in Bezug auf die Ästhetik, um sie vor der Einschränkung auf die Kunst oder gar die hohe Kunst zu bewahren, um das Feld der Ästhetik so weit zu halten, daß auch Tätigkeiten wie Werbung oder Verhaltensweisen wie das Riechen an einer Blume, dazu gehören. Hart sind die Ausdrücke, weil nämlich bei dieser Einteilung auch das Kunstschaffen als ästhetische Arbeit anzusehen ist und beispielsweise ein Museumsbesuch als ästhetischer Konsum.“381 Mit dieser Aufschlüsselung lässt sich der Ästhetikbegriff nahezu unendlich um Facetten erweitern, gerade weil zwischen den beiden idealtypischen Polen ganz verschiedene Abstufungen vorstellbar sind. Während eine Person etwas wahrnimmt, kann sie analog auch selbst an der Produktion der Atmosphäre beteiligt sein. Außerdem ist es möglich, dass sich die Anmutung vollständig auf die Seite des Machens oder des Wahrnehmens fokussiert. Der Ausstatter hat eine andere Rolle als die Schauspielerin, der Schauspieler, die Dramaturgin oder der Regisseur. „Die neue Ästhetik ist also auf seiten der Produzenten eine allgemeine Theorie der ästhetischen Arbeit. 380 |

Ebd.

381 |

Böhme 2001: S. 177.

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Diese wird verstanden als die Herstellung von Atmosphären. Auf seiten der Rezipienten ist sie eine Theorie der Wahrnehmung im unverkürzten Sinne. Dabei wird Wahrnehmung verstanden als die Erfahrung der Präsenz von Menschen, Gegenständen und Umgebungen.“382

S TÄDTE UND A TMOSPHÄREN An keinem Ort begegnen sich Menschen und Stimmungen in einer solchen Dichte wie in der Stadt. Urbane Eigenschaften, die Fülle und Heterogenität der Eindrücke, die manche Menschen als extrem verwirrend und andere als anregend begreifen, finden ihre Entsprechung in der ungeheuren Anhäufung und Vielfalt an gestimmten Räumen, die eine Stadt ausmachen. „Städte haben Atmosphären. In ihnen drückt sich städtisches Leben als spürbare, bestenfalls umschreibbare, aber nicht definierbare Form von Urbanität aus.“383 Jürgen Hasse konstatiert, dass schon der Aufsatz über „Die Großstädte und das Geistesleben“384 , in dem sich der Soziologe Georg Simmel 1903 grundlegend mit einer urbanisierten Lebensweise befasst, „im Kern atmosphärischen Charakter“385 hat. Um „die Stadt als gelebten Raum“386 begreifen zu können, sind nach Hasses Auffassung zwei Sichtweisen in Betracht zu ziehen. „Die eine setzt sich mit der Logik der Objekte auseinander und die andere mit der Logik des individuellen wie kollektiv-subjektiven Erlebens.“387 In der urbanen Umwelt kommt dem physischen Gefüge, der geschichteten Form, besondere Bedeutung zu, zuerst wirken Gestaltung und Höhe der Bauwerke, die Anordnung der Straßen und Wege nehmen wie ihre Materialität maßgeblichen Einfluss auf die Wahrnehmung der Bewohnerinnen und Bewohner, Besucherinnen und Besucher. Mit ihrer Art zu leben, tragen Menschen gleichzeitig auch in unterschiedlicher Weise zu den Atmosphären einer Stadt bei, während ihr Handeln permanent von der ästhetischen Ausstrahlung der Umgebung beeinflusst wird. „Die Bewohner einer Stadt sind durch ihre Lebensformen auch immer Produzenten ihrer Atmosphäre.“388 Böhme nennt den Literaturwissenschaftler Victor Klemperer und dessen Beschreibung von Paris. „Klemperer verdichtet und bindet 382 |

Böhme 1995: S. 25.

383 |

Hasse, Jürgen (2008 b): Die Stadt als Raum von Atmosphären. Zur Differenzierung

von Atmosphären und Stimmungen. In: Die alte Stadt – Schwerpunkt: Stadt und Atmosphäre, Jg. 35/2, S. 103-116. Hier: S. 104. 384 |

Vgl. Simmel, Georg (1903): Die Großstädte und das Geistesleben. In: Petermann,

Theodor (Hg.): Die Großstadt. Vorträge und Aufsätze zur Städteausstellung. (Jahrbuch der Gehe-Stiftung Dresden, 9) Dresden, S. 185-206. 385 |

Hasse 2008 b: S. 104.

386 |

Hasse 2008 a: S. 319.

387 |

Ebd.

388 |

Böhme 2006: S. 137.

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hier diesen Eindruck an eine bestimmte Szene, nämlich der kleinen Pariser Restaurants und Kaffeebars. [...] Für die Atmosphären, die durch bestimmte Lebensformen erzeugt werden, gilt im besonderen Maße die Regel, dass man sie spüren muß, um sie wirklich kennenzulernen: Man muss sich gewissermaßen ein Stück weit selbst auf sie einlassen.“389 Eine tausend Jahre alte Hafenstadt am Mittelmeer wird sich durch eine andere Atmosphäre auszeichnen als eine Residenzstadt, die erst im 19. Jahrhundert zu entsprechender Größe angewachsen ist, zugleich kann auch die Hafenstadt den Sitz des Herrschers oder der Regierung repräsentieren, und dabei wird es auch von Bedeutung sein, ob die Strukturen der Fürstenstadt von Kolonialmächten angelegt, in einem Krieg zerstört, von sozialistischen Planungen überformt oder unter kapitalistischen Voraussetzungen entwickelt worden sind. Viele Aspekte können den Eindruck einer Stadt beeinflussen, an verschiedenen Orten werden unterschiedliche Atmosphären wahrgenommen, und doch wird die Atmosphäre der gesamten Stadt an einem Platz, einem Wahrzeichen oder einer anderen Besonderheit, einem Getränk, einer Speise, und vielleicht auch in einem unerwarteten Augenblick spürbar, während die Anordnung der Dinge an einer anderen Stelle im urbanen Raum nur noch erahnen lässt, dass die Wohnsiedlung oder ein Industriegebiet einer bestimmten Stadt zuzuordnen ist. „[...] [R]iesige hundertjährige Holzpaläste, bei denen am kältesten Tag des Jahres aus einem einzigen Kamin eine kaum wahrnehmbare Rauchsäule aufsteigt, Männer, die von der Galata-Brücke aus angeln, kalte Bibliotheksräume, Straßenfotografen, muffige Pornokinos, die früher einmal ehrenwerte Lichtspielhäuser mit vergoldeter Decke waren [...];“390 Orhan Pamuk, der türkische Literaturnobelpreisträger, schildert in dem Roman „Istanbul“ eine Atmosphäre, die der Metropole am Bosporus zu eigen und dabei unverwechselbar ist. Die Aura der Stadt hat auch einen Namen, Hüzün, und bezeichnet eine Art Melancholie. Im Koran und in Legenden, Anekdoten und Geschichten vielfach beschrieben, meint Hüzün allerdings nicht den Schwermut eines einzelnen Menschen oder die Depressionen einer bestimmten Gruppe, sondern das vorherrschende Gefühl einer ganzen Stadt, „millionenfach erlebte Kultur, Atmosphäre, Empfindung“391 . Pamuk nennt Situationen, zählt Episoden, Begebenheiten und Szenen auf, die ein generelles melancholisches Gestimmtsein in Vergangenheit und Gegenwart wahrnehmen lassen. „‚Hüzün‘ ist in Istanbul zentraler Bestandteil des Musikempfindens, ist Grundelement der Poesie, Lebensanschauung, Seelenzustand, kurzum: Ausdruck dessen, was die Stadt eigentlich ausmacht. Da ‚hüzün‘ all diese Eigenschaften auf sich vereinigt, ist Istanbul stolz auf seine Melancholie, oder tut zumindest so. Und gewinnt somit ‚hüzün‘ auch positive Seiten ab.“392 Die inhärente Gestimmtheit des 389 |

Ebd.

390 |

Pamuk, Orhan (2008): Istanbul. Erinnerungen eine Stadt. Frankfurt am Main, S. 115.

391 |

Pamuk 2008: S. 120.

392 |

Ebd.: S. 110.

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Stadtraums erinnert an die Tristesse, die der französische Ethnologe Claude LéviStrauss in den „Traurigen Tropen“ beschreibt. Hüzün beeinflusst die Vorstellungen und Bilder von Istanbul und wirkt sich auch auf das Verhalten der Bewohnerinnen und Bewohner aus. Hüzün, sagt der Schriftsteller, ist eingeschrieben in das Wesen der Metropole.393 „Wenn man dieses Gefühl, das von all diesen Menschen und Ecken und Winkeln ausgeht, erst einmal tief in sich aufgezogen hat und es wirken läßt, dann wird man irgendwann, wohin man auch blickt, in der Lage sein, es förmlich zu sehen, so wie man an kalten Wintermorgen, wenn plötzlich die Sonne durchbricht, über den Wassern des Bosporus zitternd einen hauchdünnen Dunst aufsteigen sieht.“394 Wie niemandem sonst gelingt es dem französischen Autor und Journalisten JeanClaude Izzo die Anmutung einer anderen Stadt, die Atmosphäre von Marseille sichtbar zu machen. Seine Art über die Stadt und ihre Bewohnerinnen und Bewohner zu schreiben und den Bezug zwischen dem Habitus und dem konkreten Alltag von Marseille in Form von Reportagen, Erzählungen oder Kriminalromanen am Beispiel von Personen, Handlungen und Ereignissen aufzuzeigen, offenbart eine analytische Dichte und Intensität, die in einer wissenschaftlichen Arbeit vielleicht gar nicht ausgedrückt werden kann. „Zur Stunde badet man am Alten Hafen, auf der Terrasse des Samaritaine, bis zur letzten Minute und unbeschwert wie immer im herrlichen Herbstlicht, das seit fünf Uhr nachmittags vom Himmel fließt. Man versteht nichts von dieser Stadt, wenn man keine Empfindung für ihr Licht hat. Es ist wie mit den Händen zu greifen, selbst in den Stunden, in denen es glühend heiß ist, wenn es vergisst die Augen zu schließen. Marseille ist die Stadt des Lichts. Und des Windes. Der berühmte Mistral, der sich oben in den Straßen verfängt und bis zum Meer alles beiseite fegt.“395 Izzo spürt der Atmosphäre der französischen Hafenstadt nach und vervielfältigt ihre Anmutungsqualitäten in seinen Worten, in ethnographischer Manier befasst sich der Autor mit der Diversität von Marseille, streift durch verwinkelte Gassen und Quartiere, setzt sich mit den Menschen und ihren Biographien auseinander, isst, trinkt, geht auf den Wochenmarkt, erkundet den Hafen und sammelt Eindrücke an der Schnittstelle zwischen Orient und Okzident. „Wenn man durch das Panier-Viertel schlendert, spürt man, wie das Herz von Marseille schlägt. Ein Herz, das alle Sprachen der Welt, die Sprachen des Exils spricht. Es ist sicher kein Zufall, dass Pierre Puget, Architekt und verkannter Maler, das schönste Gebäude dieser Stadt gebaut hat: die Charité (die alte Charité, wie die Marseiller sagen). Aus Liebe zu seinem Geburtsviertel.“396

393 |

Ebd.: S. 110, 120.

394 |

Ebd.: S. 119-120.

395 |

Izzo, Jean-Claude (2010): Mein Marseille. Zürich 2003, S. 16-17.

396 |

Izzo 2010: S. 21.

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Von einem essentiellen Klima wird auch Thomas Manns Novelle „Der Tod in Venedig“ getragen. Im Verlauf der Geschichte steigert der Schriftsteller die morbide Atmosphäre der Stadt analog zum fortschreitenden Verfall seines Protagonisten Gustav von Aschenbach. Verzückt von der Schönheit des Knaben Tadzio, zögert der Schriftsteller im Roman seine Abreise hinaus, obgleich sich in den Kanälen von Venedig die Cholera ausbreitet und die tödliche Seuche mit der Zeit nicht nur den Organismus der Stadt befällt.397 „Welch ein Aufenthalt in der Tat, der die Reize eines gepflegten Badelebens an südlichem Strande mit der traulich bereiten Nähe der wunderlich-wundersamen Stadt verbindet!“398 Thomas Mann versteht es vollendet, Atmosphären heraufzubeschwören und Gedankengänge in seinen Texten über entsprechende Anmutungsqualitäten wahrnehmbar zu machen. Als literarisches oder überhaupt künstlerisches Mittel, um etwa die Dramaturgie, das Thema oder die Farbigkeit eines Geschehens, eines Bildnisses, einer Installation oder auch eines Raums zu unterstreichen, wird die Aura als Konstruktion gewissermaßen überzeichnet und lenkt gerade in dieser expliziten Weise den Blick auch auf die gewöhnliche Bedeutung von Atmosphären. Die Abstufungen zwischen der Formulierung von Sprache und Zeichensetzung als Kunst auf der einen und der Artikulation einer analysierenden Wissenschaft auf der anderen Seite sind allerdings nicht bezeichnet oder ausdrücklich festgeschrieben, sondern gehen vielmehr fließend ineinander über. Ebenso unscharf scheint auch der Begriff der Stadt selbst zu sein, wie Hasse erläutert. „Wäre er das nicht, könnte er nicht jenen Überhang möglicher Bedeutungen integrieren, der die Überraschung garantiert. Der StadtBegriff ist daher eher ein Suchbegriff als einer der Identifizierung. Im zentralen Nervensystem eines terminologischen Begriffsgefüges stellt er zwar eine wichtige Kategorie dar, aber er vermag nur bedingt nachhaltig tragfähige Unterscheidungen zu fundieren. Der Begriff rauscht auf seiner produktiven wie auf seiner rezeptiven Seite.“399 Wenn das Ganze stets mehr als die Summe der einzelnen Teile ist, ein Umstand, auf den auch Böhme wiederholt verweist, mag sich das Aufnehmen von Stimmungen in das alltägliche Denken wie auch in die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema Stadt überaus positiv auswirken. „Die Atmosphäre einer Stadt ist eben die Art und Weise, wie sich das Leben in ihr vollzieht. Die Ausarbeitung der lebensweltlichen Rede von der Atmosphäre zu einem Begriff der ästhetischen Theorie bringt zu allererst Vorteile für die ästhetische Theorie selbst: hier die Stadtästhetik. Die Einführung dieses Begriffs befreit sie aus der Verengung auf das Visuelle bzw. auf das Semiotische.“400 Mit dem Fortschreiten der Moderne sieht Böhme die Epoche der eindeutigen Inhalte und Zeichen zusehends in Auflösung begriffen, auch 397 |

Vgl. Mann, Thomas (2007): Der Tod in Venedig. Frankfurt am Main 1913.

398 |

Mann 2007: S. 78-79.

399 |

Hasse 2008 b: S. 314.

400 |

Böhme 2006: S. 132.

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deshalb kommt den Atmosphären am Übergang zur Postmoderne eine immer beachtlichere Rolle zu. „Die multikulturelle Welt unserer großen Städte enthält zwar mehr und mehr allgemeinverständliche Piktogramme, aber keine von der Allgemeinheit verstandene Symbolik mehr. D.h. aber, was einen anspricht in der Stadt, lässt sich nicht als Sprache deuten, vielmehr geht es als Anmutungscharakter in das Befinden ein.“401 Diese These lässt ebenso darüber nachdenken, ob Symbole nicht schon in Zeiten tendenzieller Klarheit von Atmosphären getragen worden sind, und dabei bleibt im Grunde offen, ob die spezifischen ästhetischen Qualitäten der postmodernen Stadt in ihrer Diversität nicht auch der Komplexität der Texte entsprechen. Neben einer generellen Ausweitung der Ebenen und Bezüge, die sich im Kontext einer Stadt mit Blick auf die Atmosphären wahrnehmen lassen, hebt Gernot Böhme einen Aspekt besonders hervor. „Es geht in einer solchen Ästhetik nicht bloß darum, wie eine Stadt unter ästhetischen und kunsthistorischen Gesichtspunkten zu beurteilen sei, sondern darum, wie man sich in ihr fühlt. Damit wird ein entschiedener Schritt zur Einbeziehung dessen gemacht, was man etwas ungeschickt den subjektiven Faktor nennt. Eine Atmosphäre spürt man allerdings immer nur im eigenen Empfinden, aber andererseits gerade als das, was von einem anderen Menschen, den Dingen oder der Umgebung ausgeht. Es ist insofern etwas Subjektives, das man mit anderen teilen kann und über das man sich mit anderen verständigen kann.“402 Eine Stadt wird in einzelnen Atmosphären spürbar und von verschiedenen Menschen durchaus auch auf unterschiedliche Weise wahrgenommen, zugleich sind die Atmosphären einer Stadt in ihrer Gesamtheit auch über das individuelle Empfinden hinaus erfahrbar. „Während bei kleinräumlichen und relativ monostrukturellen Orten wie Bahnhöfen, Märkten oder Warenhäusern die atmosphärisch wirksamen Felder (der Dinge, physischen Strukturen, Nutzungsformen, habituellen Praktiken etc.) konkret nachvollziehbar sind“, argumentiert Hasse, „werden ‚große‘ Atmosphären, die man in einer ‚ganzen‘ Stadt (oder einer größeren Region) spürt, auf diese Weise nicht verständlich. Die Dichte und Mannigfaltigkeit der Überlagerung von Atmosphären konstituierender Situationen ist größer und verschwommener als bei kleinräumlichen Atmosphären überschaubarer Orte. Dennoch sind solche Atmosphären unbestreitbar – man denke an die hanseatische wie maritime Atmosphäre der Hansestadt Hamburg oder an die kleinbürgerlich-adrette und beengende Atmosphäre mancher Ruhrgebietsstädte.“403 Der Geograph fragt nach „spezifischen Wirkgrößen des Wirklichen“404 , die derart generalisierende Atmosphären von Städten auf der Grundlage von Arrangements entstehen lassen und nennt Bedingungen und Faktoren: „Klima (Polarkreis vs. Subtropen), landschaftliche Lage (Gebirge vs. Küste), 401 |

Ebd.

402 |

Ebd.

403 |

Hasse 2008 a: S. 105.

404 |

Ebd.

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Sozialgeschichte von Stadt und Region (Industriearbeiter- vs. Dienstleistungskultur), sozioökonomische Bevölkerungsstruktur (minimale Grundsicherung vs. luxurierter Wohlstand), Infrastrukturen (U-Bahn, Straßenbahn, Oberleitungsbusse), Architekturgeschichte (barocke Architektur vs. Beton-Wohnungsbau), Wertvorstellungen (kleinbürgerlich enge Wertewelt vs. weltoffene Toleranz), Sprache (Hochsprache vs. regionale Dialekte)“405 etc. Dabei kommt Hasse zu dem Schluss, dass „[d]ie Wahrnehmung einer städtischen Atmosphäre [...] weniger auf benennbar Einzelnes zurück[geht], denn auf eine komplex ‚verbackene‘ Situation, deren gleichsam ‚äußerlich‘ erkennbare wie leiblich spürbare Qualitäten in einem binnendiffusen Hof von Bedeutsamkeit liegen. ‚Große‘ Atmosphären wie die ganzer Städte werden oft auf dem Hintergrund eines mächtigen Gefühls erlebt. Diese Macht drückt sich vor allem darin aus, dass sie die mannigfaltigen dinglichen, raumphysiognomischen, habituellen, subkulturellen, etc. Heterogenitäten so bildprägend in die Charakteristik einer besonderen atmosphärischen Qualität ‚aufsaugen‘ vermag, dass die nahezu unendlichen Differenzen nicht zur Auflösung der einheitlichen Atmosphäre führen, sondern zu ihrer Anreicherung und Bekräftigung.“406 Alle Autoren verweisen auf die enorme Dichte der Zusammenhänge und Relationen, die das Geflecht einer Stadt im Wesentlichen ausmachen. Auf ihre Art erkunden und durchdringen die Texte das engmaschige Stadtgewebe, um die Qualitäten des Gefüges in Worte zu fassen, zu übersetzen und damit auch zu vermitteln und zu multiplizieren. Auf der städtischen Bühne treten Akteurinnen und Akteure in Erscheinung, wirken sich mehr oder minder, kurzzeitig oder langfristig auf das Geschehen vor Ort aus und stehen zugleich unter dem Einfluss der Stadt, ihrer spezifischen Gestimmtheit und einer historischen Tiefe407. Besonders reflektierte Menschen sind, wie Böhme in diesem Zusammenhang bemerkt, aufgrund ihrer Qualifikation nicht nur in der Lage, sondern meist auch daran interessiert, die Zeichen einer Stadt zu entziffern. Touristinnen und Touristen, die ausschließlich der zentralen Route in ihrem Reiseführer folgen oder eine Rundfahrt mit dem Bus entlang der charakteristischsten Denkmäler und Sehenswürdigkeiten buchen, werden sich auf andere Weise ein Bild von der Stadt machen, und dabei werden sich die Wege der Besucherinnen und Besucher durchaus kreuzen. „Aber alt sein oder gewachsen sind ja Qualitäten einer Stadt, die sich keineswegs bloß in Zeichen manifestieren, vielmehr sind sie Anmutungsqualitäten, die gespürt werden. Dies können unter Umständen dieselben Qualitäten sein, die man auch als Zeichen lesen kann, also etwa das altertümliche Material oder auch die altertümliche Linienführung einer Architektur, aber manchmal sind es auch ganz andere Qualitäten.“408

405 |

Ebd.

406 |

Ebd.: S. 105-106.

407 |

Vgl. Böhme 2006: S. 134.

408 |

Ebd.

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Die „eigentümliche Lebensluft“409 , die Alexander Mitscherlich anspricht, repräsentiert die Stadt, lässt städtische Räume leiblich spüren, und hält die kulturellen und sozialen Bestandteile der Stadt gleichzeitig zusammen, die Atmosphäre agiert in diesem Sinne als Mittlerin. Der Humangeograph Rainer Kazig spricht sich ebenfalls dafür aus, Atmosphären grundsätzlich als Medien zu begreifen.410 Ausgehend von dieser Idee lassen sich nicht nur Anknüpfungspunkte für die empirische Forschung verschiedener Disziplinen ableiten, zu denken ist auch an ein transdisziplinäres Vorgehen innerhalb der Geistes- und Sozialwissenschaften, und darüber hinaus sind Kooperationen zwischen den Kulturwissenschaften und der Kunst oder auch der Raumplanung möglich. „Die Konzeptualisierung von Atmosphären als Medium in der Beziehung zwischen Mensch und Umwelt rückt auch die pragmatische Dimension von Atmosphären in den Blick und zeigt die Möglichkeit einer Verbindung des Atmosphärenbegriffs mit dem Handlungsbegriff auf.“411 Nach dem Konzept des Habitus von Rolf Lindner ist das städtische Gewebe von Strukturen und Erfahrungen durchzogen, die sich im Lauf der Zeit als Dispositionen verfestigen und immer wieder in den habituellen Eigenheiten einer spezifischen Stadt zum Ausdruck kommen.412 Atmosphären können in dieser Hinsicht nicht nur als Bindeglieder betrachtet werden, die zwischen Akteurinnen und Akteuren, Gruppen, Gemeinschaften, Gesellschaften, Praktiken und Repräsentationen wirken, sondern Menschen und Dinge analog auch mit der Matrix einer Stadt verknüpfen. Besonderheiten drücken sich wie urbane Charakteristika in Gestalt von Atmosphären aus oder werden mittels Atmosphären in ihrer räumlichen Präsenz wahrgenommen. Die Kulturanthropologin Ina-Maria Greverus geht aus einer anderen Perspektive davon aus, dass „[d]er Fremde, der den Genius loci, den Text einer Stadt erfahren will, [...] in den Dialog mit den Menschen und den Dingen treten [muss], ohne seine Selbst- und Fremdreflexivität an die Alltäglichkeit des Gewohnten zu verlieren. Er muss die tiefen Spuren suchen, die das Eigene und das Fremde in diese Stadtlandschaft gezogen hat. Der Spurensuche aber gehen die Berührungsmomente voraus, die am Anfang des ästhetischen Prozesses stehen“413 .

409 |

Mitscherlich 1970: S. 133.

410 |

Vgl. Kazig, Rainer (2007): Atmosphären – Konzept für einen nicht repräsentationellen

Zugang zum Raum. In: Berndt, Christian; Pütz, Robert (Hg.): Kulturelle Geographien. Zur Beschäftigung mit Raum und Ort nach dem Cultural Turn. Bielefeld, S. 167-188. Hier: S. 167. 411 |

Kazig 2007: S. 167.

412 |

Vgl. Lindner 2003.

413 |

Greverus, Ina-Maria (2008): Lebendige Orte oder: die Spuren der Berührung. Ge-

danken zu einer Ästhetik urbaner Vielfalt. In: Wolfrum, Sophie; Nerdinger Winfried (Hg.): Multiple City. Stadtkonzepte 1908-2008. Berlin, S. 139-141. Hier: S. 140.

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B EFINDLICHKEITEN UND S ITUATIONEN Die Kulturwissenschaftlerin Brigitta Schmidt-Lauber befasst sich im Rahmen einer Studie mit den Anmutungsqualitäten von Gemütlichkeit und diskutiert in ihrer Arbeit auch zentrale Begriffe wie Atmosphäre, Befindlichkeit und Situation. Kontinuierlich stellt Brigitta Schmidt-Lauber der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Atmosphäre die alltägliche Verwendung von ästhetischen Charakteren gegenüber und folgt mit diesem Vorgehen dem breiten Spektrum des Gegenstands.414 Auf der Grundlage von Böhmes Überlegungen verweist die Kulturwissenschaftlerin auf die tief greifenden Beziehungen, die sich mit einer so aufgefassten Ästhetik aus der Perspektive der Forschung in den Blick nehmen lassen. Neben den Atmosphären und der „emotionalen Wirkung von Wahrnehmungen auf das Subjekt“415 sieht Brigitta Schmidt-Lauber gerade in der Rede von der Befindlichkeit ein „zentrales, für die Kulturwissenschaften konstitutives Stichwort“416 beschrieben. „Es ist ein Begriff, der die emotionale Seite aktuellen Erlebens anspricht und damit in Zusammenhang mit Begriffen wie ‚Gefühl‘, ‚Stimmung‘ und innere ‚Verfassung‘, vor allem aber mit dem auf eine Grundstimmung abzielenden Begriff ‚Gemüt‘ steht.“417 Im Kontext kulturwissenschaftlicher Forschungen wird eine Betrachtung unter derart umfassenden Gesichtspunkten oft ausgeschlossen, dabei eröffnet die Auseinandersetzung mit der Befindlichkeit „[a] ls Erfahrungsqualität [...] auch für die Kulturwissenschaften ein Potential und Möglichkeiten, bislang vernachlässigte Erscheinungen zu erörtern und zu reflektieren: Er nennt das subjektive Erleben beim Namen, führt auf den situativen Moment und impliziert einen holistischen, auf die Erfahrung bezogenen Blick, der die Erscheinung (zum Beispiel Wohlgefühl) nicht auf wenige Voraussetzungen (wie Sattsein oder Erfolg) zurückführt und objektiviert. Der Begriff fokussiert den Zustand statt seine Ursache und Wirkung – schließlich meint Befindlichkeit die aktuelle Verfassung, die Stimmung des Subjekts und nicht den Grund hierfür. Um den Begriff Befindlichkeit in die kulturwissenschaftliche Diskussion einzubinden, bedarf er der Präzision: Befindlichkeit definiere ich für die vorliegenden Zusammenhänge als physisch und mental bestimmten Zustand des Subjekts im Jetzt, der auf der Grundlage bisheriger Erfahrungen, biographischer wie situativer Hintergründe im Zusammenspiel mit äußeren Einflüssen wie der Umgebung die innere Verfasstheit benennt und spezifiziert, ohne in diesen Voraussetzungen aufzugehen. Sie ist damit zu unterscheiden von den sie beeinflussenden Faktoren wie auch von ihren expressiven Erscheinungsformen. Der Begriff gibt nähere Aufschlüsse über das konkrete Erleben und Sein und berührt damit eine Ebene kultureller Erfahrung, 414 |

Vgl. Schmidt-Lauber, Brigitta (2003): Gemütlichkeit. Eine kulturwissenschaftliche

Annäherung. Frankfurt am Main; New York. 415 |

Schmidt-Lauber 2003: S. 215.

416 |

Ebd.

417 |

Ebd.

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die gegenüber benachbarten Handlungen beziehungsweise Verhaltensweisen und erfragbaren Meinungen von der kulturwissenschaftlichen Forschung vergleichsweise vernachlässigt wurde.“418 Ein drittes Konzept, das in den Ausführungen von Brigitta Schmidt-Lauber eine entscheidende Rolle spielt, ist die Situation. Die Kulturwissenschaftlerin spricht sich gegen die gebräuchliche Interpretation in einem berechenbaren Sinn aus. Dabei gilt das Interesse eben nicht nur den äußeren Bedingungen des Handelns. Das Handeln erschließt sich vielmehr „[...] aus dem Moment selbst, dem spezifischen situativen Kontext in seiner Erlebnisqualität für das Subjekt. Aus diesem Grund eignet sich auch der  Begriff des ‚Settings‘ nur ungenügend, um das Phänomen Gemütlichkeit zu erklären [...]“419 . Wie das Bühnenbild beschreibt das Setting die Anstrengungen und Bestandteile, aus denen sich Atmosphären mutmaßlich generieren lassen. Brigitta Schmidt-Lauber nutzt den Begriff deshalb vorwiegend, um Konstellationen aufzuzeigen, denn „[a)uch [das Setting] suggeriert die Erklärbarkeit der  Befindlichkeit, indem bestimmte Voraussetzungen addiert werden. Weitaus mehr Offenheit und begründete Unschärfe, denen zur Durchdringung der hier behandelten Befindlichkeit ebenfalls Rechnung zu tragen ist, ermöglicht dagegen der Begriff der Situation, wenn er von den genannten theoretischen Vorlagen losgelöst wird“420. Brigitta Schmidt-Lauber kritisiert in der Hinsicht vor allem soziologische und ethnomethodologische Ansätze und macht am Beispiel eines bestimmten Charakters deutlich, auf welche Weise Atmosphäre, Befindlichkeit und Situation zusammenspielen können. In der Darstellung der Kulturwissenschaftlerin „[...] definiert sich Gemütlichkeit nunmehr als vollständig evozierbarer, situativ realisierter Zustand subjektiven Wohlbefindens, der von Rahmenbedingungen wie Dingen und Menschen, Zeiten und Orten grundiert ist, ohne sich allein aus ihnen zu klären“421 . Während sich Städte in ihrer Urbanität und ihrer habituellen Eigenheit durch Atmosphären vermitteln, verschieben sich Konstellationen, etwa durch das Anwachsen oder Absinken der Wirtschaftskraft einer Region, und wirken entsprechend auf städtische Räume, was mit Blick auf die Stadtplanung und das Feld der Architektur besonders deutlich zu werden scheint. „Jede Zeit“, schreibt der Geograph Heinz Fassmann, „schafft sich ihre Stadt, aber jede Stadt muss sich auch mit dem baulichen Erbe vergangener Perioden auseinandersetzen. Die Stadt ist niemals synchron mit den Bedingungen der Zeit. Es sei denn, sie wird gegründet oder nach Zerstörung neu aufgebaut.“422 Wie sich am Exempel von München und – 418 |

Ebd.: S. 218.

419 |

Ebd.: S. 209.

420 |

Ebd.

421 |

Ebd.

422 |

Fassmann 2004: S. 66.

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in Folge des Zweiten Weltkriegs – auch an anderen deutschen und europäischen Städten wie Köln oder Rotterdam, und in der gleichen Weise an der japanischen Stadt Hiroshima paradigmatisch nachvollziehen lässt, führt schon die Frage nach dem Modus der Rekonstruktion zu intensiven Debatten. Während sich Wertungen oder auch Situationen aufgrund von veränderten Interessenslagen und gerade im Zuge ökonomischer Zielsetzungen in relativ kurzen Abständen vollständig verändern können, hängen die physischen Strukturen der Stadt von komplexen Zusammenhängen ab, sind niemals eindimensional zu verstehen und wandeln sich gewöhnlich nur in Teilen und über lange Intervalle. Wird etwa ein Bau aus einem vergangenen Jahrhundert eingerissen oder eine Institution wie zum Beispiel ein Bahnhof an einer zentralen Stelle geschlossen, geht es nicht nur um die abgetragenen Stockwerke, die Steine oder das Mauerwerk, die mit den Baggern verschwinden, sondern auch um die Fassade und um den Gesamteindruck, der diesem Ort zu eigen ist. „Die Atmosphäre einer Stadt ist die subjektive Erfahrung der Stadtwirklichkeit, die die Menschen miteinander teilen. Sie erfahren es als etwas Objektives, als eine Qualität der Stadt.“423 Neben den persönlichen Erinnerungen, die mit einem Haus, einer öffentlichen Einrichtung oder einem Laden verbunden sind und abhanden kommen, geht ein Bezugspunkt verloren, der im Kontext der Stadt sowohl der Orientierung dient als analog auch eine Facette in der Repräsentation städtischer Ensembles markiert.424 Räumliche Veränderungen können beobachtet werden und wirken sich vor allem auch auf die leibliche Wahrnehmung der Umwelt aus. „Die Stadt in der man Jahrhunderte hindurch lebte, war ein Biotop. Um diesen Terminus zu erklären: sie ist ein Platz, an dem sich das Leben verschiedenster Gestalt ins Gleichgewicht bringt und in ihm erhält.“425 Dieses Verhältnis sieht Alexander Mitscherlich 1965 in den Städten der Bundesrepublik durch massive Eingriffe von Politikern, Immobilienfirmen, Spekulanten, Stadtplanern und Architekten ernsthaft bedroht. In erster Linie sind damit die Errichtung von modernen Gebäuden und die Aufteilung von Innenstadt und Vororten nach Funktionszonen wie Schlafen und Arbeiten angesprochen. Der Analytiker setzt sich in einem Pamphlet, das die Gesellschaft zum Umdenken auf dem Gebiet der Stadtentwicklung anregen soll, mit der zunehmenden „Unwirtlichkeit unserer Städte“ auseinander. Ohne Rücksicht auf gewachsene Bindungen und Relationen wird die Stadt in den 1960er Jahren in einem nie zuvor möglich gewesenen Ausmaß nachhaltig verändert, geschliffen und aktuellen Moden angepasst. Im Rahmen seiner „Anstiftung zum Unfrieden“ beschäftigt sich Mitscherlich außerdem mit der Wahrnehmung urbaner Räume und macht das Erfahren von Umwelt zu einem elementaren Thema der Stadtgestalt. Der Psychologe erklärt, dass es eine ganz entscheidende Rolle spielt, in welcher Umgebung 423 |

Böhme 2006: S. 138-139.

424 |

Vgl. Fassmann 2004: S. 66.

425 |

Mitscherlich 1970: S. 39.

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Menschen leben und wohnen. Der Ausdruck der Stadt beeinflusst ihr Handeln und Denken, und besonders gebaute Räume wirken sich unmittelbar auf das Befinden der Bewohnerinnen und Bewohner aus.426 Gernot Böhme geht ebenfalls davon aus, dass das Wahrnehmen von Atmosphären die Planung bereichern kann, wenn „die Aufmerksamkeit auf die Beziehung von Umgebungsqualitäten und Befindlichkeiten“427 gerichtet wird. Die physische Gestalt der Stadt und ihrer Teile, Kirchen, Parks, Theater, Schulen, Bibliotheken und andere Einrichtungen, Kinos, Bergbahnen, Strandbäder, Autobahnringe etc., ihre Herstellung und Rezeption tragen entscheidend zu der Ästhetik einer Stadt bei. „Gerade die Architektur produziert in allem, was sie schafft, Atmosphären“,428 sagt der Philosoph. „Architektur ist gerade insofern ästhetische Arbeit, als damit immer auch Räume einer bestimmten Stimmungsqualität, als damit Atmosphären geschaffen werden. Gebäude, Innenräume, Plätze, Einkaufscenter, Flughäfen, städtische Räume wie Kulturlandschaften können erhebend sein, bedrückend, hell, kalt, gemütlich, feierlich, sachlich; sie können eine abweisende oder einladende, eine autoritative oder auch eine familiäre Atmosphäre ausstrahlen. Der Besucher und Benutzer, der Kunde, der Patient werden von diesen Atmosphären angeweht oder ergriffen. Der Architekt aber erzeugt sie, mehr oder weniger bewußt. Die sinnlichen Items, die er setzt, die Farben, die Oberflächengestalt, die Linienführung, die Arrangements und Konstellationen, die er schafft, sind zugleich eine Physiognomie, von der eine Atmosphäre ausgeht. Als ästhetischem Arbeiter, als Praktiker ist das jedem Architekten selbstverständlich. Die sinnlichen Eigenschaften, die er seinen Produkten verleiht, sind für ihn weniger relevant. Trotzdem mag sein Bewußtsein in der Regel darauf gerichtet sein, welche Eigenschaften und Bestimmungen er seinem Produkt gibt. Das, was der Philosoph demgegenüber in Erinnerung zu bringen hätte, ist, daß es niemals bloß um die Gestaltung eines Gegenstandes geht, sondern immer zugleich um die Schaffung der Bedingungen seines Erscheinens.“429 Der Entwurf für ein Bauwerk kann begeistern, aber auch verunsichern und von Diskussionen sogar zu erheblichen Protesten führen, dabei mag sich eine allzu avantgardistisch anmutende Idee mitunter erst nach der Fertigstellung im Verständnis der breiten Masse etablieren. Gerade an den Debatten um zentrale Bauvorhaben und den differierenden Argumentationslinien unterschiedlicher Akteurinnen und Akteure werden die habituell verfestigten Muster einer Stadt evident, wie der Kulturwissenschaftler Lutz Musner an der Auseinandersetzung um den Bau eines gläsernen Leseturms im Wiener Museumsquartier zeigt.430 426 |

Vgl. ebd.

427 |

Böhme 2006: S. 138-139.

428 |

Böhme 1995: S. 97.

429 |

Ebd.

430 |

Vgl. Musner 2009: S. 60-67.

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Wenngleich der repräsentative Charakter einer Stadt schon immer ein wichtige Rolle gespielt zu haben scheint, das Rathaus in Wien, der königliche Palast in Madrid oder die Bürgerhäuser in der Innenstadt von Antwerpen erzählen wie der Dombau zu Aachen von den Mächtigen und der Inbesitznahme von Räumen, nach Jahrhunderten strahlen die Bauten vor allem in ihrer Gesamtheit und dem Zusammenspiel in einem städtischen Ensemble die Geschichte dieser Städte aus. Obwohl der Schauwert und damit auch der Vergleich mit anderen Menschen und Dingen von Anfang an bemerkenswert wirkt, setzt im Verlauf der Moderne ein Prozess der allgemeinen Ästhetisierung ein. „Die Ästhetisierung des Realen hat längst begonnen. Wenn man unter Ästhetik die Oberfläche versteht, also die Aufmachung, das Image, den Bereich der Simulakra, dann könnte die Behauptung zutreffen, daß der ästhetische Bereich das Reale verdrängt hat.“431 Böhme konstatiert, dass das Leibliche, das Physische aber keineswegs verschwindet, sondern seine Bedeutung weiter beibehält. „Trotzdem ist die These von der Dominanz des Scheins nicht ganz falsch. Die Aufmachung, die Explikation, das Sich-Zeigen von Dingen wird immer bedeutungsvoller.“432 Aus seinen Überlegungen zu einer Warenästhetik folgert der Philosoph, dass der Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert ein „theatralisches Zeitalter, einen neuen Barock“433 bezeichnet. Wie am Exempel der Architektur gezeigt, spricht Böhme in diesem Kontext von ästhetischer Arbeit, die auf die Zurschaustellung einer Sache oder einer Person abzielt. „Unter ästhetischer Arbeit soll die Arbeit verstanden werden, die in die Erscheinung von Dingen, Menschen, Ideen gesteckt wird. Der Begriff der ästhetischen Arbeit ist also weiter als der Begriff der Inszenierungsarbeit und umfaßt den ganzen Bereich künstlerischer Produktion mit.“434 Dazu gehören Werbung, Mode und Design in unterschiedlichen Sparten und andere kreative Tätigkeiten, die Räume entstehen lassen und Bilder produzieren, wobei sich die Inhalte und Fragestellungen dieser Felder im Laufe der Zeit verändern. Zu denken ist zudem an einen Effekt, der ganz allgemein beachtet werden muss. Die Arbeit eines Politikberaters ist in der Postmoderne ebenfalls als ästhetischer Beruf zu begreifen. Böhme verweist nachdrücklich auf die Möglichkeit der Kritik, die aus dem Wissen um die Ästhetisierung des Realen entstehen kann. Wolfgang Welsch betont indessen auch die Medialität und Modellierbarkeit als Merkmale dieser Ästhetik. Analog zu der Oberflächenästhetisierung spricht der Philosoph von einer Tiefenästhetisierung, gemeint ist der Bedeutungswandel von hardware und software. Die Ästhetisierung gewinnt an Bedeutung und wird selbst Teil der hardware. Ein Beispiel ist die Herstellung von Laptops, während die Prozessoren mit geringer werdendem Umfang immer weniger Anteil an der eigentlichen hardware haben, spielt die Gestalt der Geräte eine zunehmend immanentere Rolle. Weiter spricht Welsch von einer fortschreitenden Ästhetisierung des 431 |

Böhme 1995: S. 13.

432 |

Ebd.

433 |

Ebd.: S. 14.

434 |

Böhme 2001: S. 22.

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Bewusstseins. Ein großer Teil des Fernsehpublikums ist sich der Virtualität und Manipulierbarkeit der Medien beispielsweise durchaus bewusst. Dieses Wissen ist offenbar analog zur Entwicklung der technischen Geräte angeeignet worden, obwohl die meisten Menschen keine näheren Kenntnisse über die Produktion von Nachrichten oder Vorabendserien haben. „Wirklichkeit wird medial zu einem Angebot, das bis in die Substanz hinein virtuell, manipulierbar, ästhetisch modellierbar wird.“435 Medien entwerfen andauernd neue Realitäten und unterliegen dabei selbst andauernden Ästhetisierungsprozessen. „Wahrheit, Wissen und Wirklichkeit haben in den letzten 200 Jahren zunehmend ästhetische Konturen angenommen.“436 Während das Thema Ästhetik seit dem 19. Jahrhundert im Kontext von Stadtentwicklung und Urbanisierung, ökonomischer Industrialisierung und medialer Reproduzierbarkeit in Form einer Ästhetisierung zusehends an Bedeutung gewinnt, vermag das Einbeziehen von Atmosphären in das Denken und Handeln nicht nur das alltägliche Bewusstsein der Menschen, sondern auch die Wahrnehmung der Wissenschaften in empathischer Weise zu bereichern. Als ästhetische Medien haben Atmosphären ganz unmittelbar mit dem Befinden von einzelnen Personen, auch von forschenden Akteurinnen und Akteuren, zu tun, können Differenzen leiblich spürbar machen, stellen Nähe her, lassen Nähe zu und stehen ebenso für den Eindruck eines übergeordneten Zusammenhangs, einer Gruppe, einer Gemeinschaft, eines Ganzen. Gewissermaßen als Erweiterung zu den sozialen Positionen, die eine Aneignung von Dingen und Räumen ihrerseits schon mit einbeziehen, kennzeichnen die Atmosphären vor allem das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt oder auch Subjekt und Subjekt, das sich mit einem ausschließlich rational argumentierenden Denken zumeist nicht in einem entsprechenden Umfang erfassen lässt. Obgleich in den letzten Jahrzehnten auf die Rolle von Emotionen im Kontext einer Warenästhetik oder der Inszenierung von Politik auch in einem öffentlichen Diskurs immer augenfälliger Bezug genommen wird und die affektive Wirkung von Atmosphären sowohl im Alltag als auch aus einer analytischen Perspektive unausgesetzt zu beobachten ist, und an dieser Schnittstelle setzt eine kulturwissenschaftliche Fragestellung in der Regel an, werden Stimmungen im Rahmen einer empirischen Untersuchung entweder kaum beachtet oder fließen lediglich am Rande in die daraus resultierenden Studien ein. Dabei vermögen gerade ästhetische Fragen das kulturelle Gewebe einer Gesellschaft zu berühren und Verknüpfungen wie auch Diskrepanzen mittels Befindlichkeiten deutlich zu machen. Dem ethnographischen Forschen und gleichermaßen dem Schreiben oder Erzählen ist im Grunde stets ein empathisches Aufnehmen von Atmosphären inhärent, in die Beschreibung von Szenerien fließen ästhetische 435 |

Welsch 1993: S. 19.

436 |

Ebd.: S. 42.

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Aspekte ein, ein Gespräch hängt ebenso von der Atmosphäre in einem belebten Café, zu Hause oder am Arbeitsplatz wie von einem spürbaren Einverständnis zwischen den anwesenden Interviewpartnerinnen und -partnern ab. Mit einem neuen Ästhetikbegriff, der sich als eine allgemeine Wahrnehmungslehre auf das eigentliche Konzept der Aisthesis bezieht, wie ihn vor allem die Philosophen Gernot Böhme und Wolfgang Welsch, die Kulturwissenschaftlerin Brigitta SchmidtLauber und die Geographen Jürgen Hasse und Rainer Kazig verwenden, lassen sich alle erdenklichen Felder und Gegenstände in den Blick nehmen. Die Beschäftigung mit den Atmosphären knüpft unmittelbar an die Untersuchung kultureller Konstellationen in Raum, Zeit und Gesellschaft an, wie sie Rolf Lindner als Kulturanalyse entwickelt hat437, und kann dementsprechend dazu beitragen, die Komplexität von Erscheinungen aufzunehmen und nicht nur in ihren diversen Bestandteilen, sondern in ihrer Vielschichtigkeit zu verstehen. Unter ästhetischen Gesichtspunkten weiten sich die Dimensionen der Wahrnehmung, in denen ein Ereignis, ein Phänomen, ein Ort, ein Sachverhalt, ein Prozess oder ein Zustand erfasst werden kann. Über das Reflektieren von Atmosphären öffnen sich Räume, die eine ungeheuere Dichte an Bedeutungen spürbar werden lassen und dabei keineswegs beliebig anzunehmen sind, sondern ganz konkret von Dingen, Menschen und ihren Lebensformen ausgehen. Mit einer glänzenden Beschreibung der Stadt um 1900 beginnt Thomas Manns Novelle „Gladius Dei“. Sprachgewaltig schildert der Schriftsteller eine Situation, die im Wesentlichen von der Beschaffenheit des Raumes ausgeht und die Atmosphäre der Stadt geradezu leiblich spüren lässt. „München leuchtete. Über den festlichen Plätzen und weißen Säulentempeln, den antikisierenden Monumenten und Barockkirchen, den springenden Brunnen, Palästen und Gartenanlagen der Residenz spannte sich strahlend ein Himmel von blauer Seide, und ihre breiten und lichten, umgrünten und wohlberechneten Perspektiven lagen in dem Sonnendunst eines ersten schönen Junitages.“438 Thomas Mann führt die Gestimmtheit des Ortes auf die Ästhetik der Dinge zurück, Münchens prachtvolle Anlage entspricht der habituellen Konzeption einer Fürstenstadt. Mit seinen Worten erfasst der Zauberer ein Phänomen, das München an manchen Tagen noch über seine schöne Anmutung hinaus in eine besondere Stimmung versetzt. Bei Föhn leuchtet die Stadt in einem eigenen Licht, diese Empfindung ist auf eine bestimmte Witterung zurückzuführen, die sich mit der geographischen Lage von München nahe der Alpen erklären lässt. Durch Hoch- und Tiefdruckgebiete, die auf dem Kamm des Bergmassivs zusammen treffen, kommt es an der Südseite des Gebirges zu Niederschlägen, im Norden entstehen warme Fallwinde und die Landschaft erscheint in einer ungeheuren Klarheit. Der häufig auf Ansichtskarten festgehaltene Eindruck, dass die 437 |

Vgl. Lindner 2003 a.

438 |

Mann, Thomas (2008): Gladius Dei (1902). In: München leuchtete. München, S.

17-34. Hier: S. 17.

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Türme der Frauenkirche unmittelbar vor dem Alpenpanorama aufragen, kann ausschließlich bei Föhn aufgenommen werden. Die Wetterlage per se ist jedoch kein Alleinstellungsmerkmal der bayerischen Landeshauptstadt; der physikalische Prozess, in dem sich Luftmassen austauschen, kann weltweit beobachtet werden. Im Zusammenspiel mit den klassizistischen Bauten von Ludwig I., den Grünflächen und der Vorstellung von München als Metropole der Kunst und Kultur verdichtet sich die Farbe des Himmels aber zu einer charakteristischen Metapher. Darüber hinaus wird der Föhn immer wieder als Zustand beschworen und scheint sich affektiv auf das Gemüt der Münchnerinnen und Münchner auszuwirken. Vor dem Hintergrund dieser Bedeutung ist die von Thomas Mann eingefangene Szenerie als Bild zu verstehen, das in der kulturellen Textur der Stadt fortgesetzt Verwendung findet. Mit seiner Formulierung schafft der Literaturnobelpreisträger ein klassisches Motiv, das nicht nur die einzelnen Situationsmerkmale der Stadt, ihre Selbstund Fremdbilder bezeichnet, sondern auch in aller Prägnanz verdichtet. München leuchtet wird in der verkürzten Form zum idealen Ausdruck einer Stadtästhetik, eine entsprechende Medaille 1961 erstmals für Verdienste um die Landeshauptstadt vergeben.439 Dabei zeigt die modifizierte Form, dass das Herausstellen eines Gesichtspunkts nicht ohne das Ausblenden anderer Aspekte funktioniert. Die Novelle „Gladius Dei“ ist eigentlich als Kritik an einer allzu rückwärtsgewandten Gesellschaft und ihrem Blick auf die Kunst zu verstehen. Der Föhn intensiviert Münchens ambivalente Atmosphäre zwischen konservativem Bürgertum und freigeistiger Avantgarde mit seinen extremen Qualitäten. Das Leuchten der Stadt wird indessen immer wieder aufgegriffen. Der Kunsthistoriker Erhard Göpel, der in der Zeit des Nationalsozialismus an der Beschlagnahmung von Bildern und Objekten in Frankreich und den Niederlanden beteiligt war, hielt zugleich mit der Familie des als „entartet“ verfemten Malers Max Beckmann im Exil Kontakt und war 1953 einer der Mitbegründer des „Max-Beckmann Archivs“ in München.440 In dem Band „München. Lebenskreise einer Stadt“ beschreibt Göpel Mitte der 1950er Jahre die ungebrochene Ästhetik der Residenzstadt. „Die Ludwigstraße stellt sich heute als ein einheitliches Monument eines Stilwillens dar, der noch [...] von einem königlichen Auftraggeber getragen ist, mehr als von den, allerdings vorzüglichen Architekten Leo von Klenze und Friedrich von Gärtner, die sich nicht sklavisch an aufgegebene Vorbilder hielten, sondern sie auf die 439 |

Vgl. http://www.muenchen.de/Rathaus/dir/ehrungen/mleuchtet/39303/index.

html, (11. August 2011). 440 |

Vgl. Fuhrmeister, Christian; Kienlechner, Susanne (2008): Tatort Nizza: Kunstge-

schichte zwischen Kunsthandel, Kunstraub und Verfolgung. Zur Vita von August Liebmann Mayer, mit einem Exkurs zu Bernhard Degenhart und Bemerkungen zu Erhard Göpel und Bruno Lohse. In: Heftrig, Ruth; Peters, Olaf; Schellewald, Barbara Maria (Hg.): Kunstgeschichte im „Dritten Reich“. Theorien, Methoden, Praktiken. Berlin, S. 405-430. Hier: 423.

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Straßenbreite und die beschlossene Höhe bezogen. Das Geheimnis der Wirkung dieser Straße beruht auf der ausgewogenen Proportion zwischen Straßenbreite und Straßenhöhe [...] Das streng perspektivische Bild, zu dem sich die Fluchtlinien der Häuser und der Trottoirs besonders aus dem Blickpunkt von der Straßenmitte vereinigen, wird von dem später eingebauten Koordinatensystem der schnurgeraden Drähte und Schienen und Drähte der Straßenbahn überbetont und fast zu einer Ansicht aus einem Lehrbuch der Perspektive. Dagegen wird die Wirkung durch die blitzenden Autos erhöht, die als helle farbige Punkte die Straße von einem zum anderen Ende durchmessen. Im Fahren streichen die langen Fassaden schneller vorüber und ziehen sich stärker als für den Fußgänger zu einer Einheit zusammen. Am schönsten ist die Straße an föhnigen Frühlingstagen, wenn die hellgrüne Patina der Theatinerturmhelme hereinspielt, die Pappeln der Leopoldstraße mit zartem Grün antworten, das gewachsene Labyrinth des Englischen Gartens, Kontrapunkt der strengen Straße, seine Düfte herübersendet, junge Leute der Akademie, der Universität zustreben. Steht die Sonne mittags im Zenith, so liegt die Straße schattenlos da, denn sie zieht genau von Norden nach Süden. Dann ist sie ein Stück Süden, ein Stück Italien, das den Kronprinzen Ludwig in seinen römischen Jahren bezauberte.“441 Der Bruckmann-Verlag gibt 1969 aus Anlass der Olympischen Spiele einen Bildband mit dem Titel „München leuchtet“ heraus. Michael Schattenhofer, der Direktor des Stadtarchivs, hat darin einen Überblick zur historischen Entwicklung der bayerischen Landeshauptstadt verfasst, der Fotograf „Klaus Brantl führt mit seinen glanzvollen Farbbildern durch diese leuchtende Stadt. Er zeigt sie zu allen Jahreszeiten; er lässt den Beschauer teilhaben an ihren Festen und ihren Schönheiten; er vermittelt die einzigartige Atmosphäre und den Zauber Münchens, der jeden in ihren Bann zieht, der einmal hier geweilt hat“442 . Im Jahr 1971 beschäftigt sich auch der Verleger Klaus Piper mit dem Lebensgefühl an der Isar. „München verdankt seinen Magnetismus einem Bündel von Faktoren, deren jeder einzelne bemerkenswert wäre, die aber erst im Zugleich, ihrem Ineinanderwirken jenes ‚Etwas‘ erzeugt haben, das die Attraktivität dieser Stadt ausmacht – das Menschen und Unternehmen aus so vielen Himmelsrichtungen herbeigeführt hat. Die Lage in einer der schönsten voralpinen Landschaften und die Fülle von Werken und Einrichtungen der Kunst und Wissenschaft wären für sich schon Magnete. Aber erst die bajuwarisch-katholische Grundstimmung von Tradition und Behagen, von Eigensinn und barocker Modernität erfüllen die Voraussetzungen für den Begriff ‚München‘.“443 Dabei schließt Piper ebenfalls vom städtischen Klima auf das Befinden der Bewohnerinnen und Bewohner. „Die Seele dieser Stadt offenbart sich im Föhn, jenem rätselhaften, aus dem südlichen Nachbarland kommenden Wind 441 |

München. Lebenskreise einer Stadt 1955: S. 70.

442 |

Brantl, Klaus (1969): München leuchtet. München. Klappentext.

443 |

Piper, Klaus (1971): In München leben. In: Merian, H. 12; München, S. 23-28.

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mit Druckabfall, elektrischer Ladung und einem Himmelsglanz, der mit dem von Neapel zu wetteifern vermag. Der Föhn – ein Phänomen der Atmosphäre und ein Zustand – ist aufregend, er steigert das Lebensgefühl, fordert das innere Gleichgewicht heraus. Er macht müde und heftig, reizbar und produktiv, Auto- und Kreislauflabilen ist er gefährlich, Kinder werden aufsässig oder erfinderisch, junge Frauen verschönt er. Der Föhn trägt den Malzduft der Brauereien aus der Hauptbahnhofgegend bis weit hinaus in die nördlichen Stadtteile. Junge Revolutionäre läßt er bedenklich zwischen Kaderarbeit und Lebensgenuß am ‚Boulevard Leopold‘ schwanken.“444

444 |

Piper 1971: S. 23.

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5. Zeitreisen. Szenenbilder. Stadtansichten

Nach Kluges Etymologischem Lexikon ist die Collage ein „‚Kunstwerk, das aus verschiedenen Teilen zusammengestellt ist‘ (< 20. Jh.). Entlehnt aus frz. collage m., einer Ableitung, von frz. coller ‚leimen, kleben‘, abgeleitet von frz. colle ‚Leim‘, aus gr. kólla. Das Wort wird gebraucht seit etwa 1910 für die von G. Braque und P. Picasso geschaffenen kubistischen Bilder, in die Zeitungs-, Tapeten- und Wachstuchteile eingeklebt waren; dann Verallgemeinerung.“445 Der Kunsthistoriker Petrus Schaesberg beschäftigt sich mit der Collage als Form und Konzept der künstlerischen Moderne und ihren prägendsten Vertretern im 20. Jahrhundert. Im Rahmen seiner Studie setzt sich Schaesberg auch mit der Ideengeschichte auseinander, die sich analog zur bildnerischen Technik der Collage entfaltet. „Das Muster, die Matrix oder das System, das sich innerhalb der Kunst des vergangenen Jahrhunderts abzuzeichnen begann, scheint viele Berührungspunkte mit dem zu haben, was Michel Foucault in den Begriff des Diskurses fasst. An die Stelle der teleologisch gedachten Entwicklungen der Geschichte setzt Foucault das Flechtwerk der Diskurse [...].“446 Wie Schaesberg erklärt, bezieht sich ein Diskurs nicht nur auf die Organisation, sondern vor allem auch auf die Herstellung von Wissen und beschreibt damit eine „Praxis, wie sie sich für den Kunsthistoriker in den Werken offenbart“447. Foucaults Geschichtssinn wirkt „trennend, zergliedernd, lösend“448 und fügt „sich somit in die phänomenologische Erscheinung der Collage“449 . In seiner Vielschichtigkeit ist das städtische Gewebe ebenfalls als Flechtwerk aus Handlungen, Ausdrucksformen und Diskursen zu begreifen und scheint dem Bild des zusammengesetzten Kunstwerks geradezu paradigmatisch zu entsprechen. Die Großstadt gleicht einer Collage, in ihrer Dichte und Heterogenität wirkt aber auch die Collage selbst als eine urbane Form der Darstellung. Im Stadtraum überlagern sich Symbole und Strukturen, für die Gestalt des Kunstwerks werden unterschiedliche Versatzstücke zusammengetragen, Motive gesammelt, kopiert, ausgeschnitten, angeordnet und bearbeitet. Während der Blick zwischen den Facetten des Mosaiks hin- und herschweift, entstehen Bezüge, Differenzen treten hervor, Teile werden überformt, andere bleiben sichtbar, und aus den verschiede445 |

Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache (1999). 23. Aufl. Berlin; New

York, S. 156. 446 |

Schaesberg, Petrus (2004): Konzept der Collage. Paradigmenwechsel in der Ent-

wicklung der Collage von Pablo Picasso bis Edward Ruscha. Verfügbar unter: http:// edoc.ub.uni-muenchen.de/2372/1/Schaesberg _Petrus.pdf, (11. Januar 2011). 447 |

Schaesberg 2004.

448 |

Ebd.

449 |

Ebd.

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nen Schichten ergibt sich immer ein Gesamteindruck. Die Machart der Collage gleicht dem Gegenstand einer ethnographischen Studie, die stets das Ganze im Blick behält und mit verschiedenen Methoden nach faktischen und ästhetischen Qualitäten von Orten, Ereignissen, Biographien, Bildern und Geschichten sucht. „München hat viele Silhouetten“, heißt es in einem Faltblatt, das die Landeshauptstadt Ende der 1960er Jahre anlässlich der Olympischen Spiele herausgegeben hat, „[ j]ede stammt aus einem anderen Zeitalter, alle Zeitalter fügen sich ineinander, es gibt kaum Bruchstellen. Münchens gotische Epoche wird durch die Frauenkirche repräsentiert, Barock und Rokoko geben der Stadt ihren festlichen Charakter, und der Klassizismus beginnt mit dem 19. Jahrhundert, den Ruf der Kunststadt München zu verkünden. Der letzte Krieg zerstörte und veränderte viel in München. Der Wiederaufbau und das ständige Größerwerden der Stadt schufen wiederum eine neue Silhouette rings um die Stadt und weit hinaus ins Voralpenland, mit eleganten Hochhaus-Wohnvierteln und Schnellstraßen.“450 Die Stadtethnologin Kathrin Wildner konstatiert, dass „[d]ie Komplexität (nicht nur) urbaner Gesellschaften [...] die Entwicklung neuer Fragestellungen, empirischer Methoden und Konzepte“451 verlangt und plädiert aus einer kulturwissenschaftlichen Sicht für ein interdisziplinäres Vorgehen, das immer auch theoretische Ansätze in die Überlegungen einbezieht. Im Bereich der Stadtforschung und ebenso mit Blick auf Themen wie Arbeit, Mobilität oder Migration, scheint es in der postmodernen Gegenwart unabdingbar, eine Fülle, mindestens aber einen Plural von Anschauungen, Quellen und Materialien zu erheben, verschiedene Standpunkte gegenüberzustellen und vermeintlich widersprüchliche Erkenntnisse zusammenzudenken, um der Vielschichtigkeit von Feld und Gegenstand gerecht werden zu können. Die Rede vom multimethodischen Vorgehen meint demnach keine Besonderheit, sondern muss in der Auseinandersetzung mit einer Fragestellung als Konstante gelten. Um sich einer Stadt zu nähern, entwirft der Volkskundler Helge Gerndt ein Modell aus drei Betrachtungsmustern. Als kulturelles Gebilde begreift er die städtische Topographie, die sich auf die gebauten Formen und ebenso auf die Vorstellungen von einer Stadt bezieht, zum anderen ist die Großstadt als kultureller Vermittlungsraum zu verstehen, der auf einer direkten Kommunikation wie auch auf der Vermittlung durch Medien basiert und sich in verschiedenen Lebensstilen ausdrücken kann. Drittens ist die Stadt als kultureller Bedeutungsraum aufzufassen, in dem sich Ansichten und Ideen in einer ungeheuren Intensität verdichten.452 450 |

Broschüre „München. Stadt der Olympischen Spiele 1972“. In: Olympia in Mün-

chen. Offizielles Sonderheft der Olympiastadt. Ausgabe der Zeitschrift Münchner Leben. München, S. 9. 451 |

Wildner, Kathrin (1995): „Picturing the City“. Themen und Methoden der Stadteth-

nologie. In: Kea. Zeitschrift für Kulturwissenschaften, H. 8, S. 1-21. Hier: S. 18. 452 |

Vgl. Gerndt, Helge (2002): Kulturwissenschaft im Zeitalter der Globalisierung.

Volkskundliche Markierungen. Münster u. a., S. 67.

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Die Beschäftigung mit einem derart verwobenen Gegenstand verlangt grundsätzlich eine Rückkehr an den Ort des Geschehens, unabdingbar ist aber auch eine theoretische Basis, die Fragen und Betrachtungen entsprechend fundiert. „Wie baut sich das Bild einer Stadt auf?“,453 fragt Gerndt und verweist an dieser Stelle auf den Geographen Gernot Ruhl und seine Analyse der städtischen Situationssymbole.454 Schwierig scheint es dem Volkskundler vor allem zu differenzieren, ob ein Phänomen genuin urban, an eine bestimmte Stadt gebunden oder von den gesellschaftlichen Bedingungen der Zeit abhängig ist. „Ist Großstadt in ihrer Komplexität einer analytisch-rationalen Deutung überhaupt noch zugänglich?“455 Bilder und Imaginationen konstituieren urbane Wirklichkeiten ebenso wie konkrete Handlungen und Praktiken. „Dürfen wir [die] [...] Frage nach der Beschaffenheit unserer Wahrnehmung – aus faktischen wie aus methodischen Gründen – so stark vernachlässigen, wie das herkömmlicher Weise geschieht?“456 In seinen Ausführungen kommt Gerndt zu dem Schluss, dass es einer kulturwissenschaftlichen Stadtforschung nicht allein darum gehen kann, wie eine Stadt aussieht, sondern mehr noch darum gehen muss, wie die Stadt vom Menschen erfahren wird. Der Volkskundler fordert eine Ausweitung des Blicks und spricht im Zusammenhang mit den Methoden von einer Kulturanalyse, die „[...] mit den Techniken empirischer Sozialforschung [arbeitet], aber [...] in Zukunft stärker als das bisher üblich ist, den empirischen Rückbezug zu reflektieren haben [wird]. Wir müssen genauer wissen, welcher Schicht von Realität wir gerade auf der Spur sind. In dieser Hinsicht werden die Techniken empirischer Sozialforschung vielfach zu technizistisch angewendet.“457 In seinen Arbeiten zur Ästhetik setzt sich Wolfgang Welsch auch mit einer ästhetischen Form des Denkens auseinander. Das Ästhetische ist aus diesem Blickwinkel nicht nur als Gegenstand der Reflexion zu begreifen, „sondern muss den Kern des Denkens selbst betreffen“458. Dieses Denken muss eine „ästhetische Signatur“459 aufweisen und mit der Idee einer erweiterten Wahrnehmung korrespondieren, der Philosoph spricht an anderer Stelle von einem umfassenden Konzept der Aisthesis, das nicht mehr allein auf Kunst und Schönheit begrenzt ist. Wenngleich visuelle Phänomene zu überwiegen scheinen, spielt das Sehen für die Wahrnehmung keine bestimmende Rolle. Das ästhetische Erfahren geht von sinnlichen Empfindungen aller Art aus, immanent sind besonders auditive Momente wie der Ton einer Rede oder der Rhythmus des Schreibens. Dabei wird der Beschäftigung mit 453 |

Ebd.: S. 72.

454 |

Vgl. Ruhl 1971.

455 |

Gerndt 2002: S. 70.

456 |

Ebd.: S. 66.

457 |

Ebd.: S. 77.

458 |

Welsch, Wolfgang (2003): Ästhetisches Denken. Stuttgart, S. 46.

459 |

Welsch 2003: S. 46.

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ästhetischen Qualitäten, Implikationen und Ausdrucksformen des Erscheinens immer mehr Bedeutung zugemessen, „[...] drückt sich doch in ihnen die leitende Sicht und Welthaltung aus, in deren Kontext die einzelnen Aussagen erst einen Sinn ergeben [...]“460. Sinn lässt sich nicht allein über Inhalt erschließen, eine Aussage vermittelt sich vielmehr über die ästhetische Signatur des Gesagten. Welsch bezieht sich in diesem Kontext auf den Medienwissenschaftler Marshall McLuhan, für den das Medium die eigentliche Botschaft ist.461 Um den qualitativen Charakter des Artikulierten aufnehmen und auch in ästhetischer Weise verstehen zu können, wie die „Physiognomie einer Weltsicht, eines Ansinnens, eines Vorschlags beschaffen [ist]“462, bedarf es einer Wahrnehmung, die über die Rezeption von Datensätzen hinaus reicht. Wie Welsch an der Argumentation von Jacques Derrida oder Francois Lyotard aufzeigen kann, sind unter ästhetischen Gesichtspunkten sogar in den Äußerungen der Philosophen, die sich selbst mit Fragen von Sinn und Erkenntnis befassen, „sensuelle Eigentümlichkeiten“463 auszumachen. „Ein ästhetischer Denker sieht und hört nicht bloß in umweltlicher Orientierung, sondern er wittert eine Einsicht, ist einem schal schmeckenden Einfall gegenüber skeptisch, tastet das Gewebe des Gedankens ab.“464 Ästhetisches Denken kann Befindlichkeiten aufspüren und nimmt dabei auf Vorstellungen und Gestimmtheiten Bezug, nicht das begriffliche, rechnende, rationale Wissen steht im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses, dem Aufnehmen von Atmosphären wird gleichsam Bedeutung beigemessen. Der Wahrnehmungsprozess geht vom Beobachten, Sehen, Registrieren, Fühlen, Hören aus und ist keinesfalls als Gegenstück zu einer vermeintlich logischeren Form des Denkens zu verstehen. Das Berücksichtigen von Vorstellungen ersetzt auch nicht den Vorgang der Reflexion, sondern ist als unerlässliche Ergänzung aufzufassen, aus den verschiedenen Facetten kann sich schließlich ein Gesamtbild zusammensetzen. Die Akzentuierung des Ästhetischen soll in erster Linie auf die Komplexität hinweisen, mit der Eindrücke und Informationen aufgenommen und verarbeitet werden. Welsch beschreibt Museen als Orte, die gerade im Zeitalter der Postmoderne überaus erfolgreich mit ihren Präsentationen sind und „ästhetische Erfahrung im weitesten Sinne“465 möglich machen. „Deren Ausgriff reicht von Sinnlichkeit und Imagination über Reflexion und Kritik bis zu Appell und Vision und erstreckt sich vom Einzelwerk über das Ensemble und die Architektur bis zu Gesamtatmosphären und deren Kollisionen und Irritationen.“466 In einer Ausstellung sind 460 |

Ebd.: S. 47.

461 |

Vgl. ebd.: S. 57.

462 |

Ebd.: S. 47.

463 |

Ebd.

464 |

Ebd.

465 |

Ebd.: S. 60.

466 |

Ebd.

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idealtypisch alle Momente zugleich spürbar; Gegenstände entwickeln ihre Aura in einer sinnlich ansprechenden Umgebung. Welsch geht davon aus, dass die Herstellung von Atmosphäre der Komplexität der Dinge vielleicht näher kommt als eine rationale Platzierung, allerdings gibt es auch Kunstwerke und Objekte, die eine sachlich argumentierende Inszenierung verlangen.467 Die Möglichkeiten gilt es im Rahmen einer kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung zu ermitteln; im Gefüge einer Stadt begegnen unterschiedliche Formen und Materialien, die sich immer auch in einem ästhetischen Sinn artikulieren und in ihren verschiedenen Qualitäten zu erfassen sind. Das Konzept des ästhetischen Denkens weitet noch einmal die Dimensionen der empathischen Stadtforschung, die Richard Sennett thematisiert.468 Die Ästhetik einer urbanen Landschaft kann aus der Perspektive ebenso in den Blick genommen werden wie der Übergang von einer in die andere Atmosphäre. Analog schließt Wahrnehmung auch Momente einer Anästhesie mit ein, die Gestaltpsychologie geht davon aus, dass in bestimmten gesellschaftlichen und kulturellen Konstellationen manche Entwicklungen gar nicht realisiert oder ausgeblendet werden.469 Welsch hält das ästhetische Denken für das eigentlich realistische Empfinden der Gegenwart, „[d]enn es allein vermag einer Wirklichkeit, die – wie die unsrige – wesentlich ästhetisch konstituiert ist, noch einigermaßen beizukommen. Begriffliches Denken reicht hier nicht aus, eigentlich kompetent ist – diagnostisch wie orientierend – ästhetisches Denken.“470 Der Philosoph sieht die Ursachen für die Verschiebung vom logozentrischen hin zu einem ästhetischen Denken in einer grundlegenden Veränderung der Wirklichkeit, die sich „[...] wesentlich über Wahrnehmungsprozesse, vor allem über Prozesse medialer Wirklichkeit konstituiert“471 . Reale und fiktionale Bilder überlagern und bedingen sich, die Stadt selbst ist ein Geflecht aus Schein und Sein. „Zudem gilt in unserer Gesellschaft als real nur noch das, was medial produziert oder reproduziert wird.“472 Das ästhetische Denken ist dem diffusen Ineinandergreifen von Ansichten und Begebenheiten deswegen vielmehr gewachsen als eine selektive Wahrnehmung offensichtlich rationaler Daten. Im Kontext der Stadt spielt die Ästhetisierung von Charakteristika ebenso eine Rolle wie der steigende Wert von Zeichen und Symbolen oder auch das Empfinden der Bewohnerinnen und Bewohner. „Es ist so, leider: Historische Erfahrungen lassen sich nur schwer, wenn überhaupt, an die nächsten Generationen vermitteln“,473 konstatiert der Journalist 467 |

Ebd.: S. 61.

468 |

Vgl. Sennett 1991: S. 169-173.

469 |

Vgl. Welsch 2003: S. 57.

470 |

Ebd.: S. 57.

471 |

Ebd.

472 |

Ebd.: S. 58.

473 |

Brill, Klaus (4. Februar 2009): Scharfe Waffe am Englischen Garten. In: Süddeut-

sche Zeitung, S. 21.

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Klaus Brill im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung. „Im Erleben seines Zeitalters wird der Mensch ja stärker von den atmosphärischen Schwingungen, den Emotionen und Schrecken des Alltags mitgerissen als von den namhaften Ereignissen. Nach einer Zeitenwende, wie der Fall des Kommunismus 1989 sie darstellte, verschwinden aber diese Elemente der gewöhnlichen Geschichte sehr rasch. Es bleiben die markanten Daten und die großen Linien, die sich immer erst aus der Rückschau definieren. Wer also heute versucht, eine abgesunkene Epoche wie den Kalten Krieg zwischen Ost und West wieder ins Gedächtnis zu rufen, stellt sich eine schwere Aufgabe. Denn diese fast 40 Jahre währende Zeit der Propagandaschlachten und Geheimdienstcoups war besonders stark von dem geprägt, was der Autor Rolf Hochhuth einmal die ‚Atmosphärilien‘ einer Epoche genannt hat.“474 Zu den Atmosphärilien zählt Brill beispielsweise die Aktivitäten der Rundfunkstationen „Radio Free Europe“ und „Radio Liberty“, die während des Kalten Krieges von München aus in die Staaten des Ostblocks gesendet haben.475 Aus der ästhetischen Perspektive, die Welsch in seinen Texten entwickelt, lassen sich neben Prozessen auf einer übergeordneten Ebene auch Phänomene, Atmosphärilien und Eindrücke von Gruppen und Individuen in die Betrachtung eines bestimmten Zeitraums mit einbeziehen. Die grundlegende Annahme, dass die Aisthesis nicht nachrangig gegenüber dem Logos zu bewerten ist, sondern jede Form von Wahrnehmung als originäre Wahrheit aufgefasst werden muss, geht auf Theodor W. Adorno zurück und ist der Schlüssel zu den unterschiedlichen Aussagen, die in Interviews und Gesprächen getroffen werden.476 Während anerkannte Zeitzeugen wie ehemalige Politiker und besonders Hans-Jochen Vogel epochale Zusammenhänge wiedergeben können, erinnern die meisten Menschen vielmehr die eigene Gestimmtheit oder die ästhetische Qualität einer Situation „Wissen Sie, des war halt a G’schichte“, sagt die Münchnerin Adelheid Boeck über die Olympischen Spiele 1972, „ein Riesenhöhepunkt von München, gefühlsmäßig jetzt.“477

U RBANE A NTHROPOLOGIE UND HISTORISCHE E THNOGR APHIE „Am liebsten wollte ich immer ein Zimmer mit weitem Ausblick über Dächer oder Gleisanlagen. Blickmöglichkeiten über Bedachungen mit all dem Bedachten darunter, oder auf Gleise als Abreisemöglichkeiten in sämtliche Richtungen“,478 schreibt der Autor Andreas Neumeister über das Leben im München der 1970er und 1980er Jahre. „Meine Vorstellung von StadtLandschaft statt Land-Landschaft. Gewöhnliche Gleisanlagen, keine S-Bahngleise, denen man sofort ansieht, daß 474 |

Ebd.

475 |

Vgl. ebd.

476 |

Vgl. Welsch 2003: S. 56.

477 |

Interview mit Adelheid Boeck am 8. März 2010.

478 |

Neumeister, Andreas (2008 a): Salz im Blut. München 1990, S. 124-125.

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sie nur bis an den Rand der Vorort-Anhäufungen vorstoßen. Gewöhnliche StadtDächer müssten es sein, keine gewöhnlichen Reihenhausdächer, die sich in nichts von ländlichen Reihenhausdächern unterscheiden, ein Ausblick an den ich mich hängen kann, weil er Geschichte hat. Ein Ausblick über ein Gelände als Austragungsort von Geschichten. Viele der Bestandteile einer Großstadt sind nützlich und verstellen den Blick. Manche sind, genau betrachtet, überflüssig und verstellen den Blick trotzdem. Die Einrichtung einer Großstadt stelle ich mir anders vor. Gebäude sind keine Möbelstücke. Was mir fehlt, ist die Möglichkeit des direkten Eingriffs, wie ich sie in meiner Legostadt uneingeschränkt besaß. Drei Reihen Wohnblocks und eine Reihe hoher Gewerbebauten verstellen den ersehnten Blick auf die Gleisanlagen des Hauptbahnhofs. Rangierarbeiten. For every bottle they export, a Bavarian sheds a tear.“479 In seinem Roman „Salz im Blut” setzt sich Neumeister mit den Schichten und Strukturen des städtischen Gefüges auseinander. „Sprachgewaltig, sprachbewußt, auch experimentell, tastend und immer wieder überraschend“, kommentiert Harald Eggebrecht von der Süddeutschen Zeitung im Klappentext, „nimmt der Autor seine Leser mit auf eine assoziative, spürbar auch popgeschulte Stadttour.“480 Die Ethnographie zeichnet sich durch die Reflexivität ihres Vorgehens, die Vielzahl ihrer Perspektiven und eine empathische Nähe zu Feld und Gegenstand im Forschungsprozess aus. Dieser Ansatz spiegelt sich in einer methodischen Bandbreite, die sich gerade in den Kulturwissenschaften besonders ausgeprägt entwickelt hat und auch als Alleinstellungsmerkmal der Disziplinen betrachtet werden kann. „Perhaps the most characteristic product of anthropological work is ethnography; predominantly qualitative, richly contextualized accounts of human thought and action.“481 Die Einbindung konzeptueller Theorien ist ebenfalls Teil des anthropologischen Denkens.482 Während sich Fragestellungen analog zu den Themen immer weiter ausdifferenzieren, ist dem ethnographischen Zugang sozusagen per se ein Spektrum an Möglichkeiten inhärent, das historische Erscheinungen ebenso in den Blick nehmen lässt wie Phänomene der Gegenwart. Ulf Hannerz hält den Modus der Ethnographie deshalb auch für außerordentlich geeignet, um sich mit einem Organismus wie der Stadt zu befassen. „The specialties of anthropology which were taken for granted were a sensitivity to cultural diversity, the closeness to ongoing everyday life which comes with participant observation as a dominant research method, and a readiness to define problems broadly, ,holistically‘, rather than narrowly.”483 Die Stadt ist ein Raum von extremer Dichte, und genauso zahllos erscheinen die Möglichkeiten, sich mit der Stadt zu befassen. Am Exempel ei479 |

Neumeister 2008: S. 125.

480 |

Eggebrecht, Harald (2008 a): Klappentext. In: Neumeister.

481 |

Hannerz 1980: S. 8.

482 |

Vgl. ebd.: S. 9.

483 |

Ebd.: S. 3.

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ner Stadt lassen sich gesellschaftliche Prozesse beobachten und spezifische Phänomene ausmachen, in vieler Hinsicht ist eine Stadt als Knotenpunkt zu begreifen. Die Stadt ist auch aus akademischer Sicht ein besonderer Gegenstand. Disziplinen wie die Philosophie, die Geographie, die Architektur und die Raumplanung, die Kunst-, Kultur- Geschichts-, und Sozialwissenschaften setzen sich jeweils auf ihre eigene Weise mit der Stadt auseinander. Eine urbane Anthropologie betrachtet die Stadt aus einer ethnographischen Perspektive, die Herausforderung besteht vor allem in der empirischen Umsetzung dieses weiten Blicks. Wie kann ein solcher Ansatz angewandt und in Gestalt eines Textes wiedergegeben werden, um ein komplexes Gefüge wie die Stadt in einer adäquaten Weise abbilden zu können? „Much of what may be the usable past for the urban anthropology originated on the other side of academic boundaries, congenial as the ideas in question may now seem to an anthropological perspective. They must be appropriated for example from history, sociology, and geography. There is also the question of the relationship of the urban branch discipline to anthropology as whole.”484 Hannerz verfolgt in seiner Studie „Exploring the City. Inquiries Toward an Urban Anthropology“ nicht nur die Genese der urbanen Anthropologie, sondern richtet sein Interesse auf das Spektrum an Zugängen, die in einem kulturwissenschaftlichen Sinn angeeignet werden können. „At the same time it must be understood that our very way of selecting and conceptualizing phenomena may in itself be a contribution of anthropology to urban studies. Urban anthropological thought is fundamentally anthropological thought. Both what may be original about it and what will be borrowed from other sources (and thereafter possibly transformed) are determined by the confrontation of the anthropological mind with urban realities.”485 Ausgehend von der Idee, dass sich die urbane Anthropologie in erster Linie durch ihren Zugang auszeichnet, sind für eine kulturwissenschaftliche Beschäftigung mit der Stadt zunächst einmal sämtliche Ansätze, Quellen und Materialien relevant. Mit dem generellen Verständnis von Kultur als Gewebe selbstgesponnener Bedeutungen können und müssen auch Arbeiten aus dem Bereich der Literatur, des Theaters, des Films, der Fotografie oder der Werbung in die kulturwissenschaftliche Betrachtung der Stadt einbezogen werden. Dabei setzt die Beschäftigung mit der Kunst wie jedes andere Gebiet entsprechende Kenntnisse voraus, die eine Auseinandersetzung möglich machen, während sich auch Künstlerinnen und Künstler in Artefakten und Installationen, Bühnenstücken und Objekten immer ausdrücklicher auf ethnographisches Wissen beziehen.486 Die seit 2006 in Hamburg bestehende HafenCity Universität für Baukunst und Metropolenentwicklung verfolgt als Institution ein transdisziplinäres Konzept und erprobt mit dem Studiengang „Kultur der Metro-

484 |

Ebd.: S. 4.

485 |

Ebd.: S. 6.

486 |

Vgl.http://www.stadttheaterbremerhaven.de/web/repertoire/beschreibungen/2010_

06_23_08_27_17_Odyssee__Heimat__internationales_Theaterfestival.html, (19. Juli 2011).

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pole“ eine „Verbindung von Theorie, Praxis und Projektarbeit“487, die im Wesentlichen auf einem ethnographischen Blick basiert auf dem Gebiet der kultur- und sozialwissenschaftlichen Stadtforschung lassen sich gegenwärtig drei Wege unterscheiden; Hannerz spricht in seiner grundlegenden Einteilung von zwei Varianten und betrachtet die Stadt als Lokus oder als Fokus der Untersuchung.488 Einmal konzentrieren sich die Fragestellungen auf bestimmte Viertel oder abgegrenzte Themen im Kontext einer Stadt. Auf diesem Gebiet sind die Studien von Henry Mayhew und die Reportagen von George Booth, die sich im 19. Jahrhundert als Pioniere mit der alltäglichen Armut in London beschäftigt haben, ebenso zu nennen wie die Arbeiten von Robert Ezra Park und der Chicago School of Urban Sociology, die seit den 1920er Jahren in den USA entstehen.489 Ein Klassiker ist in dem Kontext auch William Foote Whytes Untersuchung der Street Corner Society aus dem Jahr 1943. Das Areal, das der Soziologe betrachtet, befindet sich in einem mehrheitlich von italienischen Migrantinnen und Migranten bewohnten Stadtviertel von Boston. Das Buch ist vor allem wegen der dichten Beschreibung des Feldes und seiner Akteure, den College Boys und den Corner Boys, sowie dem Appendix bekannt, in dem Whyte seine eigene Position, die verwendeten Methoden und Probleme im Feld reflektiert.490 Viele der amerikanischen Studien befassen sich mit den Bewohnerinnen und Bewohnern von Arealen, die gesellschaftlich und ökonomisch am Rand der Städte angesiedelt sind. Die Kulturanthropologin Gisela Welz hat sich in den 1990er Jahren mit dem alltäglichen Leben einer Nachbarschaft in Bushwick, Brooklyn/New York auseinandergesetzt. Aus einer ethnographischen Perspektive hat sie sich den Menschen, ihrem Denken und Handeln angenähert und eine überaus vielschichtig angelegte Studie über die Netzwerke des Quartiers verfasst.491 Die Kulturwissenschaftlerin Barbara Lang thematisiert die Entwicklung des Berliner Stadtteils Kreuzberg nach dem Mauerfall.492 Neben dem allgemeinen Wandel, der sich erst einmal in den Räumen des Viertels ausmachen lässt, fragt sie nach den Bildern der Stadt seit 1990 und betrachtet Transformationen in Biographien der linken Szene, die in ihrer Entwicklung eng mit Kreuzberg verbunden ist. 487 |

http://www.hcu-hamburg.de/bachelor/kultur-der-metropole/, (10. Oktober 2011).

488 |

Vgl. Hannerz 1980: S. 3-4 und Moser, Johannes; Egger, Simone (2012): Stadt-

ansichten. Zugänge und Methoden einer urbanen Anthropologie. In: Moser, Johannes; Hess, Sabine; Schwertl, Maria (Hg.): Europäisch-ethnologisches Forschen. Neue Methoden und Konzepte. Berlin, S. 175-204. 489 |

Lindner, Rolf (2004): Walks on the Wild Side. Eine Geschichte der Stadtforschung.

Frankfurt am Main. 490 |

Vgl. White, William Foote (1981): Street Corner Society. The Social Structure of an

Italian Slum. 4. Aufl. Chicago 1943. 491 |

Vgl. Welz, Gisela (1991): StreetLife. Alltag in einem New Yorker Slum. (Kulturanthro-

pologie Notizen, 36) Frankfurt am Main. 492 |

Lang, Barbara (1998): Mythos Kreuzberg. Ethnographie eines Stadtteils 1961-

1995. Frankfurt am Main; New York.

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Der Prozess der Gentrifizierung, dabei geht es vor allem um die Bewertung eines Stadtteils nach den Kriterien des Marktes, wird in diesem Kontext als idealtypischer Vorgang angesehen, der sich an einem konkreten Ort ereignet und sich den jeweiligen Bedingungen entsprechend modifiziert. Die andere Forschungsrichtung, die in erster Linie danach fragt, wie sich das Urbane und die Stadt insgesamt artikulieren, lässt sich ebenso durch die Zeit verfolgen. Angefangen bei Georg Simmel und seiner Abhandlung über die „Großstädte und das Geistesleben“493 oder Max Webers Typologie der Städte494 bis zu den sechs Diskursen der Postmetropolis, die der amerikanische Geograph Edward Soja aus Studien zur Stadt der Postmoderne ableitet495 , setzen sich die Arbeiten mit urbanen Prozessen und Phänomenen in sich verändernden Konstellationen auseinander. Ulf Hannerz befasst sich mit der Transnationalisierung städtischer Räume in den 1990er Jahren496, die amerikanische Sozialwissenschaftlerin Sharon Zukin fragt nach der Bedeutung von Performanz und Inszenierung im Zusammenspiel mit der Ökonomie einer Stadt497. In dem Rahmen sind auch die Arbeiten zu erwähnen, die eine städtische Biographie als komplexe Erzählung präsentieren. Der britische Literaturwissenschaftler Peter Ackroyd hat die Genese von London in einem gewaltigen Kompendium zusammengefasst498, der niederländische Journalist Geert Mak verfolgt die Entwicklung von Amsterdam durch die Jahrhunderte499 . Als paradigmatisch für die Möglichkeiten einer umfassenden, theoretischen und dabei stets zum konkreten Ort zurückkehrenden Auseinandersetzung mit der Stadt, kann die Studie von Mike Davis gelten. In seinem Buch „City of Quartz“ setzt sich der amerikanische Forscher mit der Sozial- und Kulturgeschichte von Los Angeles seit den Anfängen bis in die Gegenwart der 1990er Jahre auseinander.500 Einem dritten Forschungsbereich geht es in der Hauptsache um die Spezifik verschiedener Städte. Die theoretischen Grundlagen für diese Studien liefert Rolf 493 |

Vgl. Simmel 1903.

494 |

Vgl. Weber 1980.

495 |

Vgl. Soja, Edward W. (2000): Postmetropolis. Critical Studies of Cities and Regions.

Oxford. 496 |

Vgl. Hannerz, Ulf (1993): The Cultural Role of World Cities. In: Cohen, Anthony P.;

Fukui, Katsuyoshi (Hg.): Humanising the city? Social Contexts of Urban Life at the Turn of the Millenium. Edinburgh, S. 67-84. 497 |

Vgl. Zukin, Sharon (1998): Städte und die Ökonomie der Symbole. In: Göschel,

Albrecht; Kirchberg, Volker (Hg.): Kultur in der Stadt. Stadtsoziologische Analysen zur Kultur. Opladen, S. 27-40. 498 |

Vgl. Ackroyd, Peter (2002): London. Die Biographie. München.

499 |

Vgl. Mak, Geert (2006): Amsterdam: Biographie einer Stadt. München.

500 |

Vgl. Davis, Mike (2006): City of Quartz. Ausgrabungen in der Stadt der Zukunft. 4.

Aufl. Berlin; Göttingen.

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Lindner im kulturwissenschaftlichen Bereich mit dem Konzept des Habitus501 oder seinen Ausführungen zu einer kulturellen Textur502 der Stadt, während Martina Löw und Helmuth Berking für die Sozialwissenschaften mit der Eigenlogik503 von Städten argumentieren. In einem Projekt mit Studierenden der HU Berlin setzen Rolf Lindner und Johannes Moser das Bild von Dresden und seinen Dispositionen als Mosaik aus Bildern, Orten und Praktiken zusammen.504 Lutz Musner entwickelt mit Lindner die Idee der Geschmackslandschaften505 und spürt dem besonderen „Geschmack von Wien“506 in einer diskursanalytischen Studie zu Kultur und Habitus der österreichischen Hauptstadt nach. Die drei Linien des stadtanthropologischen Forschens folgen idealtypischen Konzepten, in der Regel konzentrieren sich die Arbeiten auf einen der genannten Schwerpunkte und schließen doch immer auch andere Aspekte mit ein. Untersuchungen zu einzelnen Themen und Facetten bilden wichtige Grundlagen für die Beschäftigung aus einer breit angelegten Perspektive und gehen gleichzeitig ineinander auf. Barbara Langs Band zum „Mythos Kreuzberg“ nimmt einen städtischen Schlüsselort und genauso die Entwicklung der gesamten Stadt in den Blick. Das von der Kulturwissenschaftlerin Alexa Färber in den „Berliner Blättern“ des Instituts für Europäische Ethnologie an der HU Berlin herausgegebene Heft „Stoffwechsel Berlin. Urbane Präsenzen und Repräsentationen“ beschäftigt sich in einzelnen Beiträge mit verschiedenen Topoi.507 Im städtischen Gewebe lassen sich gesellschaftliche Diskurse, urbane Phänomene und analog auch manifeste Äußerungen unterschiedlicher Epochen beobachten, darüber hinaus hängt die Genese einer Stadt immer mit den Auswirkungen von Industrialisierung und Globalisierung zusammen; ein städtischer Organismus ist kein selbstreferentielles System. Wirkmächtig scheint bei diesen Entwicklungen stets die charakteristische Prägung einer Stadt, die in besonderen Eigenschaften, sichtbaren Zeichen und immer auch in Prozessen und Phänomenen zum Ausdruck kommt. In diesem Sinn versteht sich die vorliegende Studie als eine Anthropology of the City. Der britische Geograph Donald McNeill hat sich im Rahmen seiner Dissertation mit der Entwicklung von Barcelona Anfang der 1990er Jahre befasst, „[t]he New Barcelona: modern, efficient, ‚cosmopolitan‘ (due largely to the huge weight of tourists pressing down on its delicately tiled pavements rather than to any striking ethnic diversity), a model of how cities should look in the New Europe. And this 501 |

Lindner 2003 b.

502 |

Lindner 2008 b.

503 |

Berking; Löw 2005 und 2008.

504 |

Vgl. Lindner; Moser 2006.

505 |

Lindner; Musner 2005.

506 |

Vgl. Musner 2009.

507 |

Vgl. Färber, Alexa (Hg.) (2010): Stoffwechsel Berlin. Urbane Präsenzen und Reprä-

sentationen. Berliner Blätter, 53.

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explains its popularity with the European centre-left, consummate consumers of fine food and architecture, and anxious to retain the city as a focus of activity”508. Der Geograph betrachtet die einzelnen Entwicklungslinien auf der Folie einer bestimmten Stadt, auch wenn der Habitus von Barcelona in theoretischer Hinsicht keine Rolle spielt. Zunächst beschreibt McNeill die politische Situation und skizziert Momente in der Geschichte der spanischen Stadt, diese Informationen dienen als Basis und ebenso als Referenzrahmen für weitere Überlegungen. Der Geograph geht in seiner Arbeit von der Annahme aus, dass sich die europäische Stadt der 1990er Jahre zwar über ein System von sozialdemokratisch oder im Fall von Spanien sozialistisch eingefärbten Symbolen und Charakteristika präsentiert, sich im Grunde jedoch mehr und mehr von einer linken Politik entfernt. Anhand von dokumentarischen Materialien und literarischen Texten wie etwa von dem Schriftsteller und Journalisten Manuel Vázquez Montalbán, der nicht nur seinen Kommissar Pepe Carvalho in und um Barcelona recherchieren und dabei den Fragen der Stadt nachgehen lässt, zeigt McNeill, wie sich die Stadt im Verlauf der 1980er und 1990er Jahren verändert. Nach dem Ende der Franco-Ära setzen in Barcelona extreme Prozesse der Internationalisierung, Modernisierung, Gentrifizierung und auch Ästhetisierung ein. Der Geograph folgt Vásquez Montalbáns Interesse an Persönlichkeiten, die als vormals marxistische Aktivistinnen und Aktivisten in großer Zahl zum sprichwörtlichen Marsch durch die Institutionen angetreten sind, um in den 1990er Jahren geradezu als Anwälte des modernen Kapitalismus zu agieren und auch im organisatorischen Umfeld von Olympia 1992 wieder zu finden sind.509 Der Brite analysiert die politischen Beziehungen von Stadt und Region – welche Zugeständnisse macht zum Beispiel der sozialistische Oberbürgermeister von Barcelona an die konservative Landesregierung – und kann zeigen, dass sich die Identität der Region nachhaltig verändert. Weiter geht es um die Grundwerte des Sozialismus, McNeill stellt Äußerungen und Handlungen vergleichend gegenüber und befasst sich mit Bürgerbegehren, Initiativen, außerparlamentarischen Gruppen und deren Kritik an unsozial erscheinenden Beschlüssen. Die Genese der Linken konterkariert er mit Texten aus der Biographie von Manuel Castells. Der Sozialwissenschaftler übt in den 1970er Jahren enormen Einfluss auf die Stadtplanung aus, entwickelt Raumkonzepte in gewaltigen Dimensionen und ist mitunter auch direkt in politische Entscheidungen involviert. Im letzten Kapitel spricht McNeill über die Ausstattung des neuen Barcelona, über die Interpretation der räumlichen Ordnung auf Seiten der politischen Linken. Welches Interieur ist nötig, um als moderne, europäische Stadt zu erscheinen? Nicht nur die Öffnung des städtischen Raums über die Ramblas zum Meer, das vorher von der Stadt getrennt ist, sondern auch die Bauten weltbekannter Architekten wie Frank Gehry oder auch Jean Nouvel, die Betonung lokaler Baumeister wie Antonio Gaudí mit seinem unverwech508 |

McNeill, Donald (1999): Urban change and the European Left. Tales from the New

Barcelona. London; New York, S. 1. 509 |

Vgl. ebd.

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selbaren Stil, die Rekonstruktion des richtungweisenden deutschen Pavillons, den Mies van der Rohe für die Weltausstellung von 1929 entworfen hat, Mitte der 1980er Jahre oder die extensive Beschäftigung mit dem Thema Kunst im öffentlichen Raum tragen die Anmutung des neuen Barcelona nach außen.510 Ohne ihre Biographie ist eine Stadt nicht zu verstehen, die Betrachtung einer bestimmten Phase setzt eine weitaus umfassendere Auseinandersetzung mit der Stadt und ihrer Vergangenheit voraus. Unter der Überschrift „Im Raume lesen wir die Zeit“, ein Verweis auf den Geographen Friedrich Ratzel, stellt der Historiker Karl Schlögel die Bedeutung des Ortes für die empirische Forschung heraus und denkt auch auf einer theoretischen Ebene über Geschichte als Wissenschaft nach. Schlögel befasst sich mit der Rolle von Städten wie Moskau oder St. Petersburg in verschiedenen Zeitabschnitten und misst der Verortung der Ereignisse in seinen Studien besondere Bedeutung zu. „Immer erwies sich der Ort als der angemessenste Schauplatz und Bezugsrahmen, um sich eine Epoche in ihrer ganzen Komplexheit zu vergegenwärtigen. Der Ort selbst schien Komplexheit zu verbürgen. Der Ort hatte ein Vetorecht gegen die von der Disziplin und von der arbeitsteiligen Forschung favorisierte Parzellierung und Segmentierung des Gegenstandes. Der Ort hielt den Zusammenhang aufrecht und verlangte geradezu die gedankliche Reproduktion des Nebeneinander, der Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit. Der Bezug auf den Ort erhielt insgeheim immer ein Plädoyer für eine histoire totale – wenigstens als Idee, als Zielvorstellung, auch wenn es in der konkreten Ausführung vielleicht nicht gelungen sein mochte.“511 An Schlögels Vorgehen lässt sich nicht nur die Aufwertung der räumlichen Dimension im Zuge des spatial turn beobachten, gerade im Umgang mit Materialien und Methoden sind auch die Effekte eines cultural turn512 auszumachen. „Das brachte große Schwierigkeiten mit sich – man brauchte andere Quellen und mußte schon bekannte Quellen ganz neu erschließen –, eröffnete aber auch ganz neue Formen der Darstellung. Topographisch zentrierte Geschichtsschreibung leitet sich primär aus dem Gegenstand ab und nicht aus der Absicht, eine ‚trockene Geschichte‘ mit ein bisschen Lokalkolorit oder Aroma zu versehen.“513 Am Anfang seiner Studie über Los Angeles zitiert Mike Davis den Philosophen Walter Benjamin: „Der oberflächliche Anlaß, das Exotische, Pittoreske wirkt nur auf Fremde. Als Einheimischer zum Bild einer Stadt zu kommen, erfordert andere, tiefere Motive. Motive dessen, der ins Vergangene statt ins Ferne reist. Immer wird das Stadtbuch des Einheimischen Verwandtschaft mit Memoiren haben, der 510 |

Vgl. ebd.

511 |

Schlögel, Karl (2003): Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte

und Geopolitik. München; Wien, S. 10. 512 |

Iggers, Georg G. (2007): Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Göttingen.

513 |

Schlögel 2003: S. 10-11.

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Schreiber hat nicht umsonst seine Kindheit am Ort verlebt.“514 Benjamins Aussage lässt sich dahingehend interpretieren, dass die Beschäftigung mit einem Thema entsprechend Zeit braucht und eine unmittelbare Nähe zu Feld und Gegenstand erfordert. Die Forscherin oder der Forscher muss eine Intensität entwickeln, um die Stadt auch selbst zu spüren. Die vorliegende Auseinandersetzung mit München und dem Befinden der Bewohnerinnen und Bewohner in den langen 1960er Jahren ist sowohl einer urbanen Anthropologie als auch der historischen Ethnographie zuzuordnen, in der Überlagerung verdichten sich die Zugänge und methodischen Möglichkeiten. Der Kulturwissenschaftler Jens Wietschorke befasst sich eingehend mit der Frage, was die ethnographische Auseinandersetzung mit der Geschichte auszeichnen kann. Anders als die Kulturwissenschaftlerin Michaela Fenske in ihrem viel beachteten Aufsatz „Mikro, Makro, Agency. Historische Ethnographie als kulturanthropologische Praxis“515, geht Wietschorke davon aus, dass die Feldforschung als Methode der aktiven oder passiven Teilhabe nicht auf gewesene Situationen anwendbar ist. Das Interesse der Forschung gilt doch nicht dem „Spannungsverhältnis zwischen Gegenwart und Vergangenheit“516 und damit auch nicht den „[...] Befremdungen und Irritationen, denen der [oder die] Forschende ausgesetzt ist, sondern einzig und allein [...] [dem] Spannungsverhältnis der historischen Akteure untereinander“517. Angelehnt an den Kulturwissenschaftler Andreas Reckwitz macht Wietschorke deutlich, dass Diskurse niemals abgehoben von Praktiken zu sehen sind, und somit auch die Analyseebenen nicht unabhängig voneinander betrachtet werden können.518 „Diese Vorgehensweise historischer Ethnografie lebt also von einem doppelten – nämlich zugleich praxeologischen und diskursanalytischen Zugriff: In den Texten formulierte Bedeutungen verweisen auf Handlungen, diese verweisen wieder auf mehr oder weniger kohärente Muster von Deutungen und Bedeutungen. Die Logik der Situation erschließt sich aber erst durch die Art und Weise, wie sich solche Diskurs-Praxis-Dispositive als Produkte von Beziehungen der Akteure untereinander entfalten.“519 Studien aus den Geschichtswissenschaften bilden nicht nur zentrale Ausgangspunkte für die kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Stadt, die Historiographie bezieht selbst zusehends ethnographische Parameter in ihre Überlegungen ein. Mit den Ideen der französischen Annales Schule um die Historiker Marc Bloch und Fernand Braudel in den 1920er Jahren haben sich im Verlauf des 514 |

Davis 2006.

515 |

Vgl. Fenske, Michaela (2006): Mikro, Makro, Agency. Historische Ethnografie als

kulturanthropologische Praxis. In: Zeitschrift für Volkskunde, Jg. 102, S. 151-177. 516 |

Wietschorke, Jens (2011): Historische Ethnografie. Möglichkeiten und Grenzen ei-

nes Konzepts. In: Zeitschrift für Volkskunde, Jg. 106, S. 197-224. Hier: S. 212. 517 |

Wietschorke 2011: S. 212.

518 |

Vgl. ebd.: S. 210-211.

519 |

Ebd.: S. 212.

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20. Jahrhunderts neben der Ereignis- und der Ideengeschichte auch mentalitätsund strukturgeschichtliche Vorgehensweisen etabliert.520 Eine Hauptlinie der Forschung in Deutschland markiert die Sozial- und Gesellschaftsgeschichte der Bielefelder Schule, die besonders Hans Ulrich Wehler vertritt.521 Entgegen dieser Ausrichtung werden in den 1970er Jahren dezidiert anthropologische Ansätze aufgegriffen, und wie der Historiker Peter Burke erklärt, hat sich seit den 1980er Jahren eine Neue Kulturgeschichte ausgebildet, die im Gegensatz zur Kulturgeschichte keine Geschichte der Ideen und Konzepte, sondern eine kulturwissenschaftlich angelegte Historiographie meint und sowohl von einem weiten Kulturbegriff ausgeht als auch kulturtheoretische Ansätze mit einbezieht. Burke verweist in seinem breit angelegten Forschungsstand ebenso auf Entwicklungen in der Kunstgeschichte und beleuchtet Verknüpfungen der Geschichtswissenschaften mit den britischen und amerikanischen Cultural Studies. „Die Einflüsse der Anthropologie im allgemeinen und von Clifford Geertz im besonderen sind heute noch spürbar, doch die sogenannte Neue Kulturgeschichte hat mehr als eine Inspirationsquelle. Sie ist eklektischer, sowohl auf kollektiver als auch auf individueller Ebene.“522 Eine der bedeutendsten Vertreterinnen dieses Denkens ist die amerikanische Historikerin Natalie Zemon Davis.523 Der Historiker Alf Lüdtke vertritt eine Form der Alltagsgeschichtsschreibung, die sowohl Dynamiken des Wandels als auch Widersprüchlichkeiten historischer Transformationen in den Blick nimmt. „In dieser Auffassung gelten alltagsgeschichtliche Rekonstruktionen nicht nur den Situationen des täglichen Über-Lebens (und des momentanen Auslebens). Vor allem zeigen sie, in welcher Weise die Beteiligten Objekte und zugleich Subjekte waren bzw. werden konnten.“524 Prozesse werden immer von Akteurinnen und Akteuren wahrgenommen, in Gang gesetzt, angeeignet oder auch abgelehnt. Dabei geht es einer entsprechenden Studie nicht um die Erhebung des gesellschaftlichen Durchschnitts. „In den Vordergrund treten vielmehr die vielfältigen Ausdrucksweisen, in denen einzelne wie Gruppen ihre Kosten- und Nutzenabwägungen anmelden – oder verschweigen, sie durchsetzen aber auch blockieren. Zu zeigen ist, wie gesellschaftliche Zumutungen oder Anreize als Interessen und Bedürfnisse, aber auch als Ängste und Hoffnungen 520 |

Vgl. Middell, Matthias; Sammler, Steffen (Hg.) (1994): Alles Gewordene hat Ge-

schichte. Die Schule der Annales in ihren Texten 1929-1992. Leipzig. 521 |

Vgl. Wehler, Hans Ulrich (2010): Deutsche Gesellschaftsgeschichte (Band 1-5).

München. 522 |

Burke, Peter (2005): Was ist Kulturgeschichte? Frankfurt am Main, S. 75.

523 |

Vgl. Zemon, Davis Natalie (2002): Slaves on Screen. Film and Historical Vision.

Cambridge. 524 |

Lüdtke, Alf (1989): Einleitung: Was ist und wer treibt Alltagsgeschichte. In: Lüdtke,

Alf (Hg.): Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen. Frankfurt am Main; New York, S. 9-47. Hier: S. 11.

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wahrgenommen, bearbeitet – dabei zugleich hervorgebracht werden.“525 Auch wenn die soziale Praxis im Brennpunkt der Überlegungen steht, kann sich, wie Lüdtke in Anlehnung an den britischen Historiker Edward P. Thomson ausführt, letztlich doch niemand dem gesellschaftlichen field-of-force entziehen.526 Obgleich sie niemals unabhängig agieren, bestimmen Akteurinnen und Akteure selbst die Bedingungen und sind nicht nur Zwängen und Konstellationen unterworfen. „Individuen und Gruppen formen das Profil ihrer Wahrnehmungs- und Handlungsweisen nicht jenseits, sondern in und durch gesellschaftliche Beziehungen.“527 Der oder die Forschende hat seinen kolonialen Blick aufzugeben, die Sichtweise zu dezentrieren und auch nach der Konstruktion der eigenen Bilder zu fragen. Historische Prozesse müssen auseinandergesetzt und nicht wiedergegeben werden. Objektivität ist keine feste Größe, sondern ein Näherungswert und setzt bei aller Wahrung der Distanz auch Perspektivenwechsel und Empathie zu Feld und Gegenstand voraus.528 „Der intellektuelle Reiz künftiger Forschungen besteht darin“, wie der Historiker Anselm Doering-Manteuffel meint, „nicht nur das Geschehen darzustellen und zu systematisieren, nicht nur Strukturwandel, Zeitstimmung und die gesellschaftliche Wahrnehmung des Umbruchs zu beschreiben, sondern auch die Verschiebungen auf der Metaebene durch Analyse der epistemologischen Leitbegriffe zu untersuchen. Wir sind vor die Aufgabe gestellt, die Welt aus der wir kommen, und mithin uns selbst mit all unseren Orientierungsmustern und Ordnungsannahmen in einen geschichtlichen Prozeß einzuordnen, der als abgeschlossen zu klassifizieren ist.“529 Doering-Manteuffel argumentiert in diesem Zusammenhang außerdem, dass „[e]s [...] erforderlich [ist], die gegenwartsnahe Vergangenheit strikt zu historisieren, um die ‚Zeit nach dem Boom‘ in den Verlauf des 20. Jahrhunderts einordnen zu können“530, und das kann auch für die 1950er bis 1970er Jahre gelten. Im Hinblick auf Bayern und München konzentriert sich die zeitgeschichtliche Forschung im Besonderen auf Ereignisse und Entwicklungen bis 1945. Mit den darauf folgenden Jahrzehnten befassen sich bisher nur wenige Studien. Im Handbuch der Bayerischen Geschichte liefert der Historiker Karl-Ulrich Gelberg gleichwohl einen dezidierten Überblick zur Entwicklung des Landes in der Ära des Ministerpräsidenten Alfons Goppel.531 Der Historiker Stephan Deutinger verfolgt in einer grundlegen525 |

Lüdtke 1989: S. 11.

526 |

Vgl. ebd.

527 |

Ebd.: S. 11-12.

528 |

Ebd.: S. 14.

529 |

Doering-Manteuffel, Anselm (2007): Nach dem Boom. Brüche und Kontinuitäten

der Industriemoderne seit 1970. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte. 55. Jg., S. 559-581. Hier: S. 581. 530 |

Doering-Manteuffel 2007: S. 581.

531 |

Vgl. Gelberg 2003.

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den Arbeit den Weg Bayerns „Vom Agrarstaat zum Hightechstandort“532; die Historikerin Martina Heßler nimmt die Entwicklung der „kreativen Stadt“ und ihrer Standorte in den Blick.533 Mit München in den 1960er Jahren setzt sich Gerhard Fürmetz auseinander, der Historiker befasst sich mit den „Schwabinger Krawallen“ im Sommer 1962 und untersucht die Demonstrationen anlässlich der erweiterten Ladenöffnungszeiten Anfang der 1950er Jahre.534 Die Historikerin Elisabeth Zellmer setzt sich mit der Frauenbewegung im München der 1970er Jahre auseinander.535 Aspekte des Protests in der Stadt nach 1945 beleuchtet der Sammelband, den die Soziologin Zara Pfeiffer herausgegeben hat.536 Zum Alltag von Stadt und Region liegen für den Zeitraum der langen 1960er Jahre bisher keine Arbeiten vor. Der Historiker Ferdinand Kramer hat sich nicht nur im Rahmen seiner Antrittsvorlesung an der Ludwig-Maximilians-Universität programmatisch mit Bayern, München und den Olympischen Spielen von 1972 befasst537, auch in Zeitzeugengesprächen und Seminaren am Lehrstuhl für Bayerische Geschichte werden Entwicklungen und Erscheinungen der 1960er bis 1980er Jahre thematisiert.538 Aus einer Übung am Institut für Bayerische Landesgeschichte ist im Oktober 2010 eine Ausstellung mit dem Titel „München ‘72“ entstanden; unter der Leitung des Historikers Josef Kirmeier haben Doktorandinnen und Studierende über drei Semester an den Inhalten gearbeitet und in Kooperation mit dem Haus der Bayerischen Geschichte und dem Institut für Bayerische Geschichte eine Präsentation in den Räumen des Bayerischen Hauptstaatsarchivs gestaltet. Das Begleitheft nähert sich den Sommerspielen unter verschiedenen Gesichtspunkten von Sport bis hin

532 |

Vgl. Deutinger 2001.

533 |

Vgl. Heßler 2007.

534 |

Vgl. Fürmetz, Gerhard (Hg.) (2006): „Schwabinger Krawalle“. Protest, Polizei und

Öffentlichkeit zu Beginn der 60er Jahre. Essen und Vortrag von Gerhard Fürmetz, Archivoberrat am Bayerischen Hauptstaatsarchiv, zum Thema „Gewehrkolben für Geschäftszeiten. Die Ladenschlussunruhen von 1953/54 und die Polizei“ im Bayerischen Hauptstaatsarchiv am 19. April 2011. 535 |

Vgl. Zellmer, Elisabeth (2011): Töchter der Revolte? Frauenbewegung und Feminis-

mus der 1970er Jahre in München. (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, 85) München. 536 |

Vgl. Pfeiffer, Zara (Hg.) (2011): Auf den Barrikaden. Proteste in München seit 1945.

München. 537 |

Vgl. Kramer 2008 und Kramer, Ferdinand (2010): München – Bayerische Landes-

hauptstadt mit Anspruch auf Weltstadt. In: Pfister, Peter (Hg.): Für das Leben der Welt. Der Eucharistische Weltkongress 1960 in München. Regensburg, S. 31-42. 538 |

Vgl. Zeitzeugenforum mit Hans-Jochen Vogel am Institut für Bayerische Geschichte

der Ludwig-Maximilians-Universität München am 3. Juni 2004 und Hauptseminare von Prof. Dr. Ferdinand Kramer.

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zur Gestaltung.539 Beinahe zeitgleich haben der Historiker Kay Schiller und sein britischer Kollege Christopher Young eine Studie vorgelegt, die Grundlegendes zu Olympia festhält und die politischen Verstrickungen der Spiele in München aufzeigt. Die Argumentation der Arbeit richtet sich in erster Linie auf die Bedeutung des Nationalen und rekurriert auf der Idee eines „Making Modern Germany“.540 Eine Studie, die sich in einer ganzheitlichen Weise mit einer Stadt befasst, betrachtet viele Aspekte und bedarf der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Arbeiten, um Bedingungen ausloten, Vergleiche ziehen und Themen diskutieren zu können. Die Historikerin Adelheid von Saldern liefert einen generellen Überblick zu der Entwicklung von Stadt und Gesellschaft in der Bundesrepublik.541 In einem ebenfalls von ihr herausgegebenen Sammelband stellt der Historiker Jan Logemann Fußgängerzonen in europäischen und US-amerikanischen Städten gegenüber.542 Mit dem Zusammenspiel von Politik, Jugend und Konsumkultur in der Bundesrepublik setzt sich der Historiker Detlef Siegfried auseinander.543 Axel Schildt von der Hamburger Forschungsstelle für Zeitgeschichte befasst sich in verschiedenen Publikationen mit den 1960er Jahren, ein mit Detlef Siegfried und dem Historiker Karl Christian Lammers veröffentlichter Sammelband thematisiert politische Tendenzen und Prozesse, die sich in den langen 1960er Jahren in der Bundesrepublik und in der DDR ausmachen lassen.544 Der Sozialwissenschaftler Wolfgang Kraushaar diskutiert vorwiegend Ereignisse und Positionen um das Jahr 1968.545 Auch der Schweizer Historiker Jakob Tanner befasst sich in einem Aufsatz mit dem Schlüsseljahr, sein Thema ist der Protest in der Stadt. In seinen Arbeiten fragt Tanner außerdem nach der Rolle von Emotionen in der Gesellschaft.546 539 |

Vgl. Haus der Bayerischen Geschichte (Hg.) (2010): München ‘72 (Edition Bayern,

Sonderheft 2). 540 |

Vgl. Schiller, Kay; Young, Christopher (2010): The 1972 Munich Olympics and the

making of modern Germany. Berkley; Los Angeles; London. 541 |

Vgl. Saldern 2006.

542 |

Vgl. Logemann, Jan (2006): Einkaufsparadies und „Gute Stube“. Fußgängerzonen

in westdeutschen Innenstädten der 1950er bis 1970er Jahre. In: Saldern, Adelheid von (Hg.): Stadt und Kommunikation in bundesrepublikanischen Umbruchszeiten. (Beiträge zur Kommunikationsgeschichte, 17) Stuttgart, S. 103-122. 543 |

Vgl. Siegfried, Detlef (2006): Time Is on My Side. Konsum und Politik in der west-

deutschen Jugendkultur der 60er Jahre. Göttingen (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, 41). 544 |

Vgl. Schildt; Siegfried; Lammers 2000.

545 |

Vgl. Kraushaar 1998.

546 |

Vgl. Tanner, Jakob (2008): Unfassbare Gefühle: Emotionen in der Geschichtswis-

senschaft vom Fin de siècle bis in die Zwischenkriegszeit. In: Jensen, Uffa; Morat, Daniel (Hg.): Rationalisierungen des Gefühls: zum Verhältnis von Wissenschaft und Emotionen 1880-1930. Paderborn, S. 35-59 und Tanner, Jakob; Linke, Angelika (2008): Zürich

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Nach einer Phase der rationalen Distanziertheit, die auch mit der Vergangenheit der Volkskunde und der Geschichte zusammenhängt, schließlich haben Vertreter beider Disziplinen die Ideologie des Nationalsozialismus mit ihren Beiträgen zur Volksseele oder dem Wesen des Bauern maßgeblich gespeist, finden ästhetische Qualitäten sowohl in den Geschichts- als auch in den Kulturwissenschaften mehr und mehr Beachtung. Grundlegendes zu Ästhetik und Atmosphäre legen seit den 1990er Jahren vor allem die Philosophen Gernot Böhme und Wolfgang Welsch vor, ihre Gedanken lassen sich unmittelbar mit der empirischen Ebene verknüpfen.547 Im Rahmen der „Natalie Zemon Davis Annual Lectures“ an der Central European University in Budapest hat die Historikerin Ute Frevert, die am Max-Planck-Institut in Berlin einen Forschungsbereich zur Geschichte der Gefühle leitet, im Jahr 2009 ein Symposium zum Thema „Emotions in History: Lost and Found“ veranstaltet.548 Der Historiker Lutz Niethammer spricht sich ebenfalls für eine Form der Historiographie aus, die auf der „Reintegration der ästhetischen Wahrnehmung in die sozialhistorische Forschung und [die] Transformation historischer Erkenntnis und Interpretation aus einem literarischen Produkt in einen sozialen Prozeß“549 basiert. „Wie wird München von seinen Bewohnern, wie von Fremden gesehen? Wie wird dort der Alltag erfahren? In welchen Bildern lebt die Stadt, das Quartier, die Straße beim alltäglichen Lebensvollzug? Unter welchen Bedingungen? Und welchen Einfluß haben sie auf die täglichen Lebenserscheinungen?“550 Ausgehend von Helge Gerndts Aufforderung, den kulturwissenschaftlichen Blick nicht nur Funktionen, sondern mehr noch der Wahrnehmung und den ästhetischen Qualitäten zuzuwenden, ist besonders Brigitta Schmidt-Laubers Studie zur Gemütlichkeit hervorzuheben.551 Gerade im Bereich der Stadtforschung ermöglicht ein ästhetischer Zugang eine komplexere Auseinandersetzung mit Feld und Gegenstand. Empfindungen erfahren sowohl auf Seiten des Forschers oder der Forscherin als auch auf Seiten der Akteurinnen und Akteure eine gesteigerte Aufmerksamkeit. Im Umfeld von Rolf Lindner am Institut für Europäische Ethnologie an der Berliner Humboldt Universität sind Arbeiten in dieser Richtung entstanden.552 Tom Götz hat sich am

1968: Die Stadt als Protestraum. In: Linke, Angelika; Scharloth, Joachim (Hg.): Der Zürcher Sommer 1968. Zürich, S. 11-21. 547 |

Vgl. Böhme 2006 und Welsch 1993.

548 |

Vgl. http://history.ceu.hu/node/3571, (27. August 2010).

549 |

Niethammer, Lutz (1999): Deutschland danach. Postfaschistische Gesellschaft

und nationales Gedächtnis. Hg. von Herbert Ulrich und Dirk van Laak. Bonn. 550 |

Gerndt 2002: S. 78.

551 |

Vgl. Schmidt-Lauber 2003.

552 |

Vgl. Ege, Moritz; Binder, Beate; Schwanhäußer, Anja; Wietschorke, Jens (Hg.) (2010):

Orte – Situationen – Atmosphären. Kulturanalytische Skizzen. Frankfurt am Main.

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Beispiel von Bristol mit dem Zusammenhang von „Stadt und Sound“553 befasst, die Kulturwissenschaftlerin Anja Schwanhäußer folgt den „Kosmonauten des Underground“ durch Räume und Atmosphären in Berlin.554 „Sensing the Street“ lautet der Titel eines Studienprojekts unter der Leitung von Lindner, aus dem unter anderem eine Installation in Kreuzberg und eine Publikation entstanden sind.555 Auf einem empathischen Zugang basiert auch die Stadtforschung von Johannes Moser am Institut für Volkskunde/Europäische Ethnologie in München. „Vom Glück, eine schöne Stadt zu sein“556 lautet die Überschrift eines Textes, der die Atmosphären von Elbflorenz und Isarathen aus einer vergleichenden Perspektive betrachtet. „Sounds like Munich“557, klingt nach München, könnte München sein, schreibt Andreas Neumeister. Unter dieser Prämisse haben sich Studierende im Rahmen eines Studienprojekts mit den spezifischen und urbanen Klängen, Medien und Räumen der Stadt befasst.558

K ULTUR ANALYSE ALS M ODUS DER S TADTFORSCHUNG „Wovon träumen Fahrkartenkontrolleurinnen? Was passiert, wenn zwei Männer feststellen, dass sie dieselbe Frau geliebt haben? Welche Geschichte entspinnt sich, wenn sich bei einem Rockkonzert zwei sehnsüchtige Blicke um Haaresbreite verfehlen? Und was hat die Sonnenfinsternis mit alledem zu tun? Dies ist ein Film über München. Dies ist aber vor allem kein Film über München: Dies ist das fiktive Porträt einer Stadt. Oder das Porträt einer fiktiven Stadt. Der Stadt, die sich jeder erträumt. Und des Traums, den jede Stadt darstellt. Es geht also darum, wie die Biografie jedes Einzelnen verstrickt ist in die Geschichte einer Stadt – und wie die Tausenden von Geschichten einer Stadt auch so etwas wie die Biografie dieser Stadt ergeben. Und es wird gefragt: Was sieht man, wenn man den Stadtplan unter die Lupe nimmt? Und welches Muster ergibt sich, wenn man das städtische Treiben verfolgt? All dies beginnt mit dem Blick des Kindes auf das ferne, große unförmige Unbekannte, das sich aus lauter Namen und Formen zusammensetzt, 553 |

Vgl. Götz 2006.

554 |

Vgl. Schwanhäußer, Anja (2010): Kosmonauten des Underground. Ethnographie

einer Berliner Szene. Frankfurt am Main; New York. 555 |

Hiebsch, Maria Elisabeth; Schlüter, Fritz; Willkomm, Judith (2009): Sensing the

Street. Eine sinnliche Ethnographie der Großstadt. In: Geschke, Sandra Maria (Hg.): Straße als kultureller Aktionsraum. Interdisziplinäre Betrachtungen des Straßenraumes an der Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis. Wiesbaden, S. 31-57. 556 |

Vgl. Moser; Egger 2010.

557 |

Neumeister, Andreas (2008 b): Mjunik Motortown. In: Hecktor, Mirko (Hg.): Mjunik

Disco. München, S. 201-211. Hier: S. 204. 558 |

Vgl. Moser, Johannes; Egger, Simone (Hg.) (2013): „Sounds like Munich“. Klänge,

Medien und Räume der Stadt. München (in Vorbereitung).

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die ungekannte Versprechen bergen. Und es endet mit den toten Augen eines Blinden, dem außer der Erinnerung nichts mehr geblieben ist. Die filmische Collage aus Dokumentation und Erzählung ist ein Essay über das Leben in Städten, ein Mosaik aus Geschichten, Sehnsüchten und Träumen, und eine Liebeserklärung an München – und alle anderen Städte.“559 Mit ihrem Film „München – Geheimnisse einer Stadt“ zeichnen Dominik Graf und Michael Althen mehr als ein fiktives Porträt. In der Dichte und Heterogenität des Films wird München leiblich spürbar, die Autoren verflechten Räume und Geschichten. Motive werden ausgewählt und Ansichten eingefangen, Szenen und Sequenzen geschnitten, aneinandergereiht und wieder aufgesplittet, neu geordnet, umgestellt. Der Rhythmus des Films folgt dem Rhythmus der Stadt und bildet doch nicht ab. Graf und Althen erzählen aus ihrer Perspektive und erzeugen mit filmischen Mitteln eine Ästhetik, die das Imaginäre560 der Stadt auf irritierende Weise berührt. Was Pierre Bourdieu über das wechselseitige Verstehen in Gesprächen sagt, scheint auch auf den Umgang mit der Stadt zuzutreffen. Bourdieu geht davon aus, dass ein Interview nicht allein mit der Einhaltung methodischer Vorgaben gelingen kann, und kritisiert Arbeiten, die sich ausschließlich auf eine vermeintlich rationale Abfolge von Frage und Antwort beziehen. „Jedenfalls scheint es mir, daß diesen Schriften etwas entgeht, was diejenigen Forscher immer gewußt und getan haben, die ihren Gegenstand mit größtem Respekt behandelt haben und einen Blick hatten für die quasi unendlichen Subtilitäten der Strategien, die die gesellschaftlichen Akteure in ihrem gewöhnlichen Alltagsleben anwenden.“561 In seinem Buch „Walks on the Wildside“ verfolgt Rolf Lindner die sozial- und kulturwissenschaftlichen Stadtforschung im 19. und 20. Jahrhundert, die Studie beschäftigt sich vorwiegend mit Arbeiten aus England und Frankreich, Deutschland und den USA.562 In Metropolen wie Paris oder London interessieren sich im 19. Jahrhundert besonders junge Männer aus der Oberschicht für vermeintlich unbekannte Viertel, die Entdeckung der Großstadt gilt als exotisches Abenteuer. Die Forschungen sind lange Zeit von der Idee geleitet, dass mit den Untersuchungen auch die Lebensumstände der Bewohnerinnen und Bewohner verbessert werden können.563 Durchgängig ist das Fortbewegen in der Stadt ein zentrales Moment der Auseinandersetzung, nicht nur der britische Meisterdetektiv Sherlock Holmes löst seine Fälle als teilnehmender Beobachter, um 1900 entspricht der Forscher oder 559 | ( 20.

http://www.berlinale.de/external/de/filmarchiv/doku_pdf/20010820.pdf, Mai 2010).

560 |

Lindner 2008 a.

561 |

Bourdieu, Pierre (1997): Verstehen. In: Bourdieu, Pierre (Hg.): Das Elend der Welt.

Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. Konstanz, S. 779802. Hier: S. 779. 562 |

Vgl. Lindner 2004.

563 |

Ebd.: S. 12-14.

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Reisende idealtypisch Walter Benjamins Figur des Flaneurs. „Flanieren“, bemerkt der Schweizer Philosoph Heiner Weidmann, „ist Ähnlichkeitswahrnehmung: Etwas wird zugleich mit etwas anderem, das es ausschließt, wahrgenommen. ‚Superposition‘ nennt Benjamin häufig dieses Phänomen in Zusammenhang mit dem Rausch; und der Rausch des Flaneurs ist nichts anderes als sein Lesen. Berauschend treten ihm Stadt und Landschaft, Straße und Stube zu Metaphern lesbar zusammen.“564 Wie Jens Wietschorke mit den Ausführungen des australischen Historikers Rhys Isaac unterstreicht, meint das Erfassen von Metaphern erst den Beginn einer wissenschaftlichen Arbeit. Mehr noch geht es um kulturelle Bedeutungen und gesellschaftliche Verflechtungen, die ausgehend von Schnittstellen und Knotenpunkten zu verfolgen sind.565 „Erst durch das sorgfältige Sammeln von verschiedensten Materialien, aber auch von Stimmen und Statements der Stadtbewohner, von Ortsbeschreibungen und Fakten“, fasst Kathrin Wildner zusammen, „kann der polyphone Ausdruck der Stadt vermittelt werden. Anhand all dieser einzelnen Bilder, Situationen oder Geschichten verdichtet sich langsam der Blick auf die Stadt [...].“566 Die in den 1920er Jahren von dem Reporter und Sozialwissenschaftler Robert Ezra Park begründete Chicago School of Urban Sociology versteht sich nicht länger als Mission, sondern als akademische Disziplin, die den Bibliotheksraum verlässt und das Spüren der Stadt zum Paradigma macht.567 Mit der Devise des Nosing around bestimmt die Chicago School bis in die Gegenwart hinein die Stadtforschung. „The methodological battery of these Chicagoans”, resümiert Ulf Hannerz, „was similar to that of anthropologists in emphazising observation of social phenomena in their natural setting but including also informal interviews, surveys, and the collection of personal documents such as life histories, in mixes which varied from one study to another.“568 Im konkreten Fall wird deutlich, wie komplex nicht nur der Gegenstand, sondern auch die empirische Tätigkeit der Forscherin oder des Forschers zu denken ist. Die Auswahl der Methoden ist jeweils an die Fragestellung und den theoretischen Ansatz einer Studie gebunden, hängt also stets mit einem bestimmten Projekt zusammen. Das ethnographische Vorgehen ist als hermeneutischer Zirkel zu begreifen, der das Reflektieren der eigenen Position im Feld ebenso einschließt wie den Umgang mit Quellen und Methoden. „Sich in ein Thema, einen Gegenstand ‚hineinbegeben‘“, sagt Lindner zum Verfahren der Kulturanalyse, „heißt, dieses Thema, diesen Gegenstand auf Zeit ‚leben‘. Nicht nur im Sinne klassischer Feldforschung, sondern im totalen Sinne eines Forschers, der 564 |

Weidmann, Heiner (1992): Flanerie, Sammlung, Spiel. Die Erinnerung des 19. Jahr-

hunderts bei Walter Benjamin. München, S. 90. 565 |

Vgl. Wietschorke 2011: S. 211-212.

566 |

Wildner 1995: S. 18.

567 |

Vgl. Lindner 2004: S. 117.

568 |

Hannerz 1980: S. 31.

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alle seine Sinne öffnet, sieht, hört, riecht, schmeckt, fühlt, der sich ständig auf der Fährte befindet und Quellen aufspürt, (an) nichts anderes denkt als (an) seinen Gegenstand, um ihn ,begreifen‘ zu können. Er muss sich heranpirschen an seinen Gegenstand, ihn umkreisen, ihn durchdringen, ihm auf verquere Weise begegnen, ihm zuweilen auch die kalte Schulter zeigen, um aus seinem Gegenteil dem Antipoden, neue Anregungen zu gewinnen. Er wird dem Gegenstand, wenn er sich diesem in totaler Weise überlässt, an den unmöglichsten Stellen begegnen: auf dem Flohmarkt, im Kino, beim Spiel; in Kleinanzeigen, auf Comicseiten, in Videoclips; beim Musikhören, Prospekte lesen, Zeitschriften blättern.“569 Wietschorke erklärt, dass sich der kulturanalytische Modus sowohl auf die Gegenwart als auch auf die Vergangenheit anwenden lässt, „[...] aber wohlgemerkt, diese Idee von FeldForschung ist nicht gleichzusetzen mit dem präzisen, an ein bestimmtes Set methodischer Zugänge gebundenes Konzept von Feldforschung, wie wir es aus der Gegenwartsethnografie kennen. Lindners Forderung gilt dagegen einer Erweiterung des Blickwinkels auf gegenwärtige und historische Felder – eine Argumentation auf anderer, nämlich epistemologischer Ebene“570. Der Kulturwissenschaftler bezieht sich jedoch hauptsächlich auf Zeiträume, die nicht mehr von Mitlebenden erinnert werden können. Seine Untersuchung über die „Arbeiterfreunde“571 und die Konzeption der Inneren Mission in Berlin nimmt mit den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts beispielsweise eine Phase in den Blick, zu der sich in der Gegenwart keine Gesprächspartnerinnen oder -partner mehr finden. Der Organismus einer Stadt ist eine nahezu unendliche Überlagerung von Phänomenen, Prozessen und Positionen. Wenn man als Forscherin oder als Forscher selbst am Ort der Untersuchung lebt und eine Stadt nicht nur zu ausgewählten Zeiten besucht, befindet man sich gewissermaßen permanent im Feld. Die teilnehmende Beobachtung ist als Methode nicht mehr zeitlich und räumlich beschränkt, sondern entspricht vielmehr einer Haltung, die im Bedarfsfall aktiviert werden kann. Auf der Grundlage eines ästhetischen Denkens gilt es im städtischen Alltag ein Gleichgewicht zwischen sensueller Vigilanz und emotionaler Indifferenz herzustellen.572 Als meine EC-Karte einmal beim Einkaufen nicht funktioniert, begegnet mir im nahe gelegenen Vorraum der Bank eine Dame, die sich noch gut 569 |

Lindner 2003 a: S. 186.

570 |

Wietschorke 2011: S. 214.

571 |

Vgl. Wietschorke, Jens (2012): Arbeiterfreunde. Soziale Mission im dunklen Berlin

1911-1933. Frankfurt am Main; New York. 572 |

Hellpach, Willi (1939): Mensch und Volk in der Großstadt. Stuttgart, S. 74-76. Zitiert

nach: Korff, Gottfried (1985): Mentalität und Kommunikation in der Großstadt. Berliner Notizen zur „inneren“ Urbanisierung. In: Kohlmann, Theodor; Bausinger, Hermann (Hg.): Großstadt. Aspekte empirischer Kulturforschung. 24. Deutscher Volkskunde-Kongreß vom 26. bis 30. September 1983 in Berlin. Berlin (Schriften des Museums für Deutsche Volkskunde Berlin, 13), S. 343-361. Hier: S. 348.

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daran erinnert, dass das Restaurant „Opatija“ am Königsplatz in den 1960er Jahren für seine jugoslawischen Spezialitäten bekannt gewesen ist.573 An einem heißen Sommertag treffe ich mitten auf der Leopoldstraße eine Frau, die in den 1950er Jahren als Mannequin in München gearbeitet und deswegen im „Café Adria“ immer nur Espresso getrunken hat.574 Ein Taxifahrer erzählt mir am Neujahrstag um 6 Uhr morgens, welches Haus seine Familie in der Augustenstraße bewohnt hat, ehe das Gebäude 1944 von einer Bombe getroffen worden ist.575 Robert Huber ist indessen lange Jahre Geschäftsführer des Münchner Festrings gewesen und hat den Oktoberfestumzug, die „Schwabinger Woche“ und den Fasching organisiert. Bei einem Treffen in seinem Haus im Chiemgau erzählt Huber von seiner Zeit in München. Für meine Forschung hat er Unterlagen, Zeitungsausschnitte, Fotografien und Bücher bereit gelegt.576 In „Gino’s Gelateria“ auf der Leopoldstraße unterhält sich eine Frauenrunde an meinem Nachbartisch im breitesten Münchnerisch über die Stadt der 1950er und 1960er Jahre. Eine der Damen ist offenkundig mit einem amerikanischen GI verheiratet und lebt seit Jahrzehnten in den USA. Eine andere erinnert sich an die vielen Lokale mit Live-Musik, sie selbst ist immer ins „Big Apple“ gegangen. Die Frage kommt auf, ob sich die Schwester nicht einmal beim Rock’n’Roll den Fuß gebrochen hat? Nein, nein, das war beim Autoscooter auf dem deutsch-amerikanischen Fest.577 Rolf Lindner nimmt an, dass die „totale Immersion des Forschers [...] durchaus systematischen Charakter“578 hat, auch wenn die Einbindung erst einmal „unsystematisch klingt“579 . Die 1960er Jahre sind auf unterschiedlichen Wegen zu erreichen, der zentrale Referenzpunkt ist dabei stets die Stadt. Weil der Untersuchungszeitraum erst wenige Jahrzehnte zurückliegt, ist diese Epoche vielfach mit der Gegenwart verknüpft. Das städtische Gewebe bietet auf Grund seiner dichten Struktur zahllose Möglichkeiten, mit den wissenschaftlichen Tiefenbohrungen an der Oberfläche der Stadt anzusetzen. Zu jedem Thema gibt es „[...] Relevanzbereiche, d.h. Diskurstypen, Medien und Textgattungen, die von hohem thematischem Belang sind. Was immer auch unser Thema ist (Werbung, Jugend, Hotel), es gibt eine Fachpresse (werben & verkaufen, Bravo, Das Hotelwesen). Was immer auch unser Thema ist, es gibt einen Rechtsdiskurs (Gesetze, Verordnungen, Bestimmungen). Was immer auch unser Thema ist, es gibt einen medialen Diskurs (Thematisierung, Bericht, Kritik). Was immer auch unser Thema ist, es gibt themenspezifische Belletristik, Kinofilme und Theaterstücke. Was immer auch unser Thema ist, es gibt charakteristische 573 |

Vgl. Gespräch mit Friedl Rößler am 27. Mai 2009.

574 |

Vgl. Gespräch mit Jutta Esch am 19. August 2009.

575 |

Vgl. Taxifahrt am 1. Januar 2010.

576 |

Vgl. Besuch bei Robert Huber am 9. April 2009.

577 |

Vgl. Besuch in „Gino’s Gelateria“ auf der Leopoldstraße am 20. August 2009.

578 |

Lindner 2003 a: S. 187.

579 |

Ebd.

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Anekdoten, Redensarten, Witze. Sich einem Thema in totaler Weise nähern heißt also versuchen, der Komplexität des Gegenstandes, die sich gerade in der Vielfalt der Bezüge und Verschränkungen artikuliert, annähernd gerecht zu werden. Das ist das Mindeste, was der Gegenstand von uns erwarten kann. Und nur so haben wir eine Chance, den Fallen zu entgehen, die uns das ‚Feld‘, medienerprobt und wissenschaftserfahren, in reflexiven Zeiten stellt.“580 Für die Beschäftigung mit München in den 1960er Jahren stehen Zeitungsausschnitte, literarische Zeugnisse und vor allem Akten zur Verfügung. Die Vorgänge und Entscheidungen, die mit Olympia und dabei vor allem mit Entscheidungen städtischer Gremien zu tun haben, sind umfangreich dokumentiert, oft liegt sogar die wechselseitige Korrespondenz in Kopie vor. Das Münchner Stadtarchiv verfügt sowohl über die Unterlagen des Olympia-Fördervereins als auch über den Bestand „Olympiade 1972“, der die Bewerbung oder die Debatte um das Emblem der Spiele aus städtischer Perspektive dokumentiert. Von Interesse sind auch die Unterlagen des Gewerbeamts, der Polizeidirektion und der Zeitgeschichtlichen Sammlung, zu ausgewählten Personen und Orten wie dem Viktualienmarkt existiert eine Mappe mit Presseausschnitten. Die Monacensia bewahrt als literarisches Gedächtnis der Stadt nicht nur Künstlerbiographien auf, sondern auch zahllose Episoden aus der Biographie von München. Im Zuge der Archivarbeit gilt es vor allem, ein Verständnis für die Situationen, Motive und Konstellationen der jeweiligen Epoche zu entwickeln und die Parameter der Vergangenheit nicht an den Parametern der Gegenwart zu messen. Ein Beispiel ist der Umgang mit Sichtbeton; was in den 1960er Jahren als moderner Werkstoff angesehen wird, gilt inzwischen als Avantgarde oder ist als unwirtlich verpönt. Auch das Wissen um Bezeichnungen, Ämter, Aufgaben, Akteurinnen und Akteure muss im Lauf des Forschungsprozesses angeeignet werden. Im Münchner Stadtarchiv und im Archiv des Bayerischen Rundfunks stehen dafür auch Filme, Fernseh- und Radiobeiträge zur Verfügung. Neben Protokollen und Korrespondenzen sind die Ereignisse der 1960er Jahre noch in einer Vielzahl von Printmedien festgehalten, zentrale Zeitschriften sind der Spiegel und das Zeit Magazin und Illustrierte wie die Quick, die Bunte oder das Münchner Leben. Ohne Fachliteratur ist eine wissenschaftliche Arbeit nicht denkbar; dennoch sind nicht alle Publikationen, die zum Stadtjubiläum und im Vorfeld der Olympischen Spiele herausgekommen sind, auch in Bibliotheken archiviert. Entsprechend ist die gesamte Stadt als Speicher zu begreifen. An verschiedenen Stellen, im Antiquariat, auf dem Flohmarkt, beim Ausverkauf eines Buchladens oder bei Ebay finden sich Hinweise, Bücher und Texte, aus denen sich nach und nach ein Bild von München zusammensetzen lässt. Mit der Person der Verkäuferin oder des Verkäufers ist zumeist auch eine Geschichte verbunden, das Sammeln und Suchen nach Anhaltspunkten gleicht einer archäologischen Grabung in den Beständen der Stadt. Mit der Zeit stellt sich ein Bewusstsein für die Qualität und die Bedeutung von Quellen ein, und nicht nur die Materialien, die Otl Aicher in leuchtenden Farben 580 |

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gestaltet hat, scheinen einem Verwandtschaftssystem zu folgen. Das eigene Befinden spielt, um an die Überlegungen von Jens Wietschorke anzuknüpfen, für die Untersuchung der Vergangenheit generell keine Rolle, es ist allerdings durchaus notwendig, Empathie zu entwickeln, um Gewesene in einem umfassenden Sinn zu verstehen. Unmittelbar vorhanden und damit auch für die Forscherin oder den Forscher erreichbar, ist die Architektur der Stadt. Was in Sitzungen zu heftigen Debatten geführt hat, in Bildbänden illustriert und in Akten nachzulesen ist, lässt sich überwiegend noch in gebauter Form besichtigen. Der Olympiapark und das Stadion sind nicht nur Orte der Vergangenheit, sondern in der Gegenwart ebenso konkret vorhanden wie das Schwimmbad, in dem Mark Spitz und Shane Gould ihre Medaillen gewonnen haben. Neben der Auseinandersetzung mit theoretischen Ansätzen und heterogenen Quellen ist es für die Forschung unabdingbar selbst in der Stadt anwesend zu sein. Zu Fuß, mit dem Fahrrad, mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder dem Auto lässt sich der städtische Raum erkunden. Spaziergänge schulen die Wahrnehmung und lassen ein Gefühl für die Dimensionen der Stadt entwickeln. Ein Besuch im Olympiapark vermag einen intensiveren Eindruck von der Ästhetik des Zeltdachs zu verschaffen als einer der zahlreichen Bildbände, die nach den Spielen erschienen sind. Gleichwohl gilt es im Verlauf der Forschung beide Blickwinkel miteinander zu verknüpfen. Als Bewegung in der Stadt ist auch die Fahrt mit einer historischen S-Bahn anlässlich des Jubiläums „160 Jahre Münchner Hauptbahnhof“ zu sehen, ein seltsames Unterfangen, weil der Zugtyp noch in Betrieb ist und bereits vor dem ersten Halt liegen bleibt. Die Bahn nimmt allerdings eine Route, die ansonsten nicht im Fahrplan steht, und die Gespräche über die S-Bahn erweisen sich durchaus als aufschlussreich.581 Unterwegs in der Stadt fallen immer wieder Namen, Schilder und Geschäfte auf, und irgendwann führt der Weg über die Schwelle einer Eingangstür. Die Beschäftigung mit den langen 1960er Jahren lässt die Arbeit im Archiv mit allen Möglichkeiten der Feldforschung verknüpfen. In der Stadt der Gegenwart erzählen Menschen von der Vergangenheit, die einen sind an der Herstellung der Atmosphäre beteiligt gewesen, andere berichten von ihrem Empfinden in bestimmten Momenten. Die Auseinandersetzung mit den städtischen Räumen wird von Bildern begleitet, dabei ist das Festhalten der eigenen Eindrücke mit der Kamera ein ebenso probates Mittel wie die Beschäftigung mit den privaten wie professionellen Aufnahmen von Akteurinnen und Akteuren. Ein weiterer und dabei zentraler Bestandteil der Stadtforschung ist die Presseschau. In München stehen mehrere Tageszeitungen und Magazine zur Verfügung, die über das Geschehen zu informieren. Immer wieder beziehen sich die Medien auch auf die städtische Vergangenheit, berichtet wird regelmäßig über Jahrestage und Ereignisse, die mit dem Zeitraum zu haben. Eine 581 |

Veranstaltung im Rahmen des Jubiläumswochenendes „160 Jahre Münchner

Hauptbahnhof“ am 19. und 20. Juli 2009.

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Großstadt bietet zahllose Möglichkeiten, um sich in Form von Filmen und Führungen über die Dispositionen, die Ästhetik und das Leben in der Stadt zu informieren. Manchmal ist es notwendig, alles stehen zu lassen, um rechtzeitig zu einem Termin zu gelangen, der in der Zeitung angekündigt ist und in zehn Minuten beginnt. Der Ingenieur und Bibliothekar Hartwig Linderkamp, der fortwährend in München unterwegs gewesen ist, hat den Besuch von Kulturveranstaltungen zu seiner Profession gemacht und an einem Abend immer mehrere Kinovorführungen, Vorträge und Ausstellungseröffnungen besucht.582 Nach fünf Stunden im Filmmuseum und den ersten beiden Teilen der „Zweiten Heimat“, ist zwar nicht ganz klar, ob ich jemals wieder aus den Plüschsesseln, in die alle noch anwesenden Zuschauerinnen und Zuschauer tief versunken sind, aufstehen kann, aber eindrucksvoll ist nicht nur das medial vermittelte Bild von München gewesen, sondern auch die Art und Weise wie der persönlich anwesende Regisseur Edgar Reitz über seine Arbeit spricht.583 Podiumsdiskussionen bieten nicht nur thematische Einblicke in die Debatten und Diskurse, sondern ermöglichen auch eine teilnehmende Beobachtung unter den Anwesenden. Meist genügt es, den Besucherinnen und Besuchern zuzuhören, oft bietet sich auch die Gelegenheit zu informellen Gesprächen, oder ein weiterführender Kontakt kommt zustande. Im Zuge der Sammelaktion, die vorbereitend zur Ausstellung „München ‘72“ an zwei Tagen in den Räumlichkeiten an der Ludwigstraße angekündigt worden ist, sind viele Menschen gekommen, die mit dem Maskottchen Waldi, ihren Medaillen, Trainingsanzügen und Olympiamünzen auch ihre Erinnerungen mitgebracht und ihre persönlichen Geschichten begeistert weitergegeben haben. Andere haben sich telefonisch gemeldet, ihre Unterstützung angeboten, von Objekten und Ereignissen erzählt oder ihre Gedanken zu Olympia weitergegeben. Der Aufruf in der Zeitung hat auch als Erinnerungen generierendes Moment funktioniert. „Alles, was wir erzählen“, meint der Volkskundler Albrecht Lehmann, „drückt Erfahrungen aus. Und Erfahrungen lassen sich nicht anders als erzählend vermitteln. [...] Alle Erfahrungen ereignen sich in Situationen, die von den Teilnehmern aus gesehen einen Anfang und ein Ende haben und die ganzheitlich erlebt – erfahren – werden. Situationen sind, was für die volkskundliche Erzählforschung besonders wichtig ist, ‚kontextuelle Ganzheiten‘, zu denen außer Menschen und einer Umgebung auch Stimmungsqualitäten gehören; vor allem Stimmungen und Atmosphären, die die Situationen überformen [...].“584

582 |

Vgl. Gespräche mit Hartwig Linderkamp im Sommer 2009.

583 |

Reitz, Edgar (1992): Die Zweite Heimat – Chronik einer Jugend. Spielfilm. Wieder-

aufführung von 15. bis 19. April 2011 im Filmmuseum München. 584 |

Lehmann, Albrecht (2007): Reden über Erfahrung. Kulturwissenschaftliche Be-

wusstseinsanalyse des Erzählens. Berlin, S. 9.

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In ihrem gemeinsamen Film „München – Geheimnisse einer Großstadt“ geht es Dominik Graf und Michael Althen vor allem darum, „ [...] wie die Biographie jedes Einzelnen verstrickt ist in die Geschichte einer Stadt. Der Film geht wie ein Schnitt durch die Stadt, so dass wie bei einem Baum Altersringe sichtbar werden. Dabei ist nicht das historische Wachstum gemeint, sondern das innere Wachstum eines Stadtbildes.“585 Auf dem Sofa von Adelheid Boeck wird im Laufe eines Nachmittags nicht nur die Lebensgeschichte der Münchnerin, sondern auch die Genese der Stadt evident. Adelheid Boeck ist in der Prinzregentenstraße aufgewachsen und lebt seit den 1920er Jahren in einem Haus der Wohnungsgenossenschaft für Beamte und Angestellte im öffentlichen Dienst. Das Gebäude liegt in unmittelbarer Nachbarschaft zu der Wohnung, die Hitler von 1929 bis 1945 als Privatdomizil nutzte. Adelheid Boeck erinnert sich an die Absperrung des Areals. Ihre Tante war nicht nur eine glühende Verehrerin des Führers, sondern auch persönlich mit ihm bekannt. Einmal nahm sie ihre Nichte mit und Adolf Hitler gab dem Kind die Hand, danach durfte die Tante nie wieder in die Wohnung der Familie. Die Eltern von Adelheid Boeck, die Mutter war eine gebürtige Griechin, lehnten den Nationalsozialismus ab. In ihrer Erzählung ist auch die Angst ein Thema, als Jugendliche versuchte sie einmal die laut schimpfende Mutti im Hausgang zu beruhigen, damit kein aufmerksamer Nachbar die Gestapo holte. Zur Unterzeichnung des Münchner Abkommens mussten die Schülerinnen und Schüler der Stadt 1938 vor dem Haus der Kunst aufmarschieren und zu Tausenden auf der Prinzregentenstraße rufen: „Wir wollen keinen Krieg! Wir wollen Frieden!“. Adelheid Boeck war nach dem Abschluss der Handelsschule zunächst am Institut für Leibesübungen in der Massmannstraße tätig. Als Brandbomben auf das Haus fielen, griff die junge Frau zu den Wassereimern und konnte ein Feuer zunächst verhindern. Die nahe gelegenen Bierkeller dienten als Luftschutzbunker. Ein schwerer Angriff der Alliierten legte im Juni 1944 fast die gesamte Maxvorstadt zwischen Bahnhof und Schellingstraße in Schutt und Asche. Adelheid Boeck machte sich von ihrem zerstörten Arbeitsplatz am Rand des Trümmerfelds auf den Weg in die Ludwigstraße, da der Vater bei der Finanzverwaltung der Ludwig-Maximilians-Universität angestellt war. In Erinnerung geblieben ist ihr vor allem ein Gefühl der Orientierungslosigkeit, mit einem Mal stand kein Stein mehr auf dem anderen. Die wenigen Kilometer führten nicht mehr durch sorgsam angelegte Straßen, sondern in eine diffuse Wüste aus Schutt. Die Familie fand schließlich zusammen. Ihr Leben lang ist Adelheid Boeck eine emanzipierte Frau gewesen, nach dem Krieg arbeitete sie beim Deutschen Patentamt und wechselt in den 1960er Jahren zum ADAC. Viele ihrer Freundinnen sind in den 1950er Jahren nach Amerika ausgewandert, haben jedoch weiter Kontakt gehalten, geschrieben und sich gegenseitig in München und in den USA besucht.586 Im Wohnzimmer an der Prinzregentenstraße beginnt es 585 |

Videotext Bayern alpha (7. Juni 2010) zu Graf, Dominik; Althen, Michael (2000):

München – Geheimnisse einer Stadt. Spielfilm. 586 |

Vgl. Interview mit Adelheid Boeck am 8. März 2010.

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während meines Besuchs langsam zu dämmern. „Schön, die blaue Stunde“, meint Adelheid Boeck, „das nimmt man heute ja nur mehr selten wahr.“587 Im Verlauf der Untersuchung haben sich die Modalitäten geändert, zunächst sind vor allem Interviews mit Termin und Tonbandgerät entstanden. Die Stadt ist allerdings eher ein Ort der flüchtigen Begegnungen und Gespräche. Manchmal ergeben sich von einem Augenblick auf den anderen narrative Interviews, und entsprechend hat sich auch die Forschung anzupassen. Im Umgang mit den Menschen im Feld hat sich das Konzept der Ethnopsychoanalyse als besonders anregend erwiesen. Auch wenn das Verfahren eine spezielle Ausbildung voraussetzt, um sich mit dem Gegenüber in einer Weise auseinandersetzen zu können, wie sich etwa die Schweizer Ethnologin und Psychoanalytikerin Florence Weiss mit den Iatmul in Papua-Neuguinea beschäftigt, lässt sich die Idee, dass die Interaktion im Vordergrund steht, für die Stadtforschung übernehmen. Auch der Modus, Beobachtungen und Begegnungen rückblickend in Protokollen festzuhalten, hat sich als überaus gangbar erwiesen.588 Das ästhetische Denken lässt nicht nur Qualitäten in den Blick nehmen, sondern erweist sich auch in Gesprächssituationen als Verbindung zwischen der Forscherin und den Gesprächspartnerinnen und -partnern sowie als Medium zwischen den Zeitebenen. Ausgehend von der Annahme, dass die Stadt vielschichtig aufgebaut ist, stellt sich irgendwann auch die Frage, wie die Erkenntnisse aus Zeitreisen, das Wissen um Atmosphären und Dispositionen und all die Szenenbilder und Stadtansichten zu einer Collage zusammengesetzt werden können, die der Fragestellung, den theoretischen Überlegungen und vor allem dem Gegenstand gerecht werden kann. „Arbeit an einer guten Prosa hat drei Stufen“, sagt Walter Benjamin, „eine musikalische auf der sie komponiert, eine architektonische auf der sie gebaut, endlich eine textile, auf der sie gewoben wird.“589

587 |

Ebd.

588 |

Vgl. Weiss, Florence (1999): Vor dem Vulkanausbruch. Eine ethnologische Erzäh-

lung (Die Frau in der Gesellschaft) Frankfurt am Main. 589 |

Benjamin, Walter (2011): Einbahnstraße/Berliner Kindheit um 1900. Frankfurt am

Main, S. 27.

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6. 800 Jahre München. Stadt und Repräsentation

„Für die europäischen Völker liegt München im Herzen des Kontinents. Unzählige kulturelle und wirtschaftliche Fäden laufen seit Generationen von der bayerischen Landeshauptstadt zu den anderen europäischen Ländern. Man kann den Münchnern die Freude an der krafterfüllten eigenen Form gewiß nicht absprechen, und doch hat es immer wieder große Europäer in ihre Stadt gezogen, in die Stadt aufgeschlossenen Weltgefühls und gemütlicher Gastfreundschaft. Gerade aus solcher ständigen Verbindung von Wahlmünchnern mit dem Bodenständigen sind die Kultur und jene Kunst geboren worden, die den Weltruf Münchens gründen und bewahren halfen.“590 Diese Worte stellt Theodor Heuss, der erste Präsident der Bundesrepublik Deutschland, dem offiziellen Festprogramm zur 800-Jahr-Feier von München voran. Jubiläen und Ehrentage bieten Gelegenheit, innezuhalten, zurückzublicken und in die Zukunft zu schauen. Aus gegebenem Anlass werden Ereignisse rekapituliert, gefiltert und dabei immer wieder neu vermessen, Bilder und Räume aufgemacht, von der Wahrnehmung ausgeschlossen oder mit Bedeutung aufgeladen. Je nach Basis, Bedingungen und augenblicklicher Befindlichkeit entsteht in Auseinandersetzung mit diversen Einflussnahmen eine Narration, in diesem Fall die Repräsentation einer Stadt. Analog zur materiellen Bewältigung des Alltags und dem Wiederaufbau der physischen Ordnung nach Ende des Krieges suchten die Bewohnerinnen und Bewohner nach Zerstreuung, nach Ablenkung und Unterhaltung, aber auch nach ideeller Orientierung. Unter dem Eindruck der jüngsten Vergangenheit galt es für München im Jahr 1958 nicht nur ein städtisches Fest zu begehen und einen guten Eindruck nach außen zu vermitteln, sondern vor allem Identitfikationsangebote nach innen zu stiften und Visionen für die bayerische Landeshauptstadt zu entwickeln. Das Stadtjubiläum kann in der Folge als Raum aufgefasst werden, der es den Verantwortlichen erlaubt, Anknüpfungspunkte in der städtischen Biografie zu sondieren, Konturen im Profil von München herauszuarbeiten, und gemeinsame Erinnerungsorte im kollektiven Gedächtnis der Stadtgesellschaft zu etablieren. Mit dem Jubeljahr 1958 und den damit verbundenen Feierlichkeiten deutet sich zudem an, in welcher Weise die Festivalisierung der Städte im Lauf des 20. und 21. Jahrhunderts voranschreiten wird. Zunehmend spielen ästhetische und symbolische Äußerungen eine Rolle im urbanen Kontext, und München kann nicht nur im Hinblick auf die Olympischen 590 |

Grußwort des Bundespräsidenten Theodor Heuss. Offizieller Festkatalog zum

Münchner Stadtjubiläum 1958. In: Zeitgeschichtliche Sammlung – 800-Jahr-Feier. Stadtarchiv München, 41/2.

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Spiele von 1972 als Paradigma auf diesem kulturpolitisch wie wirtschaftlich so relevanten Sektor betrachtet werden. Der Münchner Wirtschaftsreferent Karl Erhardt weist in diesem Sinne bereits während der Vorbereitungen für die Jubiläumsfeierlichkeiten Mitte der 1950er Jahre darauf hin, dass die 800-Jahr-Feier der Stadt keine leere Inszenierung werden darf, sondern beständige Werte schaffen soll.591 Das offizielle Buch zum Fest der bayerischen Landeshauptstadt versucht „der besonderen unkonventionellen Situation Münchens“592 in Form von Beiträgen zu bekannten Feldern, „Unsterbliches Schwabing“, „Heimat der Bergsteiger“ oder „Die Stadt der Maler“, gerecht zu werden, greift auf zentrale Motive der kulturellen Textur zurück und bestätigt deren Bedeutung in der Gegenwart. „Lebendiges München“ lautet der Titel, beteiligt sind namhafte Autorinnen und Autoren, über die Qualität der Arbeit sollen die Leserinnen und Leser jedoch selbst entscheiden, wie Herausgeber Rolf Flügel in der Einleitung bemerkt. Der Schriftsteller spricht von einem vielschichtig angelegten Kaleidoskop, in dem auch das „Esperanto der Bildersprache“593 seinen Anspruch deutlich macht. Obgleich neben den Lichtern auch die Schattenseiten der Stadt in den Blick genommen werden sollen, konzentriert sich die Narration doch vor allem auf Entwicklungen und Errungenschaften des 19. Jahrhunderts und Münchens glanzvolle Phase um 1900. „Es kam darauf an, die Stadt als ein polares Wesen zu zeigen, das seine Gegensätzlichkeit gern auf die Spitze treibt und mitunter zum Reiz erhebt; also etwa den Klassizismus seiner Tempel und das barocke Blühen in den Kirchen, die mannigfachen und mitunter einzigen Prägungen höfischen Lebens und rohgezimmerten Wirtshaustische, den freien Anhauch der Künste und Wissenschaften und die Akzentuierung des Münchnerischen, dieses Leben und Lebenlassen, das immer den guten Zeiten verbunden war. Damit ist die Skala der Farben noch nicht erschöpft. Wer könnte übersehen, daß der Münchner durch Lebensart, Festgestaltung und Festordnung auf eine besondere Weise und wie kaum ein anderer Großstädter mehr, den Jahrzehnten verbunden ist, daß er die Natur noch mitspielen lässt und daß ein Teil des Charmes seiner Stadt darin seine Erklärung findet. Es ist das Ländliche, der Duft von Heumahd und Tannenwald, die frische Bergluft und der Föhn, es sind die Steige im Gebirge, die direkt in den spiegelnden Asphalt der Straßen um den Stachus münden, wo ein gewaltiger Verkehrszirkus mehrmals täglich seine Vorstellungen gibt.“594

591 |

Vgl. Münchner Anzeiger. Heimatzeitung der Landeshauptstadt München und ko-

stenlose Beilage der SZ, Nr. 37, 14. September 1956. In: Ausstellungen und Messen – Jubiläumsausstellung 1958. Stadtarchiv München, 1080. 592 |

Flügel, Rolf (Hg.) (1958): Lebendiges München. Hg. im Auftrag der Landeshaupt-

stadt München. München, Vorwort. 593 |

Flügel 1958: Vorwort.

594 |

Ebd.

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D IE „J UBIL ÄUMS -A USSTELLUNG 1958“ 1954 beantragen verschiedene Gremien des Münchner Stadtrats, ein Komitee zur Planung und Durchführung der bevorstehenden Festwochen einzusetzen. „Städtischer Raum ist nicht nur Medium und Gegenstand ökonomischer Akkumulation und politischen Wettbewerbs“, gibt die amerikanische Stadtforscherin Sharon Zukin zu bedenken, „sondern auch diskursives Element der öffentlichen Sphäre. Er gibt Gelegenheit zum Repräsentieren, Verhandeln [...] und Verändern von unterschiedlichen Gruppeninteressen.“595 Zunächst einmal geht es um die Frage, welche Gebäude und Institutionen, darunter zum Beispiel die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen, bis zum Gründungsfest überhaupt wieder aufgebaut werden können.596 Weiterhin sollen im Jahr 1958 ein prunkvoller Festzug und ein Schaufensterwettbewerb durchgeführt werden, da sich die Dekoration der Innenstadt von offizieller Seite als zu kostspielig erwiesen hat. Die geplante Einbindung ortsansässiger Künstler erinnert dabei in vielerlei Hinsicht an Umzüge und Festgepränge des 19. Jahrhunderts. Daneben soll auf dem Messegelände, dem zentralen Ausstellungspark an der Theresienhöhe im Westen der Stadt, München selbst mit all seinen Leistungen und Errungenschaften zur Schau gestellt werden. Von einer groß angelegten Konzeption ist die Rede, nichts weniger als der „Status von München im Jahre 1958“597 soll kundgetan werden. Die Messebauten, Gärten, Häuser, Pavillons, waren aus Anlass der 750-Jahr-Feier der Stadt an der Theresienhöhe oberhalb des Standbilds der Bavaria errichtet worden und boten seit ihrer feierlichen Eröffnung durch den bayerischen Prinzregenten Luitpold und den Münchner Bürgermeister Wilhelm Ritter von Borscht im Jahr 1908 unterschiedlichste Formen der Schaustellung im Spannungsfeld von Kunst, Kultur, Wissenschaft, Handwerk und Industrie für ein breites Publikum dar. „Die wechselvolle Nutzung der Hallen reichte von der ersten Ausstellung ‚München 1908‘ über die Uraufführung von Mahlers Achter Symphonie [...]“598 bis hin zur Umnutzung der Gebäude als Haferlager während des Krieges. Ein erstes Exposé legt der Verein Ausstellungspark München e.V. als vorläufiger Träger des Unternehmens im Juni 1955 vor. Parallel und zugleich auch in Konkurrenz zur Weltausstellung in Brüssel sollen EG-Partner wie Luxemburg, Österreich, die Schweiz, Italien, Belgien, Jugoslawien oder Portugal gebeten werden, einen Beitrag zum Jubiläum zu leisten. In einem frühen Entwurf heißt es, „[m]an wird bei der Einladung der genannten europäischen Länder darauf hinweisen müssen, daß 595 |

Zukin 1998: S. 33.

596 |

Vgl. Ausstellungen und Messen – Jubiläumsausstellung 1958. Stadtarchiv Mün-

chen, 1080. 597 |

Vgl. ebd.

598 |

http://www.deutsches-museum.de/verkehrszentrum/ausstellungen/sonderaus-

stellungen/2008/100-jahre-messehallen/?0 =, (17. Oktober 2008).

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Bayerns Landeshauptstadt aus vielerlei Gründen zum Fremdenverkehr bestimmt und darüber hinaus als Werbezentrum des europäischen Fremdenverkehrs besonders geeignet ist, außerdem zur fruchtbaren Begegnung von Kunststilen und Geistesrichtungen europäischer Herkunft, daß es Sehnsucht und Ziel zahlreicher Europäer ist, eine Stadt, die nimmt und gibt zugleich, wo sich Kraftströme und Verkehrswege aus ganz Europa treffen und weltweite Wirtschaftsbeziehungen angebahnt werden. Daher bietet sich als Titel der Jubiläums-Ausstellung an: ‚München – Brücke Europas‘“599 . Das entworfene Bild soll über diverse Rubriken vermittelt werden und mit dem Themenkomplex „Fürstenhof und Landeshauptstadt“ beginnen. Die Entwicklung des Stadtraums wird als harmonischer Übergang von den Ideen des 19. Jahrhunderts hin zum Wiederaufbau nach 1945 präsentiert; es folgen „Die wirtschaftliche Entwicklung Münchens“ und die Kategorien „München als Kunst- und Kulturstadt“, „München, die gastliche Kongressstadt und das deutsche Fremdenverkehrszentrum“ wie auch „Münchens Stätten der Gesundung und Erholung“. Der skizzierte Rundgang schließt mit der „Entwicklung Münchens zum mitteleuropäischen Verkehrszentrum“600. Nur zehn Jahre nach dem Ende des Krieges und etwas mehr als fünf Jahre nach der Währungsreform veranschlagt der Verein zur Durchführung der Schau in Anlehnung an die Landesausstellung in Baden-Württemberg, die im Zuge der Überlegungen von Bürgermeister Wimmer und seinen Stadträten eingehend besichtigt worden ist, je 1 Million DM Finanzmittel von Stadt und Freistaat; eine Investition, die sich lohnen wird, wie es in einem Papier zur Bedeutung der Präsentation heißt: „Der bayerischen Landeshauptstadt bietet sich mit der Jubiläumsausstellung von 1958 eine einmalige Gelegenheit, die ihr durch ihre Lage in der Mitte Europas zugewiesene Aufgabe gegenüber Gesamteuropa darzulegen und zu erfüllen: Mittlerin zu sein im Geiste des Friedens zwischen allen Völkern unseres Kontinents und darüber hinaus der ganzen Welt.“601 Der amerikanische Stadtforscher Mike Davis beginnt seine breit gefächerte Studie über Los Angeles, seine „Ausgrabungen der Zukunft“, mit dem Rückblick auf eine Utopie. 1914 hatte sich in der Wüste vor der kalifornischen Stadt Los Angeles ein Kreis junger Sozialisten niedergelassen, um seine Vorstellung vom gemeinschaftlichen Leben und Arbeiten in die Tat umzusetzen. Eine Kolonie wurde gegründet, und die Pioniere errichteten Häuser, eine Niederlassung inmitten der unwirtlichen Steppe. Inzwischen ist die Episode längst vergessen und die Stelle neben vielen anderen als Bauland ausgeschrieben, nur einige Wanderarbeiter haben sich in den verbliebenen Ruinen eingerichtet. Davis aber schaut „aus einer 599 |

Verein Ausstellungspark München e.V.: „München – Brücke Europas“, Exposé vom

1. Juni 1955. In: Ausstellungen und Messen – Jubiläumsausstellung 1958. Stadtarchiv München, 1079. 600 |

Ebd.

601 |

Ebd.

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vergangenen Zukunft“ auf die Biographie der „City of Quartz“, wie er Los Angeles bezeichnet. Das Projekt der Kommune ist nach einiger Zeit gescheitert und doch gelingt es dem amerikanischen Kulturwissenschaftler mit dieser Geschichte, die Wahrnehmung der Rezipientinnen und Rezipienten der Gegenwart an den ideellen Vorstellungen der Siedler zu schärfen und die Perspektive der Leserinnen und Leser zu öffnen, indem er die Entwicklung von Los Angeles zunächst vor einem Gegenentwurf, einer Illusion, einer Utopie kontrastiert.602 Die Ausstellung in München ist ebenfalls ein Spiel mit Möglichkeiten und Visionen, auch wenn sie am Ende niemals stattgefunden hat. Dessen ungeachtet, sind zahllose Pläne, Ideen, Empfehlungen und Diskussionen erhalten. Vier Jahre Korrespondenz und seitenweise Protokolle, Listen und Vermerke berichten von Aushandlungsprozessen, begleiten und dokumentieren den Versuch, eine Stadt in Szene zu setzen. Bei all den Entwürfen, Kontroversen, Wünschen, Notwendigkeiten und Träumen, stehen Akteure und Verfahrensweisen ebenso im Fokus wie Debatten um Deutungshoheiten und Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf Darstellungen und Räume. Was wird gezeigt und was soll vor allem nicht gezeigt werden? Worüber wird verhandelt und wer möchte welche Stadt etablieren? Die Kunsttheoretikerin Susanne Hauser geht davon aus, dass sich die Images und Themen einer Stadt im Laufe der Zeit durchaus wandeln; all „[...] diese Bilder sind Zeugnisse der sich verschiebenden Aufmerksamkeiten für jeweils ausgezeichnete Eigenschaften, Zustände und Prozesse. Sie präsentieren Wissen, Konzepte, Akzeptanzen, Definitionen von Problemen und Technologien des Blicks und zeigen, was jeweils als sichtbar, bemerkenswert und veränderbar ausgezeichnet werden sollte.“603 Ohne dass die Schau faktisch veranstaltet worden ist, wird aus den Unterlagen ersichtlich, wie komplex und vielschichtig sich die Suche nach den adäquaten Bildern und Topoi für die Repräsentation der Stadt in dieser Situation gestaltet, was für Aspekte nach Meinung der Verantwortlichen im Jahr 1958 hervorgehoben werden sollen und auf welche Weise ausgesuchte Ansichten gerade von einer Stadt wie München erzählen. Anhand der zahlreichen Skizzen und Konzepte lässt sich ebenso nachvollziehen, dass „Sichtbarkeit und die Formen der anerkannten visuellen Evidenz einer Gesellschaft [...] hergestellt [sind] und [...] nicht von selbst [entstehen]. Wie das Evidente gezeigt wird“, erklärt Susanne Hauser, „ist das Ergebnis von jeweils zeitgenössischen Regeln des Erzeugens von glaubwürdigen Bildern. Sie sind Teil eines Zusammenhangs, in dem sowohl das Wissen als auch die Formen, in denen es kommuniziert wird, entstehen.“604

602 |

Vgl. Davis 2006: S. 29-32.

603 |

Hauser, Susanne (2007): Bilder von Städten und Regionen. In: Raumbilder und

Stadtentwicklung. Informationen zur Raumentwicklung. Hg. vom Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung. 12/2007, S. 687-694. Hier: S. 689. 604 |

Hauser 2007: S. 688.

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Ein Kreis von einflussreichen Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Medien und Gesellschaft strengt immer wieder neue Bemühungen in Bezug auf das Ausstellungsvorhaben an oder ist zumindest im Gespräch, wenn es darum geht, verschiedene Gremien zu besetzen.605 Im November 1955 kommt es erstmals zu einem Treffen von Vertretern der geplanten Ausstellung mit Direktoren und wissenschaftlichen Mitarbeitern der Münchner Museen im Wiederaufbaureferat, zum Teil überschneiden sich hier auch die Zuständigkeiten. Wie aus einem Schreiben an den Stadtrat Karl Erhardt hervorgeht, wird bei dem Termin beschlossen, dass sich die Jubiläumsschau der Stadt auf „das München der Gegenwart und die wirtschaftliche Bedeutung auch im Rahmen Bayerns“606 beschränken solle, denn schließlich ist eine ganze Reihe anderer Ausstellungen und Programmpunkte in Vorbereitung. Beiliegend sind einzelne Vorschläge von Münchner Einrichtungen aufgelistet. Das Stadtmuseum möchte zum Beispiel die „Geschichte und Entwicklung der Stadt in Bildern“ zeigen, ferner beabsichtigt der Schutzverband bildender Künstler in München eine Ausstellung zum Thema Schwabing, und nicht zuletzt teilt „Generaldirektor Dr. Buchner [...] mit, daß die Alte Pinakothek bis 1958 eröffnet sei“607. Ein Kurzexposé vom August 1956 greift die Unterredung auf und befasst sich in erster Linie mit der ökonomischen Situation der Stadt, thematisiert werden soll Münchens Wirtschaftsgeschichte – das gastliche München als Tor zu den Alpen, München als mitteleuropäisches Verkehrszentrum und die Rolle Münchens als Filmstadt.608 Im Januar 1957 erhält Karl Erhardt eine Mitteilung, in der es um die Finanzierung von Seiten des Freistaats geht. Bayerische Exportwaren müssen ebenfalls Thema der Ausstellung sein, sonst sieht das Land keinen Grund, für die Schau zu bezahlen. Die Rede ist jetzt von 300.000 DM. Im Übrigen wird die Zeit langsam knapp, denn die Ausschüsse, die über die Gelder entscheiden, so der Hinweis, werden in Kürze tagen.609 Wenig später beantragt Oberbürgermeister Wimmer offiziell den Zuschuss beim Freistaat Bayern.610 Während weiterhin inhaltlich gearbeitet wird, im „neuen München“ soll inzwischen auch die „Stadt der Zukunft“ mit Plänen von Neubauwohnungen zum Ausdruck kommen, und daneben soll das „Atom-Viertel“ vorgestellt werden, läuft die Debatte um die Finan-

605 |

Vgl. Ausstellungen und Messen – Jubiläumsausstellung 1958. Stadtarchiv Mün-

chen, 1079. 606 |

Schreiben des Wiederaufbaureferats an Stadtrat Karl Erhardt, November 1955. In:

Ausstellungen und Messen – Jubiläumsausstellung 1958. Stadtarchiv München, 1079. 607 |

Ebd.

608 |

Vgl. Exposé vom 22. August 1956. In: Ausstellungen und Messen – Jubiläumsaus-

stellung 1958. Stadtarchiv München, 1079. 609 |

Vgl. Korrespondenz zwischen dem Bayerischen Wirtschaftsministerium und den

Verantwortlichen der Stadt München, Januar bis Februar 1957. In: Ausstellungen und Messen – Jubiläumsausstellung 1958. Stadtarchiv München, 1079. 610 |

Vgl. Ebd.

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zierung auf vollen Touren.611 Die Stadt erklärt sich in der Tat bereit, ihrerseits 300 000 DM aufzubringen, wenn der Freistaat in gleicher Höhe nachlegt. Wimmers Büro arbeitet ohne Verzögerung, und dennoch lehnt der Bayerische Wirtschaftsminister Otto Bezold den Antrag der Stadt am 4. Februar 1957 mit der Begründung ab, dass die Fristen für das kommende Haushaltsjahr schon längst verstrichen seien, er sich aber höchstpersönlich beim Ministerrat für die Sache einsetzen werde. „Mein Ministerium hat wiederholt darauf hingewiesen, daß es die Tradition Münchens als Ausstellungsstadt nahe lege, dem Jubiläumsprogramm eine Ausstellung einzufügen, die dem Anlaß entsprechend den Rang einer Veranstaltung internationaler Bedeutung haben müsste. Leider ist die Zeit inzwischen soweit fortgeschritten [...].“612 Am 6. Februar 1957 wird trotz aller Bedenken ein eigener Verein zur Realisierung der „Jubiläums-Ausstellung 1958“ gegründet. In erster Linie bemühen sich der Stadtkämmerer Erwin Hielscher, Wirtschaftsreferent Karl Erhardt und Herbert Hohenemser, der Kulturreferent, um die geplante Werbeschau, und auch Robert Poeverlein vom Vorstand des Deutschen Museums, ehemals Architekt der Postbauschule und Ministerialrat im Bayerischen Kultusministerium, beteiligt sich rege an den Vorbereitungen. Mitglieder des Münchner Stadtrats und Vertreter bayerischer Ministerien bekleiden wie etwa der Aufsichtsratsvorsitzende der Bayerischen Vereinsbank oder auch der Präsident der Industrie- und Handelskammer wichtige Posten, erster Vorsitzender der Vereinigung wird Franz Stadelmayer, Intendant des Bayerischen Rundfunks.613 Es folgen verschiedene Sitzungen und Debatten mit immer neuen Vorschlägen und Ideen. Am Rande wird immer wieder auch über die Finanzen gesprochen, in erster Linie aber geht es um inhaltliche Diskussionen, und diese finden ihren Niederschlag in zahllosen Exposés. Die Zielsetzung ist unterdessen merklich zugespitzt, „[d]a die Ausstellung in die Hochsaison des Fremdenverkehrs fällt [...] und München weitgehend vom Fremdenverkehr lebt, gilt es die auf 6 Hallen mit rund 20 000 qm überdachter Fläche beschränkte Jubiläumsschau so publikumswirksam wie möglich zu gestalten, um insbesondere beim Auslandspublikum sowie in der Presse des In- und Auslandes entsprechend Widerhall zu finden. Die Ausstellung muss daher ein attraktives Gesamtbild mit starken optischen Effekten bieten. Münchens eigene Atmosphäre erwächst aus Spannungen wie beispielsweise Tradition und Fortschritt, Wirtschaft und Kunst 611 |

Vgl. Exposé, Januar 1957. In: Ausstellungen und Messen – Jubiläumsausstellung

1958. Stadtarchiv München, 1079. 612 |

Korrespondenz zwischen dem Bayerischen Wirtschaftsministerium und den Ver-

antwortlichen bei der Stadt München, Januar bis Februar 1957. In: Ausstellungen und Messen – Jubiläumsausstellung 1958. Stadtarchiv München, 1079. 613 |

Vgl. Protokoll der ersten ordentlichen Mitgliederversammlung des Vereins „Jubilä-

ums-Ausstellung 1958“, 6. Mai 1957. In: Ausstellungen und Messen – Jubiläumsausstellung 1958. Stadtarchiv München, 1079.

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(Schwabing), Stadt und Landschaft, Besinnlichkeit und Atomtechnik. Dazu hat es München als eine der wenigen Städte verstanden, diese Spannung und diesen Reiz auch in seinem baulichen Gesicht selbst nach der Zerstörung durch den Zweiten Weltkrieg zu erhalten. Darum ist ein Rechenschaftsbericht über den Wiederaufbau unerlässlich.“614 Auch konkrete Vorschläge zur Gestaltung der Schau werden gemacht, „[u]m die angedeuteten Spannungen, die die typische Atmosphäre Münchens ausmachen, optisch zum Ausdruck zu bringen, könnte mit kontrastierenden Beispielen gearbeitet werden, also u.a.: Gegenüberstellung einer vergoldeten Hofkalesche der Barockzeit mit dem neuesten Modell eines BMW, Grossfoto einer Starnberger-SeeLandschaft in Verbindung mit davorgestellten Ritterrüstungen, ein lebensgroßes Foto vom Valentin beigegeben und davor Mikroskope und feinmechanische Erzeugnisse angeordnet, eine Faschingsdekoration in die ein großes Elektroaggregat gestellt wird, barocke Gartenplastiken vor den Grossfotos moderner Bauten, Lola Montez neben Modellen von Schulze-Varell oder Horst Klöss, die alten Kurfürsten und Könige neben den alten und neuen Reisezielen in Oberbayern, die schöne Münchnerin neben Studenten, Maschinen neben Gobelins und Bierfässer neben Nymphenburger Porzellan, die Isar-Flösser neben der modernen Luftfahrt, bedeutende Söhne unserer Stadt neben Verlagserzeugnissen und Chemikalien, Zerstörung gegen Wiederaufbau, der Film gekoppelt mit dem alten Maximilianszug, etc., etc.“615 Im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit wird auf politischer Ebene um Bilder gestritten und über Variationen nachgedacht. Was zeichnet München aus und wie soll diese Stadt Ende der 1950er Jahre dargestellt werden? Welche Rolle wird München in Zukunft einnehmen? Im Wesentlichen kreisen die verschiedenen Exposés um einen Kanon an Motiven, der die Stadt auf ganz spezifische Art und Weise zeigt und gleichzeitig auch auf die angestrebten Qualitäten verweist. In diesem Sinne spricht Mike Davis von „Ausgrabungen in der Zukunft der Stadt“616. Die erhaltenen Aufzeichnungen in den Akten geben Suchbewegungen wieder, lassen Prozesse sichtbar werden und werfen damals wie heute Fragen auf. Was bewegt eine urbane Gesellschaft in der Moderne, auf welche Vergangenheit sollen sich die Städterinnen und Städter der historischen Gegenwart berufen und welche Ziele verfolgt München aus der Perspektive jener Jahre? Während die Ereignisse zwischen 1923, 1933 und 1945, ebenso wie der Nationalsozialismus, die Shoah, der Holocaust, Flucht und Vertreibung in den angedachten Repräsentationen über614 |

Kurzexposé des Vereins „Jubiläums-Ausstellung 1958“ an das Bayerische Wirt-

schaftsministerium, April 1957. In: Ausstellungen und Messen – Jubiläumsausstellung 1958. Stadtarchiv München, 1079. 615 |

Exposé des Vereins „Jubiläums-Ausstellung 1958“, Februar 1957. In: Ausstellungen

und Messen – Jubiläumsausstellung 1958. Stadtarchiv München, 1079. 616 |

Vgl. Davis 2006.

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haupt nicht zur Sprache kommen und im Verlauf der Planungen ausschließlich über die physischen Schäden und den erfolgreichen Wiederaufbau der Stadt erzählt werden, wird mehrheitlich auf Bilder und Symbole zurückgegriffen, die ein deutlich weiter reichendes zeitliches, soziales, politisches und kulturelles Netz um München spannen. „Der Umgang mit einer Vergangenheit, die ‚nicht vergehen will‘, war und ist auch für München nicht leicht“, 617 kommentiert der Historiker Andreas Heusler. „Gescholten als ‚Hauptstadt der Verdrängung‘ hat sich die bayerische Landeshauptstadt lange Zeit nur widerstrebend, vielfach zähneknirschend mit der eigenen historischen Schuld und Verantwortung befasst.“618 Im Jubeljahr 1958 soll München exemplarisch ausgestellt werden und die Inszenierung der Stadt bringt ihrerseits Bilder und Räume hervor. Als Bilder sind neben verschiedenen visuellen Formen des Ausdrucks auch Zuschreibungen, Ansichten, Images, Ideen und Interpretationen zu verstehen, der Bildbegriff schließt Diskussionen und Diskurse in der gleichen Weise mit ein wie Akteurinnen und Akteure, Ereignisse, Situationen, Räume oder Handlungspraktiken, bezieht sich vor allem aber auf deren ästhetische Komponente, auf die Idee des Erscheinens. Relativ und aus verschiedenen Perspektiven wird in diesem Kontext auch der Raum gedacht. In ihren Ausführungen unterscheidet die Sozialwissenschaftlerin Martina Löw zwei wesentliche Prozesse der Raumkonstitution. Raum entsteht einmal durch die Anordnung von Menschen und sozialen Gütern oder stellvertretend durch die Setzung symbolischer Marken, um etwa Ensembles von Dingen, Zusammenhänge und Individuen anzuzeigen und damit sichtbar zu machen. Martina Löw bezeichnet diesen Vorgang als Spacing, es geht um das Errichten, Bauen und Plazieren, um das Herstellen von Raum.619 Damit ist die Aufstellung von Waren im Supermarkt ebenso gemeint wie die Vernetzung von PCs oder das Einnehmen eines Standpunkts gegenüber anderen Personen. Zu denken wäre auch an den Wiederaufbau einer Stadt oder an das Arrangement von Objekten im Rahmen einer Ausstellungsgestaltung. Das Positionieren ist dabei stets relational zu anderen Gegenständen oder Räumen zu verstehen und schließt auch die prozesshafte Ermittlung von Haltungen und Standpunkten nicht aus. In Bezug auf die Instandsetzung der Stadt München nach 1945 argumentiert Heusler, dass die „[...] detailverliebte Rekonstruktion des bombenzerstörten ‚Bierarkadien‘, der originäre aber nicht originale Wiederaufbau des einstigen ‚Isar-Athen‘, der euphorisierende Quantensprung vom Ursprungsort des Nationalsozialismus zur ‚Weltstadt mit Herz‘ [...] wohl lange darüber hinwegtäuschen [konnten], dass unter der geschönten Oberfläche geschichtliche Verwerfungen, Verletzungen und Leerstellen fortwirken.“620

617 |

Heusler 2008: S. 17.

618 |

Ebd.

619 |

Vgl. Löw, Martina (2001): Raumsoziologie. Frankfurt am Main, S. 158-159.

620 |

Heusler 2008: S. 17-18.

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Analog zur Praxis des Spacing bedarf es, so Martina Löw, vor allem der Syntheseleistungen, die es ermöglichen, dass einzelne Versatzstücke oder kleinere Einheiten in der Summe wahrgenommen, vorgestellt, erinnert und „[...] dementsprechend als ein ‚Baustein‘ in die Konstruktion von Raum einbezogen werden.“621 Das Konzept bezieht sich auf die Stadt als komplexe Einheit und auf Teile oder Aspekte von Orten oder Städten. Dabei geht es ebenso um die Idee von München als „Brücke Europas“ wie um konkrete Fährpläne und Verbindungen ab München Hauptbahnhof, und es bedarf auch einer Syntheseleistung, um die Themen Tradition und Moderne, in der Konfrontation einer vergoldeten Hofkalesche mit dem neuesten Modell eines BMW zu sehen. Die Frauenkirche wird nicht einfach als Gebäude oder als Anhäufung von Baumaterial begriffen, sondern als sakraler Raum und Wahrzeichen der Stadt verstanden. Die beiden Türme mit ihren Kuppeln erzeugen eine signifikante Silhouette und verweisen damit auf München als Bezugssystem. Die Frauenkirche steht zugleich für eine ganz andere Stadt; der zerstörte Kirchenraum, die langjährige Kollekte und der Wiederaufbau erzählen in dieser Konstellation die Geschichte von Dresden. Dabei liegt es immer an den Menschen und ihren Lebensstilen, welche Räume sie sehen, herstellen und reproduzieren. Syntheseleistungen finden auf der Basis von Wahrnehmung und Erinnerung statt, werden von Bildern beeinflusst und tragen selbst fortwährend zur Repräsentation von Räumen bei. Diese Art von Kontext lässt sich, zum Beispiel in der Wissenschaft, bei der Rekonstruktion einer Stadt oder für den Entwurf der JubiläumsSchau, auch ohne die gegenständliche Ebene des Spacing entwickeln, dazu „[...] werden am Reißbrett, in der Computersimulation oder auf dem Papier Objekte zu Räumen verknüpft. Diese Verknüpfungen können zwar das weitere Handeln leiten, münden aber nicht gleich in daran anschließende Spacings.“622 Dabei sind aber auch Spacings, etwa in Gestalt von moderner Architektur, denkbar, die mit ihrer Realität, der Materialität und Haptik, Syntheseleistungen erst herausfordern. Martina Löw illustriert am Exempel der Klagemauer in Jerusalem verschiedene Aspekte des Aufbaus, der Wahrnehmung und der Beschaffenheit von Räumen und zeigt wie „die routinierten Bahnen des Handelns, die strukturelle Dimension des Räumlichen, de[n] Einsatz des Körpers, de[n] Habitus, die Veränderungspotentiale, die Bedeutung von Symbolik und Materie, schließlich auch die Konstitution von Orten und die Herausbildung von Atmosphären“623 miteinander verwoben sind. In den vier Jahren der Münchner Ausstellungskonzeption eröffnen sich die beschriebenen Strategien, Leistungen und Praxen gewissermaßen im Versuch der Übersetzung von städtischen Bildern und Räumen. Am 8. Mai 1957 tagt der Programmausschuss des Vereins zur Durchführung der Ausstellung „800 Jahre München“ zum ersten Mal. Der Etat wird besprochen und außerdem über Druck621 |

Löw 2001: S. 158.

622 |

Ebd.: S. 159-160.

623 |

Ebd.: S. 161.

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sachen beraten, die bald in Auftrag gehen sollen. Debattiert werden Entwürfe des Architekten Horst Döhnert, das ausgearbeitete Konzept für die Ausstellung liegt seit April des Jahres vor. „Herr Dr. Hohenemser ist der Ansicht, dass sich Herr Döhnert in dem Ausstellungsteil ‚Das ist München’ zu eingehend mit der historischen Entwicklung Münchens befasste. Er erinnerte nochmals an die frühere Konzeption und betonte hierzu ausdrücklich, dass er durchaus nicht stur an diesen Plänen festhalten wolle, aber andererseits die Gefahr einer Überschneidung mit den übrigen Ausstellungen anlässlich der 800-Jahr-Feier sehe, die unbedingt vermieden werden müsse. [...] Er legte Wert auf die Darstellung der Stadt München von heute und morgen, die seiner Ansicht nach das Hauptthema der gesamten Ausstellung werden müsse. Ferner ist er der Ansicht, dass man der Tatsache ‚München im Netz der Weltverbindung‘ wesentlich mehr Beachtung schenken sollte.“624 Mit dieser Aussage sind die Pläne von Döhnert im Grunde wieder obsolet, im Verlauf der Sitzung wird laut Protokoll auch keine Einigung über das Konzept erzielt. Die Ausrichtung der Schau bleibt damit weiter offen. Am 27. Mai 1957 legt Intendant Stadelmayer unvermittelt seinen Posten nieder und schreibt an Oberbürgermeister Wimmer, dass er eigentlich davon ausgegangen ist, ein repräsentatives Amt zu übernehmen. Stattdessen hat sich gezeigt, dass der Vorsitzende einen enormen Kraft- und Zeitaufwand betreiben müsse, um mit der geplanten Schau entsprechend voran zu kommen. „Tatsache ist, dass vorerst die Finanzierung dieser Ausstellung nicht feststeht. Weiter ist die Tatsache, dass hinsichtlich der Gestaltung der Jubiläumsschau eine Fülle von Meinungen und Vorschlägen geistreicher Leute vorliegt. Es bedarf jedoch noch ernster und mühseliger Arbeit, um eine Jubiläumsschau, die des Namens der Stadt München und dieses besonderen ausserordentlichen Anlasses würdig ist, im Laufe der nächsten Wochen so zu planen, dass – trotz der im günstigsten Fall vorhandenen bescheidenen Mittel –, eine diese Bezeichnung wirklich verdienende Jubiläumsschau 1958 zustande kommt. Ich weise darauf hin, dass im Jahr 1958 München im Mittelpunkt des Interesses der ganzen Welt stehen wird. Ich weise weiter darauf hin, dass zahlreiche, weltberühmte Einrichtungen der Stadt München, etwa von der Pinakothek oder Staatsbibliothek oder den Hochschulen, den Theatern oder Berufsschulen angefangen, (um nur einige wenige Dinge zu erwähnen), durch Darbietung ihrer Schätze, ihrer Leistungen und der mit ihnen verbundenen Persönlichkeiten den Glanz ihres Ruhmes und damit den Glanz der Stadt München ausstrahlen werden. Die geplante Jubiläumsschau muss ein ganz großer Wurf sein, wenn sie neben all dem, was im Jahre 1958 in München zu sehen sein wird, bestehen soll. Dieser Wurf wird nur zustande kommen, wenn der Verein, der die Ausstellung tragen soll, unter zielbewusster entschlossener Führung in engster Zusammenarbeit mit

624 |

Protokoll der ersten Sitzung des Programmausschusses am 8. Mai 1957. In: Aus-

stellungen und Messen – Jubiläumsausstellung 1958. Stadtarchiv München, 1079.

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dem Rat alsbald die Linie findet, die für die Jubiläumsschau vorzuschreiben und dann auch unbedingt einzuhalten ist.“625 Weder kann in den folgenden Monaten ein Kompromiss gefunden, noch Einigkeit über eine Variante des Themas erzielt werden, zugleich kommen immer neue Ideen auf. „Im Hinblick darauf, dass München im Herbst dieses Jahres Millionenstadt wird und dass auf Vorschlag des Oberbürgermeisters von New York im nächsten Jahr ein Treffen der Oberbürgermeister der 80 Millionenstädte stattfinden soll, schlug Herr Stadtrat Dr. Hohenemser als Thema zur Gestaltung der Eingangshalle vor: München im Reigen der 80 Millionen-Städte.“626 Davon abgesehen ist auch eine Eröffnung, die „München im Blickfang der Geschäftsauslagen“ zeigt, vorstellbar, ebenso wie „Die Münchnerin, eine anmutige, vielseitige Schau, in der – abweichend von allen bisherigen Ausstellungen anlässlich der 800-Jahr-Feier der Stadt München – die Münchner Frauen zu Wort kommen sollen“627. Diese Vorschläge werden von den Beteiligten ebenfalls abgelehnt. Eine gemeinsame Fragestellung wird nicht gefunden, stattdessen erscheinen die Konzepte nun zusehends disparater. Lediglich der neue Titel der Ausstellung kann eine Mehrheit überzeugen, kurz und bündig ist im Sommer 1957 von „München 1958“ die Rede.628 Die Finanzierung ist dem Anschein nach gesichert, 100.000 DM kommen vom Land, 300.000 DM von der Stadt und außerdem können die fehlenden 200.000 DM über den Fond des „Festvereins München 1958“ ergänzt werden, diese Umfinanzierung hat Bürgermeister Adolf Hieber in die Wege geleitet. Intendant Stadelmayer hingegen lässt mitteilen, dass der Bayerische Rundfunk kaum noch Interesse an einer Beteiligung hat. Für die einzelnen Ausstellungsabteilungen werden Fachausschüsse aufgestellt und wiederum mit lokalen Größen aus Wirtschaft, Politik und Kultur besetzt. Noch immer werden in erster Linie Detailfragen zur Gestaltung debattiert, das übergeordnete Konzept bleibt jedoch fraglich. Im Zentrum steht offenkundig eine Exportschau, allerdings ist nicht mehr nachvollziehbar, auf welches Exposé sich die Planungen mittlerweile berufen. Im Schriftverkehr zwischen Hohenemser und Erhart wird indessen deutlich, dass die Finanzierung weiterhin ungeklärt bleibt. Erhart verweist nachdrücklich auf den Stadtrat, der in Kenntnis gesetzt werden muss und auf die Tombola, aus der die 200.000 DM stammen sollen. Hohenemser berichtigt, er habe bereits eine schriftliche Zusage von Hieber und in der

625 |

Stellungnahme von Dr. Franz Stadelmayer zu seinem Rücktritt am 27. Mai 1957. In:

Ausstellungen und Messen – Jubiläumsausstellung 1958. Stadtarchiv München, 1079. 626 |

Protokoll der zweiten Sitzung des Programmausschusses am 29. Mai 1957. In:

Ausstellungen und Messen – Jubiläumsausstellung 1958. Stadtarchiv München, 1079. 627 |

Ebd.

628 |

Vgl. Ebd.

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Öffentlichkeit soll nicht lanciert werden, dass die Mittel für die Jubiläumsschau aus einer Tombola stammen.629 Im Dezember 1957 beginnt „[...] die Ausstellung mit einem repräsentativen Foyer, in dem tatsächlich München den Besucher empfängt. Der Besucher wird über verschiedene Galerien von einem Grossraum in den nächsten geführt, wobei die Galerien die Aufgabe haben, über bedeutende Männer und Frauen, die hier gelebt und gewirkt haben, Näheres auszusagen und die Auswirkung von deren Tun auf unsere heutige Zeit darzulegen. So sind vorgesehen eine Galerie über das Geistesleben, eine Galerie über die Technik, eine weitere über Künstler und Mäzene sowie schliesslich eine Galerie, in der das alte Münchner Milieu behandelt wird. Weitere Ausstellungsräume werden die bauliche Entwicklung, Münchner Kultur, Münchner Mode, Presse, Institute und Verwaltungen und schliesslich den Münchner Fasching behandeln. Die Raumfolge ist interessant und spannungsreich geplant, wobei es der Wunsch des gestaltenden Architekten Horst Döhnert ist, dass sich der Besucher in den vielfältigen Räumen entspannt und geruhsam umherwandert“630. Am 19. Dezember 1957 wird die Jubiläumsschau trotz aller Unklarheiten auf einer Pressekonferenz im Hotel „Esplanade“ der Öffentlichkeit vorgestellt. Die Presse reagiert ablehnend, die Präsentation wird für die Verantwortlichen zum Fiasko. Warum wird die Ausstellung auf dem Messegelände und nicht inmitten der Stadt geplant? Die Süddeutsche Zeitung mokiert sich über mangelnde Strukturen und befürchtet eine Geldverschwendung im großen Stil.631 Auch der Münchner Merkur übt harsche Kritik an dem Vorhaben, im Rahmen der Feierlichkeiten würden sich Veranstaltungen doppeln und die beteiligten Institutionen scheinen geradezu miteinander in Konkurrenz zu stehen.632 Nachdem die finanziellen Probleme letzten Endes nicht gelöst werden können, obgleich Stadt und Land grundsätzlich bereit gewesen sind, verhältnismäßig hohe Summen für die Ausstellung einzusetzen, und in inhaltlichen Fragen noch immer keine Einigung erzielt werden kann, gibt Thomas Wimmer Anfang des Jahres 1958 nach einer Krisensitzung im Rathaus das Ende der Pläne bekannt. Ein Artikel im 8-Uhr Blatt bilanziert das geplante Unternehmen: „Noch eine Misere mehr: Jubiläums-Ausstellung 1958. Viele Mitredner – wenig Geld!“633 629 |

Vgl. Korrespondenz und Protokoll eines Treffens vom 1. August 1957. In: Ausstel-

lungen und Messen – Jubiläumsausstellung 1958. Stadtarchiv München, 1079. 630 |

Exposé des Vereins „Jubiläums-Ausstellung 1958“, Dezember 1957. In: Ausstellun-

gen und Messen – 800-Jahr-Feier. Stadtarchiv München, 1080. 631 |

Vgl. Süddeutsche Zeitung (21./22. Dezember 1957), S. 10. In: Ausstellungen und

Messen – 800-Jahr-Feier. Stadtarchiv München, 1080. 632 |

Vgl. Münchner Merkur vom (21./22. Dezember 1957). In: Ausstellungen und Mes-

sen – 800-Jahr-Feier. Stadtarchiv München, 1080. 633 |

8-Uhr Blatt vom 8. Januar 1958. In: Ausstellungen und Messen – 800-Jahr-Feier.

Stadtarchiv München, 1079.

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F EST WOCHEN UND EIN NÄCHTLICHER U MZUG „Ab 9. Juni wurde das Rathaus an der Hauptfront für die 800-Jahr-Feier geschmückt“, heißt es 1958 unter der Überschrift „Eine Stadt putzt sich heraus“ in der Chronik von München, „[v]ier Männer der Rathausverwaltung haben alle Hände voll zu tun, die Fahnen und Schabracken zu befestigen. Etwa 200 farbige Schabracken leuchten allein auf der Seite zum Marienplatz, insgesamt wird das Rathaus nahezu 400 geschmückte Fenster aufweisen. In den letzten Tagen hat in den Geschäften endlich die längst erwartete Massennachfrage nach den Fahnen und Wimperln für den Schmuck der privaten Häuser eingesetzt.“634 Das Münchner Jubeljahr wird trotz der gescheiterten Ausstellung mit vielen Programmpunkten begangen; zahlreiche Lesungen, Vorträge, Konzerte, Treffen und Tagungen werden angeboten. Im gesamten Bundesgebiet und auch in den USA wird mit Schweinswürsten und Brotzeitgutscheinen für Reisen nach München geworben.635 Vom 14. Juni bis zum 31. August 1958 dauern die Festwochen mit Ausstellungen über Schwabing und den Volkssänger Karl Valentin, den Chorwochen und dem „Deutschen Turnerfest“, einem Kongress internationaler Kulturkritiker, darunter auch Hannah Arendt und Theodor W. Adorno, einer Freiluft-Serenade mit 200 Musikerinnen und Musikern auf dem Marienplatz, einem Umzug zur Geschichte des Verkehrs und der „Internationalen Kolonialwaren- und Feinkost-Ausstellung“.636 Den Höhepunkt der Feierlichkeiten bildet der nächtliche Festzug, der am Abend des 13. Juni 1958 ausgehend von der Maximilianstraße durch die Münchner Innenstadt und hinauf in die Ludwigstraße führt. „Die Veranstalter wünschten sich einen ‚Sommernachtstraum aus Vision und Wirklichkeit‘“, erklärt die Kulturwissenschaftlerin Brigitte Huber, „[d]ie teilnehmenden Gruppen sollten Situationen aus der Stadtgeschichte und dem Stadtbild darstellen.“637 Wie Brigitte Huber zeigt, folgen die Inhalte dabei keiner systematischen Chronologie, vielmehr werden „[...] die Themen und Motive [...] – wohl in Nachwirkung des noch nicht all zu lang zurückliegenden ‚Dritten Reichs‘ – bewusst unpolitisch ausgewählt. Zur konkreten historischen Erinnerung gehörten wenige historische Daten bzw. Personen der Stadtgeschichte. Die übrigen Sujets waren von teilweise naiver Harmlosigkeit, sie lösten Zusammenhänge in hübsche Bilder auf. Visualisiert wurden u.a. Heinrich der Löwe und Ludwig der Bayer, die Patrona Bavariae, die Moriskentänzer, die Pest und die Schäffler, bedeutende historische Münchner Bauten und der Englische Garten, das Glockenspiel am neuen Rathaus, Münchens erste ‚Pferde-Tramway‘, 634 |

www.muenchen.de/Rathaus/dir/stadtarchiv/chronik/1958/215410/1958.html,

(11. November 2010). 635 | 636 |

Vgl. ebd. Offizieller Festkatalog zum Stadtjubiläum. In: Zeitgeschichtliche Sammlung –

800-Jahr-Feier. Stadtarchiv München, 41/2. 637 |

Huber, Brigitte (2009): München feiert: Der Festzug als Phänomen und Medium.

Neustadt an der Aisch, S. 69-71.

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Schwabing, die Auer Dult, das Oktoberfest und natürlich die Isar. Einen [...] unausgesprochenen Verweis auf die jüngste Vergangenheit bot einzig die Gruppe ‚Heimkehr der Bilder in die neue Alte Pinakothek 1957‘, doch auch dieses Zeugnis wurde als ausschließlich freudiges visualisiert.“638 Das festliche Ereignis ist vielen Besucherinnen und Besuchern nachhaltig in Erinnerung geblieben. Karin Kastner, die zu jener Zeit in München bei der Residenzpost beschäftigt gewesen ist, erzählt beispielsweise, wie sie gemeinsam mit ihrem Bruder auf dem Vordach des Operncafés am Max-Joseph-Platz gestanden hat, um den Festzug zu beobachten.639 Die Abfolge der beteiligten Gruppen hat allerdings nicht immer mit der ausgewählten Musik übereingestimmt; eine andere Zuschauerin erinnert sich, dass die entlang der Strecke installierten Lautsprecheranlagen auf Grund unterschiedlicher Geschwindigkeiten irgendwann nicht mehr synchron mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Umzugs gelaufen sind. Während eine Abordnung von Professoren am Standpunkt der Dame vorbeizieht, ertönt synchron das Lied von den „lustigen Holzhackerbuam“.640 Ungeachtet kleinerer Schwierigkeiten, wird der Umzug jedoch vielfach als tolles Spektakel wahrgenommen; und am Rande der nächtlichen Feierlichkeiten hat sich auch jemand den Scherz erlaubt, den Wittelsbacher Brunnen mit Hilfe von Waschmittel zum Überschäumen zu bringen.641 Im München des Jahres 1958 treffen die Schatten der Vergangenheit, Bedürfnisse und Ansichten der Gegenwart und nicht zuletzt auch Fragen, die es künftig zu lösen gilt, aufeinander. Die Verantwortlichen zeigen sich über Jahre bemüht, nicht nur das Ausstellungsprojekt, sondern darüber auch eine Identität für die Stadt und ihre Bewohnerinnen und Bewohner auszuhandeln. Obwohl die Schau am Ende niemals umgesetzt worden ist und das Vorhaben, die Ambivalenz von München, zwischen Besinnlichkeit und Atomtechnik, als Präsentation zu fassen, schließlich gescheitert sind, machen die Planungen deutlich, wie Narrationen von räumlichen, zeitlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Konstellationen abhängig sind und sich gleichzeitig auf die Dispositionen einer ganz bestimmten Stadt, in diesem Fall auf München, beziehen. In immer neuen Variationen werden Bilder entwickelt und Pläne entworfen. Auf die Zukunft gerichtet, zeigen sich diese Visionen in der Rede von „München als Brücke Europas“ und in der Positionierung der Stadt als „Zentrum des europäischen Fremdenverkehrs“. Die Darstellung von München als Ganzes ist offenkundig noch im Prozess der Synthese gescheitert. Dabei scheint gerade der Modus einer Ausstellung dem komplexen Gewebe der Stadt zu entsprechen und birgt eine außerordentliche Vielfalt an Möglichkeiten. 1958 ist es je638 |

Ebd.

639 |

Vgl. Interview mit Karin Kastner am 9. Juni 2009.

640 |

Vgl. Gespräch mit einer Besucherin des Symposiums „Städtisches Selbstverständ-

nis und Stadtjubiläen – Bilder, Inszenierungen und Visionen“ an der Katholischen Universität Eichstätt am 31. Oktober 2008. 641 |

Vgl. Hinweis von Anton Gschwendtner am 17. Dezember 2009.

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doch nicht gelungen, dieses Modell in die Tat umzusetzen. Zu uneindeutig wirken Inhalte und Positionen, zu diffus erscheinen Volumen und Konzeption des Unterfangens. Mit der Jubiläumsschau hätten sich Szenen und Bilder an einem Ort verdichtet, gerade das Festlegen aber hat enorme Schwierigkeiten bereitet. In der Inszenierung der weltoffenen Stadt wird aber auch die Diskrepanz zu den Realitäten der Zeit evident. Dreizehn Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus und des Krieges bauen nahezu alle Interpretationen der augenblicklichen Situation auf dem Fundament der Ausblendung von Ereignissen der jüngsten Geschichte. Die Menschen, die in München um ihr Leben gebracht worden sind, spielen wie die Traumata des Krieges keine Rolle in der Narration der Stadt. Dabei wohnt der im Jubeljahr so oft in Texten und Broschüren zitierte Literaturnobelpreisträger Thomas Mann seit 1933 nicht mehr in München und ist auch nach 1945 nicht mehr dauerhaft in die Bundesrepublik zurückgekehrt.642 Zu einem Eklat führt der Auftritt von Oskar Maria Graf im Cuvilliés-Theater, der Schriftsteller aus Berg am Starnberger See kommt zum Jubiläumsjahr 1958 aus seinem Exil in den USA und soll im Rahmen einer Abendveranstaltung aus seinen Romanen lesen. Graf klagt über die wenig zuvorkommende Behandlung seitens der Stadt, während etwa der Philosoph Herbert Marcuse im Hotel „Vier Jahreszeiten“ untergebracht ist, muss sich der Autor selbst eine Unterkunft suchen. Mit dem Kulturreferenten Hohenemser gerät Oskar Maria Graf aber auch noch in einer anderen Frage aneinander. „[A]ber ich sagte natürlich, ich träte nur in der bayerischen Tracht, mit der ich vor 25 Jahren das Land verlassen und nun wiedergekommen wäre auf.“643 Hohenemser verweist auf die Vorschriften, auch Graf muss im Theater einen Anzug tragen. „Ich werde wohl einen ungeheuren Krach machen müssen und dann abhauen.“644 Der Schriftsteller argumentiert gegen die Kleiderordnung und weist darauf hin, dass ihm die Medien und die Öffentlichkeit ebenso wie Münchens Oberbürgermeister Wimmer, den er schon seit der Revolution von 1918 kennt, wohl gesonnen sind. In seinem Brief an den Kollegen Hugo Hartung erläutert Graf seine Position. „[...] Sie meinen wohl mich absolut als ‚Heimatdichter‘ abzutun, ich wills ihnen demnach auch lederhosenmäßig demonstrieren und vorlesungsmäßig verderben. Das macht mir ja auch wieder Spaß. Aber bleiben in Deutschland – das hat mir diese kurze Zeit schon gezeigt, das nie. Ich wollt’s ja auch von anfang an nicht.“645 642 |

Vgl. Krüll, Marianne (2002): Im Netz der Zauberer. Eine andere Geschichte der

Familie Mann. 12. Aufl. Frankfurt am Main, S. 420-421. 643 |

Graf, Oskar Maria (1990): Die skandalöse Lederhose. Klagen eines bayerischen

Schriftstellers über die Kleiderordnung im Cuvilliés Theater. In: Schwab, Hans-Rüdiger (Hg.): München. Dichter sehen eine Stadt. Texte und Bilder aus vier Jahrhunderten. Stuttgart, S. 310-311. Hier: S. 310. 644 |

Graf 1990: S. 310.

645 |

Ebd.: S. 311.

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Abgesehen von der gescheiterten Präsentation in den Messehallen an der Theresienhöhe ist die Zurschaustellung der Stadt sowohl als Umzug als auch in Gestalt eines populären Lesebuchs begeistert angenommen worden. Das Jubeljahr mit seinen zahlreichen Höhepunkten und vielen identitätsstiftenden Momenten führt offenkundig zu der erwünschten Konsolidierung des kulturellen und kommunikativen Stadtgedächtnisses und findet am 15. Dezember 1958 „[...] im Kongreßsaal des Deutschen Museums [...] [einen] offiziellen Ausklang. Die Stadt hatte dazu alle Münchner eingeladen, die zum Ablauf der Jubiläumsfeierlichkeiten beigetragen haben. Oberbürgermeister Thomas Wimmer sprach ihnen den Dank aus und wies besonders auf die durch Bürgerinitiative gegründete Spendenaktion ‚Alte Heimat‘ hin, die als Krönung der 800-Jahr-Feier Wohnungen für noch immer evakuierte Münchner bauen will. Kulturreferent Dr. Hohenemser gab einen Rückblick auf die Jubiläumsveranstaltungen und wandte sich gegen den Vorwurf, sie seien zu wenig volkstümlich gewesen. Allein an den großen Massenveranstaltungen Festzüge, Feuerwerk, Turnfest und Schäfflertanz hätten weit über 2 Mio. Menschen teilgenommen.“646 Wie die Stadtchronik wenig später bemerkt, ist der Münchner Schriftsteller Lion Feuchtwanger kurz nach dem Ende der Festwochen im kalifornischen Exil gestorben.647

646 |

www.muenchen.de/Rathaus/dir/stadtarchiv/chronik/1958/215410/1958.html,

(11. November 2010). 647 |

Vgl. ebd.

169

7. „München Olympiastadt 1972!“ 648

Am 16. Februar 1966 antwortet der Deutsche Botschafter in Italien, Hans Heinrich Herwarth von Bittenfeld, auf eine Anfrage des Büros von Oberbürgermeister Vogel: „Ich darf Ihnen [...] versichern, daß die Botschaft alles tun wird, um die Bewerbung Münchens um die Olympischen Spiele im Jahre 1972 zu unterstützen. Daß ich als alter Münchner von Herzen wünsche, daß meine Vaterstadt zum Schauplatz der Spiele wird, brauche ich wohl nicht ausdrücklich zu erwähnen.“649 Der Botschafter will einen Empfang für die Delegation aus München geben, allerdings ohne mit dieser Geste in den Verdacht des unlauteren Wettbewerbs zu geraten. Die Kontaktaufnahme ist auf den Umstand zurückzuführen, dass die Olympischen Sommer- wie auch Winterspiele des Jahres 1972 am 26. April 1966 im Rahmen einer ordentlichen Sitzung des IOC in Rom vergeben werden. Während der Vorbereitungen und der eigentlichen Bewerbungsreise wird erstmals die Dynamik spürbar, die die Stadt München und insbesondere die Mitglieder des Olympischen Komitees (OK) in den nächsten sechs Jahren entwickeln werden. Ausgangspunkt der Geschichte ist ein legendäres Treffen zwischen dem Münchner Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel und dem Präsidenten des NOK, Willi Daume. In Innsbruck spricht der Münchner Bürgermeister Georg Brauchle 1964 anlässlich der Olympischen Winterspiele erstmals von der Möglichkeit einer solchen Veranstaltung in der bayerischen Landeshauptstadt und denkt in einem Interview darüber nach, dass mit einem derartigen Ereignis auch der geplante Bau eines Großstadions durch entsprechende Finanzzuwendungen rasch voranschreiten wird. Wie sich Hans-Jochen Vogel unter der Überschrift erinnert, spottet die lokale Presse über die Worte des Bürgermeisters und misst der Idee von Brauchle keine weitere Bedeutung bei. „Erst 20 Monate später, am 28. Oktober 1965“, berichtet Hans-Jochen Vogel, „fiel das Stichwort Olympische Spiele zum zweitenmal. An diesem Tag erschien der Präsident des Nationalen Olympischen Komitees Willi Daume – er hatte sich ganz kurzfristig telefonisch angemeldet – in meinem Büro und erkundigte sich, ob ich fest auf meinem Stuhl säße. Als ich das ahnungslos bejahte, fragte er, ob sich München für die Spiele des Jahres 1972 bewerben wolle. Mir verschlug es zunächst ein-

648 |

Telegramm vom 25. April 1966. In: Olympiade 1972 – Bewerbung Münchens.

Stadtarchiv München, 73. 649 |

Schreiben von Hans Heinrich Herwarth von Bittenfeld an das Büro des Oberbür-

germeisters der Stadt München, 16. Februar 1966. In: Olympiade 1972 – Bewerbung Münchens. Stadtarchiv München, 73.

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mal den Atem.“650 Der Oberbürgermeister schildert seine Bedenken, einmal verfügt die Stadt zu diesem Zeitpunkt über keine der erforderlichen Sportstätten, und gerade die jüngste Geschichte Deutschlands und die Vergangenheit Münchens als „Hauptstadt der Bewegung“ scheinen ihm, ebenso wie die 1961 mit dem Bau der Berliner Mauer manifestierte Teilung der Nation in zwei deutsche Staaten, einer Bewerbung kaum zuträglich zu sein.651 Daume gibt sich indessen zuversichtlich, und der Historiker Ferdinand Kramer konstatiert, dass der Präsident des NOK die gesellschaftliche und ökonomische Entwicklung der Bundesrepublik nach dem Ende des Nationalsozialismus und auch die wachsende Anerkennung der DDR vielmehr als Chancen begreift, den Zuschlag für die Spiele des Jahres 1972 zu erhalten. „Die innerdeutsche Wahl für München fiel eindeutig aus einer mit internationalem Weitwinkel angelegten nationalen Perspektive“,652 setzt Kramer auseinander. Berlin ist angesichts des Viermächte-Status der Stadt und der von den Nationalsozialisten zu Propagandazwecken inszenierten Spiele des Jahres 1936 keine Option für die Austragung von Olympia, die Region Ruhr scheidet ebenfalls aus, da das IOC eine solche Veranstaltung ausschließlich an eine Stadt vergibt.653 Hans-Jochen Vogel führt zunächst einmal Gespräche mit seinen engsten Vertrauten und dem Ältestenrat der Stadt und gibt Daume schließlich seine Zusage. Des Weiteren spricht Vogel auch persönlich mit dem Parteigenossen Willy Brandt, dem Regierenden Bürgermeister von West-Berlin, der das Unterfangen zwar für irreal hält, aber seine Zustimmung bekundet.654 „Vogel’s shock subsided and his initial concern about costs soon developed into exited corporation”,655 fassen die Historiker Kay Schiller und Christopher Young zusammen. Für das Einreichen der Bewerbungsunterlagen beim IOC in Lausanne bleiben bis zum 31. Dezember 1965 insgesamt 65 Tage. Der Münchner Oberbürgermeister und der Präsident des NOK bemühen sich gemeinsam um die Zustimmung der bayerischen Staatsregierung, und obgleich Bayerns Landeshauptstadt seit Ende der 1940er Jahre mehrheitlich von der SPD regiert wird und die Politik auf der Ebene des Freistaats inzwischen fest in der Hand der CSU liegt, eint die Verantwortlichen das über allem stehende gemeinsame Interesse am wirtschaftlichem Fortkommen von Stadt und Region.656 Der bayerische Ministerpräsident Alfons Goppel und der zu diesem Zeitpunkt bedeutendste politische Akteur im Freistaat, Franz Josef Strauß, Münchner und Landesparteivorsitzender der CSU, wissen um das Potential von Olympia und unterstützen das Vorhaben ohne Umschweife.657 Am 29. November 650 |

Vogel 1972 a: S. 95.

651 |

Vgl. ebd.: S. 95-96.

652 |

Kramer 2008: S. 243.

653 |

Vgl. ebd.

654 |

Vgl. Vogel 1972 a: S. 97.

655 |

Schiller; Young 2010: S. 26.

656 |

Vgl. ebd.: S. 29.

657 |

Vgl. ebd.

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1965 suchen Goppel, Vogel, Brauchle und Daume den Kanzler in seinem Bonner Bungalow auf und überzeugen Ludwig Erhardt binnen weniger Stunden von den Kostenplänen und damit von der Bewerbung. Die Delegation fliegt direkt nach dem Treffen in einem Schneesturm zurück nach München und kommt gerade rechtzeitig zu der bereits vorab einberufenen Pressekonferenz. „Erstmals erfuhr dabei die Öffentlichkeit, daß die Landeshauptstadt München erwäge, sich um die Olympischen Spiele 1972 zu bewerben und daß sie zu diesem Zweck mit Bund und Land in Verhandlungen stehe. Die Überraschung war vollkommen.“658 Vogel führt diesen Umstand auf die Unvorstellbarkeit des Unternehmens zurück und betont die Verschwiegenheit aller Beteiligten. Die Reaktionen sind im ersten Moment skeptisch, im Ausland erinnert sich die Presse an die Spiele von 1936. Einen Tag später spricht Franz Josef Strauß vor dem deutschen Bundestag über Olympia und die damit verbundene Chance, mit einer solchen Veranstaltung auch das Bild der deutschen Nation vor den Augen der Welt zu revidieren.659 Schiller und Young argumentieren, dass sich gerade in der Vermittlungsarbeit, die die bayerischen Abgeordneten in der Folge geleistet haben, zeigt, über welche Kraft die gemeinsame Bindung an die Region verglichen mit allen parteipolitischen und ideologischen Distinktionen verfügt.660

I NVITATION TO M UNICH . E NTSCHEIDUNG IN R OM Unterlagen vom Frühjahr 1966 zeigen, dass Stadtdirektor Andreas Kohl als Verantwortlicher für das Protokoll im Vorfeld der entscheidenden Reise verschiedene Maßnahmen eingeleitet hat, unter anderem werden Informationen an den Internationalen Handballverband gesendet, die Gremien der einzelnen Sparten und Fachverbände tagen ebenfalls in Rom und sprechen am Ende eine Empfehlung für die Wahl der Olympiastadt aus. Die Verantwortlichen in München, hochrangige Mitarbeiter der Stadt, Walther Tröger, der Sekretär des deutschen NOK, sowie Vertreter von Bund und Land, beginnen außerdem, mit Botschaften und Konsulaten auf der ganzen Welt zu korrespondieren, Verbindungen zu akquirieren und Erkundigungen einzuholen; gleichzeitig werden die städtischen Referate in die Vorbereitungen mit einbezogen.661 Ein Exposé, das Stadtdirektor Kohl beim Fremdenverkehrsamt angefordert hat, informiert im März 1966 über die Auswahl der Damen, die die Münchner Bewerbung vor Ort präsentieren und den Mitgliedern des IOC Rede und Antwort stehen sollen. „Für die  Ausstellung in Rom werden ca. 4-5 Hostessen sowie ein männlicher Dolmetscher benötigt. Während der Dol658 |

Vogel 1972 a: S. 99.

659 |

Vgl. Schiller; Young 2010: S. 29, 31.

660 |

Vgl. ebd.: S. 33.

661 |

Vgl. Olympiade 1972 – Bewerbung Münchens. Stadtarchiv München, 73 und Schiller;

Young 2010: S. 37.

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metscher vom Schulreferat benannt werden soll, werden die Hostessen aus einer Anzahl von Damen ausgewählt, die das Fremdenverkehrsamt aus einer größeren Anzahl von Interessierten als mögliche Kandidatinnen vorgeschlagen hat.“662 Dem Text angehängt, folgt eine Liste mit Namen, Fremdsprachenkenntnissen, Tätigkeiten etc. Vorgestellt wird zum Beispiel Inge Erhard, sie spricht Englisch, Französisch und auch Italienisch, ist 31 Jahre alt und „[d]em Fremdenverkehrsamt sehr gut bekannt; war 1964 und 1965 als Leiterin des Munich Tourist Information Centers auf der Weltausstellung New York“663 . In die engere Wahl kommt auch Helga Lommel, 36 Jahre, mit Kenntnissen in Englisch und Italienisch, auch Französisch. Fräulein Lommel ist bereits für das NOK im Einsatz gewesen, kann einen langjährigen Aufenthalt in Rom vorweisen und hat sich bereits auf der IVA, der Internationalen Verkehrsausstellung, als zuverlässige Hostess für das Münchner Fremdenverkehrsamt erwiesen. „Die ausgewählten Damen müssen, soweit erforderlich, noch allgemein über München geschult werden, alle aber noch ausführlich über sporttechnische Fragen und Probleme.“664 Der Aufenthalt in Rom wird nach den vorläufigen Plänen vom 21. bis zum 27. April 1966 dauern und mit Tagessätzen vergütet. Mit Kugelschreiber ist das Wort „Dirndl“ handschriftlich auf einem der Blätter im Akt vermerkt.665 Seit dem ersten Gespräch zwischen Willi Daume und Hans-Jochen Vogel sind erst wenige Monate vergangen, und die Stadt München bereitet sich mit Unterstützung von Bund und Land innerhalb kürzester Zeit auf die Entscheidung vor. Diverse Akteure tragen mit den unterschiedlichsten Informationen zu den Plänen und Überlegungen der Bewerber bei. Daten und Angaben werden abgeglichen, aus dem vorläufigen Bericht des japanischen NOK wird sogar eine Liste mit den Standorten der Telefone für Olympia kopiert und übersetzt.666 Die Zusammenarbeit der beteiligten Ämter, Einrichtungen und Institutionen läuft wie der Wissenstransfer zwischen städtischen und staatlichen Positionen oder der Austausch der verschiedenen Ebenen ohne merkliche Differenzen oder Verzögerungen ab, die Akteurinnen und Akteure verfolgen innerhalb ihrer Strukturen offenkundig ein dem alltäglichen Handeln übergeordnetes Ziel. Während sich die kulturellen Vermittlungsräume und Aktivitätsradien der bayerischen Landeshauptstadt immer weiter ausdehnen, tragen analog auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Münchner Stadtverwaltung maßgeblich zur Entwicklung von „München 1972“ bei. Stadtbaurat Luther unterbreitet am 22. März 1966 verschiedene Vorschläge zur 662 |

Exposé des Fremdenverkehrsamts vom 22. März 1966. In: Olympiade 1972 – Be-

werbung Münchens. Stadtarchiv München, 73. 663 |

Ebd.

664 |

Ebd.

665 |

Vgl. ebd.

666 |

Vgl. Übersetzung vom 22. März 1966. In: Olympiade 1972 – Bewerbung Münchens.

Stadtarchiv München, 73.

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Organisation der Spiele und greift dazu auch auf eine gemeinschaftlich erarbeitete Stellungnahme der Stadtkämmerei, des Schulamts und des Baureferats zurück. Befürwortet wird die „Bildung eines Konsortiums zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Freistaat Bayern und der Landeshauptstadt München im Rahmen der Finanzierung zur Feststellung der Grundsatzentscheidungen der Olympischen Spiele 1972 in München, [...] [die] Bildung einer Baugesellschaft, die die Aufgabe hat, die festen und über die Spiele hinaus benutzbaren Sporteinrichtungen und -anlagen zu schaffen. [...] Baumaßnahmen für das Olympische Dorf wären, wie schon in der Stellungnahme der Stadtkämmerei ausgeführt, von den gemeinnützigen Wohnungsbauträgern bzw. dem Verein Studentenstadt und ähnlichen Trägern zu bauen.“667 Diese Erörterungen seitens der städtischen Verwaltung werden nicht nur aufgegriffen, sondern auch in die Tat umgesetzt. Das Fremdenverkehrsamt hat ebenso den Auftrag erhalten, sich grundsätzlich zu dem Vorhaben der Stadt zu äußern. In einem Papier werden mögliche Werbemaßnahmen, Strategien, Kooperationen und Empfänge, Informationscenter für Besucherinnen und Besucher, Ideen für das Rahmenprogramm etc. thematisiert.668 Auch Expertisen zu den notwendigen Baumaßnahmen und besonders zu den Finanzen werden vorgelegt, im April 1966 gehen die Verantwortlichen von Gesamtkosten in der Höhe von etwa 500 Millionen DM aus.669 Neben den eigenen Bemühungen werden auch die Aktivitäten der konkurrierenden Bewerberstädte Madrid, Montreal und Detroit im Blick behalten. Zunächst hat sich Wien ebenfalls als Austragungsort ins Spiel gebracht, eine Bewerbung aber aufgrund fehlender Mittel ausgeschlossen. Dass die Hauptstadt „eines neutralen europäischen Landes“670 zurückzieht, hat Münchens Position indessen ausdrücklich gestärkt. Das Generalkonsulat der Bundesrepublik Deutschland im kanadischen Montreal setzt Hans-Jochen Vogel und Willi Daume am 23. März 1966 von einer Europareise des Oberbürgermeisters von Montreal in Kenntnis. Innerhalb von nur 19 Tagen hat Jean Drapeau zur „Förderung der Olympischen Spiele“ insgesamt 17 Städte besucht, „und zwar Dublin, London, Genf, Lausanne, Athen, Wien, Moskau, Helsinki, Kopenhagen, Den Haag, Amsterdam, Warschau, Bruessel, Stockholm, Madrid, Paris und Rom. Nach seinen Äusserungen gegenüber der Presse beurteilt er die Aussichten der Bewerbung Montreals um die Olympischen Sommerspiele 1972 sehr günstig. Er hat seine Gesprächspartner darauf hingewiesen, dass zahlreiche Bauten für die Weltausstellung, die 1967 in Montreal stattfinden wird, bei den

667 |

Schreiben vom Baureferat an das Direktorium – Verwaltungsamt vom 22. März

1966. In: Olympiade 1972 – Bewerbung Münchens. Stadtarchiv München, 73. 668 |

Vgl. Schreiben des Fremdenverkehrsamts In: Olympiade 1972 – Bewerbung Mün-

chens. Stadtarchiv München, 73. 669 |

Vgl. Olympiade 1972 – Bewerbung Münchens. Stadtarchiv München, 73.

670 |

Vgl. Schiller; Young 2010: S. 33-34.

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Olympischen Sommerspielen 1972 Verwendung finden könnten.“671 Auf offiziellem Wege kommuniziert das Büro des Münchner Oberbürgermeisters in freundschaftlichem Ton mit dem Bürgermeisteramt in  Montreal. Wenige Tage vor der eigentlichen Entscheidung trifft am 18. April 1966 außerdem ein Zeitungsartikel in München ein, in dem Report aus den USA werden die Chancen Detroits von der lokalen Presse als gering eingeschätzt, München gilt als Favorit. Die Verantwortlichen in Detroit machen sich große Sorgen wegen den politischen Verwicklungen der Vereinigten Staaten, dem Vietnamkrieg und der Kubakrise, welche auch im Kontext der Bewerbung problematisiert werden. Dabei tritt die Stadt Detroit seit 1939 bereits zum achten Mal als Bewerberin beim IOC an und will die Hoffnung noch nicht aufgeben. 672 Am 19. April 1966 berichtet Prof. Dr. Vandick Londres da Nóbrega aus Brasilien, ehemaliger Gastprofessor der FU Berlin und Träger des großen Verdienstkreuzes der Bundesrepublik, dass er über einen Bekannten mit den beiden brasilianischen IOC-Mitgliedern Kontakt aufgenommen hat und diese sich sehr positiv zu München äußern.673 Obgleich es den Bewerberstädten laut Reglement nicht erlaubt ist, mit den Mitgliedern des IOC vor der offiziellen Präsentation in Verbindung zu treten, und Hans-Jochen Vogel die Konformität des Münchner Vorgehens nachdrücklich betont, „[...] it is clear that the Germans had not been so naïve“674 , wie Kay Schiller und Christopher Young im Rahmen ihrer Studie zu den „1972 Munich Olympics“ feststellen. Die Historiker erklären, dass nicht nur Journalistinnen und Journalisten auf Einladung der Stadtverwaltung nach München reisen, sondern auch IOC-Mitglieder im Vorfeld der entscheidenden Sitzung nach allen Regeln der diplomatischen Kunst hofiert werden. Mit Hilfe des Auswärtigen Amts, der Deutschen Botschaften und Konsulate, über Netzwerke, Mittler und Kontakte wird auf den Erfolg der Bewerbung hingearbeitet. Ausgehend von der Annahme, dass die Vertreter der Ostblock-Staaten bei der Wahl in Rom nicht für München stimmen werden, „great effort was invested in the ‚Third World‘“675 . Schiller und Young zeigen, dass sich auf diesem Gebiet besonders zwei Personen hervor getan haben. Max Danz, der Präsident des Deutschen Leichtathletikverbands und Vizepräsident des deutschen NOK, setzt sich in Südamerika für Münchens Belange ein. Alfred 671 |

Schreiben des deutschen Generalkonsuls von Montreal an das Büro von OB Vogel

in München, 23. März 1966. In: Olympiade 1972 – Bewerbung Münchens. Stadtarchiv München, 73. 672 |

Vgl. Detroit News, April 1966. In: Olympiade 1972 – Bewerbung Münchens. Stadt-

archiv München, 73. 673 |

Vgl. Schreiben von Prof. Dr. Vandick L. da Nóbrega an das Büro von OB Vogel in

München, 19. April 1966. In: Olympiade 1972 – Bewerbung Münchens. Stadtarchiv München, 73. 674 |

Schiller; Young 2010: S. 36.

675 |

Ebd.: S. 37.

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Ries, der als Jude den Terror der Nationalsozialisten überlebt hat und unter Konrad Adenauer für einige Jahre als deutscher Botschafter nach Liberia gegangen ist, amtierender Präsident des Fußballclubs Werder Bremen und Mitglied im Vorstand des Deutschen Fußballbunds, versucht parallel die afrikanischen Mitglieder des IOC von der Bundesrepublik zu überzeugen. In Zeiten des Kalten Krieges sind die Staaten und Machthaber beider Kontinente in den Fokus politischer Interessen gerückt, eine Rundreise des Deutschen Bundespräsidenten Heinrich Lübke in Nordafrika mag vor diesem Hintergrund ebenso zum positiven Image von München beigetragen haben, wie die Entsendung von Fußballtrainern, die Bewilligung von Krediten und die Aussicht auf wirtschaftliche Kooperationen.676 Bayerns Landeshauptstadt wird im Gegenzug von IOC Mitgliedern besucht. Alfredo Inciarte aus Uruguay kommt noch am 19. April 1966, wenige Tage vor der offiziellen Entscheidung, nach München.677 Vom 25. bis zum 27. März reist der Oberbürgermeister zusammen mit seinem Stellvertreter Georg Brauchle in die USA, um dort den Präsidenten des IOC persönlich zu treffen. Ein Protokoll des Gesprächs zeigt, dass es um die Klärung grundsätzlicher Fragen gegangen ist. Die Begegnung dauert 1 h 15 min und findet im Hotel „La Salle“ in Chicago, dem Wohnort von Avery Brundage, statt. „Im Laufe der Unterredung erläuterte ich [Hans-Jochen Vogel] zunächst die drei Punkte, die nach unserer Auffassung im besonderen Maße für die Münchner Bewerbung sprechen, nämlich 1. die Konzentration der wesentlichen Sportanlagen und des Olympischen Dorfes auf dem Oberwiesenfeld, 2. die enge Verbindung zwischen Sport, Kunst und Kultur, die in dieser Dichte wohl nur in München möglich sei, sowie 3. die Tatsache, daß München die Entwicklung zu immer gigantischeren Spielen nicht fortsetzen, sondern unter der Anknüpfung an die Spiele des Jahres 1952 in Helsinki menschliche Spiele im überschaubaren Rahmen bieten wolle.“678 Der Präsident spricht sich ausdrücklich für die letzten beiden Aspekte aus, möchte aber nicht zu sehr Partei ergreifen. Brundage interessiert sich vor allem für die Frage, wie der Umgang mit den Sportlerinnen und Sportlern der DDR geregelt werden soll. „Mister Brundage kam von sich aus auf die Einreise, insbesondere aus der sowjetischen Besatzungszone, zu sprechen. In der Vergangenheit hätten sich vor allem aus Entscheidungen des Combinat-Travel-Board in Berlin Schwierigkeiten ergeben. Ich [Hans-Jochen Vogel] erwiderte, daß mit der Bewerbung der Bundesrepublik vorgelegt worden sei, wonach jedem Teilnehmer an den Olympischen Spielen die freie Einreise gewährleistet sei. Außerdem werde die Stadt in den nächsten Tagen aufgrund des Schreibens des Sekretariats in Lausanne die 676 |

Vgl. ebd.: S. 37-38.

677 |

Vgl. Vermerk über den Besuch von Alfredo Inciarte. In: Olympiade 1972 – Bewer-

bung Münchens. Stadtarchiv München, 73. 678 |

Protokoll der Chicagoreise von Willi Daume und Hans-Jochen Vogel, 25. bis 27.

März 1966. In: Olympiade 1972 – Bewerbung Münchens. Stadtarchiv München, 73.

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in diesem Schreiben gewünschte zusätzliche Erklärung übermitteln.“679 Die Aufzeichnungen schließen mit dem Kommentar, dass „[d]as ganze Gespräch [...] in einer sehr harmonischen und freundlichen Atmosphäre [verlief ]“680. Die Münchner Bürgermeister absolvieren weitere Programmpunkte auf ihrer Reise. Der deutsche Generalkonsul in Chicago hat zu Ehren seiner bayerischen Gäste ein Abendessen arrangiert, zu dem auch der Architekt Mies van der Rohe eingeladen ist. In München schreibt Werner Friedmann, Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung und Herausgeber der Abendzeitung, an Hans-Jochen Vogel, dass er die Bewerbungsrede ganz ausgezeichnet findet. „Wenn ich einen Vorschlag machen darf, so klingt es angenehmer, wenn sie den Herren nicht ‚meine Zeit ist kostbar‘ sagen, sondern ‚Ihre Zeit ist kostbar‘. Im übrigen kann ich nur ein gutes Gelingen wünschen und hoffen, Sie vor dieser Reise noch bei uns begrüßen zu dürfen.“681 Am 25. März schickt Oberrechtsrat Knoesel eine offizielle Teilnehmerliste an Walther Tröger vom NOK, die Bewerbung in Rom werden Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel, Bürgermeister Willi Brauchle, Stadtschulrat Anton Fingerle, der Kulturreferent Herbert Hohenemser, Stadtdirektor Kohl, Knoesel, der Leiter des städtischen Informations- und Pressediensts Oberverwaltungsrat Otto Haas und Verwaltungsrat Schielein begleiten. Außerdem sind der Fotograf Gerhard Rauchwetter und Camillo Noel, der Referent des Oberbürgermeisters, als Mitreisende aufgeführt.682 Tickets werden verschickt, Zimmer reserviert und umgebucht, Journalisten melden sich an und ab. Die Ehefrauen von Vogel und Daume sind ebenfalls mit von der Partie; die Delegation trifft vor Ort auf die Hostessen Fräulein Brigitte Sixt, Frau Maritta von Helldorf, Frau Inge Erhard und Frau Valentina Zeiller, die nicht wie die anderen fliegen, sondern mit dem Zug nach Italien fahren. Fräulein Heidi Schmidt hält sich bereits in Rom auf, daher wird ein weiteres Dirndl aus München mitgenommen.683 Die obersten Repräsentanten der Stadt sind mit ihren Frauen im Hotel „Regina“ untergebracht, Rauchwetter wohnt im Ritz und Daume ist mit den Mitgliedern des IOC im Hotel „Excelsior“ einquartiert. Die Kommunikation zwischen den Verantwortlichen findet per Telefon, Post, Eilbrief und Telegramm statt. Wiederholt werden Rufnummern von Hotels angegeben, in denen die Herren zu einem bestimmten Zeitpunkt erreichbar sind, auch die Schreiben sind häufig an Hoteladressen gerichtet bzw. auf dem Papier eines Hotels verfasst.684

679 |

Ebd.

680 |

Ebd.

681 |

Brief vom 25. März 1966, Werner Friedmann an Hans-Jochen Vogel. In: Olympiade

1972 – Bewerbung Münchens. Stadtarchiv München, 73. 682 |

Vgl. Olympiade 1972 – Bewerbung Münchens. Stadtarchiv München, 73.

683 |

Vgl. ebd.

684 |

Vgl. ebd.

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Am 5. April 1966 meldet Polizeipräsident Schreiber, dass von den Emigranten, die derzeit in München leben, keine Gefahr ausgeht. „Die Polizei wird auch bei Großveranstaltungen, wie sie die Olympischen Spiele darstellen, jederzeit in der Lage sein, evtl. Störversuchen rechtzeitig zu begegnen.“685 Auch die ARD wendet sich an das Büro des Oberbürgermeisters, um den Inhalt der Fernsehbeiträge im Fall des Erfolgs, aber auch im Fall eines Misserfolgs, abzusprechen. „Die Berichterstattung wird teilweise in Life, teilweise durch Einsatz von vorbereiteten Filmen durchgeführt.“686 Am 13. April geht eine Kopie der geplanten Rede an den Bayerischen Ministerpräsidenten Goppel und den Deutschen Innenminister Paul Lücke, bei dem sich Vogel aus diesem Anlass herzlich bedankt. Unter Vorsitz des Oberbürgermeisters findet einen Tag darauf die 6. Sitzung der „Arbeitsgruppe zur Vorbereitung geeigneter Maßnahmen zur Vertretung der Münchner OlympiaBewerbung“ im Rathaus statt, alles läuft nach Plan, Klärungsbedarf besteht allerdings noch immer in Bezug auf die Nutzung von Emblemen wie der Flagge und der Hymne der DDR. Vogel lobt alle Anwesenden für den ausgezeichneten Stand der Vorarbeiten.687 Am 16. April besucht der Oberbürgermeister den Vorsitzenden des Internationalen Basketballverbands im Schwabinger Krankenhaus. Mr. Jones scheint sich aus privaten Gründen in München aufzuhalten. Der Amerikaner teilt mit, dass er sich auf der Tagung der internationalen Fachverbände in Rom für München aussprechen wird. Vogel erläutert am Krankenbett dringende Fragen zum Umgang mit der Ostzone. Im Anschluss erkundigen sich die Münchner sicherheitshalber bei dem behandelnden Arzt, ob Mr. Jones überhaupt nach Italien reisen darf.688 Einige Mitarbeiter und Vertreter des Münchner Fremdenverkehrsamts sind bereits seit dem 17. April 1966 vor Ort, um die Präsentation vorzubereiten.689 „Herr Schielein teilte heute aus Rom fernmündlich mit, daß die Kontaktpflege in Rom gute Fortschritte mache. Es würde bereits jetzt das Ausstellungsgelände von zahlreichen Pressevertretern und Fachverbandsmitgliedern besucht, die sachliche Auskünfte wünschen. Immer wieder werde jedoch auch die politische Sache

685 |

Mitteilung von Polizeipräsident Schreiber, 5. April 1966. In: Olympiade 1972 – Be-

werbung Münchens. Stadtarchiv München, 73. 686 |

Schreiben der ARD an das Büro des Oberbürgermeisters, 6. April 1966. In: Olympia-

de 1972 – Bewerbung Münchens. Stadtarchiv München, 73. 687 |

Vgl. Protokoll der 6. Sitzung der Arbeitsgruppe zur Vorbereitung geeigneter Maß-

nahmen zur Vertretung der Münchner Olympia-Bewerbung, 14. April 1966. In: Olympiade 1972 – Bewerbung Münchens. Stadtarchiv München, 73. 688 |

Vgl. Protokoll eines Krankenbesuchs, 16. April 1966. In: Olympiade 1972 – Bewer-

bung Münchens. Stadtarchiv München, 73. 689 |

Vgl. Organisationskomitee für die Spiele der XX. Olympiade (Hg.) (1972): Die Spiele.

Der offizielle Bericht. 3 Bände (3, Die Wettkämpfe). München, S. 24.

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angeschnitten.“690 In der entscheidenden Woche besteht dauernd Verbindung zwischen München und Rom. Dr. Mayer vom städtischen Schulamt ist in fortwährender Telefonbereitschaft, und eine Mitarbeiterin der Lufthansa stellt von einem römischen Hotel aus die ständige Erreichbarkeit der Bewerber in Italien sicher. Zum Teil werden unterschiedliche Neuigkeiten übermittelt, und abweichende Aussagen zum gleichen Thema stiften in München mitunter Verwirrung. Der Bewerbungsfilm muss in jedem Fall noch ins Französische übersetzt werden, meldet Andreas Kohl. Wie der Stadtdirektor zudem berichtet, ist die Bitte an die deutsche Delegation herangetragen worden, für den Fall des Zuspruchs geeignete Räume sowie alles Weitere im Hotel „Excelsior“ zu bestellen. Die Termine sind dicht gedrängt, eine Feier kann nur am 27. April stattfinden. Die Deutsche Botschaft lädt vor der Entscheidung zum Empfang. Am 23. April wird die Ausstellung mit den Bewerberstädten im Foro Italico eröffnet, am 24. beginnt der IOC Kongress in der römischen Oper und am 28. ist das IOC mit Vertreterinnen und Vertretern der Bewerberstädte zu einer Audienz beim Papst geladen. Ein Fest wird beim Saaldirektor des Hotels deshalb für den 27. April angekündigt, aber noch nicht „[...] bestellt wegen der Gefahr, daß durch verzerrte Weitergabe der Bestellung psychologisch ein ungünstiger Eindruck entstehen könnte. Hotel Excelsior versichert, daß bei Bestellung am 26.4. abends a) auf jeden Fall die entsprechenden Räume bereitgestellt werden können, b) jede gewünschte Bewirtung vorbereitet werden kann. Die Einladungen für die Mitglieder des IOC können auf jeden Fall vorbereitet werden.“691 Kohl spricht indessen mit der Deutschen Botschaft für das Protokoll ab, wen es in Rom überhaupt zu einer solchen Festivität einzuladen gilt. „Der Aufbau der Ausstellung ist abgeschlossen. Auch die anderen Bewerber-Städte mit Ausnahme von Madrid sind weitgehend fertig, Madrid beginnt erst heute mit dem Aufbau, muß aber noch heute fertig werden.“692 In dem weitläufig angelegtem Foro Italico, einem Sportpalast, der in den 1930er Jahren unter Mussolini erbaut worden ist und 1960 als Austragungsort der Sommerspiele in Rom gedient hat, setzen sich München, Detroit, Madrid und Montreal mit unterschiedlich gestalteten Informationsständen auf jeweils 40 qm in Szene. Sapporo und Salt Lake City, die um die Olympischen Winterspiele des Jahres 1972 konkurrieren, sind im Rahmen der Ausstellung ebenfalls vertreten. Von Seiten der Bewerber wird versucht, den jeweiligen Standort entsprechend zu präsentieren, und darüber hinaus Visionen für Olympia und die idealtypische Umsetzung der Spiele im Stadtgebiet zu entwerfen. Wie auf den Aufnahmen des Fotografen Gerhard Rauchwetter 690 |

Bericht der Delegation in Rom, 19. April 1966. In: Olympiade 1972 – Bewerbung

Münchens. Stadtarchiv München, 73. 691 |

Fremdenverkehrsamt: Terminliste für die München-Delegation, Stand 21.4.1966,

mittags. In: Olympiade 1972 – Bewerbung Münchens. Stadtarchiv München, 73. 692 |

Zwischenbericht über den Stand der Vorbereitungen, 20. April 1966. In: Olympiade

1972 – Bewerbung Münchens. Stadtarchiv München, 73.

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zu sehen ist, haben sich die Verantwortlichen der teilnehmenden Städte 1966 für durchweg modern anmutende Arrangements entschieden.693 Der Raumplaner Detlef Ipsen denkt über den Wirkungszusammenhang von städtischen Räumen und Bildern nach. „Die Theorie der Raumbilder versucht die Gestalt des Raumes als symbolischen Ausdruck gesellschaftlicher Entwicklungskonzepte zu interpretieren [...]. Die Theorie bezieht sich zunächst nicht auf Landschaften, sondern ist allgemein gefasst. Ein bestimmtes Gebäude in einer Stadt [...] oder ein städtebauliches Ensemble [...] stehen für spezifische Vorstellungen gesellschaftlicher Entwicklung. So zeigt der Eiffelturm, der anlässlich der Weltausstellung in Paris gebaut wurde, nicht eine beliebige Eisenkonstruktion, sondern symbolisiert die moderne Stadt.“694 Ipsens Idee der Raumbilder lässt sich auf die Ausstellungsräume der Wettbewerber übertragen. Die Pavillons der Städte sind in erster Linie mit Fotografien, Informationstafeln und Modellen der Sportstätten ausgestattet und weichen in ihren Darstellungen kaum voneinander ab.695 Schiller und Young weisen im Rahmen ihrer Studie darauf hin, dass Madrid im Zuge der Vorbereitungen nicht einmal ein eigenes Stadion entworfen, sondern lediglich eine Kopie von Camp Nou in Barcelona zur Schau gestellt hat.696 München aber sticht mit seiner Präsentation in jeder Hinsicht aus dem Kreis der Mitbewerber heraus. Die Schwarz-Weiß Aufnahmen von Rauchwetter zeigen eine Rasenfläche, einzelne Büsche verdichten die Szenerie, und im Vordergrund unterstreicht ein Baum das Konzept von den „Olympischen Spielen im Grünen“. Durch das Gras führen Wege aus Steinplatten zu mehreren Plexiglastafeln, die auf geradezu futuristische Weise von der Vergangenheit und der Zukunft der Residenzstadt erzählen.697 „München – eine Stadt mit besonderer Atmosphäre – verfügt über das ideale Gelände innerhalb der Stadt. Es will keine ‚gigantischen‘, aber sportliche und menschliche Olympische Spiele veranstalten.“698 Ein Modell des geplanten Sportgeländes nach dem Entwurf der Architekten Henschker und Deiß ergänzt das Bild, das Setting wird von einem 17 m langen und 2,70 m hohen Panorama der bayerischen Landeshauptstadt gerahmt.699 Die Verantwortlichen des Münchner OK zeigen in Rom eine Stadtlandschaft, mit der sich die Idee der Bewerbung erstmals objektiviert. Das Gefüge aus informativen Elementen und re693 |

Vgl. Bildbestand von Wolfgang Roucka.

694 |

Ipsen 2006: S. 92.

695 |

Vgl. Bildbestand von Wolfgang Roucka.

696 |

Vgl. Schiller; Young 2010: S. 34.

697 |

Vgl. Bildbestand von Wolfgang Roucka.

698 |

Auszug aus einer Informationsschrift der Stadt München zu der Ausstellung „Olym-

pische Spiele im Grünen“. In: Organisationskomitee für die Spiele der XX. Olympiade (Hg.) (1972): Die Spiele. Der offizielle Bericht. 3 Bände (2, Die Bauten). München, S. 5. 699 |

Vgl. Organisationskomitee für die Spiele der XX. Olympiade (Hg.) (1972): Die Spiele.

Der offizielle Bericht. 3 Bände (1, Die Organisation). München, S. 24.

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präsentativen Dekobausteinen ist jedoch keine Kopie der Stadt, sondern vermittelt tatsächlich den Eindruck einer lokalisierbaren Utopie. Eine weithin sichtbare Tafel verortet München als zentralen Knotenpunkt im Herzen Europas und bringt mit dieser Vision nicht nur eine politische Haltung zum Ausdruck. „Die europäische Stadt ist Präsenz von Geschichte“,700 konstatiert der Soziologe Walter Siebel im Zusammenhang mit der Beständigkeit der europäischen Stadt, die auch aus einer kulturanalytischen Perspektive zu begreifen ist. „Ihre materiellen Strukturen sind Kristallisationspunkte für biographische Erinnerungen ebenso wie für das kollektive Gedächtnis der Gesellschaft. Jede Stadt enthält eine Fülle besonderer Orte, an die die persönlichen Erinnerungen von Individuen geknüpft sind. [...] Ihre Plätze, Straßen und Gebäude sind ein Stein gewordenes Erinnerungsbuch, und das nicht nur dort, wo Denkmäler stehen. Die Stadt ist immer auch ein kulturelles Konstrukt, eine Form materialisierter Identität.“701 München gelingt es als europäische Stadt gegenüber den anderen Wettbewerbern eine deutliche Position einzunehmen. In dieser Situation ist die Rekonstruktion des städtischen Gefüges vor Ort nahezu abgeschlossen; München blickt 1966 nicht mehr auf die Trümmer seiner Identität. Die wiederhergestellte Stadt kann sich, und dieser Aspekt zählt nach Einschätzung von Siebel auch zu den Charakteristika der europäischen Stadt, „[...] der eigenen Kontinuität in einer scheinbar unbefleckten Vergangenheit [...] versichern, die in den vor dem Dritten Reich entstandenen städtischen Strukturen sichtbar gemacht werden konnte“702 . Die europäische Stadt steht für die Diversität von Lebensstilen und zeichnet sich durch Tradition und Geschichte aus.703 Ein nicht zu unterschätzendes Moment der Münchner Inszenierung sind die Damen in ihren Dirndln, die freundlich und aufgeschlossen über die Vorzüge der bayerischen Landeshauptstadt informieren und das positive Erscheinungsbild von München mit ihrem Handeln und ihrer repräsentativen Funktion noch um ein Vielfaches steigern. Die amerikanische Soziologin Arlie Russell Hochschild spricht im Zusammenhang mit derartigen Tätigkeiten auch von emotionaler Arbeit und führt ihre Thesen am Berufsbild der Stewardess aus.704 „Letzte Information 21.4. 10.30 Uhr: Oberbürgermeister Drapeau, Montreal, zu Herrn Noel: ‚Ich bin beeindruckt von der Warmherzigkeit, die die Ausstellung der Stadt München ausstrahlt.‘ Präsident Brundage hat sich am 20.4., nachmittags lange in der Ausstellung aufgehalten, verhältnismäßig am längsten in der Münchner Ausstellung.“705

700 |

Siebel 2004: S. 43.

701 |

Ebd.: S. 43-44.

702 |

Ebd.

703 |

Vgl. ebd.: S. 43-46.

704 |

Vgl. Hochschild Russell, Arlie (2006): Das gekaufte Herz. Die Kommerzialisierung

der Gefühle. Frankfurt am Main; New York. 705 |

Zwischenbericht über den Stand der Vorbereitungen, 20. April 1966. In: Olympiade

1972 – Bewerbung Münchens. Stadtarchiv München, 73.

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Ein prächtig gestaltetes Buch soll den Auftritt der bayerischen Landeshauptstadt zusätzlich unterstreichen. Die Delegierten des IOC erhalten einen Bildband im hellblauen Schuber, der Umschlag ist mit Stoff überzogen und auf den Einband ist die stilisierte Silhouette der Stadt in Gold geprägt. Die Auflage beträgt 200 Stück, etwa 100 Exemplare werden in Rom verteilt. In den fünf Sprachen Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch und Deutsch stellt die Publikation München zur Schau und beginnt mit einer Beschreibung ihres prominentesten Literaten. „Fast prophetisch klingen diese Sätze, die der deutsche Dichter Thomas Mann gesprochen hat. München 1158 gegründet, 310 Quadratkilometer groß, Heimat von 1,2 Millionen Menschen – welchem Zauber verdankt es heute seinen Ruf, Deutschlands ‚heimliche Hauptstadt‘ zu sein? Isar-Athen, Deutsches Rom, Weltstadt mit Herz, Geliebte Europas – viele stolze Namen begleiten seine Geschichte; doch München blieb stets am liebsten München.“706 Die Einleitung spannt einen Bogen vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart, die Ereignisse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bleiben auch in dieser Form der Stadterzählung ausgespart. München bewirbt sich als „Stadt im Grünen“ und als „Zentrum der Kultur“, wieder geht es um die schönen Künste, um die Wittelsbacher und um die hohe Lebensqualität in der bayerischen Landeshauptstadt. Genannt werden die Pinakotheken, die Oper, Museen, der Viktualienmarkt, die Auer Dult, der Fasching und das Oktoberfest, die Modestadt, das Hofbräuhaus, der Monopteros inmitten des Englischen Gartens, die Isar-Flößer, der Tierpark und der Botanische Garten, Schwabing, die Königsschlösser etc. Der Eucharistische Weltkongress, der im Jahr 1960 auf dem Messegelände an der Theresienhöhe stattgefunden hat, wird ebenso wie das Format der Verkehrsausstellung im Kongresszentrum, als Schnittstelle internationaler Begegnungen angeführt. Ferner ist die Rede von den nahe gelegenen Alpen, als Topoi werden historische Trachten, die Landschaft Oberbayerns und das Schuhplatteln verwendet. Nicht zuletzt aber geht es um die Rolle Münchens als „Stadt des Sports“. Geworben wird mit dem Turnfest im Jubiläumsjahr 1958, den städtischen Fußballmannschaften, mit Freibädern, Sportstätten und bekannten Sportlerinnen und Sportlern aus der Region. „Doch was wäre München ohne seine Jugend. Gerade die jungen Menschen waren es, die München zu ‚Deutschlands heimlicher Hauptstadt‘ erkoren. Sie prägen heute das weltoffene Gesicht dieser Stadt.“707 Eingebettet in den historischen Kontext wird ebenso auf moderne Positionen wie das Garchinger Atom-Ei verwiesen. Die Bebauung der Nachkriegsjahre fungiert gewissermaßen als Mittler zwischen den unterschiedlichen Komponenten.708 Orte wie der Hauptbahnhof und der Flughafen Riem stehen auch für die Leistungen und Errungenschaften einer immer mobiler werdenden Gesellschaft. „Und noch eines: Als Schnittpunkt 706 |

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Ebd.

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wichtiger Verkehrsverbindungen liegt München auf halbem Weg zwischen Paris und Budapest, London und Sofia, Rom und Kopenhagen, Moskau und Madrid. Es ist die Drehscheibe eines Kontinents.“709 An dieser Stelle setzt das dritte Motto der Bewerbung an, die „Spiele der kurzen Wege“ beziehen sich auf die in der Neukonzeption befindliche Infrastruktur der Stadt und auf die geplante Anlage eines zentralen Parks mit einer modernen Arena, die 90.000 Menschen fassen soll. „Krönung der Sportförderung würde der Bau des Olympischen Feldes sein. Nur vier Kilometer vom Stadtmittelpunkt entfernt, böte das Oberwiesenfeld – ehedem Exerzierplatz – einem idealen Standort. Die Pläne zur Gestaltung des Sportfeldes sehen vor: ein Großstadion, zwei Sporthallen, eine Schwimmhalle, eine Radrennbahn, das Olympische Dorf und einen 290 Meter hohen Fernsehturm (er ist bereits im Bau).“710 Die Rede von der Kultur sollen augenscheinlich auch die Kunstmappen unterstreichen, die in der Verantwortung von Kulturreferent Hohenemser während der Vorbereitungszeit entstanden sind. Eine Mappe besteht aus mehreren Blättern, die Kosten liegen pro Exemplar bei 500 bis 1000 DM. Enthalten ist die Radierung „Blumenstück“ von Professor Willy Geiger, der bei Franz von Stuck an der Münchner Kunstakademie studiert und zu Werken von Frank Wedekind gearbeitet hat, sowie die „Radfahrgruppe“, ein farbiger Zinkdruck des Grafikers Ernst Bräuer, einem Schüler von Willy Geiger, der in den 1960er und 1970er Jahren an der städtischen Modeschule unterrichtet hat. Beigelegt ist außerdem die Radierung „Yachthafen“ des Münchner Grafikers Rudi Weissauer, „Viktualienmarkt“, ein Kontaktdruck von Henny Protzen-Kundmüller, die Künstlerin hat nach dem ersten Weltkrieg an der Münchner Akademie studiert, eine Lithografie mit dem Titel „Englischer Garten“ von Walter Eck, der Ende des 19. Jahrhunderts geboren ist und ebenfalls in München studiert hat, sowie eine Lithographie des Grafikers Hermann Wittemann. Insgesamt werden 75 Kunstmappen gefertigt, eine erhält Hans-Jochen Vogel, vier weitere verbleiben bei der Stadt München und 70 sind für die Romreise bestimmt. Aus den Aufzeichnungen geht hervor, das Avery Brundage vier Exemplare bekommen hat und weitere 61 Mitglieder des IOC beschenkt worden sind.711 Zudem werden Repräsentationsgaben an ausgewählte Personen verteilt, Listen mit den Informationen, welcher Delegierte in welchem römischen Hotel wohnt, werden erstellt, zum Teil ist die korrekte Zimmernummer handschriftlich ergänzt. Verschenkt werden „Münchner Kindl“, in Silber und in Porzellan; bei der Vorbereitung ist

709 |

Ebd.

710 |

Ebd.

711 |

Vgl. Schreiben von Herbert Hohenemser, April 1966. In: Olympiade 1972 – Bewer-

bung Münchens. Stadtarchiv München, 73.

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offenbar einiges nicht richtig verpackt worden, schließlich haben die Verantwortlichen auch noch die entsprechenden Kartons in München vergessen.712 Am Tag vor der Entscheidung präsentieren die Bewerber ihre Pläne noch einmal in Form von Reden, und haben auf diese Weise die Möglichkeit, ihre Konzeption zu begründen. Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel geht in seiner Ansprache zunächst auf die Bewerbungsphase ein und dankt allen anderen Städten für den fairen Wettbewerb. Anschließend stellt er die Ideen vor, mit denen die Stadt München den reibungslosen Ablauf der Spiele gewährleisten möchte. Das Oberwiesenfeld wird zum zentralen Austragungsort von Olympia, Sportstätten soll es darüber hinaus in ganz München geben. Ferner ist „[d]as Oberwiesenfeld [...] für den Verkehr besonders gut zu erschließen. Bis 1972 können mit Hilfe der Eisenbahn, einer Untergrundbahn, der Straßenbahn und eines ausgebauten Straßennetzes binnen einer Stunde 130 000 Besucher zum und vom Oberwiesenfeld befördert werden. [...] München und sein Umland gehören zu den meist besuchtesten Fremdenverkehrsgebieten Europas. 1972 werden in der Stadt und in einem Umkreis von 50 km in Hotels und Pensionen, in Wohnheimen, Campingplätzen und Privatquartieren so viele Übernachtungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, daß München jedem vorhersehbaren Ansturm gewachsen ist“713 . Die Stadt kann ausgezeichnete Verkehrs- und Nachrichtenverbindungen aufweisen, München ist „ein Knotenpunkt des europäischen Eisenbahn- und Straßennetzes. Sein Flughafen wird von 24 Ländern aus vier Erdteilen regelmäßig im Linienverkehr angeflogen. Außerdem befindet sich vor den Toren Münchens eine Bodenstation für Fernsehübertragungen durch Nachrichtensatelliten. In München aufgenommene Sendungen können deshalb unmittelbar bis nach Amerika ausgestrahlt werden. 1972 wird in München überdies eines der geplanten Zentren für das Farbfernsehen arbeiten.“714 Noch nicht in der ersten Fassung, aber in der überarbeiteten Version seiner Rede geht Vogel auch auf die Fernseheinnahmen ein, die durch die weltweite Übertragung mittels der Satellitenanlage in Raisting zu erwarten sind, und betont den finanziellen Anteil, der dabei auf das IOC entfallen wird. Der Oberbürgermeister verweist auf das gesicherte  Finanzierungsmodell, das Stadt, Land und Bund gemeinsam aufgestellt haben, und spricht von der Intention der Spiele. „[...] München will nicht nur eine anonyme Stadtmaschine sein, die den reibungslosen äußeren Ablauf der Spiele bewerkstelligt.  München möchte darüber hinaus die Begegnung aller Teilnehmer und Besucher der Spiele untereinander und mit der 712 |

Vgl. Zwischenbericht über den Stand der Vorbereitungen, 20. April 1966. In: Olympia-

de 1972 – Bewerbung Münchens. Stadtarchiv München, 73. 713 |

Rede von Hans-Jochen Vogel vor dem IOC in Rom, 25. April 1966. In: Olympiade

1972 – Bewerbung Münchens. Stadtarchiv München, 73. 714 |

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Stadt und deren Bürgern ermöglichen. Auch möchte es den Spielen ein besonderes kulturelles Gepräge geben. Dafür bietet München drei wesentliche Vorraussetzungen: 1. München ist eine Stadt der Jugend und des Sports. Über ein Fünftel seiner Bewohner ist nach 1945 geboren. 1972 werden mehr als zwei Fünftel aller Münchner unter 30 Jahre alt sein. Und der Sport ist in München eine Massenbewegung. Jeder 10. Münchner gehört einem Sportverein an und jeder 3. treibt selbst regelmäßig zumindest eine Sportart. 2. München ist heute schon Stätte internationaler Begegnung. In den letzten zehn Jahren sind über 5,5 Millionen Ausländer als Gäste nach München gekommen. Viele davon zu den über 570 internationalen Tagungen und Kongressen, die in der gleichen Zeit in München stattgefunden haben. 3. Und schließlich ist München ein lebendiges Zentrum der Kunst und Kultur. Als Zeugen einer 800-jährigen Geschichte, die durch Romantik und Gotik, durch Renaissance und Rokoko, durch den Klassizismus und die Romantik bis in die moderne Zivilisation des 20. Jahrhunderts geführt hat, besitzt München unzählige wertvolle Kulturdenkmäler und Sammlungen. Es besitzt überdies eine Vielzahl von Institutionen zur Pflege der Künste, von denen ich nur die Staatsoper, 17 Schauspielbühnen, vier symphonische und mehrere andere Orchester sowie 10 staatliche und städtische Kunstgalerien und sonstige Museen nenne. Aus all diesen Quellen schöpfend, hat München für die Spiele ein reiches kulturelles Programm vorgeschlagen, das sich mit dem sportlichen Programm zu einer Einheit verbinden soll. [...] Pierre de Coubertin, der Wiederbegründer der Olympischen Spiele, hat die olympische Idee für unsere Zeit einmal so formuliert: ‚Es bedarf neben der vollkommenen Organisation noch eines anderen: Anwesenheit der führenden Geister, Zusammenwirken der Musen, Kult und Schönheit, alle Pracht, die zur mächtigen Wirkung eines Symbols gehört.‘“715 Vogel fügt hinzu, dass viele der Anwesenden die Stadt und ihre Vorzüge bereits beim IOC-Kongress von 1959 kennen gelernt haben. Der Oberbürgermeister nimmt sich daher, wie er bekundet, in seiner Beschreibung von München etwas zurück und ruft den Delegierten stattdessen ihre eigenen Erinnerungen an die bayerische Landeshauptstadt ins Gedächtnis. Ergänzt wird die Präsentation im römischen Foro Italico von einem dreizehnminütigen Film mit dem Titel „Munich – a City applies“, der insbesondere die Anmutungsqualitäten der Residenzstadt in Szene setzt und dabei fortgesetzt den liebenswerten Charakter der „Weltstadt mit Herz“ betont. Zugleich hebt der Beitrag, den Norbert Handwerk von der Münchner Insel Film GmbH & Co gemeinsam mit Otto Haas vom Presse- und Informationsdienst der Stadt innerhalb von nur drei Monaten konzipiert, umgesetzt und fertig gestellt hat, die Sportbegeisterung der Münchnerinnen und Münchner hervor. Neben der glänzenden Vergangenheit werden auch die moderne Gegenwart und die zu erwartende Zukunft der Stadt in Szene gesetzt. Kunst und Kultur sind in der „Invitation to Munich“ genauso ein715 |

Ebd.

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drucksvoll beschrieben wie die Bierstadt, die sowohl im Fasching als auch auf dem Oktoberfest gebührend zu feiern weiß.716 Der Präsident des deutschen NOK, Willi Daume, spricht am 25. April 1966 als achter Redner zu den Mitgliedern des IOC: „Kaum eine deutsche Stadt hat so viele freundschaftliche Verbindungen zu anderen Städten in aller Welt. Herzliche Beziehungen pflegt München mit Edinburgh ebenso wie mit Bordeaux, mit Cincinatti wie mit Leningrad, mit Verona wie mit Bombay. Man sagt, daß Städte sich in gewissen Menschen personifizieren. Wenn ich nach einer Personifikation suche, dann tritt vor uns unser Freund Karl Ritter von Halt. Er war Münchner und verkörperte die besten Eigenschaften dieser liebenswerten Stadt. Was mich angeht, so darf ich hier für die junge deutsche Generation sprechen. Das ist kein Problem der Zeitgeschichte, die wir nicht bestimmen können und wollen. Es ist ein Anliegen, das von Herzen kommt. Und mit aller Bescheidenheit und Herzlichkeit bitte ich Sie: Anvertrauen Sie die Olympischen Spiele der bayerischen Landeshauptstadt München.“717 In einem ersten Wahlgang entfallen 21 von insgesamt 61 Stimmen auf München, in der zweiten Runde geht die bayerische Landeshauptstadt mit 31 Stimmen deutlich als Siegerin hervor. Oberbürgermeister Vogel schildert den Moment der Entscheidung, seinen Schreck, als sich das kanadische IOC-Mitglied Montreals Bürgermeister Jean Drapeau zuwendet. Die Anwesenden im Saal interpretieren die Umarmung als eine Geste der Gratulation, aber Daume gibt das verabredete Zeichen, und Avery Brundage verkündet: „The games are awarded to Munich“718. „München Olympiastadt 1972!“ lautet die kurze und dabei gleichermaßen prägnante Botschaft des Telegramms, mit dem der Bayerische Ministerpräsident Alfons Goppel, der dritte Bürgermeister Albert Bayerle und Bundesinnenminister Paul Lücke von dem siegreichen Ausgang benachrichtigt werden, „bitte Herrn Bundeskanzler zu verständigen. gez. Daume-Vogel-Brauchle-Danz-Wülfing.“719 Zusammen mit der japanischen Stadt Sapporo, die den Zuschlag für die XI. Olympischen Winterspiele 1972 erhalten hat, feiert München am 27. April 1966 eine Cocktailparty im Hotel „Excelsior“. Der Deutsche Botschafter begrüßt auch die olympische Abordnung der DDR und gratuliert zur Aufnahme in das IOC. Wie Vogel resümiert, ist ein solches Vorgehen ausschließlich in dieser Situation möglich gewesen.720 Für die

716 |

Schiller; Young 2010: S. 34 und Organisationskomitee für die Spiele – Organisation

1972: S. 25. 717 |

Rede von Willi Daume am 25. April 1966 vor dem IOC in Rom. In: Olympiade 1972 –

Bewerbung Münchens. Stadtarchiv München, 73. 718 |

Vgl. Vogel 1972 a: S. 107.

719 |

Telegramm vom 25. April 1966. In: Olympiade 1972 – Bewerbung Münchens. Stadt-

archiv München, 73. 720 |

Vgl. Vogel 1972 a: S. 108.

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Bewerbung sind insgesamt 225.000 DM veranschlagt worden, die Telegrammkosten belaufen sich auf 2620 Lire, umgerechnet etwa 400 DM.721 Mit Begeisterung werden die siegreichen Bewerber nach der Rückkehr in München empfangen. Otto Thomas hat zur Besatzung der Militärmaschine gehört, mit der Hans-Jochen Vogel und die anderen Mitglieder der deutschen Delegation nach Rom geflogen sind, auch Bücher, Materialien und die einzelnen Bauteile der Ausstellung werden von der Bundeswehr befördert. Beim Rücktransport ist Thomas allerdings ein Missgeschick passiert, mit dem Modell in den Händen stolpert er auf dem Rollfeld, und das Ausstellungsstück fällt zu Boden.722 Das Modell der geplanten Wettkampfstätten, das der Architekt Karl Rauchenberger im April 1966 für 6000 DM angefertigt hat, muss nach der Ankunft in München repariert werden, die Rechnung beträgt noch einmal 200 DM.723 Auch dieses Dokument findet sich in den Unterlagen, aber erst mit der Geschichte ergibt sich der Zusammenhang. Zum Dank für seine Arbeit erhält Otto Thomas einen der Prachtbände im hellblauen Schuber. Der Leiter des Münchner Fremdenverkehrsamts, Otto Hiebl, lädt die Hostessen, Dolmetscher und Handwerker, die die Bewerbung in Rom unterstützt haben, zu einer abschließenden Feierstunde ein.724 Die verantwortlichen Bürgermeister und Stadtdirektoren treffen sich bereits kurz nach der Rückkehr zu einer Besprechung über das weitere Vorgehen. Eine Info-Broschüre wird in Auftrag gegeben, und Vertreter der verschiedenen Ämter und Referate verabreden, wer sich künftig um welche Aufgaben kümmern wird. Um offizielle Gäste wird sich weiterhin das städtische Verwaltungsamt bemühen und dabei ebenso freundlich wirken wie vor dem Zuschlag für die Spiele. Bei konkreten Anfragen in Sachen Sport wird an das NOK verwiesen. Die Fördergesellschaft „Großstadion e.V.“ soll umgewidmet werden; und unter dem Vorsitz von Hubert Abreß vom Stadtentwicklungsreferat entsteht eine Arbeitsgruppe Olympia. „Die in Rom gezeigte München-Ausstellung wird in einem eigenen Raum des Münchner Stadtmuseums aufgebaut und, wenn alle Teile geschlossen vorhanden sind, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Federführung für diese Ausstellung: Fremdenverkehrsamt in Zusammenarbeit mit dem Presse- und Informationsamt. Für die Eröffnung ist ein Zeitpunkt zu wählen,

721 |

Vgl. Abrechnung der Reisekosten. In: Olympiade 1972 – Bewerbung Münchens.

Stadtarchiv München, 73. 722 |

Gespräch mit Otto Thomas im Rahmen des Sammelaufrufs für die Ausstellung

„München 72“ vom Haus der Bayerischen Geschichte und dem Institut für Bayerische Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München am 9. und 10. März 2010. 723 |

Vgl. Rechnungen und Belege. In: Olympiade 1972 – Bewerbung Münchens. Stadt-

archiv München, 73. 724 |

Vgl. Schreiben des Fremdenverkehrsamts vom 16. Mai 1966. In: Olympiade 1972 –

Bewerbung Münchens. Stadtarchiv München, 73.

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der allen Delegationsmitgliedern eine Teilnahme ermöglicht.“725 Am Tag darauf berichtet Hans-Jochen Vogel dem Münchner Stadtrat von der Reise nach Rom. Wie die Süddeutsche Zeitung informiert, zeigen sich die Kolleginnen und Kollegen überaus angetan von dem Erfolg. Adolf Hieber von der Bayernpartei stellt jedoch die Forderung auf, dass München nach den Olympischen Spielen immer noch München sein muss. Der Stadtrat beschließt eine Dankadresse an das IOC, und alle Mitglieder erheben sich zum Bekunden der Einstimmigkeit von ihren Plätzen. „Die Bewerbung war ein Sprint“, kommentiert der Reporter Otto Fischer in der SZ, „die Umsetzung wird ein Marathonlauf.“726

B E ZIEHUNGEN , N E T ZPL ÄNE UND O RGANISATIONSSTRUK TUREN Hans-Jochen Vogel hat schon bald nach der Vergabe der Spiele darauf hingewiesen, dass es während der Vorbereitungen bei aller Euphorie auch zu Problemen kommen kann. Der Umgang mit der Vergangenheit wird dabei ebenso auf das Tableau der Stadt gebracht wie die Auswirkungen des Kalten Krieges und der bundesdeutschen Ostpolitik. Evident wird der Konflikt immer wieder in der Auseinandersetzung um die sowjetische Besatzungszone und deren Status als Deutsche Demokratische Republik. Das Bezugssystem der Stadt München, die Dimensionen und Räume ihres politischen Handelns weiten sich seit der Mitte der 1960er Jahre nicht nur durch eigenes Bestreben, sondern auch durch die Aktivitäten anderer mehr und mehr aus. „War München von Anfang an die Stadt ihrer Wahl?“,727 fragt der Journalist Werner Höfer den Präsidenten des deutschen NOK wenige Wochen nach der Entscheidung in Rom. „Ja, denn keine andere deutsche Stadt könnte im Augenblick ernsthaft mit München konkurrieren“,728 erklärt Willi Daume dem Reporter der Zeit. „‚Auch nicht Berlin?‘ ‚Leider auch nicht Berlin! Die deutsche Hauptstadt war schon einmal Olympia-Stadt, und die Gegebenheiten derentwegen wir gewiß gern den olympischen Geist nach Berlin geholt hätten, machen es den Leuten hinter der Mauer unmöglich, im Augenblick einem solchen Plan zuzustimmen – wenn nicht den Sportlern, so doch den Politikern.‘ Daume verschweigt auch nicht die harten Worte, die in Rom gefallen sind: die tschechischen Anwürfe gegen München als Hauptstadt der Emigrantenbewegung und die makabre Anspielung in einem polnischen Brief: ‚Olympia der kurzen Wege? Vom KZ in die

725 |

Protokoll der Abschlussbesprechung der Olympia-Reise, 28. April 1966. In: Olym-

piade 1972 – Bewerbung Münchens. Stadtarchiv München, 73. 726 |

Fischer, Otto (30. April 1966): Bericht. In: Süddeutsche Zeitung. In: Olympiade

1972 – Bewerbung Münchens. Stadtarchiv München, 73. 727 |

Werner Höfer im Gespräch mit Willi Daume (10. Mai 1966). In: Die Zeit. In: Olympia-

de 1972 – Bewerbung Münchens. Stadtarchiv München, 73. 728 |

Ebd.

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Gaskammer...‘“729 Im Juni 1966 erhält Hans-Jochen Vogel ein Schreiben von dem tschechoslowakischen IOC Mitglied Frantisek Kroutil: „Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister! Ich bin ihren Worten zur Kandidatur Münchens aufmerksam gefolgt und zweifle auch nicht daran, dass ihre Stadt ihre hohe Aufgabe in organisatorischer Hinsicht gut erfüllen wird. Das ist jedoch nur die eine Seite der Medaille. Ich bin der Ansicht, dass die Kandidatenstadt beweisen sollte, dass sie alles dafür getan hat, schon jetzt eine wahrhaft olympische Atmosphäre zu schaffen. So hören wir hier in der Tschechoslowakei, wir, für die der Name Münchens 1938, die ‚Feldherrnhalle‘ und der ‚Bierbräukeller‘ bisher alles andere als ein Symbol des Friedens und der Freundschaft waren, seit nunmehr über 15 Jahren die allabendlichen Sendungen von Radio Freies Europa, das in München seinen Sitz hat, und das den Hass gegen mein Land und gegen die anderen Staaten Osteuropas sät. Können Sie, Herr Oberbürgermeister, Ihren offiziellen Organen und ihrer Regierung gegenüber erreichen, können sie uns garantieren, dass diese Sendungen eingestellt werden und der Schaffung einer offenen und freundschaftlichen olympischen Atmosphäre nicht mehr hemmend im Wege stehen?“730 Mit dem Signet der Sportveranstaltung rückt München innerhalb kürzester Zeit in den Blickpunkt der Weltöffentlichkeit, der künftige Austragungsort wird von allen Seiten aufmerksam beobachtet und dabei auch kritisch hinterfragt. „Die internationale Presse und der internationale Rundfunk beschäftigen sich weiterhin in einem auffallenden Ausmaß mit München als Olympiastadt. Das Interesse schlägt sich in gehäuften und gezielten Besuchen maßgeblicher Pressevertreter nieder.“731 Mit Olympia entwickelt sich nicht nur zwischen der Stadtverwaltung, der Bundesund der Landesregierung seit 1965 auffallend reger Kontakt, die Verantwortlichen in München kommunizieren auch in verstärktem Maße mit politischen Repräsentanten anderer Städte, Regionen und Nationen. An das Büro des Oberbürgermeisters richten sich kritische und wohlmeinende Kommentare sowie offizielle Anfragen aus aller Welt. Auf eine Phase, in der sich die Stadt überwiegend auf sich selbst bezogen hat und mit der Wiederherstellung ihrer Physis sowie der Rekonstruktion von kulturellen Vermittlungs- und Bedeutungsräumen beschäftigt gewesen ist, folgt eine Zeit, in der sich München mehr und mehr öffnet. Seit den 1950er Jahren lassen sich auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig Transformationsprozesse beobachten. Auch wenn das Wesen einer Stadt immer auf Bewegungen von Migration und Mobilität zurückzuführen ist732 , und München mit Kriegsende 729 |

Ebd.

730 |

Brief von Dr. Frantisek Kroutil an Oberbürgermeister Vogel, 30. Juni 1966. In: Olym-

piade 1972 – Bewerbung Münchens. Stadtarchiv München, 73. 731 |

Bericht über Pressekontakte und Besucher, 1966. In: Olympiade 1972 – Gross-

Stadion Oberwiesenfeld. Stadtarchiv München, 321. 732 |

Vgl. Yildiz, Erol; Mattausch, Birgit (Hg.) (2009): Urban Recycling. Migration als

Großstadt-Ressource. (Bauwelt Fundamente, 140) Basel; Gütersloh, S. 12.

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durch die amerikanischen Besatzer und die Displaced Persons sowie die Ankunft von zehntausenden Flüchtlingen und Vertriebenen bereits eine deutliche Erweiterung seiner Bezugssysteme erfahren hat, setzt mit der ökonomischen Entwicklung, der Anwerbung und Ankunft von Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter und der analogen Expansion des Fremden- und des Fernverkehrs eine weitere Phase der Globalisierung nach 1945 ein. Mit den Vorbereitungen für die Olympischen Spiele dehnt sich der Wirkungsbereich der Stadt München seit der Mitte der 1960er Jahre noch einmal entscheidend aus. Während Prozesse einer politischen Internationalisierung und einer Transnationalisierung der Gesellschaft am Übergang von der Moderne hin zur Postmoderne als urbane Phänomene auf ihre Weise auch in anderen Städten nachzuvollziehen sind, weiten sich die Bezugssysteme der Landeshauptstadt mit dem bevorstehenden Ereignis in einer Form, die vielleicht nur noch mit den Netzwerken der geteilten Stadt Berlin und deren Posten als Schnittstelle im Kalten Krieg zu vergleichen ist. Bei allen Bemühungen, Kontakte zu knüpfen, die unabhängig von der Bewerbung seitens der Stadtverwaltung und von der bayerischen Landesregierung unternommen worden sind, verändert sich der Status von München mit dem Erfolg in Rom schlagartig. Die „Weltstadt mit Herz“ bewegt sich seit dem 26. April 1966 auf internationalem Parkett, der Oberbürgermeister von Sapporo ist ein erster offizieller Gast.733 Mit Olympia gelingt es den verantwortlichen Akteuren, die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit in den langen 1960er Jahren auf die Stadt zu konzentrieren und München mittels moderner Bauten, strahlender Farben und einer heiteren Atmosphäre entsprechend effektvoll für Olympia zu positionieren. Auch die nicht abzusehende Geiselnahme wird am Ende auf tragische Weise zur Erinnerung an München 1972 beitragen. Ferdinand Kramer spricht in dem Kontext von „eine[r] nachhaltige[n] Verankerung in der internationalen ‚mind map‘“734 . Zu Beginn der Planungen geht es jedoch in erster Linie um die Aushandlung von Positionen innerhalb der Organisationsstrukturen. Ein Ereignis dieser Größenordnung weckt Begehrlichkeiten; München, Bayern und die Bundesrepublik ringen um Deutungshoheiten, um Einfluss und Kapital, Machtkämpfe bestimmen die Debatte. Wenngleich die XX. Olympischen Sommerspiele als gemeinsames Projekt von Kommune, Land und Bund zu verstehen sind, „[...] a ‚mega-event‘ (M. Roche) that none of the three agencies could shoulder on its own or, for that matter, in partnership with only one of the others”735, müssen zunächst einmal Auseinandersetzungen zwischen den beteiligten Ebenen und Akteuren bewältigt werden. Wiederholt wird zum Beispiel versucht, den Münchner Oberbürgermeister und seine Stellvertreter über ihre unterschiedliche Parteizugehörigkeit zu entzwei733 |

Vgl. Bericht über Pressekontakte und Besucher, 1966. In: Olympiade 1972 –

Gross-Stadion Oberwiesenfeld. Stadtarchiv München, 321. 734 |

Kramer 2008: S. 251.

735 |

Schiller; Young 2010: S. 33.

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en.736 Schon Ende April 1966 werden zudem Stimmen laut, dass die Bundesregierung einen Olympiabeauftragten ernennen möchte. Rainer Barzel, Vorsitzender der CDU/CSU Fraktion im Bundestag unterstützt dieses Vorhaben. Die Münchner Stadtverwaltung spricht sich ganz entschieden gegen diese Idee aus, und der Sozialdemokrat Hans-Jochen Vogel versucht das Unterfangen mit der Unterstützung des CSU-Bundestagsabgeordneten Prinz Konstantin von Bayern abzuwenden.737 Daume telegrafiert am 30. April 1966 sichtlich aufgebracht von Rom nach München: „sehr geehrter herr oberbuergermeister in der hiesigen presse ist zu lesen dass sie nach ihrer ruekkehr den sofortigen bau eines olympiazentrums in der tuerkenstrasse angekuendigt und andere organisatorische massnahmen in angriff genommen haetten stop wahrscheinlich handelt es sich um eine irreführende meldung stop ich bitte sie sehr herzlich um aeusserste behutsamkeit in der muenchner oeffentlichkeitsarbeit bemueht zu sein nachdem die verstaendliche erste freude nun nuechterner sachlicher arbeit platz machen muss stop ich bitte weiterhin alle instanzen der stadt auch die rechte unseres nok zu achten die ich wahrnehmen muss und werde stop im uebrigen nehme ich an dass wir jetzt zunaechst in aller diskretion im sinne unserer absprachen verfahren stop in weiten kreisen des deutschen sports herrscht wie mir berichtet wird ein unbehagliches gefuehl dass wir mit den muenchener spielen schon gleich zu anfang in politisches fahrwasser kommen zumal der fraktionsvorsitzende der cducsu wieder einen sogenannten bundesbeauftragten gefordert hat und der wohnungsbauminister mit dem bundeskanzler verhandlungen ueber das olympische dorf fuehrt stop so geht es nicht und bei den ioc mitgliedern hier werden all diese meldungen als typisch deutsch heftig kritisiert und die vergabe der spiele nach muenchen teilweise schon offen bedauert stop ich bitte sie sehr geehrter herr oberbuergermeister aufrichtig um verstaendnis fuer die notwendigkeit dass gerade der start unserer im vorhinein so erfolgreichen zusammenarbeit gut sein muss stop in verbundenheit daume.“738 Die Debatten um den Sonderbeauftragten der Bundesregierung werden dennoch weitergeführt, Franz Josef Strauß ist im Gespräch, ebenso wie Innenminister Paul Lücke und der Bundestagsabgeordnete Konstantin von Bayern. Die Bürgermeister Vogel und Brauchle wenden sich schließlich per Fernschreiben an das Bundeskanzleramt, an die Fraktionsvorsitzenden der Parteien im Bundestag, Fritz Erler von der SPD, Rainer Barzel von der CDU/CSU und Knut Freiherr von KühlmannStumm von der FDP, an Daume, an Konstantin von Bayern und andere, um alle Beteiligten darüber zu informieren, dass die Bestellung eines Sonderbeauftragten auf nationaler Ebene mit den Statuten des IOC nicht vereinbar ist, und das

736 |

Vgl. Vogel 1972 a: S. 90-91.

737 |

Vgl. Notizen und Korrespondenz. In: Olympiade 1972 – Bewerbung Münchens.

Stadtarchiv München, 73. 738 |

Telegramm von Willi Daume an Hans-Jochen Vogel, 30. April 1966. In: Olympiade

1972 – Bewerbung Münchens. Stadtarchiv München, 73.

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Ereignis auf keinen Fall unnötig politisiert werden soll.739 Die Bundesregierung erklärt nach einigen Tagen, dass das Innenministerium für diese Angelegenheiten zuständig ist und, so lautet der Kompromiss, dort eine entsprechende Stelle eingerichtet wird.740 Am 23. Mai 1966 meldet der Regensburger Tagesanzeiger: „König Ludwig I. von Bayern hat München mit seinen Prachtbauten zur Musenstadt gemacht. Sein Nachfahre soll helfen, daß die Stadt an der Isar auch zu einer großen Sportstadt wird.“741 Mit der Koordination wird Konstantin von Bayern betraut und macht in den kommenden Jahren mitunter auch durch eigenwillige Einfälle von sich reden. Der Parlamentarier schlägt unter anderem vor, „[...] München zur Vermeidung von Schwierigkeiten mit der DDR für die Dauer der Olympischen Spiele zu einem selbstständigen Staat zu erklären“742 . Um ein Vorhaben wie die Olympischen Spiele überhaupt in Angriff nehmen zu können, müssen zunächst einmal Strukturen geschaffen werden. Das deutsche NOK, das formal für die Ausrichtung der Spiele verantwortlich ist, diese Aufgabe laut den Statuten des IOC aber auch delegieren darf, sieht sich allein nicht in der Lage, ein solches Unternehmen durchzuführen und beschließt im Mai 1966, eine eigene Körperschaft für Olympia in München einzurichten. Nachdem innerhalb von wenigen Wochen eine grundlegende Satzung ausgearbeitet worden ist, konstituiert sich das „Organisationskomitee für die Spiele der XX. Olympiade München 1972 e. V.“ (OK) schon am 3. Juli 1966. Bei der Gründung des Vereins im Sitzungssaal des Rathauses sind Vertreter von Kommune, Land und Bund, Vogel, Brauchle, Rechtsrat Knoesel und Stadtdirektor Abreß, der Bayerische Staatsminister für Unterricht und Kultus, Ludwig Huber, Cornelius von Hovora, Ministerialrat im Bundesinnenministerium, hochrangige deutsche Sportfunktionäre, Daume, seine Stellvertreter Max Danz, Herbert Kunze und Walther Wülfing, die deutsche Stimme beim IOC, Berthold Beitz, Vorsitzender des Aufsichtsrats der Friedrich Krupp GmbH, und als einzige weibliche Akteurin Lieselott Diem, Professorin an der deutschen Sporthochschule Köln, anwesend. Die Mitgliederversammlung als zentrales Organ des Vereins setzt sich zunächst aus 15 Personen zusammen. Oberbürgermeister Vogel repräsentiert die Stadt München, Innenminister Paul Lücke und in dessen Nachfolge Hans Dietrich Genscher vertreten die Interessen des Bundes, Bayerns Kultusminister Ludwig Huber sitzt für den Freistaat in dem 739 |

Schreiben von Hans-Jochen Vogel und Georg Brauchle an die Fraktionsvorsitzenden

im Deutschen Bundestag, April 1966. In: Olympiade 1972 – Bewerbung Münchens. Stadtarchiv München, 73. 740 |

Schreiben der Bundesregierung an die Stadt München vom 4. Mai 1966. In: Olympia-

de 1972 – Bewerbung Münchens. Stadtarchiv München, 73. 741 | Regensburger

Tagesanzeiger (23. Mai 1966). In: Olympiade 1972 – Bewerbung

Münchens. Stadtarchiv München, 73. 742 |

Vogel 1972 a: S. 91. Hans-Jochen Vogel hat die Geschichte auch im Rahmen des

Zeitzeugenforums am Institut für Bayerische Geschichte am 3. Juni 2004 erzählt.

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Gremium. Willi Daume ist als Präsident des deutschen NOK ebenfalls Teil der Versammlung. Ergänzt wird der Rat durch weitere NOK-Vertreter und ausgewählte Repräsentanten des Sports wie beispielsweise Rudolf Sedlmayer, den Präsidenten des Bayerischen Landessportverbands, Lieselott Diem, Georg von Opel, den Vorsitzenden der Deutschen Olympischen Gesellschaft, Berthold Beitz und andere. 1968 wird der Kreis erweitert, Claus-Joachim von Heydebreck, der Kultusminister von Schleswig-Holstein, der Kieler Oberbürgermeister Günther Banzer, und der Vorsitzende des Sportverbands Schleswig-Holstein, Karl Bommes kommen hinzu. Als ausgewiesene Persönlichkeit wird auch der ehemalige Botschafter Hans-Heinrich Herwarth von Bittenfeld ins Plenum berufen. Im Dezember 1970 erreicht der Zirkel mit der Aufnahme von Repräsentanten der 19 Fachverbände, die bei den Olympischen Spielen vertreten sind, Schwimmen, Boxen, Turnen, Leichtathletik, Hockey etc., seinen definitiven Umfang. Lieselott Diem bleibt bis 1972 die einzige Frau in der Führungsriege der Spiele.743 Mit der Durchführung der Aufgaben und Geschäfte wird ein zehnköpfiger Vorstand betraut, der Präsident ist Willi Daume, seine Stellvertreter sind Hans-Jochen Vogel, Paul Lücke und Ludwig Huber. Vervollständigt wird das Gremium durch Max Danz, Berthold Beitz und den parteilosen Staatssekretär und Schwimmverbandsfunktionär Bernhard Baier aus Niedersachsen. Das Amt des Schatzmeisters übernimmt Rudolf Eberhard von der CSU, ehemaliger Finanzminister in Bayern und Direktor der Bayerischen Staatsbank, zum Generalsekretär wird der NOKVize Herbert Kunze gewählt, hinzu kommt Rudolf Bensegger, CSU, Ministerialdirektor im Bayerischen Finanzministerium, als von allen gemeinsam nominierter Repräsentant. Im Dezember 1970 wird noch Gerhard Reischl als weiterer Vertreter der Bundesregierung in den Vorstand berufen. Ferner wird unter dem Vorsitz der jeweiligen Bundeskanzler Ludwig Erhard, Kurt Georg Kiesinger und Willy Brandt ein paritätisch besetzter Beirat mit namhaften Persönlichkeiten aus Politik, Verbänden, Wirtschaft und Gesellschaft zur Beratung des Vorstands eingerichtet, um den Gedanken des transparenten Austauschs und der demokratischen Teilhabe nachdrücklich zu verankern. In 27 Sitzungen werden über den Zeitraum vom 3. Juli 1966 bis zum 14. September 1973 alle wesentlichen Entscheidungen bis hin zur Auflösung des Vereins nach dem Abschluss der Spiele vom Vorstand des OK getroffen, als ausführendes Organ wird das Generalsekretariat unter der Leitung des geschäftsführenden Generalsekretärs Herbert Kunze mit der konkreten Umsetzung betraut. „Für die Detailarbeit des Vorstandes und des Generalsekretariats bildete der Vorstand des OK eine Reihe von Ausschüssen, deren Entscheidungen empfehlenden Charakter für die Beschlussfassungen des Vorstands hatten.“744 743 |

Vgl. Organisationskomitee für die Spiele – Organisation 1972: S. 40-41. Das ist

auch der Grund, warum innerhalb der Arbeit in der Regel nur von Akteuren die Rede ist, wenn es um Entscheidungen des OK geht. 744 |

Ebd.: S. 41, 44.

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Fachleute aus unterschiedlichen Disziplinen treffen sich je nach Bedarf und beraten über ein bestmögliches Vorgehen, heißt es in der Offiziellen Dokumentation der Spiele. Zunächst werden der Sportausschuss und eine Kommission für die Bauberatung gegründet, noch vor der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit findet sich im Dezember 1966 ein Ausschuss für die „Visuelle Gestaltung der Spiele“ zusammen. Weitere Gremien kommen im Laufe der Jahre hinzu, debattiert wird über Kunst, Finanzen oder das Jugendlager im Kapuzinerhölzl; ein Ausschuss für die Austragung von Wettbewerben in Kiel wird einberufen, eine Kommission befasst sich mit Protokollfragen und eine andere Gruppe kümmert sich um die Durchführung des Fackellaufs mit dem Olympischen Feuer von Griechenland nach München. In weiteren 31 Arbeitskreisen werden einzelne Aspekte dieser Themengebiete diskutiert. Mit Empfehlungen aus den Beratergremien trifft der Vorstand des OK stellvertretend für das gesamte Gremium Entscheidungen, die über das Generalsekretariat an insgesamt 13 Fachabteilungen und die entsprechenden Unterreferate mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern weitergeleitet werden. Das Spektrum an Zuständigkeiten reicht von der Abteilung I „Finanzen, Recht, Verwaltung“ über die Abteilung VII „Werbung“ und die Abteilung VIII „Verkehr“ bis hin zur Abteilung XIII „Der Ordnungsbeauftragte“ unter der Leitung des Münchner Polizeipräsidenten Manfred Schreiber. In erheblichem Maße trägt auch die Bundeswehr zu der Vorbereitung und der Durchführung von Olympia bei.745 Schon 1968 hat eine Arbeitsgruppe den Auftrag erhalten, die Spiele in Mexiko dahingehend zu beobachten, wie und an welchen Punkten die Bundeswehr vier Jahre später unterstützend eingesetzt werden kann. „Im engen München werden wohl drastische Maßnahmen erforderlich sein, um sowohl den offiziellen Omnibusverkehr für Wettkämpfer und Funktionäre, als auch den Taxi-Betrieb für die Zuschauer zu ermöglichen. (Bundeswehrfahrzeuge für offizielle Fahrten (Aktive, Betreuer, Ärzte, Hilfspersonal) u.s.w.).“746 In dem Papier wird am Ende auch IOC-Präsident Avery Brundage mit einer Aussage zitiert: „Wir glauben, daß wir in München weniger Sorgen haben werden, weil in Deutschland eben vieles selbstverständlich erscheint, was in manchem anderen Land erst schwer erarbeitet werden muß. Wir erwarten in München viel und wir sind überzeugt, daß diese Erwartungen in allen Bereichen erfüllt werden, ohne daß der von uns bekämpfte Gigantismus die Überhand bekommt.“747 Das OK mietet im November 1966 zunächst Räume in der Münchner Innenstadt an, in denen das Generalsekretariat einige Monate später seine Arbeit aufnimmt. Der überschaubare Stab setzt sich am Anfang aus drei Referenten und drei Sekretärinnen zusammen. Die Aufgaben aber wachsen stetig, immer mehr Mitar745 |

Vgl. Organisationskomitee für die Spiele – Organisation 1972: S. 46-47, 51.

746 |

Bericht der Arbeitsgruppe Bundeswehr von 1969. In: Olympiade 1972 – Mexiko.

Studienbericht der Arbeitsgruppe Bundeswehr 1968-1969. Stadtarchiv München, 34. 747 |

Ebd.

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beiterinnen und Mitarbeiter, Dolmetscherinnen, Fachreferenten, Hilfskräfte und andere, unterstützen die Arbeit des Sekretariats und müssen ebenfalls in Büros untergebracht werden. Weitere Räume werden angemietet und nach diversen Zwischenlösungen bezieht das Generalsekretariat im Mai 1969 schließlich ein eigenes Bürogebäude in unmittelbarer Nähe zum Olympiagelände. In dem Komplex an der Saarstraße 7 laufen fortan alle Fäden für das bevorstehende Ereignis zusammen. Zu Hochzeiten arbeiten 1972 bis zu 527 Personen an der Konzeption und der Realisierung der Spiele, darunter 270 Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter, Referentinnen und Referenten. Grundsätzlich sind die Verantwortlichen jedoch bemüht, den Kreis der Beschäftigten überschaubar zu halten. Das konkrete Vorgehen wird im Wesentlichen von einer Exekutivgruppe mit neun Mitgliedern aus Generalsekretariat und OK, zu der Runde gehören auch wieder Daume und Kunze, abgestimmt. In den zwei Monaten vor und während der eigentlichen Veranstaltung der Spiele sind mit den Angehörigen der Bundeswehr bis zu 40 000 Helferinnen und Helfer, darunter Fahrer, Hostessen, Schneiderinnen und andere, gleichzeitig im Einsatz.748 Um die Koordination der einzelnen Aktivitäten gewährleisten und in ihrer Gesamtheit überblicken zu können, macht Generalsekretär Kunze bei seinem Amtsantritt im Januar 1969 den Vorschlag, einen Netzplan für die optimale Vorbereitung zu erstellen. Bis zum Herbst desselben Jahres geben sämtliche Beteiligte ihre Aufträge und die voraussichtliche Dauer der Tätigkeiten in vorgegebenen Parametern bei den Referentinnen und Referenten der diversen Sachgebiete ein; aus diesen Daten werden Teilpläne entwickelt, die in chronologischer Reihe in einen Gesamtnetzplan eingepflegt werden. Über die Abteilung Technik fließen die Informationen in ein modernes System ein, mit dessen elektronischer Unterstützung bestmögliche Abläufe für die Koordination der Termine ermittelt werden sollen. „Das Ergebnis dieser ersten Berechnung durch diese Datenbearbeitungsanlage ergab das Kuriosum, daß die Olympischen Spiele nicht im Jahre 1972 sondern frühestens vier Jahre später, 1976, durchgeführt werden konnten.“749 Die Angaben werden auf dieses Resultat hin noch einmal überprüft und in verschiedenen Bereichen auf das Wesentliche konzentriert. Mit immer fein gliedrigeren Netzplänen werden die Arbeiten in den Jahren von 1970 bis 1972 strukturiert, mit den bevorstehenden Spielen halten die Abteilungsleiter immer häufiger Besprechungen ab, in denen die Verantwortlichen detailliert Bericht über ihr Fortkommen erstatten.750 Für die baulichen Maßnahmen, die mit der Austragung der Spiele in ganz erheblichem Umfang anfallen, wird eine eigenständig agierende Bauträgergesellschaft gegründet. Die Olympia-Baugesellschaft mbH (OBG) ist eine Einrichtung der beteiligten Gebietskörperschaften, der Bundesrepublik Deutschland, des Frei748 |

Vgl. Organisationskomitee für die Spiele – Organisation 1972: S. 48.

749 |

Ebd.: S. 45.

750 |

Vgl. ebd.

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staats Bayern und der Landeshauptstadt München. Der Vertrag wird am 10. Juli 1967 unterzeichnet. Obgleich das OK und die OBG prinzipiell eigenständig auf das gemeinsame Ziel hinarbeiten, sitzen neben dem Bayerischen Finanzminister Konrad Pöhner auch vier Mitglieder des OK, Vogel, Brauchle und andere, sowie Vertreter der Länder im Aufsichtsrat. Den Vorsitz hat der Bundesfinanzminister Franz Josef Strauß, am 20. Mai 1969 wird Carl Mertz, Präsident der Bundesbaudirektion Berlin, zum Hauptgeschäftsführer ernannt.751 Die Aufgaben sind vielfältig und zahlreich, die Sportstätten müssen nicht nur termingerecht fertig gestellt werden, sondern auch internationalen Wettkampfbestimmungen genügen, die Ausstattung der Trainingsmöglichkeiten soll zeitgemäß sein, und zugleich gilt es, die infrastrukturelle Anbindung mit anderen Bautätigkeiten abzustimmen. Standorte für die Medienvertreterinnen und -vertreter müssen ebenso geplant werden wie Unterkünfte für die Sportlerinnen und Sportler der teilnehmenden Nationen, und dabei soll immer auch an die Interessen des Publikums gedacht werden. Die nacholympische Nutzung der Sportstätten und Unterkünfte ist von Anfang an zentrales Thema.752 Insgesamt hat die Gesellschaft 60 Bau- und Umbaumaßnahmen unterschiedlicher Größe zu betreuen, in erster Linie bemüht sich die OBG jedoch um die Koordination der Arbeiten am zentralen Münchner Olympiapark.753 „Ohne die Spiele wäre auf dem Oberwiesenfeld bis heute wahrscheinlich nur ein herkömmliches Fußball- und Leichtathletikstadion entstanden“,754 gibt Hans-Jochen Vogel rückblickend zu bedenken. „Stattdessen hat München einen großzügigen und großartigen Erholungspark gewonnen, der die Individualität der Stadt bereichert, ein neues Zentrum vielfältigen Gemeinschaftslebens ist und der den Münchner Norden erheblich aufgewertet hat.“755 Wenngleich die Umsetzung von Olympia, wie es die Offizielle Dokumentation des OK vermittelt, geradezu idealtypisch verlaufen ist, und das Unternehmen in der Tat als logistische Spitzenleistung bezeichnet werden kann, bleiben auch Probleme zwischen den Akteurinnen und Akteuren nicht aus. Neben Absprachen, die aufgrund von Kommunikationsschwierigkeiten nicht eingehalten werden, fordert besonders der hohe Termindruck, unter dem die Vorbereitungen vorangetrieben werden, seinen Tribut. „Der Gestaltungsbeauftragte für die Olympischen Spiele, Otl Aicher (46), hat einen Herzinfarkt erlitten und liegt im Krankenhaus“, mel751 |

Vgl. ebd.: S. 50.

752 |

Vgl. Organisationskomitee für die Spiele der XX. Olympiade (Hg.) (1972): Die Spiele.

Der offizielle Bericht. 3 Bände (2, Die Bauten). München, S. 2-3. 753 |

Vgl. Angerer, Wolf (1972): Einführung. In: Harbeke, Carl Heinz; Kandiza, Christian;

in Zusammenarbeit mit Behnisch & Partner (Hg.): Bauten für Olympia 1972. München – Kiel – Augsburg. München, S. 8-12. Hier: S. 8. 754 |

Vogel, Hans-Jochen (1972 b). Vorwort. In: Organisationskomitee für die Spiele – Bauten

1972: S. 2. 755 |

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det die Münchner tz im Februar 1969, „Aichers Erschöpfungszustand wird neben großer Arbeitsbelastung auch auf ‚starke, seit langem bestehende Differenzen mit dem Olympia-Generalsekretär Kunze‘ zurückgeführt. Diese Meinung äußerte gegenüber der tz der kürzlich als Vorsitzender des Olympia-Ausschusses für visuelle Gestaltung zurückgetretene Münchner Architekt und Vorsitzende des Werkbundes in Bayern, Dipl.-Ing. Werner Wirsing. Nach Aichers Erkrankung hat sich die Unzufriedenheit im Olympiaausschuß für visuelle Gestaltung über eine ungenügende Berücksichtigung der ehrenamtlichen Ausschußarbeit verstärkt. Einzelne Mitglieder erwägen den Rücktritt.“756 Die sozialen und organisatorischen Strukturen der Olympischen Spiele ziehen sich wie ein Flechtwerk durch den Organismus von München, an vielen Stellen sind die Fäden aufs Engste mit dem städtischen Gewebe vernetzt und verfügen analog auch über eigene Verbindungen und Positionen. Für das Gelingen von Olympia müssen so unterschiedliche Elemente wie zum Beispiel der Sprachendienst, das Transportwesen, die Akkreditierung der Presse, der Rasen im Stadion, das Kulturprogramm oder die Gestaltung des Maskottchens und die Verpflegung des Kurzzeitpersonals konzipiert und mit zahllosen anderen Maßnahmen von Kommune, Land und Bund abgestimmt werden. Dabei sind die Verantwortlichen stets bemüht, den Habitus der Stadt757 ebenso wie das Ethos der Region758 in den Planungen für das Sportereignis aufgehen zu lassen. Von Seiten der Organisatoren ist Empathie gefragt, nicht nur die einzelnen Handlungen gilt es auf komplexe Weise miteinander zu verbinden, sondern auch die Repräsentation der Stadt im Blick zu behalten. Wie ein besonders facettenreiches Mosaik setzen sich die XX. Olympischen Sommerspiele in den Jahren von 1966 bis 1972 aus verschiedenen Komponenten zusammen.

756 |

Gestalter erlitt Herzinfarkt (13. Februar 1969). In: tz. In: Personen Otl Aicher.

Stadtarchiv München, 5/16. 757 |

Vgl. Lindner 2003 a.

758 |

Vgl. Lindner, Rolf (1994): Vom Ethos der Region. In: Lindner, Rolf: Die Wiederkehr

des Regionalen. Über neue Formen kultureller Identität. Frankfurt am Main; New York, S. 201-231.

8. „München wird moderner“. Stadtentwicklung im Diskurs

„München wird moderner“ ist auf den weithin sichtbaren Holztafeln zu lesen, die das städtische U-Bahn-Referat Mitte der 1960er Jahre in der Stadt errichten lässt. „Hier baut die bayerische Landeshauptstadt mit Unterstützung des Freistaats Bayern.“759 Die Beschilderung ist unmittelbar an den vielen Baustellen für das U- und S-Bahn-Netz angebracht und soll die Öffentlichkeit über die Ziele der laufenden Infrastrukturmaßnahmen informieren. „München hatte nach 1945 ein stärkeres und kontinuierlicheres Wachstum an Einwohnern und Arbeitsplätzen zu bewältigen als jede andere vergleichbare Großstadt der BRD. Ende der 50er Jahre waren für die in ihrer alten Struktur und Gestalt wieder aufgebaute Stadt die Grenzen der Aufnahmefähigkeit erreicht. Das prognostizierte und naturwüchsig angesehene weitere Wachstum konnte nur durch umfangreiche Stadterweiterungen und tiefgreifenden Stadtumbau bewältigt werden. Grundlage hierfür war der Stadtentwicklungsplan von 1963. Sein mit enormem Finanzaufwand in Angriff genommener Vollzug [...] [bekam] durch das Projekt der Olympiade 1972 noch erhebliche zusätzliche Schubkraft aus Bonn [...]“,760 erläutert Lutz Hoffmann vom Referat für Stadtplanung und Bauordnung der Landeshauptstadt München. Die Devise „München wird moderner“ wird in den ausgehenden 1960er Jahren aber wie die absolute Autorität der Stadtverwaltung an Eindeutigkeit verlieren, während sich Positionen und Perspektiven in Bezug auf die Modernisierung von München ausdifferenzieren. „Modernism as an intentional framework for ‚progressive‘ thought and action”, meint der amerikanische Stadtforscher Edward W. Soja, „is thus radically open to the accumulation of new understanding and knowledges. It is also, reflecting this openness, susceptible to being spatiotemporally restructured, recomposed, taken in new and different directions from those already established. Modernity is not created once and for all, but changes over time and is spatially unevenly developed.”761 Betrachtet man die Stadt als Text, stellt sich die Frage nach der Lesbarkeit ihrer Bausteine, Bedeutungen und Zeichen. Der Schweizer Architekt und Architektur759 | 760 |

Vgl. Pohlmann 2008: S. 80. Hoffmann, Lutz (1993): Erfahrungen der Stadtverwaltung München mit dem

Münchner Forum. In: Münchner Forum e.V. (Hg.): 25 Jahre Münchner Forum. Initiativen für München, Kritik und Ideen, Konzepte und Dokumentation, Satire und Information. München, S. 45-48. Hier: S. 45. 761 |

Vgl. Soja 2000: S. 72-73.

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theoretiker Andri Gerber verweist in der Auseinandersetzung mit dieser Thematik auf die Kritik des französischen Philosophen Henry Lefebvre, der seinerseits davon ausgeht, dass semiotische Modelle wie das strukturalistische Konzept des Sozialwissenschaftlers Roland Barthes lediglich „[...] eine Lektüre der Stadt entwickeln, jedoch keine räumliche Produktion hervorrufen“762 . Gerber erklärt, dass sich Barthes auch selbst dazu geäußert hat, „[...] dass es bei der Semiotik der Stadt eher um Sprechen über die Stadt als um die Sprache der Stadt geht“763 . An verschiedenen Modellen zeigt der Architekt, auf welche Weise die Stadt als Text aufgefasst werden kann und gelangt über die Beschäftigung mit architekturhistorischen, sozialwissenschaftlichen und kulturtheoretischen Überlegungen zu der Hypothese, dass man die Produktion, das Herstellen und damit auch das Schreiben der Texte immer mit dem Lesen und der Rezeption der Stadt denken muss, um die „grenzübergreifende Verbindung von Raum und Schrift“764 aufnehmen und die Rede von der Stadt als Text „aus dem oberflächlichen, metaphorischen Bereich“765 herauslösen zu können. In Anlehnung an die vielfach artikulierte Idee, dass die Architektur selbst eine Sprache ist, geht es Gerber ganz generell um das Potential, das ein solches Denken entfalten kann. Des Weiteren fragt der Architekt, in welchem Medium sich ein Stadt-Text ausdrücken und auch als nicht literarischer Text untersucht werden kann. Andri Gerber kommt in seinen Ausführungen zu dem Schluss, dass ein komplexes Konstrukt wie die Stadt niemals in einem einzigen Medium greifbar wird, sondern stets grenzüberschreitend und kontextuell gedacht werden muss.766 Eingeschrieben in den Stadtraum ist der Slogan „München wird moderner“ als Repräsentation wie auch als Interpretation von Handlungen zu begreifen. Von Seiten der Münchner Stadtverwaltung werden Vorstellungen, die in Verbindung mit der konzeptionellen Umstrukturierung des Raumes und den daraus resultierenden Tiefbauarbeiten stehen, über das Medium der Bretterwände kommuniziert. Die Syntheseleistung der Planungen soll, mit den Begrifflichkeiten der Soziologin Martina Löw ausgedrückt, in Analogie zur konkreten Umgestaltung des Stadtraums, des so genannten Spacing, in Form von Texttafeln übersetzt werden.767 „München wird moderner“ und nicht modern, der Komparativ benennt nicht die gewaltigen Einschnitte, die sich bald im Gefüge der Stadt auftun, die Baustellen werden de762 |

Vgl. Gerber, Andri (2005): Futurismo und Letterisme. Grenzüberschreitende Stadt-

texte der Avantgarde. In: Lampugnani, Vittorio Magnago; Noell, Matthias (Hg.): Stadtformen. Die Architektur der Stadt. Zwischen Imagination und Konstruktion. Zürich, S. 41-54. Hier: S. 41-42. 763 |

Vgl. Gerber 2005: S. 42.

764 |

Vgl. ebd.

765 |

Vgl. ebd.

766 |

Vgl. ebd.: S. 41.

767 |

Vgl. Löw 2001: S. 158-159.

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monstrativ zu Sinnbildern des Vorwärtskommens erklärt. Die verantwortlichen Referenten deuten die Anlage eines U- und S-Bahn-Netzes an Ort und Stelle als Aufbruch in eine urbane Zukunft und übertiteln die massiven Eingriffe und Umbrüche in den Strukturen der Stadt als programmatische Vision. In den langen 1960er Jahren wandelt sich München von einer modernen hin zu einer postmodernen Großstadt und durchläuft eine Phase der Transformation, die in diesem Zeitraum nicht nur auf unterschiedlichen Ebenen zu beobachten ist, sondern auch in verschiedenen lebensweltlichen Bereichen spürbar wird und mit dem Zuschlag für Olympia in den Jahren nach 1966 eine zusätzliche Dynamik erfährt. Der britische Geograph Donald McNeill hält mit Blick auf die Olympischen Sommerspiele von 1992 in Barcelona ebenfalls Phänomene und Prozesse fest, die durch das kommende Ereignis angeregt, aktiviert und vor allen Dingen beschleunigt werden. „These symptoms of globalisation would probably have happened anyway. But for many it was the Olympic which acted as a watershed in the transition from the old to the new, as post-industrialism and postmodern pop aesthetic began to dominate the streets.”768 Edward Soja verfolgt die Genese einer idealtypischen Postmetropolis anhand von „Critical Studies of Cities and Regions”. Sein umfangreicher Überblick zum Befinden von Städten in einer Epoche des Übergangs beruht nicht auf der Auseinandersetzung mit einem signifikanten Ort, sondern bezieht sich insgesamt auf urbane Räume und Entwicklungen dieses Zeitabschnitts, wobei die Überlegungen in erster Linie auf Erkenntnissen zu amerikanischen Großstädten beruhen.769 „The postmetropolis thus represents, in large part, an outgrowth or, better, an extension of modern and modernist urbanism, a still partial and incomplete metamorphosis that will always bear traces of earlier cityspaces.“770 Anhand des kultur- und sozialwissenschaftlichen Forschungsstands zum Thema Stadt entwickelt Soja sechs wesentliche Diskurse einer geohistory of restruction, die mit der Postmoderne zusehends wirkmächtiger werden. Soja diskutiert diesen Begriff ebenso wie das häufig gebrauchte Präfix post in seinen Varianten und fragt nach den verschiedenen Bedeutungen des Konzepts. Der Forscher will dabei nicht auf eine feste Definition hinaus, gerade die Offenheit unterscheidet die Idee der Postmoderne von der Moderne, sondern sucht in der Biographie der Stadt nach tief greifenden Verschiebungen und analog auch nach Kontinuitäten, die unter veränderten politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen zu beobachten sind. Die beschriebenen Diskurse und Sequenzen sind jedoch ebenfalls nicht als Ergebnisse von genau umrissenen oder linear gedachten Wegen zu begreifen, sondern als Anhaltspunkte in einem heterogenen und dabei immer im Fluss befindlichen Pro-

768 |

McNeill 1999: S. 50.

769 |

Vgl. Soja 2000.

770 |

Ebd.: S. 148.

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zess aufzufassen.771 Soja zeigt, wie sich nicht nur der populäre, sondern auch der wissenschaftliche Blick auf den vielschichtigen Wandel von Stadt und Gesellschaft weiter ausdifferenziert, und „[...] by the time a more rigorous understanding of its inner workings was achieved, the wild city had begun to be significantly restructured into something else that could no longer be explained with the same success that was achieved for the postwar regional metropolis. Because of we do not yet have a better or more specific term to describe this currently emerging metropolitan cityspace, I have chosen to call it the postmetropolis [...].”772 Die sechs Diskurse, die der Stadtforscher herausarbeitet, lassen sich auch an konkreten Beispielen beobachten, die Ausprägung der einzelnen Parameter folgt dabei der Spezifik der Stadt. Auf charakteristische Weise werden die skizzierten Entwicklungen evident, im Kontext einer bestimmten Stadt treten manche Aspekte deutlicher hervor, während sich andere Zusammenhänge mit den Konstellationen der Zeit verschieben. Mit Sojas Konzept lassen sich auch in München maßgebende Themen und Topoi in ihrer historischen Gleichzeitigkeit akzentuieren, außerdem deutet das Modell auf umfassendere Zusammenhänge, Bewegungen und Diskurse hin. „München wird moderner“ ist als Bild und als Text einer physischen, kulturellen und sozialen Stadtentwicklung zu verstehen, die in der Epoche von 1958 bis 1973 ihren Ausgang nimmt. Richtungsweisend für die Genese von Stadt und Land wird an diesem Punkt das Fundament für eine urbane und gleichermaßen urbanisierte Zukunft gelegt. „Die Olympiabauten und die damit verbundenen Infrastrukturmaßnahmen – bereits im Februar 1965 fiel der Startschuß zum Bau der Münchner S- und U-Bahn, an deren Kosten sich das Land zu einem Drittel beteiligte – veränderten den Charakter der Stadt grundlegend, die 1964 als ‚Heimliche Hauptstadt Deutschlands‘ bezeichnet worden war“,773 konstatiert der Historiker Karl-Ulrich Gelberg. Wie bei Max Webers Analyse der modernen Großstadt und ihrer Typen stellt die ökonomische Situation auch den zentralen Diskurs der Postmetropolis dar. Edward Soja spricht von der Postfordist Industrial Metropolis, die vom sukzessiven Austausch fordistischer Industrien durch neue Felder bestimmt wird. Zeitgleich gewinnen der Finanzmarkt, der Handel mit Immobilien, das Versicherungsgewerbe und der Dienstleistungssektor im Allgemeinen maßgebend an Einfluss auf die städtische Wirtschaft. Soja erwähnt in diesem Kontext auch, dass eine Stadt niemals alleine, sondern stets vor dem Hintergrund der gesamten Region betrachtet werden muss. In Bayern und besonders im Münchner Umland siedelten sich zu Beginn der 1940er Jahre auf Grund des Krieges zahlreiche Unternehmen aus Berlin an und profitierten wie viele alteingesessene Firmen nach einer Zeit der Konsolidierung

771 |

Vgl. ebd.: S. 170-171.

772 |

Ebd.: S. 115.

773 |

Gelberg 2003: S. 871.

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von der Währungsreform und dem deutschen Wirtschaftswunder.774 Wie einer offiziellen Statistik zur ökonomischen Situation der Stadt im Jahr 1958 zu entnehmen ist, entwickelt sich München überaus positiv. Die Stadtverwaltung ist sich aber auch bewusst, dass nur wenige „beim Stichwort ‚München‘ an die führende Industriestadt“775 in der Bundesrepublik denken. Obgleich die Wirtschaftskraft der Landeshauptstadt lange relativ unbedeutend war, erreichen Bayern und München nach 1948 einen Status, der für die gesamte Nation maßgebend wird. Analog wird auch von Seiten der Politik nach Kräften versucht, dass Image des einstigen Agrarstaats nachhaltig umzudeuten.776 Wie die Historikerin Martina Heßler feststellt, wird München „in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer sogenannten High-Tech-Stadt“777. An der städtischen Peripherie entstehen Wissenschaftsstandorte, auch die Ansiedlung von Medienzentren und Technologieparks gehört zum Programm der Postfordist Metropolis, beispielhaft ist die Entwicklung an den Dörfern Garching und Martinsried bei München nachzuvollziehen, die Gemeinden wurden im Interesse von Stadt und Land seit den 1950er Jahren systematisch zu Forschungsstandorten ausgebaut. Martina Heßler führt die Entscheidung auf „spezifische Vorstellungen und Leitbilder in Wissenschaft und Stadtplanung“778 zurück. Unternehmen wie Siemens und Halske setzen gleichzeitig auf innovative Märkte wie die Telekommunikation, die Halbleitertechnik und die Datenverarbeitung. Elektronik lautet das Stichwort der Stunde, aber auch am Übergang vom Fordismus zum Postfordismus zählen weiterhin expandierende Industrien wie die Herstellung von Eisenbahnen bei Krauss Maffei oder die Produktion von Fahrzeugen bei Audi und BMW. Soja spricht nicht nur Brüche und Veränderungen, sondern auch Kontinuitäten zwischen der Metropolis und der Postmetropolis an. „Die erste ‚Weltausstellung des Verkehrs‘ wird am 25. Juni 1965 durch Bundespräsident Heinrich Lübke [...] eröffnet. Über vier Monate lang bietet diese große Schau im Ausstellungspark und auf der Theresienwiese mit der Beteiligung von 34 Ländern einen umfassenden Einblick in alle Ebenen des Verkehrs von der U-Bahn bis zur Weltraumfahrt.“779 In der Dokumentation „München. 1945 bis heute. Chronik eines Aufstiegs“ ist 774 |

Vgl. Hefele 1998.

775 |

Auflistung zur Wirtschaftskraft der Stadt, 1958. In: Zeitgeschichtliche Sammlung –

800-Jahr-Feier. Stadtarchiv München, 41/2. 776 |

Vgl. Deutinger 2001: S. 17-37.

777 |

Heßler, Martina (2006): Wissenschaftssklaven. Die Inszenierung von Kommuni-

kation und Urbanität im suburbanen Raum. In: Saldern, Adelheid von (Hg.): Stadt und Kommunikation in bundesrepublikanischen Umbruchszeiten. (Beiträge zur Kommunikationsgeschichte, 17) Stuttgart, S. 83-101. Hier: S. 85. 778 |

Heßler 2006: S. 84.

779 |

Vgl. Seeberger, Kurt; Rauchwetter, Gerhard (1970): München. 1945 bis heute.

Chronik eines Aufstiegs. München, S. 273.

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vor dem Großmodell einer Weltraumstation, dem Wahrzeichen der Verkehrsausstellung, auch der Luftfahrtingenieur Wernher von Braun auf dem Messegelände zu sehen. Die wechselvolle Biographie des Wissenschaftlers, der zunächst für das nationalsozialistische Deutschland und nach 1945 im Auftrag der US-amerikanischen Weltraumbehörde NASA Raketen konstruiert hat, wird darin kurzerhand als „deutschamerikanisch“780 bezeichnet.

D ER J ENSEN -P L AN UND DAS M ÜNCHNER F ORUM . P ROZESSE UND P OSITIONEN Als „Großstadt mit Tradition und Zukunft“ wird München 1963 in einem offiziellen Werbefilm der Landeshauptstadt vorgestellt. Anders als noch im Kontext des 800. Stadtjubiläums, wird die jüngste Vergangenheit von München über die schwerwiegenden materiellen Schäden, die im Verlauf des Krieges entstanden sind, ausführlich und zugleich ausschließlich auf diesem einen Gebiet thematisiert. Erwähnung findet dabei auch der Umstand, dass der Wiederaufbau in Bayern zunächst relativ kleinteilig und ohne zusammenhängendes Konzept angegangen wurde. „Die ersten Schritte zum neuen München waren der Selbsthilfe, der Eigeninitiative überlassen und alle Münchner Bürger [und Bürgerinnen] hatten aktiv teil daran. Münchens damaliger Bürgermeister prägte das gallig optimistische Wort rama dama.“781 Obwohl sich angesichts der Trümmer erst einmal jeder selbst der nächste war, wie der Bericht ganz unverblümt zum Ausdruck bringt, kann die Rekonstruktion der Stadt, ihrer Bauten und Wege nach Jahren erfolgreich abgeschlossen werden. „München war zerstört, doch hatte es durch eine glückliche Fügung sein Gesicht bewahrt. Die wichtigsten Bauwerke, die Wahrzeichen, waren wenigstens in der Fassade erhalten geblieben. Die Frauenkirche, die Theatinerkirche, das Rathaus, die Residenz.“782 Auf der Grundlage des wiederhergestellten Stadtgefüges wird auch die wirtschaftlich prosperierende Situation von München auseinandergesetzt, vor allem der anhaltende Zuzug von Menschen aus der gesamten Bundesrepublik und verstärkt auch aus dem Ausland ist in diesem Zusammenhang ein zentrales Thema. Ebenso ausführlich wird der anwachsende Fremdenverkehr erörtert, der Zuspruch durch den Tourismus scheint gerade zu bestätigen, dass München seinen Ruf als Stadt der Kunst, Kultur und Wissenschaft behalten und die Isarmetropole nichts von ihrer Strahlkraft eingebüßt hat. Der Kommentar fasst das Münchner Befinden mit einem Satz zusammen: „Ohne Zweifel, es lässt sich leben in dieser Stadt.“783 780 |

Seeberger; Rauchwetter 1970: S. 273.

781 |

München (1963): Großstadt mit Tradition und Zukunft. Image-Film der Landes-

hauptstadt München. In: Stadtarchiv München. 782 |

Ebd.

783 |

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In den Sequenzen des Films werden aber auch die Probleme einer immer rasanter wachsenden Großstadt angesprochen, München zeigt sich in unterschiedlichen Bereichen gleichzeitig bemüht, mit den Anforderungen einer derart gesteigerten Urbanität fertig zu werden, die Bereitstellung von Wohnraum ist eine der zentralen Herausforderungen der aufstrebenden Millionenstadt. Im Film werden Bauernhäuser neben modernen Hochhauskomplexen gezeigt, Tradition und Moderne gehen in München weiterhin Hand in Hand. Aus der Nähe betrachtet, ergeben sich aus dieser Verbindung aber auch Schwierigkeiten, die Lage eines pittoresken Einfamilienhauses verhindert zum Beispiel den dringend notwendigen Ausbau einer Straße, wie der Kommentar erläutert. Am unmittelbarsten drängt der rapide zunehmende Verkehr, nie zuvor hat es so viele Privatzulassungen für Fahrzeuge wie in den 1950er Jahren gegeben und ein baldiges Ende der Konjunktur ist nicht in Sicht. „Im Straßenverkehr droht die Münchner Gemütlichkeit aufzuhören.“784 Um die verschiedenen Aufgaben strategisch angehen zu können, hat die Stadtverwaltung im Jahr 1960 ein ganzheitliches Vorgehen beschlossen und bei Herbert Jensen einen Gesamtentwicklungsplan in Auftrag gegeben, der die Gestaltung der städtischen Zukunft bis in die 1990er Jahre hinein regeln soll.785 Der Reklamefilm ist augenscheinlich mit der Absicht gedreht worden, den Münchnerinnen und Münchnern die Inhalte des daraus resultierenden Jensen-Plans zu vermitteln. In einer weiteren Einstellung sitzt der Oberbürgermeister an einem mächtigen Schreibtisch und stellt die Maßnahmen im Einzelnen vor. Hans-Jochen Vogel spricht das Konzept der Ringstraßen an, mit denen die Innenstadt, der Stachus, die Kaufinger- und die Neuhauserstraße, der Marienplatz und der Odeonsplatz vom immer undurchdringlicher werdenden Verkehr befreit werden sollen. Ein Sund U-Bahn-Netz wird das Zentrum weiter entlasten und zugleich die Verbindung zwischen Stadt und Umland deutlich verbessern. Während der öffentliche Nahverkehr in mehreren Etagen unter der Erde fließt, wird der Individualverkehr in Form von Stadtautobahnen gelenkt und in Teilen durch Tunnels geführt, an der Oberfläche kann dadurch ein Fußgängerbereich entstehen. Die Idee der autofreien Stadt scheint in den Plänen mit der Idee der autofreundlichen Stadt einherzugehen, auf keinen Fall aber ist das moderne München als „Reißbrettstadt“786 zu verstehen. OB Vogel mimt in dem Film die Rolle des Übersetzers und bereitet mit einem Blick in die Zukunft auf erhebliche Einschränkungen vor, die in den folgenden Jahren durch die Umstrukturierungsmaßnahmen zu erwarten sind. „Daß die Münchner Baustellen eine solche Größenordnung und solche internationale Bedeutung erreichen konnten“, kommentiert der Journalist und Autor Kurt Preis im Jahr 1972, „bedeutete einige recht hektische und für den Bürger dieser Stadt verdrießliche 784 |

Ebd.

785 |

Vgl. Landeshauptstadt München (1963): München. Stadtentwicklungsplan ein-

schließlich Gesamtverkehrsplan. München. 786 |

München (1963): Großstadt mit Tradition und Zukunft. Image-Film der Landes-

hauptstadt München. In: Stadtarchiv München.

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Jahre. Die allerorten aufgestellten Tafeln mit dem tröstlichen Versprechen, München werde moderner und schöner, stießen auf Skepsis.“787 In dem Bildband, den die Stadt selbst mit Texten und graphischen Arbeiten zu den verschiedenen Bauprojekten in München herausgegeben hat, bezieht sich auch Preis wiederholt auf die Person von Hans-Jochen Vogel. „So ließ es sich der Oberbürgermeister auch stets angelegen sein, bei passender Gelegenheit in eine Ansprache den Dank an die Bürger einzuflechten für die große Geduld, mit der sie alle Misshelligkeiten dieser ‚erdumwälzenden‘ Entwicklung ertragen haben.“788 Der Karlsplatz in München gilt Anfang der 1960er Jahre als verkehrsreichster Platz Europas. In einer Statistik, die der Reporter Karl Stankiewitz in einem seiner zahllosen Artikel zur Entwicklung der Stadt anführt, ist schon 1957 die Rede von 38 kreuzenden Adern. 500 000 Menschen, 40 000 Autos, 30 000 Roller und Motorräder wie auch 70 000 Fahrräder queren den Platz pro Tag.789 Angelika Grimm erinnert sich in diesem Zusammenhang an eine Begebenheit aus ihrer Kindheit in den 1960er Jahren. Als sie den Vater, der bei der Justizverwaltung in der Maxburg unweit des Stachus gearbeitet hat, einmal in der Früh aufweckt, weil er verschlafen hat, ruft der sogleich: „Renn schon mal los und besetz einen Parkplatz für mich!“790 Der Karlsplatz, der synonym als Stachus bezeichnet wird, ist auch auf dem Titel des Spiegel abgebildet, der München 1964 zu „Deutschlands heimlicher Hauptstadt“ ernennt. Auf dem Heft vom 23. September ist die markante Silhouette der Frauenkirche mit ihren beiden Kuppeln zu sehen. Die Konturen des spätgotischen Bauwerks rahmen eine zeitgenössische Aufnahme der Stadt, die SchwarzWeiß Fotografie zeigt den Platz und das Rondell mit dem Karlstor bei Nacht. Dicht gedrängt und in wartender Haltung stehen Trambahnen, Busse und Autos in Richtung Bahnhof, während sich die Fahrzeuge auf der Sonnenstraße bewegen. Viele Passanten sind auf dem Bild zu sehen, mitten auf der Kreuzung regeln Polizisten in langen weißen Mänteln den Verkehr. Wie ein Netz spannen sich Kabel, Leitungen und Drähte über dem Karlsplatz, die nächtliche Szenerie strahlt im Schein von Laternen und Leuchtreklamen. Osrams Slogan „Hell wie der lichte Tag“ ist wie die Reklame für „4711“ oder der Schriftzug „MAN“ über den Dächern der Gebäude auszumachen, während direkt am Stachus die Bar Maxim zu erkennen ist und ein Geschäft für Lederwaren und Koffer sein reichhaltiges Angebot preist. Straßenschilder und Hinweistafeln spiegeln den Schein der Lampen, die Texte sind unscharf, verwischen, paradigmatisch stehen die Nacht und die Lichter für das Urbane. Das Bild vermittelt den Eindruck von Bewegung, der Verkehr überlagert sich auch optisch durch die lange Belichtungszeit, Dichte und Heterogenität definieren 787 |

Landeshauptstadt München (Hg.) (1972): München baut für 1972. München, S. 11.

788 |

Landeshauptstadt München 1972: S. 11.

789 |

Vgl. Stankiewitz, Karl (2006): Der Stachus. Wo München modern wurde. München,

S. 76. 790 |

Gespräch mit Angelika Grimm am 12. Dezember 2010.

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die Ästhetik des öffentlichen Raums. Die Aufnahme reflektiert die Folgen einer fortschreitenden Urbanisierung. Mit der nächtlichen Situation wird eine Metapher der modernen Stadt zur Schau gestellt; zugleich ist mit dem Stachus ein konkreter Ort gemeint. In den allzu engen Umrissen der rekonstruierten Altstadt wird die expandierende Großstadt der Gegenwart sichtbar, München ist in weißen Lettern am unteren Rand der Collage zu lesen. Die Verabschiedung des Jensen-Plans durch den Münchner Stadtrat im Juli 1963 bezeichnet nicht nur den Auftakt einschneidender Umstrukturierungsmaßnahmen, sondern ist vielmehr als grundlegendes Ereignis innerhalb eines Modernisierungsdiskurses zu verstehen, der sich in den folgenden Jahren um den Gegenstand der Raumkonstitution in München entspinnt. Bei einem Diskurs geht es, wie der Kulturwissenschaftler Wolfgang Kaschuba erklärt, „[...] um das Austauschen und Aushandeln im Rahmen von Wissensordnungen, die darüber entscheiden was wichtig und unwichtig oder richtig oder falsch ist, von Wertehorizonten, in denen sich gemeinsame und unterschiedliche Ziele und Interessen herausbilden, von Argumentationsweisen, die ein Ziel oder den Weg dahin dadurch begründen können, daß sie für alle scheinbar einleuchtend und plausibel sind, und schließlich von Kompetenzen, die darüber entscheiden, wer sich wie am Diskurs beteiligen darf.“791 Die „München wird moderner“-Tafeln des städtischen U-Bahn-Referats wirken als Medien ebenso wie die lokale Berichterstattung über das Geschehen vor Ort und die Rezeption in der überregionalen Presse in den Diskurs hinein und sind als Motive und auch als Strategien „in einem komplexen Prozeß der Präsentation von Argumenten und der Aushandlung von Wertigkeiten“792 anzusehen. Die historische Stadt vermag den Ansprüchen der Bewohnerinnen und Bewohner seit den ausgehenden 1950er Jahren nicht mehr zu genügen, im Hinblick auf den immer deutlicher spürbaren Wohnungsmangel, permanente Staus und oftmals chaotische Verkehrsverhältnisse sind die Münchnerinnen und Münchner von der Dringlichkeit der Baumaßnahmen prinzipiell überzeugt. Die Neuausrichtung der Straßen scheint notwendig, und sogar intakte Altbauten werden an vielen Stellen durch Wohn- und Bürohäuser im Stil der Zeit ersetzt. Die Modernisierung der Stadt wird in der öffentlichen Wahrnehmung zwar skeptisch betrachtet, bleibt aber vorwiegend mit der Idee von Fortschritt verknüpft. Ein Beispiel für dieses Denken und Handeln ist das ehemalige Roman-Meier-Haus am Marienplatz, das im Krieg stark beschädigt worden ist. Wie sich Christian Ude, der in den 1960er Jahren als Lokalreporter in München tätig gewesen ist, erinnert, hat die Kaufhof AG zweimal angeboten, die historische Fassade stehen zu lassen. Gegen diese Variante votieren jedoch prominente Architekten wie Sep Ruf und Ernst Maria Lang. Die Erhaltung des Bestands gilt vielen in Abgrenzung zur jüngsten Vergangenheit als zu konser791 |

Kaschuba, Wolfgang (2003): Einführung in die Europäische Ethnologie. München,

S. 235-236. 792 |

Kaschuba 2003: S. 242.

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vativ; zugleich ist der moderne Komplex, der 1968 an Stelle des alten Gebäudes in der Münchner Innenstadt eröffnet wird, höchst umstritten.793 „Die riesigsten ‚Erdlawinen‘ aber wurden nicht vom Stadtentwicklungsplan ausgelöst“, gibt Preis angesichts der zahlreichen Baugruben zu bedenken, „sondern von der Tatsache, daß Münchens Bewerbung um die Durchführung der XX. Olympischen Spiele am 26. April 1966 vom Internationalen Olympischen Komitee in Rom angenommen wurde. Begeisterung und Freudentaumel auf der einen, Bedenken und Unbehagen auf der anderen Seite. Jedermann sah Ungewöhnliches auf die Stadt und ihre Bewohner zukommen. Ungewöhnliches in den Möglichkeiten der Entwicklung und Modernisierung. Ungewöhnliches aber auch an finanziellen Anstrengungen und an Belastungen für jeden einzelnen. Es beginnt nun zu wirken, was seitdem in vielen Reden die ‚Schubkraft der Olympischen Spiele‘ genannt wurde. Sie setzte Druck hinter das bereits Begonnene und sie setzt einen Termin für das sofort zu Beginnende: den Sommer 1972. Bis dahin hat München die Termin-Faust im Nacken.”794 In Anbetracht der vielschichtigen Prozesse und Phänomene, die im Verlauf der Moderne und besonders am Umbruch zu einer späten Moderne zu beobachten sind, entwerfen die Soziologen Ulrich Beck, Wolfgang Bonß und Christoph Lau eine Theorie der reflexiven Modernisierung, und skizzieren damit „[...] einen MetaWandel, in dem sich die Koordinaten, Leitideen und Basisinstitutionen einer bestimmten, längere Zeit stabilen Formation westlicher Industriegesellschaften und Wohlfahrtsstaaten verändern. [...] Gegenüber [...] monokausalen oder zumindest einseitigen Theoremen bezieht sich das Erklärungsmodell reflexiver Modernisierung auf den Wandel in seiner ganzen Breite.“795 Die These wendet sich unter anderem gegen die Annahme einer postindustriellen Gesellschaft, deren Entstehung sich allein durch die Verschiebung ökonomischer Kräfte bedingt. Aus der Perspektive einer reflexiven Modernisierung wird indessen „[d]er Strukturbruch [...] nicht durch exogene Faktoren erklärt, sondern als Folge von Modernisierung selbst verstanden. Diese radikalisierte Modernisierung betrifft alle Bereiche der Gesellschaft und wendet sich gegen die historische Formation der Nachkriegsmoderne, die nunmehr zur begründungsbedürftigen, rationalisierbaren Tradition wird. Dabei lassen sich verschiedene Formen des Meta-Wandels unterscheiden, die es in ihrer wechselseitigen Beziehung zueinander zu begreifen gilt. Gerade die Vielgestaltigkeit und Komplexität des Wandlungsmodells reflexiver Modernisierung machen 793 |

Vgl. Rede des Münchner Oberbürgermeisters Christian Ude zur Eröffnung der Aus-

stellung „München: Ansichtssache? Stadtgestalt sehen, erkennen, verstehen?“ am 13. Januar 2011 in der Rathausgalerie. 794 |

Landeshauptstadt München 1972: S. 15.

795 |

Beck, Ulrich; Bonß, Wolfgang; Lau, Christoph (2001): Theorie reflexiver Modernisie-

rung. Fragestellungen, Hypothesen, Forschungsprogramme. In: Beck, Ulrich; Bonß, Wolfgang (Hg.): Die Modernisierung der Moderne. Frankfurt am Main, S. 11-59. Hier: S. 31.

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seinen heuristischen Wert aus.“796 Mit Blick auf die faktischen und imaginierten Auswirkungen des Jensen-Plans sind seit der Bekanntgabe der Vorhaben im Jahr 1963 immer deutlicher kritische Stimmen zu vernehmen. An der Auseinandersetzung um die gebauten Formen der Stadt zeichnet sich im Verlauf weniger Jahre ein weitaus differenzierterer Umgang mit der Vergangenheit im Spezifischen und der Gesellschaft im Allgemeinen ab. Während München zu einer modernen Großstadt ausgebaut werden soll, setzen sich mehr und mehr Menschen für einen bedachteren Umgang mit der historischen Substanz der Stadt ein, innerhalb der beiden Diskursrichtungen sind allerdings ganz unterschiedliche Beweggründe auszumachen. Der 1928 geborene Architekt Karl Klühspies denkt über seine Motivation nach und resümiert rückblickend: „Ich hatte kein persönliches Interesse mich als ‚alternativer Stadtplaner‘ zu empfehlen. Zum damaligen Zeitpunkt war ich dabei, meine Laufbahn als Architekt fortzuführen. Aber als ‚Münchner Bürger‘ war ich gegen die Zerstörung des Charakters, der Individualität dieser Stadt. Es hätte wohl jeder sich gesträubt, dies zuzulassen, wenn er sich dessen bewußt gewesen wäre. Aber die meisten Bürger haben das nicht erkannt und sie wären auch nicht in der Lage gewesen das zu artikulieren.“797 Zunächst wehren sich vor allem Architekten, Karl Klühspies spricht von einem „elitären Protest“798, gegen den Abriss von Bauten, die zwar die Ziele der Nationalsozialisten und die Bomben des Zweiten Weltkriegs überstanden haben, in den 1960er Jahren aber ohne Weiteres den Ideen der Planer und dem Verkehr weichen sollen. „Aber wir haben es durch unsere öffentlichen Diskussionen und mit Unterstützung der Medien verstanden, so zu provozieren“, erklärt Klühspies,“ daß dieser elitäre Protest allmählich von immer mehr Bürgern unterstützt wurde. Damit bekamen wir zugleich das politische Gewicht, daß uns aus der damaligen politischen Sicht heraus überhaupt erst zu ernstzunehmenden Gesprächspartnern machte.“799 Im historischen Gefüge der Stadt sind im Zuge der Planungseuphorie tiefe Einschnitte angedacht, durchbrochen werden beispielsweise auch die geschlossenen Ensembles der Maximilian- und der Ludwigstraße. Das Nebenfolgen-Theorem, das Ulrich Beck, Wolfgang Bonß und Christoph Lau in die Diskussion um die Moderne einführen, scheint auch in der Wahrnehmung der Stadtgestalt zusehends evident zu werden, gerade die Anordnung der vielspurigen Ringstraßen löst große Diskussionen aus. Die meisten Menschen stehen dem Umbau gleichwohl zwiegespalten gegenüber, zum einen begrüßen sie den Ausbau der Infrastruktur, zum anderen sind sie von Maßnahmen betroffen oder stimmen nicht mit den 796 |

Beck; Bonß; Lau 2001: S. 31.

797 |

Heusinger, Martin (1993 b): Gespräch mit Karl Klühspies. In: Münchner Forum e.V.

(Hg.): 25 Jahre Münchner Forum. Initiativen für München, Kritik und Ideen, Konzepte und Dokumentation, Satire und Information. München, S. 27-35. Hier: S. 27. 798 |

Heusinger 1993 b: S. 27.

799 |

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Praktiken der Planer überein. Die Regeln des Diskurses haben sich mit der überarbeiteten Fassung des Baugesetzbuches schon im Jahr 1960 wesentlich geändert, jedem einzelnen und nicht mehr nur jedem Grundstückseigentümer wird darin das Recht zugesprochen, „begründeten Einspruch bei der Auslegung eines Bebauungsplanes“800 zu erheben. Die verschiedenen Möglichkeiten, die sich aus diesem Beschluss ergeben, werden seit der Mitte der 1960er Jahre auch in der Realität der Stadt München erprobt. Zugleich bilden sich vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen und kulturellen Wandels der Epoche immer klarer definierte Gegenstandpunkte zu den bis dato absolut gesetzten Positionen der Stadtverwaltung heraus. Die Olympischen Spiele beschleunigen nicht nur die Umsetzung der Planungsverfahren, sondern fordern in genauso rasanter Geschwindigkeit zu Entgegnungen heraus. Widerstand regt sich nicht zuletzt auch auf Seiten „der von massenhaften Kündigungen oder Mietsteigerungen betroffenen Bevölkerung in den Innenstadtrandgebieten“801 . Ursächlich für die lautstarken Proteste sind vor allem die Nebenfolgen des Jensen-Plans, die auf diese Weise im Vorfeld nicht bedacht worden sind. Lutz Hoffmann nennt „steigende Grundstückspreise von ca. 400,-/qm 1962 auf ca. 900,-/qm 1970, am Altstadtring auf ca. 2500,-/ qm [und] damit einhergehend rasch um sich greifende Strukturierungs- und Verdrängungsprozesse“802 . Mit der Rede von der „Unwirtlichkeit der Städte“ fordert Alexander Mitscherlich bereits 1965 ein Umdenken auf dem Gebiet der Stadtplanung und eine ganzheitliche Auseinandersetzung mit dem Thema Leben und Wohnen im urbanen Raum.803 In München artikulieren Architekturstudentinnen und -studenten der Technischen Universität ihr Unbehagen bezüglich des Stadtumbaus zur gleichen Zeit in einer Vortragsreihe. Gegenstand der Auseinandersetzungen sind die Entwicklung des Stadtteils Lehel und die Streckenführung des Altstadtrings entlang der Prinzregentenstraße; das vorgesehene Konzept unterbricht die Verbindung zwischen dem Hofgarten, dem Finanzgarten und dem Englischen Garten und trennt unter anderem das historische Prinz-Carl-Palais an der Schnittstelle der drei Gärten von der Umgebung ab. In die Kontroverse schalten sich seit Mitte der 1960er Jahre verstärkt auch Presse und Fernsehen ein und berichten von der Stadtplanung, ihren Aufgaben und Schwierigkeiten. Über die Beschäftigung mit dem Prinz-Carl-Palais (PCP) schließen sich der Kreis um Karl Klühspies und die Studenten der TU zu einer Initiative zusammen. Gleichzeitig sucht die Landeshauptstadt Kontakt zu 800 |

Heusinger, Martin (1993 a): Chronologie der Geschichte des Münchner Forums.

Eine kommentierte Chronologie. In: Münchner Forum e.V. (Hg.): 25 Jahre Münchner Forum. Initiativen für München, Kritik und Ideen, Konzepte und Dokumentation, Satire und Information. München, S. 7-26. Hier: S. 7. 801 |

Hoffmann 1993: S. 45.

802 |

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803 |

Vgl. Mitscherlich 1970.

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den Architekten, und gemeinsam wird das „Münchner Bauforum“ ins Leben gerufen. Im Zuge der Kooperation sind renommierte Referenten, Stadtplaner und Architekten, eingeladen, in Vorträgen innovative Impulse für die Zukunft der Stadt zu setzen. Zum Auftakt der Reihe befasst sich der Münchner Stadtbaurat Edgar Luther mit den „Problemen des Verkehrs in der Münchner Altstadt“.804 Wie der Geograph Martin Heusinger festhält, beschäftigt der Fall PCP erstmals eine breite Öffentlichkeit, das Interesse ist auch an den zahlreichen Wortmeldungen bei Podiumsdiskussionen abzusehen. Aus dem Forum kommen darüber hinaus auch konkrete Alternativvorschläge für eine moderate Einbettung des Prinz-Carl-Palais und den Erhalt der drei Gärten. Die Entwürfe, an denen sich auch Klühspies beteiligt hat, werden im Münchner Stadtmuseum präsentiert.805 Dennoch eskaliert die Debatte, die tonangebenden Vertreter von Stadt und Initiativgruppe können sich aufgrund disparater Standpunkte nicht mehr auf eine Zusammenarbeit einigen. Im November 1967 lassen die Architekten Assmann, Schöner, Borcherdt, Klühspies, Wallenborn, Buss und Henzler das „Münchner Bauforum“ als eigenständigen Verein eintragen, die Landeshauptstadt darf den Namen nicht mehr verwenden. Neben den anhaltenden Kontroversen um das Palais werden auch die Olympiabauten zum Thema des Forums, das die Vorhaben einer kritischen Analyse unterzieht. Dass diese Auseinandersetzung relativ einseitig geführt worden ist, wird einer der Verantwortlichen im Nachhinein zugeben.806 Von Seiten des Baureferats sieht allerdings auch Lutz Hoffmann die Notwendigkeit einer derart radikalen Kritik. Um eine Gegenposition zu etablieren, muss das Forum notwendigerweise eine eigene, mitunter provokante Haltung einnehmen. Hoffmann weist aber seinerseits auf allzu scharf geführte Kontroversen hin, die das Verhältnis einzelner Akteurinnen und Akteure über die Sache hinaus anhaltend belasten.807 Während der Verein nach geeigneten Partnern für die Finanzierung sucht, sind Oberbürgermeister Vogel und Stadtentwicklungsreferent Abreß um Verständigung bemüht. 808 Die Stimme, die das Forum zum Ausdruck bringt, und vor allem die Stimmung, die es in der Öffentlichkeit zu erzeugen vermag, scheinen sich beunruhigend auf die Atmosphäre der Stadt auszuwirken. Auf Initiative von Hans-Jochen Vogel lassen sich die Kritiker des Jensen-Plans aber wieder auf Gespräche ein; und dem Oberbürgermeister gelingt es, den Diskurs um die Modernisierung zu institutionalisieren. Wenngleich ein gewisser Argwohn bleibt, werden die Entwicklungsvorhaben der Landeshauptstadt seit 1968 im „Münchner Forum“ verhandelt, eine erste öffentliche Veranstaltung im April 1969 befasst sich

804 |

Heusinger 1993 a: S. 8.

805 |

Vgl. ebd.: S. 8-10.

806 |

Vgl. ebd.: S. 12.

807 |

Vgl. Hoffmann 1993: S. 46.

808 |

Vgl. Heusinger 1993 a: S. 12.

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mit der Fußgängerzone.809 Hoffmann gibt zu bedenken, dass „[d]iese Gründung [...] kein spontaner Einfall [gewesen ist], sondern die kluge politische Reaktion auf eine schwerwiegende Krise der Münchner Stadtentwicklung Ende der [19]60er Jahre“810. Finanziert wird das unabhängige Gremium aus Mitteln der Stadt, das Diskussionsforum ist ein eingetragener Verein, zu den Mitgliedern gehören die Industrie- und Handelskammer, der Süddeutsche Verlag, der Münchner Zeitungsverlag, die Deutsche Angestellten Gewerkschaft, der Deutsche Gewerkschaftsbund, die Architekten- und Ingenieursverbände, die „fachlich zuständigen Lehrstühle der Technischen Universität und der Universität München“811, darunter die Institute für Raumordnung, Wirtschaftsgeographie und Städteplanung, die Landeshauptstadt München und ebenso der Planungsverband Äußerer Wirtschaftsraum München. Der Programmausschuss, der über Aktivitäten entscheidet und die Verwendung der Gelder prüft, setzt sich aus 58 Personen zusammen, darunter sind Mitglieder der Parteien im städtischen Rathaus, Vertreterinnen und Vertreter des öffentlichen Lebens, Expertinnen und Experten sowie interessierte Münchnerinnen und Münchner. Unterstützt von der Geschäftsstelle und einem hauptamtlichen Geschäftsführer werden Fragen des Planens und Zusammenlebens in speziellen Arbeitsausschüssen behandelt.812 In Bezug auf die Qualitäten, die Wolfgang Kaschuba für die kategoriale Bedeutung eines Diskurses anführt, lässt sich unter anderem eine konsensuelle Festschreibung bestimmter Vorstellungen als Grundlage für die Aushandlung neuer Fragen ausmachen, in diesem Sinn konstituieren Denksysteme und Diskurse die Wahrnehmung der Wirklichkeit.813 Die Auseinandersetzung um die Stadtentwicklung in München lässt nachvollziehen, wie sich in einem Diskursraum als Konsens etablierte Parameter zusehends verschieben, feste Argumentationssysteme ausgebildet werden und die Idee der Modernisierung auch im Kontext anderer Diskurse nach und nach an Eindeutigkeit verliert. Des Weiteren zeigen die Diskussionen um die Pläne für den Stadtumbau und ihre konkreten Auswirkungen ebenso wie die Einrichtung des „Münchner Forums“, dass ein Diskurs als soziales Praxissystem immer auch eine Verknüpfung von Denk- und Handlungsweisen meint.814 Bemerkenswert scheinen in diesem Zusammenhang die Ausführungen von Hans-Jochen Vogel, der 1972 seinen eigenen Standpunkt in Sachen Stadtentwicklung reflektiert. „Der Sommer 1966 stellte in meiner Arbeit als Oberbürgermeister einen gewis809 |

Vgl. ebd.: S. 13-14.

810 |

Hoffman 1993: S. 45.

811 |

Münchner Forum e.V. (Hg.) (1993): 25 Jahre Münchner Forum. Initiativen für Mün-

chen, Kritik und Ideen, Konzepte und Dokumentation, Satire und Information. München, S. 42. 812 |

Vgl. Münchner Forum e.V. 1993: S. 42-43.

813 |

Vgl. Kaschuba 2003: S.237.

814 |

Vgl. ebd.

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sen Einschnitt dar. Die erste Olympiabegeisterung war verflogen. Zwei Vorhaben, nämlich die Errichtung des sogenannten Investitionsplanungsamts und der Bau eines Straßentunnels im Bereich des Prinz-Carl-Palais, stießen auf harte Kritik in den Münchner Zeitungen [...]. Aber die Krise reichte tiefer und über die aktuellen Anlässe hinaus. Wahrscheinlich hatte ich den Punkt in einem langen Lernprozeß erreicht, in dem Quantität in Qualität umschlägt. Die Summe der Erfahrungen in den ersten sechs Jahren meiner Tätigkeit hatten sich zu ernsten Zweifeln an dem Sinn und der Rechtfertigung vieler Grundsätze akkumuliert, die bis dahin als selbstverständlich, ja als völlig unstreitig erschienen. Mein Fortschrittsoptimismus, alles werde sich in unseren Städten und auch in München zum Guten entwickeln, wenn wir da ein bißchen mehr tun und es dort ein bißchen besser machen, hatte einen Stoß bekommen. Mehr noch, das herkömmliche Konzept der Stadtentwicklung, das heißt des Infragestellens, des grundsätzlichen Überdenkens würdig.“815 Mit der Krise der Städte spricht Vogel einen weiteren Diskurs an, der wesentlich mit der Modernisierung und ihren Nebenfolgen zusammenhängt und existentielle Fragen von Urbanität und Gemeinschaft betrifft. Über das Lokale hinaus treten in den 1960er Jahren besonders in den Metropolen Europas und Nordamerikas tief greifende Probleme auf und erfordern ein komplexes Nachdenken über die Zukunft der Stadt. „Die gesellschaftspolitische Komponente der Kommunalpolitik, der Gesamtzusammenhang und die Verflechtung aller Lebensbereiche und vor allem die Akzeleration, die ständig zunehmende Beschleunigung der Entwicklung traten nun deutlicher in mein Bewußtsein.“816 Vogel bezieht sich auf zeitgenössische Texte des amerikanischen Historikers Lewis Mumford und der amerikanischen Stadtforscherin Jane Jacobs – ihr Standardwerk „The Death and Life of Great American Cities“817 ist 1961 in New York erschienen –, die ihn nach eigener Aussage ebenso wie die Überlegungen von Alexander Mitscherlich beschäftigt haben. Gleichwohl spricht Vogel auch von Sachentscheidungen wie dem Tunneleingang vor dem Prinz-Carl-Palais, den er mit Blick auf die gesamte Anlage der Stadt für notwendig hält. Dabei hebt er vor allem den veränderten Modus des Planungsverfahrens hervor, den Wandel hin zu offenen Kommunikationsprozessen betrachtet Vogel als bedeutendste Errungenschaft der Debatten. „Streckenweise hatte sich das alles in einer sehr polemischen und emotionsgeladenen Atmosphäre abgespielt. Aber es war etwas Neues geschehen, und im Hintergrund hatte sogar eine Art Zieldiskussion stattgefunden, bei der die heilige Kuh ‚Individualverkehr‘ einen empfindlichen Stoß erlitt.“818 In diesem Zeitraum lässt sich besonders an der Person des sozialdemokratischen Oberbürgermeisters nachvollziehen, dass 815 |

Vogel 1972 a: S. 133.

816 |

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817 |

Jacobs, Jane (1961): The Death and Life of Great American Cities. New York.

818 |

Vogel 1972 a: S. 139.

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eine unmittelbare Verbindung zwischen dem konkreten politischen Handeln im urbanen Raum und den entsprechenden Theorien aus dem Bereich der Geistesund Sozialwissenschaften besteht. Innerhalb dieser Beschäftigung lässt sich aber auch zeigen, dass die Planungseuphorie von der Reflexion der Nebenfolgen eingeholt und den Bedingungen der Zeit angepasst wird. „Einen ersten Ansatzpunkt für eine generelle Kurskorrektur sah ich in der Stadtforschung“, sagt Vogel, „[w]ir wussten einfach zu wenig über die Stadt, über die Menschen in ihr und über die längerfristigen Wirkungen dessen, was wir taten.“819 Ganz im Sinne einer angewandten Wissenschaft und vor dem Hintergrund einer zunehmenden Verwissenschaftlichung von Politik hat sich der Oberbürgermeister gegen deutliche Widerstände um die Einrichtung eines zentralen Investitionsplanungsamts bemüht und schließlich das „Münchner Forum“ ins Leben gerufen. Der Verein wird nie mehr so einflussreich sein wie unter seiner Ägide. Am 19. Dezember 1972 übernimmt Hans-Jochen Vogel, der bereits im September desselben Jahres in den Bundestag gewählt worden ist, das Amt des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau im Kabinett von Willy Brandt. In München bleiben viele Maßnahmen umstritten, immer wieder wird Kritik eingebracht und diskutiert, auf dem Gebiet der Stadtentwicklung kann einiges durchgesetzt und manches abgewendet werden. Der Architekt Erwin Schleich wird im Rückblick dennoch von der „Zweiten Zerstörung Münchens“820 sprechen. Anfang der 1970er Jahre verfasst der junge bayerische Dramatiker Franz Xaver Kroetz ein Stück mit dem Titel „Globales Interesse“821 . Die Uraufführung findet am 25. August 1972 im ehemaligen Marstall der Wittelsbacher, dem neuen Werkraum des Münchner Residenztheaters statt. „Die Verdrängung und Entwurzelung der Menschen durch Politik und Kapital und die Rechtfertigung durch Olympia sind das Thema“,822 fasst der Historiker Ferdinand Kramer zusammen. Die Journalistin Charlotte Nennecke beschreibt Kroetz in der Süddeutschen Zeitung als Shootingstar der bayerischen Theaterszene. „Kroetz sollte den Münchner Olympia-Betrieb auf die Feder spießen. Daraus wurde ein Drei-Personen-Stück mit dem Titel ‚Globales Interesse‘. Nach einigen Umdisponierungen setzte man die Premiere auf den Vorabend der Olympischen Spiele. [...] das ‚globale Interesse‘ ist eine schöne Phrase, die sowohl dem Herrn Stadtrat (Hans Jürgen Diedrich) als auch dem Herrn Bürgermeister (Hans Baur) von den Lippen träufelt, wenn ihnen ein Gesprächspartner gegenüber sitzt, der um Privatinteressen kämpft. Der eine kommt aus blanker Not (und zieht den Kürzeren), dem anderen geht‘s ums Geschäft (und er gewinnt). Da ist also ein alter Rentner namens Katter (Gustl Bayr819 |

Ebd.: S. 135.

820 |

Vgl. Schleich, Erwin (1981): Die zweite Zerstörung Münchens. 2. Aufl. Stuttgart.

821 |

Vgl. Kroetz, Franz Xaver (1989): Globales Interesse. Eine Komödie. In: Franz Xaver

Kroetz Stücke. Frankfurt am Main, S. 395-427. 822 |

Kramer 2008: S. 245.

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hammer), gehemmt und hilflos, beim Herrn Stadtrat. Seine Wohnung, in er 40 Jahre lebte, wurde ihm gekündigt, weil der Hausbesitzer das Gebäude am Sendlinger Tor abreißen ‚muß‘ – angeblich wegen der U-Bahn. Man bot dem Rentner eine Ersatzwohnung draußen in Gröbenzell. Aber Katter will nicht. Er verflucht die U-Bahn und die ‚Scheißolympiade‘, der man die U-Bahn ja nur zu verdanken habe. Stadtrat: ‚Man muß Opfer bringen‘. Oder: ‚Das globale Interesse eines Jahrhunderts steht hinter diesen Zwanzigsten Olympischen Spielen der Neuzeit.‘ In der zweiten Szene sitzt der Stadtrat dem Bürgermeister wegen eines ‚persönlichen‘ Anliegens gegenüber. Er gehört zu einer Erbengemeinschaft und möchte mit ihr eine Villa in Nymphenburg abreißen lassen, um ein lukrativeres Appartementhaus hinzustellen. Etwas schwierig, denn die Villa ist im neuerdings so geschätzten Jugendstil erbaut. Schwärmerische Phrasen, wie sie der Stadtrat bereits dem Rentner gegenüber brauchte, bekommt er nun seinerseits zu hören. Doch der Bürgermeister ist schließlich auch bloß ein Mensch und hat zudem gerade ein spezielles Interesse (es geht um seinen Freund, eben jenen Hausbesitzer vom Sendlinger-Tor-Platz), für das er die Stimme des Stadtrats braucht. So arrangiert man sich. Der Rentner bekommt ein fabelhaftes Angebot – ein Appartement in dem projektierten Nymphenburger Etagenhaus. Mit Garage. Die Miete ist günstig: gerade so hoch wie die Rente des Rentners.“823

G ROSSSTADTR ÄUME . N EUPERL ACH UND DER A R ABELL APARK Edward W. Soja spricht in einem weiteren Diskurs der Postmetropolis von der Expolis: The restructuring of urban form und setzt auseinander, dass die Dezentralisierung in dieser Phase der Stadtentwicklung mit einer Rezentralisierung, die sozialräumliche Integration mit einer Desintegration und die Deterritorialisierung mit einer Reterritorialisierung einhergehen. Neben einer ansteigenden Homogenität lässt sich analog auch ein Anwachsen der Heterogenität beobachten. Der städtische Raum dehnt sich aus, das Umland und die Vorstädte werden urbanisiert, und zudem gewinnt der Kern der Stadt an Bedeutung. Niemals zuvor haben sich exogene Faktoren in einer derartigen Weise auf den städtischen Organismus ausgewirkt. An konkreten Orten wird die Globalisierung auch dazu führen, dass sich die Welt mit ihren Peripherien im Zentrum der Stadt abbildet. „This redefines the Outer and the Inner City simultaneously, while making each of these terms more and more difficult to delineate and map with any clarity or confidence.”824 Als Subdiskurs lassen sich gleichsam nostalgische Reaktionen auf die Genese der postmodernen Stadt beobachten, das demokratische Athen, das alte Rom, die Städte der 823 |

Nennecke, Charlotte (25. August 1972): Ein Olympia-Geschädigter tritt auf. In:

Süddeutsche Zeitung. In: Presseamt Zeitungsausschnitte – Olympiade Kulturprogramm. Stadtarchiv München, 2684. 824 |

Soja 2000: S. 250.

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italienischen Renaissance oder die Hansestädte an der Nord- und Ostseeküste werden zu historischen Idealbildern stilisiert. Das Interesse an den kleinteiligen und gewachsenen Formen der europäischen Stadt drückt sich auch in der Architektur des New Urbanism aus.825 „Die Landeshauptstadt München und ihre Region sind durch die ständig zunehmende Konzentration von Menschen, Betrieben und Institutionen der verschiedensten Art einer der entwicklungsstärksten Verdichtungsräume überhaupt“, sagt der Bayerische Wirtschaftsminister Otto Schedl 1967, „[b]esondere Bedeutung kommt dieser Entwicklung überdies durch die Stellung Münchens als Solitärstadt im Regierungsbezirk Oberbayern und im gesamten südbayerischen Raum zu, da eine nach Größe und funktionaler Bedeutung auch nur annähernd vergleichbare Kommune nicht vorhanden ist.“826 Während die Regionalplanung analog zur Stadtplanung, um ausgeglichene Strukturen in der Fläche des Landes bemüht ist, überlagern sich Kompetenzbereiche im Bezug auf die Arbeits- und Lebensbedingungen in einem derart konzentrierten Raum. Zu diesem Zeitpunkt gehen die Verantwortlichen des Freistaats und der Landeshauptstadt davon aus, dass die Region München bis zum Jahr 1990 etwa 3 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner haben wird. Diese Zahlen haben sowohl das Ifas Institut in Bad Godesberg als auch die Basler Prognos AG in ihren Gutachten errechnet. „Bei etwa 1,5 Millionen Einwohnern wird die Kapazität der Stadt erschöpft sein“,827 sieht Münchens Stadtbaurat Luther voraus. Im Jensen-Plan sind auf Grund dieser Annahme drei Gebiete, Schleißheim, Freiham und Perlach, für die langfristige Entwicklung von München ausgewiesen, ebenso wird ein deutliches Wachstum der Umlandgemeinden prognostiziert. Sechs Kilometer vom Zentrum entfernt, soll auf einer Fläche von 1000 ha die Entlastungsstadt Neuperlach mit 25.000 Wohnungen entstehen.828 Bei der Planung hat sich innerhalb weniger Jahre ein Paradigmenwechsel vollzogen, die Aufteilung der Stadt in Nutzungs- oder Funktionszonen ist von anderen Prämissen abgelöst worden. Schedl erläutert, dass es „[b]ei der Errichtung von Großsiedlungen wie in Perlach [...] darauf an[kommt], funktionsfähige Stadtteile zu schaf825 |

Vgl. ebd.: S. 264-249.

826 |

Schedl, Otto (1967): Die Bedeutung der Landesplanung des Freistaates Bayern

für die Landeshauptstadt München. In: Neue Heimat Bayern. Gemeinnützige Wohnungsund Siedlungsgesellschaft mbH (Hg.): Entlastungsstadt Perlach in München. Wohnungspolitische und strukturpolitische Grundlagen aus der Sicht des Bundes, des Freistaates Bayern und der Landeshauptstadt München. München, S. 16-18. Hier: S. 16. 827 |

Vgl. Luther, Edgar (1967): Entlastungsstadt Perlach. Teil der städtebaulichen Ent-

wicklung Münchens. In: Neue Heimat Bayern. Gemeinnützige Wohnungs- und Siedlungsgesellschaft mbH (Hg.): Entlastungsstadt Perlach in München. Wohnungspolitische und strukturpolitische Grundlagen aus der Sicht des Bundes, des Freistaates Bayern und der Landeshauptstadt München. München, S. 32-36. Hier: S. 32. 828 |

Luther 1967: S. 33-34.

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fen, die, ähnlich wie die historisch gewachsenen Stadtteile, zugleich einen in sich geschlossenen, d.h. organisch-ganzheitlichen Lebensraum für die ansässige Bevölkerung darstellen.“829 Für die Konzeption der Entlastungsstadt im Südosten von München ist die Neue Heimat Bayern als Gemeinnützige Wohnungs- und Siedlungsgesellschaft mbH zuständig. Neuperlach ist die umfangreichste Anlage dieser Art in der gesamten Bundesrepublik, auf der grünen Wiese vor den Toren der Stadt werden nicht nur Wohnungen und öffentliche Einrichtungen gebaut, sondern auch Firmen angesiedelt. Versicherungsunternehmen wie Generalli oder die Allianz verlegen ihre Zentralen nach Neuperlach, am Otto-Hahn-Ring entsteht das Forschungs- und Entwicklungszentrum der Siemens AG. Unternehmen wie Bosch-Siemens-Hausgeräte und Wacker-Chemie eröffnen ihre modern gestalteten Hauptverwaltungssitze in der Entlastungsstadt.830 Der Bebauungsplan schließt sowohl Eigentumswohnungen als auch öffentlich geförderte Wohneinheiten in verschiedenen Hochhaustypen und Terrassenbauten ein, in einem anderen Abschnitt wird der so genannte Wohnring errichtet. Der Autoverkehr fließt auf breiten Trassen um die Gebäudekomplexe, die über Fußgängerbereiche miteinander verbunden sind. Parkplätze sind an ausgewiesenen Stellen angeordnet, im Lauf der Zeit wird die Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr immer weiter ausgebaut. Besonderen Wert legen die Architekten auf die Farbgebung, die Grünplanung und das Thema Kunst am Bau.831 Wenn die Ideen auch nicht in allen Punkten umgesetzt worden sind und die Abgeschlossenheit des Areals zu Schwierigkeiten führen wird, wenn sich die Wertigkeiten mit den Jahren wieder verschieben und gerade der viel verwendete Werkstoff Beton massiv an Zuspruch verlieren wird, hebt die Neue Heimat Bayern 1967 hervor, „[...] wie sehr alle an der Planung Beteiligten über die Lösung der realen Probleme hinaus bemüht sind, für diesen Münchener Stadtteil ein Konzept zu finden, das Münchens Bautradition bewahrt, zukünftigen Entwicklungen Spielraum lässt und die Grundlage für den Bestand und die Fortentwicklung der typisch Münchener Lebensart und damit für ein glückliches Leben seiner künftigen Bewohner schafft“832 . Analog zu den gewaltigen Bauvorhaben, die in den 1960er Jahren von öffentlicher Seite angestrengt worden sind, wandelt sich das Stadtbild in dieser Zeit auch durch privatwirtschaftliche Initiativen. In Anbetracht der überaus guten Auftragslage er829 |

Schedl 1967: S. 18.

830 |

Vgl. Heßler 2007: S. 249-254.

831 |

Vgl. Neue Heimat Bayern. Gemeinnützige Wohnungs- und Siedlungsgesellschaft

mbH (Hg.) (1967): Entlastungsstadt Perlach in München. Wohnungspolitische und strukturpolitische Grundlagen aus der Sicht des Bundes, des Freistaates Bayern und der Landeshauptstadt München. München. 832 |

Neue Heimat Bayern. Gemeinnützige Wohnungs- und Siedlungsgesellschaft mbH

1967: S. 7.

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öffnen zahlreiche Bauunternehmen eigene Niederlassungen in München.833 Das enorme Kapital der prosperierenden Bundesrepublik schreibt sich in Gestalt von Firmensitzen in den städtischen Raum ein, die Repräsentanzen prägen auf ebenso signifikante Weise die Ansicht der Stadt. An der Münchner Freiheit wird in der Zeit von 1963 bis 1964 das Hertie-Hochhaus nach Plänen von Rolf Schütz und Franz Hart gebaut und gilt als ein „Fortschritt symbolisierender, städtebaulich viel diskutierter Akzent“834 . Gegenüber vom Olympiapark plant der österreichische Architekt Karl Schwanzer unmittelbar neben den Fertigungshallen und am Mittleren Ring gelegen eine Zentrale für die Bayerischen Motorenwerke. Weithin sichtbar ragt der 22 Stockwerke hohe Vierzylinder mit dem vorgelagerten Museumsbau an der Stadtautobahn auf.835„Als unmittelbarer Nachbar der Olympischen Spiele 1972 möchte BMW seinen Teil zum Gelingen beitragen. Während der Austragung ruht die Produktion bei BMW. Alle geeigneten Werkseinrichtungen werden dem Olympischen Komitee zur Verfügung gestellt: z.B. die Werkskantine für 2.500 Personen, Parkhochhäuser mit über 2.000 Plätzen. Außerdem stehen über 200 BMW Automobile für die olympischen Organisationen bereit. BMW freut sich, auf diese Weise helfen zu können. Dem sportlichen Geist haben unsere Werkstore schon immer offen gestanden.“836 Östlich vom Münchner Stadtzentrum entsteht in den 1960er Jahren eine privatwirtschaftliche Variante der „Stadt in der Stadt“. Der Arabellapark grenzt in nur drei Kilometer Entfernung vom Marienplatz an den Stadtteil Bogenhausen und ist über die Kennedy-Brücke an den Mittleren Ring und die städtischen Verkehrsadern angeschlossen, das Areal wird auch durch die Tram und eine U-Bahn Linie an die City angebunden. Die Entstehung des Arabellaparks kann in der Tat als „Erfolgsstory“837 gesehen werden, wie der Historiker Willibald Karl nahe legt. Wie viele Münchner Geschichten ist allerdings auch diese Episode nicht ohne die Persönlichkeit von Josef Schörghuber zu verstehen. „Gewinnstreben und Gründergeist“838 zeichnen das Leben des Bauunternehmers aus, der die räumliche 833 |

Vgl. Hinweis von Anton Gschwendtner am 17. Dezember 2009.

834 |

Vgl. Lübbeke, Wolfram (21. Juli 2011): Hochhäuser. In: Historisches Lexikon Bay-

erns. Verfügbar unter: http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/artikel/artikel_44728, (17. August 2011). 835 |

Vgl. Dürr, Alfred (16. Mai 2003): BMW-Hochhaus. Denkmal mit vier Zylindern. In:

Süddeutsche Zeitung. Verfügbar unter: http://www.sueddeutsche.de/muenchen/bmwhochhaus-denkmal-mit-vier-zylindern-1.876449, (11. August 2011). 836 |

Werbeanzeige von BMW. In: Weitpert, Hans (Hg.) (1972): Olympia in München. Of-

fizielles Sonderheft 1972 der Olympiastadt München. München. 837 |

Karl, Willibald (Hg.) (1998): Der Arabellapark. Eine Erfolgsstory. München.

838 |

Kuhn, Walter (1998 a): Josef Schörghuber. Gewinnstreben und Gründergeist. Inter-

view von Walter Kuhn mit dem Unternehmer Josef Schörghuber im Juni 1991. In: Karl, Willibald (Hg.): Der Arabellapark. Eine Erfolgsstory. München, S. 11-28.

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Organisation der Stadt seit den 1950er Jahren nachhaltig beeinflusst hat. Aus einer dezidiert ökonomischen Perspektive erscheinen auch die Aktivitäten der Stadtverwaltung noch einmal in einem anderen Licht. Schörghuber wurde 1920 in Mühldorf am Inn geboren und lernte in der Schreinerei des Vaters den Beruf des Zimmermanns.839 Mit 17 Jahren ging er nach München, arbeitete zuerst als Geselle für eine Zimmerei, die auf den Ausbau von Kasernen spezialisiert war, und nahm Ende der 1930er Jahre ein Ingenieursstudium an der Staatsbauschule auf. Nach einer mehrjährigen Unterbrechung durch Militärdienst und Kriegsgefangenschaft, kam Schörghuber 1945 nach Bayern zurück und schloss in wenigen Semestern sein Studium als Bauingenieur ab. Zunächst führte er die elterliche Schreinerei in Mühldorf weiter und lieferte unter anderem Türen und Fenster an Bauherren nach München, wie er im Gespräch mit dem Geographen Walter Kuhn erzählt. „Bis ich dann halt auch mal versucht habe, zu einem Grundstück zu kommen. Dann habe ich in der Holbeinstraße eins gekauft [...]. Das war ein Ruinengrundstück von einer typischen Bogenhausener Villa. Ich habe 27 Wohnungen darauf gebaut und das war der Beginn. Und ich hab sogar sehr gut verdient damit. Wir haben es dann der Versicherungskammer verkauft.“840 Mit der Bayerischen Hausbau GmbH & Co KG erwirbt er seit den 1950er Jahren immer mehr Grund und Boden, entlang der Maximilianstraße und an anderen strategischen Stellen der Stadt besitzt die Firma bald zahlreiche Liegenschaften. Für den Bau des Altstadtrings muss die Landeshauptstadt von Schörghuber Grundstücke kaufen, der weitsichtige Unternehmer versteht sich besonders auf lukrative Tauschgeschäfte. Sein Imperium wächst in den 1960er Jahren unaufhörlich weiter, während die Hausbau alteingesessene Münchner Baufirmen wie Leonhard Moll oder Heilmann und Littmann, die bereits um 1900 maßgeblich am Umbau der Stadt zur Metropole beteiligt waren, übernimmt, steigt Schörghuber ins Flug- und Brauereigeschäft ein, kauft zunächst Hacker Pschorr und einige Zeit darauf noch Paulaner.841 Bei seinen Geschäften interessiert sich der Bauunternehmer vor allem für den Norden von Bogenhausen. Seit den 1950er Jahren kauft und tauscht Schörghuber an diesem Standort Äcker, Wiesen und Weideland, auch wenn der Flächennutzungsplan der Stadt auf dem Areal einen Friedhof vorsieht. „Also, ich betrachte es nach wie vor als Trick der Stadtplanung, daß sie das Grundstück an sich ziehen wollte [...].“842 Das Gebiet wird schließlich doch als Bauland ausgewiesen, und die Neue Heimat Bayern mbH beginnt wie in Neuperlach mit der Konzeption der Parkstadt Bogenhausen. Die Bayerische Hausbau besitzt bereits weite Teile des Geländes, der private Investor bietet offensiv gegen die Stadt München. Fortgesetzt kommt es zu Konflikten zwischen dem persönlichen Freund von Franz Josef Strauß und der 839 |

Vgl. Kuhn 1998 a: S. 13.

840 |

Ebd.: S. 15-16.

841 |

Vgl. ebd.: S. 26-27.

842 |

Ebd.: S. 16.

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sozialdemokratisch regierten Stadtverwaltung, und „[o]bwohl Josef Schörghuber [...] immer wieder unternehmerischen Gewinn mit öffentlichem Interesse verband oder zu verbinden suchte, gelang es seinen politischen Gegnern, einen Teil der öffentlichen Meinung gegen ihn einzunehmen und so eine Entgrenzung seiner wirtschaftlichen Macht ins Politische hinein zu verhindern.“843 Dem Unternehmer wird es dennoch gelingen, das Projekt Parkstadt II nach seinen Vorstellungen umzusetzen und auf dem von ihm vorgesehenen Grund den Arabellapark anzulegen. Schörghubers zentrales Hochhaus beinhaltet Wohnungen und BoardinghouseAppartements, einen Pool auf dem Dach des 22. Stocks, Arztpraxen, zwei Kliniken und das Sheraton-Hotel, das in „Münchens Hotellandschaft neue, amerikanisch anmutende Akzente“844 setzt. Im Keller des Gebäudes eröffnet der italienische Produzent und Musiker Giorgio Moroder, ein Neffe des Bergsteigers Luis Trenker, die Musicland Studios und wird von dort aus nicht nur den Munich Disco Sound mit Stars wie Donna Summer international etablieren, sondern auch weltbekannte Künstlerinnen und Künstler wie die Rolling Stones, Led Zeppelin oder Freddy Mercury produzieren.845 In Anlehnung an die bereits bestehende Richard-StraussStraße, schlägt Schörghuber vor, auch die anderen Straßen nach Werken des Komponisten zu benennen. Neben dem Rosenkavalierplatz und der Elektrastraße, trägt das Hochhaus wie die gesamte Anlage den Namen Arabella. Auf dem Areal werden mit den Jahren weitere Wohnanlagen und Bürobauten wie etwa das HypoHochhaus, der BayWa-Turm oder das bayerische Umweltministerium errichtet. Schörghuber plant zudem einen Konzertsaal, der aufgrund von Streitigkeiten mit der Stadt aber niemals gebaut wird. Ein anderes Projekt, das am Ende ebenfalls nicht realisiert werden soll, ist ein „Museum of Modern Art“, das der Unternehmer in einem gemeinsamen Projekt mit dem Münchner Playboy und Industriellen Gunther Sachs im Arabellapark verwirklichen möchte.846 Auch an anderen Stellen der Olympiastadt ist die Euphorie der langen 1960er Jahre deutlich zu spüren. „‚München wird moderner!‘ lautet die Devise der Stadtplaner. ‚Münchner Hotels werden komfortabler, eleganter und … ebenfalls moderner‘, ist die einhellige Meinung derer, die einmal eine weiß-blaue Nacht in der Isarmetropole verbracht haben. Das neu eröffnete Hotel Reinbold in der AdolfKolping-Straße bildet keine Ausnahme. Oder doch: denn selten wurde Tradition so harmonisch mit einem Hauch von Avantgarde verbunden wie hier. [...] die Räume sind individuell gestaltet, verschieden angeordnet: kleine Tische, bequeme Sessel mit eierschalenfarbenem Waschsamt bezogen, sehr viel Holz, helle Vorhänge und

843 |

Ebd.: S. 13.

844 |

Kuhn, Walter (1998 b): Entstehung und Entwicklung des Arabellaparks. In: Karl,

Willibald (Hg.): Der Arabellapark. Eine Erfolgsstory. München, S. 29-50. Hier: S. 31. 845 |

Neumeister 2008 b: S. 202.

846 |

Vgl. Kuhn 1998 b: S. 32-33.

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Jalousetten schaffen eine gemütliche Atmosphäre“,847 berichtet die Münchner Abendzeitung im April 1970. Edward Soja nennt zwei weitere Diskurse, die untrennbar mit der Idee der Expolis und dem ökonomischen Wandel der Postmetropolis einhergehen. Der Forscher spricht auch von Fractal cities: Metropolarities and the restructured social mosaic, d. h. innerhalb einer Stadtgesellschaft beginnen sich immer deutlichere Unterschiede abzuzeichnen, Milieus und Zugehörigkeiten differenzieren sich aus und schlagen sich auch in der sozialräumlichen Ordnung der Stadt nieder.848 Unter der Überschrift The Carceral Archipelago: Governing Space in the Postmetropolis verweist Soja zugleich auf ein wachsendes Sicherheitsbedürfnis in den Städten, Grenzen werden weithin sichtbar abgesteckt und so genannte Gated Communities, geschlossene Wohngebiete, errichtet.849 Diese Prozesse sind mit ihren Phänomenen vor allem in den Metropolen der Welt zu beobachten, aber auch abseits der Global Cities lassen sich derartige Erscheinungsformen auszumachen. An den Ausführungen des Forschers ist einerseits nachzuvollziehen, dass die beschriebenen Diskurse niemals allein gedacht werden können, sondern stets ineinander greifen und sich auch gegenseitig bedingen. Zum anderen zeigt sich gerade an den von Soja geschilderten Ausprägungen der verschiedenen Parameter, dass sich die Entwicklung US-amerikanischer Städte deutlich von der Genese europäischer Großstädte unterscheidet.

S-B AHN , U-B AHN , F USSGÄNGERBEREICH . „E IN NEUES S TADTGEFÜHL“850 Karin Kastner ist in den 1950er Jahren von Wasserburg am Inn nach München gezogen. Über das Verkehrsaufkommen in der Innenstadt erzählt sie, dass das alte Tramnetz am Stachus regelmäßig kollabiert ist, weil sowohl die Straßenbahnen als auch die Autos durch das Karlstor gefahren sind, um die Stadt zu durchqueren.851 Während der Zeit des Umbaus, sagt Karin Kastner, „musste man sich dann jeden Tag neue Wege suchen“852 . In Anbetracht der nachhaltigen Umstrukturierungen, die München in den 1960er Jahren erfährt, stellt sich die Frage, ob und in welcher Weise diese Transformationen auch die Wahrnehmung der Stadt beeinflusst haben. Der Kulturwissenschaftler Wolfgang Schivelbusch macht sich am Beispiel der Eisenbahnreise über die Industrialisierung von Raum und Zeit Gedanken, anscheinend feststehende Parameter werden mit der anwachsenden Mobilität sprich847 |

Hotel Reinbold am Hauptbahnhof im neuen Stil der siebziger Jahre (4./5. April 1970).

In: Abendzeitung, S. 18-19. 848 |

Vgl. Soja 2000: S. 265.

849 |

Vgl. ebd.: S. 298-299.

850 |

Jacobsen, Cornelia (4. Juli 1972): Neue Paradiese. In: Abendzeitung, S. 3.

851 |

Vgl. Interview mit Karin Kastner am 9. Juni 2009.

852 |

Ebd.

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wörtlich anders erfahren.853 Ausgehend von einer Stadtästhetik, die sich auf der Grundlage einer spezifischen Tiefengrammatik generiert, in typischen Eigenheiten zum Tragen kommt und dabei unentwegt hergestellt und verhandelt wird, ist der Diskurs um die Modernisierung auch als atmosphärischer Diskurs zu verstehen. Schivelbuschs Ideen lassen sich auf die Wahrnehmung einer Stadt übertragen, die sich im Verlauf der Moderne von der Metropolis hin zu einer Postmetropolis entwickelt. Mit der weit reichenden Neugestaltung Münchens, der Umstrukturierung der Innenstadt, der Anlage eines unterirdischen S- und U-Bahn-Netzes, der Einrichtung des Fußgängerbereichs, der Hierarchisierung von Schnittstellen und Knotenpunkten im städtischen Gewebe, der Neuordnung des Straßenverkehrs und der Einteilung der Stadt in Ringe verschieben sich nicht nur Distanzen und Räume. Während Plätze, Linien und Wege erst geschaffen werden oder an Bedeutung gewinnen, werden manche Verbindungen vollständig abgebrochen. Entsprechende Proteste verweisen in dem Kontext vor allem auf Unstimmigkeiten im Gefüge der Stadt. Unter in idealer Weise beschleunigten Bedingungen wird die Olympiastadt München errichtet, die Entscheidungen der 1960er Jahre wirken wesentlich über diesen Zeitraum hinaus. „Eine Stadt hat viele Gesichter, je nachdem, wer sie anschaut“, meint der Münchner Schriftsteller Eugen Roth, „[e]s fehlt nicht an Leuten, denen auch München nicht behende, nicht großläufig, nicht modern genug sein kann; sie schimpfen über zu enge Straßen, zu enge Parkplätze, sie setzen sich leidenschaftlich für U-Bahn oder Unterpflasterstraßen ein, sie würden die Frauenkirche abreißen, wenn sie dafür ihren Wagen hinstellen dürften – aber alle Guten sind sich darüber einig, daß München in seinem Kern münchnerisch bleiben muß, wenn es seinen Rang behaupten will. Der Bauch der Stadt wächst schnell, aber der Kopf und das Herz? Die Gefahren sind groß – von der Weltstadt zur Allerweltstadt ist nur ein Schritt.“854 Aus einer ästhetischen Perspektive richtet sich der Blick neben den Vorgängen im Stadtraum auch auf das individuelle wie kollektive Erfahren der Ereignisse. Um diese Art des Denkens zu veranschaulichen, erzählt der Philosoph Wolfgang Welsch unter anderem von einer Begebenheit aus München. „Ende der sechziger Jahre. Die Stadt erlebte einen enormen Modernisierungsschub. Die Olympischen Spiele standen bevor und allenthalben wurde den modernen Olympiern durch gigantische Baumaßnahmen das Terrain bereitet und obenan die Modernisierungsflagge gehißt: allerorten prangte die selbstbewußte Fortschrittsparole ‚München wird modern‘. – Eines Morgens aber las ein Passant an denselben Orten einen ganz anderen Satz. Gewiss, die Tafeln und die Lettern waren noch die gleichen wie vorher. Aber der Text lautete anders, da stand nicht mehr die Fortschrittspa853 |

Vgl. Schivelbusch, Wolfgang (1981): Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industria-

lisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main, S. 9-11. 854 |

Roth, Eugen (1961): München und seine Umgebung. München; Ahrbeck vor Han-

nover, S. 9.

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role ‚München wird modern‘, sondern da war plötzlich eine Fäulnisprophetie zu lesen: ‚München wird modern‘ (in Moder übergehen).“855 Welsch zeigt am Exempel der umgestalteten Schrift, dass eine Irritation der Sinneswahrnehmung auch die damit verknüpfte Sinnwahrnehmung beeinflussen kann. Obwohl die Schilder aufgestellt worden sind, um die Modernisierung der Stadt als Fortschritt zu deuten, lassen die modifizierten Bautafeln die Nebenfolgen der Maßnahmen ebenso evident erscheinen. Innerhalb der Stadtgesellschaft ist im Lauf der langen 1960er Jahre eine wachsende Aufmerksamkeit für die Auswirkungen der Modernisierung nachzuvollziehen. Einerseits wird das Vorgehen der Stadtverwaltung als autoritär empfunden, zum anderen sind viele wegen der Summen, die für die Arbeiten ausgegeben werden, beunruhigt oder auch selbst von steigenden Mieten betroffen. Wenngleich Bedenken immer besonders deutlich zu vernehmen sind, Welsch lässt an der ästhetischen Signatur seines Beispiels vor allem die Haltung des kritischen Akademikers erkennen, ist im Diskurs nicht nur die sozialdemokratisch regierte Stadt als Befürworterin der Modernisierung auszumachen. „Mit der Olympiade ist dann die S-Bahn gekommen“, auf diese oder ähnliche Weise werden die 1960er Jahre in München erinnert. Der Lärm aus den zahllosen Baugruben ist im Gedächtnis geblieben, manches wird in der Rückschau als negativ, der überwiegende Teil aber doch positiv bewertet, die Haltung der meisten Menschen wirkt diffus. Auch wenn die Pläne für den Stadtumbau schon 1963 verabschiedet worden sind, wird die Modernisierung unmittelbar mit dem zentralen Ereignis der Zeit in Verbindung gebracht: „Der U-Bahn-Bau zu Olympia, das war schon was“. Dabei wird in erster Linie die Beschleunigung des Prozesses als Modernisierung wahrgenommen. Diese Wertung bezieht sich im Sinne eines ästhetischen Denkens nicht nur auf rationale Fakten, Beobachtungen und Erkenntnisse werden vor allem von sensuellen Erfahrungen geprägt. Wie eine Sache, eine Angelegenheit oder ein Vorgang im Organismus der Stadt wahrgenommen wird, hängt sowohl von den Befindlichkeiten der Bewohnerinnen und Bewohner als auch von der habituellen Prägung und der Gestimmtheit der gesamten Stadt ab. „Am 1. Mai 72 bin ich nach Milbertshofen gezogen. …. Und ungefähr dann, in die Riesenfeldstraße direkt bei BMW, also ganz in der Nähe vom Olympia … Und da is die Linie 27 gefahren, die Straßenbahn, ja des war die. Und eines Morgens geh ich raus, ich hab zwar Zeitung gelesen aber irgendwie …, denk i mir, was is heit, fährt kei Straßenbahn, denk i mir noch mal, irgendwas is doch eigentlich, dabei war die Linie eingestellt, weil die U 3 ja dann angeschlossen war. [...] Vor der Olympiade, des muss Juni, Juli gwesen sein.“856 Antonie Thomsen lacht, wenn sie an die Geschichte zurückdenkt. Erste Überlegungen für eine Untergrundbahn wurden in München bereits 1905 angestellt, die Idee war ihrer Zeit aber voraus, und es gab kaum Bedarf, da die Nähe von Wohnen und Arbeiten meist unmit855 |

Welsch 2003: S. 51.

856 |

Interview mit Antonie Thomsen am 17. März 2008.

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telbar gegeben war. In den ausgehenden 1920er Jahren wurden abermals Pläne gemacht, inzwischen war mehr Verkehr auf den Straßen der Stadt, aber diesmal konnte die Finanzierung nicht gesichert werden. Für den Umbau Münchens zur „Hauptstadt der Bewegung“ sahen die Nationalsozialisten 1935 ebenfalls ein unterirdisches Schienennetz vor, mit den Arbeiten wurde zwischen Sendlinger Tor und Goetheplatz begonnen. Der Schacht konnte 1941 fertig gestellt werden, während des Krieges gab es aber keine Triebwagen, und der Tunnel wurde stattdessen als Luftschutzbunker genutzt. In den Jahren nach 1945 diente der teilweise zugeschüttete Keller auch der Champignonzucht.857 Mit dem Anwachsen des Verkehrs in Zeiten des Wirtschaftswunders werden schon im Vorfeld des Stadtentwicklungsplans wieder Ideen für eine Untergrundbahn entwickelt, der Münchner Stadtrat stimmt dem Bau einer unterirdisch geführten Straßenbahnlinie zu Beginn der 1960er Jahre zu. Das Modell hat sich aber als zu teuer und langfristig auch als unrentabel erwiesen. „Der Individualverkehr nahm in der Innenstadt inzwischen drastisch zu. In der Hauptverkehrszeit waren die Straßen derart überlastet, dass auch für Straßenbahn und Bus kein Weiterkommen mehr möglich war. [...] Am 01.02.1965 erfolgte der Baubeginn zur U6 in der Ungererstraße. Am 16.06.1965 wurde erstmals ein U-Bahn-Liniennetz beschlossen.“858 Ein massives Vorgehen im gesamten Stadtraum lässt den Ausbau im Rekordtempo voranschreiten. Seit 1967 ist der Betrieb auf verschiedenen Teilstrecken erprobt worden, die U-Bahn kann schon ein Jahr vor dem Beginn der Spiele eröffnet werden. „München ist U-Bahn-Stadt geworden. Seit 19. Oktober 1971 fahren auf der Nord-Süd-U-BahnLinie 6 von Freimann bis zum Goetheplatz nach knapp 7 Jahren Bauzeit die weißblauen Züge im Linienverkehr. Damit schließt sich unsere Stadt nunmehr würdig an die Reihe der anderen U-Bahnstädte der Welt an, die mit London beginnt und bis hin zu den großen Städten des fernöstlichen und des amerikanischen Kontinents führt“,859 kommentiert Klaus Zimniok, Direktor des städtischen U-BahnReferats. Auch auf den Innenausbau der Bahnhöfe wird großer Wert gelegt, den Knotenpunkt Marienplatz hat der Architekt Alexander von Branca mit orangefarbenen Keramikplatten ausgestattet, die anderen Stationen der Linie 6 sind nach Vorgaben von Paolo Nestler konzipiert.860 Auf der Olympia-Linie ist Sichtbeton für die Gestaltung der Wände eingesetzt worden, die künstlerisch profilierte Oberfläche zeigt an der Haltestelle Olympiazentrum beispielsweise den Lauf der Sonne. 857 |

Vgl. Pischek, Wolfgang; Junghardt, Holger (2002): Die Münchner U-Bahn. Unterir-

disch durch die bayerische Landeshauptstadt. 2. Aufl. München, S. 11-14. 858 |

Pischek; Junghardt 2002: S. 16.

859 |

Zimniok, Klaus (1971): Einleitung. U-Bahn gestern – heute – morgen. In: Landes-

hauptstadt München U-Bahn Referat (Hg.): U-Bahn für München. Eine Dokumentation. München, S. 10-16. Hier: S. 10. 860 |

Vgl. Chahbasian, Garabede (1971): Architektur im Untergrund. Gestaltung der

Bahnhöfe und des Betriebshofes. In: Landeshauptstadt München U-Bahn Referat (Hg.): U-Bahn für München. Eine Dokumentation. München. S. 103-106. Hier: S. 103-104.

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„Während die verhältnismäßig kleinen Eingänge zu den U-Bahnhöfen immerhin wegen ihrer großen Anzahl ein Faktor im oberirdischen Erscheinungsbild unserer Stadt sind“, erklärt der leitende Architekt Garabede Chahbasian, „beeinflußt die Gestaltung der Bahnhöfe das Stadtbild nicht unmittelbar. Der Eindruck, den die ‚unterirdische Architektur‘ hinterlässt, ist jedoch trotzdem für das Stadterlebnis von nicht zu unterschätzender Bedeutung.“861 Schon 1960 werden Verhandlungen zwischen der Bahn und der Stadt über eine Optimierung der Verkehrswege von München zu den Vororten aufgenommen. Bis dato sind die Umlandgemeinden ebenso wie die Außenbezirke der Stadt ausschließlich über einzelne Zugtrassen zu erreichen. Diese Linien sollen nun zusammengelegt werden, in der Planungsphase der S-Bahn ist daher von der VBahn, einer Verbindungsbahn, die Rede. Bundesbahndirektor Bullemer spricht 1965 auf einer Veranstaltung zur Förderung des Bauvorhabens. In seinen Ausführungen geht Bullemer auf die vorhandenen Strecken und ihre historische Entwicklung ein, bevor sich der Bahndirektor auf die Gegenwart und insbesondere auf die Zukunft des städtischen Verkehrs bezieht. „Eine moderne Millionenstadt wie München kann ihr wirtschaftliches und kulturelles Leben nicht isoliert von ihrem Umland – etwa nur innerhalb des ‚Burgfriedens‘ – entwickeln. Vielmehr muß der Vorortverkehr 3 lebenswichtige Funktionen erfüllen: 1. Massenverkehr aus der Region zur Kernstadt, 2. Massenverkehr aus der Kernstadt in die Region, 3. Entlastung des Stadtverkehrs.“862 Elisabeth Kellner, die in den 1960er Jahren in Gräfelfing südlich von München aufgewachsen ist, erzählt, welche Entlastung das S-Bahn-Netz gebracht hat. Während der Regionalzug nur einmal in der Stunde gefahren ist, fährt die S-Bahn seit ihrer Eröffnung im 20-Minuten-Takt stadteinwärts und stadtauswärts. „Auf einmal is man dann unterirdisch nach München rein gefahren.“863 Veronika Bauer, die 1972 elf Jahre alt ist, erinnert sich, dass in ihrer Klasse alle den Auftrag bekommen haben, die U-Bahn zu malen. Nur hat keines der Kinder gewusst, wie eine U-Bahn aussieht, und auch die räumliche Anordnung eines Tunnels unter der Erde ist weit außerhalb ihrer Vorstellung gelegen.864 Mit Prospekten informiert die Bahn über geplante Streckenführungen und präsentiert das Vorhaben in Zahlen. Die Farbe der ersten Züge ist Orange, weitere Wagen werden in Hellblau bestellt. Mit Blick auf die stetig anwachsende Zahl an Pendlerinnen und Pendlern aus dem Umland wird von Seiten der Hersteller mit der Devise „Schneller zur Stadt – schneller nach Hause“ für den Triebwagen 420 geworben, „moderne Technik – flottes Design – das Fahrzeug für Sie in den

861 |

Chahbasian 1971: S. 103.

862 |

Protokoll der Rede von Bundesbahndirektor Bullemer am 1. April 1965. In: Zeitge-

schichtliche Sammlung – S-Bahn. Stadtarchiv München, 23/4. 863 |

Gespräch mit Elisabeth Kellner (Name geändert) am 11. Mai 2010.

864 |

Vgl. Gespräch mit Veronika Bauer am 20. Juni 2009.

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70er Jahren“865 . An der Realisierung der prestigeträchtigen Infrastrukturprojekte sind Münchner Unternehmen wie MAN und Siemens, bayerische Betriebe wie AEG-Telefunken aus Nürnberg oder die Waggon- und Maschinenbau GmbH Donauwörth sowie Firmen aus dem gesamten Bundesgebiet beteiligt.866 „Flughafen, Bahnhof, Snackbar, Vortrag oder Party; nervöses Auf-dem-Sprung-Sein oder unkonventionellen Austausch nimmt das System 1200 auf: Sitzen als mehr oder weniger zufällige Körperhaltung. An die Stelle der Mobilität des Sitzmöbels setzt es die Mobilität des Benutzers – sitzen, ohne ‚Platz zu nehmen‘, anlehnen, abstützen, abstellen, ablegen.“867 Die Sitzbänke für die Haltestellen hat die niedersächsische Firma Wilkhahn produziert, in einer Annonce wird mit einer Abbildung des Olympia U-Bahnhofs für die innovative Ausstattung geworben. „Münchens Innenstadt hat [...] [ihr] Gesicht in den letzten Jahren verändert. In einem Punkt sind sich heute alle einig, die Einheimischen und die Fremden, die Fachleute und die Laien, die Bewahrer des Alten und die Modernisten: in der Meinung über den Wert des Fußgängerbereiches in der Altstadt. Wer etwas sehen will, wer Abwechslung und Leben sucht findet sich hier ein. Menschen aller Nationalitäten und Rassen trifft man auf Schritt und Tritt.“868 Münchens Stadtbaurat Uli Zech, der 1970 die Nachfolge von Edgar Luther angetreten hat, beschreibt die Umgestaltung des Zentrums, das im Olympiajahr fertig gestellt werden kann, als Gewinn für die Stadt. Wie der Historiker Jan Logemann erklärt, entwickeln sich Fußgängerbereiche in den Jahrzehnten nach dem Krieg „zu einem bestimmenden Merkmal deutscher Stadtplanung“869 . Die Areale werden nicht nur zu beliebten Treffpunkten, die mit ihren Konsumangeboten den steigenden Lebensstandard der Bundesrepublik abbilden und bedienen, sondern sind auch als Brücken „zwischen historischen Stadtstrukturen und moderner Stadtplanung“870 zu verstehen. Während die Zentren amerikanischer Städte wie Los Angeles oder New York mit Hochhäusern zu Business-Distrikten ausgebaut werden, die an den Abenden und Wochenenden komplett veröden, leben in den umliegenden Vierteln vorwiegend Menschen mit geringer Bildung und niedrigem Einkommen, eine Problemlage, die der Stadtforscher Mike Davis mit Blick auf die Angst thematisiert.871 Die soziale Heterogenität der Bevölkerung zeigt sich in den amerikanischen Städten gerade 865 |

Prospekt der Deutschen Bahn, um 1970. In: Zeitgeschichtliche Sammlung – S-Bahn.

Stadtarchiv München, 23/4. 866 |

Vgl. ebd. und Landeshauptstadt München U-Bahn Referat (Hg.) (1971): U-Bahn für

München. Eine Dokumentation. München. 867 |

Landeshauptstadt München U-Bahn Referat 1971.

868 |

Zech, Uli (1972): Unter dem Druck kurzer Termine. In: Olympia in München. Sonder-

druck des Presse- und Informationsamtes der Landeshauptstadt München. 869 |

Logemann 2006: S. 103.

870 |

Ebd..

871 |

Vgl. Davis 2006.

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an der Segregation von Wohneinheiten. In den Vororten des weißen Mittelstands werden Shoppingcenter gebaut und niemand, der es sich leisten kann, besucht die Einkaufsmöglichkeiten in der Innenstadt, auch weil sie oft nicht ausreichend an den Nahverkehr angebunden sind.872 Auch hinsichtlich der Münchner Fußgängerzone sind Bedenken laut geworden. Der Schriftsteller Carl Amery, seit 1967 Direktor der Stadtbibliothek, äußert beispielsweise die Sorge, ob sich die Leute an einem derart unbelebten Ort nicht langweilen werden und schlägt an Stelle des alten Rathauses einen Leseturm vor.873 Die Journalistin Cornelia Jacobsen ist indessen von der Attraktivität des Bereichs überzeugt. „Ist es nicht phantastisch, daß man heute nicht mehr in die Stadt geht, um möglichst rasch etwas zu erledigen und dann: Nichts wie weg? Dass es sich lohnt, sich Zeit zu lassen? Das neue Stadtgefühl wird sich vermutlich ausweiten. Dort, wo die Bürger auf den Geschmack gekommen sind, verlangen sie schon nach weiteren Zonen, frei von Abgasen und Verkehrsgewühl. Es gibt freilich Kritiker, die sind herb enttäuscht, wenn andere sich arglos amüsieren. Sie schelten das dann als unpolitisch und sinnen auf Veränderung. Sie scheinen zu übersehen, daß gerade die Selbstverständlichkeit, mit der Stadtbewohner vor ihre Haustür gehen und von der Straße Besitz ergreifen, eine eminent politische Handlung ist. Wenn die Isolation aufgebrochen wird, wenn man seine vier Wände verlässt und die Nachbarn entdeckt, wenn man begreift, daß Bürger Mitbürger und Menschen Mitmenschen sind, daß Leben in der Großstadt nicht nur Arbeitsstelle und Wohnzelle bedeutet, dann werden sich Perspektiven ergeben, die für die Obrigkeit nicht immer bequem sein dürften.“874 Die Fußgängerbereiche in Europa erweisen sich auch aufgrund der komplexeren Stadtstrukturen als soziale Erfolgsmodelle. Anfang der 1970er Jahre wird die wachsende Diversität der Stadtgesellschaft und ihrer Gäste im Vorfeld der Olympischen Spiele als Zeichen der Weltoffenheit und Modernität von München präsentiert. Neben den Fußgängerbereichen in Kiel und Stuttgart, auch dort ist die Einrichtung auf den Stadtplaner Herbert Jensen zurückzuführen, ist die Kasseler Treppenstraße eine der ersten Anlagen dieser Art in der Bundesrepublik. Wie Logemann weiter ausführt, hat sich das Konzept in den 1960er Jahren zum Massenphänomen entwickelt.875 Gleichwohl kommt der Münchner Fußgängerzone besondere Geltung zu, weil es sich um das ausgedehnteste europäische Areal handelt. Allein der Stachus wird im Zuge der Arbeiten nicht nur zu einem der zentralen Verkehrsknotenpunkte ausgebaut, mit 14 200 qm Fläche entsteht dort das größte unterirdische Einkaufsviertel Europas, „eine synthetische City“876. 872 |

Vgl. Logemann 2006: S. 107-109.

873 |

Vgl. Amery, Carl (23. Oktober 1968): Spiel und Information. Ein mögliches Projekt.

In: Süddeutsche Zeitung. In: Autorenmappe Carl Amery, Monacensia. 874 |

Jacobsen, Cornelia (4. Juli 1972): Neue Paradiese. In: Abendzeitung, S. 3.

875 |

Vgl. ebd.: S. 104-105.

876 |

Stankiewitz 2006: S. 78.

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Da die Kosten von veranschlagten 13,5 Millionen während des Baus kontinuierlich auf über 100 Millionen DM anwachsen, wird der „Stachus-Skandal“877, wie der Reporter Karl Stankiewitz schreibt, bald zum Politikum. Am 1. Juli 1972 berichtet die Abendzeitung, dass am Vortag rund 15 000 Münchnerinnen und Münchner die Übergabe der Fußgängerzone gefeiert haben; das Datum markiert gleichzeitig den Abschied von Hans-Jochen Vogel aus dem Amt des Oberbürgermeisters.878 Richtungskämpfe innerhalb der SPD, vor allem die Jungsozialisten haben Vogel und seine Positionen angegriffen, führen Anfang der 1970er Jahre zu der Entscheidung, dass Hans-Jochen Vogel nicht mehr für eine dritte Amtszeit kandidiert. In seinen zwölf Münchner Jahren hat der Erste Bürgermeister nicht nur zahlreiche kommunalpolitische Aufgaben gelöst, mit dem Stadtentwicklungsplan von 1963 und der Bewerbung um Olympia 1972 sind in den 1960er Jahren richtungsweisende Projekte für die Zukunft der bayerischen Landeshauptstadt angestoßen und umgesetzt worden, sondern auch die Wahrnehmung Münchens in der Bundesrepublik und auch in der Welt nachhaltig beeinflusst. Der Historiker Hermann Rumschöttel würdigt die politische Biographie von Hans-Jochen Vogel und zitiert seinerseits Kurt Preis, „[...] der es im Münchner Merkur dem OB zuschreibt, dass München, seine Atmosphäre und die Möglichkeit, in der ‚Weltstadt mit Herz‘ besser zu leben als anderswo nicht unter den bewegten Erdmassen verschüttet wurde“879. Die rund einen Kilometer lange Fußgängerzone zwischen dem Stachus und dem Marienplatz bezeichnet Preis entsprechend als „Stein gewordenes Dokument der ‚Ära Vogel‘“880. Schon einige Wochen zuvor ist Georg Kronawitter (SPD) zum Oberbürgermeister gewählt worden, Vogel eröffnet den Fußgängerbereich am 30. Juni 1972 mit Freibier und Brezen und am 2. Juli 1972 überreicht Kronawitter dem millionsten Bürger der Stadt stellvertretend für alle anderen den Schlüssel für die Fußgängerzone. Diese Geste scheint im öffentlichen Raum in gewisser Weise absurd und mag auf das Novum einer solchen Anlage verweisen. Auch wenn der verkehrsfreie Bereich eigentlich ein Resultat der autogerechten Stadt ist, die nun um die Innenstadt herum geleitet wird, lässt der Feuilletonist Karl Ude seinen „Münchner Bilderbogen“ anlässlich der Eröffnungsfeier mit den Zeilen enden: „Nun ist das große Werk vollendet: Autos und Trams sind verbannt – Münchens Herzstück ist wieder Münchens Herzstück. Auf der Fahrbahn von einst stehen Behälter mit Blumen, stehen Stühle und Bänke, Later-

877 |

Ebd.: S. 80.

878 |

Vgl. Eckert, Martin; Fronemann, Gunter (1./2. Juli 1972): Münchner feierten ihre

Fußgängerzone. In: Abendzeitung, S. 33. 879 |

Rumschöttel, Hermann (2008): Hans Jochen Vogel (1960-1972). In: Hettler, Fried-

rich H.; Sing, Achim (Hg.): Die Münchner Oberbürgermeister. 200 Jahre gelebte Stadtgeschichte. München, S. 167-182. Hier: S. 178. 880 |

Rumschöttel 2008: S. 178-179.

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nen und Vitrinen, das Verweilen dort wird wieder zum Vergnügen, das Hiersein zur Lebensfreude.“881 Wenngleich die Münchnerinnen und Münchner in den 1950er Jahren gegen eine Ausdehnung des Ladenschlusses lautstark protestiert haben und es in der Innenstadt zu tumultartigen Szenen mit der Polizei gekommen ist, wie der Historiker Gerhard Fürmetz rekonstruiert, wird 1957 ein langer Samstag im Monat mit Öffnungszeiten bis 18 Uhr eingeführt.882 Neben den Einkaufsmöglichkeiten in der Fußgängerzone drücken sich die Modernisierung der Stadt und die wachsende Mobilität der Gesellschaft ebenso wie der Wandel sozialer Strukturen, der steigende Wohlstand und die zunehmende Freizeit auch in anderen Konsumpraktiken aus. Im März 1972 wird mit dem Umbau der Traditionsgaststätte „Roter Hahn“ am Karlsplatz begonnen. „Friedrich Jahn, Alleininhaber der Wienerwald GmbH mit jetzt schon über 350 Restaurants in sieben Ländern Europas und den USA, hatte das Lokal übernommen.“883 Auf die Gäste warten verschiedene Angebote, „[...] wer es besonders eilig hat, kann seinen Imbiß an der Bar des KIK-Restaurants einnehmen; gemütlicher geht es im Wienerwald zu. KIK und Wienerwald erhielten getrennte Eingänge, es stört keiner den anderen. Als dritte Form der Gastlichkeit bietet Friedrich Jahn die kleine und große Münchner Stube sowie den Sudkeller an. Hier findet der Gast auf der Speisenkarte speziell bayerische Schmankerl. Der neue Wienerwald am Stachus bietet 462 Gästen Platz. Das Lokal ist das größte Wienerwald-Restaurant von insgesamt 30 in München. Mit dem neuen Zentrum österreichisch-bayerischer Gastronomie im Herzen der bayerischen Landeshauptstadt ist Friedrich Jahn ein weiterer Schritt in die Zukunft gelungen.“884 Die Silhouette der Stadt wird in dieser Epoche entsprechend ergänzt, ein Monument kann geradezu als Metapher des modernen München aufgefasst werden. „Geradezu verdinglicht wurde das Emporstreben der Stadt“, wie Stephan Deutinger schreibt, „in einem technischen Bauwerk, das seit 1965 in den Himmel wuchs: Hatten seit Jahrhunderten die beiden Türme der Frauenkirche das Stadtbild beherrscht, so wurden sie von nun an weit überragt durch den 290 Meter hohen Fernsehturm, der sogleich zum neuen Wahrzeichen Münchens erklärt wurde.“885

881 |

Ude, Karl (1972): Rings um den Alten Peter … Ein Münchner Bilderbogen. Skript. In: Pri-

vate Sammlung Robert Huber. 882 |

Vgl. Vortrag des Historikers Gerhard Fürmetz, Archivoberrat am Bayerischen Haupt-

staatsarchiv, zum Thema „Gewehrkolben für Geschäftszeiten. Die Ladenschlussunruhen von 1953/54 und die Polizei“ im Bayerischen Hauptstaatsarchiv am 19. April 2011. 883 |

Der „Rote Hahn“ am Stachus im Wienerwald-Stil (7. August 1970). In: Abendzei-

tung, S. 12. 884 |

Ebd.

885 |

Deutinger 2001: S. 27.

229

9. „München – Weltstadt mit Herz“

Zu Beginn der 1960er Jahre wird ein Motto für die Stadt gesucht, und alle Münchnerinnen und Münchner sind aufgerufen, sich an der ausgeschriebenen Aktion zu beteiligen. Im Juli 1962 steht die prämierte Losung fest. „Im Großen Sitzungssaal des Rathauses wurde am Mittwochabend mit der Verteilung der Preise der Schlußstrich unter den Sloganwettbewerb des Münchner Verkehrsvereins gezogen. Die Hauptgewinnerin, Dorit Lilowa aus München, deren Werbespruch ‚München – Weltstadt mit Herz‘ die Jury einstimmig den ersten Preis zuerkannt hatte, nahm aus der Hand von Generaldirektor Hans Dürrmeier, dem Vorsitzenden des Verkehrsvereins, eine Urkunde und 2.500 Mark entgegen. Im Verlauf des Abends setzten sich Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel und Johann Lachner teils heiter, teils besinnlich und kritisch mit dem preisgekrönten Spruch auseinander“,886 heißt es 1962 in der Münchner Chronik. Die „Weltstadt mit Herz“ ist eine Momentaufnahme und kann doch als Devise für die gesamte Dekade gelten. Dorit Lilowa gelingt es mit ihrem Bild die innere und die äußere Erscheinung der Stadt aufzunehmen, in Form eines Textes zu verbinden und auf diese Weise an der Identität von München zu rühren. Dabei erscheint das Image plausibel, weil es sich auf das Imaginäre der Stadt bezieht. Im Unterschied zum Imaginären ist ein Image geplant und gestaltet, wie Rolf Lindner erklärt, auch ein Motto oder eine Reklame wirkt schließlich nur dann authentisch, wenn die Botschaft auch hinsichtlich der städtischen Tiefengrammatik im Bereich des Möglichen liegt.887 Auch in ästhetischer Hinsicht zieht die Rede von der „Weltstadt mit Herz“ alle Register und greift den gesteigerten Wert der Empfindungen auf. Dabei kommen Tendenzen der Zeit und urbane Eigenschaften im Begriff der Weltstadt zum Ausdruck, vor allem aber spielt die Atmosphäre von München mit ihren unverkennbaren Qualitäten in das Motiv hinein. Das Herz steht für Befindlichkeiten wie das Gemütliche und die Herzlichkeit der Stadt, nimmt den allzu hohen Anspruch der Weltstadt zurück, verleiht ihm eine individuelle Note, lässt aber auch Ängste kompensieren, und 1962 ist die Wendung von der „Weltstadt mit Herz“ durchaus als Aufwertung der Situation zu verstehen. „Im Vergleich mit anderen Metropolen, die zum Teil früh ihren weltstädtischen Charakter bekamen, wie Rom, Paris oder London, war der Metropolcharakter der bayerischen Landeshauptstadt zunächst noch ein recht bescheidener“, meint Stadtdirektor Dheus 1968, „und es war ein weiter Weg, der zurück gelegt werden mußte zu den Stationen Millionenstadt, Weltstadt, Olympiastadt. Als in München gegen Ende des Jahres 1957 der millionste Einwohner registriert werden konnte, wurde von einem Millionendorf gesprochen, in dem 886 |

Huber 2004: S. 162.

887 |

Vgl. Lindner 2008 b: S. 86-87.

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die äußeren Lebenserscheinungen noch ein starkes Lokalkolorit hatten und nur in einigen Ansatzpunkten weltstadturbanen Flair ahnen ließen.“888 Als Cosmopolis bezeichnet Edward Soja einen weiteren Diskurs der postmodernen Stadtgesellschaft und nimmt mit The Globalization of City Space auf das wirkmächtigste Paradigma der Gegenwart Bezug.889 „[U]nter dem Druck der Finanzund Warenmärkte im Zusammenspiel mit einer zunehmenden Vernetzung der Kommunikationskanäle“890 werden im Zeitalter der Globalisierung „markante Vorgänge“891 evident. Wie der Volkskundler Helge Gerndt erklärt, handelt es sich dabei um „Phänomene, die die Welt grundlegend verändern“892 . Besonders nachdrücklich wird die „Beschleunigung vieler Lebensprozesse“893 erfahren; Gerndt nennt drei wesentliche Parameter der Transformation, ein ausnehmendes Anwachsen der Mobilität, aus immer extremeren Bedingungen resultierende Bewegungen der Migration und eine exzessive Flut an Bildern und Medien, die mit der Globalisierung einhergehen.894 Der amerikanische Anthropologe Arjun Appadurai misst den Themen Medien und Migration ebenso zentrale Bedeutung bei und begreift die Parameter als diakritische Zeichen, die mit ihren Affekten kulturelle wie gesellschaftliche Entwicklungen und Erscheinungen modifizieren.895 „What is distinctive about the contemporary era [...]”, gibt Soja in seinem Überblick zu bedenken, „is not globalization per se but its intensification in popular (and intellectual) consciousness and in the scope and scale of globalized social, economic, political, and cultural relations.”896 Die Globalisierung ist in diesem Sinne nicht nur als Folge und Intensivierung anhaltender Prozesse zu verstehen, sondern muss in ihren Dimensionen und dem Einfluss auf die gesamte Welt vielmehr als einzigartig verstanden werden. „It is this forceful empowerment of globality and global consciousness as a source of human action and practice that underpins the emergence of globalization as the most widespread concept being used to understand the distinctiveness of the present and to rationalize and explain almost everything happening in the contemporary world.”897

888 |

Dheus 1968: S. 1.

889 |

Soja 2000: S. 191.

890 |

Gerndt 2002: S. 17.

891 |

Ebd.

892 |

Ebd.

893 |

Ebd.

894 |

Ebd.

895 |

Vgl. Appadurai, Arjun (1996): Modernity at Large: Cultural Dimensions of Globaliza-

tion. Minneapolis; London, S. 3. Zitiert nach: Soja 2008: S. 209. 896 |

Soja 2000: S. 191.

897 |

Ebd.

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In den Städten sind die Auswirkungen des weltweiten Wandels in verdichteter Form zu spüren, zugleich verändern sich auch die Städte selbst. Soja konzentriert sich in seinen Ausführungen auf die so genannten Global Cities. Unter den Bedingungen der Globalisierung bildet sich ein weltumspannendes Netz an Großstädten heraus, das auch auf Seiten der Forschung entsprechende Beachtung findet, mit dieser Art von Urbanität hat sich vor allem die amerikanische Sozialwissenschaftlerin Saskia Sassen beschäftigt.898 „[B]ut the effects of globalization extend much further and deeper to shape global culture-society-economy-capitalism, social theory and societal development, economic restructuring and the urban-regional process, a new international division of labor, the formation of global regions, the representation of identity, transnational citizenship, and a reassertion of the power of the local. Additional associations are made with global media, electronic landscapes, post-imperialism, new modernities, the end of the nation-state, an increasingly border-less world, postmodern socialisms, the end of geography and the expansion of transnational imaginary.”899 Die Globalisierung betrifft alle Menschen gleichermaßen, und niemand kann diesen alles durchdringenden Prozess und seine Phänomene ignorieren.900 Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Topoi der Globalisierung aus einer kritischen Perspektive hat einmal dazu geführt, dass die Grundsätze der Demokratie ebenso wie die Bürgerrechte hinterfragt und immer wieder aufgezeigt und neu vermessen werden. „And second, it has provided an unexpected bridge between geopolitical economy and critical cultural studies, especially around such crucial issues as expanding the definition of citizenship and residential ‚rights to the city‘, the new cultural politics of identity and representation, and struggles for explicitly spatial justice and regional democracy in the Postmetropolis.”901 Am Beispiel von Arjun Appadurai und seinen Arbeiten macht Edward Soja deutlich, wie Kultur, Politik und Ökonomie zusammengedacht werden können, als zentrales Spannungsfeld der Globalisierung versteht der Anthropologe das Verhältnis von einer Homogenisierung zu einer analogen Heterogenisierung von kulturellen Erscheinungsformen.902 Studien aus einem dezidiert linken Spektrum haben ihren Fokus lange Zeit ausschließlich auf die homogenisierenden und homogenen Momente gerichtet. „What this view misses”, erklärt Soja und bezieht sich ebenfalls auf die Argumentation von Appadurai, „are many countervailing forces of resistance, indigenization, syncretism, rupture, and ‚disjuncture‘ that reassert and often reorder cultural differences and reaffirm the power of heterogeneous political

898 |

Vgl. Sassen, Saskia (1991): The global city: New York, London, Tokyo. Princeton.

899 |

Soja 2000: S. 190.

900 |

Ebd.: S. 190-191.

901 |

Ebd.: S. 208.

902 |

Vgl. Appadurai 1996: S. 32. Zitiert nach: Soja 2000: S. 209.

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cultures and identities.”903 Der Anthropologe entwirft ein Modell aus Bewegungen und Räumen, die der Fluidität der diversen Felder gerecht werden sollen und sich neben Praxen, Handlungen und Ereignissen auch auf Vorstellungen, Bilder und Ideen beziehen, die Rede ist von Ethnoscapes, Technoscapes etc.904 Für diese Ausrichtung der Transnational Anthropology aus postkolonialer Perspektive stehen neben Appadurai vor allem der indische Literaturwissenschaftler Homi K. Bhabha und der palästinensische Literaturwissenschaftler Edward Said.905 In ihren richtungweisenden Arbeiten zu Kosmopolitismus und Hybridität wird Heterogenität prinzipiell als Potential aufgefasst, zugleich werden mit diesen Konzepten auch widersprüchliche Momente der Homogenisierung wahrgenommen. Mit der anhaltenden Globalisierung differenzieren sich kulturelle Phänomene und gesellschaftliche Prozesse aus, die sich nicht in Dichotomien denken lassen; ebenso wandeln sich wissenschaftliche Prämissen und drücken sich in immer komplexer konzipierten Fragestellungen aus. Im Organismus der Postmetropolis entstehen transnationale Beziehungs- und Kommunikationsräume, permanent finden Interaktionen statt, und die Idee der Hybridität bezieht sich sowohl auf den Gegenstand als auch auf das Denken der Stadtgesellschaft in der spätmodernen Gegenwart. Arjun Appadurai veranschaulicht insbesondere am Beispiel der Mediascapes, wie sich Wirklichkeit unter den Bedingungen der fortschreitenden Moderne konstituiert. „The image, the imagined, the imaginary – these are all terms that direct us to something critical and new in global cultural processes: the imagination as a social practice.“906 Die Kraft der Vorstellung ist die Schlüsselkomponente der globalisierten Welt; Bilder, Darstellungen und Illusionen gelten nicht mehr als Fluchten und Phantasien, sondern sind genauso als Realitäten zu verstehen wie virtuelle Lebenswelten und Utopien.907 Der Philosoph Wolfgang Welsch spricht analog von einem „generellen Ästhetisierungsbefund“908, der sich nicht nur auf das Erscheinen, sondern auch auf das Erkennen bezieht. „‚Ästhetisierung‘ bedeutet ja grundsätzlich, daß Nichtästhetisches ästhetisch gemacht oder als ästhetisch begriffen wird. Genau das erleben wir gegenwärtig allenthalben. Zwar folgt diese Ästhetisierung nicht überall dem gleichen Muster, und der Typ des Ästhetischen, der auf das ehedem Nichtästhetische aufgeblendet wird, kann von Fall zu Fall ein anderer sein: in der urbanen Umwelt meint Ästhetisierung das Vordringen des Schönen, Hübschen, Gestylten; in der Werbung und im Selbstverhalten meint sie 903 |

Soja 2008: S. 209.

904 |

Vgl. Appadurai 1996. Zitiert nach: Soja 2000: S. 210.

905 |

Vgl. Bhaba, Homi K. (1990): The Third Space. Interview with John Rutherford. In:

Rutherford, John (Hg.): Identity: Community, Culture, Difference. London, S. 207-221 und Said, Edward (1979): Orientalism. New York. Zitiert nach: Soja 2000: S. 211. 906 |

Appadurai 1996: S. 31. Zitiert nach: Soja 2000: S. 210.

907 |

Ebd.

908 |

Welsch 1993: S. 23.

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das Vordringen von Inszenierung und Lifestyle.“909 Zu beobachten ist ebenso eine Virtualisierung, während die Wirklichkeit in einen permanenten Zustand von Veränderbarkeit verfällt. In unterschiedlichen Feldern drückt sich auch die Ästhetisierung auf unterschiedliche Weise aus. Welsch sieht die Möglichkeiten dieser Entwicklung aber nicht in der Umgestaltung von Oberflächen, der Philosoph hebt in erster Linie die damit einhergehende Sensibilisierung des Wahrnehmens hervor. Auch auf dem Gebiet der Wissenschaften zeichnet sich eine Art epistemologische Ästhetisierung ab, immer deutlicher setzt sich in verschiedenen Forschungsbereichen die Ansicht durch, dass es keine grundlegende Wirklichkeit oder Wahrheit geben kann. Ästhetik meint keine andere Realität, sondern ist selbst Bestandteil des Erkennens. Alles weist schließlich Erzeugungscharakter auf, und die Qualitäten der Vielfalt, der Bildlichkeit und der Inszenierung sind nicht nur Kategorien der Wirklichkeit, sondern werden auch als wirklich empfunden.910 Entsprechend dreht sich Edward Sojas finaler Diskurs mit dem Titel SimCities: Restructuring the urban imaginary um die Stadt und ihre „symbolische Sphäre“911, um einen weiteren Begriff von Rolf Lindner einzuführen. Im urbanen Raum überlagern sich mit der Globalisierung zusehends Medien und Bilder, nehmen Einfluss auf die Wahrnehmung und differenzieren sich in ihrem Erscheinen immer weiter aus; eine städtebauliche Utopie ist dabei ebenso als SimCity zu verstehen wie die elektronische Ausstattung und Vernetzung der Münchnerinnen und Münchner mit Telefon und TV oder die Fernsehübertragung aus der Olympiastadt.912 Aus einer ästhetischen Perspektive kann daher nicht die eindimensionale Dekonstruktion eines Themas im Fokus der Auseinandersetzung stehen. Wie die Kulturwissenschaftlerin Sabine Eggmann konsequent hervorhebt, geht es doch vielmehr um Bedeutungen, und das Erkenntnisinteresse zielt hauptsächlich auf die Frage, wie Akteurinnen und Akteure in einem bestimmten Feld Sinn und damit Gesellschaft generieren.913 München entwickelt sich in den langen 1960er Jahren von einer modernen Großstadt zur Postmetropolis. Die „Weltstadt mit Herz“ ist als Ausdruck der fortschreitenden Ästhetisierung zu verstehen und nimmt ebenso auf die Entwicklungen der Cosmopolis Bezug. Am Beispiel von München lassen sich allgemeine Prozesse ausmachen, die sich in einer spezifischen Weise an einem konkreten Ort ereignen, und in diesem Rahmen sind Phänomene zu beobachten, die sich sowohl auf die Stadt und ihre Wirkung in der Welt als auch auf die Wirkung der Welt in der Stadt beziehen. „The postmetropolis can be represented as a product of intensified globalization processes through which the global is becom909 |

Ebd.

910 |

Ebd.: S. 40-47.

911 |

Lindner 2008 b: S. 86.

912 |

Vgl. Soja 2000: S. 323-324.

913 |

Vgl. Eggmann, Sabine (2009): „Kultur“-Konstruktionen. Die gegenwärtige Gesell-

schaft im Spiegel volkskundlich-kulturwissenschaftlichen Wissens. Bielefeld, S. 61.

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ing localized and the local is becoming globalized at the same time.”914 Lindner weist darauf hin, dass mit der zunehmenden Städtekonkurrenz im Kontext der Globalisierung auch das Imaginäre immer bezeichnender wird.915 Die Darstellung von München bezieht sich vor allem auf drei Motivstränge, die sich innerhalb der kulturellen Textur der Stadt nachvollziehen lassen: auf München als kreative Stadt der Bildung und Wissenschaft, auf München als leuchtende Metropole der Kunst und Kultur und auf München als eine Stadt mit starken regionalen Bezügen und einer Fülle von lokalen Traditionen. Besonders eindrucksvoll werden in der „Weltstadt mit Herz“ gerade diejenigen Bilder und Praktiken in Szene gesetzt, die unter dem Etikett Volkskultur zu fassen sind.

M ÜNCHEN H AUP TBAHNHOF. M UNICH C ENTR AL S TATION „Von über vier Millionen Fremden, die 1962 in München übernachteten“, berichtet der Film „Großstadt mit Tradition und Zukunft“, „waren über eine Million Ausländer. Ständig leben in München über 100 000 Nicht-Deutsche. Zur Münchner Weißwurst haben sich ungeniert italienischer Landwein und serbischer PaprikaReis gesellt. Im Espresso sitzt man neben dem Geschäftsreisenden mit der Flugkarte New York-München-Beirut. Unversehens ist das Millionendorf zur Weltstadt geworden, ohne sich in eine Allerweltsstadt verwandelt zu haben.“916 Migration und Mobilität sind typische Parameter der postmodernen Stadt, in ihrer Publikation zur „Migration als Großstadtressource“ weisen die Kulturwissenschaftlerin Birgit Mattausch und der Soziologe Erol Yildiz aber auch darauf hin, dass „Migration [...] seit jeher konstitutiv für die Entwicklung von Städten [ist]; Urbanisierung ohne Mobilität ist schlichtweg unvorstellbar“917. Mit der Industrialisierung veränderte sich die Ökonomie der Stadt, und München wurde im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu einer Metropole, gerade weil Menschen aus allen bayerischen Regionen auf der Suche nach Arbeit und Freiheit in die königliche Haupt- und Residenzstadt kamen. Mit der beschleunigten Globalisierung nach dem Zweiten Weltkrieg steigern sich diese Bewegungen aber in einer Weise, die nie zuvor möglich gewesen ist und wesentlich auf Bedingungen zurückgeht, die weit über den Organismus der einzelnen Stadt hinausreichen. „Unentwirrbar ist das Völkergemisch in München geworden, dessen Wachstum (30000 Zuzüge im Jahr) in der Bundesrepublik konkurrenzlos ist: Von 1,16 Millionen Bewohnern der einst rein altbayerischen Gemeinde können nur 350 000 noch als Eingeborene gelten, 327 000 kamen aus dem übrigen Bayern, 139 000 aus anderen Bundesländern, 27 000 aus 914 |

Soja 2000: S. 152.

915 |

Vgl. Lindner 2008 b: S. 86.

916 |

München (1963): Großstadt mit Tradition und Zukunft. Image-Film der Landes-

hauptstadt München. In: Stadtarchiv München. 917 |

Yildiz; Mattausch 2009: S. 12.

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Berlin, 209 000 aus dem deutschen Osten, 113 000 sind Ausländer. Das alles“, berichtet der Spiegel im Januar 1964 über „Die Brüder in Bayern“, „und dazu noch 1,7 Millionen Touristen pro Jahr mischt sich auf Faschingsfesten, Starkbierfesten, Oktoberfesten und Ski-Pisten zu einem schillernden Weltdorf-Kaleidoskop, dessen bäuerisch weiß-blaue Grundtöne trotz allem unverkennbar bleiben.“918 Die Geschichte des Münchner Hauptbahnhofs ist von Beginn an als Geschichte von Migration und Mobilität zu verstehen und lässt einen Bogen von der Industrialisierung und ihren Folgen bis zu den Effekten der Globalisierung in den langen 1960er Jahre spannen. Der Historiker Heinz-Georg Haupt sammelt in dem gleichnamigen Band „Miniaturen aus der europäischen Kulturgeschichte“919 . Autorinnen und Autoren skizzieren Orte des Alltags, das Kaffeehaus findet Erwähnung und auch der Hafen, die Küche, das Kinderzimmer, der Friedhof, die Kaserne und das Theater. Die Orte haben Funktionen, dienen der Unterhaltung, der Kommunikation, strukturieren den Alltag, organisieren Leben und Wohnen und stellen das Kapital der Akteurinnen und Akteure zur Schau. Die Orte repräsentieren Milieus und Zugehörigkeiten, Werte und Handlungsweisen, mit den Orten sind Ansichten verbunden, Erinnerungen und Narrationen. Der Hauptbahnhof ist ebenfalls ein Ort des Alltags, ein urbaner Ort, ein Ort der Beschleunigung. Als Verkehrsknotenpunkt ist der Ort von Bewegung geprägt und markiert eine zentrale Schnittstelle im Gewebe der Stadt. Der Hauptbahnhof ist ein Ort der Begegnung und auch der Anonymität. Auf vielen Ebenen kreuzen sich an diesem Punkt die Wege von zahllosen Menschen und ihre Biographien. Exemplarisch erschließt sich aus der Entwicklung des Münchner Hauptbahnhofs eine Chronologie der Prozesse und Phänomene, die sich zuerst auf die Stadt als moderne Großstadt und schließlich auf die Stadt als Postmetropolis beziehen. Die Kulturwissenschaftlerin Brigitta Schmidt-Lauber denkt im Zusammenhang mit einer multisited ethnography, die den Gegenständen oder den Akteurinnen und Akteuren im Feld folgt, auch über Orte von Dauer nach. „Nur scheinbar sind Bewegung und Lokalisierung, Mobilität und Sesshaftigkeit Gegensätze, sie gehen miteinander einher und sind in ihren Verknüpfungen zu befragen.“920 Der Hauptbahnhof ist ein Ort von Dauer und nirgendwo sonst werden Mobilität und Migration in einer solchen Vielschichtigkeit greifbar wie an diesem Schlüsselort. Die Geographin Claudia Wucherpfennig begreift Bahnhöfe als „[...] Orte, die durch markante Geräusche und Gerüche 918 |

Die Brüder in Bayern. Mir san mir (8. Januar 1964). In: Der Spiegel, Ausgabe 1/2,

S. 30-42. Hier: S. 39-40. 919 |

Haupt, Heinz-Georg (Hg.) (1994): Miniaturen aus der europäischen Kulturgeschich-

te. München. 920 |

Schmidt-Lauber, Brigitta (2009): Orte von Dauer. Der Feldforschungsbegriff der

Europäischen Ethnologie in der Kritik. In: Windmüller, Sonja; Binder, Beate; Hengartner, Thomas (Hg.): Kultur-Forschung. Zum Profil einer volkskundlichen Kulturwissenschaft. Berlin, S. 237-259. Hier: S. 246.

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und durch eigenartige Atmosphären geprägt sind. [...] Sie gelten als ‚Tor zur Stadt und zur weiten Welt‘, stehen für Mobilität, Fortschritt und Heimat, Sehnsucht, Wehmut und Nostalgie. Bahnhöfe sind Imageträger der sie betreibenden Bahngesellschaften wie auch der Städte, in denen sie lokalisiert sind. Sie sind (zumeist) innerstädtisch oder innenstadtnah gelegene Räume, deren Entwicklung eng mit derjenigen der Stadt verbunden ist.“921 Der erste Bahnhof in München wurde im Jahr 1839 am Galgenberg oberhalb des Marsfelds errichtet, am Ostersonntag 1847 brannte die Holzkonstruktion jedoch gänzlich nieder. Schon seit einiger Zeit wurde über einen geeigneten Standort für ein massives Bahnhofsgebäude nachgedacht. Der Architekt Friedrich Bürklein entwarf daraufhin einen prachtvollen Ziegelbau, der schon 1849 eingeweiht werden konnte. Für den Bau musste ein beliebtes Ausflugsziel weichen, die „Schießstätte“ vor den Toren der Stadt. In unmittelbarer Nähe zu den Salzstadeln lag das Areal besonders günstig an der Kreuzung der wichtigen Handelswege.922 Die 1840 eröffnete Linie München – Augsburg verband zunächst das westliche Umland mit der königlichen Haupt- und Residenzstadt und sollte sowohl dem Transport von Waren als auch der Personenbeförderung dienen. Im Jahr 1860 wurde die Linie München – Salzburg – Wien feierlich eingeweiht, der bayerische König Maximilian II. traf aus diesem Anlass den österreichischen Kaiser Franz Josef in Salzburg.923 In den folgenden Jahrzehnten wurden mehr und mehr Orte an das Schienennetz angeschlossen. Die Bahn brachte Stadtbewohnerinnen und -bewohner zur Erholung in die Sommerfrische, die Menschen aus der Region fuhren mit dem Zug in die Stadt, um Behördengänge zu erledigen und Geschäften nachzugehen, in München nach Arbeit zu suchen oder auf dem Oktoberfest einzukehren.924 In den 1880er Jahren wurde in München eine Bahnhofsmission als Anlaufstelle für allein reisende Mädchen eingerichtet.925 Als uneheliches Kind im September 1860 in Aichach geboren, kam Coletta Möritz mit ihrer Mutter vom Land in die Stadt, besuchte zunächst die Schule und fand eine Anstellung beim Sterneckerbräu im Tal. Der Maler Friedrich von Kaulbach porträtierte das Biermädchen, 1881 sollte das Bild den Ausschank des Sterneckerbräu beim 7. Deutschen Bundesschießen auf der Theresienwiese schmücken. Als Schützenlisl wurde die schöne Coletta weit über die Grenzen der Stadt bekannt, die Figur wird auf Schützenscheiben abgebil-

921 |

Wucherpfennig, Claudia (2006): Bahnhof – (stadt)gesellschaftlicher Mikrokosmos im

Wandel. Eine „neue kulturgeographische“ Analyse. (Wahrnehmungsgeographische Studien, 22) Oldenburg, S. 17. 922 |

Vgl. Toussaint, Angela (1991): Der Münchner Hauptbahnhof. Stationen seiner Ge-

schichte. Dachau, S. 8, 37. 923 |

Vgl. Toussaint 1991: S. 20-22.

924 |

Vgl. 175 Jahre Oktoberfest: S. 34, 39 und Möhler 1980: S. 300.

925 |

Vgl. Wucherpfennig 2006: S. 126.

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det und ein Schlager von 1953 greift das Motiv ebenfalls auf.926 Das Schienennetz wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts über Bayern hinaus stetig erweitert. Menschen aus allen Milieus, darunter auch Staatsgäste reisten mit der Bahn; 1870 empfing der bayerischen König Ludwig II. den preußischen Kaiser Friedrich III. am Münchner Hauptbahnhof.927 Wie die Historikerin Angela Toussaint beschreibt, wurde die Anlage von Friedrich Bürklein mehrfach erweitert. Bis in die 1940er Jahre behielt der mit Fresken reich geschmückte Centralbahnhof sein 1847 gestaltetes Gesicht und galt mit seiner Halle aus Glas und Stahl geradezu als „Inbegriff des modernen deutschen Großstadtbahnhofs.“928 Zwischen der Maxvorstadt im Norden und der Ludwigvorstadt im Süden gelegen, veränderte sich mit dem Bau des Bahnhofs nicht nur die nahe Umgebung, sondern auch die Struktur der gesamten Stadt. Ein im Jahr 1810 von den Architekten Friedrich Ludwig von Sckell und Karl von Fischer erstellter Plan sah für die Maxvorstadt wie das „südwestliche Segment des Stadterweiterungsgebietes eine auf gehobene Bevölkerungsschichten ausgerichtete Wohnbebauung“929 vor, erläutert der Stadtarchivar Richard Bauer. Die Ludwigvorstadt erstreckt sich vom Allgemeinen Krankenhaus bis zur Bavaria, im Vorfeld der bis in die 1880er Jahre „[...] noch weit in Richtung Stadt ausgreifenden Theresienwiese entstanden zuerst einzelne Gartenvillen und Landhäuser in großzügig bemessenen Grünbereichen, die sich als Parkanlagen, Nutzflächen oder Wiesenflächen aneinanderreihten und überleiteten zu den Fluren der damals noch selbstständigen Gemeinde Sendling.“930 Das Quartier galt im 19. Jahrhundert zudem als Künstlerviertel, der Bildhauer Ludwig von Schwanthaler und die Maler der Familie Asam lebten und arbeiteten in der Ludwigvorstadt. Mit dem Schienenverkehr und der anwachsenden Bedeutung des Standorts wandelte sich die beschauliche Gartenvorstadt in ein anziehendes Geschäftsviertel. Bauer spricht von einer zunehmenden Homogenisierung der Straßenzüge durch Hotels und Großhandelsunternehmen, die schon in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg einsetzte. „Die großen lauschigen Gärten mit ihren Fliederbüschen und Rosenrabatten waren längst aufgeteilt und überbaut, als man zwischen 1906 und 1933 den überall noch verbliebenen Vorgärten den Kampf ansagte.“931

926 |

Vgl. Laturell 1998: S. 37, 38.

927 |

Vgl. Toussaint 1991: S. 20-22.

928 |

Ebd. S. 8.

929 |

Bauer, Richard (1991): Links und Rechts der Isar. Eine Wanderung durch die Zeit. In:

Bauer, Richard (Hg.): Links und rechts der Isar. Bilder aus dem groß- und kleinbürgerlichen München, 1895-1935. Fotografiert von Georg Pettendorfer. München, S. 9-21. Hier: S. 16. 930 |

Bauer 1991: S. 16-17.

931 |

Ebd.: S. 16-18.

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Rund um den Bahnhof eröffneten mit dem verstärkten Aufkommen des Fremdenverkehrs im ausgehenden 19. Jahrhundert neben Gasthäusern und Lokalitäten in allen Preisklassen auch entsprechende Hotels und Pensionen.932 Claudia Wucherpfennig weist darauf hin, dass sich „[...] jenseits der bürgerlichen Schauseiten der Städte, an denen eine neue Form von Öffentlichkeit und Urbanität entworfen und gelebt wurde“933 analog auch die „Rückseiten“934 der Bahnhöfe herausbildeten. Als Attraktion galten um 1900 die so genannten Automatenrestaurants in der Gegend, Speisen und Getränke erhielt der moderne Mensch in diesen Etablissements aus Glasschränken, die neuartige Form der Bewirtung zog scharenweise Gäste an.935 Eine der bekanntesten Einrichtungen war der Mathäser Bräu. In dem Bierkeller zwischen Stachus und Bahnhof konstituierte sich am 7. November 1918 der Münchner Arbeiter- und Soldatenrat unter dem Vorsitz von Kurt Eisner, der nach der Revolution, die das Ende der Monarchie bedeutete, zum ersten Ministerpräsidenten des „Freistaates Bayern“ gewählt werden sollte.936 1955 wird von der Löwenbrauerei an Stelle des im Krieg zerstörten Hauses die „Mathäser-Bierstadt“ errichtet; mit ihrem Restaurant „Oberbayern“ ist die Familie Reiss, die das Unternehmen betreibt, nicht nur auf der Weltausstellung in Brüssel, sondern auch auf der Deutschen Industrieausstellung in Katar und bei den Olympischen Spielen 1960 in Rom vertreten.937 Die Geschichte des Hotel „Drei Löwen“ in der Schillerstraße 44/45 lässt sich ebenfalls seit der Zeit um 1900 verfolgen, die Speisekarten zeigen eine Auswahl der gehobenen Klasse. Eine Reklame von 1911 wirbt für das „Hotel und Restaurant 3 Löwen“, „[i]n nächster Nähe des Hauptbahnhofes (Ausgang Mittel- oder Südbau). Gut bürgerliche Restauration. ff. Münchener Bürgerbräu-Bier, helles und Pilsener-Bier. 80 Komfortable, der Neuzeit entsprechend ausgestattete Fremden-Zimmer mit Zentralheizung und elektrischer Beleuchtung“938. In den 1910er Jahren präsentiert das Hotel ein Unterhaltungsprogramm der SingspielGesellschaft Gebrüder Albrecht mit komischen Szenen und Musik in seinem Saal, in einem weiteren Prospekt wird die Truppe Frölich-Werner angekündigt. Neben dem Restaurant befindet sich im „Drei Löwen“ in dieser Zeit ein „Türkisch-Arabisches Kaffe“. Ende der 1930er Jahre wird das Hotel in der Schillerstraße zum 932 |

Vgl. Toussaint 1991: S. 87.

933 |

Wucherpfennig 2006: S. 91.

934 |

Ebd.

935 |

Vgl. Lesjak, Andrea (1997): Automaten-Restaurants als Symbol des technischen

und gesellschaftlichen Fortschritts. In: Kultur- und Bürgerzentrum Pasinger Fabrik (Hg.): Wirtshäuser in München um 1900. „Berge von unten, Kirchen von außen, Wirtshäuser von innen.“ München, S. 123-133. 936 |

Vgl. Large 1998: S. 121.

937 |

Vgl. Mathäser Außenpolitik (1. Juni 1958): In: Mathäser Neueste Nachrichten.

Gänzliche unabhängige Blätter der Mathäser Bierstadt. Größte und bedeutendste Bierstadtzeitung des Universums, 1/1. Jg. 938 |

Zeitgeschichtliche Sammlung – Drei Löwen. Stadtarchiv München, 133/8.

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„Bahnhofshospiz“ und bietet günstige Verpflegung an. Nach dem Wiederaufbau in den 1960er Jahren erstrahlt das „Drei Löwen“ im alten Glanz des Grandhotels.939 Auch die Schattenseiten der Stadtgeschichte sind mit dem Bahnhof verbunden. Im Krieg von 1870 dienten die technischen Errungenschaften der Industrialisierung erstmals der allgemeinen Mobilmachung. „Truppen-, Material-, Verwundeten- und Gefangenentransporte stellten erhebliche Anforderungen an die Eisenbahn, der von da ab endgültig eine zentrale Rolle in der militärischen Strategie zukam.“940 In einer allzu pittoresken Szene hält der Künstler Anton Kraus die Ankunft französischer Kriegsgefangener am Münchner Hauptbahnhof fest, Schaulustige reichen Bierkrüge und Speisen.941 Auch im Ersten und Zweiten Weltkrieg fungierte der Hauptbahnhof als bedeutender Dreh- und Angelpunkt. Nicht nur Soldaten wurden mit Zügen verlegt, die logistische Versorgung lief ebenfalls über die Schiene. In den 1940er Jahren wurden Münchner Jüdinnen und Juden vom Hauptbahnhof aus mit der Reichsbahn ins litauische Kaunas und in andere Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert.942 Wie das Modell des Architekten Albert Speer zeigt, sollte der Bahnhof nach den Vorstellungen der nationalsozialistischen Machthaber durch ein monumentales Gebäude ersetzt werden, der „[...] neue Hauptbahnhof (Planungsbeginn 1934) war als ein domartiger, überkuppelter Rundbau geplant, dem kreissegmentförmig Schalter- und Empfangshalle sowie Büros und Geschäfte angefügt waren. Als Bestandteil des offiziellen Programms zum ‚Ausbau der Hauptstadt der Bewegung‘ sollte er End- und Schaupunkt einer 2,4 km langen und 120 m breiten Achse werden.“943 Finanzielle Schwierigkeiten, Beginn und Dauer des Krieges sowie der Untergang des Dritten Reichs verhinderten schließlich die Umsetzung dieser totalitären Machtdemonstration. Seit Anfang der 1940er Jahre flogen die Alliierten auch Luftangriffe auf München, die Bomben vom 25. Februar 1945 sollten vor allem die Anlagen der Bahn treffen. Der Bahnhof wurde wie die umliegenden Gebäude schwer beschädigt, Trichter klafften im Gleisbett, verbogene Schienen ragten aus den Überresten der Halle, Waggons waren zerstört, und der Verkehr kam zum Erliegen.944 Noch als Ruine blieb der Bahnhof in vielen deutschen Städten ein zentraler Bezugspunkt, auch der Schwarzmarkt konzentrierte sich auf dieses Gebiet. „Nachdem die größten Schäden beseitigt worden waren, trafen in den Bahnhöfen nicht nur BewohnerInnen der Städte und ‚normale Reisende‘ aufeinander, sondern ebenso Soldaten, Flüchtlinge und ehema939 |

Vgl. ebd.

940 |

Toussaint 1991: S. 61.

941 |

Vgl. ebd.: S. 62.

942 |

Vgl. Heusler, Andreas (2006): Verfolgung und Vernichtung (1933-45). In: Bauer,

Richard; Brenner, Michael (Hg.): Jüdisches München. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. München, S. 161-184. Hier: 182. 943 |

Wucherpfennig 2006: S. 112.

944 |

Süss, Wolfgang (1954): Die Geschichte des Münchner Hauptbahnhofes. Essen, S.

132.

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lige Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter und Überlebende der Konzentrationslager, Luftkriegsevakuierte und Kinder der Kinderlandverschickung, ‚Fremdarbeiter‘ und viele mehr.“945 Wie in der ganzen Stadt wurden auch die Trümmer auf den Grundstücken um den Münchner Hauptbahnhof geräumt und Behelfsbauten errichtet. In der Bayerstraße 31 befand sich vor dem Krieg das Hotel „Europäischer Hof“. An der Stelle des Gebäudes eröffneten Anfang der 1950er Jahre mehrere Läden in einer U-förmigen Ersatzkonstruktion: Schokoladen Schlicht, ein Hutgeschäft, eine Parfümerie, eine Filiale der Bausparkasse Wüstenrot und ein Fotoautomat. „Nur Herr Allmer mit seinem Uhren- und Schmuckgeschäft ist neu in der Stadt. Das heißt, eigentlich ist er hier geboren, hat aber lange Zeit im Ausland, hauptsächlich in Amsterdam, gewohnt und bringt aus dieser ehemaligen Diamantenzentrale seine Kenntnisse mit.“946 Am 30. November 1951 beantragten Odorico Facchin, im Jahr 1900 in Scorze bei Venedig geboren, und Giacomo Soravia, geboren 1899 in München, die Eröffnung einer Eiskonditorei in einem der Behelfsbauten. Die Kaufmänner importieren Südfrüchte über einen Stand in der Großmarkthalle, Facchin ist mit Rosy FinsterBoeck aus Wien verheiratet, Soravia mit Elsa Masocci aus San Vito. In dem Lokal sollen Flaschenbier, Wein, Branntwein und „nichtgeistige“ Getränke ausgeschenkt werden, der Antrag lautet auf ein Expresscafé mit Imbiss und Gartenbetrieb von Mai bis September. Das „San Marco“ eröffnete 1952, zu den beiden Familien stieß im Laufe des Jahres noch Carlo Scussel, am 26. Juli 1907 im französischen Nilvange geboren. Der Eiskonditor, der mit der Italienerin Irma Badin verheiratet ist, soll an dem Café beteiligt werden. Das Gewerbeamt der Stadt wendet sich in dieser Angelegenheit an das Zuzugsamt. „Für eine Aufenthaltserlaubnis sprechen folgende Gesichtspunkte: 1. Gaststättenrechtliche Hinderungsgründe liegen nicht vor, 2. Scussel war früher schon mehrere Jahre in Deutschland, 3. Die Sachkunde zur Betriebsführung dürfte vorliegen. Dagegen ist jedoch festzustellen, daß diese Voraussetzungen bei einer Vielzahl von Italiener zutreffen. Wenn auch anzuerkennen ist, daß der Betrieb von Eisdielen seit jeher ein Reservat der Italiener ist, so muß doch gesagt werden, daß der Bedarf an diesen Lokalitäten bzw. Teilhaber für solche Betriebe im Stadtgebiet München allmählich gedeckt sein dürfte. Auffallend ist, daß gerade an diesen kleinen Saisonbetrieben oft eine Mehrzahl von Italienern beteiligt ist. Da an der Zuwanderung weiterer Italiener zur Gründung und Beteiligung an Eisdielen, Expreßkaffees u. ä. keinerlei wirtschaftliches Interesse besteht, werden gegen eine eventuelle Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis von uns grundsätzlich keine Bedenken erhoben.“947 Scussel durfte dennoch blei945 |

Wucherpfennig 2006: S. 126.

946 |

Werbeanzeige Bayerstraße 31. Münchner Merkur, 1./2. Dezember 1951. In: Gewer-

beamt Wirtschaftskonzessionen. Stadtarchiv München, 4931. 947 |

Vgl. Korrespondenz. In: Gewerbeamt Wirtschaftskonzessionen. Stadtarchiv Mün-

chen, 4931.

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ben, die Ära des „San Marco“ endete allerdings wenige Jahre später, weil das Hotel „Europäischer Hof“ wieder aufgebaut wurde. Im Sommer 1955 verkaufte das „San Marco“ noch einmal Eis im Garten, und auch in dem modernen Gebäude an der Bayerstraße 31 wird eine Pizzeria mit Eisverkauf integriert. Nicht nur tagsüber hatte das Viertel um den Münchner Hauptbahnhof viele Einkaufsmöglichkeiten, Cafés und Restaurants zu bieten, das Leben in den Baracken der Ludwigvorstadt erwachte vor allem nachts. „In solchen Schuppen nisteten sich die Bars und Amüsierbetriebe für die US-Soldaten ein. Sie tummeln sich zu abertausenden in der Stadt, leben über das gesamte Stadtgebiet verstreut in riesigen Kasernen“,948 dokumentiert der Musiker Florian Fricke. „Die GIs werden hier mit der Musik versorgt, die sie von daheim gewöhnt sind. Die amerikanischen Bars sind auch in Deutschland streng getrennt nach Hautfarbe (erst Ende der 1960erJahre begehren puertoricanische Armeeangehörige gegen diese Zustände auf). Die größten weißen Lokale stehen rund um den Hauptbahnhof, in der Mars-, Goethe und Schillerstraße: Hillbilly-Kneipen, in denen Rock'n'Roll und Boogie Woogie angesagt sind. [...] Die schwarzen Lokale finden sich in Haidhausen und im Norden an der Schleißheimer Straße. Hier regieren der Blues und der Jazz.“949 Von den Stützpunkten in ganz Bayern kamen Angehörige der US-Armee an den Abenden und vor allem an den Wochenenden nach München. Auch Elvis Presley, der in den späten 1950er Jahren als GI in Friedberg bei Augsburg stationiert ist, besucht 1959 die Lokale der Stadt und geht zusammen mit der Schauspielerin Vera Tschechowa, der Plattenagentin Toni Netzle und seiner gesamten Entourage auch ins „Moulin Rouge“, ein Strip-Club in der Herzogspitalstraße zwischen Stachus und Sendlinger Tor.950 Chuck Herrmann wächst zu dieser Zeit im Umland von München auf und begeistert sich für amerikanische Musik. Als Jugendlicher hört Hermann Radio AFN und beginnt selbst Gitarre zu spielen. Wie Paul Würges, der „deutsche Bill Haley“, oder der Musiker Günter Valerién unterhält er bald auch selbst die Besucherinnen und Besucher in den Bars und Clubs um den Münchner Hauptbahnhof und in den Kasernen der US-Army. „Ich weiß noch, wie der Kennedy [1963] ermordet worden ist, da waren alle Soldaten so traurig und still, da gab es erstmal keine Musik mehr.“951 Einen Eindruck von der Atmosphäre in den Lokalen und dem Publikum in den 1950er Jahren vermitteln die Fotografien,

948 |

Fricke, Florian (2007): München rockt – die wilde Zeit an der Isar. München, S. 7.

949 |

Fricke 2007: S. 7.

950 |

Vgl. http://www.br-online.de/kultur/musik/mythos-elvis-DID1195677252567802/

elvis-elvis-in-muenchen-elvis-vera-tschechowa-ID671195677236544306.xml, (16. April 2010). 951 |

Begegnungen in der Reihe „24 h. Bahnhofsviertel“ von Karnik Gregorian und Anne-

Isabelle Zils im Rahmen von „Munich Central“, dem Stadtprojekt der Münchner Kammerspiele im Juni 2010.

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die Al Herb als Student aufgenommen und unter dem Titel „Sündiges München“ veröffentlicht hat.952 Am 4. Mai 1950 prüfte das Gewerbeamt der Stadt München einen Antrag, der die Erweiterung der Kioskbauten Bayerstraße 41 und 43 für das Grundstück Bayerstraße 41 und Goethestraße 4 hinsichtlich einer Schnellgaststätte betraf. Karl Popp, der sich um die Genehmigung bemüht hatte und in der Bayerstraße 41 ein Konditoreikaffee betrieb, erklärte am 22. November 1952, dass er den Betrieb einstellt und auf die Erlaubnis vom 7. Juni 1950 verzichtet. Popp verkaufte sein Geschäft an Izak Polecz, der neue Inhaber stellte einen Antrag auf „Vollbetrieb bis zur allgemeinen Sperrstunde“953 . Wie der beigefügten Biographie zu entnehmen ist, wurde Izak Polecz 1918 im polnischen Blaszki geboren. „P. gibt an, ständig als Kaufmann tätig gewesen zu sein. Antragsteller besitzt Fremdenpass Nr. B 030972/51, ausgestellt durch das Amt für öffentliche Ordnung, München“954 . Seinen Status beschreibt die Behörde als „80 % Schwerbeschädigter durch K.Z. – Aufenthalt. Vorl. Schwerbeschädigtenausweis Nr. 74949 vom 8. Juni 1948.“955 Im Januar 1953 eröffnete in der Bayerstraße 41 eine Weinwirtschaft mit Barbetrieb, die zuerst „Hollywood Bar“ hieß und bald darauf in „Dolly Bar“ umbenannt wurde. Das Grundstück gehört dem Haus der Landwirte in München A.G., vertreten durch Paul Sauer, München 15, Bayerstraße 41/45. Bierlieferanten sind die Löwen- und die Hackerbrauerei, in der Bar werden auch Branntwein und Likör, Limonade und Coca-Cola ausgeschenkt. Wie das Gewerbeamt anmerkt, hat der Inhaber die Toiletten zu vergrößern und die Wände im Vorratsraum wasserabweisend zu streichen. Im Juli 1953 beantragte Polecz, Marek Lewin, 1917 in Wilna geboren, als Geschäftsführer in der „Dolly Bar“ einsetzen zu dürfen, da er noch ein weiteres Lokal in Pirmasens führt. „Dieser Antrag wird durch die Inspektion befürwortet, da bei Kontrollen bisher kein Verantwortlicher feststand und Polecz nie erreichbar war.“956 Im April 1954 verkaufte Polecz sein Münchner Etablissement, einen „Barbetrieb, vorwiegend für Angehörige der Besatzungsmacht“957. Zu etwaigen Schwierigkeiten notierte das Gewerbeamt: „Die gleichen Bedenken wie bei allen Amibetrieben in Bahnhofsnähe.“958 Der neue Inhaber Mojsze Zaube will den Laden weiterführen, und wieder wird darauf hingewiesen, dass es sich um eine „Ami-Bar“ handelt. Zaube ist am 10. Juni 1918 in Warschau geboren, staatenlos, ledig und wohnt in der Holzapfelstraße 6. „Nach Schulbesuch als Radiotechniker tätig. Ab Kriegsbeginn 952 |

Vgl. http://www.hirschkaefer-verlag.de/herb.html, (25. August 2011).

953 |

Korrespondenz und Unterlagen. In: Gewerbeamt Wirtschaftskonzessionen. Stadt-

archiv München, 8000. 954 |

Ebd.

955 |

Ebd.

956 |

Ebd.

957 |

Ebd.

958 |

Ebd.

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bzw. Eroberung von Warschau im dortigen Ghetto“, ist im Lebenslauf vermerkt. Von 1945 bis 1951 war Zaube in einem Quartier der United Nations Relief and Rehabilitation Administration, die sich von Pasing aus um Displaced Persons kümmerte, untergebracht. 1951 ging er für einige Zeit als Radiotechniker nach Amerika, und wurde nach seiner Rückkehr Geschäftsführer bei Polecz.959 Eine ganze Reihe von Clubs und Amüsierbetrieben für die US-Streitkräfte befanden sich im Besitz jüdischer Geschäftsleute, die als erste Lizenzen von den amerikanischen Besatzern erhielten; diese Barbesitzer wurden auch Barone genannt.960 Der Münchner Hauptbahnhof wurde seit dem Ende des Krieges wieder in Stand gesetzt, die Reste des historischen Bürklein-Baus wurden abgetragen, zum Teil auch gesprengt oder im Stil der Zeit saniert und neben neuen Gebäuden in die Konzeption des modernen Großstadtbahnhofs eingepasst. „Im Hinblick auf den erwarteten Massenverkehr anlässlich der Oberammergauer Festspiele [1950] wurde zunächst der Neubau des Starnberger Bahnhofs durchgeführt. Dieser neue Bahnhof, der dritte an dieser Stelle innerhalb 60 Jahren, kann als Paradestück in Glas und Stahl bezeichnet werden. Neben dem ständig anwachsenden Fremdenverkehr nach dem bayerischen Oberland bewältigt er fast den gesamten Vorortverkehr aus den westlichen Richtungen, der täglich etwa 40 000 Berufstätige umfaßt“,961 ist einem Bericht des Wiederaufbaureferats der Landeshauptstadt München aus dem Jahr 1952 zu entnehmen. Ebenso galt es, die Infrastruktur der gesamten Stadt wiederherzustellen, da Zugverbindungen, Straßen, Trambahnlinien und der Flughafen weiten Teils zerstört waren. Das Kommunikationssystem und insbesondere das Fernsprechnetz, das über zentrale Wähleinrichtungen im Telegrafenamt und der beschädigten Hauptpost gegenüber dem Bahnhofsgebäude lief, wurden repariert.962 „In der Nachkriegszeit wurde die Eisenbahn bald wieder zum wichtigsten Verkehrsmittel der Zivilbevölkerung. Volle Züge und Bahnsteige, rituelle Kommunikationsformen bei Begrüßung und Abschied, zumeist flüchtige Kontakte unter Fremden, das Bild des Alltäglichen und Gegensätzlichen und ein typischer Rhythmus und transitorischer Charakter prägten das Bahnhofsleben.“963 Zur Eröffnung der „Deutschen Verkehrsausstellung“ im nahe gelegenen Park an der Theresienhöhe wurde die Überdachung des Hauptbahnhofs fertig gestellt. Mit der Schau konnten Stadt und Messebetreiber schon 1953 wieder an die Erfolge früherer Jahrzehnte anknüpfen, und München sollte mit der beachtlichen 959 |

Vgl. ebd.

960 |

Vgl. Presser, Ellen (2011): Schwabinger Schmattologen. In: Fleckenstein, Jutta;

Lewinsky, Tamar (Hg.): Juden 45/90. Von da und dort – Überlebende aus Osteuropa. Berlin, S. 97. 961 |

Wiederaufbaureferat der Landeshauptstadt München (1952): 7 Jahre Wiederauf-

bau in München. Ein Querschnitt durch den Wiederaufbau Münchens 1945-1952, S. 71. 962 |

Wiederaufbaureferat der Landeshauptstadt München 1952: S. 73-75.

963 |

Wucherpfennig 2006: S. 127.

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Inszenierung zu den Errungenschaften von Industrie und Technik im Zeitalter des Wirtschaftswunders auch selbst damit beginnen, seine Bezugssysteme über die Ebene der Infrastruktur hinaus zu erweitern.964 So eröffnete der Buchhändler Max Sussmann anlässlich der Präsentation moderner Massenverkehrsmittel Anfang der 1950er Jahre im Münchner Hauptbahnhof den ersten „Internationalen Pressestand“ der gesamten Bundesrepublik und zudem noch einen Spezialladen für Landkarten und Reiseführer in allen europäischen Sprachen.965 „Mit dem Buchangebot ist auch die Bahnhofsbuchhandlung immer auf dem neuesten Stand. Es lohnt sich, hineinzusehen. Zweimal in der Woche wird dekoriert. Dieses Angebot wird vor allem auch von den Reisenden des Vorortverkehrs geschätzt; der Bahnhof hat täglich 60 000 Einpendler. Eine Bücherauswahl auch nur annähernden Ausmaßes steht ihnen am Wohnort nicht immer zur Verfügung. Hier ist sie sozusagen im Vorbeigehen greifbar. Bis zu 2000 Titel sind zu haben, ungerechnet die Taschenbücher. München, ein bedauernswerter Platz für Zeitgenossen, die Druckerzeugnisse im Straßenverkehr erwerben wollen, zeigt auf dem Bahnhof andere Seiten. Die Buchhandlung mit ihren fünf Verkaufsstellen und etwa hundert Angestellten rollt täglich 10 bis 12 Tonnen bedruckten für den alsbaldigen Verbrauch bestimmten Papiers an. Zu 600 deutschen Zeitungen und Zeitschriften kommen rund 530 ausländische in 25 Sprachen.“966 Auf einer Speisekarte der „Gaststätten im Starnberger Bahnhof München – Hans Riedmayer“ vom 8. Februar 1962 ist zu lesen: „Beachten sie bitte unsere Auswahl an Kuchen aus eigener Konditorei… und dazu 1 Tasse original Espresso.“967 Der Geograph Heinz Heineberg wirft im Zusammenhang mit Sojas Ausführungen zu den Diskursen einer Postmetropolis unter anderem die Frage auf, „[...] inwiefern sich die bisherigen Metropolen- und/oder Global City-Debatten in den jüngeren Diskurs bzw. eine ‚Theorie postmoderner Urbanisierung‘ einordnen lassen, soweit sich diese mit dem Aufstieg und der Restrukturierung postmoderner Metropolen beschäftigt.“968 Auch Ulf Hannerz setzt sich mit der Bedeutung von Städten im Zeitalter der Globalisierung auseinander. Nicht nur in repräsentativer Hinsicht spielen Macht und Wirtschaftskraft in den World Cities eine besondere Rolle, poli964 |

Vgl. H.P.L.: Verkehrsausstellung München. In: Die Zeit, 21. Mai 1953. Verfügbar

unter: http://www.zeit.de/ 1953/21/Verkehrsausstellung-Muenchen, (15. Mai 2010). 965 |

Vgl. Hauptbahnhof-Schalterhalle und Fußgänger-Tunnel (20./21. Juni 1953). In:

Süddeutsche Zeitung, S. 28. In: Presseamt Zeitungsausschnitte – Bahnhof. Stadtarchiv München, 933. 966 |

Weber, Herwig (9. April 1966): Am Beispiel München: Supermarkt Hauptbahnhof.

In: Frankfurter Allgemeine. In: Presseamt Zeitungsausschnitte – Bahnhof. Stadtarchiv München, 933. 967 |

Zeitgeschichtliche Sammlung – Garten am Starnberger Flügelbahnhof. In: Stadtar-

chiv München, 145/18. 968 |

Heineberg, Heinz (2006): Stadtgeographie. Paderborn u. a., S. 357-359.

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tische und ökonomische Entscheidungen, die in den einflussreichen Großstädten Nordamerikas, Asiens und Europas getroffen werden, erreichen vor allem in ihrer Wirkung globale Dimensionen. Darüber hinaus lassen sich Verschiebungen und Transformationen im Kontext der Globalisierung ebenso auf einer kulturellen Weltkarte nachvollziehen, die Vorstellung von einem Mosaik, das sich aus Kulturen zusammensetzt, die sich in linearer Weise auf einen Ort oder eine Region beziehen, muss mit den kulturellen Bewegungen der Postmoderne revidiert, ergänzt, aber doch nicht vollständig ersetzt werden. Wie Soja und Appadurai geht auch Hannerz in Folge der Globalisierung von einer zunehmenden Heterogenität aus. „World cities are places in themselves, and also nodes in networks; their cultural organisation involves local as well as transnational relationships. We need to combine the various kinds of understandings we have concerning the internal characteristics of urban life in the world cities.“969 An den Schnittstellen eines weltumspannenden und durch die Medien immer enger vernetzten Gewebes gewinnen lokalspezifische Eigenheiten aus einer globalen Perspektive an Bedeutung, während die kulturelle Vielfalt der Welt inklusive lokaler Besonderheiten im konkreten Stadtraum evident wird. An der Musikszene oder alltäglichen Erscheinungen wie der Restaurantauswahl drückt sich die außerordentliche Diversität der Global Cities aus.970 Auf einer Doppelseite der Münchner Abendzeitung werben an Ostern 1972 die verschiedensten Lokalitäten für ihr Angebot, neben zahlreichen österreichischen Gasthäusern bietet das neu eröffnete „Ischia Ristorante und Pizzeria“ italienische Spezialitäten an der Lerchenauer Straße, das „Opatija“ in der Brienner Straße 41 und am Rindermarkt 2 preist „Jugoslawische Spezialitäten, Internationale Küche und die besten Weine Jugoslawiens“971 . Inseriert haben unter anderem das „Canton“ China Restaurant in der Theresienstraße 49, das China-Restaurant „Princess Garden“ in der Leopoldstraße 25, das „Come-In Steak-House“, „Herrliche Steaks bis 4 Uhr früh“972 am Platzl 4, der „Gaslight Club“, „Internationale Stereo-Parade, Filmotheque, Diskotheque“973 in der Ainmillerstraße 10. Der Augustiner-Keller unter Leitung von Josef und Ulla Kraus, München, Arnulfstraße 52, veranstaltet am Ostersonntag einen Tanzabend. „We can view a large part of world-city process, I will argue, in both its local and its transnational facets, in terms of an interplay with cultural currents within the form of life and market organisational frames. Some of it, quite conspicuously, is in the streets.”974

969 |

Hannerz 1993: S. 69.

970 |

Ebd.: S. 77-79.

971 |

Inserate (Ostern 1972). In: Abendzeitung, S. 32-33. In: Zeitungsarchiv der Biblio-

thek der Institute am Englischen Garten. 972 |

Ebd.

973 |

Ebd.

974 |

Soja 2000: S. 74.

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Mit Blick auf die Ausdehnung urbaner Bezugssysteme nennt Hannerz „[...] four social categories of people who play major parts in the making of contemporary world cities“975 . Zu den gesellschaftlichen Gruppen, die den globalen Charakter einer Großstadt mit ihrer Präsenz und ihrem Handeln ausmachen, gehören transnationale Eliten wie zum Beispiel Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter weltweit agierender Unternehmen, aber auch Migrantinnen und Migranten mit geringer Bildung und niedrigem Einkommen, die mit ihren Tätigkeiten maßgeblich zur Ökonomie einer Stadt beitragen. In Anbetracht der wachsenden Beutung ästhetischer Kriterien muss auch den Kreativen, die das Erscheinen der Stadt gestalten, entsprechende Bedeutung beigemessen werden. Nicht zuletzt zählen Touristinnen und Touristen zur Bevölkerung einer Global City, wenngleich sie nicht dauerhaft anwesend sind, so doch in einer konstanten Zahl. In einem Hotel sind diese vier Personengruppen alle gleichzeitig zu beobachten. Während Geschäftsleute und Reisende aus aller Welt die Schauseite von München besuchen und den Komfort des Hauses nutzen, das sich durch seine Gestaltung auszeichnet, waschen Arbeiterinnen und Arbeiter aus aller Welt die Wäsche, spülen Geschirr oder putzen das Haus. An dem Exempel zeigt sich außerdem, dass die Einteilung nur in idealtypischer Weise gedacht sein kann. Die Überlegungen von Ulf Hannerz schließen gleichwohl an die Diskurse der Postmetropolis an, die anwachsende Transnationalität der Städte hängt unmittelbar mit der Umstrukturierung ihrer Räume und Ökonomien zusammen. Die Bewegungen der Globalisierung führen auch in kultureller Hinsicht zu Veränderungen, das urbane Hinterland, also die Regionen, mit denen eine Stadt verknüpft ist, weitet sich zusehends aus, und gleichzeitig behält auch der Ort des Geschehens seine Relevanz.976 München ist keine Global City im engeren Sinne der Definition, trotzdem sind die skizzierten Prozesse auch in der bayerischen Landeshauptstadt zu beobachten. In den langen 1960er Jahren lassen sich Entwicklungen nachvollziehen, die eindeutig in Richtung Cosmopolis gehen, während sich das Bild von München in der Welt fast ausschließlich auf kulturelle Eigenheiten aus dem regionalen Kontext bezieht. Der Bahnhof und vor allem der „Internationale Pressestand“ sind als transnationale Schnittstellen der Stadt zu verstehen, dienen sie doch Menschen aller vier von Hannerz benannten Gruppen gleichsam als Raum „[...] der Zusammenkunft, der Darstellung, des Austausches, aber auch als Folie für Erinnerungen und Erzählungen, die wiederum Vorstellungen konstruieren.“977 Um den Mangel an Arbeitskräften in Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs auszugleichen, trifft die Bundesrepublik im Jahr 1955 ein erstes Anwerbeabkommen mit dem italienischen Staat, der auf diese Weise versucht, der Massenarbeits975 |

Ebd.: S. 69-71.

976 |

Vgl. ebd.: S. 80.

977 |

Wildner, Kathrin (2005): Alltagspraxis und Inszenierung. Ethnographische Ansätze

zur Untersuchung öffentlicher Räume in Mexiko. In: Berking, Helmuth; Löw, Martina (Hg.): Die Wirklichkeit der Städte. (Soziale Welt, 16) Baden-Baden, S. 135-158. Hier: S. 157.

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losigkeit im eigenen Land entgegenzuwirken.978 Das Prinzip der Gastarbeit sieht vor, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einen befristeten Vertrag für den Zeitraum eines Jahres erhalten, um Geld zu verdienen und anschließend wieder in die Heimat zurückzukehren. Weil der Bedarf an Arbeitskräften in der Bundesrepublik analog zum Wachstum der Konjunktur in den darauf folgenden Jahren aber ausnehmend steigt, verhandelt die Bundesregierung bald mit weiteren Nationen, und viele Arbeiterinnen und Arbeiter bleiben auch im Interesse der Firmen und Unternehmen.979 Für die Geschichte der Gastarbeit spielt der Münchner Hauptbahnhof als zentraler Verkehrsknotenpunkt in Süddeutschland in vieler Hinsicht eine besondere Rolle. Die meisten Menschen reisen in der Zeit mit der Eisenbahn, und auch „[ f ]ür italienische und griechische Gastarbeiter sind vom 1.1. bis 31.10.62 147 Sonderzüge gefahren. Allein über Kufstein reisten in dieser Zeit 295 000 Arbeiter ein und 130 000 aus. Zu jedem Wochenende während des Sommers fuhr in der Verbindung München – Italien für italienische Arbeiter ein Sonderzugpaar; teilweise musste sogar ein zweiter Zug eingesetzt werden.“980 Zum Umfang dieser Verbindungen erklärt die Kulturwissenschaftlerin Brigitte Huber, dass „[d]er Münchner Hauptbahnhof [...] bis zum Anwerbestopp 1973 ‚Schleuse‘ für mehr als 2 Mio. ausländische Arbeitnehmer [war]. Kamen ab 1955 zunächst ausschließlich Italiener auf ‚binaro undici‘ (Gleis 11) an, so folgten in den 60er Jahren Gastarbeiter aus Spanien, Griechenland, der Türkei, Portugal und Jugoslawien.“981 Der Münchner Hauptbahnhof ist ein Kopfbahnhof, und die viele Stunden oder wahrscheinlicher noch Tage dauernde Reise von Sizilien, Anatolien oder Kroatien führt erst einmal in die bayerische Landeshauptstadt. Nach ihrer Ankunft werden die zukünftigen Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter in einem ehemaligen Luftschutzkeller empfangen. Das italienische Konsulat hat die Behörden aufgefordert, die Menschen nach der langen Fahrt nicht am Bahnsteig stehen zu lassen, sondern eine entsprechende Aufenthaltsmöglichkeit zu schaffen.982 Der direkt an Gleis 11 gelegene Bunker erscheint den deutschen Arbeitsvermittlern auch deshalb als geeigneter Ort, weil die Ankommenden auf diese Weise nicht den gesamten Bahnhof durchqueren müssen und so der „Eindruck des ‚Sklavenhandels‘“983 vermieden wird. „Für die Verpflegung war die Caritas zuständig, die sich bemühte, sie den Bedürfnissen der Angekommenen anzupassen; so wurden als warme Mahlzeiten 978 |

Dunkel, Franziska; Stramaglia-Faggion, Gabriela (2005): Gastarbeiter – „Wir waren

da und von Gott verlassen“. In: Koch, Angelika (Hg.): Xenopolis. Von der Faszination und Ausgrenzung des Fremden in München. München, S. 335-350. Hier: S. 337. 979 |

Vgl. Dunkel; Stramaglia-Faggion 2005: S. 338.

980 |

Zeitgeschichtliche Sammlung – Eisenbahn. Stadtarchiv München, 23/1.

981 |

Huber 2004: S. 164.

982 |

Vgl. Dunkel, Franziska; Stramaglia-Faggion, Gabriella (2000): Zur Geschichte der

Gastarbeiter in München. „Für 50 Mark einen Italiener“. München, S. 92. 983 |

Dunkel; Stramaglia-Faggion 2005: S. 336.

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ausländische Gerichte angeboten, zum Beispiel serbisches Reisfleisch oder Ravioli; das Verpflegungspaket für die Weiterreise enthielt drei Brötchen mit Salami und Streichkäse, Bananen, Kekse und Schokolade. Für die Moslems verwendete man Rindersalami.“984 Die Ankommenden sind dennoch misstrauisch, ein Mitarbeiter der Weiterleitungsstelle erinnert sich, dass gerade von der „teuren Rinderwurst“985 das meiste weggeschmissen worden ist. Im Rahmen der Ausstellung „Für 50 Mark einen Italiener“986 haben sich die Historikerinnen Franziska Dunkel und Gabriella Stramaglia-Faggion eingehend mit dem Thema Gastarbeit befasst; dabei schildern sie auch die ersten Eindrücke von Ulderico G. nach seiner Ankunft. Und „[...] dann kam Kaffee. Heute trinke ich selber welchen, aber damals dachten wir, wir müssten vielleicht die Füße darin waschen. Was war das für ein Kaffee? Wir kannten unseren Espresso.“987 Zumeist unmittelbar nach dem Eintreffen des Zuges und dem Empfang im Bunker werden die künftigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Arbeitsamts registriert, in Gruppen von München und Köln aus in das gesamte Bundesgebiet weitergeleitet oder direkt an die wartenden Vertreter von Siemens, Agfa oder BMW verteilt. Nach einiger Zeit stehen den Ankommenden im Bunker auch Mitglieder der Gewerkschaften beratend zu Seite.988 Dimitri Soulas aus Griechenland kommt 1960 nach Franfurt am Main, studiert VWL und promoviert 1965 am Institut für Sozialforschung über „Das Marketing in Konsumgesellschaften“. Noch im selben Jahr beginnt Soulas für einen amerikanischen Konzern zu arbeiten, der von München aus international im Obst- und Gemüsehandel tätig ist. Mit seiner Fotokamera wird er in den 1960er Jahren ein Chronist seiner Zeit und fängt für Magazine und die Agentur AP sprechende Szenen in der Stadt, auf der Arbeit, bei Demonstrationen und ebenso am Bahnhof ein.989 Während die wirtschaftliche Rezession in der Bundesrepublik immer deutlicher zu spüren ist, werden in München immer noch mehr Arbeitskräfte gebraucht, um die Modernisierung der Stadt und die Anlage der Sportstätten bis 1972 fertig zu stellen.990 Am 5. November 1970 kann der Rohbau für das S-Bahn-Baulos 3 zwischen Stachus und Marienplatz offiziell abgeschlossen werden. In der Einladung ist das Programm abgedruckt, und einige 984 |

Ebd.: S. 94.

985 |

Erinnerungen von Josef M. (Weiterleitungsstelle). Zitiert nach Dunkel; Stramaglia-

Faggion 2000: S. 94. 986 |

Die Ausstellung ist im Jahr 2000 am Originalschauplatz im Bunker an Gleis 11

gezeigt worden. 987 |

Erinnerungen von Ulderico G. Zitiert nach Dunkel; Stramaglia-Faggion 2000: S. 95.

988 |

Vgl. Begegnungen bei „Gleis 11“ von Christine Umpfenbach und Paul Brodowsky im

Rahmen von „Munich Central“, dem Stadtprojekt der Münchner Kammerspiele im Juni 2010. 989 |

Vgl. Dunkel; Stramaglia-Faggion 2005: S. 339.

990 |

Vgl. Hatzigiorgiou, Grigoris (2008): Familiengeschichte und Biografie von Dimitri

Soulas. In: Pohlmann 2008, S. 205-212. Hier: S. 207.

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Abbildungen der Strecke sind zu sehen, ein Gedicht erzählt vom Verlauf der Baumaßnahmen und nimmt auch auf die Arbeiter im Tunnel Bezug: „Ob Türken sie, ob Griechen hießen, ob Jugoslawen, Portugiesen, ob Öst’reicher, ob Italiener, ob Deutsche oder Afrikaner, sie alle waren pflichtbewußt und schafften hier mit Lieb und Lust, und haben so vorweggenommen, was 72 erst soll kommen: die Völkerfreundschaft zu erzielen bei unseren olymp’schen Spielen!“991

In der Stadtchronik heißt es am 28. November 1962: „Dieser Tage traf in der Weiterleitungsstelle des Arbeitsamtes Südbayern im Hauptbahnhof der 100.000ste ausländische Gastarbeiter dieses Jahres ein. Wie viele Probleme das Einschleusen von Arbeitswilligen aus dem Ausland mit sich bringt, wurde in der Öffentlichkeit schon mehrfach behandelt. Wie steht es zum Beispiel mit der Freizeit dieser Arbeitskräfte hier bei uns in München?“992 Weil die meisten Arbeiterinnen und Arbeiter in Wohnheimen oder Baracken mit Mehrbettzimmern untergebracht sind, wird der Hauptbahnhof vor allem für die Männer zum zentralen Treffpunkt. Im Dezember 1969 beschreibt die Journalistin Marina Handloser eine solche Szene in der SZ: „‚O sole mio‘, knödelt ein schwarzgelockter Italiener in der Münchner Bahnhofshalle, eine griechische Gruppe klatscht und pfeift den Rhythmus einer Surtaki-Melodie, einige Spanier lesen die neuesten Zeitungen aus ihrer Heimat und politisieren heftig. Hier fühlen sie sich heimisch, die Bahnhofshalle ersetzt die italienische Piazza oder die spanische Plaza, hier versuchen sie ihr Heimweh zu stillen, und wenn der Lautsprecher Züge aus Rom, Athen, Madrid oder aus Belgrad ankündigt, stürmen sie zu den Bahnsteigen, um zu sehen, ob irgendein bekanntes Gesicht in der bayerischen Landeshauptstadt eintrifft, oder auch nur, um von den Ankommenden zu erfahren, wie gestern das Wetter in der Heimat war.“993 In den langen 1960er Jahren ist der Bahnhof ein viel frequentierter Ort, die Vorortzüge enden an den Flügelbahnhöfen, unweit der Messe haben die Wirtschaften und Lokale fast rund um die Uhr geöffnet. Über den Aufenthalt von Gastarbeitern in den Hallen wird heftig gestritten, in der Presse ist auch von einer Balkanisierung des Hauptbahnhofs die Rede. Nach und nach wandelt sich die Situation, und im Interesse der Arbeiterinnen und Arbeiter werden zusehends andere Treffpunkte und Anlaufstellen geschaffen. „Als ‚ein Stück Spanien in München‘ bezeichnete der spanische Generalkonsul Don Carlos Mazanares das neue Clubheim für spani991 |

Einladung zum Abschluss des S-Bahn Bauloses 3 am 5. November 1970. In: Zeit-

geschichtliche Sammlung – S-Bahn. Stadtarchiv München, 23/4. 992 |

Huber, Brigitte (Hg.) (2004): Tagebuch der Stadt München. Die offiziellen Aufzeich-

nungen der Stadtchronisten 1818-2000. Ebenhausen, S. 164. 993 |

Handloser, Marina (27.-28. Dezember 1969): Wenn der Giorgio Feierabend macht.

In: Süddeutsche Zeitung, S. 14. In: Presseamt Zeitungsausschnitte – Bahnhof. Stadtarchiv München, 933.

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sche Gastarbeiter, das im Beisein zahlreicher Prominenz im Haus Landwehrstraße 34 eröffnet wurde. In der Bundesrepublik arbeiten zur Zeit über eine Million Gastarbeiter, unter denen sich 300 000 Spanier befinden. In Südbayern sind es 6000, in München nahezu 3000. Mit dem neuen Clubheim, das der [...] Caritasverband München zusammen mit der spanischen Union, dem Generalkonsulat und dem Landesarbeitsamt eingerichtet hat, haben sie nun eine Begegnungsstätte bekommen. [...] Zum Clubheim gehören ein großer Veranstaltungssaal, eine Bibliothek, ein Unterrichtsraum und weitere Räume für die Geselligkeit. Die Bibliothek schmückt ein großes Bild des spanischen Dichters Cervantes.“994 Auch die Reiserouten werden im Laufe der 1960er Jahre immer weiter ausgebaut. Der steigende Wohlstand und das zeitgleiche Anwachsen der Freizeit ermöglicht es den Menschen, in die Ferien zu fahren. Prospekte preisen in erster Linie Ausflugsziele in der Umgebung von München und im bayerischen Oberland; aber auch eine Fahrt zur Tulpenblüte nach Holland wird angeboten. Die Zahl der Verbindungen nimmt in der Zeit von 1966 bis 1972 deutlich zu, wie sich an den Fahrplänen ablesen lässt.995 In dem Faltblatt „Neue Züge von und nach München“ weist die Bahn im Sommer 1969 auf eine neue Direktverbindung zwischen München und Split/Ploce mit dem „Dalmacija-Expreß“ hin. Über Salzburg, Zagreb und Split fahren die Züge mit Schlaf- und Liegewagen zunächst nach Ploce und anschließend weiter nach Dubrovnik. Auf den Aushängen der Bahn ist vermerkt, dass Züge nach Jugoslawien, Griechenland, Bulgarien und in die Türkei durchweg platzkartenpflichtig sind.996 „Open my heart and you will see there inscribed … Italy!”997 In Form einer Erzählung vermittelt ein Reiseführer aus dem Jahr 1954 allerlei Wissenswertes über Italien. „Die Geschichte fing mit zwei weiblichen Wesen an. Sie hiessen Magda und Leni, leisteten in einem düsteren Büro mäßig bezahlte Arbeit und sehnten sich, wen würde das verwundern, nach südlichem Sonnenschein. Sie hatten das Glück im kommenden Jahr einem vierwöchigen Urlaub entgegenzusehen und das Pech vorerst keine Möglichkeit zu entdecken, ihre mageren Geldbörsen mit den für eine Italienfahrt benötigten Scheinen zu spicken. Die Reisebegeisterung der beiden verhielt sich verkehrt proportional zu ihren Einkünften. Nachdem sie das Problem Sommerreise lang gedreht und gewendet hatten, verfielen sie auf die zur Erreichung eines Ziels unangenehmste und zugleich wirksamste Methode, auf die Sparsamkeit. Sowohl Magda als auch Leni waren le994 |

Ein Stück Spanien in München (24./25. April 1965). In: Münchner Merkur, 24./25.

April 1965, S. 14. In: Presseamt Zeitungsausschnitte – Bahnhof. Stadtarchiv München, 933. 995 |

Vgl. Fahrpläne der Deutschen Bahn. In: Zeitgeschichtliche Sammlung – Eisenbahn.

Stadtarchiv München, 23/1. 996 |

Vgl. Broschüre „Neue Züge von und nach München“, Deutsche Bahn 1969. Zeitge-

schichtliche Sammlung – Eisenbahn. Stadtarchiv München, 23/2. 997 |

Hilgendorff, G. von (1954): Eine Reise durch Italien. Frankfurt am Main; Wien, S. 7.

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dig, was ihren Reiseplan begünstigte. In Ermangelung eines Ehegatten liessen sie sich zuweilen von ihren übellaunigen Vermieterinnen tyrannisieren und zwar in München, dem ersten Schauplatz unserer Geschichte.“998 Die beiden Freundinnen planen mit einem Gesamtbudget von je 500 DM. „Erst musste Magda auf die neuen Abendschuhe verzichten, damit auf das Tanzkleid und damit auf alle Bälle der Saison. Leni buchte verbittert die neue Keilhose ab und später den Skikurs dazu.“999 Mit der Abfahrt vom Münchner Hauptbahnhof beginnt die Beschreibung der Reiseroute, die einzelnen Orte und Fahrten sind in dem Band ebenso enthalten wie eine Anleitung zum Kofferpacken, unbedingt ins Gepäck muss ein „Reisekleid (Nylon, Perlon, einfach, strapazierfähig, nicht zu bügeln!).“1000 In den 1960er Jahren werden in der bayerischen Landeshauptstadt hochrangige Gäste aus aller Welt empfangen, 1962 besucht der französische Staatspräsident Charles de Gaulle auf seiner Reise durch die Bundesrepublik auch München.1001 1965 kommen die britische Königin Elizabeth II. und Prinz Philip in die Stadt.1002 Im Jahr darauf sind König Bumiphol und Königin Sirikit aus Thailand zu Gast in München.1003 1967 macht schließlich auch der Schah von Persien mit seiner Frau Farah Diba bei einem Staatsbesuch in der Bundesrepublik in München Station. Während die Boulevardpresse das Leben des Paares zu einem orientalischen Märchen verklärt, protestieren vor allem Exil-Iraner und Studierende gegen das Regime des Schahs. In der aufgeheizten Atmosphäre kommt es zu schweren Zusammenstößen in West-Berlin, die Jubel-Perser, die Reza Pahlevi begrüßen, erweisen sich bald als Prügel-Perser und schlagen mit Stöcken auf die Demonstrierenden ein. Die Situation eskaliert, und in der Nacht vom 2. Juni 1967 wird der Student Benno Ohnesorg auf offener Straße von einem Polizisten erschossen.1004 Wenige Tage vor diesen Ereignissen werden der Schah und seine Gattin in München empfangen, mit dem Zug kommt das Paar wie die Queen mit ihrem Mann an Gleis 11 im Hauptbahnhof an. „Mit der Überprüfung der im Sicherungsbereich liegenden Gaststätten, Bars, Hotels, Firmen und deren Räumlichkeiten ist rechtzeitig zu beginnen“, protokolliert die Polizei, „[m]it den Inhabern ist Verbindung aufzunehmen. Die Lokalinhaber sind zu ersuchen, am 31.5.1967 zweifelhafte Personen in ih-

998 |

Hilgendorff 1954: S. 9.

999 |

Ebd.: S. 9-10.

1000 |

Ebd.: S. 11.

1001 |

Vgl. Kramer, Ferdinand (2005): Charles de Gaulle in München und die Macht der

Erinnerung. In: Schmid, Alois; Weigand, Katharina (Hg.): Bayern mitten in Europa. München, S. 385-401. 1002 |

Vgl. Polizeidirektion – Besuch der Queen. Stadtarchiv München, 916/17/18.

1003 |

Dollinger, Hans (2001): München im 20. Jahrhundert. Eine Chronik der Stadt von

1900 bis 2000. München, S. 280. 1004 |

Vgl. Görtemaker 2004: S. 485.

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ren Räumlichkeiten nicht zu dulden.“1005 Auf dem Programm stehen eine Fahrt ins nahe gelegene Umland, ein Besuch in der Oper, ein Rundgang durch die Pinakotheken, ein Besuch im Kinderheim und eine Führung bei Siemens.1006 Am 31. Mai 1967 gewinnt der FC Bayern München mit seinem jugoslawischen Trainer Tschik Cajkowski in Nürnberg das Endspiel im Europapokal. In seiner Vereinschronik geht der Journalist Kurt Schauppmeier auf die Überschneidung der ungleichen Ereignisse ein. „Ministerpräsident Alfons Goppel wich [...] bei der Tischrede von dem vorliegenden Manuskript ab und begann mit folgenden Worten: ‚Lassen sich mich zunächst vom wichtigsten Ereignis des Tages sprechen: Bayern hat soeben 1:0 gewonnen.‘ Diese Nachricht – so verlautete inoffiziell – wurde an der Tafel mit freundlichem Beifall aufgenommen. Schah Reza Pahlevi hatte sich bereits bei seinem Eintreffen im Aquarium der Münchner Residenz nach dem Stand des Spieles erkundigt, bei dem gerade die Seiten gewechselt wurden. In einer Tischrede [...] gratulierte er später und würdigte ‚die Freude, die sie jetzt empfinden, da ihre Vertreter im Fußballspiel ein gutes Ergebnis erreicht haben.‘ Ministerpräsident Alfons Goppel ließ mit ausdrücklicher Zustimmung des Schahs folgendes Telegramm nach Nürnberg aufgeben: ‚Mit unseren hohen Gästen aus dem Iran und mit allen Fußballfreunden in Bayern freue ich mich über ihre großartige Leistung und den verdienten Erfolg.‘ Wer beide Empfänge in München mitgemacht hatte, der mußte eindeutig feststellen: ‚Die Star-Elf stahl dem Schah die Schau.‘“1007 Mit der Umstrukturierung der Stadt, dem Ausbau der Infrastruktur und der Anlage des Fußgängerbereichs verändert sich nicht nur der Hauptbahnhof, sondern auch seine Umgebung. Im Zusammenhang mit einem Beschluss des Stadtentwicklungs- und des Stadtplanungsausschusses werden Auswirkungen auf das Viertel beschrieben. „a) Mit Inbetriebnahme der U- und der S-Bahn im Jahr 1971 bzw. 1972 verlagerte sich der wichtigste Nahverkehrszielpunkt aus der Region vom Hauptbahnhof zum Schnellbahnkreuz Marienplatz; mit der Einrichtung der Fußgängerzone Stachus – Marienplatz gewann dazu der Altstadtbereich überproportionale Attraktivität. b) Damit war ein deutlicher Attraktivitätsverlust gerade für die Bereiche um den Hauptbahnhof verbunden, die Entwicklung dieser Bereiche blieb hinter derjenigen der Innenstadt zurück. D. h., insbesondere die Investitions- bzw. Ansiedlungsneigung höherwertiger Nutzungen stagnierte dort bzw. nahm tendenziell ab. c) Diese Schwächung der Entwicklungsimpulse traf im [...] Gebiet südlich der Bayerstraße einen traditionell stark gemischt strukturierten Innenstadtrandbereich mit einem deutlichen Akzent bei gewerblichen sowie bei Groß- und Einzelhandlungsnutzungen – für den aufgrund dieses Bestandes die entwicklungsplanerische Zielsetzung ‚Erhaltung der Wohnfunktion‘ (Rosa Zonen) nicht zutraf – mit der Folge, daß hier keine Bereinigung, sondern eher eine Verstärkung von struk1005 |

Vgl. Polizeidirektion – Besuch des Schah von Persien. Stadtarchiv München, 920.

1006 |

Ebd.

1007 |

Schauppmeier, Kurt (1969): FC Bayern München. Regensburg, S. 91.

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turellen und städtebaulichen Mißständen eintrat. d) Die Bevölkerungsentwicklung verlief dementsprechend: Stärker als in anderen Innenstadtbereichen nahm die Bevölkerung ab (9. Stadtbezirk 1970: rd. 15.000, 1978: rd. 13.500) bei gleichzeitig starker Zunahme des Ausländeranteils (1970: 3.600, 1978: 5.200). Diese Entwicklung kennzeichnet in hohem Maß die abnehmende Stabilität der Struktur und Charakteristik dieses Stadtgebiets. e) Insbesondere geht mit dieser Entwicklung aufgrund des örtlichen Kaufkraftschwundes eine Ausdünnung der gebietsbezogenen Konsum- und Dienstleistungsversorgung einher, eher kurzlebige und flexible Unternehmen wie z.B. Vergnügungslokale und Ausverkaufsgeschäfte, die risikoloser investieren können, drängen nach (z.B. Anzahl der Bars im fraglichen Bereich 1971: 16, 1978: 23). Diese jetzt beschriebenen Erscheinungen sind also nicht Ursachen, sondern Folgen der vorstehend beschriebenen Entwicklung. f) Im unmittelbaren Bereich von Bahnhofsplatz und Bayerstraße werden derzeit die o. e. Abwertungseffekte durch die bekannten Großbaustellen noch verstärkt.“1008 Im Vorfeld der Olympischen Spiele tritt in München eine Sperrbezirksverordnung in Kraft, die Prostitution im gesamten Innenstadtbereich untersagt; parallel wird der Betrieb in den Bahnhofsgaststätten eingeschränkt, sowohl Geschäftsleute als auch Kundinnen und Kunden orientieren sich zusehends in Richtung Stachus, Kaufinger- und Neuhauserstraße. In der Gegend um den Hauptbahnhof werden preiswerte Räume frei, zugleich beschließen vor allem türkische Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter nach dem Anwerbestopp im Jahr 1973 in der Bundesrepublik zu bleiben, eine Familie zu gründen, Frauen und Kinder aus der Heimat nachzuholen und sich in München eine dauerhafte Existenz aufzubauen.1009

„D ER V IK TUALIENMARK T – EIN LE T Z TES R ESERVAT A LTMÜNCHNER G EMÜTLICHKEIT “1010 Der Soziologe Helmuth Berking erklärt, „[...] daß die Rekonfiguration sozialer Räume im Globalisierungsprozeß gleichzeitig mit ebenso starken Ent- wie ReTerritorialisierungstendenzen einhergeht, daß Globalisierung, Regionalisierung, Urbanisierung und Lokalisierung in ihrer Gleichzeitigkeit das konstituieren, was heute als ‚global condition‘ die Aufmerksamkeit an sich zieht.“1011 Innerhalb des 1008 |

Beschluss des Stadtentwicklungs- und Stadtplanungsausschusses zur „Aufwer-

tung der Bayerstraße. Antrag der Bürgerversammlung des 9. Stadtratsbezirkes vom 26. Juni 1978“, 8. November 1978. In: Presseamt Zeitungsausschnitte – Viktualienmarkt. Stadtarchiv München, 555. 1009 |

Vgl. Dunkel; Stramaglia-Faggion 2000: S. 338-340.

1010 |

Bangen um den Viktualienmarkt. In: 8-Uhr Blatt Nachtausgabe, 21. Mai 1963. In:

Presseamt Zeitungsausschnitte – Viktualienmarkt. Stadtarchiv München, 555. 1011 |

Berking, Helmuth (1998): „Global Flows and Local Cultures“. Über die Rekonfigu-

ration sozialer Räume im Globalisierungsprozeß. In: Berliner Journal für Soziologie 8,

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städtischen Modernisierungsdiskurses lässt sich vor allem an der Debatte um den Viktualienmarkt zeigen, dass die massiven Bauarbeiten der 1960er Jahre nicht nur den Verkehr, sondern auch die Identität der Stadt betreffen. „Neue Pläne zur Anlage eines Straßendurchbruchs in der Münchner Innenstadt lassen die Münchner um einen Teil ihres Viktualienmarktes bangen“, ist der Nachtausgabe des 8 Uhr Blatts vom 21. Mai 1963 zu entnehmen. „Der geplante ‚Altstadtring‘ soll als große Straße hart an diesem Markt vorbeiführen und einen Teil seines Areals beanspruchen. Unser Bild zeigt den Blumenmarkt, einen Teil des Viktualienmarkts, der von der Neuplanung erfaßt werden soll. Im Hintergrund der traditionelle Maibaum und der Turm des ‚Alten Peter‘.“1012 Die Umsetzung der Maßnahmen sieht tiefe Einschnitte im städtischen Gefüge vor und weckt die Ängste der Bewohnerinnen und Bewohner. „‚Machen Sie aus unserer Stadt kein Los Angeles‘, rief ein erregter Münchner Bürger in einer Protestversammlung, die sich gegen die ‚Verschandelung des Viktualienmarkts‘ richtete. Der Viktualienmarkt – ein letztes Reservat Altmünchner Gemütlichkeit – hat die Bürgerschaft in Wallung gebracht, seit der Stadtrat ‚in nichtöffentlicher Sitzung‘ beschlossen hat, im Zuge des Altstadtrings eine 40 bis 60 Meter breite Fahrbahn zu bauen, die den Marktplatz tangieren würde [...]. An das Herz gewachsen ist den Münchnern der Viktualienmarkt, im Herzen ihrer Stadt gelegen. Der spitze Helm des Alten Peter und die barocke Haube des Turms der Heilig-Geist-Kirche schauen seit eineinhalb Jahrhunderten auf das Marktidyll hernieder. [...] Die Münchner Hausfrauen haben immer mit besonderer Vorliebe ihre Küchenvorräte und Tafelgenüsse auf dem Viktualienmarkt bei den Standlfrauen, bei den Bankmetzgern, Wild-, Geflügel- und Fischhändlern eingekauft. Für Alteingesessene und Zuagroaste war der Markt inmitten der Großstadt allzeit ein Anziehungspunkt und viele Loblieder wurden auf seine Eigenart gesungen. Der Weiß Ferdl, dessen Denkmalsbrunnen beim Waldmarkt, inmitten von Tannenzweigen und Latschenbündeln steht, hat den Viktualienmarkt besungen und die Standlfrauen mit ihrem süßsauren Mundwerk verewigt. Sein Volkssängerkollege Karl Valentin hat nicht weit entfernt, am romantischen Blumenmarkt sein Brünnerl und die Liesl Karlstadt schaut von ihrem Brunnen herab schmunzelnd dem Münchner Marktleben zu. 167 feste Stände wurden dort nach der Zerstörung durch den Bombenkrieg wieder aufgebaut und sind tagtäglich vollbeladen mit Obst und Gemüse aus aller Welt. Auf dem Fischmarkt kann man sich eine Fastenspeise holen. Am Bauernmarkt mit fliegenden Ständen und bunten Schirmen herrscht ländliches Treiben. Altstadt und Viktualienmarkt wollen die 3000 Münchner Bürger erhalten haben und das Abreißen alter Patrizierhäuser verhindern durch ihre Unterschrift, die sie aus Protest gegen die Pläne der Stadt geleistet haben. Auch eine ‚Gemeinschaft zur Erhaltung des Viktualienmarkts‘ hat sich gebildet und die Bezirksausschüsse des Stadtzentrums veranstalteten eine 1998/3, S. 381-392. Hier: S. 386. 1012 |

Bangen um den Viktualienmarkt. In: 8-Uhr Blatt Nachtausgabe, 21. Mai 1963. In:

Presseamt Zeitungsausschnitte – Viktualienmarkt. Stadtarchiv München, 555.

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Bürgerversammlung im überfüllten Kreuzbräu, bei der von den Verteidigern des Viktualienmarkts eine kraftvolle Sprache geführt wurde, Münchens Oberbürgermeister Dr. Vogel hat eine harte Nuß zu knacken. Das Stadtoberhaupt versucht die streitbaren Bürger zu beruhigen, indem er versprach, daß der Viktualienmarkt, wenn auch in veränderter Form, schöner werde. Prompt reagierten die Viktualienmarktanhänger mißtrauisch und meinten grantig, der Markt werde durch die Pläne der Stadt vernichtet.“1013 Nachdem die Problemlage bereits 1963 diskutiert worden ist, setzt sich die Debatte um den Viktualienmarkt in der darauf folgenden Zeit fort. „Bleibt der Viktualienmarkt in seiner historischen Form erhalten oder wird das Reservat Alt-Münchner Beschaulichkeit von der Südtangente des künftigen Altstadtrings, einer Verkehrsader von autobahnähnlichen Ausmaßen zerstört? Diese Frage bewegt seit über einem Jahr die Gemüter vieler Münchner. Lange Zeit schien es, als würden die zuständigen städtischen Stellen der von Stadtplaner Professor Herbert Jensen vorgeschlagenen Führung der Ringstraße über den Markt den Vorzug geben. Mittlerweile hat sich aber offenbar ein Stimmungswandel vollzogen. Stadtbaudirektor Edgar Luther, ab Juni Chef des gesamten Münchner Bauwesens, machte gestern nachmittag bei einer Besprechung im Stadtmuseum kaum einen Hehl daraus, daß er eine Führung über die Rumfordstraße für die [...] bessere Lösung hält.“1014 Der Reporter Otto Fischer schildert die Situation und geht detailliert auf die Überlegungen zu einer Ausweichtrasse ein. „Als vor etwa einem Jahr die Pläne der Arbeitsgemeinschaft Stadtentwicklungsplan bekannt wurden, stiegen viele Münchner auf die Barrikaden. Es wurden Unterschriften gegen die Zerstörung des Viktualienmarktes gesammelt und stürmische Protestversammlungen abgehalten. Münchens damaliger Stadtplaner aus Kiel, Professor Herbert Jensen, verharrte jedoch auf seiner Meinung, daß der Altstadtring nur über die Trasse Blumenstraße – Viktualienmarkt – Frauenstraße geführt werden sollte. Er meinte sogar, daß der Markt über diese Lösung gewinnen würde. Der Stadtrat hingegen wagte es nicht, dieses heiße Eisen sofort anzufassen, und klammerte diese Entscheidung bei dem Beschluß über den Gesamtverkehrsplan für München vorläufig aus. Die Begründung lautete: ‚Der Viktualienmarkt als eines der Kernstücke der Altstadt soll nach Möglichkeit vom modernen Verkehr verschont bleiben.‘ Die Stadtväter beauftragten das Stadtplanungsamt, drei verschiedene Varianten für den Altstadtring-Süd genauer zu untersuchen. Die Variante III schied praktisch von vornherein aus. Sie wäre von der Blumen- über die Fraunhofer- und Klenzestraße zum Isartor verlaufen. Der Gärtnerplatz wäre bei dieser Lösung völlig zerstört worden. Dazu kamen 1013 |

Bürger verteidigen den Viktualienmarkt. In: 8-Uhr Blatt Nachtausgabe, 21. Mai

1963. In: Presseamt Zeitungsausschnitte – Viktualienmarkt. Stadtarchiv München, 555. 1014 |

Fischer, Otto (20. März 1964): Damit der Viktualienmarkt bleibt wie er ist. In: Süd-

deutsche Zeitung. In: Presseamt Zeitungsausschnitte – Viktualienmarkt. Stadtarchiv München, 555.

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die astronomisch hohen Kosten, die der Abbruch ganzer Straßenzüge verursacht hätte. Auch verkehrstechnisch schien diese Variante mit ihrem Knick an der Ecke Fraunhofer-/Klenzestraße denkbar ungeeignet. Bleiben die Lösungen I und II, über die sich die Architekten und Bauherren seither die Köpfe zerbrachen. Die Variante I bildete der Vorschlag Professor Jensens. Er sieht einen 1,3 Kilometer langen Straßenzug vor, der sich etwa in Autobahnbreite vom Sendlinger-Tor-Platz über die Blumenstraße hinzieht, den südlichen Teil des Marktes anschneidet und über die Frauenstraße zum Isartorplatz verläuft. Auch die südliche Randbebauung des Marktes [...] müßte der Spitzhacke geopfert werden. Im Bereich des Marktes sollte der Ring auf einer erhöhten Trasse verlaufen. Der Viktualienmarkt müßte deshalb abgesenkt und umgebaut werden. Etwa ein Drittel der Marktfläche würde bei dieser Lösung dem Asphalt geopfert. Es müßten 25 Marktstände abgebrochen werden. Außerdem stünden 62 Gebäude auf der Abbruchliste, darunter die Riemerschmidsche Handelsschule. [...] Schließlich müßten bei Lösung I 1666 Münchner (555 Wohnungen) ausquartiert und neu untergebracht werden. Die Kosten für dieses Projekt (ohne Straßenbau) schätzen die Experten auf 116 Millionen Mark. Die Grundstücke, die sich bereits im Besitz der Stadt befinden, abgezogen, vermindert sich diese Summe auf 92 Millionen Mark. Die Variante II hat den Pferdefuß, der anfangs viele abschreckte, daß nämlich mehrere nach dem Krieg wiederaufgebaute Häuser dem Verkehr weichen müßten. Dafür ließe sie den Viktualienmarkt unangetastet. Seine städtebauliche Fassung am Südrand bliebe erhalten, was für das Milieu und die Atmosphäre dieser beschaulichen Oase von großer Bedeutung ist. Auch bei dieser Lösung verliefe die Ringstraße vom Sendlinger-TorPlatz über die Blumenstraße. Etwa am Einlaß würde sie in einem sanften Knick nach Süden von der Blumenstraße abschwenken und über den Reichenbachplatz und die Rumfordstraße am Isartor münden. Die Zahl der Gebäude, die abgebrochen werden müßten, beläuft sich in diesem Fall auf 83, liegt also um 21 höher als bei Lösung I. Auch würden wesentlich mehr Münchner unmittelbar betroffen. Das Stadtplanungsamt hat errechnet, daß 2441 Bewohner ihre Wohnungen (Gesamtzahl 814) aufgeben müßten. Außerdem müßten 347 Betriebe (bei Variante I: 377) umgesiedelt werden. Trotzdem kommen die städtischen Finanzexperten in diesem Falle nur auf 107 Millionen Mark für die Freimachung und bauliche Erneuerung entlang der Trasse. Auf den Stadtsäckel entfielen 96 Millionen Mark. Bei einer Besprechung, die gestern im Stadtmuseum stattfand, erläuterte Münchens künftiger Baureferent Edgar Luther diese beiden Möglichkeiten. Er machte dabei kein Hehl daraus, daß er im Gegensatz zu Professor Jensen die Führung durch die Rumfordstraße für die ‚weitaus günstigere Lösung‘ halte. [...] [D]ie zahlreichen Zaungäste, die die neuen Modelle der beiden Varianten im Stadtmuseum kritisch betrachteten, fielen in den Chor ein, der eine Erhaltung des Viktualienmarktes forderte. Das letzte Wort hat nun der Stadtrat zu sprechen. Er wird sich am 10. April in einer Sitzung des Stadtplanungsausschusses mit der Streitfrage beschäftigen. Die

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endgültige Entscheidung über das künftige Gesicht des Lieblingsplatzerls vieler Münchner fällt am 29. Mai in der Stadtratsvollversammlung.“1015 Um die Gegnerinnen und Gegner des Jensen-Plans zu Wort kommen zu lassen, veranstaltet die Stadt München noch im April 1964 eine öffentliche Anhörung zur Trassenplanung. „Die sonst so wortgewaltigen Marktfrauen und Standlmänner vom Viktualienmarkt übten zunächst Zurückhaltung und Oberbürgermeister Dr. Vogel mußte manches aufmunternde Wort sprechen, bevor im Stadtmuseum die Diskussion über die am Markt in Schwung kam.“1016 Die Marktleute wollen sich nicht vorwerfen lassen, dass sie nichts zu sagen haben. „So wagten sie sich also im Scheinwerferlicht des Fernsehens vor die Mikrophone des Rundfunks und vor die lange Reihe der Journalisten, die da gierig auf Altmünchner Milieu und Atmosphäre warteten.“1017 Ludwig Fisch schreibt in der SZ, dass sich die Marktfrauen des „außergewöhnlichen Anlasses“1018 durchaus bewusst gewesen sind, „[v]iele kamen in Festtagskleidung und mit frisch gelegten Dauerwellen. [...] Der Oberbürgermeister paßte sich seinem Publikum an und erläuterte in gemütlichem Dialekt, warum überhaupt ein Altstadtring notwendig ist. [...] Die Diskussionsredner, die sich nach den Vertretern der Stadt hinters Mikrophon stellten, nahmen kein Blatt vor den Mund. [...] Frau Zetterer rief in den Saal: ‚Das Herz Münchens wird zerrissen, und was das bedeut‘, wenn man ein Herz zerreißt, das weiß man ja.‘ [...] Häufig wurde auch der Fremdenverkehrsaspekt herausgestellt: ‚Jeds Jahr kemma Fremde aus Frankreich, Dänemark und Stockholm und bsuchan mi und den Markt und ois‘, betonte eine Marktfrau.“1019 Weitere Ideen werden vorgetragen, von einer Hochstraße ist ebenso die Rede wie von einer Untertunnelung. Der Stadtrat entscheidet schließlich gegen den Plan von Jensen und für den Erhalt des Markts, der Altstadtring wird über die Frauenstraße geführt. „‚Ich weiß keine andere Stadt, in der die Öffentlichkeit so reges Interesse an den städtischen Problemen zeigt‘, versicherte der Professor.“1020

1015 |

Ebd.

1016 |

Zeller, Werner (23. April 1964): Vogel treibt Marktforschung. In: Münchner Merkur.

In: Presseamt Zeitungsausschnitte – Viktualienmarkt. Stadtarchiv München, 555. 1017 |

Ebd.

1018 |

Fisch, Ludwig (23. April 1964): Vogel hört Standpunkt der Standlfrauen. In: Süd-

deutsche Zeitung. In: Presseamt Zeitungsausschnitte – Viktualienmarkt. Stadtarchiv München, 555. 1019 |

Ebd.

1020 |

Fischer, Otto (27./28. Mai 1964): Der Viktualienmarkt ist gerettet. In: Süddeut-

sche Zeitung. In: Presseamt Zeitungsausschnitte – Viktualienmarkt. Stadtarchiv München, 555.

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Als eine Art „olympische Säuberungsaktion“1021 bezeichnet die Abendzeitung die Sanierungsarbeiten auf dem Viktualienmarkt, mit denen die Stadt 1969 beginnt. Während der Umbau von offizieller Seite mit der notwendigen Einhaltung von Hygienevorschriften begründet wird, die bereits seit einiger Zeit zu Streitigkeiten führen, und Oberbürgermeister Vogel den Charakter des Markts unter allen Umständen zu wahren verspricht, meint „Franz Willinger, Fischverkäufer in der Kuttlerei: ‚Mir wer'n immer überrumpelt. Uns fragt ja koana. Und so geht immer mehr von der alten Marktromantik verloren.‘“1022 Zeitgleich entbrennt eine Debatte um allzu hohe Pachten, vor allem die Metzger sehen sich durch Preiserhöhungen übervorteilt. Immer wieder wird mit der Bedeutung des Ortes argumentiert, eine weitere Serie an Artikeln verfolgt die Idee, dass auch in einem modernen Stadtteil wie Neuperlach ein Wochenmarkt abgehalten werden soll. Über seine konkrete Funktion hinaus, gilt der Markt als Treffpunkt, als Projektionsfläche und als Kommunikationsraum, der die Anmutungsqualitäten der Stadt vermittelt. „Um die modernen Hochhaus-Wohnsiedlungen am Stadtrand gemütlicher zu machen, verfolgt die Münchner Stadtverwaltung einen beachtenswerten Plan. In den sechs größten dieser Neubau-Stadtteile sollen ‚richtige Märkte‘ eingerichtet werden, so wie man sie von Urgroßmutters Zeiten her gewöhnt ist: mit Ständen und Buden für Obst, Gemüse, Blumen, Fleisch, Fisch, Gewürze, Butter, Eier und Käse. Zwar müssen diese Märkte in Konkurrenz zu den bereits vorhandenen ‚Supermärkten‘ und zu Selbstbedienungsläden treten. Man hofft sehr, daß auch die vielbeklagten ‚grünen Witwen‘ am Stadtrand ihren kleinen Markt mit seinem farbenfreudigen Naturalienangebot ebenso lieben werden und daß durch den täglichen Einkaufsbummel das Leben in den Großstadtsiedlungen etwas persönlicher, etwas ‚altmodischer‘ wird. [...] Die Großstadtsiedlungen, die eigene ‚Marktplätze‘ bekommen werden, haben je zehn- bis zwanzigtausend Bewohner. Es handelt sich um die Wohnanlagen von Freimann, Hasenbergl, Lerchenau, Stadt am Laim, FürstenriedWest und Fürstenried-Ost.“1023 Im September 1973 beschließt der Kommunalausschuss des Stadtrats, dass der Viktualienmarkt die verkehrsfreie Zone in der Innenstadt ergänzen soll. „Am 6.11.1972 konnte bereits der erste Bauabschnitt des geplanten Fußgängerbereichs am Viktualienmarkt der Öffentlichkeit übergeben werden. [...] Im Zentrum des Marktes am Maibaum – Liesl Karlstadt – Weiß-Ferdl-Brunnen, wo derzeit noch die Reichenbachstraße verläuft, soll als zusätzliche Attraktion des Fußgängerzonenbereiches Viktualienmarkt ein Biergarten entstehen, der von 2 neu zu errichtenden

1021 |

„Sauberer wird's scho, aber net schee...“ (23. Juli 1969). In: Abendzeitung. In:

Presseamt Zeitungsausschnitte – Viktualienmarkt. Stadtarchiv München, 555. 1022 | Ebd. 1023 |

Budenmärkte für „Grüne Witwen“ (13. Oktober 1968). In: Stuttgarter Zeitung. In:

Presseamt Zeitungsausschnitte – Viktualienmarkt. Stadtarchiv München, 555.

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Pavillons aus bewirtschaftet werden kann.“1024 Kastanien werden gepflanzt, und die Arbeiten können schon im Juni 1974 abgeschlossen werden. „So exotisch ist in München noch keine Einweihungsfeier verlaufen: Mit Hawaii-Klängen und Mandelaugenmädchen wurde die Sitzecke in Münchens ‚Bauernstube‘, der Fußgängerzone Viktualienmarkt, eröffnet. Eine zufällig eingetroffene Studentengruppe aus Hawaii erweiterte spontan das weiß-blaue Eröffnungszeremoniell für den Biergarten am Viktualienmarkt.“1025 Neben dem Bericht sind zwei Hawaiianerinnen und eine bayerische Bedienung mit Maßkrug abgebildet. Oberbürgermeister Kronawitter wird in allen Zeitungen mit einem alten Münchner in historischer Tracht gezeigt, obwohl der Mann offenbar aus Markt Schwaben kommt.1026 Eine andere Geschichte der modernen Großstadt dreht sich 1974 um die Dirnen, Zuhälter und Gammler, die in der Nacht vom Viktualienmarkt Besitz ergreifen.1027

„M ÜNCHEN MACHT WELT WEITE M ODE : D IRNDL , WEIL SIE SO KLEIDSAM SIND .“1028 Im Jubiläumsjahr 1958 unternimmt die Journalistin Ursula von Kardorff einen „Bummel an Menschen und Schaufenstern vorbei“1029 und beschäftigt sich mit dem Lebensstil der Stadt. Flanierend stellt sie Beobachtungen an und schildert ihre Eindrücke von der Aufmachung der Leute in den verschiedenen Münchner Vierteln. „Auf dem zierlich geschwungenen Eisenstuhl sitzt eine Schöne. Ihr blaßhochmütiges Gesicht unter dem flamingorosa Hutgebilde, das mit Lyrik mehr als mit Kopfbedeckung zu tun hat, dreht sich langsam von links nach rechts. [...] Vor ihr steht, hellblond, im lässigen Pullover und nahezu genauso hübsch, eine bekannte Koryphäe der Modephotographie und betätigt immer wieder den Auslöser ihres Apparates, der auf ein Stativ gebannt ist. Das Ganze sieht stark danach aus, als ob es sich hier um die Coverstory eines Modeblattes handelt, das in die ganze Welt exportiert wird. Der Hofgarten ist eine ausgezeichnete Kulisse. Im Hintergrund der Pavillon und die zierlich plätschernden Springbrunnen, die belustig blickende, meist männliche Zuschauerschar, die begeistert von soviel Beauté und 1024 |

Beschluss des Kommunalausschusses des Münchner Stadtrats, 25. September

1973. In: Presseamt Zeitungsausschnitte – Viktualienmarkt. Stadtarchiv München, 555. 1025 |

Prost aus Hawaii für die neue Bier-Oase am Viktualienmarkt (22. Juni 1974). In:

tz. In: Presseamt Zeitungsausschnitte – Viktualienmarkt. Stadtarchiv München, 555. 1026 |

Vgl. ebd.

1027 |

Vgl. Presseamt Zeitungsausschnitte – Viktualienmarkt. Stadtarchiv München, 555.

1028 |

München macht weltweite Mode: Dirndl, weil sie so kleidsam sind. Artikel ohne An-

gabe, Mai 1972. In: Trachtenmode 1920-1970. Von Parish-Kostümbibliothek München. 1029 |

Vgl. Kardorff, Ursula von (1958): Bummel an Menschen und Schaufenstern vorbei.

In: Flügel, Rolf (Hg.): Lebendiges München. Hg. im Auftrag der Landeshauptstadt München. München, S. 385-394.

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Routine ist.“1030 Die Reporterin bezieht die einzelnen Situationen stets auf die ästhetischen Qualitäten der gesamten Stadt. In ihren Augen wirkt München weltläufig, aufgeschlossen und tolerant; Ursula von Kardorff bedauert zwar den Status als „Großstadt ohne City“1031 , hält München aber „durchaus nicht für provinziell“1032 . Ein schwarzer Mann, schreibt Ursula von Kardorff, läuft in einem blauen Overall, mit weißen Schuhen und einer leuchtend roten Quaste auf seiner Baskenmütze durch den Hofgarten und wird trotz seiner auffallenden Kleidung kaum beachtet, in einer solchen Szene zeigt München das Flair einer Metropole. „Auch wüßte ich nicht, in welcher Stadt der wiederaufgebauten Bundesrepublik noch eine solche Mischung von bohemehafter Unbekümmertheit und Eleganz auf den Straßen, in den Lokalen und Läden zu finden ist.“1033 Durch das mondäne Erscheinen der Studentinnen und Studenten an der Ludwigstraße wirkt München auf Ursula von Kardorff wie Paris. Die Journalistin verweist auf die oft beschworene Eigenschaft der Stadt, „[...] daß hier jeder auf seine Fasson verrückt-selig werden kann“1034 . In schmal geschnittenen Hosen und Kapuzenjacken bewegen sich Studentinnen durch Schwabing, junge Frauen tragen im Sommer bunte Röcke und Ledersandalen. „Die Münchner Mädchen, das heißt die Mädchen, die man in München sieht, von denen die wenigsten mit Isarwasser getauft sind, haben die gleiche Note zum Smart-Sportlichen wie die Männer. Dirndlkleider sieht man höchstens an sommerfrischfrohen Rheinländerinnen. Dirndl trägt man auf dem Land, auf den Hütten, in den Kurorten, aber nicht in der Stadt.“1035 Verabredungen werden in einem der vielen Lokale oder in einem Espresso auf dem Boulevard Leopold getroffen. „Durch die schmalen Münchner Straßen zieht sich eine ununterbrochene chromblitzende Reihe lackneuer Autos, vom Straßendampfer aus Chikago oder Hollywood bis zum grotesk bemalten und beschrifteten Dixi, Jahrgang 1925. Wenn die Radler immer mehr abnehmen, so nehmen die knatterfreudigen Mopedsauser und die Rollerfahrerinnen, mit buntem Kopftuch geschmückt, immer mehr zu. Wer sich auf den Bürgersteig flüchtet, wird von rollerhüpfenden oder rollschuhfahrenden Kindern fast umgefahren. Entsprechende Unterhaltungen werden meist in großer Lautstärke geführt. Schließlich ist das noch viel lärmfreudigere Italien nicht allzu weit.“1036 In den neu gebauten Arealen, aber auch an den historischen Orten der Stadt schreiten Damen in hellen Blusen, grauen Röcken und rehbraunen Lederjacken „hochhackig durch die

1030 |

Kardorff 1958: S. 385.

1031 |

Ebd.: S. 386.

1032 |

Ebd.

1033 |

Ebd.: S. 390.

1034 |

Ebd.: S. 386.

1035 |

Ebd.: S. 386-387.

1036 |

Ebd.: S. 387.

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Passagen“1037. Ihre Begleiter sind zumeist lässig, sportiv und farbenfroh angezogen und treten weder im „messerscharfen Bügelfaltentum“1038, noch zu beamtenhaft und schon gar nicht im „militärfromm gehaltenen Dreimilimeterhaar“1039 auf, nach der Art bayerischer Großgrundbesitzer tragen sie allerdings mitunter auch „malerische Hüte“1040 aus Filz. „Die Krachlederne scheint ziemlich verschwunden. Der kleine dicke Mann in der Kurzen (die die Preußen, zum hochgradigen Entsetzen der Bayern, ‚Sepplhose‘ nennen) mit Bauch, Zwicker und Gamsbart – unsterblich geworden durch Ludwig Thoma, [Olaf ] Gulbransson und Karl Arnold im Simplicissimus –, diese seltsame Figur, die auf Revuen in Paris und Karikaturen in England immer wieder den Deutschen schlechthin kennzeichnen soll, dieser Typ ist so gut wie verschwunden.“1041 Parallel zu der Reportage, in der sich Ursula von Kardorff mit der Mode und der Modernität von München befasst, berichtet der Stadtheimatpfleger Volker Laturell ebenfalls von einer Begebenheit, bei der die Ästhetik von München am Exempel von Kleidern verhandelt wird. Der dritte Bürgermeister Adolf Hieber regt anlässlich des Stadtjubiläums an, eine „Münchner Festtracht“ für die Feierlichkeiten entwerfen zu lassen. „Da kommen wir sonst monatelang nicht aus Frack und Smoking heraus.“1042 Im Rahmen der 800-Jahr-Feier wird aus dem Grund der Versuch einer Trachtenerneuerung unternommen. Weil historische Trachten seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert nicht mehr in ihrer eigentlichen Verwendung weiterentwickelt, sondern als Bestand gepflegt werden, bemühen sich versierte Kennerinnen und Kenner bei dem Verfahren, Schnittmuster und Materialien in die Gegenwart zu übersetzen.1043 Die Volkskundlerin Barbara Brückner erhält den Auftrag, die Jubiläumsstücke zu gestalten. Die erneuerten Modelle, die von Wallach produziert und im November 1957 in den Räumlichkeiten des renommierten Trachtenhauses der Öffentlichkeit vorgestellt werden, stoßen aber nicht auf das erhoffte Interesse. Obgleich Fernsehen, Rundfunk und Presse überregional von den Kleidern berichten, reagieren die Münchnerinnen, allen voran Käthe Wimmer, die Ehefrau des Oberbürgermeisters, die Schauspielerinnen Liesl Karlstadt und Erni Singerl oder auch die Karikaturistin Franziska Bilek, ablehnend auf die teuren Trachten aus Seide und Wollbrokat, die Wallach hergestellt hat. Und Carolin Reiber, die bereits gekürte Jubiläumsprinzessin der Faschingsgesellschaft Narhalla, äußert ernsthafte 1037 |

Ebd.: S. 388.

1038 |

Ebd.

1039 |

Ebd.

1040 |

Ebd.

1041 |

Ebd.: S. 388-389.

1042 |

Erinnerungen von Adolf Hieber, 1957. Zitiert nach: Laturell, Volker D. (1998):

Trachten in und um München: Geschichte – Entwicklung – Erneuerung. Hg. vom Kulturreferat der Landeshauptstadt München. München, S. 105. 1043 |

Vgl. Pesendorfer, Gudrun (1982): Lebendige Tracht in Tirol. Innsbruck.

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Bedenken in Bezug auf die Authentizität der präsentierten Gewänder.1044 Käthe Wimmer hält die Tracht für unpraktisch und tut öffentlich kund, dass sie mit Sicherheit von einem Kauf absehen wird. Die schweren Tuche finden ebenso wenig Anklang wie die steife Ausarbeitung. Zudem gibt es in der Stadt, klagt Käthe Wimmer, keine Gelegenheit zum Tragen eines solchen Kostüms. „Weder im Theater, noch bei Cocktail-Parties kann man sie verwenden, im Sommer ist sie auch viel zu warm. Ja, beim Trachtenzug oder im Fasching, wenn man als Altmünchnerin gehen will, da ist sie natürlich am Platz.“1045 Die Initiative scheitert, und Adolf Hieber, von dem die Idee schließlich ausgegangen ist, verspricht, die Tracht zumindest beim Anstich auf dem Oktoberfest zu tragen; weil aber Thomas Wimmer nicht einverstanden ist, erscheint auch der dritte Bürgermeister wie gewohnt in Anzug und Krawatte im Festzelt der Familie Schottenhamel.1046 Während das größte Volksfest der Welt für die Repräsentation der Stadt in den 1960er Jahren immer bedeutsamer wird, wirbt die Firma Loden-Frey 1968 erstmals mit einem speziellen Angebot zu diesem Anlass. „Höchste Zeit zum TrachtenTragen! Einmal, weil die Wiesnzeit da ist – und zweitens weil dieser Herbst ein so farbenfrohes, lebendiges Bild der Trachtenmode zeigt, wie nie zuvor.“1047 Konkret wird für ein Lodenkostüm mit Cape für 340 DM geworben, ein „schmeichelndes Dirndl“ ist für 119 DM zu haben. Während die erneuerten Modelle den Ansprüchen der ausgehenden 1950er Jahren weder in ihrer Funktion noch in ihrer Ästhetik genügen, wandelt sich in der modernisierten Stadt auch der Umgang mit Traditionen; einen analogen Prozess skizziert Detlef Ipsen: „Ländliches Wohnen auf dem Land oder gar in der Stadt spiegelt den Wandel der Raumbilder gut wider. In den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts standen viele dem bäuerlichen Leben noch so nah, dass sie sich davon in dem Streben, modern zu sein, behindert fühlten. Der Abriss der Häuser, der Bau neuer städtischer Wohnungen auf dem Land, die Flächensanierung städtischer Dörfer entsprach einer inneren Lösung von einem Bild des Lebens, das man hinter sich bringen wollte. Am Anfang dieser Entwicklung ging es darum, Dörfer zu säubern und zu ordnen.“1048 In den 1960er Jahren wird München zur Postmetropolis, und unter diesen Bedingungen gewinnen auch lokale Besonderheiten wieder an Bedeutung. Zugleich finden sich Formen, die das Thema Volkskultur auf moderne Weise interpretieren lassen. Paradigmatisch lässt sich die Entwicklung von Stadt und Region am Exempel des Dirndls zeigen, das im ausgehenden 19. Jahrhundert in der bayerisch-österreichischen Alpenregion entstanden ist. Wie die österreichische Volkskundlerin Gexi Tostmann erklärt, hat 1044 |

Vgl. Laturell 1998: S. 104-106.

1045 |

Vgl. Erinnerungen von Käthe Wimmer, 1957. Zitiert nach: Laturell 1998: S. 106.

1046 |

Vgl. Laturell 1998: S. 105-106.

1047 |

Der Trachten-Tip von Loden-Frey. München, September 1968. In: Trachtenmode

1920-1970. Von Parish-Kostümbibliothek München. 1048 |

Ipsen 2003: S. 4.

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eine einfallsreiche Schneiderin aus dem Untergewand der Mägde und Mädchen, im Bairischen Dirndl genannt, ein Ferienkleid für die Städterinnen in der Sommerfrische auf dem Land kreiert.1049 In ihren Ausführungen zur Geschichte der Trachtenmode erwähnt die Volkskundlerin Christel Fischer zwei Abbildungen in einer Ausgabe der Zeitschrift Dame aus dem Jahr 1913. „Soweit aus der Zeichnung zu entnehmen ist, handelt sich um den üblichen ländlichen mit kleinen Streublümchen bedruckten Baumwollstoff.“1050 Die Ansicht des Kinderdirndls mit angereihtem Rock illustriert die Gestaltung; „[d]er Rücken ist durch die Mittelnaht geteilt, zwei rund verlaufende seitliche Nähte markieren den Taillensitz. Dies bezeichnet die Grundlinie, die das städtische Dirndlkleid mit jeweiligen zeitmodischen Abänderungen in Ausschnittführung, Ärmelgestaltung, Rocklänge und dergleichen von nun an beibehalten sollte.“1051 Wenngleich das Dirndl auch in ländlichen Regionen getragen wird, ist das moderne Kleid doch von Anfang an ein urbanes Phänomen, das sich sowohl auf lokale Besonderheiten wie auf Vorstellungsbilder bezieht und zugleich modisch wie identitätsstiftend wirkt. Obwohl sich die Silhouette durchaus an alten Schnitten orientiert, und in die Gestaltung der Oberfläche mitunter auch aufwendige Verzierungen einfließen, unterscheidet sich das Dirndl als hybride Ausdrucksform generell von historischen Trachten. Diese aufwendig gearbeiteten, oft mehrteiligen Kleider aus Halbseide und anderem wertvollen Material entfalteten sich besonders prachtvoll mit der Aufklärung und dem Wegfall der Ständeordnung um 1800 und wurden an katholischen Sonn- und Feiertagen in regional unterschiedlichen Ausführungen getragen.1052 In Folge der Industrialisierung, mit der maschinellen Herstellung von Stoffen und dem damit einhergehenden Bedeutungswandel, gesellschaftlichen Veränderungen und dem Anwachsen der Großstädte waren diese Kleider im 19. Jahrhundert zusehends im Verschwinden begriffen, während die Wittelsbacher im Gegenzug begannen, den Erhalt der historischen Trachten zu unterstützen und das Motiv gleichsam politisch zu nutzen. Der ästhetischen Qualität der historischen und der modernen Stücke kam auch mit dem Fremdenverkehr gesteigerte Aufmerksamkeit zu.1053 In München schrieben sich die Brüder Julius und Moritz Wallach und ihr am 9. November 1920 in der Ludwigstraße 7 eröffnetes „Haus für Volkskunst 1049 |

Vgl. Tostmann 1998: S. 11.

1050 |

Fischer, Christel (1994): Trachtenmode und modische Tracht. Historische Studien

zu Erfindung und Wandlungen von Kostüm und Dirndl bis 1960. In: Jahrbuch für Volkskunde. N.F. 17, S. 55-96. Hier: S. 62-63. 1051 |

Ebd.

1052 |

Vgl. Kirch, Katja (1998): Von der Mode zum Relikt. Anmerkungen zum Wandel des

Begriffs „Tracht“ vom 16. bis zum 19. Jahrhundert. In: Tracht – eine heimatpflegerische Aufgabe. Schönere Heimat. Erbe und Auftrag. 87. Jg., Sonderheft II, S. 17-21. Hier: S. 17. 1053 |

Vgl. Köstlin, Konrad (1994): Reisen, regionale Kultur und die Moderne. Wie die

Menschen modern wurden, das Reisen lernten und dabei die Region entdeckten. In:

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und Tracht“ die Etablierung des Dirndlg’wands auf die Fahnen.1054 Die Familie aus Westfalen, die sich Bayern tief verbunden fühlte und seit 1900 in München eine ethnographische Sammlung aus vielen Regionen Europas zusammenstellte, präsentierte die Kleider unter anderem als Ausstatter der Operette „Weißes Rössl“. Wie die Volkskundlerin Monika Ständecke resümiert, löste die populäre Inszenierung in den 1930er Jahren eine Hochkonjunktur der Trachtenbekleidung aus.1055 1936 sorgten zudem auch die Olympischen Winterspiele in Garmisch-Partenkirchen für eine Beförderung des Trends. Die ideologische Besetzung von Volkskultur durch die Nationalsozialisten wird an zwei Szenen besonders deutlich. Bekannt sind einmal die Filmaufnahmen von Hitlers Lebensgefährtin Eva Braun im Dirndl auf dem Obersalzberg nahe Berchtesgaden; in den 1930 Jahren wurde es jüdischen Sommergästen in Salzburg, unter ihnen auch Sigmund Freud, andererseits verboten, Trachten zu tragen.1056 Dirndl und Lodenkostüme blieben auch nach 1945 beliebt, aus Uniformjacken und Fahnenstoffen ließen sich wiederum zeitlose Janker und Dirndl schneidern. Während Heimatfilme wie „Grün ist die Heide“ Flucht und Vertreibung mittels Folklore thematisierten1057, entsprach das Dirndl mit seiner schmalen Taille und der Betonung der Schulterpartie auch dem New Look des französischen Designers Christian Dior.1058 Wie die Episode von Volker Laturell und die Geschichte von Ursula von Kardorff zeigen, sind Trachten in den ausgehenden 1950er Jahren keine Kleider für die breite Masse, erst nach einer Phase der Konsolidierung können Lodenkostüme und vor allem Dirndl von einer jüngeren Generation wieder mit positiven Bedeutungen belegt werden.1059 Die Kunsthistorikerin Sigrid Epp befasst sich mit der Geschichte der Mode in München nach 1945 und legt in ihrer Publikation dar, dass sich die TextilprodukPöttler, Burkhard; Kammerhofer-Aggermann, Ulrike (Hg.): Tourismus und Regionalkultur. Referate der Österreichischen Volkskundetagung 1992 in Salzburg. Wien, S. 11-24. Hier: S. 12. 1054 |

Laturell 1998: S. 39.

1055 |

Vgl. Ständecke, Monika (2005): ‚Wallach‘ in München. In: Kettemann, Otto (Hg.):

Aus Lieb zum Gebirg. Trachten-Vereine im Allgäu. Begleitband zur Sonderausstellung im Schwäbischen Bauernhofmuseum Illerbeuren vom 7. Mai bis 16. Oktober 2005. KronburgIllerbeuren, S. 141-142. Hier: 142. 1056 |

Vgl. Kammerhofer-Aggermann, Ulrike (1993): Salzburger Tracht zwischen Entdek-

kung und Erfindung. In: Kammerhofer-Aggermann, Ulrike; Scope, Alma; Haas, Walburga (Hg.): Trachten nicht für jedermann? Heimatideologie und Festspieltourismus dargestellt am Kleidungsverhalten in Salzburg zwischen 1920 und 1938. Salzburg, S. 9-24. 1057 |

Vgl. Sowade, Hanno (2005): Das Thema im westdeutschen Nachkriegsfilm. In:

Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): Flucht – Vertreibung – Integration. Bonn, S. 124-131. Hier: S. 126-129. 1058 |

Vgl. Loschek, Ingrid (1999): Reclams Mode- & Kostümlexikon. Stuttgart, S.

363-364. 1059 |

Vgl. Egger 2008: S. 42-43.

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tion der Stadt vor dem Zweiten Weltkrieg hauptsächlich auf die Fertigung von Sport- und Trachtenbekleidung sowie die Fabrikation von Leder und Loden konzentrierte. In den 1950er Jahren eröffneten Modellhäuser, und auch in München brachten Designerinnen und Designer eigene Kollektionen heraus, die sich an den Trends der französischen Haute Couture orientierten. Unternehmen, die aus Berlin und den Gebieten des ehemaligen Deutschen Reichs nach Bayern gekommen waren, begannen sich ebenfalls auf dem Markt zu etablieren. Bedarf war nach dem Krieg vorhanden und mit dem Wirtschaftswunder stand den Kundinnen und Kunden auch das entsprechende Geld zur Verfügung. Die Geschäfte entwickelten sich, „Leitfaden der Modebranche in all ihren Bereichen konnten weiterhin die bisherigen ‚bayerischen Domänen‘ bleiben: Trachten- und Sportbekleidung [...].“1060 Nicht nur Entwürfe aus Frankreich werden in der Konfektion aufgegriffen, auch der Münchner Stil mit seiner frischen, praktischen und sportlichen Art, in unterschiedlichen Kombinationen ist immer wieder von diesen Eigenschaften die Rede, fließt in die Linien der lokalen Unternehmen ein. Wie die österreichische Kulturwissenschaftlerin Thekla Weissengruber anmerkt, vollzieht sich „[i]n den [19]60er Jahren [...] der eigentliche Aufschwung des Austrian Look oder Bavarian Style“1061 . Der Textilmarkt in der bayerischen Landeshauptstadt kann bald hohe Zuwachsraten verbuchen, und die „Münchner Modewoche“, ein Zusammenschluss der Branche und zugleich eine Messe, wird zur Marke.1062 „Das anmutige Kind der alpenländischen Volkstracht hat sich in aller Welt Freunde erworben. Die meist buntbedruckten oder buntgewebten Sommerdirndkleider aus Baumwolle mit knappem, figurbetontem Mieder, weitem, gekraustem Rock und andersfarbiger Schürze mischen sich als frischer Feldblumenstrauß in die Modepalette der Ferienzeit und spiegeln liebenswürdige Natürlichkeit, ländliche Lebensfreude und Frohsinn wider“,1063 ist 1964 in der Zeitschrift Freundin zu lesen. Helge Gerndt geht im Zusammenhang mit der Großstadt davon aus, dass das „[...] oft beschworene Lokalkolorit, das die Atmosphäre einer Stadt wesentlich mitbestimmt, in der privaten Alltagswelt durchaus nicht fehlen [muss].“1064 Das Dirndl geht von historischen Formen aus und ist doch ein modernes Kleid, das sich von Einzelnen aneignen lässt und ebenso für den übergeordneten Kontext einer Stadt oder Region stehen kann. „Dirndl hab ich natürlich auch getragen“,1065 erinnert sich die Münchnerin Angelika Grimm. Mit einem Angebot „Exclusiv für Bayern“ bewer1060 |

Epp, Sigrid (2001): Kleider machen Münchner. Die Geschichte der Mode in Mün-

chen von 1945-2000. München, S. 66. 1061 |

Weissengruber, Thekla (2004): Zwischen Pflege und Kommerz. Studien zum Um-

gang mit Trachten in Österreich nach 1945. Wien, S. 105. 1062 |

Epp 2001: S. 66.

1063 |

Fröhliche Dirndl. In: Freundin, Juli 1964. In: Trachtenmode 1920-1970. Von Pa-

rish-Kostümbibliothek München. 1064 |

Gerndt 2002: S. 68.

1065 |

Gespräch mit Angelika Grimm am 12. Dezember 2010.

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ben die Firmen Jacobs und Burda im Sommer 1970. „Wünschen Sie sich ein neues Dirndl? Für ihren Sommersonntag? Für den festlichen Kaffee im Sonnenschein? Jacobs verschenkt 1000 bunte Burda-Dirndl-Päckchen!“1066 Auf der Abbildung in der Annonce sind verschiedene Modelle in kurzen Dirndln zu sehen. Das Paket beinhaltet Stoffe, den Schnitt, Kaffee und Geld für die Schneiderin sowie das neue Dirndlmodenheft von Burda.1067 Im Jahr 1972 meldet die Neue Post: „In diesem Jahr gibt es einen Dirndl-Sommer, wie man ihn bisher wohl noch kaum erlebt hat. Von der Isar bis zur Elbe tragen Frauen die charmanteste, weiblichste und fröhlichste Mode, die das Olympia-Jahr zu bieten hat.“1068 Die Volkskundlerin Nina Gockerell nennt es „[b]ezeichnend [...], daß auch für die Hostessen der XX. Olympiade in München sogenannte ‚Dirndlkleider‘ – sehr stilisierte allerdings – als Uniform gewählt wurden – wie enttäuscht wäre die Welt gewesen, in München Mädchen in modischer Kleidung statt im Dirndl zu sehen!“1069 Zahllose Privataufnahmen von den Spielen zeigen Besucherinnen aus aller Welt im Miederrock. Schon 1966 haben Hostessen im Dirndl die OlympiaBewerbung in Rom unterstützt. Zu den Spielen nach Mexiko reist 1968 eine offizielle Delegation aus München, und wieder ist eine Gruppe junger Frauen dabei, die für die bayerische Landeshauptstadt Reklame machen. In einer Sonderausgabe des Magazins Münchner Leben, das anlässlich von Olympia erscheint, schreibt der Journalist Hermann Reichart über ein Projekt der „Modewoche“. „Kein Geringerer als Heinz Oestergaard, der Wahlmünchner aus Berlin hat unsere Hostessen für die Präsentation des Organisationskomitees der Olympischen Spiele von München für Mexico eingekleidet. Seine Idee: Die Jugend in ihrer Frische und Begeisterung für den Sport zu zeigen, in ihrer Begeisterung für das Schöne. Die Münchner Olympia-Hostessen sollen ihre Aufgabe in Mexico City mit Charme lösen und der internationalen Presse, die sie zu betreuen haben, etwas von der besonderen Münchner Atmosphäre vermitteln. Das Dekolleté erinnert an den Dirndl-Look; zur Grundfarbe Rot wählte der Modeschöpfer Weiß und Marineblau. Somit ist schon jetzt, vier Jahre vor dem Beginn der XX. Olympischen Sommerspiele in München, im ersten Schritt verwirklicht, wozu sich nach der Entscheidung des IOC in Rom im April 1966 die Münchner Modeindustrie bereit erklärte: Im Namen der ModeWoche-München hatte damals Direktor Alfred Wurm Münchens Oberbürgermeister Dr. Hans-Jochen Vogel das Angebot gemacht, die Einkleidung der Hostessen 1066 |

Annonce der Firmen Jacobs und Burda (12. Juni 1970). In: Abendzeitung, S. 9. In:

Zeitungsarchiv der Bibliothek der Institute am Englischen Garten. 1067 |

Vgl. ebd.

1068 |

Die fröhlichste Mode im Olympia-Jahr. In: Neue Post. April 1972. S. 36. In: Trach-

tenmode 1920-1970. Von Parish-Kostümbibliothek München. 1069 |

Gockerell, Nina (1974): Das Bayernbild in der literarischen und “wissenschaftlichen“

Wertung durch fünf Jahrhunderte. Volkskundliche Überlegungen über die Konstanten und Varianten des Auto- und Heterostereotyps eines deutschen Stamms. München, S. 299.

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für die Spiele von München zu übernehmen. Die Verantwortlichen des Organisationskomitees für die XX. Olympiade München 1972 baten Heinz Oestergaard um Entwürfe und Vorschläge, aus denen sie rechtzeitig für Mexico ihre Auswahl trafen.“1070 An der Ausstattung der Hostessen beteiligen sich lokale Unternehmen wie der Handschuhhersteller Roeckl, der Brillenproduzent Rodenstock, der Unterwäschefabrikant Triumph International und ebenso Firmen aus dem gesamten Bundesgebiet. Zur Weltausstellung im japanischen Osaka repräsentieren 1970 wieder Hostessen im Dirndl die „Weltstadt mit Herz“, im selben Jahr wird Uschi Badenberg zur Schönen Münchnerin gekürt und ist in Fernsehsendungen und Werbefilmen, auf Fotografien und Pressebildern im Dirndl zu sehen.1071 Otl Aicher übernimmt als Gestaltungsbeauftragter der Spiele auch die Ausstattung der Mitwirkenden und zieht den französischen Starcouturier André Courrèges zur Beratung hinzu, von Oestergaard ist nicht mehr die Rede.1072 Mag die Verwendung des Dirndls bei der Gestaltung der Kostüme zunächst auch ein Kompromiss gewesen sein, wird das hellblaue Kleid mit der Strahlenspirale auf der weißen Schürze ein unverwechselbares Motiv von München. Einen Höhepunkt erlebt die Konjunktur des Miederrocks im Olympiajahr 1972, im Blickpunkt der globalen Öffentlichkeit tragen 1500 Hostessen in Dirndln das heitere Image der Spiele zur Schau. „Nicht erst die Olympiade hat München zum Traumziel aller Welt gemacht – seit eh und je ließ das Flair der Weltstadt mit Herz den nicht mehr los, den es je in seinen Bann gezogen. Die gelungene Mischung von Tradition und Fortschritt, von bayerisch-bodenständigem Ernst und warmherzigem Humor ist eine Liebe wert! Hier hat die Weltstadtmelodie noch Volksliedtöne, hier weiß man zu leben, hier hat die Romantik noch Raum! Kein Wunder, daß das Dirndl, seit eh und je als Gebirgstracht bekannt, doch nur örtlich begrenzt getragen, von München aus einen unvergleichlichen Sieg errang. Erstklassige Stylisten nahmen sich seiner an, setzten seine Ideen in wertvollen Stoffen um, gaben luxuriöse Spitzen und Stickereien dazu. Nun ist es in der Garderobe jeder modebewussten Frau zu Hause. Das urwüchsige, originelle, farbenbunte Dirndl ist ‚salonfähig‘ geworden.“1073 Das bayerische Kleid reiht sich ein in den Kanon eines internationalen Folklore-Looks, ob Kaftan, Tunika oder chinesische Seidenbluse, Zitate aus aller Welt werden in politisch bewegten Zeiten mit romantischen Rüschen und Kleidern aus dem Second-Hand zusammengesetzt. „Die Sensation aber wurde 1976 Yves Saint Laurents ‚Edel-Bäuerinnen-Look‘: bunte Bäuerinnentrachten in dumpf glänzenden Materia-

1070 |

Reichart, Hermann (1968): Heinz Oestergaard in Mexico für München. Initiative

der Modewoche München. In: Münchner Leben, Olympia-Sonderheft Oktober 1968. 1071 |

Vgl. Organisationskomitee für die Spiele – Organisation 1972: S.205.

1072 |

Vgl. Gespräch mit Rolf Müller am 27. Oktober 2010.

1073 |

München macht weltweite Mode: Dirndl, weil sie so kleidsam sind. Artikel ohne An-

gabe, Mai 1972. In: Trachtenmode 1920-1970. Von Parish-Kostümbibliothek München.

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lien und ungewohnten Farbkombinationen wie rot, lila, orange und rosa, die Nähte durch Paspeln und Borten stark betont.“1074 Bei gesellschaftlichen Anlässen wird immer nachdrücklicher auf die Ästhetik des Lokalen hingewiesen, auch Politiker und Prominente zeigen sich immer häufiger in Tracht, während die Bildmedien zusehends an Bedeutung gewinnen. „Am Samstag präsentierte sich München als Hauptstadt des Biers. Nach einem bis ins Mittelalter zurückreichenden Brauch feierten die sieben Münchner Großbrauereien mit einem Gottesdienst in der Peterskirche, einem Festzug und einem Standkonzert auf dem Viktualienmarkt ihren traditionellen Brauerfesttag. Auch das Freibier floß in Strömen. Zu schneidigen weiß-blauen Weisen kämpften einige tausend Münchner um die mit schäumendem Export-Hell gefüllten Pappbecher. [...] Auch die Münchner Sudhausprominenz war, verstärkt durch den ehemaligen Landwirtschaftsminister Dr. Alois Hundhammer, in einheitlichem Trachten-Look mit von der Partie. [...] Unter dem Maibaum auf dem Viktualienmarkt tanzten die Schäffler bei sommerlichen Temperaturen zur Melodie ‚Aba heid is’ koid‘. Eine Trachtengruppe aus Siegsdorf legte einen strammen Schuhplattler aufs Bretterpodium. [...] Die Prominenz zog sich bald vom Bierschlachtfeld in die beschaulichere Atmosphäre des Alten Rathaussaales zurück, wo die Stadt zu einem Frühschoppen eingeladen hatte. Bürgermeister Albert Bayerle hieß die Gäste willkommen und stimmte in seiner Rede ein Loblied auf die Münchner Gemütlichkeit an. Welch starken Anklang die Münchner Art in aller Welt finde, hätten erst wieder die Veranstaltungen der Stadt auf der Weltausstellung in Osaka und in der Schwesterstadt Bordeaux bewiesen. Es gelte daher, die Deutschland-Werbung im Ausland noch stärker auf weiß-blaues Kolorit abzustellen. Der Vorsitzende des Vereins der Münchner Brauereien, Dr. Bernhard Bergdolt, versicherte, daß sich die Münchner Brauer auch in Zukunft um die Erhaltung des Ruhmes der Bierstadt München bemühen wollten.“1075 Der Volkskundler Gottfried Korff fasst zusammen, dass sich in der Zeit von 1850 bis 1950 neben einer urbanen Kultur auch eine urbane Festkultur in den Städten entwickelt hat, die sich vor allem an den Konzepten Traditionalismus und Lokalismus orientiert. In den nachfolgenden Jahrzehnten kommen immer mehr kommunal- und kulturpolitische Bedeutungszuweisungen und Handlungspraktiken hinzu, zu denken ist beispielsweise an das Anzapfen des ersten Fasses auf dem Oktoberfest durch den Münchner Oberbürgermeister.1076 Gleichzeitig beginnt 1074 |

Loschek, Ingrid (1988): Mode im 20. Jahrhundert. Eine Kulturgeschichte unserer

Zeit. München, S. 298, 301-302. 1075 |

Fischer, Otto (8. Juni 1970): Stehausschank zwischen Standln. In: Süddeutsche Zei-

tung. In: Presseamt Zeitungsausschnitte – Viktualienmarkt. Stadtarchiv München, 555. 1076 |

Korff, Gottfried (2006): Neue Strukturen einer urbanen Festkultur auf dem Weg

zur Festivalisierung und Kommerzialisierung. In: Saldern, Adelheid von (Hg.): Stadt und

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sich die Festkultur durch die zunehmende Festivalisierung, Eventisierung und Kommerzialisierung zu verändern, wie Korff konstatiert. „Die Wandlungen der 1970er haben das Lokalismus-Traditionalismus-Syndrom gleichermaßen gestärkt und geschwächt: Geschwächt durch eine Ausweitung in deren Tendenz eine Überdehnung angelegt war, gestärkt durch die Einbettung in ausdifferenzierte städtische Lebenswelten.“1077 Otl Aicher passt das Dirndl idealtypisch in das Konzept der Spiele von 1972 ein; weiß und blau, die Farben des bayerischen Himmels sind die Farben der Olympiade, und die rund 1500 Hostessen in ihren hellblauen Dirndln repräsentieren München vor den Augen der Welt. Der Bedarf an Identifikationsmöglichkeiten, meint der Volkskundler Hermann Bausinger, „[...] führt auch dazu, dass alte Traditionen neu geschaffen werden. Der bewegten, durch die Modernisierung bestimmten Vielfalt wird etwas entgegengestellt, das angeblich altüberliefert ist, das aber in Wirklichkeit aus dem allgemeinen Traditionsfundus stammt, der durch Realisierungen in der engeren und weiteren Nachbarschaft, aber auch aus Büchern und wissenschaftlichen Schriften bekannt ist. Innovation und Tradition fallen in solchen Neuschöpfungen in sehr spezifischer Weise zusammen.“1078 Am 22. Februar 1968 wird das Drehrestaurant im Münchner Fernsehturm eingeweiht. „Herr Kommerzienrat Friedrich Jahn und die Wienerwald GmbH möchten die Eröffnung der Fernsehturm-Restaurants im Kreise ihrer Freunde festlich begehen. Beginn: 18.30 Uhr. Turmbesichtigung mit Apéritif und Canapées. 19.30 bis 20.30 Uhr: Unterhaltungsprogramm in der Vorhalle des Fernsehturms. Anschließend wird das Abendessen serviert.“1079 Unter anderem tritt Erni Singerl bei dem Fest auf, die Garderobe der Gäste richtet sich nach dem Hinweis auf der Einladungskarte: „Trachtenanzug/Dirndl“1080. Der österreichische Wirt Friedrich Jahn hat 1955 mit einem Lokal in der Münchner Amalienstraße angefangen und in den 1960er Jahren mit seinen Brathendln weltweit für Furore gesorgt. „Heute bleibt die Küche kalt – da geh‘n wir in den Wienerwald. Eine prächtige Idee: die ganze Familie geht sonntags in den Wienerwald. Mutti hat einmal in der Woche ‚Ferien vom Herd‘. Sie braucht nicht zu kochen, nicht anzurichten und abzuspülen! Im Wienerwald gibt es knusprige Hendl, goldbraune Pommes frites und pikante SaKommunikation in bundesrepublikanischen Umbruchszeiten. (Beiträge zur Kommunikationsgeschichte, 17) Stuttgart, S. 165-179. Hier: S. 165. 1077 |

Korff 2006: S. 166.

1078 |

Bausinger, Hermann (1992): Tradition und Modernisierung. In: Kvideland, Rei-

mund (Hg.): Tradition and Modernisation. Plenary Papers read at the 4th International Congress of the Société Internationale d‘Ethnologie et de Folklore. (NIF Publications, 25) Turku, S. 9-19. Hier: S. 15. 1079 |

Einladung zur Eröffnung der Münchner Fernsehturm-Restaurants am 22. Februar

1968. In: Zeitgeschichtliche Sammlung – Gaststätten und Hotels/Olympiaturm. Stadtarchiv München, 142/3. 1080 |

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late, – ein richtiges Sommeressen! Und dazu den köstlichen Wienerwald-Wein, auch zum Mitnehmen für zuhause, Picknick und Reise. In mehr als 70 Städten in Europa und Amerika bieten über 140 Brathendlstationen freundliche Gastlichkeit. Wienerwald – täglich von 11 Uhr vormittags bis in die späte Nacht.“1081 Fotografien zeigen den erfolgreichen Unternehmer in dieser Zeit mit Friedrich Flick und Franz Josef Strauss. Der Politiker ist 1971 auch bei der Eröffnung einer Wienerwald Grillstation am New Yorker Broadway zugegen.1082 Friedrich Jahn hat auf dem Höhepunkt seiner Karriere nicht nur das Restaurant im Fernsehturm gepachtet, das Lokal am Boden wird ebenfalls von ihm betrieben. Eine Broschüre stellt die modernen Standorte auf dem Oberwiesenfeld vor. „Eine neue Art, München zu entdecken, die Alpen und die olympischen Vorbereitungen zu sehen, das ist der Olympiaturm mit seinen exquisiten Restaurants. Damit fängt das Erlebnis an: 2 geräumige Schnell-Lifts bringen die Besucher zum Turmrestaurant und zu den Aussichtsplattformen. Die Fahrt dauert nur 30 Sekunden. (Schneller geht’s in Europa nirgends.) Die Lift’s verkehren von morgens 8 Uhr bis abends 24 Uhr. Auf der überdachten Plattform steht den Gästen eine gepflegte Snackbar zur Verfügung. In Ruhe kann man hier eine Kleinigkeit essen, eine Tasse Kaffee oder Tee trinken und dabei die überwältigende Aussicht genießen. [...] Das Turm-Restaurant ist die gastronomische Attraktion in 182 m Höhe. Das Lokal dreht sich ständig um die Achse des Turmes. Hier kann man lukullische Genüsse mit einem einmaligen Rundblick verbinden. Die Ausstattung des Restaurants ist first class. Elegant und modern. Von internationalem Zuschnitt. Im Turm-Restaurant wird alles getan, um Ihnen den Aufenthalt durch hervorragenden Service zum unvergesslichen Erlebnis zu machen. Die Speisekarte des Turm-Restaurants bietet alles, was sich der verwöhnte Gaumen wünscht. Spezialitäten aus aller Herren Länder stehen zur Wahl. Das Turm-Restaurant bietet 230 Personen Platz. Trotzdem empfiehlt es sich rechtzeitig einen oder mehrere Tische reservieren zu lassen. Für größere Gesellschaften bekommen Sie auf Wunsch auch Menu-Vorschläge zugesandt. Zum Beispiel diesen Vorschlag: Menu Feinschmeckerplatte ‚Olympiaturm‘: Butterröllchen, Toast, doppelte Hummerkraftbrühe mit Kaviarklößchen, Kapaunenbrüstchen ‚Perigora‘, Creoleneis, Gespicktes Mastochsenfilet ‚Wellington‘, Stangenspargel und Maltakartoffeln, Sauce Foyot, Walderdbeeren, Vanilleeis und Grand Marnier, Petits fours, Mocca.“1083

1081 |

Wienerwald Annonce (12. August 1964). In: Der Spiegel, Jg. 18, S. 46.

1082 |

Vgl. Jahn, Friedrich (1993): Ein Leben für den Wienerwald. Vom Kellner zum Millio-

när und zurück. München und Strauss. Greißlige Henn’ (22. März 1971). In: Der Spiegel, Jg. 24. Verfügbar unter: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-43345572.html, (11. August 2011). 1083 |

Prospekt der Wienerwald GmbH, 1968. In: Zeitgeschichtliche Sammlung – Gast-

stätten und Hotels/Olympiaturm. Stadtarchiv München, 142/3.

10. „Schwabing ist der großzügigste 10. Bezirk der toleranten Stadt.“ 1084

„Von einem Gammler floß das – leicht verkrustete – Wasser, aus dem Wedekindbrunnen die Limonade und von den Nacken der 3000 Neugierigen der Schweiß. Solche verschiedenartige Niederschläge finden sich beim ersten internationalen Mondschein-Happening in Schwabing, dem München einen Teil seiner Popularität und seine Krawalle verdankt. Eigentlich war alles nur ein Reklamegag. Die Gebrüder Anusch und Temur Samy, Teppichhändler a. D. und Jungunternehmer, hatten alles, was in Schwabing keinen Rang und Namen hatte, zur Eröffnung ihres ‚Drugstore‘ am Wedekindplatz, dem traditionellen Treffpunkt der internationalen Gammlerelite, eingeladen. In allem baten sie 2000 Gäste zu sich, obwohl das neue Restaurant bestenfalls 200 Leuten Platz bietet, Stehplätze eingerechnet. Das erste, das diesem Mißverhältnis von Angebot und Nachfrage weichen mußte, war die spiegelblanke ultramoderne Drehtür des ‚Drugstore‘. Sie flog in tausend Stücke, als die Menge geladener und nicht geladener Gäste versuchte, auf einmal durch diese Pforte des Glücks zu wandeln, hinter der laut Schwabinger Flüsterparole Bier und Whisky wie im Schlaraffenland fließen sollten. Das taten sie auch, nur meist auf die Anzüge diverser Existentialisten, die dann meist ihre philosophische Abgeklärtheit schlagartig ablegten und auf ‚g’schert bayrisch‘ durch ihre Bärte fluchten. Während man Bauch an Bauch und Hühnerauge auf Hühnerauge traulich beisammenstand, ging vor dem Lokal auch schon die Gammlerwaschung los. Wie sich erst später herausstellte, hatte die Polizei der Waschung beinahe einen Strich durch die Badewanne gemacht, indem sie nur wenige Tage vor dem Happening vorsichtshalber die 50 prominentesten Schwabinger Gammler einlochte, darunter auch den zu Waschenden. Aber die Veranstalter fanden in letzter Minute noch einen heruntergekommenen Langhaarigen, dem der erste Flaum ums Kinn sproß und der für 100 DM in die lila Wanne stieg. [...] ‚Das ist ja gar kein Gammler mehr, das ist ja der Herr Heinemann‘, meinte der Figaro, als er dem frischgewaschenen und wohlriechenden Ersatzgammler die Haare stutzte, wenn auch nur um einige Zentimeter. Zwei Damen manikürten dem Herrn Heinemann, 17, die Hände, während er in geblümter Badehose und gelbem Bademantel Gammlerweisheiten von sich gab: ‚Vorher war ich nichts – aber jetzt ... kann ich’s mir leisten mir die Haare wieder wachsen zu lassen. Das Bad wird auch eine zeitlang reichen.‘ Während jedoch Heinemann, glänzend wie Apoll, dem erquickenden Bad entstieg, und aus dem Gammlerbrunnen die Limonade des ‚Drugstore‘ in lechzende Mäuler troff, 1084 |

München (1963): Großstadt mit Tradition und Zukunft. Image-Film der Landes-

hauptstadt München. In: Stadtarchiv München.

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rann innen von den Ehrengästen mehr und mehr der Schweiß. Sechs Recken der Wach- und Schließgesellschaft sollten ihrem Namen alle Ehre machen und die letzte übrig gebliebene Tür verschließen, doch die Menge wogte wie eine Brandung durch das Lokal. Nur die Ehrengarde vermochte Gammler Heinemann mit Püffen und Stößen in das Lokal zu geleiten. Draußen hagelte es dann Ohrfeigen für einige Happening-Brüder, die sich mit Brachialgewalt Einlaß verschaffen wollten. Und auf der Treppe des Lokals entbrannte ein heftiger Streit zwischen einer busenlosen Engländerin in Goldhosen und einem Mannequin über das Thema ‚Wer ist die Dürrste im ganzen Land‘. Ein russischer Ober schenkte Wasser in Pappbechern aus, und die Radaubrüder vor der Tür forderten im Chor, doch Bier aus dem Brunnen laufen zu lassen. Ein australischer Beatnik wollte wissen, wo man LSD kaufen könne und schimpfte, weil es das nicht gab. Erst Stunden später gelang es einigen Mutigen, die Stätten des Kampfes zu verlassen.“1085 Der Bericht in der Passauer Neuen Presse lässt das Gedränge vor dem „Drugstore“ fast hautnah miterleben. In der Ästhetik des Textes ist die Atmosphäre des Abends zu spüren, zugleich vermittelt sich die Faszination, die seit dem 19. Jahrhundert von Schwabing ausgeht. Die Beschreibung der Situation, die am Wedekindplatz zu beobachten ist, die Menschen und die detailliert geschilderten Begebenheiten um die Eröffnung des Lokals, lässt sich, zunächst einmal unabhängig von der Frage, ob sich alles genau so zugetragen hat, an diesem Ort vorstellen. Ein nicht unwesentlicher Teil des Viertels, das als Schwabing bezeichnet wird, gehört ohnehin zur angrenzenden Maxvorstadt. Eine der Eigenschaften, die das Quartier auch Mitte des 20. Jahrhunderts anziehend wirken lässt, ist die immer wieder in den Medien aufgegriffene und damit weit verbreitete Idee, dass in Schwabing alles möglich sein kann.1086 „Um die Biografie einer Stadt, also das Werden dessen, was sie zu einem bestimmten Zeitpunkt auch ökonomisch ist, verstehen zu können“, konstatiert Rolf Lindner, „muss die kumulative Textur der lokalen Kultur berücksichtigt werden, wie sie in Bildern, in Typifizierungen und kollektiven Repräsentationen materieller wie immaterieller Art, von Wahrzeichen, Denkmälern und Straßenschildern bis zu Anekdoten, Liedern und Citylore zum Ausdruck kommt.“1087 Die Generation der bekannten und weniger bekannten Malerinnen und Maler, Literatinnen und Literaten, die um 1900 in dem Stadtteil gelebt hat, ist in den 1960er Jahren kaum mehr in Schwabing anzutreffen. Im 19. Jahrhundert geboren, sind die meisten Akteurinnen und Akteure der Kunststadt München inzwischen 1085 |

Gammler Theo ließ sich für 100 DM sauber waschen (18. Juli 1967). In: Passauer

Neue Presse. In: Presseamt Zeitungsausschnitte – Gammler. Stadtarchiv München, 134. 1086 |

Vgl. Till, Wolfgang (1998): „Zum Mythos“. Schwabing, Cliché und große Illusionen.

In: Bauer, Helmut; Tworek, Elisabeth (Hg.): Schwabing. Kunst und Leben um 1900. Essays. Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung vom 21. Mai bis 27. September im Münchner Stadtmuseum. München, S. 9-15. 1087 |

Lindner 2008 a: S. 84-85.

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verstorben, haben Bayern bereits mit dem Ersten Weltkrieg verlassen, sind in der Zeit des Nationalsozialismus umgekommen oder ins Exil gegangen.1088 Einige sind jedoch auch zurückgekehrt oder in dem Stadtteil geblieben. „Die Originalitäten-Schau München-Schwabing zog ihn an“,1089 schreibt der Autor Wilhelm Lukas Kristl Mitte der 1970er Jahre über den Dichter Peter Paul Althaus („PPA“), der 1922 erstmals nach München kam. Unterstützt wurde diese Entscheidung von seiner Lebensgefährtin, der Lektorin Hilde Supan, die ihn in entsprechende Kreise einführte. „Schwabing, mit exzentrischen, abstrusen und geistreich amüsanten Köpfen damals gut versorgt, lag nach dem mittäglichen Glanz unter Wittelsbachischer Liberalität bereits in abendlichem Schatten.“1090 Von 1916 bis 1933 textete Althaus für Albert Langens Satirezeitschrift Simplicissimus, der Schriftsteller war mit Kollegen wie Karl Wolfskehl und Joachim Ringelnatz befreundet, die Künstlerin Marietta di Monaco blieb eine Weggefährtin für lange Jahre. Die Boheme traf sich im Café Stefanie, im Simplicissimus oder im Lokal des Buchhändlers Georg Steinicke in der Adalbertstraße 15. Althaus arbeitete für den Rundfunk und ging 1939 als Chefdramaturg des Deutschlandsenders nach Berlin. Propagandaminister Goebbels entließ ihn aber 1941, weil er dem Physiker Albert Einstein einen seiner Gedichtbände gewidmet hatte.1091 Der Dichter kämpfte im Ersten und Zweiten Weltkrieg; elf Jahre seines Lebens kosteten ihn diese Kriege, wird er in der Rückschau beklagen. Über Starnberg kam Althaus 1948 zurück nach München und eröffnete im Gasthaus „Seerose“ einen Künstlertreff, um Schwabing wiederzubeleben. Mit dem Schauspieler Gerd Fröbe und der Schauspielerin Trude Hesterberg gründete er das Kabarett „Monopterroß“.1092 PPA begann in dieser Zeit auch an seinen „Traumstadt“-Gedichten zu arbeiten, erste Texte wurden 1951 veröffentlicht. In den folgenden Jahren entstanden nicht nur weitere Episoden um Dr. Enzian, seinen Diener Anatol und seine Köchin, die Witwe Winter, sondern auch die „Flower Tales“, eine andere Reihe. „Dr. Enzian, als Existentialist, beweist den Begriff des Daseins, daß er nie verreist. Wenn er reise, sagt er, würd’ er fort sein, und sein Dasein wäre dann ein Dortsein.“1093 1088 |

Vgl. Macek, Ilse (Hg.) (2008): ausgegrenzt – entrechtet – deportiert. Schwabing

und die Schwabinger Schicksale. München. 1089 |

Kristl, Wilhelm Lukas (1976): Der Aufstieg des Peter Paul Althaus zum Schwabin-

ger Olymp. In: Aus dem Antiquariat. Beilage zum Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel. Frankfurter Ausgabe, 3-1976, S. 65-72. Hier: S. 65. 1090 |

Kristl 1976: S. 65.

1091 |

Vgl. Lachenmayr, Anette (1995): Ruhm und Realität Wahnmochings in der Zeit seit

1922, dargestellt am Beispiel von Leben und Werk des Dichters Peter Paul Althaus (18921865) und seiner Traumstadt-Idee. Unveröffentlichte Magisterarbeit an der Ludwig-Maximilians-Universität München. In: Monacensia, Literaturarchiv und Bibliothek der Landeshauptstadt München. München, S. 18-22, 26-28. 1092 |

Vgl. Lachenmayr 1995: S. 32-34, 54.

1093 |

Althaus, Peter Paul (1966): Dr. Enzian. Karlsruhe, S. 13.

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Neben Peter Paul Althaus sind auch Marietta di Monaco und Gusto Gräser in den 1950er Jahren noch oder wieder in Schwabing; Gräser, der seit den 1920er Jahren in München bekannte Freigeist und Vorreiter der Vegetarierbewegung, wirkt wie ein Gast aus einer anderen Zeit. Fotografien aus dem Jahr 1958 zeigen ihn mit langem Bart und abgetragenen Kleidern vor einem italienischen Straßencafé auf der Leopoldstraße.1094 Im Juli 1959 veranstaltet der Bezirksausschuss SchwabingFreimann mit dem Kulturreferat der Landeshauptstadt München, dem Seerosenkreis und dem „Festverein München e.V.“ eine Feierstunde. Eingeweiht wird ein Brunnen, den Stein hat der bayerische Bildhauer Ferdinand Filler gestaltet, auch PPA hält eine Rede.1095 „Der Wedekindbrunnen auf dem Platz ohne Namen ist ein Symbol für das Schwabing der alten Zeiten. Und drum steht er hier und übertönt mit leisem Murmeln das laute Getriebe.“1096 Der Feuilletonist und Schriftsteller Karl Ude, bestens bekannt mit Althaus, war in den 1920er Jahren ebenfalls als Student nach München gekommen. 1927 lernte er die Studentin Renée aus der Schweiz bei einem Vortrag im Audimax der Ludwig-Maximilians-Universität kennen; Thomas Mann las aus seinem noch unvollendeten Josephsroman. Gemeinsam sollte das Paar sieben Jahrzehnte in der Stadt verbringen.1097 In der Münchner Palette, einem regelmäßig erscheinenden Programmheft, fasst Ude die Entwicklung des Viertels nach 1945 zusammen. „Auf Schwabings historischem Boden, wo einiges vom alten genius loci lebendig geblieben war, fanden sich erneut künstlerische Menschen zusammen. Viele von ihnen hatten Uniform tragen müssen – nun trugen sie sich vielformig wie möglich. Das Ausgefallenste war ihnen gerade recht. Sie genossen die neue Freiheit. Sie malten, dichteten, machten Kabarett. Bald stieß Jugend zu ihnen. Blue Jeans, Rollkragenpullover, Backenbärte und andere Requisiten im persönlichen Habitus bekundeten, in welchem Maße ihre – unablässig sich vermehrenden – Träger Individualisten seien, Eigenbrödler, Einzelgänger, Bürgerschrecks. Mit solch mehr oder weniger reizvoll exzentrischer Komparserie geriet Schwabing erneut in den Ruf eines Künstlerviertels.“1098

1094 |

Vgl. Koch, Pitt (1958): Schwabing. München, S. 7, 26.

1095 |

Ebd.

1096 |

Einladungskarte zur Einweihung des Wedekindbrunnens, 10. Juli 1959. In: Auto-

renmappe Peter Paul Althaus, Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek der Landeshauptstadt München. 1097 |

Ude, Christian (2002): Vorwort. In: Ude, Karl: Schwabing von innen. Kulturelle

Essays. Mit einem Vorwort von Christian Ude, S. 9-15. Hier: S. 11. 1098 |

Münchner Palette, Programmheft, 6. Jg., September 1964. Hg. vom Fremdenver-

kehrsamt der Stadt. In: Zeitgeschichtliche Sammlung – Schwabing. Stadtarchiv München, 469/4.

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„Z WEITE H EIMAT “1099 , S EHNSUCHTSORT UND A TMOSPHÄRE 1958 rezensiert der Journalist Rudolf Goldschmit im Berliner Tagesspiegel eine ganze Serie von Veröffentlichungen, die sich mit München befassen. „Es entspricht dem Gemütsklima dieser Stadt, daß fast alle die vielen Publikationen, die zum 800jährigen Jubiläum Münchens auf dem Büchermarkt erscheinen, Liebeserklärungen gleichen und eher in verliebtem als gelehrtem, eher in feuilletonistischem als wissenschaftlichem Stil gehalten sind.“1100 Goldschmit bespricht die Qualitäten der Bände ebenso wie die unterschiedlichen Ansätze ihrer Autorinnen und Autoren und macht sich über die Anmutung der Stadt auch selbst Gedanken. „Daß Liebe nicht blind machen muß, hat Wilhelm Hausenstein oft bewiesen, wenn er kritisch auf Schwächen, Gefahren und Unarten Münchens aufmerksam machte, ohne darum aufzuhören, die Atmosphäre, die Bauwerke, die Kunst und die Lebensart dieser Stadt zu preisen.“1101 Neben zwei Büchern des Münchner Bruckmann Verlags, die durch ihre herausragende Qualität auffallen, verweist Goldschmit im Tagesspiegel ausdrücklich auf den Band von Ernst Grasser und Richard Roth. „Unter vielen Bildbänden, guten und schlechten, fällt uns als besonders apart der SchwabingBand des Nymphenburger Verlagshauses auf. Was man sich gemeinhin unter Schwabing vorstellt, diese Mischung aus Legende, Historie, fröhlichem Selbstbetrug und harmloser Geselligkeit, ist da höchst reizvoll mit der Kamera fixiert. Diese Aufnahmen von jungen Mädchen, die sich kunstvoll verrucht und unfrisiert geben, von pseudodämonischen und verlotterten Jünglingen, von stillen Seitenstraßen und dichtem Menschengewimmel haben etwas von der absichtslos wirkenden Präzision und dem natürlich wirkenden Charme gewisser französischer Photobücher. Köstlich auch in ihrer sachte manirierten Stilisiertheit die knapp pointierten Bildunterschriften.“1102 1958 beschäftigen sich allein vier Fotobücher mit dem bekanntesten Viertel der bayerischen Landeshauptstadt, und auch die Salzburger Nachrichten berichten: „Was wäre München ohne sein Schwabing – und was wäre ein Jubiläumsjahr ohne einen Bildband über dieses Schwabing. Ernst Grasser hat zu allen Tages- und Jahreszeiten diesen ‚Münchner Zustand‘ photographiert und Richard R. Roth hat den atmosphärisch genau richtigen Text dazu verfaßt.“1103 Grasser hat Eindrücke auf Bildern festgehalten und keine Bilder von Kulissen gemacht, Roth kommentiert das Geschehen nicht, sondern schreibt aus der Pers1099 |

Reitz, Edgar (1992): Die Zweite Heimat – Chronik einer Jugend. Spielfilm. Wieder-

aufführung von 15. bis 19. April 2011 im Filmmuseum München. 1100 |

Goldschmit, Rudolf (3. August 1958): Liebeserklärungen an eine Stadt. In: Berli-

ner Tagesspiegel. In: Private Sammlung Ernst Grasser. 1101 |

Ebd.

1102 |

Ebd.

1103 |

Was wäre München ohne sein Schwabing (19./20. Juli 1958). In: Salzburger Nach-

richten. In: Private Sammlung Ernst Grasser.

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pektive eines Akteurs. „Ein Mensch, um dessen Hals eine Kamera hing, und sein Freund haben versucht, zu erleben was das ist – Schwabing. Sie haben Münchens legendenumwobenes Künstlerdorf durchstreift und es liebgewonnen. Sie haben den vielen alten Männern auf der Parkbank zugehört, den Studentenalltag mitgehungert, in den Ateliers mitgemalt und mitgeformt. Das eigentliche Schwabing nach 22 Uhr in den Kellern, den großen und kleinen Lokalen hat sie gefangen. [...] Die ausgezeichneten Fotografien zeigen das Versteckte, sie bringen eine Wirklichkeit, die man täglich wahrnehmen kann und doch vielleicht nie gesehen hat.“1104 Die Abbildung einer jungen Frau, die das Programm eines Kinos studiert, wird in der Presse beschrieben als „[...] ein Stück Milieuschilderung, wie es jedem Meister der Photographie Ehre machen würde. Ernst Grasser hat mit dem sicheren Blick für das Wesentliche und mit dem zuverlässigen Gespür für echte und charakteristische Atmosphäre 113 Partien in dem weltberühmten Stadtteil Schwabing aufgenommen und sie zu einem reizvollen Bildband vereinigt. [...] Seine Kamera guckt in die verborgensten Winkel dieses Künstlerviertels; Straßen und Ateliers, Studenten und Maler, Bohemiens und alte Leute, Klubs und halbverwilderte Buden – das sind so einige der Motive, die bezeugen, daß das alte Schwabing auch in unserer so nüchternen Zeit noch lebt. Eine besondere Delikatesse dieses Bandes sind die knappen Bildtexte von Richard R. Roth: schmissig, ein bißchen frech manchmal und manchmal ein bißchen melancholisch, kurz: auch echt Schwabing.“1105 Ernst Grasser ist als junger Mann immer wieder von Neuhausen nach Schwabing gefahren und hat Aufnahmen gemacht. Der Stadtteil hat ihn interessiert, damals hat er noch bei den Eltern gewohnt.1106 Auf den Fotografien zeigt Grasser erkennbar den Verfall des Viertels, an vielen Stellen wirkt München in die Jahre gekommen. Die meisten Ansichten zeigen Gärten und Gebäude, Schriftzüge und Szenen, die sich seit der Jahrhundertwende nur unwesentlich gewandelt haben. Einzelne Bilder deuten bereits an, dass sich das Viertel verändern wird. Der Band von 1958 hält gerade den Augenblick fest, vor dem sich die Stadt München bemüht, modern zu werden. „‚Wo iss’n hier wat los?‘ fragen die Touristen abends auf der Leopoldstraße, und finden dann den Weg in die Seitenstraßen, in denen sich alte bayrische Biergastwirtschaften durch bunte Wandbemalung, Strohmatten und Kerzen in Nachtlokale verwandelten“, schreibt Roth über das Leben in Schwabing, „[i]n den Türen drängen sich die Touristen und die jungen Studenten, die ‚ein Semester München‘ den Eltern abtrotzten, denn ‚hier ist was los‘.“1107 Die Pres1104 |

Ein Streifzug durch Schwabing (30. November 1958). In: Lübecker Nachrichten.

In: Private Sammlung Ernst Grasser. 1105 |

Kleines Kino in Schwabing, (18. Juli 1958). In: Der Pfälzer. In: Private Sammlung

Ernst Grasser. 1106 |

Vgl. Interview mit Ernst Grasser am 20. Oktober 2008.

1107 |

Roth, Richard R.; Grasser, Ernst (1958): In Schwabing. München, S. 73. In: Private

Sammlung Ernst Grasser.

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se reagiert beinahe euphorisch auf das kleine Bändchen mit dem blauen Rücken und den Schwarz-Weiß Aufnahmen, mit der Resonanz ist gewissermaßen eine doppelte Medialisierung von Schwabing verknüpft. Einmal ist das Buch als Medium, das die Wahrnehmung von Grasser und Roth widerspiegelt, zu verstehen. Zum anderen beziehen sich die Rezensenten allesamt weit über die eigentliche Besprechung hinaus auf die Anmutung des Viertels. Schwabing ist zugleich Ort und Atmosphäre, ein Quartier mit Straßen, Häusern und Bewohnerinnen wie Bewohnern, das vielfach mit Vorstellungen überschrieben ist. Von der glorreichen Vergangenheit der Kunststadt, die in der Rückschau auch das Leben des armen Poeten mit einschließt, erzählen literarische Zeugnisse, Tagebücher und Notizen, und gleichsam Gemälde, Skizzen und Fotografien. Mondäne, weltoffene, kosmopolitische Momente machen Schwabing zum Ort des Geschehens, aber auch das Lokalkolorit der Landeshauptstadt, die bayerische Färbung scheint im Hinblick auf den Bezirk immer wieder auf. Mit den Konzepten von Rolf Lindner und Lutz Musner ist Schwabing als Geschmackslandschaft1108 zu begreifen und bezeichnet ein wesentliches Motiv in der kulturellen Textur1109 von München. „Ernst Grasser hat einen Traum fotografiert, den Traum, daß Schwabing wieder das werden könnte, was es einmal vor dem ersten Weltkrieg und in den 20er Jahren gewesen war.“1110 Während Roth bald nach der Veröffentlichung stirbt, arbeitet Grasser weiterhin als Fotograf. Sein eigentliches Metier sind die Menschen, People, wie er selbst sagt. Abzüge in seinem Schwabinger Studio zeigen Willy Brandt mit seiner Familie im Urlaub oder Franz Josef Strauß bei der Klausurtagung der CSU in Kreuth. Auf einem anderen Bild ist Dieter Kunzelmann, politischer Aktivist und seit 1960 Mitglied der Münchner Künstlervereinigung SPUR, in einer Kellerwohnung in der Bauerstraße zu sehen.1111 1967 wird Kunzelmann in Berlin die Kommune 1 mitbegründen. Persönlich sind der Fotograf und der Portraitierte nicht miteinander bekannt, Grasser hat die Reportage 1964 im Auftrag der Münchner Illustrierten Quick gemacht. Für renommierte Magazine reist er von München aus um die Welt und setzt jahrzehntelang Prominente und Personen des Zeitgeschehens in Szene. Eine der Aufnahmen in seinem Atelier zeigt die Samy Brüder etwa im Jahr 1970 auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs.1112 „Der Siegesgarten“ inseriert 1960 im Schwabinger Reporter, einem Reiseführer durch das Stadtviertel, in der Siegesstraße 19 befindet sich „Schwabings Künstlerlokal mit der echten Atmosphäre. Zivile Preise – Täglich Tanz! Tel. 33 34 51“1113. 1108 |

Lindner; Musner 2005.

1109 |

Lindner 2008 b.

1110 |

Stadt und Land (15. März 1959). In: Bücherkommentare Stuttgart. In: Private

Sammlung Ernst Grasser. 1111 |

Vgl. Besuch bei Ernst Grasser am 20. Oktober 2008.

1112 |

Vgl. ebd.

1113 |

Praetorius, Rolf (1960): Der Schwabinger Reporter. München, S. 20.

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Schwabing wirkt wie eine Collage aus Bildern, Biographien, Zeiten und Räumen. Immer wieder lassen sich Phänomene, Handlungen wie Repräsentationen, beobachten, die Vergangenheit und Gegenwart miteinander in Bezug setzen und den Mythos Schwabing heraufbeschwören. Im Rahmen der „Schwabinger Woche“, ein Stadtteilfest, das seit 1961 veranstaltet wird, enthüllt das Kulturreferat am 21. Juni 1969 eine Gedenktafel für den „Simplicissimus“.1114 Organisiert wird die „Schwabinger Woche“ ebenso wie der Münchner Fasching und der Trachten- und Schützenzug zum Oktoberfest vom „Münchner Festring e.V.“, viele Ideen und Aktionen gehen auf den langjährigen Geschäftsführer Robert Huber zurück.1115 Zur „Schwabinger Woche“ verwandelt sich der Stadtteil nicht nur in die „Urbs rosa“1116; 1969 wird auch eine Ausstellung zur Geschichte von Schwabing, mit Beständen der Monacensia, dem Literaturarchiv der Stadt München, gezeigt. Die Schau ist in Zusammenarbeit mit dem Valentin-Musäum entstanden und spannt einen Bogen „Von Wahnmoching bis zur Traumstadt“1117. Der gleichnamige Begleitband von Ludwig Hollweck, dem Leiter der Monacensia, verbindet die Zeit um 1900 mit den 1960er Jahren, der Titel auf dem Umschlag erinnert in seiner Typographie an den Jugendstil. Das Buch versammelt Texte von Joachim Ringelnatz, Ernst Hoferichter, Kathi Kobus und anderen Vertreterinnen und Vertretern der Boheme um die Jahrhundertwende mit zeitgenössischen Betrachtungen des legendären Lokalreporters Sigi Sommer, der sich als Flaneur durch die Straßen und Cafés der Stadt bewegt.1118 In seinem Reiseführer „Treffpunkt Traumstadt Schwabing“ unterbreitet Richard Kerler 1970 alles Bemerkenswerte zu dem Viertel, und „Das alte Schwabing“ findet in einer eigenen Rubrik Erwähnung. „Marietta di Monaco, sie heißt mit bürgerlichem Namen Maria Kirndörfer, war eine der schillerndsten Figuren Schwabings. Nur in Schwabing war auch ein gesellschaftlicher Aufstieg wie der Mariettas möglich. Als kleines Biermädchen verdiente sie in München ihr erstes Geld und brachte es später zur geschätzten Schriftstellerin.“1119 Das „Minon“ in der Georgenstraße 41 hat täglich von 10-1 Uhr geöffnet. „Es gibt Lokale, die man am besten mit ihren Kritzeleien an den Toilettenwänden vorstellt. Eines davon ist das Minon. ‚André, der Gammler, wieder im Lande.‘ ‚Der Münchner SDS ist ein stinkender Leichnam.‘ ‚Bitte sauberhalten, die Putzfrau ist auch 1114 |

Vgl. Notiz zur Enthüllung einer Tafel am „Simplicissimus“, 21. Juni 1969. In: Zeit-

geschichtliche Sammlung – Schwabing. Stadtarchiv München, 469/4. 1115 |

Vgl. Interview mit Robert Huber am 9. April 2009.

1116 |

Lesch, Helmut (16. Juni 1971): Neue Aspekte bei der „Schwabinger Woche“. Urbs

rosa mit Farbpfeilen. In: Abendzeitung. In: Private Sammlung Robert Hubert. 1117 |

Hinweis zur Ausstellung „Von Wahnmoching bis zur Traumstadt“, 1969. In: Zeitge-

schichtliche Sammlung – Schwabing. Stadtarchiv München, 469/4. 1118 |

Hollweck, Ludwig (Hg.) (1969): Von Wahnmoching bis zur Traumstadt. Schwabin-

ger erzählen von Schwabing. München. 1119 |

Kerler 1970 a: S. 37-38.

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ein Mensch.‘ ‚Einen Bullen auf den Kopf hauen, das bringt Glück.‘ ‚Die Münchner Linke ist ein für Genossen frustrierend träger Haufen.‘ [...] An den Wänden Plakate von Ho Tschi-Min und kämpferische Parolen. Die Gäste trinken gerne aus der Flasche, und wenn jemand den Stuhl zum Bett umfunktioniert, zeigen sich die Bedienungen tolerant. Ein Plakat mit dem Slogan ‚Jugend progressiv‘ spiegelt nicht ganz das Alter der Gäste. Auch ältere Klassenkämpfer treffen sich gerne im ‚Minon‘.“1120 In Kerlers Reiseführer sind Orte beschrieben, an denen die Besucherinnen und Besucher von Schwabing gewesen sein müssen.1121 Der Gang durch das Viertel gleicht einer Expedition auf unbekanntem Terrain. Die Informationen aus dem Buch spielen aber nicht nur im konkreten Fall eine Rolle, vielmehr wird die Ästhetik des Stadtteils allein durch den Umstand transportiert, dass sich ein eigener Reiseführer, Texte und Illustrationen mit den Lokalen, Boutiquen und Lebensstilen der Stadtlandschaft Schwabing befasst. Ohne Sein ist aber auch der Schein nicht dauerhaft aufrechtzuerhalten. Räume und Realitäten gehen fließend ineinander über, Dokumentationen und Zeitungsartikel multiplizieren die atmosphärischen Qualitäten des Stadtteils ebenso wie konkrete Geschichten oder sinngemäß erdachte Storys und Filme. Schwabing strahlt in den 1960er Jahren weit über München hinaus und ist durch die anhaltende Vermittlung in den Medien nicht nur in der mental map von Jugendlichen aus der bayerischen Provinz fest verankert. „Was ist Schwabing? Da gibt es Menschen in Schwabing, dem Münchner Stadtteil nördlich des Siegestores, auf die sommers die Touristen mit Fingern deuten und sagen: ‚Aha. Das sind die Schwabinger.‘ Diese Menschen werden im Fasching von der Wochenschau gefilmt, und der Reporter sagt dazu, dies sei das heitere Künstlervölkchen beim ungezwungenen Treiben.“1122 Wolfgang Roucka ist Anfang der 1960er Jahre aus Passau nach München gekommen. Der junge Fotograf hat seine Ausbildung mit Auszeichnung abgeschlossen und arbeitet bei Foto Sauter, dem bekanntesten Fachgeschäft der Stadt. Roucka experimentiert mit Materialien und Motiven, und es gelingt ihm erstmals, eine ELok in der Originalgröße von 6 x 15 m für den Unterricht der Bundesbahn auf Leinwand zu bannen.1123 „Aufnahmen in Operationssälen, Architektur und Werbung. Das Großphoto bestimmte den weiteren beruflichen Weg ganz wesentlich. Am 2. Januar 1964 den Gang zum Gewerbeamt, das war der Start von Studio Roucka. Mit 23 Jahren in der Einsteinstrasse begonnen, dann der Umzug am 1. April 1966 in die Feilitzschstraße, das war kein Aprilscherz. Ein tagsüber völlig verschlafener Wedekindplatz, lediglich einige VW’s und ein DKW um die Ecke, bot sich bei meiner Ankunft in Schwabing. Als 1-Mann Betrieb [...] entwickelte sich das Großphotostudio im 1. Stock auf über 300 m² zu einem Begriff in Schwabing und der Pho1120 |

Ebd.: S. 110-111.

1121 |

Vgl. Kerler, Richard (Hg.) (1970 b): Treffpunkt Traumstadt Schwabing. München.

1122 |

Grasser; Roth 1958: S. 5.

1123 |

Vgl. Interview mit Wolfgang Roucka am 11. März 2009.

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tobranche. Ständig neue Ideen wurden zum Markenzeichen.“1124 Roucka gestaltet Fassaden und fertigt Kleider aus bedruckten Stoffen, „Fotowände in Wohnungen und Schaufenstern gaben ein ganz besonderes Raumgefühl“1125 . 1968 sorgt der Fotograf mit einer weiteren Idee für Furore. Ein Bekannter bringt die ersten Poster von einer USA-Reise mit nach München. Roucka ist von der Idee angetan und eröffnet in Schwabing einen Postershop. Seine Bilder sind preiswert und leicht zu befestigen, in einer Studentenwohnung bringen sie politische Aussagen etwa in Gestalt von Che Guevara mit geringem Einsatz an die Wand und dekorieren Zimmer mit farbenfrohen Mustern im Stil der Zeit. Karl Egger erinnert sich, dass er als Student in dem Laden gewesen ist, um die Plakate anzuschauen.1126 „Am 3. Februar 1968 begann Roucka’s Posterbewegung am Wedekindplatz. Hier entstand Deutschlands erster Postershop mit Pop, Personality, Gag und Dekopostern. Udo Jürgens eröffnete die 1. Vernissage mit Fotos seines Bruders Manfred Bockelmann. Das größte Poster, ein Greyhoundbus, mußte wegen der Größe außerhalb des Ladens gezeigt werden.“1127 In unmittelbarer Nachbarschaft von Rouckas Studio eröffnet 1967 das „Drugstore“; das Lokal nach französischem Vorbild soll „Der neue Clou im alten Schwabing“1128 sein. Neben diversen Speisen und Getränken werden auch Zeitungen und Tabakwaren angeboten. Von Schildkrötensuppe und Champagner bis hin zu Pizza und Hamburgern reicht das Angebot. „Geöffnet von 8 Uhr morgens bis 1 Uhr nachts. Dancing von 16 Uhr bis 1 Uhr nachts.“1129 Cocktails und Longdrinks gibt es im ersten Stock, in „Harry’s Bar“ wird hauptsächlich Bier verkauft. Auf der Getränkekarte ist der Oberkörper einer Frau abgebildet, die nichts trägt als eine Krawatte mit dem Schriftzug der Bar.1130 Das „Drugstore“ wird von den Samy Brüdern geführt, denen es in den ausgehenden 1960er Jahren gelingt, innerhalb kurzer Zeit ein regelrechtes Imperium in Schwabing aufzubauen. Anusch und Temur Samy stammen aus einer deutsch-kaukasischen Familie. Mit einigen tausend Mark beginnen sie eine sagenhafte Karriere, aus dem alten Hacklwirt am Wedekindplatz wird das „Drugstore“. Auf der Speisekarte des Lokals ist auch eine Reklame für das „Blow up“ abgedruckt. „Wir erwarten im Februar den ¼ Millionsten Besucher seit der Eröff-

1124 |

Roucka, Wolfgang (2006): Studio Roucka. 40 Jahre im Herzen von Schwabing.

1966-2006. München. 1125 |

Roucka 2006: S. 2.

1126 |

Vgl. Gespräch mit Karl Egger am 3. November 2011.

1127 |

Ebd.: S. 4

1128 |

Speisekarte „Drugstore“, um 1967. In: Zeitgeschichtliche Sammlung – Drugstore.

Stadtarchiv München, 133/11. 1129 |

Karte von „Harry’s Bar“ im „Drugstore“, um 1967. In: Zeitgeschichtliche Samm-

lung – Drugstore. Stadtarchiv München, 133/11. 1130 |

Ebd.

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nung am 24. Oktober 1967.“1131 Für 850 000 DM haben die Samys ein ehemaliges Kino am Elisabethmarkt zu einer Diskothek umgebaut, die weit über die Grenzen der Stadt hinaus bekannt wird. Der Journalist Peter Brügge berichtet im Spiegel von der Eröffnung, das Ereignis ist schon im Vorfeld beworben worden und lockt mehrere tausend Besucherinnen und Besucher an. Die Bilder zeigen vor allem Gäste in Anzügen, Kleidern und Kostümen, kritisch bemerkt Brügge, dass alles Künstlerische, Hippieske entweder vom Fernsehen, das ebenfalls in der Diskothek filmt, oder von den Gastgebern inszeniert ist, wie die Kunstaktion um Mitternacht. Weiterhin erklärt Brügge, dass die Brüder Samy aus Persien kommen, zuerst Gebrauchtwagenhändler gewesen sind und das Tanzlokal zusammen mit dem Musiker Peter Kraus eröffnet haben.1132 Neben dem „Drugstore“ und dem „Blow up“, der Name ist eine Reminiszenz an den Film von Michelangelo Antonioni aus dem Jahr 1966, betreiben die Brüder in Schwabing noch das Wirtshaus „Zur Brez’n“, den „VIP-Club“, die „Bouillabaisse“ und die „Datscha“, ein turkmenisches Restaurant in der Kaiserstraße.1133 Nicht nur die markanten Schriftzüge haben einen hohen Wiedererkennungswert, die Samys entwickeln einen eigenen Stil, der ausschweifend und reich bebildert mit den Vorstellungen der Besucherinnen und Besucher spielt. Anregungen für ihre Lokale sammeln die findigen Brüder in den Metropolen der Welt. „[O]rientalische Basare lieferten das Muster für die ‚Citta 2000‘, eine Kombination von drei Dutzend modischen Boutiquen und altväterlichen Kneipen in einem Bürohaus an der Leopoldstraße.“1134 Vor dem Eingang wirbt eine mehrere Meter hohe Hand in Gold für die Stadt der Zukunft. „Boutiquen Sie mal wieder durch’s Citta 2000. Dr. Müller Sex Boutique, Stop Mode Boutique, Eva’s Boutique Schwabinger Flohmarkt, Lord John & Lady Jane Boutique, Raumkunst, Parfümerie L’Opera, Chic Charlie, Orientica. Boutique für Handarbeiten aus dem Orient, Bankhaus Schneider & Münzing [...].“1135 In dem Restaurant, das die Brüder in dem Haus führen, werden Hawaiitoasts, Club-Sandwiches, französische Schnecken und sizilianische Steaks angeboten, ein handschriftlicher Kommentar auf der Karte bemerkt: „Ausstattung: Sehr aufwendig in Samy-Pop-Art jedoch in Folge sehr starker Besucherfrequenz (60 % nur Schauer) stark verbraucht mit großer Freischankfläche, Ausschank und Speisenabgabe, auch Kaffee, Publikum: von der 1131 |

Speisekarte „Drugstore“, um 1967. In: Zeitgeschichtliche Sammlung – Drugstore.

Stadtarchiv München, 133/11. 1132 |

Brügge, Peter (30. Oktober 1967): Flower Power auf teutonisch. In: Der Spiegel,

21. Jg., S. 214-215. In: Zeitgeschichtliche Sammlung – Drugstore. Stadtarchiv München, 133/11. 1133 |

Ebd.

1134 |

Mal Ekstase sehen (27. Juli 1970). In: Der Spiegel, 21. Jg., S. 43-45. Hier: S. 45.

Verfügbar unter: http:// www.spiegel.de/spiegel/print/d-44916204.html, (10. September 2011). 1135 |

Tageskarte vom 16. Mai 1971. In: Zeitgeschichtliche Sammlung – Citta 2000.

Stadtarchiv München, 132/5.

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Straße, Personal: schlecht.“1136 Kerler bezieht sich in seinem Reiseführer wiederholt auf die Lokalitäten der Samys. Über das „Mutti Bräu“, einen überaus beliebten Treffpunkt von Studierenden in der Ursulastraße 10, täglich geöffnet von 19-1 Uhr, Sonntag geschlossen, ist zu erfahren, „[d]a sage einer, Schwabing würde nur noch eine Domäne der Samy-Brüder mit ihrem Drugstore und Città 2000 sein, und nur Lokale, die mit lauter Musik von der Diskothek locken können, seien heute für die Schwabingbummler noch ‚in‘. Das wird so lange nicht der Fall sein, als es Lokale wie das ‚Mutti Bräu‘ gibt.“1137 Hermann Simon macht sich im Jahr 1960 auf den Weg nach München, mit der Bahn reist der junge Mann von seinem Dorf im Hunsrück in die Stadt der Künste. Nach dem Abitur will Hermann Klavier studieren und bewirbt sich erfolgreich an der Münchner Musikhochschule, er sucht sich eine Unterkunft, begegnet Menschen aus aller Welt und lernt die Stadt kennen. Hermann Simon ist die Hauptfigur im Film von Edgar Reitz. Der Regisseur befasst sich in seinem Epos mit dem Thema Heimat und verfolgt die deutsche Geschichte seit 1900. „Zweite Heimat“ heißt bezeichnenderweise nicht nur der zweite Teil der vielstündigen Serie, in der „Chronik einer Jugend“ wird München – die meisten Schauplätze liegen in der Maxvorstadt und in Schwabing – für Hermann Simon aus dem Rheinland zur zweiten Heimat.1138 „Meine mir wild angetraute Marie hat einen Paps in der Stahlindustrie. Ich dichte und sie malt und der Stahlpapa bezahlt“,1139 notiert Walter Rufer am 6. März in seinem Romantagebuch, das 1963 unter dem Titel „Der Himmel ist blau. Ich auch“ erstmals erscheint. Das Viertel ist in jenen Jahren „ein magischer Ort“1140 und alle, „die sich für Kunst und Musik interessierten, gingen nach Schwabing“,1141 erinnert sich der Regisseur Hark Bohm. „An einem bestimmten Ort, in einem bestimmten Klima“1142 begegnen sich in den 1960er Jahren Filmemacher und Autoren wie Wim Wenders und Peter Handke, die in Schwabing nach neuen Ausdrucksformen suchen. Ein Treffpunkt ist das „Bungalow“ in der Türkenstraße, in dem Lokal verkehrt neben Wenders auch Rainer Werner Fassbinder.1143 Der Regisseur ist an keiner Filmhochschule in der Bundesrepublik angenommen worden und setzt sich nun mit der Bühne auseinander. Die Schauspielerinnen 1136 |

Notiz auf einer Speisekarte vom 4. Juli 1970. In: Zeitgeschichtliche Sammlung –

Citta 2000. Stadtarchiv München, 132/5. 1137 |

Kerler 1970 a: S. 69.

1138 |

Reitz, Edgar (1992): Die Zweite Heimat – Chronik einer Jugend. Spielfilm. Wieder-

aufführung von 15. bis 19. April 2011 im Filmmuseum München. 1139 |

Rufer 2007: S. 27.

1140 |

Wessely, Dominik; Straub, Laurens (2008): „Gegenschuss – Aufbruch der Filme-

macher“. Dokumentarfilm. 1141 |

Ebd.

1142 |

Ebd.

1143 |

Vgl. ebd.

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und Schauspieler aus dem Kreis des Antiteaters, Irm Hermann, Hannah Schygulla oder Peer Raben, wirken ebenso in Fassbinders Filmen mit. Die Texte schreibt Fassbinder, oder er bearbeitet Volksstücke wie Marie Luise Fleißers „Fegefeuer in Ingolstadt“ und adaptiert den Stoff für die Gegenwart.1144 Im Anschluss an die Theateraufführungen werden Filme gezeigt, für diesen Teil des Abends ist mitunter Andreas Baader verantwortlich. Der in München lebende Regisseur Klaus Lemke thematisiert in seinem Film „Die Brandstifter“ den Anschlag auf ein Frankfurter Kaufhaus, an dem Baader und Gudrun Ensslin im Jahr 1968 beteiligt gewesen sind.1145 Fördermöglichkeiten für Dreharbeiten sind in jenen Jahren kaum vorhanden, 1971 schließen sich aus diesem Grund Peter Lilienthal, Laurens Straub, Thomas Schamoni, Michael Fengler, Veith von Fürstenberg, Hans. W. Geißendörfer, Florian Furtwängler, Werner Herzog, Uwe Brandner, Peter Ariel, Volker Vogeler, Wenders, Fassbinder, Bohm und andere zu einer Kooperative zusammen und gründen den „Filmverlag der Autoren“ in einer Villa an der Ismaningerstraße in Bogenhausen. Mit dem gemeinsamen Kapital können eigene Produktionen herausgebracht werden, der Verlag organisiert zudem den Verleih. Als zweite Arbeit verfilmt Wenders „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“ nach der Vorlage von Peter Handke.1146 Der Kunsthistoriker Oskar Holl betont das Lebensgefühl, das in dieser Zeit vom Film ausgegangen ist.1147 Mit den Berichten über die Szene und den Produktionen der Autoren wird immer wieder auch Schwabing vermittelt und die Atmosphäre des Stadtteils verdichtet sich. „Ende der 60er Jahre lockte der Mythos Schwabing den Berliner Wolfgang Ettlich nach München“,1148 mit diesen Worten beginnt eine andere Geschichte, „Der Dokumentarfilmer erzählt von seiner ‚kleinen Lebensreise‘, die mit dem Umzug nach München begann. Auf persönlichen Streifzügen durch Schwabing sucht er das Leben zu ergründen, das hier herrscht. Ettlich stellt Menschen, denen er begegnet, Fragen über die verschieden Lebensstationen, die jeder so oder ähnlich im Laufe der Zeit durchlebt. Die Antworten vergleicht er mit seinen eigenen Schwabinger Erfahrungen.“1149 Zusammen mit Henny Heppel ist Wolfgang Ettlich nach Schwabing gekommen, hat in Lokalen wie dem „Jennerwein“ in der Clemensstraße gearbeitet und seit 1976 das „Heppel & Ettlich“ mit Theater und Bühne in der 1144 |

Vgl. Kraus, Dorothea (2007): Theater-Proteste. Zur Politisierung von Straße und

Bühne in den 1960er Jahren. Frankfurt am Main, S. 287. 1145 |

Vgl. http://www.filmportal.de/df/2e/Uebersicht99361184F14647499622D999-

CBD57A01.html, (10. August 2011). 1146 |

Vgl. Wessely, Dominik; Straub, Laurens (2008): „Gegenschuss – Aufbruch der

Filmemacher“. Dokumentarfilm. 1147 |

Vgl. E-Mail von Oskar Holl am 1. März 2008.

1148 |

Videotext Phoenix (14. April 2007) zu Ettlich, Wolfgang (2006): Schwabing – Meine

nie verblasste Liebe. Dokumentarfilm. 1149 |

Ebd.

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Kaiserstraße betrieben.1150 Die Freunde haben in Kreuzberg einen Beruf gelernt, als einige aus dem engeren Bekanntenkreis in München Politikwissenschaft und Soziologie studieren wollen, weil an den „ganzen linken Universitäten damals [...] nichts zu kriegen war“1151, gehen die beiden Lehrlinge mit. „Immerhin waren da auch Leute wie Fassbinder und Rainer Langhans etc. Den Film Zur Sache Schätzchen kannten wir auch.“1152 Sechs Männer und Frauen Anfang zwanzig ziehen 1968 zusammen in eine Sieben-Zimmer-Wohnung in der Elisabeth-, Ecke Tengstraße. Der Schriftsteller Uwe Timm thematisiert in seinem Roman „Heißer Sommer“ die damit verknüpften Probleme.1153 „Autos hatten wir natürlich auch keine. Ich hatte ein Regal und bin nach München getrampt“,1154 sagt Ettlich. Neben Filmproduktionen zu verschiedenen Themen behält er stets sein Viertel im Blick. Den Film über sein Leben im Viertel hat der Regisseur „Schwabing – Meine nie verblasste Liebe“1155 genannt. In „Schwabing von A-Z“ spricht auch Kerler in seinem Reiseführer das Wohnen in Gemeinschaften an. „Es hat so seine Probleme, das Kommunenleben. Einmal rümpfen die Vermieter sofort die Nase, wenn in ihrem Haus auf ein Paar Quadratmetern plötzlich ein Dutzend Leute wohnen und schlafen wollen; zum anderen ist den Kommunen meist kein langes Leben beschieden. Zu viele Reibungsflächen sind gegeben. Da tauchen zum Beispiel immer wieder die Fragen auf: Wer schläft mit wem? Wie kommt Geld in die Gemeinschaftskasse? Wer besorgt Abwasch und Hausputz? Und vieles mehr. Wer sich einer Kommune anschließen will, hört sich am besten bei den Gästen im Picnic, im PN-Club, im Chez Margot oder im Minon um. Hier sind fast immer Adressen von Kommunen herauszufinden. Studentenkommunen, die sich vergrößern wollen, geben dies auf dem Anschlagbrett im Parterre des Studentenhauses an der Leopoldstraße kund. Eine Popkommune, sie nennt sich ‚High-Fish‘, hat sich in der Giselastraße 12 niedergelassen.“1156 Antonie Thomsen ist 1966 von Moosburg an der Isar in Oberbayern nach München gezogen, um eine Ausbildung zu beginnen. Die Großstadt hat einfach andere Möglichkeiten geboten. Wenngleich die Liberalisierung der Gesellschaft weiter voranschreitet, ist in der Bundesrepublik bis 1969 der Kuppeleiparagraph gültig, der es unverheirateten Männern und Frauen verbietet, gemeinsam unter einem Dach zu leben. Manche Hauswirtin wacht streng über die Einhaltung dieses Reglements. „Ich hab ja selber Wohngemeinschaften, mei Cousine hat in der Mar1150 |

Schümann, Helmut (2006): Heppel & Ettlich. Ein Zigarettenautomat packt aus.

München. 1151 |

Erinnerung von Wolfgang Ettlich. In: Schümann 2006: S. 143.

1152 |

Ebd.

1153 |

Vgl. Timm, Uwe (2005): Heißer Sommer. 5. Aufl. München.

1154 |

Ebd.

1155 |

Ettlich, Wolfgang (2006): Schwabing – Meine nie verblasste Liebe. Dokumentarfilm.

1156 |

Kerler 1970 a: S. 166 -167.

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schallstraße in einer Wohngemeinschaft glebt. Die Hauswirte haben immer nur einen Mieter mit dem sie einen Vertrag abgeschlossen ham. Nach dem Motto der schließt net mit drei oder vier Leut an Vertrag ab. Dann geht der eine raus aus der Wohngemeinschaft und zahlt sein Vertrag nimmer. Also der eine war, also alle die ich gekannt hab, mag andere auch gegeben ham, aber war immer fürn Vermieter ein Mieter da, der auch zu fassen war.“1157 Häufig wird über diese Praxis hinweggesehen. „Geduldet. Das waren Geduldete. Der Wohnraum war ja no net so rar wie heute, die großen Altbauwohnungen. Also mei Freundin die Gisela und ich mir ham in der Leopoldstraße 60 gwohnt. Aber wir hatten a jede a Zimmer bei einer alten Dame, die an Handarbeitsladen hatte. Also, wenn die nicht mehr gwesen wär oder so, dann hätt ma gschaut, dass mer die ganze Wohnung kriegen, aber die Wohnung hatte freilich kein Bad und die Toilette am Gang draußen, so a Zwischending und, und, und… der heutige Luxus war a fremd.“1158 Die Wohnung der beiden jungen Frauen ist schräg gegenüber von dem bekannten Schnellrestaurant „Picnic“ gelegen, Antonie Thomsen hat mitten in Schwabing gewohnt. „… Ja, ja, was soll ma sagn? In den Sommernächten war die Leopold einfach schön. … Weil ma damals so draußen hat, s Rialto gabs, des es jetzt ja nimmer gibt, und einige andere Cafés, also hüben und drüben. In den Sommernächten war’s einfach traumhaft schön. Und Sperrzeit hin und Sperrzeit her, die Leut ham sich auch net vertreiben lassen, ma is einfach sitzen geblieben. Und wahrscheinlich war’s eben die Straße Münchens, wo sich die meisten auswärtigen Besucher aufghalten ham. Im Gegensatz zur Innenstadt, heut is ja alles am Marienplatz oder so. Wenn ma in d Innenstadt gfahren is, waren zwar a Besuchergruppen, aber diese Anziehungskraft in den späten 60er, Anfang der 70er war halt d Leopold einfach d Anziehungskraft. Völkergemisch.“1159

J UGEND ALS L EBENSSTIL . I M E NGLISCHEN G ARTEN UND AUF DER L EOPOLDSTR ASSE Schwabing ist in den langen 1960er Jahren nicht nur Erinnerungsort, sondern wird wiederholt zum Schauplatz des gesellschaftlichen und kulturellen Zeitgeschehens. Schwabing ist ein Schlüsselort der Stadt, und ebenso ein Schlüsselort der Epoche. Prozesse und Phänomene, die für diese Phase bezeichnend sind, werden am Exempel des Englischen Gartens und der Leopoldstraße evident. Nirgendwo sonst wird die Verknüpfung von Praktiken und Diskursen so deutlich wie in diesen Räumen. In einem Leitartikel über den Topos der Jugend berichtet der Spiegel 1967: „Schockiert und fasziniert zugleich, starrt die ältere Welt auf das weltweite Hap-

1157 |

Interview mit Antonie Thomsen am 17. März 2008.

1158 |

Ebd.

1159 |

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pening Jugend. Sie wird nicht müde, es zu analysieren und zu interpretieren.“1160 Für das amerikanische Time Magazin, das die Jugend im Jahr 1967 zum Mann des Jahres erklärt hat, ist dies „nicht einfach nur eine neue Generation, sondern eine neue Art von Generation“1161 . Der Spiegel bezieht sich auf den Soziologen Arnold Gehlen, der Jugendliche als „‚[b]ewußte, tendenziös junge Menschen mit einer Eigenkultur, wie sie noch nie so weltumfassend in Erscheinung trat‘“1162 , versteht. Der Sozialpädagoge Thomas Ziehe spricht auf der Makroebene von einem Mentalitätswandel, der sich seit den 1950er Jahren in der Bundesrepublik vollzieht. In der Nachkriegszeit steigt mit dem Wirtschaftswunder zwar der Lebensstandard, und der Großteil der Bevölkerung hat immer mehr Zeit zur Verfügung. Mental besteht aber noch nicht die Möglichkeit, einen selbstbestimmten Lebensstil zu entfalten. „Bei der nächsten großen Generationen-Konfrontation – ab Mitte der 60er Jahre – war die Kultur der Erwachsenen natürlich eine veränderte. Man war modernisierungsfreundlicher geworden, es hatte sich im Verlauf der 60er Jahre bereits etwas ergeben, das man als kulturellen Kennedy-Effekt bezeichnen könnte: Eine allmähliche Verlagerung der Leitsymboliken von der Kennmarke ‚Erfahrung‘ zur Kennmarke ‚Jugendlichkeit‘ bahnte sich an. Der Rahmen der Thematisierungen erweiterte sich: intellektuelle Gesellschaftskritik als Wirtschaftswunderkritik; populäre Traditionskritik als ‚Aufklärungswelle‘ und Sexualitätsdiskurs. Der mentale Abstand zum Gegebenen war gewachsen und hatte damit Ansätzen von Ironisierung und Ästhetisierung ein wenig Platz gegeben.“1163 Seit den 1950er Jahren kommt es im Englischen Garten wiederholt zu Auseinandersetzungen um die Nutzung der öffentlichen Räume. Die Debatten um den Park werfen Schlaglichter auf die Biographie der Stadt und spiegeln die wechselnden und dabei differierenden Befindlichkeiten der Bewohnerinnen und Bewohner wider. Vor dem Hintergrund des Diskurses um Jugend und Jugendlichkeit ist auch in München eine zunehmende Liberalisierung der Gesellschaft zu beobachten. Anhand von Konflikten lassen sich am konkreten Ort nicht nur Varianten des Spacing beobachten, das fortwährende Aushandeln und Verschieben von Positionen im Raum deutet auch einen Wandel in den Syntheseleistungen an.1164 In einem internen Bericht der Polizei wird bereits Ende der 1940er Jahre die Zerstörung des Parks durch den allzu massiven Einsatz amerikanischer Militärfahrzeuge beklagt. „Der kleine Hügel am Monopteros bildete im Sommer 1947 einen ausgesprochenen Übungsplatz für Geschicklichkeitsfahrten mit Jeeps und Motorrädern. Die 1160 |

Jugend 1967. Übertriebene Generation (2. Oktober 1967). In: Der Spiegel. 21. Jg.,

S. 154-170. Hier: S. 156. 1161 |

Ebd.

1162 |

Ebd.

1163 |

Ziehe, Thomas (1993): Vom Lebensstandard zum Lebensstil. In: Welsch, Wolfgang

(Hg.): Die Aktualität des Ästhetischen. München, S. 67-93. Hier: S. 77. 1164 |

Vgl. Löw 2001: S. 158-160.

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Wege und Anlagen wurden dabei sehr stark mitgenommen und konnten nur mit viel Mühe und Arbeit wieder einigermaßen in Stand gesetzt werden. [...] Die von den amerikanischen Clubs belegten Gaststätten ‚Seehaus und Chinesischer Turm‘ können bequem auf den asphaltierten Straßen erreicht werden, so daß keine Notwendigkeit besteht, die Wege des Englischen Gartens zu benützen.“1165 Ein weiteres Problem stellt das Baseballspielen auf den Wiesen dar, da die Stadtverwaltung mit den Flächen wirtschaftet und das Gras an Nutztiere verfüttern will. Die hohe Frequenz von Militärfahrzeugen blieb auch in den folgenden Jahren ein heiß diskutiertes Thema. Für die amerikanischen Soldaten pendelte zwar regelmäßig ein Bus zum Seehaus, häufig befanden sich darin aber gar keine Insassen. Viele GIs fuhren stattdessen mit dem Auto und meist in Damenbegleitung zu den Lokalen, was wohl den eigentlichen Anstoß zur Beschwerde bot. Seit 1950 zog aber auch der wiedereröffnete Biergarten am Chinesischen Turm zahlreiche Besucherinnen und Besucher mit ihren PKWs an, es kam zu Parkplatzproblemen etc.1166 Wiederholt wurde zu schnelles Radfahren im Park angezeigt, im Mai 1950 wandte sich ein Anwohner an die Polizeidienststelle. „Am Mittwoch, 10. Mai 50, abends 20 Uhr, gingen mein Vater und ich von der ‚Weißen Brücke‘ kommend den schmalen Fußweg zum See. Als wir nach rechts in den Seepromenadeweg einbogen, kam uns eine Meute von 4 Radfahrern entgegen. Die jungen Leute, etwa 20jährig, hatten die üblichen modernen Renner mit der üblichen Sportskleidung (gestrickter Lumberjacke mit Norwegermuster und Gabardinebundhosen) und der abgeschmackten Hochfrisur mit Dauerwellen. Die sturen, unintelligenten Gesichter ergänzen das Gesamtbild. Nachdem diese Radfahrer im Englischen Garten zur Landplage zu werden drohen, trat ich ihnen entgegen und machte sie aufmerksam, daß sie sich auf einem Fußweg befinden. Die ersten drei fuhren hohnlachend an mir vorbei, während der Schlußmann abstieg und den anhaltenden Genossen sein Rad übergab. Er, ein Mordskerl mit Schlosserpratzen, ging auf mich zu und fragte, was mir nicht passe, worauf ich ihm nochmals meine Meinung sagte, daß Radfahrer auf den Fußwegen nichts zu suchen hätten. Er schlug mich darauf wortlos mit den Fäusten ein paarmal ins Gesicht, daß ich meine Brille verlor. Bevor ich zu einer Gegenwehr ausholen konnte, war mein Vater dazwischen getreten. Die Burschen trollten sich dann auf die Straße davon mit Scherzworten: ‚Es war ja nur Spaß‘ u.s.f. Es ist wohl Aufgabe der Polizei sowohl im Interesse der friedlichen Bürgerschaft als auch des einsetzenden Fremdenverkehrs hier strenger durchzugreifen und empfindliche Strafen für die Missetäter zu beantragen. Mit guten Worten und Nachsicht kann man diese verhärteten Burschen nicht bessern. Es gab einmal ein gutes Erziehungsmittel, genannt ‚Arbeitsdienst‘, was auch bestimmt heute noch ein Weg wäre, um manchen in eine demokratische Gemeinschaft ein1165 |

Bericht der Polizeidirektion München, Ende der 1940er Jahre. In: Polizeidirektion –

Englischer Garten vom 30.04.48 bis 06.04.1961. Stadtarchiv München, 1653. 1166 |

Vgl. ebd.

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zugliedern. ‚Demokratie‘ heißt nicht nur Freiheit und Rechte haben, sondern auch Pflichten und Einfügung tragen. Ich bin überzeugt, daß die Polizei auch die Bürgerschaft zu schützen weiß (nicht nur den Flieder und den Friedensengel, siehe SZ. vom 12.5.50) und freue mich meiner bald ungestörten Spaziergänge im Englischen Garten. Unter dem Motto ‚Die Polizei dein Freund und Helfer‘ verbleibe ich hochachtungsvoll, gez. Karl Schmidt, Städt. Ang.“1167 Als großes Ärgernis empfand die Nachbarschaft des Englischen Gartens im Frühjahr 1954 die so genannten Trabis. Es handelte sich dabei um Fahrrad-Sulkys mit vorgespannten Plüschponys, die rasante Geschwindigkeiten erzielen konnten und hinter dem Haus der Kunst verliehen wurden.1168 Ende 1954 richtete die Bayerische Gartenbaugesellschaft e.V. eine Anfrage bezüglich der Sperrung des Parks für Kraftfahrzeuge an das Amt für öffentliche Ordnung. „Der ständig wachsende Verkehr und Lärm im Stadtgebiet macht es zur Notwendigkeit, daß den Fußgängern weitere ruhige Spazierwege erschlossen werden, wo sie sich unbehelligt von den Gefahren und dem Lärm des Verkehrs bewegen und erholen können. Die öffentlichen Anlagen allein bieten hierfür nicht genügend Raum, zumal die Bevölkerung von Jahr zu Jahr erheblich wächst.“1169 Der Künstler und ehemalige SimplicissimusKarikaturist Olaf Gulbransson beschwerte sich 1956 als Anwohner des Englischen Gartens ebenfalls bei der Polizei. Ihre Villa in der Schwabinger Keferstraße nannte die Familie Gulbransson das „Kefernest“. Der Künstler klagte über lautes Radiospielen in parkenden Kraftfahrzeugen an den Seitenstraßen der Anlage. Seinem Antrag auf Sperrung der Straße für den Autoverkehr wurde jedoch nicht stattgegeben, da die Polizei keine Auffälligkeiten bemerkt hatte. Einige Zeit später wurde der Park überhaupt für den Durchgangsverkehr gesperrt. Die meisten Anwohnerinnen und Anwohner bedauerten nun, dass sie mit ihrem Auto nicht mehr durch den Englischen Garten fahren durften.1170 „An die hilfsbereite Polizei! Es ist schade, dass sich im Englischen Garten soviel Gesindel herumtreibt, hauptsächlich vermute ich des Nachts oder am frühen Morgen wenn keine Aufseher mehr unterwegs sind. Da werden Papier und dgl. unter die Büsche gelegt und angezündet (Königinstraße). Wenn nur da nicht mal ein Rasenbrand entsteht? Papierbehälter werden ausgeleert droben am Monopteros und 1167 |

Brief von Karl Schmidt an die Polizei, 12. Mai 1950. In: Polizeidirektion – Englischer

Garten vom 30.04.48 bis 06.04.1961. Stadtarchiv München, 1653. 1168 |

Protokoll über den Verleih von Trabis, Frühjahr 1954. In: Polizeidirektion – Engli-

scher Garten vom 30.04.48 bis 06.04.1961. Stadtarchiv München, 1653. 1169 |

Schreiben der Bayerischen Gartenbaugesellschaft e.V. an das Amt für öffentliche

Ordnung, Dezember 1954. In: Polizeidirektion – Englischer Garten vom 30.04.48 bis 06.04.1961. Stadtarchiv München, 1653. 1170 |

Vgl. Beschwerde von Olaf Gulbransson, 1956. In: Polizeidirektion – Englischer

Garten vom 30.04.48 bis 06.04.1961. Stadtarchiv München, 1653.

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in den Abhang geworfen. Da drpen sihet es ganz abscheulich aus. Mittags wenn die Aufseher ihre Mittagszeit haben (12-2 Uhr) da habe ich am Eisbach beobachtet, wie zwei Männer und eine kleine Frau, die hielt Umschau, eine Ente fütterten und dann mit einem Stock totschlugen um sie als Braten mitzunehmen. Es war niemand zu sehen den ich um Hilfe rufen konnte. Bin selbst teilweise invalid und traute mich nicht an das Gesindel heran. Ich bitte sie im Namen aller anständigen Erholungssuchenden diesem Treiben durch eine verstärkte Kontrolle, am besten mit einem ihrer Vierbeiner (ein Ende zu bereiten). Untertags passiert weniger etwas weil die Aufseher unterwegs sind, desto mehr des Abends und in aller Frühe treibt lichtscheues Gesindel dann ihr Unwesen. Es grüßt mit Hochachtung gez.: Maria Sprenger Leopoldstraße 21/4 (Berufstätig).“1171 Polizeiinspektor Gerstmeyer kommentiert den Sachverhalt von Seiten der Behörde: „Von dem Schreiben der Frau Sprenger Maria wurde Kenntnis genommen. Nach den gemäß dem Ersuchen durchgeführten Überprüfungen hinsichtlich der Beschwerde wird folgende Stellungnahme abgegeben. Über den Aufenthalt von sogenanntem Gesindel im Englischen Garten, konnte von hier bis jetzt keine Feststellung gemacht werden. Zudem ist der Ausdruck ‚Gesindel‘ ein sehr dehnbarer Begriff. Vermutlich hält die Beschwerdeführerin die dort so zahlreich und mit allen möglichen Arten von Bärten auftretenden Studenten und Künstler für Gesindel.“1172 Weiterhin hebt er die gute Arbeit der Polizei hervor und ist sichtlich bemüht, die Ängste der Frau Sprenger zu zerstreuen. Auch auf den Müll am Monopteros kommt Gerstmeyer zu sprechen, der Inspektor gibt sich zuversichtlich ob der geringfügigen Vergehen. „Bezüglich der Angaben über die totgeschlagene und entwendete Ente durch unbekannte Täter wurde Anzeige wegen unbefugter Jagdausübung gem. § 292 StGB. erstellt.“1173 Die Parkwächter sehen sich selbst nicht mehr in der Lage, ihre bis dato uneingeschränkt geltende Autorität gegenüber Besucherinnen und Besuchern des Parks durchzusetzen. „Trotz sichtbar angebrachter Verbotstafeln liegen in den Nachmittagsstunden (zwischen 13 und 15 Uhr) Studenten und auch andere Erwachsene in großer Zahl auf den Wiesen um die Verbotstafeln herum. Die Verwaltung war in letzter Zeit mehrmals gezwungen, die Funkstreife zu rufen und von dieser den Monopteroshügel räumen zu lassen. Im Interesse der Erhaltung dieser wertvollen Grünanlagen bitte ich darum, der Funkstreife Anweisung zu geben, an Schönwettertagen auch durch den Park zu fahren und die beschriebenen Parkabschnitte in

1171 |

Schreiben von Maria Sprenger an das Polizeipräsidium München, 3. November

1960. In: Polizeidirektion – Englischer Garten vom 30.04.48 bis 06.04.1961. Stadtarchiv München, 1653. 1172 |

Schreiben des Polizeipräsidiums an Maria Sprenger, 2. Dezember 1960. In: Polizei-

direktion – Englischer Garten vom 30.04.48 bis 06.04.1961. Stadtarchiv München, 1653. 1173 |

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dieser Hinsicht kontrollieren zu lassen.“1174 1958 berichtet die SZ von der zunehmenden Achtlosigkeit, von mutwilligen Zerstörungen und Blumendiebstählen im Englischen Garten „Hunderte von Menschen liegen an schönen Tagen neben den Verbotsschildern am Hang des Monopteros. ‚Es ist nicht nur wegen des Rasens, daß wir Leute entfernen müssen‘, so erklärt Dr. Wunschel, die Lagernden verlieren oft Metallgegenstände, die dann vom Vieh der Gartenverwaltung, das dort weidet, verschluckt werden. ‚Nur gut, daß wir die Tierklinik gleich nebenan haben‘, sagt der Präsident. 15 Kühe mußten operiert werden. Drei gingen an verschluckten Hausschlüsseln ein. Auch unverständige Hundebesitzer machen der Verwaltung große Sorgen. In der Hirschau und im Nymphenburger Schloßpark werden Rehe gehalten. Vier Geißen wurden bereits von streunenden Schäferhunden und Airedales in Stücke gerissen. Ein junger Bock rannte in seiner Angst gegen einen Baum und ging an einem Schädelbruch ein.“1175 Unter dem Titel „Stundensanatorium“ weist Richard Kerler noch 1967 in seinem Reiseführer darauf hin: „Wenn Sie an der Haltestelle Chinesischer Turm aussteigen, erreichen Sie eine schön gelegene Liegewiese, auf der Kofferradios verboten sind. Es wird darauf hingewiesen, daß ‚Schweigen und Flüstern‘ erlaubt ist. Der Liegestuhl kostet pro Tag DM 1,50, und die Stunde wird mit 30 Pfennig berechnet. Hier wird man Sie sogar wecken, wenn Sie besonders darum bitten. Die Liegewiese ist von Ende Februar bis Anfang Oktober geöffnet.“1176 Karin Kastner, die in den 1960er Jahren in München gelebt und gearbeitet hat, nimmt in dieser Zeit als einschneidende Veränderung wahr, dass die Anlagen betreten und nach Belieben genutzt werden dürfen.1177 Auch auf der Leopoldstraße ist nachzuvollziehen, wie sich Vorstellungen und Strukturen mit der Zeit verschieben. Das Geschehen im Sommer 1962 lässt sich in einer vergleichbaren Weise interpretieren. Der Historiker Gerhard Fürmetz schildert die Ereignisse, die als „Schwabinger Krawalle“ nicht nur in die Geschichte Münchens, sondern auch der Bundesrepublik eingegangen sind.1178 In einer lauen Juninacht singt eine Gruppe junger Männer auf der Leopoldstraße russische Volks1174 |

Brief der Parkverwaltung an die Polizei, 22. Mai 1957. In: Polizeidirektion – Engli-

scher Garten vom 30.04.48 bis 06.04.1961. Stadtarchiv München, 1653. 1175 |

Der Englische Garten (3. Juli 1958). In: Süddeutsche Zeitung. In: Polizeidirektion –

Englischer Garten vom 30.04.48 bis 06.04.1961. Stadtarchiv München, 1653. 1176 |

Kerler, Richard (1967): München – Wo? Ein unentbehrlicher Führer durch die Welt-

stadt mit Herz. München, S. 239. 1177 |

Vgl. Interview mit Karin Kastner am 9. Juni 2009.

1178 |

Vgl. Vortrag von Gerhard Fürmetz, Archivoberrat am Bayerischen Hauptstaatsar-

chiv, zum Thema „Die ‚Schwabinger Krawalle‘ von 1962 in der öffentlichen Erinnerung. Protestrezeption in Fernsehen, Film und Jubiläumskultur“ im Rahmen des Forschungskolloquiums „Dagegen! Formen und Funktionen von Widerständigkeit und Protest“ am Institut für Volkskunde/Europäische Ethnologie der Ludwig-Maximilians-Universität München am 5. Juli 2011 und Fürmetz 2006.

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lieder und wird dabei von einer Gitarre begleitet. Anwohnerinnen und Anwohner verständigen die Polizei. Eine Streife versucht die Musiker nach einigem Hin und Her mitzunehmen, worauf sich Passanten in das Geschehen einschalten. Immer mehr Menschen kommen dazu, und an diesem Abend sind die Befindlichkeiten so gelagert, dass niemand nach Hause gehen will. Der Großteil der Anwesenden trägt Kleid oder Kostüm, Anzug und Krawatte, wie Fotografien zeigen. Stühle werden auf die Straße gestellt und von der Polizei weggetragen. Der Verkehr soll ungestört durch Schwabing fließen, noch gibt es keine Ringstraßen um die Innenstadt. Von einer Demonstration kann im Grunde nicht die Rede sein, eine spezifische Gestimmtheit ergreift die Menschen an diesem Sommerabend in Schwabing. Nicht die Eskalation von Gewalt oder der Abbau von angestauten Aggressionen sind Kern der Krawalle, an einem bestimmten Ort wird ein abstrakter Liberalisierungsdiskurs in einer entsprechenden Atmosphäre empirisch erprobt. Die Polizei reagiert auf dieses Aushandeln von Räumen gänzlich überzogen. Fürmetz kann in seiner Untersuchung zeigen, dass der überaus vehemente Einsatz unter Polizeipräsident Manfred Schreiber nicht gerechtfertigt ist. Oberbürgermeister Vogel schätzt die Situation vollkommen falsch ein – er geht offenbar davon aus, dass sich die Zusammenkunft gegen die Modernisierung der Stadt richtet – und spricht sich ebenfalls für ein hartes Vorgehen aus. In der Rückschau versucht er seine Reaktion zu erklären, die Schwabinger Krawalle sind sicherlich als ein Tiefpunkt seiner überaus erfolgreichen Amtszeit in München zu bewerten.1179 Zahlreiche Personen werden 1962 auf der Leopoldstraße in Gewahrsam genommen, unter ihnen zum Beispiel Andreas Baader, der sich wie andere mehr oder weniger zufällig mit dem Strom der Passanten bewegt.1180 An einigen aufeinander folgenden Abenden wiederholt sich das Spektakel in Schwabing, ein Regen am Ende der Woche beendet schließlich die Konfrontationen zwischen Bürgerinnen, Bürgern und der Polizei. Entgegen verschiedener Erklärungsansätze macht Fürmetz ebenso wie der Historiker Stefan Hemler plausibel, dass die Ereignisse nicht in einem teleologischen Sinn als Vorläufer der Studentenbewegung zu werten sind. Einerseits geht es um das Ausloten von Grenzen, andererseits um Unterhaltung und kollektive Belustigung. 1181 Die Main-Post aus Würzburg berichtet 1966 über das Leben in der bayerischen Landeshauptstadt, in der man zwar viel unternehmen kann, aber kaum Übernachtungsmöglichkeiten hat. Aufgrund von Messen sind die Hotelbetten fast immer ausgebucht, und Studierende finden wegen der teuren Mietpreise keine Zimmer. Allein die so genannten Gammler plagen derart alltägliche Sorgen nach Auskunft der Reportage nicht. „Nachdem die Nächte schon empfindlich kühl geworden sind, 1179 |

Vgl. ebd.

1180 |

Vgl. ebd.

1181 |

Vgl. Hemler, Stefan (2006): Anstoß für die Studentenbewegung? Warum die „Schwa-

binger Krawalle“ wenig mit „1968“ zu tun haben. In: Fürmetz 2006: S. 151-171.

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haben die Gammler ihre bisherigen Nachtquartiere auf den Liegewiesen des Englischen Gartens aufgegeben und sind den Zugvögeln in die wärmeren Gegenden gefolgt. Nur die Allerunentwegtesten sind in große Nester in die Parkbäume des Englischen Gartens gezogen. Es gehört schon eine ganze Menge einer ziemlich heftigen Weltanschauung dazu, eine Münchner Spätherbstnacht im kahlen Geäst einer Buche zu verbringen und sich dann im Morgengrauen von der Polizei herunterschütteln zu lassen, welche die unreifen Früchtchen zum Zweck der Ausweiskontrolle aus den Bäumen holt. Die Polizisten gehen aber meist recht schonend mit den echten Gammlern um, sie überprüfen nur regelmäßig die Personalien der Langhaarigen, da sich erfahrungsgemäß sogenannte ‚kriminelle Elemente‘ als Gammler tarnen, was letztere allerdings nicht gerne sehen. Auch eine Anzahl jugendlicher Ausreißer werden auf diese Weise aufgegriffen und ihren Eltern überstellt. Außerdem sehen die Ordnungshüter den Gammlern, die nach Ansicht des Polizeipsychologen zwar im allgemeinen harmlos sind und mit ihrem ungepflegten Äußeren nur gegen die Wohlstandsgesellschaft protestieren wollen, auf die Finger, weil schon verschiedene von ihnen im Besitz von Rauschgift ertappt wurden. Gerüchteweise heißt es auch, in Gammlerkreisen würde das modische Rauschgift aus England, LSD, gehandelt. Im ganzen gibt es in Schwabing im Sommer etwa 50 Gammler, im Winter 30. Tagsüber sitzen sie auf Bürgersteigen und Anlagenbänken herum, nähren sich von Bier und trockenem Brot und lassen sich von Touristen bestaunen. Eine wenig gesunde Lebensweise, die auch von den meisten der jungen Leute nicht allzu lange durchgehalten wird, denn mit steigendem Alter und höheren Ansprüchen wird der Protest schwächer.“1182 Wie der Kulturhistoriker Wolfgang Ruppert erläutert, wird die Bezeichnung Gammler „[ f ]ür Jugendliche, die sich in der Mitte der sechziger Jahre in kleineren, subkulturellen Gruppen trafen, [...] üblich. Die sich als ‚normal‘ interpretierende Mehrheit begriff dies als Schimpfwort. In diesen randständigen Szenen wurden längere Haare dagegen als Identitätszeichen und als ein Symbol für die Selbstbehauptung als Individuum stilisiert. Die ‚herumgammelnden‘ Jugendlichen verweigerten in dieser Weltsicht nicht selten demonstrativ – wenngleich auch oft nur phasenweise – die Unterwerfung unter den üblichen Leistungsdruck in der Gesellschaft.“1183 Die Polizei schildert in einem Bericht von 1967 ihren Umgang mit dieser Gruppierung. „München war wie vorausgesehen auch im vergangenen Jahr wieder internationaler Treffpunkt der Gammler, die vorwiegend Schwabing und den Englischen Garten bevölkerten. zu größeren oder die Öffentlichkeit besonders störenden Ansammlungen – wie es früher in der Leopold-/Ainmillerstraße, auf der Liegewiese im Englischen Garten, am Monopteros, am Nikolaiplatz 1182 |

Leopold: Das Große Nachtlager der Gammler (29. Oktober 1966). In: Main-Post,

Würzburg. In: Presseamt Zeitungsausschnitte – Gammler. Stadtarchiv München, 134. 1183 |

Ruppert, Wolfgang (1998): Um 1968 – Die Repräsentation der Dinge. In: Ruppert,

Wolfgang (Hg.): Um 1968. Die Repräsentation der Dinge. Marburg, S. 11-46. Hier: S. 34-35.

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oder am Wedekind-Brunnen der Fall war – kam es mit Ausnahme beim Monopteros nicht. Dort waren aber nur zeitweise während weniger Sommertage 30 bis 40 Gammler anzutreffen. Im Spätherbst beschränkte sich eine Restgammlergruppe auf den Nikolai-Platz. Ansonsten traten die Gammler nur in kleineren Gruppen oder einzeln auf. Zurückzuführen ist dies auf eine sich das ganze Jahr über erstreckende Überwachung. Auch die anfangs wöchentlich und später monatlich in der Tagespresse abgedruckten Gammlerberichte, die über die Maßnahmen der Polizei und die Zahl der Festgenommenen unter Hinweis auf die einzelnen Delikte Auskunft gaben, dürften dazu beigetragen haben. [...] Zugleich ist damit widerlegt worden, die Münchner Polizei sei zu gammlerfreundlich und unternehme nichts oder nur wenig gegen strafbares Treiben. Aufgrund dieser Meinungsänderung sind im Gegensatz zu den früheren Jahren nur wenige und unbedeutende Beschwerden eingegangen. Dazu kommt, daß zwischenzeitlich auch die Bevölkerung den Gammlern nicht mehr so fremd gegenüber steht. Als Beweis dafür ist anzusehen, daß viele Erholungssuchende beiläufig oder absichtlich zum Monopteros gingen, um die Gammler zu beobachten und ihr Singen und Musizieren durch Beifall zu belohnen. Insgesamt wurden im vergangenen Jahr 735 (600 männliche, 135 weibliche) Gammler aufgegriffen; sie wurden teils angezeigt und festgenommen, teils den Erziehungsberechtigten übergeben.“1184 Eine Liste hält die Vergehen fest, „Hausfriedensbruch in 237 Fällen, Ausweislosigkeit in 25 Fällen, Verbotenes Lagern im Englischen Garten in 95 Fällen, Entweichen aus dem Elternhaus oder der Erziehungsanstalt, oder weil vermißt gemeldet in 193 Fällen [...]“1185 . Unter den 735 Gammlerinnen und Gammlern sind 103 aus Österreich, Italien, Frankreich, Holland, Amerika und England. Der überwiegende Teil ist zwischen 16 und 25 Jahren alt. München Schwabing gilt unter Jugendlichen weltweit als Treffpunkt der alternativen Szene. „Wie viele Gammler 1967 in München waren, ließ sich nicht feststellen; denn gerade in den Sommermonaten war die Zahl durch Zu- und Abwandern starken Schwankungen unterworfen.“1186 Durch strengere Auflagen ist es aus Sicht der Polizei gelungen, den Englischen Garten und die Ecke Leopold-/Ainmillerstraße zu entlasten. Der Bericht der Polizei endet allerdings mit der Einsicht, dass „[a]uch in Zukunft [...] in der Frage des Gammlerwesens im Vordergrund stehen [muss], daß es eine nicht strafbare Ausdrucksform der Meinung einzelner gegenüber der Gesellschaft darstellt und nicht mit Gewalt- oder Polizeimaßnahmen zu unterdrücken oder zu beseitigen ist. Nur strafbare Handlungen, nicht Ärgernisse und Unbequemlichkeiten, sind mit polizeilichen Mitteln anzugehen.“1187

1184 |

Bericht der Polizeidirektion München zum Vorgehen gegenüber den Gammlern im

Jahr 1967. In: Presseamt Zeitungsausschnitte – Gammler. Stadtarchiv München, 134. 1185 |

Ebd.

1186 |

Ebd.

1187 |

Ebd.

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Unter der Rubrik Gesellschaft berichtet auch der Spiegel über die Gammler, die vorwiegend in München anzutreffen sind. „Auch 1967 war Dreck noch immer kein Straftatbestand. Dennoch reduzierte Schreibers Polizei das Gammlertum mittlerweile erheblich. Schon 637 zumeist jugendliche Nichtstuer wurden in diesem Jahr in Deutschlands Gammler-Hochburg festgenommen, verwahrt und aus dem Verkehr gezogen – getreu dem Bekenntnis des früheren Bundeskanzlers Ludwig Erhard: ‚Solange ich regiere, werde ich alles tun, um dieses Unwesen zu zerstören.‘“1188 In dem Artikel wird unter anderem auf eine Reportage von Peter Fleischmann verwiesen, in dem Fernsehbeitrag „Der Herbst der Gammler“ dokumentiert er die Szene in München Schwabing für den Bayerischen Rundfunk und Radio Bremen. „Was ist überhaupt Gammler? Das ist doch ein Name, den die Gesellschaft uns gegeben hat. Da kann ich mich doch nicht selbst als Gammler bezeichnen. Da wär ich doch ein Idiot. Gammler ist für mich ein Schimpfwort, ich bezeichne mich als Tramper, Reisender ist etwas zu vornehm, aber Tramper oder Globetrotter, das ist das Richtige. Aber ich bezeichne mich doch niemals als Gammler“,1189 sagt ein junger Mann im Film. Zu Wort kommen auch Münchnerinnen und Münchner und andere Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik, die Äußerungen sind zum Teil drastisch, Rufe nach Hitler werden laut. Fleischmann ist entsetzt über die Erfahrungen und gründet, wie der Spiegel meldet, einen „Menschenschutz-Verein“. Dabei geht es vor allem um rechtlichen Beistand für die Jugendlichen, zum Beispiel für „Helmuth Waitschies, 20, der mit drei Mädchen in einer Gartenlaube genächtigt hatte und deshalb fast vier Wochen in U-Haft verbringen musste (Waitschies kam wieder frei, nachdem der Laubenbesitzer seine Anzeige wegen Hausfriedensbruchs zurückgezogen hatte)“1190. 1968 verfilmt Robert Fleischmann die „Jagdszenen aus Niederbayern“ von Martin Sperr, das moderne Volksstück setzt sich mit alltäglichen Formen der Ausgrenzung in einem Dorf auseinander. Der Regisseur beschreibt die Atmosphäre, die Situation eskaliert und Aggressionen beginnen sich zu entladen.1191 „Willst Du Dein Kind noch retten, dann schick ihm Geld und Zigaretten!“, lautet ein gängiger Spruch der Zeit. Hubert Bubmann lebt in den 1960er Jahren in Schwabing. Für sein Studium der Tiermedizin braucht er viele Semester und ebenso viel materielle Unterstützung von der Mutter, den Sohn beschäftigen vor allem Probleme mit Frauen. Bubmann sieht gut aus, ist stets modisch gekleidet und 1188 |

Gammler. Wiar a Kropf (23. Oktober 1967). In: Der Spiegel, Jg. 21, S. 98-99. Hier:

S. 98. In: Presseamt Zeitungsausschnitte – Gammler. Stadtarchiv München, 134. 1189 |

Fleischmann, Peter (1967): Herbst der Gammler (Ausschnitte 1-8). Verfügbar un-

ter: http://www.youtube. com/watch?v=1p-d2FlNuIA, (20. August 2011). 1190 |

Gammler. Wiar a Kropf (23. Oktober 1967). In: Der Spiegel, Jg. 21, S. 98-99. Hier:

S. 99. In: Presseamt Zeitungsausschnitte – Gammler. Stadtarchiv München, 134. 1191 |

Vgl. http://www.deutschesfilmmuseum.de/pre/ft3.php?id=body&img=3img3&m

ain=fleischmann&ass=kalender, (16. September 2011).

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verbringt die meiste Zeit in Diskotheken und Cafés.1192 Wie der Historiker Detlef Siegried deutlich macht, ist die soziale Figur des Playboys, in München mag das Wort Stenz vertrauter klingen, der Figur des Gammlers nicht unähnlich. Beide entziehen sich gesellschaftlichen Zwängen auf ihre Weise und genießen den Augenblick.1193 Siegfried setzt mit Blick auf den Topos Jugend auseinander, wie sich die Konstellationen in den langen 1960er Jahren wandeln und unter veränderten Bedingungen eine Popkultur entsteht, die global ausgerichtet ist und soziale Schranken überwinden kann.1194 Neben dem Geld, über das viele Jugendliche zunehmend frei entscheiden können, wächst die verfügbare Freizeit weiter an. Mit verbesserten Ausbildungsmöglichkeiten – immer mehr Schülerinnen und Schüler machen Abitur und beginnen zu studieren, seit 1971 wird dieser Weg auch durch das Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) unterstützt – entstehen biographische Freiräume. Zugleich beginnen sich Lebensläufe auszudifferenzieren und folgen nicht länger allzu starren Schemata.1195 Nichtsdestotrotz bleiben Milieuzugehörigkeit und Bildung bestimmende Größen für den Werdegang, dabei erhöhen sich allerdings die Chancen auf Variation. Gisela Holighaus wohnt in den 1960er Jahren ebenfalls in Schwabing. „Auf meiner Vespa hab’ ich immer zwei Leute mitgenommen und bin zum Wedekindplatz gefahren, in eine Kneipe mit LiveMusik. Und in der Früh wieder zum Praktikum.“1196 Angelehnt an den britischen Historiker Eric Hobsbawm verfolgt auch der Schweizer Historiker Jakob Tanner, wie sich in den 1950er und 1960er Jahren eine Jugendkultur entfaltet. Jugend wird zum Konzept, zur Konsumform, zur Einstellung, zur Haltung und hat nicht mehr primär mit dem Alter zu tun. Nachdem sich alternative Lebensstile ausgebildet und gewissermaßen etabliert haben, werden ihre ästhetischen Qualitäten vom Mainstream mit anderen Inhalten belegt. Und noch ein weiterer Faktor spielt in postmodernen Zeiten eine zunehmend bedeutendere Rolle. „Die Massenmedien – allen voran das Fernsehen, das Radio, Illustrierte, Tageszeitungen, aber auch die seriell und massenhaft reproduzierten Tonträger selbst – standen im Dienste einer Multiplikation und Ausbreitung jener Ereignisse, in denen ‚counterculture‘ sich äußerte.“1197 Wie Detlef Siegfried erläutert, gehen die Prozesse der Liberalisierung und der Kommerzialisierung in den 1960er Jahren geradezu fließend ineinander über. „Wo Gammler und Hippies aus aller Welt in milden Nächten auf den Bäu1192 |

Vgl. Gespräch mit Karl Egger am 4. Oktober 2011.

1193 |

Vgl. Vortrag von Detlef Siegfried, Professor für Deutsche Geschichte und Kul-

turgeschichte an der Universität Kopenhagen, im Rahmen der Ringvorlesung „Protest! Wissenschaftliche Perspektiven“ an der Ludwig-Maximilians-Universität München, zum Thema „Forever Young. Pop und Protest in den 60er Jahren“ am 23. Mai 2011. 1194 |

Vgl. ebd.

1195 |

Vgl. ebd.

1196 |

Gespräch mit Gisela Holighaus am 30. Mai 2008.

1197 |

Tanner, Jakob (2008): „The Times They Are A-Changin’”. In: Gilcher-Holtey, Ingrid

(Hg.): 1968. Vom Ereignis zum Mythos. Frankfurt am Main, S. 275-295. Hier: S. 281.

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men schlafen“,1198 mit diesem Satz wirbt eine offizielle Werbebroschüre der Stadt 1968 in Mexiko für die XX. Olympischen Sommerspiele und betont die offene Atmosphäre von München. Eine hedonistische Lebensweise bietet scheinbar die einzige Gelegenheit, der vermeintlich alles vereinnahmenden und von den Sozialwissenschaften entsprechend kritisch diskutierten Kulturindustrie zu entrinnen. In dieser Zeit ist auch das ökonomische, räumliche und zeitliche Kapital vorhanden, damit in der Bundesrepublik viele Menschen gleichzeitig aussteigen können.1199 Wolfgang Schivelbusch konstatiert, dass der gesellschaftliche Wandel auch am Verhältnis zu Drogen und Genussmitteln abzulesen ist. „Bis etwa zum Jahre 1960 war die Haltung in den westlichen Ländern von einer Art Berührungsangst gekennzeichnet. Man sah in den Rauschdrogen bewußtseinsverändernde, schlimmer noch, identitätsauflösende Stoffe, die den Zusammenhalt der bürgerlichen Gesellschaft gefährden. Dieser Konsensus bröckelt seit den 60er Jahren zusehends ab. Etwa gleichzeitig mit der Liberalisierung der Sexualität setzt sich in den meinungs- und stilbildenden Kreisen der Bevölkerung eine neue Auffassung durch. Die Berührungsangst macht einem neuen Interesse Platz. Die überlieferten Anschauungen von den Wirkungen der Drogen werden in Frage gestellt. Man betrachtet die Rauschdrogen as mögliche Schlüssel für eine neue Sensibilität. Die in der Jugendkultur der 60er Jahre so beliebten Schlagwörter wie Persönlichkeitserweiterung, Bewußtseinsveränderung, Ich-Erfahrung usw. stehen in engem Zusammenhang mit dem gleichzeitigen Drogenkonsum. Die Generation, die Haschisch und Marihuana raucht, setzt sich symbolisch und pharmakologisch gegen die alkoholtrinkende Vätergeneration ab, so wie umgekehrt diese sich durch den Drogengenuß der Jüngeren bedroht fühlt. Der ‚Joint‘ wird zum Symbol dieser Jugendbewegung. Zigarettenrauchen und Alkoholtrinken stehen für Leistungsprinzip, Autorität usw., Haschisch und Marihuana für die Befreiung davon.“1200 Mit der Vorabendserie „Der Bastian“, die Hauptfigur ist ein junger Lehrer, der von Horst Janson gespielt wird, bringt das ZDF das studentische Milieu erst 1973 einem breiten Publikum näher.1201 1198 |

Hinweis auf ein Faltblatt der Landeshauptstadt München für die Olympischen

Spiele in Mexiko, 1968. In: Gewerkschaften, Archiv der Münchner Arbeiterbewegung. 1199 |

Vgl. Vortrag von Detlef Siegfried, Professor für Deutsche Geschichte und Kultur-

geschichte an der Universität Kopenhagen, im Rahmen der Ringvorlesung „Protest! Wissenschaftliche Perspektiven“ an der Ludwig-Maximilians-Universität München, zum Thema „Forever Young. Pop und Protest in den 60er Jahren“ am 23. Mai 2011 und Siegfried, Detlef (2006): Time Is on My Side. Konsum und Politik westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre. (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, 41) Göttingen, S. 399. 1200 |

Schivelbusch, Wolfgang (1981): Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft.

Eine Geschichte der Genußmittel. 2. Aufl. München; Wien. 1201 |

Vgl. http://zdf-shop.de/Weitere-Kultserien-Der-Bastian-DVD-Die-komplette-ZDF-

Kultserie-,48,1101.html, (11. Juli 2010).

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In Schwabing halten sich schon bedingt durch die Ludwig-Maximilians-Universität überwiegend junge Menschen auf, sitzen in Cafés und Lokalen, lernen sich kennen, rauchen und debattieren über die Vergangenheit der Väter und Lehrer, über Beziehungen, Ho-Chi-Minh und Vietnam. „[Ulrich] überlegte, ob er ins Seminar fahren sollte. Er hatte den Heidegger-Aufsatz nicht gelesen. [...] Da war wieder dieser Druck hinter der rechten Schläfe. Er nahm sich vor ans Seminar zu fahren, falls eine Wolke am Himmel zu sehen war. Er ging zum Fenster, der Himmel war wolkenlos.“1202 Der slowenische Fotograf Branko Senjor hält in den 1960er Jahren die Aktionen und Debatten an der Münchner Kunstakademie fest und fängt die Gestimmtheit der Happenings mit seiner Kamera ein.1203 Jimmy Hendrix und die Rolling Stones gastieren in der Stadt. „PN-Hithouse“ und „Big Apple“ sind die angesagtesten Lokale mit Live-Musik auf der Leopoldstraße.1204 Künstlerisch und politisch werden innerhalb weniger Jahre immer extremere Positionen eingenommen. Bands wie Amon Düül erproben nicht nur musikalisch neue Wege, sondern auch das Leben in einer Kommune.1205 „Rote Sonne“ heißt ein Film von Rudolf Thome, in dem Uschi Obermaier 1969 die Hauptrolle und Hark Bohm einen linken Studenten spielt. Die junge Frau aus dem Münchner Stadtteil Sendling wird in den folgenden Jahren gemeinsam mit Rainer Langhans für Furore sorgen, als Model und Mitglied der Kommune 1 verkörpert sie wie niemand anderes die Verbindung von aktivistischem Anspruch und kommerzieller Vermarktung. Frei nach der Devise „Wer einmal mit demselben pennt, gehört schon zum Establishment!“ erschießen die Bewohnerinnen einer Schwabinger Frauen-WG in Thomes Film ihre Liebhaber auf offener Straße. Dabei geht es ausdrücklich nicht um einen Kampf der Geschlechter, sondern um die Vermeidung von Wiederholungen und Abhängigkeiten.1206 In den späten 1960ern ist auch in München eine zunehmende Radikalisierung zu verspüren. Detlef Siegried fasst zusammen, dass Massenphänomene und Gegenkulturen, Hedonismus und schließlich Linksradikalismus mit den Ereignissen und Entwicklungen des Jahres 1967 endgültig verschmelzen.1207 Im April 1968 eskaliert eine Demonstration in der Schellingstraße. Anlässlich des Anschlags auf den Studentenführer Rudi Dutschke in Berlin richtet 1202 |

Timm 2005: S. 40.

1203 |

Vgl. Senjor, Branko (2006): Sechzigerjahre. Umbruchsjahre. München.

1204 |

Vgl. Fotografien von Uli Handel. In: Bildbestand Wolfgang Roucka.

1205 |

Vgl. Neumeister 2008: S. 202 und Schober, Ingeborg (1982): Pop-Musik und Mu-

sik-Läden. In: Festausschuß für die 1200-Jahrfeier von Schwabing (Hg.): 1200 Jahre Schwabing. Geschichte und Geschichten eines berühmten Stadtviertels. München, S. 75-83. Hier: S. 75. 1206 |

Vgl. Thome, Rudolf (1969): Rote Sonne. Spielfilm.

1207 |

Vgl. Vortrag von Detlef Siegfried, Professor für Deutsche Geschichte und Kul-

turgeschichte an der Universität Kopenhagen, im Rahmen der Ringvorlesung „Protest! Wissenschaftliche Perspektiven“ an der Ludwig-Maximilians-Universität München, zum Thema „Forever Young. Pop und Protest in den 60er Jahren“ am 23. Mai 2011.

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sich der Protest der Außerparlamentarischen Opposition (APO) in München gegen das Buchgewerbehaus, in dem sich die lokale Redaktion der Bild-Zeitung befindet. Am Ostermontag werden der PresseFotograf Klaus Frings und der Student Rüdiger Schreck in diesem Kontext tödlich verletzt.1208 „Mode: Sie wird in Schwabing nicht gerade gemacht, dafür aber nach dem neuesten Stil getragen. Was in London, Paris oder Rom gerade ‚in‘ ist, gilt auf der Leopoldstraße ebenfalls als der letzte Schrei. Und wenn man es genau nimmt, unterscheiden sich zum Beispiel die King’s Road oder die Carnaby Street nur durch die englischen Worte der Leuchtreklame von der Leopoldstraße. So ist es nicht verwunderlich, wenn Schwabing von Dutzenden von Boutiquen durchsetzt ist“,1209 heißt es in Kerlers München-Buch. On the go. Schwabings Zeitschrift berichtet 1967 von den zahlreichen Boutiquen im Viertel, das Magazin hat Raoul Hoffmann, Schraudolphstraße 13, herausgegeben. Deutlich wird an dem Heft und seinen Inhalten, wie politische Themen und ökonomische Ziele unter dem Etikett Popkultur ineinander aufgehen. „Bunter und erregender die Farben, jung die Schnitte, Stofffetzen, die aufreizen – verzücken: Boutiquen. Individualität ist Trumpf. Boutiquen-Mode unterstreicht die Persönlichkeit, schockiert die Umgebung – mit Gefühl. Mode zum Liebhaben: Wer gefällt ist sicher. In Schwabings Boutiquen treffen sie sich, flirten, diskutieren, hören Beat. On the go berichtet: Boutiquen-Boom.“1210 Neben der Mode geht es in dem Magazin um Selbstbefriedigung, Kriegsdienstverweigerung und psychedelische Klangerlebnisse, diverse Läden werden vorgestellt. „Hildegard-Boutique, Türkenstraße, Bes. Hildegard Dointzenly. Die erste Boutique Schwabings: 1955 eröffnet. In Paris sah sie die kleinen Boutiquen an der Faubourg St. Honoré: ‚in München müßte doch so etwas auch gehen, hab ich mir gedacht‘ erinnert sich die Besitzerin. 3 Jahre dauerte es, bis sie München mit ihren Ideen begeisterte: heute kommen die Töchter mit ihren Müttern, um dezent modische Sachen zu suchen. Auch Mary Quant-Modelle sind in der Hildegard-Boutique vertreten: Hildegard bleibt jung.“1211 Auf einem Stadtplan sind die verschiedenen Geschäfte eingezeichnet. „Schwabinger Modetruhe, Belgradstr. 34, Bes. Arno Aidlhammer, seit Mai 66. Besonderheit: Die Schwabinger Modetruhe fertigt handgestickte Modelltrachten an, Theaterröcke, handgestrickte Kostüme – daneben bezaubern Louis Ferauds Zeltkleider für 99 Mark, weiß und schwarz, mit farbigen Einsätzen, enggeschnittene Hosenanzüge in degressiven Pastellfarben. Die ‚gepflegte Jugend‘ kauft in der Schwabinger Modetruhe: Innen

1208 |

Vgl. Nick, Thomas (2003): Protest Movements in 1960s West Germany: a social

history of dissent and democracy. Oxford; New York, S. 174. 1209 |

Kerler 1970: S. 170.

1210 |

On the go. Schwabings Zeitschrift, 1967. Vorwort. In: Zeitgeschichtliche Samm-

lung – Schwabing. Stadtarchiv München, 469/4. 1211 |

Ebd.: S. 18.

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ist das Geschäft dekoriert wie ein oberbayerischer Trachtenladen: ein Besuch ist ein Erlebnis.“1212 Die Beschreibungen beziehen sich auch auf die Kundinnen und Kunden und den Ort, an dem sich die einzelnen Geschäfte befinden. „Gundula-Boutique, Schellingstr. 23, seit vier Jahren, Bes. G. Busse, führt zu günstigen Preislagen und in erster Qualität: eine große Auswahl Hemden, Pullis, Krawatten! Apropos Krawatten: in der Gundula-Boutique finden sie schicke Sachen aus Frankreich und Italien. Geschickt berät sie die Inhaberin: ‚man kann auch modisch gekleidet sein, ohne gleich aus der Rolle zu fallen!‘ Besonderes Kennzeichen: früher verkaufte Ringelnatz hier seine Zigaretten!“1213 Eckhart Just ist in München geboren und aufgewachsen, er erinnert sich an seine Kindheit nach dem Krieg. Eines Tages tropfte es ins Bett, da ein anderer Bewohner des Hauses in Schwabing das Blech, mit dem das Dach notdürftig geflickt war, über seine eigene Unterkunft geschoben hatte. Einige Zeit darauf bekam die Familie eine größere Wohnung in der Königinstraße, die Eltern vermieteten einzelne Zimmer an Studentinnen, die zur Freude des Sohnes oft Feste im Hof feierten. Der Vater war als Modellschneider bei Loden-Frey beschäftigt, und der Sohn ging ebenfalls bei dem Unternehmen in die Lehre. Mit seinen Freunden zog der junge Mann am Abend um die Häuser. Einmal hört er in einem Lokal von einer Feier, stimmt sagt einer, frag den Joe, der weiß Bescheid. Just tippt den anderen an und der kennt die Adresse. In der Herzogstraße wird ein Atelierfest mit Lesungen und Auftritten gegeben. „Das war einmalig!“1214 Ende der 1960er Jahre macht sich Eckhart Just selbstständig und eröffnet in der Schleißheimerstraße die „Schwabinger Boutique“. Die Geschäfte laufen ausgezeichnet, der Laden liegt auf dem direkten Weg zum Olympiapark.1215 Ein besonderes Angebot führt die „Tagari Boutique – Kurfürstenstr. 27. In einem alten Schusterladen hat Margarete von Diringshofen Platz gefunden für ihr Sammelsurium von überallher: für ihre griechischen Schnürsandalen, ihre handgeknüpften Wandteppiche aus Kreta, ihre herzigen finnischen Baumwollkleidchen, ihre spanische und südfranzösische Keramik: Tagari bedeutet Hängetasche – und in dieser bis oben vollgestopften ‚Tasche‘ herrscht eine Atmosphäre wie in den Volkskunstboutiquen im Pariser Quartier Latin, einfach, natürlich, unaufdringlich.“1216 Die Besitzerin ist 1930 in Potsdam geboren. Die Geschichte ihrer Familie ist über die Linie der Mutter mit der Geschichte von München verwoben; der Urgroßvater Hugo von Ziemssen wurde im 19. Jahrhundert von den Wittelsbachern zum 1212 |

Ebd.

1213 |

Ebd.: S. 22.

1214 |

Interview mit Eckhart Just am 12. Mai 2010.

1215 |

Ebd.

1216 |

On the go. Schwabings Zeitschrift, 1967. Vorwort. In: Zeitgeschichtliche Samm-

lung – Schwabing. Stadtarchiv München, 469/4, S. 27.

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medizinischen Direktor des städtischen Klinikums berufen. Die Großmutter war eine Jugendfreundin des Malers Franz Marc und selbst Kunsthandwerkerin. Die Tochter besuchte eine Eliteschule der Partei. Als 15jährige flüchtete sie mit ihrer Tante nach München und wurde in der Schwabinger Konradstraße einquartiert. Nach dem Besuch der Modeschule, Abteilung Gestalten und Entwerfen, und ersten Stelle als Leiterin eines Ateliers in Frankfurt am Main, ging die junge Frau nach Frankreich und verkaufte Bikinis am Strand von Saint-Tropez. Einige Jahre verbrachte Margarete im Ausland, in Griechenland, Italien und Frankreich, um sich mit den Sprachen und der Kunst zu beschäftigen. Im Haus ihrer Mutter in Würzburg eröffnet sie nach ihrer Rückkehr einen ersten eigenen Laden. Seit 1966 hat Margarete Diringshofen das alternative „Tagari“ in der Kurfürstenstraße. Warum sie nach München gegangen ist? Nicht München, Schwabing hat sie gelockt. „Die Szene, aber auch die Geschichte des Viertels, die Familie, die damit doch so eng verbunden ist.“1217 Der Laden bewahrt ihre Erfahrungen und Erlebnisse in Fotografien und Objekten.

I N DER TR AUMSTADT. V ON DER G ENTRIFIZIERUNG EINER G ESCHMACKSL ANDSCHAF T „In der Traumstadt ist ein Lächeln stehn geblieben; niemand weiß, wem es gehört. Und ein Polizist hat es schon dreimal aufgeschrieben, weil es den Verkehr, dort wo es stehn geblieben, stört. Und das Lächeln weiß auch nicht, wem es gegolten; immer müder lächelnd steht es da, kaum beachtet, und gescholten und geschubst und weggedrängt, wenn ja. Langsam schleicht es sich von hinnen; doch auf einmal wird es licht verklärt und dann geht es ganz nach innen – und du weißt, wem es gegolten und gehört.“1218

Auf der Grundlage einer Zeitungsanalyse stellt Gernot Ruhl zu Beginn der 1970er Jahre fest, dass „[d]er Entwicklungsschub, den der am 26. April 1966 erteilte Zuschlag zur Ausrichtung der Olympischen Spiele des Jahres 1972 mit sich brachte, [...] Münchens positives Image dann [...], ebenso die Zahl der zuwanderungswilli-

1217 |

Interview mit Margarete Diringshofen am 26. Juni 2008.

1218 |

Althaus, Peter Paul (1969): In der Traumstadt. Dr. Enzian. Gedichte. München, S. 29.

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gen Privatpersonen und Unternehmen [ins Phantastische wachsen ließ]“1219 . Infolge dieses Interesses entsteht ein enormer Druck auf die städtischen Räume und ist in ganz München, besonders aber in Schwabing zu spüren. Ein Band, den die Schriftstellerin Oda Schaefer, die seit Jahrzehnten in dem Viertel lebt, im Olympiajahr 1972 herausgegeben hat, trägt den Titel „Schwabing verliebt, verrückt, vertan“. Versammelt sind Texte von Ludwig Thoma, Erich Mühsam und anderen, die um 1900 in dem Stadtteil der Künstlerinnen und Künstler gelebt haben. In ihrem Nachwort klagt Oda Schaefer über das Verschwinden von Menschen, Räumen und Zeiten und verbindet ihre mitunter nostalgisch anmutende Rückschau mit einer ausdrücklichen Kritik an den Verhältnissen der Gegenwart: „Und wenn Wedekind es noch als ein Arkadien und zugleich als ein Babylon bezeichnete, so ähnelt es momentan eher der Fremdenfalle St. Pauli in Hamburg oder dem Scheidungsparadies San Reno in den USA als dem Wahnmoching der Fanny Reventlow. Hochhäuser, wie die schwarze Kaaba eines Kaufhauses anstelle der alten Schwabinger Brauerei, verfremden den Ort der ‚Talentdrohnen und Kulturbrummer, der Schaffer und Macher‘. [...] Schwabing nimmt die Züge eines aufs Merkantile gerichteten Unternehmers an, der zugleich Immobilien-Makler, Nachtbarbesitzer und Rauschgifthändler ist.“1220 Schwabing ist auch die Bühne, die sich den Samys zu einer bestimmten Zeit geboten hat, und die Brüder haben Ort und Atmosphäre augenscheinlich zu nutzen gewusst. Wenn ein Laden einträglich angelaufen ist, haben sie 49 Prozent der Anteile verkauft und ihr Kapital in das nächste Lokal investiert. Eine Ferienanlage in Spanien ist die bis dato größte Vision der Brüder. Das Stück endet tragisch, mit nur 35 Jahren kommt Anusch Samy bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Das Geschäftsmodell bricht mit dem Tod des Bruders im Jahr 1971 zusammen, nach vier Jahren ist der Rausch vorbei. Temur Samy kann die Läden allein nicht halten, geht aus München weg und lässt sich in Spanien nieder.1221 „Das ehemalige Citta 2000 (Leopold-/Ecke Giselastraße) mit seiner berühmten ‚Goldenen Hand‘ wurde 1969 als Vergnügungszentrum eröffnet. Es symbolisierte das ‚neue‘ Schwabing aus Schockfarben, Beat und Pop, Flower Power, Freiheit und Anti-Establishment. Genauso wie diese Aufbruchszeit ist das Citta 2000 als Institution den Weg alles irdischen gegangen: Bereits 1973 meldeten die Besitzer, die Gebrüder Samy (die ‚Könige von Schwabing‘) Konkurs an. Die goldene Hand wurde versteigert

1219 |

Deutinger 2001: S. 26-27.

1220 |

Schaefer, Oda (1972): Nachwort. In: Schaefer, Oda (Hg.): Schwabing. Verliebt,

verrückt, vertan. Vers und Prosa von 1900 bis heute. München, S. 189-215. Hier: S. 215. 1221 |

Mal Ekstase sehen (27. Juli 1970). In: Der Spiegel, 21. Jg., S. 43-45. Hier: S.

43-45. Verfügbar unter: http: //www.spiegel.de/spiegel/print/d-44916204.html, (10. September 2011).

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und verschwand.“1222 Im gleichen Jahr fragt der SPD-Ortsverband Westschwabing: „Wissen Sie eigentlich, was mit ihrem Stadtviertel geschieht?“1223 Der AK Öffentlichkeitsarbeit informiert über das Gebäude des ehemaligen „Blow-up“ am Elisabethmarkt. „Es ist entschieden: In die Schauburg kommt kein Supermarkt! Co-op hat endgültig aufgegeben. Damit hat sich Bürgersinn gegen Profitdenken durchgesetzt!“1224 In chronologischer Reihe wird die Geschichte der „Schauburg“ dokumentiert. Im Jahr 1927 als Filmtheater gegründet, hat eine Bombe den Prachtbau 1944 zerstört, aber schon zwei Jahre darauf eröffnet die „Schauburg“ wieder als Kino. 1967 zieht für drei Monate ein Theater in das Haus, bevor die Samy Brüder die Räume übernehmen und mit der Umgestaltung zum „Blow up“ beginnen. Nach ein paar überaus erfolgreichen Jahren als Diskothek wird 1971 noch versucht, den Betrieb unter dem Namen „Weißes Haus“ als Nachtlokal weiterzuführen. Im folgenden Jahr wird die Lokalität endgültig geschlossen und das Haus bleibt zunächst einmal ungenutzt. Wie viele andere Kinos soll auch die „Schauburg“ in dieser Zeit zu einem Supermarkt umgebaut werden, im September 1972 bemüht sich die Handelskette Co-op um einen Kaufvertrag. „1973 März: spontane Gründung einer Bürgerinitiative zur Verhinderung des co-op Projekts. 1973 April: Erster Erfolg der Bürgerinitiative: Ablehnung des co-op Umbauantrages durch die Lokalbaukomission. 1973 Mai: co-op klagt gegen den Ablehnungsbeschluß beim Verwaltungsgericht. 1973 September: co-op zieht die Klage zurück und verzichtet damit auf den Standort ‚Schauburg‘.“1225 In dem Heft wird außerdem eine weitere Erfolgsgeschichte präsentiert, zwei Juristen aus den Reihen der Jungsozialisten haben Bewohnerinnen und Bewohner der Kaiserstraße 42 beraten und Mieterhöhungen von bis zu 300 Prozent abwiegeln können.1226 „Schwabing“, heißt es in dem städtischen Image-Film, mit dem der Jensen-Plan 1963 vorgestellt worden ist, „ist der großzügigste Bezirk der toleranten Stadt.“1227 Schwabing ist nach 1945 allerdings auch der erste Stadtteil in München und einer der ersten Bezirke der Bundesrepublik, der geradezu idealtypisch gentrifiziert wird. Dieser Begriff geht auf die britische Soziologin Ruth Glass zurück, die sich Anfang der 1960er Jahre mit den Transformationen in dem Londoner Quartier Islington

1222 |

Weyerer, Benedikt (1988): München zu Fuß. 20 Stadtteilrundgänge durch Ge-

schichte und Gegenwart. Hamburg, S. 220. 1223 |

„West Schwabing aktuell“, Zeitschrift des AK Öffentlichkeitsarbeit der SPD West-

schwabing, Oktober 1973. In: Zeitgeschichtliche Sammlung – Schwabing. Stadtarchiv München, 469/4. 1224 |

Ebd.

1225 |

Ebd.

1226 |

Vgl. ebd.

1227 |

München (1963): Großstadt mit Tradition und Zukunft. Image-Film der Landes-

hauptstadt München. In: Stadtarchiv München.

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befasst.1228 „Er ist vom englischen Wort ‚gentry‘ (niederer Adel) abgeleitet und wird seither zur Charakterisierung sozialräumlicher Entwicklungsprozesse von Stadtquartieren genutzt.“1229 Schwabing ist als Wohnraum vor allem für Studierende und Auszubildende interessant, viele leben in Zimmern zur Untermiete oder teilen sich große Altbauwohnungen als Wohngemeinschaften. Viele Häuser sind heruntergekommen, die maroden Gebäude müssen saniert werden, und in den 1960er Jahren ist das entsprechende Kapital vorhanden, um diese Arbeiten auszuführen. Zum anderen wird das Viertel nahe der Innenstadt mit seiner Beliebtheit auch für Investoren interessant. Unterkünfte bleiben in München trotz der massiven Baumaßnahmen knapp, weil gleichzeitig immer noch mehr Menschen zuziehen. Die Stadtforscherin Ingrid Breckner erklärt, dass „[...] man unter Gentrifizierung eine allmählich durch Erneuerungsmaßnahmen und/oder Eigentümerwechsel entstehende Dominanz einkommensstarker Haushalte in attraktiven urbanen Wohnlagen zu Lasten von weniger verdienenden Bevölkerungsgruppen“1230 versteht. Aufgrund dieser Verschiebung kommt es mitunter auch zu massiven Konflikten. Ein Objekt aus einem rot lackierten, gedrechselten Stück Holz steht auf dem Regal neben Margarete Diringshofens Eingangstür. Das Fundstück stammt von dem historischen Handlauf einer Treppe in der Türkenstraße und soll an die Gründung der „Aktion Maxvorstadt“ im Jahr 1971 erinnern.1231 Reihenweise sind in Schwabing in dieser Phase historische Ensembles abgebrochen oder der zeitgenössischen Mode entsprechend modernisiert worden. Die Dekoration und das Inventar der Jahrhundertwende erfahren in den 1960er Jahren oft keine Wertschätzung und landen auf dem Schutt. Neben der Aufarbeitung in einigen wissenschaftlichen Arbeiten gewinnen Bauten und Objekte aus der Zeit des Jugendstils vor allem mit zwei Ausstellungen der Villa Stuck gegen Ende des Jahrzehnts wieder an Bedeutung.1232 Mit dem Denkmalschutzgesetz, das die Bayerische Staatsregierung im Jahr 1973 verabschiedet hat, kann als erstes Gebäude das Hildebrandhaus in Bogenhausen vor dem unmittel1228 |

Vgl. Glass, Ruth (1964): London: aspects of change. London. Zitiert nach: Breckner,

Ingrid (2010): Gentrifizierung im 21. Jahrhundert. In: APuZ, 17/2010, S. 27-32. Hier: 27. Verfügbar unter: http://www.bpb.de/publikationen/5C7FXX,0,Gentrifizierung_im_21_Jahrhundert.html, (1. April 2011). 1229 |

Breckner, Ingrid (2010): Gentrifizierung im 21. Jahrhundert. In: APuZ, 17/2010,

S. 27-32. Hier: 27. Verfügbar unter: http://www.bpb.de/publikationen/5C7FXX,0,Gentrifizieru ng_im_21_Jahrhundert.html, (1. April 2011). 1230 |

Ebd.

1231 |

Vgl. Besuch bei Margarete Diringshofen am 30. Juli 2009.

1232 |

Vgl. Wichmann, Siegfried (Hg.) (1968): Herman Obrist. Wegbereiter der Moderne.

Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in der Villa Stuck. München und Wichmann, Siegfried (Hg.) (1969): Internationales Jugendstilglas. Vorformen moderner Kunst. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in der Villa Stuck. München.

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bar bevorstehenden Abbruch gerettet werden. In der Villa des Bildhauers Adolf von Hildebrand wird nach der grundlegenden Sanierung das Literaturarchiv der Stadt untergebracht.1233 Ein umkämpfter Raum ist auch die Seidlvilla am Nikolaiplatz. Anfang der 1970er Jahre wird bekannt, dass das Gebäude abgerissen werden soll, nach anhaltenden Protesten können Haus und Garten aber erhalten und zu einem Bürgerzentrum umgebaut werden.1234 „Wenn Schwabing ein Dorf geblieben wäre, dann hätte es Probleme wie den Ausverkauf der Altbauwohnungen, das Vordringen der Diskotheken und Boutiquen in ehemalige Einzelhandelsgeschäfte oder den Siegeszug des Autos durch das Siegestor bis in die Hinterhöfe nicht gegeben. Wo sollen aber jetzt die Kinder spielen, wo ist das bisschen Grün vor oder hinter der Haustüre geblieben?“1235 Der Architekturstudent Alfred Sommer bedauert den Wandel im Stadtteil wie viele Bewohnerinnen und Bewohner und illustriert mit seiner Aussage, dass der Prozess der Gentrifizierung von verschiedenen Akteurinnen und Akteuren auch entsprechend unterschiedlich wahrgenommen und eingeordnet wird. „Es ist also kein Wunder, dass sich ausgerechnet in Schwabing im Jahre 1973 Bewohner zusammengetan haben, um einen ‚gemeinnützigen Verein zur Verbesserung des Wohnens in der Stadt‘ zu gründen – kurz URBANES WOHNEN genannt.“1236 Wie der Musiker Florian Fricke zusammenfasst, haben die Olympischen Spiele in München 1972 „[...] einen Höhepunkt [bedeutet] und gleichzeitig den Wendepunkt. Der naive Traum der Hippies schien ausgeträumt. Nüchternheit machte sich breit und den englischen Garten eroberten die Ordnungshüter zurück.“1237 Schwabing wird in ästhetischer und vor allem in kommerzieller Hinsicht modernisiert. „Früher war’s das Künstlerviertel Schwabing – Schwabylon. Heut’ markieren Viertelkünstler Schwabing – Babylon.“1238 Wie Fanny Reventlow um die Jahrhundertwende von Wahnmoching spricht, sucht PPA die Atmosphäre von Schwabing in den 1960er Jahren zu bewahren. Als Gegenentwurf zum veränderten Gefüge des Stadtteils überführt der Dichter sein Ideal von Schwabing, die „Traumstadt“ aus seinen Gedichten in konkrete Praktiken und Strukturen. Am 29. April 1965 findet die erste Bürgerversammlung der „Traumstädterinnen und Traumstädter“ statt. Die Zusammenkünfte und Veranstaltungen werden zumeist in der Woh1233 |

Vgl. Nida-Rümelin, Julian; Özmen, Elif (2006): Humanismus als Leitkultur. Ein Per-

spektivenwechsel. München, S. 186. 1234 |

Vgl. http://www.seidlvilla.de/geschichte.htm, (19. September 2011).

1235 |

Sommer, Alfred (1982): Es grünt so grün – in den Höfen. Der Verein ‚Urbanes Woh-

nen‘. In: Festausschuß für die 1200-Jahrfeier von Schwabing (Hg.): 1200 Jahre Schwabing. Geschichte und Geschichten eines berühmten Stadtviertels. München, S. 157-159. Hier: S. 157. 1236 |

Sommer 1982: S. 157.

1237 |

Fricke 2007, S. 97

1238 |

Fricke 2007: S. 97.

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nung des Malers Oswald Malura in der Kaulbachstraße 75 abgehalten.1239 Althaus „[...] nannte sich, und wurde auch so genannt: ‚Bürgermeister der Traumstadt‘, womit eben doch nur Schwabing gemeint war; denn Hans Jochen Vogel, Oberbürgermeister der Münchnerstadt bis 1972, pflegte PPA, wenn sich die beiden irgendwo trafen, immer mit ‚Herr Kollege‘ anzureden, ein Beweis, daß Schwabings außerordentlicher Status offiziell anerkannt wurde.“1240 Vogel wird zum „Ehren-OberTrambahnschaffner“ der „Traumstadt“ ernannt und meldet per Telegramm: „Ab heute Dienst angetreten“1241 . Ende der 1950er Jahre zieht sich Peter Paul Althaus jedoch in seine „Matratzengruft“ zurück. Die kommenden sechs Jahre verbringt der kranke Dichter zusammen mit sieben Katzen in einer Mansardenwohnung. „Ein Neubau erboste ihn dermaßen, daß er auf die Bauarbeiter leere Bier- und Kognakflaschen hinunterschmeißt“,1242 berichtet Kristl. Mit einem Tonbandgerät nimmt Malura die Botschaften des Freundes auf und spielt die Nachrichten am Stammtisch in der „Seerose“ ab. Von der Stadt München hat sich Althaus ein Ehrengrab auf dem Nordfriedhof erbeten; aus seinem Nachlass stammt auch der „Entwurf einer Grabrede“, die auf seiner Beerdigung vor den Freundinnen und Freunden verlesen werden soll: „Einstweilen Addio! – Werft Eure Schaufeln und streut Eure Blumen. Und dann geht in die ‚Seerose‘. Ich habe dort hundert Mark hinterlegt. Die könnt ihr auf mein jenseitiges Wohl versaufen! Allerherzlichst Euer PPA.“1243

1239 |

Vgl. Literarischer Salon in der „Traumstadtwohnung“, Kaulbachstraße 75, zum

Thema „Rainer Maria Rilke und München“ am 1. Dezember 2011. 1240 |

Seeberger, Kurt; Rambeck, Brigitta (1980): Schwabing. Ein abenteuerlicher Weltteil.

München, S. 86. 1241 |

Seeberger; Rambeck 1980.

1242 |

Kristl 1976: S. 69.

1243 |

Entwurf einer Grabrede. In: Autorenmappe Peter Paul Althaus. In: Monacensia

Literaturarchiv und Bibliothek der Landeshauptstadt München.

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11. Die Sommerspiele der XX. Olympiade 11. in München

„Unter einem strahlend blauen Himmel, der die futuristischen Formen des Zeltdachs und die kühne Konstruktion des Olympiaturms besonders eindrucksvoll hervortreten ließ, vereinigten sich die Gäste aus allen Erdteilen und die Aktivitäten zu einem einzigartigen und unvergeßlichen Farbenpanorama“,1244 schreibt der Sportreporter Karl Adolf Scherer in einem Bildband zur Erinnerung an München 1972. „Heute um 15 Uhr begannen die Olympischen Sommerspiele in München mit dem Einmarsch der Sportler ins Olympiastadion. Die Eröffnungsfeier fand den jubelnden Beifall von 80.000 Zuschauern“,1245 heißt es in der Chronik der Stadt. „Der letzte olympische Fackelläufer – Günther Zahn aus Passau – wird begleitet von einer Läufereskorte aus vier Kontinenten: Afrikas Kipchoge Keino und Asiens Kenji Kimahara laufen vorne. Amerikas Jim Ryun und Australiens Derek Clayton bilden den Abschluß.“1246 Die Eröffnung der XX. Olympischen Sommerspiele wird im offiziellen Bericht des Organisationskomitees mit Blick auf die internationale Ausrichtung der Ereignisse in München dokumentiert. „Der Einmarsch der Sportler wurde mit volkstümlichen Melodien umrahmt. Nach dem ‚Gruß der Jugend‘, den 3.200 Kinder mit Blumengebinden den Sportlern entboten, begrüßte OK-Präsident Daume die Sportler aus aller Welt. Nach einer in deutscher Sprache gehaltenen Ansprache von IOC-Präsident Brundage eröffnete Bundespräsident Heinemann um 16.36 [Uhr] die Spiele. Anschließend wurde die olympische Flagge gehisst. Nach einem folkloristischen Programmteil mit Tänzern aus Mexiko, Schuhplattlern und Blasmusik wurde die offizielle Olympiafahne vom OB Mexiko Citys an OB Kronawitter übergeben. Nachdem 5.000 Brieftauben als Symbol des Friedens aufgelassen waren, entzündete der letzte von 5.976 Staffelläufern das Olympische Feuer mit der Fackel, die in über 29 Tagen 5.538 Kilometer nach München getragen worden war. Vor den Fahnenträgern der teilnehmenden Nationen sprach anschließend für alle Teilnehmer die deutsche Leichtathletin Heidi Schüller das olympische Gelöbnis. [...] Morgen beginnen die eigentlichen Wettkämpfe.“1247 Die Bundesrepublik Deutschland, Bayern und München gelangen nicht erst mit der Eröffnungsfeier ins Rampenlicht der Weltöffentlichkeit, schon im Vorfeld der 1244 |

Scherer, Karl Adolf (1972 b): Ein heiterer und beschwingter Auftakt. In: Die Olym-

pischen Spiele 1972. München. Kiel. Sapporo. München; Gütersloh; Wien, S. 25-29. Hier: S. 25. 1245 |

Huber 2004: S. 166.

1246 |

Organisationskomitee für die Spiele – Wettkämpfe 1972: Einleitung.

1247 |

Huber (2004): S. 166.

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Spiele berichten zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter internationaler Zeitungen, Zeitschriften, Rundfunk- und Fernsehanstalten aus der Olympiastadt. Der offizielle Auftakt der Spiele eröffnet allerdings einen Zeitraum, in der sich die Bilder und Befindlichkeiten im städtischen Kontext noch einmal potenzieren. „Herrliches Wetter an diesem 26. August trägt zur überzeugenden Selbstdarstellung des olympischen Gedankens bei.“1248 Am 26. August 1972 gehen in München die Scheinwerfer an, die Übertragung des ZDF startet bereits um 10 Uhr vormittags. Das Programm wird durchgehend in Farbe ausgestrahlt, die Sendung zum Auftakt trägt den Titel „Die Spiele beginnen“1249 . Fast eine Milliarde Menschen rund um den Globus erlebt das Spektakel an den Bildschirmen zu Hause, nicht wenige haben ihren Apparat erst anlässlich von Olympia gekauft. Bei dem ersten Medienereignis dieser Größenordnung, der Mondlandung von Edwin Aldrin und Neill Armstrong am 21. Juli 1969, sind weltweit rund 500 Millionen Menschen dabei.1250 Wie ein umfassendes Exposé der Pressestelle des OK erläutert, verfügt das Münchner Olympiastadion „[d]en Anforderungen des Farbfernsehens entsprechend [...] [über] eine moderne Flutlichtanlage, deren Farbtemperatur weitgehend der des Tageslichtes entspricht. Diese Neuentwicklung der deutschen Elektroindustrie erlaubt es den Kameraleuten, auch bei Flutlicht Tageslichtfilm zu verwenden.“1251 Auf dem Areal des Olympiaparks verfolgen neben den 80 000 Zuschauerinnen und Zuschauern im ausverkauften Stadion auch zehntausende Besucherinnen und Besucher, die keine Eintrittskarten mehr bekommen haben, vom Olympiaberg aus das Geschehen in der Arena. Eine junge Frau ist am Tag der Eröffnung mit Mann und Kind in den Park gekommen, um zu schauen, was sich rund um die Zeremonie auf dem Gelände tut. Das Paar überlegt, zum Olympiaturm zu gehen, und wider Erwarten ist die Anlage nicht abgesperrt. Die Familie nutzt die Gelegenheit und fährt mit dem Fahrstuhl auf die Aussichtsplattform in 190 m Höhe, nur wenige Leute haben an derart prominenter Stelle überhaupt versucht, einen Platz zu ergattern. „Von oben sah die Feier beeindruckend aus, alles so bunt und schön.“1252 Lediglich sechs oder sieben Leute, darunter eine amerikanische Familie, beobachten die Feier vom Olympiaturm aus. „Als die Sonne das Stadion mit ihrem Glanz überzog, vergaßen 1248 |

Organisationskomitee für die Spiele – Wettkämpfe 1972: Einleitung.

1249 |

Vgl. Fernsehprogramm des Nachrichtenmagazins Spiegel vom 26. August 1972.

1250 |

Vgl. Schneider, Werner (1972 a): Tele-Olympia München: Die Super-Fernsehschau.

In: Die Olympischen Spiele 1972. München. Kiel. Sapporo mit Werner Schneider. München; Gütersloh; Wien, S. 109. 1251 |

„Die Bauten für die Spiele der XX. Olympiade in München“, Presse Exposé 1971.

In: Olympische Baugesellschaft und Deutscher Sportbund – Handakt Camillo Noel. Stadtarchiv München, 515. 1252 |

Vgl. Gespräche mit Teilnehmerinnen und Teilnehmern einer Tour des Bund Natur-

schutz durch den Olympiapark am 10. Oktober 2009.

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die erwartungsvollen Menschen die Kritik der vergangenen Wochen und Monate. Sie bekamen ein Schauspiel zu sehen, das in seiner Buntheit und Beschwingtheit selbst die großartige Show der Spiele von Mexiko City in den Schatten stellte. Es war ein Fest, das kaum einen schwachen Punkt hatte. Der ‚Held‘ im Hintergrund war Kurt Edelhagen mit seinen schmissigen, phantasievollen Rhythmen zum Einzug der Nationen. Die musikalische Mottenkiste blieb ungeöffnet, und so machte der Auftritt von 122 Mannschaften mit über 8000 Sportlern den unbeschwerten Eindruck, den alle gewünscht und erwartet hatten.“1253 Die Stimmung in München ist aufgeladen, im Sommer 1972 verdichtet sich die Atmosphäre. Zu weiten Teilen entsprechen sich in diesem Moment die Selbst- und Fremdbilder der Stadt, Codierungen und Bezugssysteme greifen ineinander und ergeben, um Gernot Ruhl mit Blick auf das städtische Image zu folgen, ein harmonisches Bild aus kommunikativ verbreiteten Merkmalen, soziokulturellen Aspekten und physischen Bausteinen.1254 Im Kontext der Olympischen Spiele treffen alte Situationsbestandteile auf neue Elemente, dazu zählen die Besucherinnen und Besucher aus aller Welt ebenso wie das avantgardistische Stadion inmitten des Olympiaparks, und darüber hinaus wird das ganze Geschehen durch die Anspannung im Organismus der Stadt und die niemals zuvor da gewesene Präsenz der Medien noch um ein Vielfaches multipliziert. „Obwohl die Stadtpolitiker bereits während des ganzen 20. Jahrhunderts Stadtbilder herstellten und durch Medien, Symbole oder Worte der Öffentlichkeit vermittelten“, bemerkt die Historikerin Adelheid von Saldern, „hat sich die Verlagerung auf mediale Bildwelten und ihre Wirkkräfte seit den 1960er/70er Jahren beschleunigt und intensiviert.“1255 Weithin sichtbar tragen gerade am Tag der Eröffnung die geschwungenen Linien des Zeltdachs und der Parklandschaft, die Fahnen in ihren leuchtenden Farben, die gelben und hellblauen Kleider der teilnehmenden Kinder, Sportlerinnen und Sportler, die offiziellen Programmpunkte der Feier, die Darbietung der mexikanischen Folkloregruppe und die Einlage der bayerischen Schuhplattler auf der leuchtend roten Rennbahn im Stadion zu der eindrucksvollen Anmutung der Spiele bei. „In der Wahrnehmung der Atmosphäre spüre ich, in welcher Art Umgebung ich mich befinde. Diese Wahrnehmung hat also zwei Seiten: auf der einen Seite die Umgebung, die eine Stimmungsqualität ausstrahlt, auf der anderen Seite ich, indem ich mit meiner Befindlichkeit an dieser Stimmung teilhabe und darin gewahre, daß ich jetzt hier bin. Wahrnehmung qua Befindlichkeit ist also spürbare Präsenz. Umgekehrt sind Atmosphären die Weise, in der sich Dinge und Umgebungen präsentieren.“1256 1253 |

Huberty, Ernst; Wange, Willy B. (Hg.) (1972): Die Olympischen Spiele. München.

Augsburg. Kiel. Sapporo. Köln, S. 18. 1254 |

Vgl. Ruhl 1971.

1255 |

Saldern 2006: S. 29-30.

1256 |

Böhme, Gernot (1995): Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik. Frankfurt am

Main, S. 96.

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Gernot Böhme geht davon aus, dass Atmosphären synästhetisch aufgefasst werden und nennt als Beispiel die Wirkung der Farbe Blau, die zugleich auf unterschiedliche Sinne wirkt. Im Fokus dieser Überlegungen steht nicht die Analyse einzelner Empfindungen, der Philosoph interessiert sich in erster Linie für die Übersetzung von Qualitäten des Ausdrucks in Befindlichkeiten.1257 Mit der Eröffnung im Münchner Olympiastadion entsteht zu Beginn der Spiele eine Situation, in der sich ganz unterschiedliche Prozesse und Phänomene, physische Bestandteile und Anmutungsqualitäten aufeinander beziehen und analog zum Ausdruck kommen. Der Anthropologe Clifford Geertz bezeichnet einen derartigen Schlüsselmoment in einer Gesellschaft mit dem Begriff des deep play.1258 Auf der Basis einer urbanen Ästhetik, die sich grundlegend auf den Habitus der Stadt München bezieht, wird Atmosphäre am 26. August 1972 nicht nur hergestellt, sondern auch vermittelt und über den Ort des Geschehens hinaus millionenfach gespürt. Wie Geschmackslandschaften nicht kalkuliert produziert werden können, hat sich auch die Entwicklung einer derartigen Strahlkraft im Kontext von Olympia nicht von Anfang an vorhersehen lassen. Wenngleich die Verantwortlichen auf allen Ebenen ohne Umschweife reflektiert haben, welche Möglichkeiten der Repräsentation und der ökonomischen Entwicklung eine international beachtete Veranstaltung wie die Spiele bietet, ist die Austragung eines solchen Ereignisses nicht nur eine logistische Meisterleistung, sondern vor allem das Resultat von langwierigen Aushandlungsprozessen, deren Ergebnisse nicht von Beginn an abzusehen sind, sich aber immer auf das konkrete Projekt in München beziehen. Besonders deutlich zeigt sich am Beispiel der Olympia-Bauten, wie sich im Laufe der Vorbereitungen ein nachhaltiger Wandel im Denken der verantwortlichen Planer vollzieht. In den 1960er Jahren treffen anlässlich der Sommerspiele in München weltpolitische Erwägungen und Absichten der Landesregierung, Zielsetzungen der Stadtverwaltung und Interessen der Bundesrepublik Deutschland aufeinander. Sämtliche Personen, die an Olympia beteiligt sind, Lieferanten, Hilfskräfte, Fahrerinnen und Fahrer, Vertreterinnen und Vertreter von Firmen und Verbänden, Ehrengastbetreuer, Hostessen, Dolmetscherinnen und Dolmetscher, Besucherinnen und Besucher, die Gestalterinnen und Gestalter, Sportlerinnen und Sportler, Politikerinnen und Politiker sowie herausragende Persönlichkeiten, allen voran Hans-Jochen Vogel und Willi Daume, Avery Brundage, der israelische Chef de Mission Shmuel Lalkin und andere begegnen sich innerhalb weniger Jahre, für Stunden oder Tage als Akteurinnen und Akteure in einem Feld, das permanent von übergeordneten gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Entwicklungen beeinflusst wird. Die Ereignisse lassen sich im Gewebe von München verorten und reichen dabei noch weit über den städtischen Organismus im engeren Sinne hinaus. Mit seinen Dispositionen ist München die Voraussetzung und zugleich wesentlicher 1257 |

Vgl. Böhme 1995: S. 96.

1258 |

Vgl. Geertz 1987.

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Bestandteil der gegebenen Situation und bildet aus allen Perspektiven den Kristallisationspunkt der Ereignisse des Jahres 1972. „Die nationalen und internationalen Reaktionen zeigen sehr deutlich, dass über die Spiele von München besonders die Stadt und verstärkt ein neues Deutschland wahrgenommen werden“,1259 erklärt der Historiker Ferdinand Kramer. Wiederholt ist in Texten und Gesprächen von dem herrlichen Spätsommerwetter im August 1972 die Rede, auf sämtlichen Aufnahmen von den Spielen ist zwei Wochen lang ein strahlend blauer Himmel zu sehen. Helge Gerndt weist ausdrücklich darauf hin, dass die hervorragende Witterung in München entscheidend zum Eindruck der Heiterkeit beigetragen hat.1260 Selbst das Klima, der allgemeine Situationsrahmen, von dem Gernot Ruhl spricht, passt sich, so scheint es, den Ereignissen in München an bzw. wird der Situation angeglichen und damit in das Bild der Stadt und der Spiele einbezogen. Unter der Überschrift „Licht im August“ berichtet das Magazin Spiegel im Dezember 1968 von den diversen Aufgaben des Organisationskomitees. „Die Olympischen Spiele von Mexiko sind vorüber. Die vorolympischen Spiele von München haben begonnen – mit einer amtlichen Wettervorhersage. Aus mehreren langfristigen Prognosen des Wetteramts München für den bayrischen Sommer 1972 wählten die Olympia-Organisatoren eine Periode mit besonders geringer Niederschlagswahrscheinlichkeit: die Zeit vom 26. August bis 10. September.“1261 Obgleich das Klima nicht in dem Maße zu beeinflussen ist wie viele andere Momente in der Dramaturgie einer Inszenierung, versuchen die Verantwortlichen im Rahmen der Planungen auch diesen Punkt zu berücksichtigen. Wie der Geograph Jürgen Hasse konstatiert, wird zwischen zwei Arten von Atmosphären unterschieden, einerseits geht es um klimatologische Formationen, deren Effekte vorwiegend naturwissenschaftlich untersucht werden, und zum anderen sind „Atmosphären des Gefühls“ auszumachen, mit denen sich insbesondere die Philosophie beschäftigt.1262 Dabei wirkt sich gerade das Wetter auf die gefühlsmäßige Wahrnehmung von Begebenheiten aus. Niemand hat das Klima der Stadt wie Thomas Mann beschrieben und damit die Bedeutung des Himmels in der Narration von München manifestiert. Von der Idee zur Bewerbung 1965 über den Zuschlag im April 1966 bis hin zur Austragung der Spiele im Spätsommer 1972 haben die Verantwortlichen des OK ganz offenkundig alles getan, um den Sport, die teilnehmenden Mannschaften, die Stadt, den Freistaat und die Bundesrepublik nach den sprichwörtlichen Regeln der Kunst in Szene zu setzen. Diese Phase wird von einem Prozess der vielfachen Ästhetisierung begleitet. „Mehr als 1259 |

Kramer 2008: S. 251.

1260 |

Licht im August (9. Dezember 1968). In: Der Spiegel. Verfügbar unter: http://www.

spiegel.de/spiegel/print/d-45876598.html, (19. Juli 2011). 1261 |

Vgl. Gespräch mit Helge Gerndt im Rahmen der Ausstellung „München 1972“ am

11. November 2010. 1262 |

Vgl. Hasse 2008 a: S. 103.

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je zuvor bei Olympischen Sommerspielen wird 1972 in München Licht fast ebenso wichtig sein wie Leichtathletik“, berichtet der Spiegel 1968, „trockenes Sommerwetter so belangvoll wie trainierte Sportler. Denn ein trüber Dauerregen könnte beeinträchtigen, was 1972 für die weltweite TV-Gemeinde in Szene gesetzt werden soll: die schnellste, perfekteste und farbigste optische Ausbeutung olympischer Ringelspiele.“1263

W ERTE UND Z EICHEN . „D ABEI SEIN IST WICHTIG – NICHT DER G E WINN “1264 Der Finanzplan, der im Zuge der überaus knappen Bewerbungsphase Ende des Jahres 1965 aufgestellt worden ist, sieht zunächst vor, dass sich Stadt, Land und Bund jeweils zu einem Drittel an den Kosten für Olympia beteiligen. „Mein Vater hat geschimpft, wie der Vogel die Spiele nach München gebracht hat“,1265 erinnert sich Adelheid Boeck. Als Verwaltungsbeamter hat er Olympia als viel zu teuer empfunden. Obgleich die Austragung der Spiele in München von der Bevölkerung weitenteils begrüßt worden ist, wird im Verlauf der 1960er Jahre auch immer deutlichere Kritik an dem Vorhaben laut.1266 Zum einen steigen die Lebenshaltungskosten in der Stadt, und die Münchnerinnen und Münchner spüren auch aufgrund der vielen Baumaßnahmen, die zugleich vorangetrieben werden, Einschnitte in ihrem Alltag. Um gegen die Veranstaltung der Spiele zu protestieren, entwirft der Graphiker Erwin Kurz einen Aufkleber, der eine Kuh mit den Olympischen Ringen auf dem Rücken zeigt, darunter ist zu lesen: „Mitmelken ist alles!“1267 Zum anderen wird immer mehr in Frage gestellt, dass sich das Kapital, das in die Entwicklung der Stadt investiert wird, und damit die gesammelte Aufmerksamkeit der Politik, der Wirtschaft und in Folge auch der Weltpresse, auf München konzentrieren. Die Debatten entzünden sich besonders am Bau des Stadions. „Katzenjammer nach dem Kauf des Sonntagsanzugs“1268, mit diesen Zeilen kommentiert der 1263 |

Licht im August (9. Dezember 1968). In: Der Spiegel. Verfügbar unter: http://www.

spiegel.de/spiegel/print/d-45876598.html, (19. Juli 2011). 1264 |

Betz, Otto (1972): Dabei sein ist wichtig – nicht der Gewinn. In: Weitpert, Hans

(Hg.): Olympia in München. Offizielles Sonderheft 1972 der Olympiastadt München. München, S. 76 und Briefpapier des Vereins. In: Olympia Förderverein – Adidas. Stadtarchiv München. 1265 |

Gespräch mit Adelheid Boeck am 8. März 2010.

1266 |

Vgl. Kramer 2008: S. 24-25.

1267 |

Eberle, Bernd (7. Juli 1972): Mit Kuh und Kater gegen Olympia 72. In: Abendzeitung,

S. 17. In: Zeitungsausschnittsammlung Olympia Zeltdach. Stadtarchiv München, 2682. 1268 |

Riehl-Heyse, Herbert (18. August 1972): Katzenjammer nach dem Kauf des Sonn-

tagsanzugs. In: Süddeutsche Zeitung. In: Zeitungsausschnittsammlung Olympia Zeltdach. Stadtarchiv München, 2682.

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Journalist Herbert Riehl-Heyse die Diskussion um die explodierenden Kosten für das sensationelle Dach in der Süddeutschen Zeitung. „Begonnen hatte es zweifellos mit einem großen Stück Unbekümmertheit. Die Junggenies aus dem Stuttgarter Architektenbüro hatten kaum die Strümpfe ihrer Freundinnen als Zeltdach über ihr olympisches Modell gespannt [...], da köderten sie die anfangs wegen des Dachs noch zaudernden Bauherren (‚gegebenenfalls noch andere Dachkonstruktionen‘) mit den ersten, sehr groben Kostenschätzungen. Man wußte, was das Expo-Zelt in Montreal gekostet hatte, peilte ein wenig über die Künstlerdaumen und war flugs bei 18 Millionen.“1269 Allein die Ausgaben für das Dach des Stadions werden sich am Ende auf 188 Millionen DM belaufen. Wie Ferdinand Kramer bemerkt, hat sich die Bayerische Staatsregierung an diesem Punkt erstmals von den Absichten des OK distanziert. „In der Fläche des Landes wuchs der politische Druck massiv, die jungen, aber schon einflussreichen Abgeordneten des Führungsnachwuchses der CSU, Max Streibl, Anton Jaumann, auch Josef Deimer begannen die Entwicklung zu hinterfragen.“1270 Vor dem Hintergrund, dass in mancher Gegend des Freistaats in den 1960er Jahren noch nicht einmal die Straßen geteert sind und Krankenhäuser dringend saniert werden müssen, bringen die genannten Politiker am 1. Juli 1967 einen entsprechenden Antrag in den Bayerischen Landtag ein. Eine ihrer Forderungen lautet, dass geprüft werden soll, ob Sportstätten und -hallen „in einer zumutbaren Entfernung“1271 von München für Trainingszwecke genutzt und in den kommenden Jahren umgebaut werden können. Der Kulturausschuss, in dem der Antrag eingehend diskutiert und verhandelt wird, begrüßt die Idee; und die Staatsregierung wird dazu angehalten, mit dem OK und der Bau-Gesellschaft nach geeigneten Orten zu suchen.1272 Die innerparteilichen Auseinandersetzungen der CSU gehen indessen weiter, parallel aber soll es, wie Kramer nachvollzieht, „in einem komplexen politischen Prozess“1273 tatsächlich gelingen, „[...] bayerische Interessen über Parteigrenzen und Stadt-Land-Grenzen hinweg zu bündeln, und den Bund zu einem 50prozentigen Finanzierungsanteil zu bewegen [...]“1274 . Zu gleichen Teilen entfallen auf den Freistaat und die Landeshauptstadt jeweils 25 1269 |

Ebd.

1270 |

Kramer 2008: S. 24.

1271 |

Berücksichtigung anderer bayerischer Städte bei der Durchführung olympischer

Wettkämpfe, Bd. 1, 1967. Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Staatskanzlei 14 051 und Schlemmer, Thomas; Woller, Hans (Hg.) (2001): Die Erschließung des Landes 1949 bis 1973. (Bayern im Bund, 1) München. Zitiert nach: Kramer 2008. 1272 |

Vgl. Berücksichtigung anderer bayerischer Städte bei der Durchführung olympischer

Wettkämpfe, Bd. 1, 1967. Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Staatskanzlei 14 051. Zitiert nach: Kramer 2008. 1273 |

Kramer 2008: S. 246.

1274 |

Ebd.

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Prozent der Kosten, was den Disput neben sichtbaren Fortschritten in der Entwicklung des Landes nachhaltig entschärft.1275 Noch in der Rückschau wehrt sich Hans-Jochen Vogel entschieden gegen jene Stimmen, die über allzu maßlos eingesetzte Gelder im Raum München klagen. „Eine der legendenträchtigen Behauptungen ist die, für die Steigerung der Olympiabaukosten von 520 auf 1350 Millionen DM müsse der Steuerzahler bluten. In Wahrheit ist davon keine Rede. Die Summe, die der Steuerzahler aufzubringen hat, beläuft sich vielmehr nahezu unverändert auf 581 Millionen DM. Auch der Münchner Anteil an den Olympiakosten ist mit 171,8 Millionen DM seit 1967 fast gleich geblieben. Die Mehrkosten werden nämlich vollständig aus dem Ertrag der Olympia-Lotterie (227,5 Millionen DM) und aus dem Münzgewinn der 10-DM-Stücke (508,2 Millionen DM) gedeckt.“1276 In der endgültigen Rechnung liegen die Gewinne sogar noch um einige 10 Millionen DM über den genannten Beträgen. Die Grundfinanzierung wird im Wesentlichen mit Krediten geplant, zusätzliche Maßnahmen haben in den Jahren 1966 bis 1972 aber auch Finanzmittel eingebracht, die in dieser Größenordnung zu Beginn der Planungen ebenso wenig wie die definitiven Kosten für Olympia kalkuliert worden sind. Proportional zu den Ausgaben sind während der Vorbereitung auch die Einnahmen gestiegen. Besonders die Glückspirale, eine Fernsehlotterie mit dem Emblem der Olympischen Strahlenspirale, wird neben der Olympia-Lotterie zu einem ökonomischen Erfolg. Das OK hat den hohen Erlös allerdings auch über das gewählte System des Spiels beeinflusst. 1973 übernimmt der Deutsche Fußballbund das Modell für die Finanzierung der Fußballweltmeisterschaft, die im Jahr darauf in der Bundesrepublik stattfindet.1277 Anders als bei einer verordneten Abgabe, an die ebenfalls gedacht worden ist, nehmen die Menschen bei einer Lotterie, die an prominenter Stelle im Fernsehprogramm der ARD läuft, freiwillig und darüber hinaus auch mit der Vorstellung teil, etwas gewinnen zu können, was sich bei breiten Bevölkerungskreisen auf die Wahrnehmung der kommenden Olympischen Spiele auswirkt. Auch Briefmarken und -serien, die viele Leute mit Sonderstempeln der Post in Alben gesammelt haben und mit ihren Erinnerungen aufbewahren, sind von Seiten des OK ebenso in Auftrag gegeben worden wie Gedenkmedaillen mit unterschiedlichen Motiven.1278 Ein Bericht über die Planungen von Olympia 1968 in Mexiko betont die Bedeutung der Briefmarken, die die Idee der Spiele bis in die entlegensten Winkel der Welt verbreiten. Nicht nur die deutsche Bundespost, auch die Postämter in vielen anderen Nationen haben Briefmarken zu den Spielen he1275 |

Ebd. und Organisationskomitee für die Spiele der XX. Olympiade – Organisation

1972: S. 70. 1276 |

Vogel 1972 b: S. 7.

1277 |

Vgl. Organisationskomitee für die Spiele der XX. Olympiade – Organisation 1972:

S. 69. 1278 |

Vgl. ebd.: S. 56-57.

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rausgegeben.1279 Ein zweiter Pfeiler der Kostendeckung hat sich aus der zunächst einmal wenig bemerkenswert erscheinenden Idee ergeben, im Rahmen der Spiele eine 10 DM-Silbermünze prägen zu lassen. Entworfen von verschiedenen Künstlerinnen und Künstlern, sind zwischen Mai 1969 und November 1971 insgesamt 100 Millionen Münzen in der Bundesrepublik verkauft worden, lediglich ein geringer Teil ist ins Ausland gegangen. Bei der ersten Charge unterläuft der Graphikerin und den Auftraggebern allerdings ein Fehler, gegen die Bezeichnung „Olympische Spiele in Deutschland“ verwehren sich in Zeiten des Kalten Krieges nicht nur die Ostblockstaaten und die DDR, sondern auch das IOC, das die Olympiade immer an eine Stadt vergibt, ausdrücklich.1280 Neben den Markenrechten für das Emblem der Spiele werden auch die Übertragungsrechte an den Wettkämpfen in die ganze Welt verkauft. „Fernseh-Olympia eint ARD und ZDF, Westeuropas Eurovision und Osteuropas Intervision, Kommunisten und Kapitalisten, Hamiten und Semiten, Mongolen und Monegassen, Alte, Neue, Dritte Welt. Rund um den Erdball, rund um die Uhr läuft 16 Tage lang die längste Show der Fernsehgeschichte für das größte TV-Publikum, das es je gab [...]“,1281 konstatiert der Spiegel 1972. Im Vergleich zu den Einnahmen durch den Verkauf der Silbermünze und den Gewinnen aus der Glücksspirale sind die erzielten Summen allerdings relativ gering. Im Finanzplan ist unter der Rubrik TV ein Betrag von 80 Millionen DM angedacht, von dem Kontrakt mit den amerikanischen TV-Stationen erwartet sich das Münchner OK die meisten Erträge. Die Beratungen mit Vertretern des US-Fernsehens gehen über drei Runden, und dabei beschäftigt die Verhandlungspartner unter anderem die Frage, wie sich das Fernsehen in Zukunft überhaupt entwickeln wird. Für die weitere Vergabe der Senderechte bestellt das OK die Firma Transtel aus Köln, der es gelingt, dass die Bilder von München ‘72 nahezu weltweit ausgestrahlt werden. „Nur wenige Länder, die über Fernseheinrichtungen verfügen, übertrugen nichts von den Olympischen Spielen: Albanien, Bermuda, Paraguay, Samoa, Syrien, Yemen.“1282 Auch mit den Mitteln einer ästhetischen Ökonomie wird zur Finanzierung der Sommerspiele beigetragen. Ein populäres Projekt, das sich in seiner Argumentation auf die Olympiabewerbung der Stadt bezieht und mit der kulturellen Textur von München auf signifikante Weise verwoben ist, geht auf eine Idee von Willi Daume 1279 |

Vgl. Bericht zu den Planungen in Mexiko, 1966. In: Olympiade 1972 – Bewerbung

Münchens. Stadtarchiv München, 73. 1280 |

Vgl. Organisationskomitee für die Spiele der XX. Olympiade – Organisation 1972:

S. 69-70. 1281 |

Olympia. Das totale Fernsehen (28. August 1972). In: Der Spiegel, S. 24-38. Hier:

S. 24 1282 |

Organisationskomitee für die Spiele der XX. Olympiade – Organisation 1972: S.

60-62.

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zurück. „Im Frühsommer hatte der Präsident des OK die Idee, die Verflechtung von Kunst und Sport weltweit darzustellen und die Plakate namhafter Künstler zu diesem Zweck werbemäßig einzusetzen.“1283 Herbert Hohenemser, Kulturreferent der Landeshauptstadt München und Vorsitzender des Kunstausschusses, stellt das illustre Konzept einer Bilderschau vor. „Die ‚Edition Olympia‘ begann im Jahre 1969, die ersten Serien von olympischen Kunstplakaten zu entwickeln. Das Unternehmen wurde vom Organisationskomitee gemeinsam mit dem Verlag Bruckmann gegründet. Bedeutende lebende Künstler aus allen Ländern, die älteren und die jüngeren, wurden aufgefordert, je ein Kunstplakat zu entwerfen und zwar völlig frei, ganz nach der individuellen Handschrift und ohne das Verlangen nach einem zwingenden  Bezug zum Sport.“1284 Anerkannte Künstler, Graphiker und Architekten wie Friedensreich Hundertwasser, Serge Poliakoff, David Hockney, Jacob Lawrence, Peter Philips, Oskar Kokoschka oder Max Bill steuern Entwürfe zu einer Serie von 28 Motiven bei. „Josef Albers, der in Amerika lebt, einer der letzten und bedeutendsten Bauhauskünstler, malt einen echten Albers, sagt aber dazu: ‚Ein hochblaues Firmament, mein Wunschgruß an die Münchner Olympiade.‘“1285 Die Ausgabe der Poster erfolgt in drei Stufen, zunächst sind ausschließlich limitierte Mappen mit handsignierten Exemplaren auf dem Markt; danach folgt eine Reihe mit preiswerteren, aber ebenfalls nur begrenzt erhältlichen Originalplakaten, und in einem weiteren Schritt werden die Bilder als Poster gedruckt, für einen Stückpreis von 10 DM verkauft und auf diese Weise massenhaft verbreitet.1286 Aus dem Verkauf der Arbeiten erzielt das OK einen Gewinn von rund 2 Millionen DM. Auch Bruckmann verdient an der Edition, obgleich die Druckerei im Vorfeld eine etwas höhere Schlussbilanz angesetzt hat. „Der werbliche Erfolg für die Spiele läßt sich zahlenmäßig nicht erfassen, dürfte aber erheblich sein“,1287 heißt es in der Dokumentation des OK. Wie die Münzen haben auch die Poster zahlreiche Abnehmerinnen und Abnehmer gefunden; Zimmer werden mit den Motiven dekoriert, und dabei transportieren diese unterschiedlichen Objekte und Repräsentationen immer und immer wieder die fröhliche Botschaft von Olympia. Um den Bau eines städtischen Großstadions zu unterstützen, haben sich schon im Jahr 1955 Vertreter aus Politik, Medien und Wirtschaft zusammengetan und die „Förderer-Gesellschaft Münchner Stadion e.V.“ gegründet. Auch die beiden städtischen Fußballvereine, der FC Bayern und der TSV 1860 München, haben im Grünwalder Stadion ein Freundschaftsspiel absolviert, um für ein neues Großstadion zu 1283 |

Ebd.: S. 63.

1284 |

Hohenemser, Herbert (1972): Edition Olympia 1972. Mit weltweitem Effekt. In:

Weitpert, Hans (Hg.): Olympia in München. Offizielles Sonderheft 1972 der Olympiastadt München. München, S. 70-74. Hier: S. 70. 1285 |

Hohenemser 1972: S. 72.

1286 |

Vgl. ebd.: S. 70.

1287 |

Organisationskomitee für die Spiele der XX. Olympiade – Organisation 1972: S. 63.

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spenden. Nachdem die Stadt den Zuschlag erhalten hat, wird aus der bereits bestehenden Organisation der „Verein zur Förderung der Olympischen Spiele e.V.“ mit dem erklärten Ziel, das Ereignis in München sowohl ideell als auch materiell zu unterstützen. Erster Vorsitzender der Vereinigung ist Rudolf Sedlmayer, Präsident des bayerischen Landessportverbandes und Mitglied des OK; der Vorstand setzt sich aus dem Vizepräsidenten und Unternehmer Werner von Linde und Otto Betz von der Siemens AG als Geschäftsführer zusammen, beide engagieren sich auch in der Leichtathletik-Abteilung der „Löwen“. Unter anderem gehören auch der bekannte Journalist Robert Lembke, Carl Mertz von der Olympia-Baugesellschaft und der Olympia-Referent der Landeshauptstadt München, Hubert Abreß, zu dem Gremium. Zunächst einmal gilt es spontane Spenden von Bürgerinnen und Bürgern wie auch Zuwendungen von Firmen aufzufangen. Der Verein wirbt zu diesem Zeitpunkt noch nicht aktiv Gelder ein, sondern reagiert auf entsprechende Angebote.1288 Eine der ersten Spenden stammt von den Reportern Uly Wolters und Harry Valérien. Für das ZDF sind die Sportjournalisten 1966 zur Entscheidung nach Rom gereist, die finanzielle Beteiligung der beiden Pressevertreter an dem Charterflug soll, wie der Korrespondenz zu entnehmen ist, an den Olympiaförderverein weiterleitet werden.1289 Mit dem 1969 vorgelegten Gesamtplan des OK verändert sich dessen Ausgangslage. Für die OBG und das OK müssen Sach- und Barspenden eingeworben werden. Insgesamt gilt es, eine Finanzierungslücke von 30 Millionen DM zu schließen, während der Vorbereitungen wird sich diese Summe auch noch erhöhen. Der Förderverein spielt damit eine aktive und überaus bedeutende Rolle innerhalb des Planungsgeschehens.1290 Die vielseitigen Aktivitäten der Vereinigung um Otto Betz umfassen Werbeauftritte, Fernsehsendungen und öffentliche Abendveranstaltungen, wie etwa die Olympia-Bälle und Tombolas im Deutschen Theater, das Sammeln von Spenden, aber auch konkrete Maßnahmen wie die Vorbereitung des Rasens für das Olympiastadion. Im September 1967 startet der Förderverein außerdem eine populäre „Sparschwein-Aktion“, bundesweit werden 5000 weiße und orange Spardosen aus Porzellan an Tankstellen, Bankschaltern und in Büros aufgestellt. Wie der Geschäftsführer erläutert, kann auf diese Weise jeder einzelne dazu beitragen, die Jugend der Welt im Jahr 1972 gebührend zu empfangen.1291 Der Münchner Merkur berichtet im November 1970, dass der ehemalige Hochsprungmeister Betz selbst 1288 |

Vgl. Briefpapier des Vereins. In: Olympia Förderverein – Adidas. Stadtarchiv Mün-

chen, 59. 1289 |

Vgl. Rechnung über den Flug nach Rom. In: Olympiade 1972 – Bewerbung Mün-

chens. Stadtarchiv München, 73. 1290 |

Vgl. Briefpapier des Vereins. In: Olympia Förderverein – Adidas. Stadtarchiv Mün-

chen, 59 und Organisationskomitee für die Spiele der XX. Olympiade – Organisation 1972: S. 45, 52. 1291 |

Vgl. Olympia Förderverein – Sparschweinaktion. Stadtarchiv München, 18.

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fünf Sparschweine betreut, darunter das Schwein der Siemens Bürogemeinschaft Baierbrunner Straße sowie die Spardosen der Traditionsgemeinschaft deutscher Sportclub, der Aral-Tankstelle Huber und die Sammelaktionen im Hermann-vonSiemens-Park und im Cafe Kustermann, die letzte Zählung hat 301,86 DM ergeben.1292 Unter dem Motto „Dabei sein ist wichtig – nicht der Gewinn“ bittet die Gesellschaft vor allem Unternehmen und Industriebetriebe um Unterstützung, anhand einer Bedarfsliste werden dezidiert Leistungen angefragt. Das Auflisten aller notwendigen Dinge dauert bereits bis in das Jahr 1970, gleichwohl knüpft die Vereinigung schon im Vorfeld Kontakte und klärt erste Bestände und Warenkonvolute ab. Die Betätigungen reichen von der Beschaffung einer Kücheneinrichtung für den Ausstellungspavillon der Olympia-Baugesellschaft über die Bereitstellung von Büromöbeln und Schreibmaschinen für die Stadt München während der Spiele und der Ausstattung von Hostessen, dem Ordnungsdienst und sonstigem Stamm- und Kurzzeitpersonal mit  Kleidung, Schuhen, Hüten und Mützen bis hin zur Überstellung einer Hochseejacht an die Mitglieder des Organisationskomitees in Kiel.1293 Die Firmen Opel, Daimler Benz, VW, Ford, BMW und Audi NSU stellen während der Spiele PKWs bereit, Omnibusse kommen von MAN. Im Eingang vermerkt sind Kühlschränke von Bosch, Getränke von Coca Cola, Senf von Develey, Melitta Kaffee, Puddingpulver von Dr. Oetker etc. Die Olympia-Werke GmbH liefert Schreib- und Rechenmaschinen und Diktiergeräte, von der Siemens AG werden Haushaltsgeräte zur Verfügung gestellt, weiterhin erhält das OK einen Preisnachlass bei der EDV und der elektro-akustischen Anlage für das OlympiaStadion.1294 Die Namen der Spender werden wie die Höhe des Betrags in der Berichterstattung über die Spiele genannt; selbst in der Offiziellen Dokumentation des OK wird jedoch darauf hingewiesen, dass es sich bei diesem Vorgehen um „sog. Schleichwerbung“1295 handelt. Der Umgang mit Emblemen und Warenzeichen ist ein kritischer Punkt bei der Akquise von Materialien, während verschiedene Hersteller ihre Artikel auch entsprechend kennzeichnen wollen, verweist Präsident Avery Brundage auf die Statuten des IOC und spricht sich gemeinsam mit dem „Internationalen Leichtathletikverband“ strikt gegen jede Form der Reklame aus.1296 Die durch Spenden und Leihgaben an den Spielen beteiligten Firmen dürfen im Rahmen der Sportveranstaltung keine eigenen Symbole einsetzen, sich jedoch Ausrüster und Unterstützer von Olympia 1972 nennen und das Emblem der Veranstaltung unter gesonderten 1292 |

Münchner Merkur (5. November 1970). In: Olympia Förderverein – Sparschwein-

aktion. Stadtarchiv München, 18. 1293 |

Vgl. Stadtarchiv München (Hg.): Olympia-Förderverein Findbuch.

1294 |

Vgl. Betz 1972: S. 76 und Briefpapier des Vereins. In: Olympia Förderverein – Adidas.

Stadtarchiv München, 59. 1295 |

Organisationskomitee für die Spiele der XX. Olympiade – Organisation 1972: S. 63.

1296 |

Vgl. Olympia Förderverein – Werbung auf Sportartikeln. Stadtarchiv München, 50.

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Konditionen oder auch kostenlos zu Werbezwecken nutzen. Analog zum wachsenden Einfluss des Fernsehens und der Bildproduktion, lassen sich im Kontext der Spiele in München zusehends Phänomene einer nicht nur in kommerzieller Hinsicht immer bedeutsamer werdenden Ästhetisierung ausmachen. „Inszenierung ist die Möglichkeit, das Leben auch jenseits der Befriedigung elementarer Bedürfnisse noch unendlich zu steigern und dadurch dem Kapitalismus immer neue Wachstumsdimensionen zu eröffnen“,1297 argumentiert Gernot Böhme. „Als ästhetische Ökonomie sei ein Entwicklungsstadium des Kapitalismus bezeichnet, indem zu Gebrauchswert und Tauschwert ein dritter hinzutritt, den ich Inszenierungswert genannt habe.“1298 Die ersten beiden Kategorien gehen auf Karl Marx zurück und bezeichnen zum einen, wozu ein Gegenstand nützlich sein, und zum anderen, was diese Sache als Gegenwert einbringen kann. Eine Trainingshose wird zum Beispiel beim Sport getragen, für Geld lässt sich das Kleidungsstück in einem Geschäft erwerben. Ist das Modell ansprechend gestaltet, werden viele Kundinnen und Kunden die Hose kaufen. An dem Punkt setzt der Inszenierungswert an, denn Trainingsanzüge, wie sie Adidas erstmals für Olympia 1972 hergestellt hat, können als Freizeitanzüge einen Lebensstil repräsentieren, auch wenn sie gar nicht zum Sport verwendet werden.1299 Im Kontext der Olympischen Spiele erfüllen Sachgüter, Dienstleistungen und Innovationen stets mehrere Funktionen und sind dabei mit unterschiedlichen Bedeutungen belegt. Die Bemühungen der beteiligten Spender und ausführenden Unternehmen tragen essentiell zum Gelingen bei und lassen Personen, Firmen und Institutionen über ihre Aktivitäten an dem besonderen Ereignis und der Stimmung partizipieren. Der Einsatz wird allerdings dadurch belohnt, dass der Gebrauchs- und der Inszenierungswert vor einem Massenpublikum erprobt werden können und in Folge auch der Tauschwert eines Produkts entsprechend steigt. „Das Licht spielt mit. Jede Zeit hat ihren Stil. Das Theater von heute verlangt lebendige Bühnenbilder, keine starren Dekorationen. Siemens entwickelte dafür eine zukunftsweisende Projektionseinrichtung: den Bühnenlaser. Im Nationaltheater hatten seine intensiv farbigen, stehenden oder bewegten Lichtfiguren Premiere. [...] Siemens Technik für München 72.“1300 Mittels Reklame, auf der das offizielle Emblem abgebildet ist und wiederholt eine Verknüpfung zu den Spielen hergestellt wird, multipliziert sich die Präsenz des bevorstehenden Spektakels nicht zuletzt in der öffentlichen Wahrnehmung. „Die Entscheidung des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) ist endgültig: Athleten, die Trainingsanzüge mit den drei weißen Streifen der Sportartikelfirma adidas tragen, dürfen die Olympia-Arena von München nicht betreten. ‚Wir 1297 |

Böhme 2001: S. 21-22.

1298 |

Ebd.

1299 |

Vgl. Hinweis von Karl Egger zu den Trainingsanzügen von Adidas.

1300 |

Werbeanzeige von Siemens Technik. In: Weitpert, Hans (Hg.): Olympia in Mün-

chen. Offizielles Sonderheft 1972 der Olympiastadt München. München, S. 87.

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dulden keine wandelnden Litfasssäulen‘, erklärt Olympia-Boß Avery Brundage den Drei-Streifen-Bann, mit dessen Hintergründen sich gestern sogar der deutsche Bundestag beschäftigte“,1301 meldet die Abendzeitung am 23. Juni 1972. Aufgrund eines Exklusivvertrags darf sich das Unternehmen aus dem fränkischen Herzogenaurach aber „Offizieller Ausrüster der Spiele“ in München nennen. Otto Betz vom Förderverein wendet sich mit der Bitte um Sachspenden für die Tombolas im Deutschen Theater wiederholt an Adi Dassler.1302 Adidas hat für die Dauer der Wettkämpfe schon 1970 ein Ladenlokal im Olympischen Dorf vom OK gemietet, in dem Vertrag, den Firmengründer Adi Dassler persönlich unterschrieben hat, heißt es, dass mit dieser Vereinbarung auch eine Spende an Trainingsanzügen und Schuhen für die Wettkämpfe verbunden ist. Werbung ist jedoch unerwünscht, ferner wird eine Umsatzbeteiligung von 20 Prozent ausgemacht, eine Summe von 60.000 DM für das OK ist garantiert.1303 Augenscheinlich haben die Vertreter der Firma mit den Funktionären des OK im Vorfeld abgeklärt, was zu beachten ist; auf den Taschen darf keine Werbung sein. Eine Rückfrage des OK führt im Zuge der Vorbereitungen aber noch zu einer Verschärfung der Auflagen von Seiten des IOC. Das Werbeverbot im Stadion wird auch auf die Unternehmen Omega und Junghans ausgedehnt, deren hochwertige und überaus kostspielige Zeitmessanlagen in München erstmals eingesetzt werden.1304 Adi Dassler beschwert sich auf diese Restriktionen hin massiv bei Daume, 25 Mannschaften sind bereits komplett ausgestattet, durch das Verbot der drei Streifen, dem Markenzeichen des fränkischen Sportartikelproduzenten, entsteht ein Schaden von 300.000 DM.1305 Allein die Turnschuhe, mit denen auch das Olympia-Personal ausgerüstet wird, dürfen, und das gesteht das IOC nach langwierigen Debatten zu, mit dem charakteristischen Hinweis auf Adidas versehen sein. Für den Vorzugspreis von 10 DM je Paar erwirbt das OK rund 2300 Paar Turnschuhe des Herstellers aus Herzogenaurach, darunter 180mal das Modell „Olympiade“ mit dem Schiedsrichter und Kampfrichter beim Basketball, Mattenrichter beim Ringen und Ringrichter beim Boxen ausgestattet werden. 110 Balljungen und Boten erhalten zudem einen roten Sportanzug, 1800mal liefert Adidas den Schuh „Basket“, 30mal „Samba“, 28 Paar „Vienna“ etc.1306 Die Münchner Abendzeitung berichtet schließlich von einem Vorschlag, der 1301 |

Gonther, Rolf (23. Juni 1972): Daume wollte neuen Skandal vermeiden. In: Abend-

zeitung. In: Olympia Förderverein – Adidas. Stadtarchiv München, 59. 1302 |

Vgl. Brief von Otto Betz an Adi Dassler vom 30. November 1971. In: Olympia För-

derverein – Adidas. Stadtarchiv München, 59. 1303 |

Vgl. Vertrag zwischen dem OK und Adidas vom 9. Juli 1970. In: Olympia Förderver-

ein – Adidas. Stadtarchiv München, 59. 1304 |

Vgl. Olympia Förderverein – Werbung auf Sportartikeln. Stadtarchiv München, 50.

1305 |

Brief von Adi Dassler an Willi Daume, Juni 1972. In: Olympia Förderverein – Adi-

das. Stadtarchiv München, 59. 1306 |

Vertrag zwischen dem OK und Adidas vom 29. März 1972. In: Olympia Förderver-

ein – Adidas. Stadtarchiv München, 59.

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auch in ähnlicher Form umgesetzt worden ist. „Daumes eigene ‚Erfindung‘ ist übrigens der Kompromiß-Trainingsanzug der deutschen Olympia-Athleten. Statt drei weißen Streifen rüstete adidas diesen Anzug mit vier Streifen in den Olympiafarben um.“1307 Die Debatte um den Sportartikelfabrikanten Adidas zeigt exemplarisch, wie disparat das Feld der Akteure, ihrer Ansichten und Interessen besetzt ist. An den Irritationen um die Verwendung von Zeichen lassen sich unterschiedliche Entwicklungen und Erscheinungen ablesen. Die äußeren Bedingungen verändern sich im Laufe der 1960er Jahre, und auch das hehre Ziel von Wettkämpfen für Amateurinnen und Amateure kann ohne Spenden in Millionenhöhe zu diesem Zeitpunkt nicht mehr realisiert werden. Zugleich gewinnt die kommerzielle Ästhetisierung von Dingen, Räumen, Vorgängen und Personen an Bedeutung und analog steigt auch der Einfluss der Bildberichterstattung, in der späten Moderne kommt dem Thema Vermarktung vor dem Hintergrund einer wachsenden Medialität eine immer bedeutendere Rolle zu. In diesem Kontext zeigen sich Synchronisationsschwierigkeiten zwischen dem Weltverband IOC und den Notwendigkeiten, mit denen sich die Veranstalter vor Ort konfrontiert sehen. Konfliktpotential birgt vor allem die autoritäre Art, mit der das IOC in Person von Brundage Ende der 1960er Jahre auf Vorgaben beharrt. Mit Adi Dassler tritt dem Präsidenten aber ein global agierender Unternehmer entgegen, der sich und die Lobby seiner Produkte entsprechend darzustellen weiß. Der fränkische Hersteller ist in den 1960er Jahren eine weltweit bekannte Größe im Sportartikelgeschäft und wird seit dem triumphalen Erfolg der deutschen Nationalmannschaft beim Endspiel der Fußballweltmeisterschaft 1954 in Bern als „Schuster der Nation“1308 bezeichnet. Die Auseinandersetzung um den adäquaten Einsatz von Werbemitteln, bei der nach Kräften um symbolisches und damit auch ökonomisches Kapital gerungen wird, unterstreicht die wachsende Bedeutung von Ereignissen wie den Olympia im Medienzeitalter. Das viel beachtete Spektakel bietet das ideale Forum, um ein Produkt, eine Stadt oder eine politische Vision in Szene zu setzen und mit den Stimmungen und Affekten, die sich von der Veranstaltung auf ihr Publikum übertragen, auch Inhalte zu transportieren. Mit Blick auf „Das gekaufte Herz“1309 , von dem die Sozialwissenschaftlerin Arlie Russell Hochschild hinsichtlich einer anwachsenden Kommerzialisierung von Gefühlen vor dem Hintergrund des spätmodernen Kapitalismus spricht, lässt sich auch im Zusammenhang mit Olympia vieles als emotionale und ästhetische Arbeit begreifen. Die heitere Atmosphäre wird dabei selbst zum Medium, neben Produk-

1307 |

Gonther, Rolf (23. Juni 1972): Daume wollte neuen Skandal vermeiden. In: Abend-

zeitung. In: Olympia Förderverein – Adidas. Stadtarchiv München, 59. 1308 |

Smit, Barbara (2005): Drei Streifen gegen Puma. Zwei verfeindete Brüder und der

Kampf um die Weltmarktführerschaft. Frankfurt am Main; New York, S. 55. 1309 |

Vgl. Russell Hochschild 2006.

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ten von Adidas werden Botschaften wie der umstrittene Status der DDR oder die internationale Position der Bundesrepublik auf der olympischen Bühne inszeniert. Im Januar 1972 erklärt Otto Betz in einem der offiziellen Olympiamagazine, die über das Geschehen vor und während der Spiele informieren, dass bereits über 1,2 Millionen DM in bar und Güter im Wert von 36 Millionen DM an den Förderverein gegangen oder fest zugesagt worden sind.1310 Betz gibt als Kontaktadresse stets sein Büro bei der Siemens AG an, während die Vorgänge am Sitz des Generalsekretariats in der Saarstraße bearbeitet werden. „Es würde hier zu weit führen auch nur einen kleinen Auszug der über 300 Spendenfirmen zu bringen. Die höchsten Einzelspenden, liegen weit im Millionenbereich (elektronische Datenverarbeitung, ca. 6000 Büromaschinen, ca. 2300 Pkw von sechs deutschen Automobilherstellern, Offsetmaschinen). Die Mehrzahl der Sachspenden bewegt sich zwischen 30 000 und 500 000 DM. Während wir die längerlebigen Gebrauchsgüter nur als kostenlose Leihgaben hereinnehmen, müssen wir noch eine Unmenge von Verbrauchsgütern beschaffen. So haben wir schon Spenden vorliegen für Grassamen und Rasendünger, rund 300 000 Liter Orangensaft und einige Tonnen Schmelzkäse, Wurst, Tee, Kaffee, Dosenmilch, Speiseeis und Kartoffelchips, Zahnpasta und Arzneimittel, Pudding und Schuhe usw., usw. So lang sich diese Liste der zugesagten Sachspenden auch noch fortsetzen ließe, so lang ist auch die Liste der Gegenstände, die wir noch benötigen: 200 000 Glühbirnen, 1,5 Millionen Liter Benzin, 800 Fahrräder, 200 Personen- und Gerätewaagen, Videorecorder, Kaffeeautomaten, Tauchsieder, Ruhebänke usw., usw.“1311 In dem Heft ist eine Vielzahl von Anzeigen abgedruckt, die Wacker-Chemie GmbH wirbt mit Silikonkautschuk, der für die Fertigung von Anschauungsmodellen des Olympiaparks verwendet wird, und die Deutsche Telephonwerke und Kabelindustrie AG weist fast bescheiden darauf hin: „Ein bißchen liegt es auch an DeTeWe, wenn in München alles klappt. Und es klappt, denn die Olympiade hat System. Zu diesem System gehört die Fernsprechanlage des Rundfunk- und Fernsehzentrums. [...] Und alles kommt von DeTeWe.“1312 Hinsichtlich der langen Reihe an beteiligten Unternehmen gleichen die Spiele einer Leistungsschau der deutschen Wirtschaft. Für die Durchführung von Olympia, das keinesfalls dem Gigantismus erliegen soll und doch gigantische Ausmaße annimmt, wird enormes Kapital gebraucht. Noch sind die Beteiligten allerdings nicht übereingekommen in welcher Form dieses Handeln in Repräsentationen umgesetzt werden kann und darf. Auf Bildern von den Olympischen Spielen sind gleichwohl die Embleme von Adidas und weitaus seltener auch die Signets von anderen Marken zu sehen. Neben dem Sportartikelhersteller Puma, der für die 1310 |

Vgl. Egger, Simone (2010 a): „Dabei sein ist wichtig, nicht der Gewinn“. Spenden,

Sponsoren und der Olympia-Förderverein. In: Haus der Bayerischen Geschichte (Hg.): München ‘72. (Edition Bayern, Sonderheft 2) Augsburg, S. 20-21. 1311 |

Betz 1972: S. 76.

1312 |

Weitpert, Hans (Hg.) (1972): Olympia in München. Offizielles Sonderheft 1972 der

Olympiastadt München. München, S. 160.

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Spiele den Sportschuh „294 München 72“, die Rakete, wie es im Werbetext heißt, entwickelt hat, wirbt Adidas mit dem „Titan“ als „Offizieller Ausrüster für die Spiele der XX. Olympiade“ und merkt dazu an: „Bereits vor 40 Jahren siegten Athleten auf der Olympiade in Los Angeles in Adi Dassler’s Schuhen.“1313

D AS O BERWIESENFELD UND DIE G ESCHICHTE VON V ÄTERCHEN TIMOFEI In Anlehnung an den russischen Literaturwissenschaftler Michail Bachtin spricht der Soziologe Richard Sennett im Kontext narrativer Räume auch über die Konstruktion von Chronotopoi. In literarischen Texten werden Orte bewusst oder unbewusst in Bezug zu Ereignissen und zeitlichen Abfolgen gesetzt, um die Intention einer Aussage oder die Bedeutung des Geschehens zu unterstreichen.1314 Auch in der Biographie einer Stadt lassen sich immer wieder Momente ausmachen, an denen sich Handlungen in Raum und Zeit kreuzen und verdichten. Die Sommerspiele von 1972 sind vor dem Hintergrund dieser Überlegungen insgesamt als Chronotopos zu begreifen, der sich zugleich auf einen konkreten Ort in München bezieht. „Nur wenige Städte in Deutschland besitzen in unmittelbarer Nähe zur Innenstadt unbebaute Flächen. Das Oberwiesenfeld in München, früher Exerzierplatz und später Flugfeld, soll im Jahre 1972 Ort der Olympischen Spiele sein. Es kam darauf an, die besondere Atmosphäre Münchens als Stadt der Musen und der Künste aufzunehmen und damit den Olympischen Spielen wieder ihren ursprünglichen Sinn und Inhalt zu verleihen.“1315 Das Oberwiesenfeld, ein nahezu unbebautes Areal im Norden der Stadt, wird im Lauf der 1960er Jahre zum zentralen Olympiapark mit Stadion, Schwimmhalle und Olympischem Dorf ausgebaut; während der Spiele bietet vor allem diese Anlage Raum für Begegnungen und verschiedene Formen der Kommunikation. Kein anderer Ort wird im Zuge der Ereignisse derart umgestaltet, das Oberwiesenfeld ist allerdings schon im Vorfeld der Bewerbung ein Schlüsselort der Stadt. Für die Realisierung der Spiele sind zunächst einmal die Besitzverhältnisse zu klären. Schon im Dezember 1965 wird im Rahmen der Bewerbung ein erster Überblick zur Nutzung des weiten Grunds erstellt. Am Rand des Geländes liegt ein Garten mit einem kleinen Haus, einer Kirche und einer Kapelle, ein Ort, der in den Überlegungen der Planer, und auch darüber geben die Unterlagen genauestens Auskunft, zunächst einmal gar nicht existiert.1316 Ein Bilderbuch aus dem Jahr 1972 endet jedoch mit den Worten: „Viel1313 |

Weitpert 1972: S. 141, 154.

1314 |

Vgl. Sennett 1991: S. 244.

1315 |

Harbeke, Carl Heinz; Kandiza, Christian; in Zusammenarbeit mit Behnisch & Part-

ner (Hg.) (1972): Bauten für Olympia 1972. München – Kiel – Augsburg. München, S. 23. 1316 |

Vgl. Olympiade 1972 – Oberwiesenfeld Grunderwerb, Freimachung. Stadtarchiv

München, 322.

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leicht habt auch ihr es zuerst nicht geglaubt: Aber Väterchen Timofei und Natascha gibt es wirklich – bei uns in München auf dem Oberwiesenfeld.“1317 Umgeben von Büschen und Bäumen erzählt ein kleines Museum mit persönlichen Gegenständen, Erinnerungsstücken, Zeitungsartikeln und Fotoaufnahmen von der bewegten Vergangenheit der beiden Bewohner. Gästebücher und Kinderzeichnungen illustrieren, welches Ansehen den Eremiten Timofei und Natascha zugesprochen wird. Dabei gestaltet es sich denkbar schwierig, die Biographie der beiden Einsiedler zu rekonstruieren; wie der russische Journalist und Lyriker Issai Chipster kommentiert, ist Timofei zu einer Legende geworden, die er selbst geschaffen hat.1318 Ein „angemessenes Bild der Welt“1319 aber kann nach Ansicht des Historikers Karl Schlögel ohnehin nur gewinnen, wer „Raum, Zeit und Handlung“1320 konsequent zusammen denkt. Eine landwirtschaftliche Nutzfläche mit dem Namen Wiesenfeld wurde bereits im 13. Jahrhundert erstmals erwähnt. In der Gegend nordwestlich von München ließ sich der Kurfürstliche Kammerrat Dominikus Schwaiger im Jahr 1790 einen Landsitz mit Obstbäumen und Gemüsebeeten errichten. Nach 1848 wurde das ansonsten eher karge Gebiet verstärkt militärisch genutzt, unter Max II. diente das Oberwiesenfeld den Soldaten aus den nahe gelegenen Kasernen als Exerzierplatz. An dem Ort waren auch die Luftschiffer der Königlich Bayerischen Armee stationiert, die auf der Ebene Ballonfahren übten. Seit 1909 landeten Luftschiffe auf dem Gelände, Graf Zeppelin wurde bei der Ankunft auf dem Oberwiesenfeld von Prinzregent Luitpold persönlich begrüßt.1321 Weil der Militärflugplatz in Schleißheim doch relativ weit von der Stadt entfernt lag und nach der Niederlage des Ersten Weltkriegs von den alliierten Siegermächten besetzt worden war, wurde der Luftverkehr auf dem Oberwiesenfeld ausgebaut, 1926 konnte der Flugplatz schon das zweitgrößte Passagieraufkommen in Deutschland verzeichnen. Die Situation gestaltete sich jedoch schwierig, es gab keinen Zaun, dafür umso mehr Schaulustige, die Start- und Landebahnen hatten Schlaglöcher und an eine systematische Zollabfertigung war nicht zu denken. Der Ausbau der Anlage sollte auch der Sportund der Kunstfliegerei dienen, die Ära des zivilen Luftverkehrs aber endete bereits 1939 mit der Eröffnung eines zentralen Flughafens in Riem. Während des Zweiten Weltkrieges wurde das Oberwiesenfeld weiter militärisch genutzt. Trotz der zunehmenden Bebauung im näheren Umkreis wurde der private Flugbetrieb erst mit 1317 |

Klostermann, Barbara; Reidel, Marlene (1972): Timofei und Natascha. Stuttgart.

1318 |

Vgl. Chipster, Issai (1997): Schicksalswendungen. In: Russische Spuren in Bayern.

Portraits, Geschichten, Erinnerungen. Hg. von MIR e.V. (Zentrum russischer Kultur in München). München, S. 223-227. Hier: S. 223. 1319 |

Schlögel 2003: S. 24.

1320 |

Ebd.

1321 |

Angermaier, Elisabeth (1994): Das Oberwiesenfeld. Exerzierplatz, Flugfeld, Olym-

piapark. Ausstellungskatalog des Stadtarchivs München. München, S. 5-6, 9-14.

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der Umgestaltung für Olympia im Frühjahr 1968 eingestellt.1322 Der Schriftsteller Jürgen von Hollander geht 1972 in seinem Reiseführer ebenfalls auf das Oberwiesenfeld ein. „Den Sportfliegern nach dem Krieg war das ehemalige Flugplatzgelände sehr recht. Die Flugschüler in ihren niedrig fliegenden Donnermühlen waren für die Anrainer jahrelang kein Ohrenschmaus. Aber immerhin sorgten sie und die Militärs, denen das Gelände seit Jahrhunderten gehörte, dafür, daß für das Brachland keine Pläne aufkamen.“1323 Mit dem Militär siedelten sich seit dem 19. Jahrhundert auch entsprechende Unternehmen und Zulieferer in der Umgebung des Oberwiesenfelds an. In der Nähe der Kasernen produzierten die „Königlich Bayerischen Artilleriewerkstätten“ als früher Großbetrieb der industrialisierten Stadt für den Armeebedarf. Ein erstes Flugzeugwerk, das 1911 gegründet worden war, entwickelte sich im Ersten Weltkrieg zu einer Fabrik mit 2000 Arbeitsplätzen, die Firma konnte sich in der Folgezeit aber nicht halten. Im gleichen Jahr eröffnete auch die „Flugwerke Deutschland GmbH“ vorübergehend eine Niederlassung an der Schleißheimer Straße, der Geschäftsmann Karl Rapp kaufte die Hallen 1913. Der Fabrikant erzielte während des Ersten Weltkriegs große Gewinne und änderte den Firmennamen auf Wunsch seines Teilhabers Camilo Castiglioni 1917 in „Bayerische Motorenwerke“ (BMW). Die Produktion wurde auf ein nahe gelegenes Grundstück mit Gleisanschluss verlagert, nach dem Ende des verlorenen Krieges war der Flugmotorenbau aber erst einmal verboten. Die BMW stellte daraufhin landwirtschaftliche Geräte, Zweiradmotoren, bald auch Motorräder und erste Autos her; ein erneuter Umzug führte das Werk an die Lerchenauer Straße im Norden des Oberwiesenfelds. Unternehmen wie die Knorr-Bremse errichteten Fabriken in der Nähe.1324 Seit 1933 brachten die Nationalsozialisten mit ihrem Rüstungsprogramm massenhaft Aufträge für die Industrie. Die Umstrukturierung Münchens zur „Hauptstadt der Bewegung“ sah anstelle des Oberwiesenfelds eine Großmarkthalle und einen Güterbahnhof vor, das Konzept einer zentralen Versorgungsanlage mit angegliederten Schlachthöfen und Speditionen wurde jedoch nie umgesetzt.1325 Seit 1940 fertigten die BMW und andere Firmen ausschließlich für die Rüstung, der Betrieb wurde während des Krieges mit dem Einsatz von Frauen, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern sowie Kriegsgefangenen aufrechterhalten. Die Luftangriffe der Alliierten und die Demontage von Maschinen nach Ende des Krieges brachten die Produktion um das Oberwiesenfeld erst einmal zum Erliegen. Mit der Währungsreform und den

1322 |

Vgl. Angermaier 1994: S. 14-16.

1323 |

Hollander 1972: S. 100-101.

1324 |

Vgl. Angermaier 1994: S. 18-19 und Pierer, Christian (2011): Die Bayerischen

Motoren Werke bis 1933. Eine Unternehmensgründung in Krieg, Inflation und Weltwirtschaftskrise. (Perspektiven, 4) München, S. 9-13, 69-71. 1325 |

Vgl. ebd.: S. 22.

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Bemühungen in Folge des Marshall-Plans zum Wiederaufbau Deutschlands konnten die BMW aber schon 1948 wieder mit der Motorradproduktion beginnen.1326 „Im Mai lagen weite Gebiete der Stadt in Trümmern; bevor an den Wiederaufbau oder an Neuplanungen gedacht werden konnte, mußte neben anderen existentiellen Versorgungsproblemen der Bevölkerung die Frage der Schutträumung geklärt werden“,1327 bemerkt die Historikerin Elisabeth Angermaier zur Lage von München im Frühsommer 1945. „Die Trümmerbeseitigung aus den Innenstadtbereichen erfolgte mittels eines eigens geschaffenen Kleinbahnsystems von den betroffenen Grundstücken zu diversen Zwischenkippen und zu den Endkippen im Luitpoldpark, in Neuhofen und seit Ende 1947 auf dem Oberwiesenfeld südlich des Nymphenburg-Biederstein-Kanals. Hier wurden allein bis Ende 1951 2,2 Millionen cbm Schutt abgeladen, und noch nach diesem Zeitpunkt blieb die Schuttkippe Oberwiesenfeld als einzige in Betrieb. Der Schuttberg war mit Bedacht als halbrunde Anlage aufgeschüttet worden, da das entstandene Oval später als Tribünenfundament eines zu errichtenden Großstadions dienen sollte.“1328 Aus dem Oberwiesenfeld wird ein beliebtes Naherholungsgebiet, die Münchnerinnen und Münchner nutzen den Hügel zum Schlittenfahren, gehen in der Gegend spazieren und lassen ihre Drachen steigen. Der Stadtentwicklungsplan von 1963 greift die Idee des Stadionbaus an dieser Stelle wieder auf, zudem soll das Gelände begrünt und zu einem Park ausgebaut werden.1329 Im Januar 1964 fällt der Stadtrat den Entschluss zum Bau eines Fernsehturms auf dem Oberwiesenfeld. Finanziert von der Landeshauptstadt München und der Deutschen Bundespost soll die Funk-, Fernseh- und Telefonversorgung verbessert werden, beteiligt ist die „Münchner Sportpark GmbH“, ein Tochterunternehmen der Stadt. Der Grundstein wird am 10. August 1965 gelegt, im Februar 1968 kann der Turm auf dem Oberwiesenfeld eröffnet werden.1330 Die geplanten und zum Teil schon begonnenen Bauvorhaben fließen im Dezember 1965 in die Bewerbung um die Olympischen Sommerspiele von 1972 ein und werden nach der Entscheidung in Rom innerhalb kurzer Zeit in die Tat umgesetzt. Die Baugesellschaft und andere Institutionen sind über Jahre hinweg bemüht, das Areal von Nutzungen frei zu machen und in den Besitz der öffentlichen Hand zu überführen, was mit einem erheblichen Aufwand verbunden ist. Gleise der BMW laufen über das Gelände, einige Flächen werden von der Deutschen Bahn gebraucht. Die Kammerspiele unterhalten ein Requisitenlager, und eine Gastwirtschaft hat sich auf dem Oberwiesenfeld angesiedelt. Der Segelflugverband muss seine Aktivitäten ebenso an einen anderen Ort verlegen wie die Flugschule „Strobl und Habenschaden“. Auch die Kleingartenkolonie, die nach 1326 |

Vgl. ebd.: S. 20.

1327 |

Ebd.: S. 23.

1328 |

Ebd.

1329 |

Vgl. Olympiade 1972 – Gross-Stadion Oberwiesenfeld. Stadtarchiv München, 321.

1330 |

Vgl. Angermaier 1994: S. 24.

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1945 auf dem Oberwiesenfeld entstanden ist und den Fernsehturm in zentraler Lage umgibt, wird, wie Aufnahmen zeigen, umgesiedelt und entschädigt, weitere Arrangements werden getroffen, Bauern, Firmen und Privatpersonen erhalten für ihre Grundstücke an anderer Stelle Ausgleichsflächen etc.1331 Hans Thiem arbeitet in den 1960er Jahren für das städtische Liegenschaftsamt und ist unter anderem mit den Vorgängen um das Oberwiesenfeld betraut; während der Sommerspiele begleitet er als freiwilliger Helfer die Olympia-Mannschaft von Madagaskar.1332 „Timofei Prochorow ist mutmaßlich am 22. Januar 1894 in Bahajewskaja Stanitsa am Don geboren worden“, ist einem Zeitungsausschnitt an der Wand des kleinen Museums zu entnehmen, „stand bei Kriegsende im Dienst kosakischer Truppen und floh zwei Jahre lang in schwarzer Kutte auf einem Pferdewagen, begleitet von Schwesterchen und zwei Glaubensbrüdern nach München, wo ihm im Traum befohlen ward, eine Ost-West-Friedenskirche zu errichten.“1333 Diese Geschichte weiß der Journalist und spätere Münchner Oberbürgermeister Christian Ude über das Leben des Eremiten zu erzählen. Die Schwabinger Grundschüler, und dazu gehört auch der 1947 geborene Ude, sind in den 1950er Jahren mit ihren Tretrollern oft zu dem Abenteuerspielplatz am Oberwiesenfeld gefahren. „Auf dem Gelände lagen noch Gleise der legendären Bockerlbahn herum, die Ruinenreste zum Schuttberg transportierte. Der Boden ringsum war noch rot, übersät mit Ziegelsteinen und Ziegelstaub.“1334 Timofei und Natascha, die Flüchtlinge aus der Sowjetunion, sind offenkundig Ende der 1940er Jahre nach Bayern gekommen und haben sich auf den Trümmern der zerstörten Stadt niedergelassen. „Schüchtern wucherte am Rande des Schuttbergs eine schöne Heimgartenkolonie“, schreibt Hollander in seinem München-Reiseführer, „[n]och schüchterner erbauten der rührende Russe Timofei Brochorow und ein paar gutmütige Handwerker eine russische Kirche aus schierem Kistenholz, ausgestattet mit Silberpapier.“1335 Das Paar hat Beete angelegt und Bäume gepflanzt; aus Fundstücken, Steinen, Brettern und anderem Material, sind über die Jahre ein kleines Haus, eine Kapelle, eine Kirche und ein weiteres Gebäude entstanden. „Rein rechtlich betrachtet“, führt der Jurist Ude aus, „war das Väterchen ein illegal eingewanderter Ausländer, der eine Fläche des Freistaates Bayern ‚rechtswidrig in Besitz genommen‘ und mit ‚nicht genehmigten

1331 |

Vgl. Olympiade 1972 – Oberwiesenfeld Grunderwerb, Freimachung. Stadtarchiv

München, 322. 1332 |

Vgl. Gespräch mit Hans Thiem am 1. Juli 2009.

1333 |

Ude, Christian (23./24. Januar 1994): Münchens erster Olympiasieger wird heute

100. Glückwünsche an Väterchen. In: Abendzeitung, S. 26. Der Zeitungsartikel ist im Timofei Museum am Rande des Olympiaparks ausgestellt. 1334 |

Ebd.: S. 26.

1335 |

Hollander 1972: S. 100-101.

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Behelfsbauten‘ bestückt hatte.“1336 Trotzdem leben die Einsiedler jahrelang relativ unbehelligt auf dem Gelände im Norden der Stadt, züchten Bienen und verkaufen Kartoffeln, Äpfel und Honig. „Da ist man halt immer wieder vorbeigefahren und hat den beiden irgendwas abgenommen“,1337 erinnert sich eine ehemalige Anwohnerin. Eine andere Frau schildert, dass sie 1961 für das Kinderheim an der Waisenhausstraße gearbeitet hat und mit den Kindern häufig zu Timofei gegangen ist. Den Kindern haben der Garten und die Kapelle mit den glänzenden Dingen sehr gefallen, sie selbst hat den Ort eher als kitschig empfunden. Timofei hat mit seinem langen Bart immer schon uralt ausgesehen, was die Kinder ebenfalls bewundert haben.1338 Gudrun Mendheim, die seit 1965 in der unmittelbaren Umgebung des Olympiageländes wohnt, hat Timofei ebenfalls oft mit ihrem kleinen Sohn besucht und bei dem Einsiedler Blumen gekauft.1339 Die Umgestaltung des Oberwiesenfelds zum Olympiagelände, mit der 1968 begonnen wird, sieht an Stelle der „Ost-West-Friedenskirche“ ein Reitstadion vor. Vom Kreisverwaltungsreferat der Landeshauptstadt München erhält Timofei deshalb einen Räumungsbescheid. An diesem Punkt schaltet sich die seit 1948 bestehende Abendzeitung in das Geschehen ein. Die Eremiten vom Schuttberg werden mit Unterstützung der lokalen Presse zum Stadtgespräch, und unter den Münchnerinnen und Münchnern brandet ein Sturm der Entrüstung auf, „[...] kräftig geschürt von der [...] [AZ], die hier den Bürokraten vorführte, was ‚Aktions-Journalismus‘ ist und zu bewirken vermag“1340 . Beeinflusst von der Meinung der städtischen Öffentlichkeit, lassen sich Willi Daume, Hans-Jochen Vogel und der Architekt der Sportstätten, Günter Behnisch, umstimmen und der Einsiedler darf mit seiner Frau Natascha auf dem Gelände des geplanten Parks bleiben. Väterchen Timofei wird „Münchens erster Olympiasieger“1341 . Von einer Persona non grata ist der Flüchtling aus dem Osten im Kontext der Spiele zu einer Urban Legend geworden, der illegale Bewohner des Oberwiesenfelds wird innerhalb weniger Monate von einer lokalen Berühmtheit zu einer populären Ikone. „Die Olympiaplaner brachten es 1336 |

Ude, Christian (23./24. Januar 1994): Münchens erster Olympiasieger wird heute

100. Glückwünsche an Väterchen. In: Abendzeitung, S. 26. Der Zeitungsartikel ist im Timofei Museum am Rande des Olympiaparks ausgestellt. 1337 |

Gespräch mit einer Besucherin des Timofei Museums auf dem Gelände der Ost-

West-Friedenskirche am 6. Dezember 2007. 1338 |

Vgl. Gespräch mit einer Teilnehmerin der Tour des Bund Naturschutz durch den

Olympiapark am 10. Oktober 2009. 1339 |

Gespräch mit Gudrun Mendheim im Rahmen einer Tour des Bund Naturschutz

durch den Olympiapark am 10. Oktober 2009. 1340 |

Ude, Christian (23./24. Januar 1994): Münchens erster Olympiasieger wird heute

100. Glückwünsche an Väterchen. In: Abendzeitung, S. 26. Der Zeitungsartikel ist im Timofei Museum am Rande des Olympiaparks ausgestellt. 1341 |

Vgl. ebd.

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nicht übers Herz, Brüderchen Brochorow, den eigentlich widerrechtlichen Grundbesitzer, von seinem ihm nicht gehörenden Grund zu vertreiben. Dieses Kirchlein wird eine Sehenswürdigkeit ersten Ranges sein und der Weltstadt mit Herz gegenüber ihren Besuchern wahrhaftig kein schlechtes Zeugnis ausstellen“,1342 resümiert Jürgen von Hollander. Der Eremit im Rampenlicht weiß die plötzliche Begeisterung für seine Person offenkundig zu nutzen und wird zu einem Motiv der olympischen Bildproduktion. Für das Gesellschaftsmagazin Bunte besucht der 91jährige im Sommer 1972 „[...] mit seiner Gefährtin, ‚Schwesterchen‘ Natascha, das Olympiastadion – und trat gegen die 75jährige zu einem 100-Meter-Lauf für die Fotografen an.“1343 Während der Spiele kommen zahllose Gäste, Besucherinnen und Besucher, Sportlerinnen und Sportler, auch die Hostess Silvia Sommerlath zeigt sich in der Behausung des frommen Eremiten. Timofei spricht von Erleuchtung und stilisiert seine Geschichte, obgleich oder gerade weil vieles im Unklaren bleibt. „Seine kleine Kirche, die zu Füßen historischer Hügel Unterschlupf gefunden hat, sein Hof, ein eigenartiges Stückchen Russland auf deutschem Boden, die grandiose Olympiaanlage und das Schicksal des Väterchen Timofei selbst haben sich mit der Zeit zu einem Knäuel verflochten, und alles zusammen, bzw. jedes für sich allein, stellt eine Sehenswürdigkeit der Stadt München dar.“1344 Schlögels Parole, „Im Raume lesen wir die Zeit!“1345, lässt auch die Debatte um den Einsiedler und sein Refugium als Chronotopos erscheinen. An der Schnittstelle der „Ost-West-Friedenskirche“ zeigen sich die Konstellationen jener Jahre. Die Legende und insbesondere Timofeis selbst erklärte Rolle als Mittler im Kalten Krieg sind dabei vor dem Hintergrund der realpolitischen Situation zu sehen, auf einer anderen Ebene spricht sich der SPD-Politiker Egon Bahr schon 1963 bei der Evangelischen Akademie in Tutzing für einen „Wandel durch Annäherung“ zwischen Ost und West aus und setzt ab 1969 als Bundesaußenminister im Kabinett von Willy Brandt auf das Prinzip der Entspannung in der deutschen Ost-Politik.1346 „Mehr Demokratie wagen!“,1347 lautet das zentrale Motto der SPD in dieser Epoche. Das bürgerschaftliche Engagement, das sich in Anbetracht der geplanten Räumung von Timofeis Garten formiert, lässt ebenso auf Vorstellungen von politischer Teilhabe und Partizipation an Gestaltungsprozessen, wie sie in der Phase quer durch alle gesellschaftlichen Felder 1342 |

Hollander 1972: S. 100-101.

1343 |

Münchens Olympia-Eremiten „testeten“ das Leichtathletik-Stadion. Gold für Nata-

scha, Silber für Timofei (31. August 1972). In: Bunte Illustrierte, S. 42. Der Zeitungsartikel ist im Timofei-Museum am Rande des Olympiaparks ausgestellt. 1344 |

Chipster 1997: S. 227.

1345 |

Vgl. Schlögel 2003.

1346 |

Vgl. Müller, Albrecht (1972): Willy wählen ‘72 – Siege kann man machen. Annweiler,

S. 16-17. 1347 |

Vgl. Müller 1972: S. 16.

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gefordert werden, schließen. Das Ringen um den Standort der beiden Einsiedler auf dem Oberwiesenfeld ist auch als Akt des Spacing, wie die Sozialwissenschaftlerin Martina Löw Strategien der Raumaneignung bezeichnet, zu interpretieren. An den Ereignissen auf dem Oberwiesenfeld ist außerdem abzulesen, wie sich in jenen Jahren die Auffassungen verschieben, die hinter den erkennbaren Handlungen stehen. Damit verbundene Syntheseleistungen verweisen zum Beispiel auf die Wertung von Timofei im Kontext der Stadt, auf Veränderungen im Bewusstsein der unmittelbar beteiligten Personen und der beobachtenden Akteurinnen und Akteure.1348 In einem Schreiben vom 4. Oktober 1968 bewirbt sich die Wienerwald GmbH bei der Olympia-Baugesellschaft um die Anpachtung oder den Ankauf des Restaurants auf dem ehemaligen Schuttberg, die Firma ist durch einen Zeitungsbericht auf diese Möglichkeit aufmerksam geworden.1349 Im Folgenden stellt die OlympiaBaugesellschaft fest, dass zwar ein Restaurant geplant ist, über die Nutzung aber kein Vertrag zwischen dem Bauträger und den Architekten besteht. Die Stadt München erklärt, erst durch die Anfrage der Wienerwald GmbH von einer solchen Idee erfahren zu haben. In einem lebhaften Schriftwechsel debattieren Vertreter des städtischen Bauamts, des bayerischen Landessportbundes e.V. und des Investitionsplanungs- und Olympiaamts der Landeshauptstadt München über die Möglichkeit eines Café-Restaurants auf dem Schuttberg. Auch Vorschläge zur sportlichen Nutzung sind bereits eingegangen, angedacht ist beispielsweise ein WintersportAlpinum. Das Bauamt wendet ein, dass das Gelände der Erholung dienen soll, für ein Restaurant aber Parkplätze und Zufahrtsstraßen notwendig werden.1350 In einem Schreiben der Münchner Sportpark GmbH wird dem Vorhaben bereits im Februar 1969 eine deutliche Absage erteilt. „Für den Fall, daß aus besonderen Überlegungen dort doch ein Restaurantbetrieb genehmigt werden sollte, befürworten wir selbstverständlich die Bewerbung der Firma Wienerwald GmbH.“1351 Einige Zeit später wird erstmals über die Errichtung eines Friedensdenkmals auf dem Schuttberg diskutiert, zugleich ist von einem Tanzcafé am Seeufer die Rede. Weiterhin wird in alle Richtungen überlegt und auch konkret geplant werden. Die 1348 |

Vgl. Löw 2001: S. 158-160.

1349 |

Vgl. Schreiben der Wienerwald GmbH an die Olympia-Baugesellschaft vom 4. Ok-

tober 1968. In: Olympiade 1972 – Restaurant-Café am Schuttberg 1968-1970. Stadtarchiv München, 228. 1350 |

Vgl. Korrespondenz des städtischen Bauamts, des bayerischen Landessportbundes

e.V., des Investitionsplanungs- und Olympiaamts über die Möglichkeit eines Café-Restaurants auf dem Schuttberg. In: Olympiade 1972 – Restaurant-Café am Schuttberg 19681970. Stadtarchiv München, 228. 1351 |

Schreiben der Münchner Sportpark GmbH an die Wienerwald GmbH vom 3. Febru-

ar 1969. In: Olympiade 1972 – Restaurant-Café am Schuttberg 1968-1970. Stadtarchiv München, 228.

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Olympia-Baugesellschaft liefert Skizzen zu einem Café im Grünen mit Blick auf die Stadt, gedacht ist der Bau als Gegenpol zu dem Restaurant im Turm. 1970 schreibt das OK die Pacht für das Schuttberg-Café, ein Tanzcafé am See und ein Bootshaus mit Verkaufskiosk aus. „Interessenten, die als Pächter in Frage kommen, werden gebeten, sich bis zum 28. Februar 1970 bei der Olympia-Baugesellschaft mbH, 8 München 13, Melcherstraße 32, schriftlich zu bewerben.“1352 Die Ankündigung führt zu Diskussionen, Vertreterinnen und Vertreter der umliegenden Bezirksausschüsse und allen voran die Mitglieder des „Münchner Forums“ intervenieren. In einem Rundbrief vom 5. Oktober 1970 teilt der Verein für Stadtentwicklungsfragen seine Haltung zu dem Vorhaben mit: „Der Schuttberg ist eines der beliebtesten und relativ ruhigen Ausflugsziele der Münchner Bevölkerung, die auf exklusive und mondäne Bedürfnisbefriedigungen zu sattsam bekannten Preisen an dieser Stelle verzichten kann. Man braucht keineswegs sentimental zu sein, es genügt schon das Fingerspitzengefühl um zu erkennen, dass auf diesem Schuttberg, der das Ergebnis und die Erinnerung von soviel Leid und Bombenkrieg ist, in dem eine unbekannte Zahl von im Bombenkrieg zerfetzter Männer, Frauen und Kinder oder Teile derselben namenlos begraben liegen, ein exklusives Café-Restaurant vollständig fehl am Platz ist. Es dürfte keinen Zweifel an der Notwendigkeit weiterer gastronomischer Einrichtungen auf dem Oberwiesenfeld geben. Dafür ist aber zu ebener Erde Platz genug. Wer Aussicht haben will, hat im Restaurant des Fernsehturms dazu Gelegenheit.“1353 Wenngleich auf dem Gelände des Olympiaparks niemand begraben liegt, markiert das Areal doch einen Gedächtnisort, der im Bewusstsein der Bewohnerinnen und Bewohner überaus präsent ist. Noch im selben Jahr wird das Bauprojekt auf dem Schuttberg von sämtlichen Gremien und Entscheidungsträgern abgelehnt, und auch das Café am See wird letztlich nicht realisiert. „Erinnern Sie sich an Timofei?“,1354 fragt Hans-Jochen Vogel den Journalisten Ulrich Chaussy, dem er im Rahmen eines Gesprächs als Experte Rede und Antwort steht, und erklärt daraufhin, dass er sich als Oberbürgermeister in der Debatte um den Olympia-Eremiten1355 gedacht hat: „Das könnte ein typisch Münchnerischer-

1352 |

Ausschreibung der Pacht für das Schuttberg-Café. In: Olympiade 1972 – Restau-

rant-Café am Schuttberg 1968-1970. Stadtarchiv München, 228. 1353 |

Rundbrief des Münchner Forums vom 5. Oktober 1970. In: In: Olympiade 1972 –

Restaurant-Café am Schuttberg 1968-1970. Stadtarchiv München, 228. 1354 |

Gespräch zwischen Hans-Jochen Vogel und dem Journalisten Ulrich Chaussy, „Die

Olympischen Spiele 1972 – Bilanz und Perspektiven auf 2018“, im Rahmen der Reihe „M 2018 – Staffellauf nach Olympia“ am 16. März 2010 im Gasteig. 1355 |

Münchens Olympia-Eremiten „testeten“ das Leichtathletik-Stadion. Gold für Nata-

scha, Silber für Timofei (31. August 1972). In: Bunte Illustrierte, S. 42. Der Zeitungsartikel ist in dem Timofei-Museum am Rande des Olympiaparks ausgestellt.

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Akzent sein, dass so einer bleibt.“1356 Und selbst in der Edition Olympia findet der Einsiedler seinen Platz, das Thema von Friedensreich Hundertwasser „[...] ist ein Fußball-Länderspiel zwischen Österreich und England im Jahre 1952. Das soll das ‚Spiel des Jahrhunderts‘ gewesen sein. Der Sport ist aber so verfremdet, daß man schon sehr genau hinsehen muß, und Hundertwasser hat in dieses vielfacettige Bild auch noch den Zwiebelturm einer russisch-orthodoxen Kirche hineinkomponiert; das kleine Bauwerk wurde vom ‚Vater Timofej‘ längst bevor das Oberwiesenfeld für Olympische Spiele bestimmt worden war, in eigenhändiger Arbeit aufgebaut und ist dann zu einem Zankapfel wegen des Problems geworden, ob das Kirchlein stehen bleiben könne oder nicht. Nun es konnte stehen bleiben, wahrscheinlich ganz zur tiefen Befriedigung von Friedensreich Hundertwasser, der den Vater Timofej mit seiner kleinen Kirche verewigt hat.“1357 Rolf Lindner unterstreicht die Bedeutung symbolischer Momente, die den typischen Eindruck einer Stadt auch hinsichtlich der damit verbundenen Handlungen ausmachen, und anders gedacht, ist ausgehend von den Praktiken der Menschen in der gleichen Weise auf Inhalte und deren Vermittlung in Gestalt von Zeichen zu schließen. „Als von Geschichte und Geschichten durchtränkter, kulturell kodierter Raum bildet die Stadt einen Vorstellungsraum, der den physikalischen insofern überlagert, als er der durch die begleitenden Bilder und Texte hindurch erlebte und erfahrene Raum ist. Städte sind keine unbeschriebenen Blätter, sondern narrative Räume, in die bestimmte Geschichten (von bedeutenden Personen und wichtigen Ereignissen), Mythen (von Helden und Schurken) und Parabeln (von Tugenden und Lastern) eingeschrieben sind. Diese Aufladung mit Bedeutung kann so ausgeprägt sein, dass bereits die bloße Nennung des Namens einer Stadt [...] ein ganzes Bündel an Vorstellungen hervorruft.“1358

U NTER DEM Z ELTDACH . A RCHITEK TUR ALS A UFGABE UND V ISION In einem Dossier präsentiert die Pressestelle des OK die Bauprojekte auf dem Oberwiesenfeld. „Vier Kilometer vom Stadtzentrum Münchens entfernt entstehen die Bauten für die Spiele der XX. Olympiade. Auf einem drei Quadratkilometer großen Gelände im Norden der Stadt werden die baulichen Voraussetzungen für ‚Olympia der kurzen Wege‘, ‚Olympia im Grünen‘, für heitere und beschwingte Spiele geschaffen. Nach der Konzeption von Professor Günter Behnisch (Stuttgart) und seiner Partner, die als Sieger aus dem 1967 veranstalteten ArchitektenWettbewerb hervorgingen, entsteht eine anmutige olympische Landschaft, in die 1356 |

Gespräch zwischen Hans-Jochen Vogel und dem Journalisten Ulrich Chaussy, „Die

Olympischen Spiele 1972 – Bilanz und Perspektiven auf 2018“, im Rahmen der Reihe „M 2018 – Staffellauf nach Olympia“ am 16. März 2010 im Gasteig. 1357 |

Hohenemser 1972: S. 74.

1358 |

Lindner 2008 b: S. 86.

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die Sportbauten eingebettet werden. Die Architektur der Hochbauten paßt sich der reizvollen und abwechslungsreichen olympischen Landschaft an, die 1972 die Besucher mit Hügeln und Dämmen, einem See und Alleen empfangen wird. Die Olympia-Planer widerstanden der Gefahr des Gigantismus. Menschliche Maßstäbe, wie sie bei der Gestaltung der Spiele gelten sollen, kennzeichnen auch die Architektur der Olympiabauten. [...] Wenn auch die Landeshauptstadt München Zentrum der Olympischen Spiele ist, so handelt es sich doch nicht um ein lokales Ereignis, sondern um eine Angelegenheit des ganzen deutschen Volkes. Es möchte Gastgeber für die olympischen Wettkämpfer, für ihre Betreuer, für die Berichterstatter und für die große Zahl der Besucher sein, die aus aller Welt als Augenzeugen der olympischen Kämpfe in unser Land kommen werden. Wir wollen sie offenen Herzens als Freunde empfangen und sie bitten, unsere [...] Kundgebung als Willkommensgruß entgegen zu nehmen. Wir freuen uns, wenn wir der großen Zahl an Besuchern aus der ganzen Welt unser Land und unsere Lebensverhältnisse so zeigen können, wie es der Wirklichkeit entspricht. Bei uns gibt es volle Reise- und Informationsfreiheit, unser Land hat nichts zu verbergen und braucht nichts vorzutäuschen. [...] Wir glauben [im Sinne Coubertins] an diese ideelle Wirkung der Spiele des Friedens, und deshalb rechtfertigt sie unsere Mühe und Anstrengungen und auch den finanziellen Aufwand, die für die Vorbereitung und Durchführung der Spiele dem ganzen Land erwachsen.“1359 Diese durchaus programmatisch zu verstehende Mitteilung gibt das Organisationskomitee während der Bauphase zu Beginn der 1970er Jahre heraus. Im Januar 1972 berichten die Reporter Peter M. Bode und Wolfgang Kunz im Magazin der Zeit unter der Schlagzeile „Das Dach“ von den neuesten Entwicklungen in München. Dabei gehen die Journalisten auch auf die Schwierigkeiten ein, die im Zuge der Vorarbeiten bewältigt werden müssen. „Wer in diesen Monaten von dem ‚Dach‘ spricht, kann damit rechnen von den meisten verstanden zu werden, denn es gibt in Deutschland nur ein Dach, das so berühmt ist, daß es ohne Beiwort auskommt. Dieses Dach wirkt selbst als Zeichen: es wurde zum eigentlichen Signal der kommenden Olympischen Spiele in München!“1360 Bilder von der Bewerbung in Rom zeigen noch das Modell eines oval geformten Stadions, das neben der geplanten Schwimmhalle und einer Mehrzweckhalle auf einem rechteckigen Fundament aus massivem Beton aufgereiht ist. Mit diesem Entwurf hat sich München um die Spiele bemüht und wird von den Mitgliedern des IOC zum Austragungsort von Olympia 1972 gewählt. Schon in den 1950er Jahren ist in der Stadt über die Errichtung eines Großstadions nachgedacht worden, der Vorschlag wird Anfang 1359 |

„Die Bauten für die Spiele der XX. Olympiade in München“, Presse Exposé 1971.

In: Olympische Baugesellschaft und Deutscher Sportbund – Handakt Camillo Noel. Stadtarchiv München, 515. 1360 |

Bode, Peter M.; Kunz, Wolfgang (21. Januar 1972): Das Dach. In: Zeit Magazin Nr.

3, S. 4-11. Hier: S. 4. In: Zeitungsausschnittsammlung Olympia Zeltdach. Stadtarchiv München, 2682.

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der 1960er Jahre wieder aufgegriffen.1361 Um Erfahrungswerte zu sammeln und sich über die Verteilung der Baukosten, die Staffelung der Eintrittspreise und die grundlegende Finanzierung des Unterhalts und anderes zu informieren, haben Mitglieder des Münchner Stadtrats, darunter etwa Hubert Abreß vom Stadtplanungsamt und Martin Rüff vom Stadtamt für Leibesübungen, zusammen mit ausgewählten Sportreportern vom 1. bis zum 13. Juli 1963 eine Studienreise unternommen, die Stadien in Barcelona, Madrid, Rom, Budapest, Göteborg und Hamburg besichtigt und sich mit den Verantwortlichen vor Ort ausgetauscht.1362 Für die Bebauung des Oberwiesenfelds ist schließlich ein Wettbewerb ausgeschrieben worden, aus dem die Architekten Henschker und Deiß als Sieger hervorgegangen sind. Die prämierte Idee ist 1965 in die Bewerbung der Stadt München eingeflossen, nach dem Triumph in Rom wird jedoch bald Kritik an dem in erster Linie funktionell gedachten Konzept für die Sportstätten im Norden der Stadt laut.1363 Als Vorsitzender des Deutschen Werkbunds Bayern e.V. wendet sich der Architekt Werner Wirsing am 10. Mai 1966 mit einem Schreiben an Oberbürgermeister Vogel und spricht der Landeshauptstadt München zunächst einmal seinen herzlichen Glückwunsch aus. „Mit der positiven Entscheidung beschäftigt uns natürlich in hohem Maße die Frage, wie gewährleistet werden könnte, daß das gesamte optisch wahrnehmbare Erscheinungsbild, das mit dem Geschehen der Olympischen Spiele zusammenhängt, so gut wie nur irgend möglich gestaltet wird. Wir meinen damit den ganzen Bogen von der ersten Drucksache bis zum Olympischen Zentrum. Tokio hat vorzüglich begonnen, München sollte vorzüglich fortsetzen und ergänzen, nichts dem Zufall oder der Gewohnheit überlassen, sondern vielmehr das Ziel so hoch und so komplex ansetzen, daß es auf jeden Fall über das im Augenblick anscheinend Erreichbare hinausweist.“1364 Der Architekt fürchtet jedoch, dass den gestalterischen Aspekten angesichts der ungeheuren Fülle an Aufgaben, mit denen die Stadtverwaltung und das OK im Vorfeld von Olympia konfrontiert sind, zu wenig Aufmerksamkeit beigemessen wird und bietet die Unterstützung des Werkbunds an. Wirsing verweist auf andere Bauprojekte im städtischen Raum und regt an, „[...] ob man nicht die Idee der Mustersiedlung von Perlach auf das Oberwiesenfeld übertragen könne, um damit das Angebot der Stadt München, 1361 |

Vgl. Egger, Simone (2010 b): Unter dem Zeltdach. Eine demokratische Landschaft

für Olympia. In: Haus der Bayerischen Geschichte (Hg.): München ‘72. (Edition Bayern, Sonderheft 2) Augsburg, S. 22-26. Hier: S. 26. 1362 |

Vgl. Protokoll einer Studienreise vom 1. bis zum 13. Juli 1963. In: Olympiade 1972 –

Gross-Stadion Oberwiesenfeld. Stadtarchiv München, 321. 1363 |

Vgl. Entwurf der Architekten Henschker und Deiß, 1963. In: Olympiade 1972 –

Gross-Stadion Oberwiesenfeld. Stadtarchiv München, 321. 1364 |

Schreiben von Werner Wirsing (Werkbund Bayern) an Oberbürgermeister Vogel,

10. Mai 1966. In: Olympiade 1972 – Gross-Stadion Oberwiesenfeld. Stadtarchiv München, 321.

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die Olympischen Spiele als ein kulturelles und soziales Ereignis zu werten, auf anspruchsvollste Weise einzulösen“1365 . In seiner Antwort zeigt sich Hans-Jochen Vogel für die Anregungen von Seiten des Architekten aufgeschlossen und hält auch den Hinweis auf Neuperlach für diskutabel; Werner Wirsing soll als Mitglied des Planungsausschusses auch selbst für das Vorgehen werben. Der Oberbürgermeister befürwortet die Idee einer ganzheitlichen Gestaltung und bittet Wirsing, inhaltliche und personelle Vorschläge in dieser Sache direkt an Willi Daume zu richten.1366 Die bayerische Sektion des Bundes Deutscher Architekten (BDA), deren Vertreter auch an den Beratungsgesprächen über die Bauten der Spiele teilnehmen, wendet sich einige Wochen später ebenfalls mit Bedenken an Hubert Abreß und Stadtbaurat Edgar Luther. Die Architekten Lutz Heese, Peter Lanz und Peter C. von Seidlein plädieren ihrerseits ausdrücklich dafür, dass die Wettkampfstätten auf dem Oberwiesenfeld nicht nach den vorolympischen Plänen von Henschker und Deiß umgesetzt werden. Nachdem sich die Bedingungen mit dem Erhalt der Spiele ganz wesentlich verändert haben, empfehlen die Mitglieder des BDA, unter olympischen Voraussetzungen noch einen Wettbewerb für das Stadion, die Mehrzweckhalle und die Schwimmhalle auszuschreiben, um ein zusammenhängendes Erscheinungsbild zu erzielen. Der von den beiden Architekten und dem Münchner Stadtbauamt gemeinsam erarbeitete Entwurf mit dem kompakten Riegel mag technischen und logistischen Standards entsprechen, für die Zukunft darf das zweckorientierte Konzept von Henschker und Deiß aber nicht mehr bindend sein. „Nach den bisher vorgelegten Plänen soll die Plattform in etwa 7.00 m Höhe eine Fläche von 400 x 1000 m überdecken. Wenn wir uns zu dieser Idee positiv gestellt haben, so setzten wir voraus, daß die Planenden nicht nur den sehr beträchtlichen finanziellen Aufwand festgestellt und gegenüber den funktionellen und ideellen Vorteilen abgewogen haben, sondern daß sie sich auch der Gefahr der bei diesen Abmessungen nahe liegenden Monumentalität bewusst sind. Es bedarf nicht des Hinweises auf das Reichssportfeld von 1936 oder gar auf das Nürnberger Reichsparteitagsgelände, um klarzumachen, daß der bauliche Ausdruck dieser ersten Olympischen Spiele in Deutschland nach 1945 von nichts weiter entfernt zu sein hat, als von hohler und in fataler Weise erinnerungsträchtiger Monumentalität. Ihr kann nicht durch dekorative oder spielerische Details entgegengewirkt werden. Die Größe der Anlage und der Ernst der Aufgabe verlangen eine lapidare, unpathetische Einfachheit [...].“1367 Im Hinblick auf die nachhaltige Nutzung des Areals sprechen sich die Architekten des Weiteren gegen eine flächige Bebauung des Oberwiesen1365 |

Ebd.

1366 |

Schreiben von Hans-Jochen Vogel an Werner Wirsing, 17. Mai 1966. In: Olympiade

1972 – Gross-Stadion Oberwiesenfeld. Stadtarchiv München, 321. 1367 |

Schreiben des BDA Bayern an Oberbürgermeister Vogel, 7. Juni 1966. In: Olympia-

de 1972 – Gross-Stadion Oberwiesenfeld. Stadtarchiv München, 321.

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felds aus und schlagen stattdessen eine punktuelle Verdichtung der verschiedenen Räume vor. „Die kaum zu überschätzende Bedeutung des baulichen Ausdrucks der olympischen Spiele darf uns nicht übersehen lassen, welch wichtige Rolle das zur Verfügung gestellte Gelände im Organismus der Stadt spielt. Die Flächen des ehemaligen Flughafens und Exerzierplatzes Oberwiesenfeld stellen ein Geschenk dar, wie es die Stadt in zentraler Lage nie wieder erwarten kann.“1368 München hat den Umstand, Mitte der 1960er Jahre keine der zentralen Wettkampfstätten zu besitzen, im Kontext der Bewerbung stets als Chance interpretiert. Auf dem Oberwiesenfeld sollen eigene Bauten für die Spiele entstehen, der geschlossene Entwurf von Henschker und Deiß gilt als Herzstück der Pläne. Mit der Entscheidung in Rom wandeln sich aber nicht nur die Rahmenbedingungen, wie die Diskussionen in der darauf folgenden Phase zeigen, beginnen sich auch die Ansichten der Verantwortlichen und mit ihnen die strengen Formen des bis dato als Konsens akzeptierten Entwurfs zu verschieben. Die statisch verankerte Plattform von Henschker und Deiß gerät nach und nach in Bewegung. Der Architekt Günter Behnisch bezeichnet sein Konzept des Olympiaparks in der Rückschau als „Bild des seinerzeitigen politischen Aufbruchs“1369, der sich in der offen strukturierten Anlage des Geländes spiegelt. „Die Dinge fangen an zu tanzen, wenn man sie nicht festbindet. Und vielleicht ist das Tanzen wichtiger als alles andere in der Architektur.“1370 Ein so verstandenes Bauwerk wird sich auch auf die Umwelt auswirken. Die Sozialwissenschaftlerin Heike Delitz thematisiert in ihren Ausführungen zu einer Soziologie der Architektur unter anderem die AkteurNetzwerk-Theorie, wie sie der französische Soziologe Bruno Latour eingeführt hat. Aus diesem Blickwinkel werden Bezüge zwischen Dingen und Akteurinnen oder Akteuren als gleichberechtigte Interaktionen so genannter Aktanten aufgefasst. „Dabei hat die [Artefaktsoziologie] vornehmlich technische und wissenschaftliche ‚Dinge‘ im Blick. Sie konzentriert sich daher kaum auf die expressive, ebenso symbolische wie affektive Dimension, welche die (Innen-)Architektur als Kunst gezielt kultiviert, die aber auch ganz grundsätzlich jedem Gebauten anhaftet.“1371 Heike Delitz betont gerade die affektive Seite der Architektur, das heißt ein Bauwerk spricht die Wahrnehmung im Inneren des Subjekts an und stellt über das individuelle wie auch kollektive Empfinden eine Erfahrung her. An diesem Punkt setzt auch die symbolische Bedeutung von Gebäuden an, die sich über Materialität und Form der Architektur vermittelt und besonders bei sakralen Bauten spürbar wird. „Diese Einrechnung der affektiven Dimension expliziert im Übrigen das, was in 1368 |

Ebd.

1369 |

Beyer, Susanne; Knöfel, Ulrike (14. Mai 2005): Was uns auf der Seele brennt.

Interview mit dem Architekten Günter Behnisch. In: Der Spiegel. Verfügbar unter: http:// www.spiegel.de/spiegel/print/d-40382964.html, (1. Juli 2010). 1370 |

Ebd.

1371 |

Delitz, Heike (2009): Architektursoziologie. Bielefeld, S. 78.

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raumsoziologischen und architekturphilosophischen Überlegungen der Begriff der ‚Atmosphäre‘ zu leisten sucht: die Antwort darauf, wie die Architektur auf uns wirkt, in welcher Weise sie anrührt oder aber abstößt, langweilt, anödet.“1372 Nicht nur aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive scheint auch ein Stadion, um dessen Gestaltung sich bereits im Vorfeld des Baus ein Diskurs entwickelt, und das sich, kommuniziert durch die Medien und im persönlichen Erleben während der XX. Olympischen Sommerspiele mit Heiterkeit, aber auch mit Tragik und sogar mit Trauer füllt, ein paradigmatischer Ort für die Beschäftigung mit der Architektur als Feld und Gegenstand zu sein. Hinsichtlich eines neuen Wettbewerbs besteht die Stadtverwaltung erst einmal darauf, die bereits im Vorfeld ausgelotete Lage der Bauten und die geplante Verkehrsanbindung beizubehalten, um das Verfahren zu beschleunigen. Außerdem ist zunächst lediglich von einer äußeren Umgestaltung die Rede, bald wird jedoch auch von Seiten des OK vermittelt, dass der Konzeption für das Oberwiesenfelds aus städtebaulicher Sicht eine übergeordnete Bedeutung zukommt, und es deshalb unerlässlich scheint, auch den Stadionbau entgegen vieler Vorbehalte frei zu geben und wiederholt auszuschreiben. Die Architekten Henschker und Deiß werden nach langen Debatten eingeladen, einen neuen Entwurf einzureichen.1373 Den Wettbewerb leitet eine Fachjury unter dem Vorsitz des Designers Egon Eiermann; im Beirat sitzen unter anderem der Stadtplaner Herbert Jensen, der Karikaturist und Architekt des BDA, Ernst Maria Lang. Daneben sind die wichtigsten Verantwortlichen von OK und OBG an der Entscheidung beteiligt. Die Preisträger des „Architekten-Wettbewerbs für die Olympia-Bauten in München“ werden am 19. Oktober 1967 vorgestellt und die Siegermodelle in einer Ausstellung präsentiert. Bei der Eröffnung wird auch das Verfahren erläutert, nach dem die Wahl durchgeführt worden ist. Zunächst sind alle Architektinnen und Architekten in der Bundesrepublik dazu aufgerufen worden, sich an dem Wettbewerb zu beteiligen, und zahlreiche Büros haben sich über die Zukunft der Stadt und die Sportstätten auf dem Oberwiesenfeld Gedanken gemacht. Darauf hat das Preisgericht die Vorschläge geprüft und spricht mit der Vergabe der Platzierungen eine deutliche Empfehlung aus. In einem dritten Schritt soll nun die Öffentlichkeit Kenntnis von den Plänen erhalten und sich in die Debatte einbringen können, nach Abwägung sämtlicher Fakten und Argumente wird der Aufsichtsrat der Olympia-Baugesellschaft eine definitive Entscheidung treffen. „Hundert Architekten-Teams haben sich freiwillig dieser großen Aufgabe unterzogen. [...] Das Preisgericht schien überzeugt“, heißt es bei der offiziellen Bekanntgabe der Siegerentwürfe, „daß die vom Verfasser gewählte ‚Olympische Landschaft‘ für München und unser Land die beste Gebärde wäre, um die Sportfreunde aus aller Welt zu uns einzuladen. Die vom 1372 |

Delitz 2009: S. 81.

1373 |

Vgl. Olympiade 1972 – Gross-Stadion Oberwiesenfeld. Stadtarchiv München, 321

und Offizielle Dokumentation – Bauten 1972: S. 6-7.

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Verfasser angestrebte Gestaltung ist bestens geeignet, darüber hinaus allen Besuchern Erholung und Entspannung zu bieten und bildet über die Olympiade hinaus eine Bereicherung für unsere Stadt. Ich habe nun die Ehre, Ihnen die Preisträger vorzustellen. Als Träger des ersten Preises Herrn Architekt BDA Günter Behnisch mit seinen Mitarbeitern, den Herren Diplom-Ingenieuren Auer, Büxel, Tränkner, Weber und Herrn Professor Joedicke.“1374 Günter Behnisch wurde 1922 in der Nähe von Dresden geboren und geriet als junger U-Boot- Kommandant Anfang der 1940er Jahre in britische Gefangenschaft. Nach 1945 studierte Behnisch in Stuttgart Architektur und arbeitete nach dem Abschluss für Rolf Gutbrod, 1952 eröffnete er sein eigenes Büro.1375 Für die Präsentation der Bundesrepublik bei der Weltausstellung in Montreal entwickeln Gutbrod und der schwäbische Ingenieur Frei Otto 1967 einen Pavillon mit Zeltdach.1376 Ausgehend von dieser Idee hat Behnisch für die Spiele in München ein Konzept entwickelt, das bereits auf den ersten Blick unter den eingesandten Entwürfen heraus sticht. Hans-Jochen Vogel erinnert sich, dass dieser Plan nicht allen Beteiligten auf Anhieb gefallen hat. Nach und nach haben sich aber immer mehr Befürworter gefunden.1377 Das Modell setzt eine Landschaft mit schwingenden Linien in Szene, das Stadion, die Schwimmhalle und die Olympiahalle fügen sich fließend in die Umgebung aus Bergen und Tälern ein, die Dynamik des Geländes wird noch einmal aufgegriffen und in die Gestalt eines aufgespannten Zeltdachs übersetzt. Technisch kann das Vorhaben zu dem Zeitpunkt noch gar nicht realisiert werden, kein Werkstoff ist für eine Fläche in einer derartigen Größenordnung geeignet; im Maßstab des Modells haben die beteiligten Architekten die schwebende Überdachung aus Nylon aufgezogen. Eiermann äußert sich in einer Sitzung des Stadtplanungsausschusses zu dem Siegerentwurf und spricht sich trotz offener Fragen mit allem Nachdruck für Behnischs Idee aus: „Ich will nicht über die Ästhetik dieser Dinge sprechen. Ich spreche jetzt über die Technik und setze voraus, daß sie diese Form, die durch den Bau entstehen wird, in dieser Landschaft, die ich Ihnen geschildert habe, einsehen. Ich kenne niemand, der dieses Modell nicht goutiert und sagen würde: jawohl, das ist es. Es ist unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, daß diese 1374 |

Rede zur Ausstellungseröffnung, wahrscheinlich von Hans-Jochen Vogel, 19. Okto-

ber 1967. In: Olympische Baugesellschaft und Deutscher Sportbund – Handakt Camillo Noel. Stadtarchiv München, 515. 1375 |

Vgl. http://deu.archinform.net/arch/28.htm, (11. August 2011) und Egger, Simo-

ne (2010 c): Architekt Günter Behnisch. Ein „Baumeister der Demokratie“. In: Haus der Bayerischen Geschichte (Hg.): München ‘72. (Edition Bayern, Sonderheft 2) Augsburg, S. 40-41. 1376 |

Vgl. Glaeser, Ludwig (1972): The Work of Frei Otto. New York, S. 109.

1377 |

Vgl. Gespräch zwischen Hans-Jochen Vogel und dem Journalisten Ulrich Chaussy,

„Die Olympischen Spiele 1972 – Bilanz und Perspektiven auf 2018“, im Rahmen der Reihe „M 2018 – Staffellauf nach Olympia“ am 16. März 2010 im Gasteig.

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Konstruktion haltbar gebaut werden kann [...]. Es gibt einen Mann in Deutschland, der auch diese Dinge entwickelt hat, das ist der Professor Frei Otto in Stuttgart, der auch sicher an dieser Sache mitgearbeitet hat. Und der mir auch mitgeteilt hat: jawohl wir schaffen das, wir können ein massives Dach hinstellen. [...] Was wir erhalten müssen, ist auf jeden Fall die Komposition des Ganzen. Denn die ist hervorragend und nicht besser zu machen. Wir schaffen aber auch das Dach. Deshalb bedarf es Ihrer positiven Einstellung zu den Dingen, um den Menschen, die daran tätig sind und die nach vorne gehen, und nicht nach hinten gucken, die Unterstützung zu geben, daß man sowas eben als ein völliges Novum in München hinstellt. Und ich garantiere Ihnen, dieses Novum geht über die Welt. Ich bin sogar soweit gegangen, daß ich Herrn Dr. Vogel gesagt habe, im Grunde genommen ist die Aufsicht auf diese Geschichte das Plakat für die Olympischen Spiele in München. An der Schönheit der Sache ist nichts zu rütteln. Es bedarf also jetzt der intensivsten Bemühung aller Leute, die etwas davon verstehen und der völligsten Kritik der Fachleute, um zu sagen, wir können das machen. Ich bin überzeugt, wir können es.“1378 Frei Otto beginnt mit einem Team von Konstrukteuren und unter Mitarbeit zahlreicher Firmen und Institutionen, den Entwurf und damit auch die Utopie der Planer in einen physischen Raum zu übersetzen. Ungeheure Energie wird darauf verwendet, innovative Werkstoffe zu entwickeln und aufwendig zu testen. München folgt seiner Disposition als Stadt der Wissenschaft und bündelt gerade im Hinblick auf Olympia, mit dem amerikanischen Sozialwissenschaftler Richard Florida ausgedrückt, Talente und Technologien auf dem Gebiet der kreativen Stadt. Ein dritter Faktor, die Toleranz, nach der die Creative City zu messen ist, lässt sich über die Artikulation von Offenheit und Liberalität in der „Weltstadt mit Herz“, die Inhalte des Kunst- und Kulturprogramms oder des Stadions ausmachen.1379 „Hurra! Das Zelt wird doch gebaut! Münchens Ruf ist gerettet: Der Olympia-Bau wird nicht kleinkariert“,1380 titelt Bild im August 1969. Als Aufsichtsratsvorsitzender der OBG ist Bundesfinanzminister Franz Josef Strauß schließlich vor die Presse getreten und hat verkündet, dass sich das Gremium nach Vorarbeiten für die Umsetzung des Siegerentwurfs entschieden hat.1381 Mit gewaltigen Stahlseilen und massiven Zugankern aus Beton soll das schwebende Konzept des Behnischs Dach verwirk1378 |

Rede von Egon Eiermann vor dem Stadtplanungsausschuss des Münchner Stadt-

rats am 19. Oktober 1967. In: Olympische Baugesellschaft und Deutscher Sportbund – Handakt Camillo Noel. Stadtarchiv München, 515. 1379 |

Vgl. Florida, Richard (2003): The Rise of the Creative Class: And How It’s Trans-

forming Work, Leisure, Community, and Everyday Life. New York. 1380 |

Hurra! Das Zelt wird doch gebaut! (19. August 1969). In: Bild München. In: Zei-

tungsausschnittsammlung Olympia Zeltdach. Stadtarchiv München, 2681. 1381 |

Endgültige Entscheidung des Aufsichtsrats der Olympia-Baugesellschaft mbH un-

ter Vorsitz von Bundesfinanzminister Dr. h.c. Franz Josef Strauß für die Verwirklichung des

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licht werden. „Endlich ist Olympia unter Dach und Fach: Das lange umstrittene Zeltdach wird gebaut. Damit hat der Streit ein Ende. Der Aufsichtsrat der OlympiaBaugesellschaft geht davon aus: 80 Millionen soll dieses größte Dach der Welt kosten. Noch im September werden die Arbeiten an diesem neuen Wahrzeichen Münchens beginnen.“1382 Mit dem Beginn der umfangreichen Aushub- und Aufschüttungsarbeiten entsteht auf dem Oberwiesenfeld im Norden von München die größte Baustelle Europas. Bernd Zeytz erinnert sich, wie er mit der Planierraupe am Wochenende auf dem Gelände hin- und her gefahren ist, das so dazu verdiente Geld hat er in Opernbesuche investiert.1383 Ein Münchner berichtet, wie er im Abstand von einigen Wochen regelmäßig hinaus zur Baustelle gefahren ist, um wie viele andere zu schauen, was auf dem Oberwiesenfeld passiert. Verschiedene Firmen haben ihre Arbeiten auf dem Gelände präsentiert. Auch der Ingenieur Johann Suckart hat im Rahmen seiner Tätigkeiten im Bereich Vermessung immer wieder Führungen angeboten. Insgesamt haben mehrere 10 000 Besucherinnen und Besucher die Bauarbeiten besichtigt.1384 Am 10. Juli 1969 wird Oberbürgermeister Vogel von seinem persönlichen Referenten Camillo Noel davon in Kenntnis gesetzt, dass Carl Mertz, der Geschäftsführer der OBG zunächst vorgehabt hat, bei der Grundsteinlegung auf dem Oberwiesenfeld auch einen Stein von dem 1936 erbauten Berliner Olympiastadion in die Kassette zu legen. Harry Klein, der Pressechef des OK, hat sich jedoch entschieden gegen diese Geste ausgesprochen und macht, wie Noel schreibt, „politische Bedenken“1385 geltend, weswegen Mertz schließlich von der Idee abgesehen hat. Bei der Grundsteinlegung am 14. Juli 1969 hält auch Franz Josef Strauß in seiner Funktion als Aufsichtsratsvorsitzender der Baugesellschaft eine Rede, die Verknüpfung der bayerischen Landeshauptstadt mit den kommenden Spielen ist Thema seiner Analyse. „Wir halten aber auch die Wahl Münchens als Standort für die Sommerspiele für richtig – ich bin überzeugt, dabei nicht vom Standpunkt des Lokalpatrioten aus zu urteilen. Diese Stadt bringt auch nach dem Urteil des Internationalen Olympischen Komitees optimale Voraussetzungen für die Ausrichtung der Spiele mit, und zwar die Tradition, ihren weltweiten Ruf als kulturpolitische Metropole und als Mutter der Künste, als Zentrum des Fremdenverkehrs für den punktgestützten (zeltförmigen) Hängedachs am 26. Juni 1968. In: Olympische Baugesellschaft und Deutscher Sportbund – Handakt Camillo Noel. Stadtarchiv München, 515. 1382 |

Ebd.

1383 |

Vgl. Gespräch mit Bernd Zeytz am 3. Februar 2009.

1384 |

Vgl. Gespräch mit Hans Schuchardt im Rahmen des Sammelaufrufs für die Ausstel-

lung „München 72“ vom Haus der Bayerischen Geschichte und dem Institut für Bayerische Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München am 9. und 10. März 2010. 1385 |

Notiz von Camillo Noel an Hans-Jochen Vogel vom 10. Juli 1969. In: Olympische

Baugesellschaft und Deutscher Sportbund – Handakt Camillo Noel. Stadtarchiv München, 515.

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landschaftlich reizvollen Süden der Bundesrepublik, und wegen der Möglichkeit, die erforderlichen Sportstätten fast im Zentrum der Stadt errichten zu können, und nicht zuletzt wegen der Aufgeschlossenheit ihrer Bürger für den Sport und wegen ihres Verständnisses für lebensbejahende Selbstdarstellung.“1386 OK-Vizepräsident Hans-Jochen Vogel, der zunächst auf die wechselvolle Geschichte des Oberwiesenfelds eingeht und von einem ersten Bürgerbegehren zugunsten der Umgestaltung des Geländes im Jahr 1919 berichtet, weist bestimmt darauf hin, dass „[...] das Projekt Oberwiesenfeld nicht nur ein Zeugnis friedlicher Zusammenarbeit [ist], sondern ein Werk für den Frieden, das an die Stelle der nationalen Repräsentanz die Präsenz der Welt setzt“1387. Am 23. Juli 1970 wird auf dem Oberwiesenfeld Richtfest für das Olympiastadion, die Olympiahalle, die Schwimmhalle und die Zentrale Hochschulsportanlage gefeiert, aus diesem Anlass hält auch Hans-Jochen Vogel eine Rede. „Von den drei Festen, die das Entstehen eines Bauwerks begleiten, ist das Richtfest [nach der Grundsteinlegung und vor der Einweihung] aber das Fest der Arbeiter, ohne deren Fleiß, Zähigkeit und Mühe alle Pläne nur Papier bleiben würden.“1388 Vogel dankt dem Geschäftsführer der OBG, Carl Mertz, für seine Geduld und erinnert daran, dass man noch 1965 ausgelacht worden ist, wenn man wie Bürgermeister Brauchle von derartigen Projekten nur gesprochen hat. „Olympische Spiele sind ein Internationales Ereignis, bei dem sich Menschen aller Völker begegnen. Diese Internationalität haben wir hier in München schon in der Phase der Bauarbeiten vorweggenommen. Denn von den Bauarbeitern hier auf dem Feld stammen nur rund 45 % aus der Bundesrepublik, die übrigen aber aus insgesamt 18 europäischen und außereuropäischen Ländern. Die meisten von ihnen kommen aus Italien, Jugoslawien, Griechenland und der Türkei. Deshalb möchte ich ihnen ein Dankeswort auch noch in ihrer Muttersprache zurufen.“1389 Die Idee zu dieser „Einführung für die Gastarbeiter“ stammt von Camillo Noel. Der Referent lässt den Satz in mehrere Sprachen übersetzen, die Texte liegen auch in Lautsprache vor; der OB wird zusätzlich darauf hingewiesen, dass die Grußworte aufgenommen worden sind und er zur Vorbereitung die Kassette anhören kann. Vogel schließt seine Ansprache auf 1386 |

Rede von Franz Josef Strauß zur Grundsteinlegung auf dem Oberwiesenfeld am

14. Juli 1969. In: Olympische Baugesellschaft und Deutscher Sportbund – Handakt Camillo Noel. Stadtarchiv München, 515. 1387 |

Rede von Hans-Jochen Vogel zur Grundsteinlegung auf dem Oberwiesenfeld am

14. Juli 1969. In: Olympische Baugesellschaft und Deutscher Sportbund – Handakt Camillo Noel. Stadtarchiv München, 515. 1388 |

Ansprache von Hans-Jochen Vogel anlässlich des Richtfestes für das Olympiasta-

dion, die große Sporthalle, die Schwimmhalle und die Zentrale Hochschulsportanlage auf dem Oberwiesenfeld, 23. Juli 1970. In: Olympische Baugesellschaft und Deutscher Sportbund – Handakt Camillo Noel. Stadtarchiv München, 515. 1389 |

Ebd.

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dem Oberwiesenfeld mit einer Danksagung in Griechisch, Italienisch, Türkisch und Serbokroatisch.1390 Die Pressestelle der Stadt München dokumentiert das Fortschreiten der Baumaßnahmen, in der Broschüre für die Journalistinnen und Journalisten wird ebenso evident, welche enormen Leistungen die Spiele herausgefordert haben. „Im Winter 1969/70 wurde bereits ein Teil der insgesamt 123 Fundamente betoniert. Die Konstruktionsarbeiten der aus zwei österreichischen und vier deutschen Firmen bestehenden Arbeitsgemeinschaft Stahlbau sind seit Herbst 1969 in Gange. In mehreren Werken der französischen Stahlindustrie läuft seit Monaten die Produktion der Stahlseile und die Konfektionierungsarbeit. Aufgrund des preisgünstigeren Angebots wurde der Auftrag für die Seile zu Jahresbeginn 1970 nach Frankreich vergeben. Auch die Frage nach der Eindeckung ist nunmehr geklärt: Die Dachkonstruktion wird aus Acrylglas bestehen. Bis Ende 1971 soll das größte Dach der Welt errichtet sein, um dann im Winter vor den Olympischen Spielen seine erste Bewährungsprobe zu bestehen. Das Münchner Olympia-Dach besteht aus einem Stahlseilnetz mit einer Maschenweite von 75 x 75 Zentimetern, das an 51 bis 80 m hohen Pylonen und Stützen aufgehängt ist. Diese Masten haben einen Durchmesser von bis zu 3 1/2 Metern, einer Wandstärke von sieben Zentimeter. Über die Pylone laufen – vom 440 m langen vorderen Hauptrandkabel ausgehend – die Abspannseile zu den Fundamenten. Die beiden Widerlager für das 750 Tonnen schwere, aus zehn Litzenbündeln bestehende Hauptrandkabel sind bereits betoniert. [...] Die Ausmaße: 30 Meter lang, 12 Meter breit, 15 Meter hoch. Drei Fundamentarten werden verwendet: Schwergewichtsfundamente, Schlitzwände und Injektions-Zuganker [...]. Über ein Dutzend namhafter Professoren wurde als Gutachter bei der Lösung der technischen Probleme dieser dem flotten Strich Professor Behnisch entstammenden, kühnen Dachkonstruktion eingesetzt. Der Bogen ist weit gespannt. Statiker berechneten monatelang die Seile. Brandsachverständige untersuchten in zahlreichen Versuchen das Brandverhalten der zur Auswahl stehenden Materialien. Glaceologen befaßten sich mit den Problemen der Schneelast und der Vereisung. Ornithologen prüften die Frage, ob eine transluzente Eindeckung zu einer Gefahr für die Vögel werden kann. Bakteriologen beschäftigten sich mit der Klärung der Frage, inwieweit Bakterien eine KunststoffKorrosionsschutzschicht der Erdanker zersetzen können. Bei der OBG war und ist man sich darüber im Klaren, daß Konstruktion und Bewährung dieses Daches von vielen Seiten mit höchster Aufmerksamkeit verfolgt wird. Nicht nur andere Städte, die vor der Aufgabe der Überdachung ihrer Stadien stehen, richten ihre Blicke auf das Münchner Dach. Das Problem der Überdeckung großer Flächen mit leichten Flächentragwerken ist heute in vielen Ländern aktuell: Nordische Hafenstädte 1390 |

Vgl. Schreiben von Camillo Noel an Hans-Jochen Vogel, 10. Juli 1970. In: Olympi-

sche Baugesellschaft und Deutscher Sportbund – Handakt Camillo Noel. Stadtarchiv München, 515.

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befassen sich mit der Frage, ihre Häfen zu überdecken, um sie auch im Winter betriebsfähig zu halten. In der Sowjetunion, vor allem in Sibirien, geht es um die Überdachung weitläufiger Kulturparks. Vergnügungs- und Erholungsstätten in Japan und auch in anderen Staaten sollen ein Dach erhalten. Mit dem Münchner Olympia-Dach soll richtungsweisende Entwicklungsarbeit geleistet werden.“1391 In seiner Ansprache zur Übergabe des Olympiaparks an das OK für die Dauer der Spiele fasst Hans-Jochen Vogel den Ablauf der Ereignisse noch einmal zusammen. Das Resultat ist 1966 in keiner Weise vorstellbar gewesen, der Oberbürgermeister beschreibt einen Prozess, der nach der Entscheidung in Rom auf vielen Ebenen gleichzeitig und mit einer ungeheuren Geschwindigkeit in Gang gesetzt worden ist. Eindrücklich geht Vogel in seiner Rede darauf ein, wie sich die Gestimmtheit der Stadt mit den Jahren gewandelt hat und auch in langwierigen Debatten erzielte Entscheidungen und Kompromisse letzten Endes doch immer dem Stil von München entsprechen. „Am 14. Juli 1969 wurde der Grundstein für die Olympiabauten gelegt, am 23. Juli 1970 haben wir das Richtfest gefeiert, heute am 29. Juni 1972 werden uns die fertigen Anlagen übergeben. Diese drei Daten umschließen eine Zeitspanne, in der sich das Genie des Architekten, der Fleiß der Arbeiter und Ingenieure, die Beharrlichkeit der Bauherren und ihrer Repräsentanten, die Erfahrung vieler Behörden, der Sachverstand zahlloser Experten und die finanziellen Leistungen von Millionen Steuerzahlern, Lotteriespielern und Münzsammlern zu einer gewaltigen Anstrengung vereinigt haben, zu einer gewaltigen Anstrengung, in die auch der kritische Rat derer miteingegangen ist, die das Unternehmen in der öffentlichen Diskussion als Freunde, skeptische Beobachter oder als Gegner begleitet haben. Nun steht das Ergebnis dieser Anstrengung in all seinen Teilen vollendet vor uns. [...] Diese Bauten – insbesondere das Stadion, die Halle, die Schwimmhalle, das Radstadion und die zentrale Hochschulsportanlage – bieten für den Sport neue, zum Teil lang entbehrte Möglichkeiten. Sie haben das öde Oberwiesenfeld in eine Erholungslandschaft verwandelt und dadurch den viele Jahre vernachlässigten Münchner Norden fühlbar aufgewertet. Und sie haben München ein architektonisches Gesamtkunstwerk geschenkt, das sich neben den entsprechenden Werken anderer Generationen behaupten wird. Das gilt vor allem für das Dach, das die einzelnen Bauwerke überhaupt erst zu diesem Gesamtkunstwerk verbindet. Lassen Sie es mich ganz offen aussprechen: Dieses Dach ist teuer. Es ist teurer als wir es seinerzeit vorausgesehen haben. Mit dem gleichen Betrag hätte anderes, vordergründig nützlicheres gebaut werden können. Aber ich meine: Eine Gesellschaft muß auch einmal die Kraft aufbringen, einen großen Geldbetrag für ein im engen Sinn zweckfreies Vorhaben, für ein architektonisches Kunstwerk aufzuwenden. Es muß Freiräume geben, die von den ökonomischen Prinzipien 1391 |

„Die Bauten für die Spiele der XX. Olympiade in München“, Presse Exposé 1971.

In: Olympische Baugesellschaft und Deutscher Sportbund – Handakt Camillo Noel. Stadtarchiv München, 515.

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und den landläufigen Nützlichkeitserwägungen ausgenommen sind. Viele Bauten der Vergangenheit, die für uns zu unverzichtbaren Bestandteilen der menschlichen Kultur geworden sind, wären ohne solche Durchbrechungen des ökonomischen Prinzips und auch fiskalischer Gesichtspunkte nie und nimmer entstanden. Und die Menschheit wäre an schierer Nützlichkeit erstickt. Gerade München ist reich an derartigen Beispielen. Für all das schuldet München denen, die ich schon nannte, die diese Bauwerke ersonnen haben, geplant, gebaut, bezahlt und verantwortet haben, aufrichtigen und tiefen Dank. In den Dank mischt sich die Genugtuung darüber, daß unsere sicher unzulängliche und verbesserungsbedürftige Gesellschaftsordnung zu einer solchen Leistung im Stande war, deswegen im Stande war – wie ich glaube –, weil Technik und Ökonomie hier nicht geherrscht, sondern gedient, dem Schönen, Ästhetischen und Spielerischen gedient haben. Und natürlich erfüllt uns auch das Gefühl der Freude, der Freude darüber, daß diese Bauwerke nicht irgendwo, sondern daß sie gerade hier in München stehen. Mögen diese Bauten den Olympischen Spiele einen würdigen Rahmen geben, mögen sie danach für die Bürger und die Besucher Münchens auf Jahrzehnte hinaus Stätten der Freude, der Entspannung, der Erholung sein und mögen sie nie durch Menschenhand zerstört werden. Das ist der Wunsch, mit dem ich die Bauten für die Zeit nach den Spielen in die Obhut der Münchner Stadt übernehme.“1392

O LYMPIA IM G RÜNEN . E INE URBANE P ARKL ANDSCHAF T Vier Jahre lang arbeitet der Landschaftsarchitekt Gerd Linder im Vorfeld der Spiele auf dem Oberwiesenfeld an der Gestaltung des Parks. Linder ist von 1969 bis 1972 im Büro des Landschaftsarchitekten Günther Grzimek tätig, der die Ausstattung des Areals ausgearbeitet hat.1393 Die Idee einer Olympischen Landschaft mit so genannten Erdstadien stammt von Behnisch und seinem Stuttgarter Architekturbüro; Grzimek hat das Konzept mit seiner Grünplanung allerdings maßgeblich definiert.1394 Im Rahmen seiner Diplomarbeit hat Linder einige Jahre zuvor auch selbst einen Park auf dem Oberwiesenfeld entworfen, der Gestalter ist dabei von den Bauplänen der Architekten Henschker und Deiß ausgegangen. Lindes Konzept hat zum Beispiel die Bepflanzung der Brache und den Bau von Brunnen vorgesehen. Alle Fachleute sind zu diesem frühem Zeitpunkt einhellig der Meinung gewesen, dass der Kanal, der durch das Gelände fließt und den Nymphenburger Schlosspark mit dem Englischen Garten verbindet, auf keinen Fall zu einem See 1392 |

Rede von Hans-Jochen Vogel anlässlich der Übergabe der Bauten an das OK, 29.

Juni 1972. In: Olympische Baugesellschaft und Deutscher Sportbund – Handakt Camillo Noel. Stadtarchiv München, 515. 1393 |

Vgl. Gespräch mit dem Landschaftsarchitekten Gerd Linder auf einer Tour des

Bund Naturschutz durch den Olympiapark am 10. Oktober 2010. 1394 |

Vgl. Entwurf des Stadions und Hinweis des Landschaftsarchitekten Florian Hanusch.

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aufgestaut werden kann. Auch Aufschüttungen im Norden oder die Modellierung der Landschaft in einem größeren Umfang sind gegen Mitte der 1960 Jahre überhaupt nicht denkbar gewesen.1395 „Die Erfüllung des zweiten Versprechens – Spiele im Grünen – stellte die Olympia-Planer und -Bauer vor eine ebenso schwierige wie reizvolle Aufgabe“,1396 ist 1972 über die Bauten der Spiele in München nachzulesen. „Den Architekten bot sich mit dem Oberwiesenfeld eine reizlose, vollkommen ebene Schotterfläche mit einer indifferenten, vorwiegend industriell genutzten Randbebauung. Zum ersten Male wurden hier die Möglichkeiten des modernen Tiefbaues eingesetzt, um eine große Fläche in ihrem Landschaftscharakter völlig zu verändern.“1397 Mit dem Zuschlag für die Sommerspiele steht auf einmal sehr viel Geld zur Verfügung; wie sich Linder erinnert, ist es nun praktikabel, für mehrere Millionen DM einen zweiten, unterirdisch geführten Kanal als Überlaufventil zu graben und auf der Basis der umfangreichen Baumaßnahmen ein Gewässer anzulegen.1398„Dieser künstliche See, der vom Nymphenburger-Biederstein Kanal gespeist wird, erhält eine Wasseroberfläche von über 80.000 Quadratmeter. Aus Sicherheitsgründen wird seine Tiefe nur etwa 1,10 bis 1,30 betragen.“1399 Das Gartenbaureferat orientiert sich mit seinen Arbeiten zunächst ebenfalls an dem Entwurf von Henschker und Deiß; auch in der zweiten Ausschreibung der Sportstätten wird der Gestaltung des Parks augenscheinlich keine selbständige Position zugedacht. Ende März 1967 erhält Hubert Abreß als Direktor des Investitionsplanungs- und Olympiaamts ein Schreiben vom Bund Deutscher Garten- und Landschaftsarchitekten e. V. (BDGA). Karl Kagerer, der Vorsitzende des Verbands, und der Geschäftsführer Wolfgang Scherer weisen in dem Brief auf eine Vereinbarung zwischen dem BDA und dem Deutschen Städtetag aus dem Jahr 1952 hin, wonach das Gartenwesen und die Landschaftsgestaltung in einem solchen Architekturwettbewerb ausdrücklich zu berücksichtigen sind. Der BDGA hat für die Beurteilung der Entwürfe bereits entsprechende Ausschüsse gebildet, aber „[d]ies wurde ignoriert, denn mit Datum vom 21. Dezember 66 übersandten sie absprachegemäß mit Herrn Architekten Maurer, in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Landeswettbewerbsausschusses des BDA, an Herrn Prof. Dr. Seifert einen 1395 |

Vgl. Gespräch mit dem Landschaftsarchitekten Gerd Linder auf einer Tour des

Bund Naturschutz durch den Olympiapark am 10. Oktober 2010. 1396 |

„Die Bauten für die Spiele der XX. Olympiade in München“, Presse Exposé 1971.

In: Olympische Baugesellschaft und Deutscher Sportbund – Handakt Camillo Noel. Stadtarchiv München, 515. 1397 |

Ebd.

1398 |

Vgl. Gespräch mit dem Landschaftsarchitekten Gerd Linder auf einer Tour des

Bund Naturschutz durch den Olympiapark am 10. Oktober 2010. 1399 | „Die

Bauten für die Spiele der XX. Olympiade in München“, Presse Exposé 1971.

In: Olympische Baugesellschaft und Deutscher Sportbund – Handakt Camillo Noel. Stadtarchiv München, 515.

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Entwurf der Auslobung. Erbeten wurde zugleich die Übernahme des Amtes eines sachverständigen Beraters bei der Durchführung des Wettbewerbes unter dem Motto ‚Olympische Spiele im Grünen‘, mit einer Lösung der Wettbewerbsaufgabe ‚unter Wahrung des parkartigen Charakters‘.“1400 Seifert hat die Unterlagen nach Durchsicht mit der Forderung nach zwei qualifizierten Fachpreisrichtern zurückgesandt; darauf wird zwar Professor Roemert als Sachverständiger bestellt, aber kein Preisrichter benannt. „Wir bedauern dieses Vorgehen, welches eine Doktrin widerspiegelt, aber nicht der Sache dient, die mit öffentlichen Mitteln von Bund, Land und Landeshauptstadt finanziert wird und für deren Grünmaßnahmen bis 1971 bereits 18 Millionen eingeplant wurden. Daraus wird offensichtlich, daß bei der Vorbereitung des Wettbewerbes über Umfang und Kostenanteil der Grünmaßnahmen unter den ungünstigen örtlichen Verhältnissen keine Vorstellungen bestanden. Bei den weiteren Verhandlungen wurden die Garten- und Landschaftsarchitekten bewußt ausgeschaltet.“1401 Der BDGA fühlt sich übergangen und schlägt Experten aus dem ganzen Bundesgebiet vor. Der Vorsitzende hofft, dass die Kritik ankommt und die Vertretung der Landschaftsarchitekten fortan konstruktiv an den Planungen mitarbeiten kann.1402 Am 19. April 1966 findet ein Treffen zwischen Seifert, Kagerer, Scherer und den Rechtsanwälten des BDGA auf der einen und Abreß, Oberrechtsrat Göhner und dem Architekten Adrian Dahmen von Buchholz auf der anderen Seite statt. Auf Anweisung von Abreß hat das städtische Rechtsamt den Einwand bereits geprüft und festgestellt, dass das Abkommen des Städtetags auch in München verbindlich ist, jedoch in den laufenden Wettbewerb nicht eingegriffen werden kann.1403 Bei dem Gespräch fordern die Vertreter des BDGA die Erweiterung der Ausschreibung, ein solches Vorgehen ist aber auch zeitlich nicht mehr umzusetzen. Laut Protokoll ist „[d]ie Landeshauptstadt München [...] der Auffassung, daß es im Hinblick auf die Bedeutung des Wettbewerbs für die Olympischen Spiele 1972 in München und des einmaligen Charakters dieser Angelegenheit für niemand wünschenswert sein könnte, prinzipielle Fragen der Anwendung der Grundsätze und Richtlinien für Wettbewerbe bei diesem Wettbewerb hochzuspielen. Es liege im Interesse aller Beteiligten, hier einen Eklat zu vermeiden.“1404 Die Prüfung der Ansprüche wird 1400 |

Schreiben des BDGA an Hubert Abreß vom 30. März 1967. In: Olympiade 1972 –

Architekten Wettbewerb – Gestaltung der Grünflächen Stadtarchiv München, 352. 1401 |

Ebd.

1402 |

Vgl. ebd.

1403 |

Schreiben des Rechtsamts der Landeshauptstadt München an Hubert Abreß, 12.

April 1967. In: Olympiade 1972 – Architekten Wettbewerb – Gestaltung der Grünflächen Stadtarchiv München, 352. 1404 |

Vgl. Protokoll des Gesprächs zur Grünplanung vom 19. April 1967 im Investitionspla-

nungs- und Olympiaamt. In: Olympiade 1972 – Architekten Wettbewerb – Gestaltung der Grünflächen Stadtarchiv München, 352.

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vereinbart, und die Stadt erklärt ihre Absicht, „[...] die bereits von dritter Seite vorliegende Anregung nicht nur für die Baugestaltung des Olympischen Dorfes, sondern auch für die gartenarchitektonische Gestaltung des Oberwiesenfeldes einen eigenen Wettbewerb nach Abschluß des laufenden Wettbewerbs auszuschreiben, zu vertiefen und wohlwollend zu überprüfen“1405 . Obschon die Abordnung des BDGA zunächst protestiert, einigen sich die Parteien schließlich auf ein Vorgehen. Der Verband will auch keine negativen Schlagzeilen, wie es in einem Schreiben heißt.1406 Ministerialdirektor Freiherr von Stralenheim als Verantwortlicher des Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus lehnt ebenso wie die zuständige Abteilung des Bundesministeriums des Innern in Bonn eine Erweiterung des laufenden Wettbewerbs ab, unterstützt aber die Idee einer eigenen Ausschreibung, während das Landesministerium eine endgültige Zusage noch zurückstellt. Die Planungen werden vertagt, mit Blick auf weitere Maßnahmen wird auf die zu diesem Zeitpunkt noch bevorstehende Gründung einer Olympia-Baugesellschaft verwiesen.1407 Ein Bericht der OBG informiert über den Verlauf der Arbeiten im ersten Halbjahr 1971, aufgelistet sind die Entwicklungen beim Bau von Brücken und Parkplätzen, den Anschlüssen an S- und U-Bahn, dem Verlegen von Gasleitungen etc. „Die Grünanlagen und Gesamtmodellierungen machen ebenfalls weiter Fortschritte. Im Frühjahr konnten rund 1000 neue Großbäume gepflanzt werden. Da auf dem Forum das Pflanzen von Großbäumen wahrscheinlich erst im Frühjahr 1972 vorgenommen werden kann, sind rund um die Kirche des Einsiedlers Timofei 250 Großbäume, fertig in Holzfässer (Container) gepflanzt, deponiert worden, so daß sie stündlich zum Abruf zur Verfügung stehen.“1408 Im Winter 1969/70 sind die Bäume in Gärfässer mit bis zu sieben Metern Durchmesser gepflanzt worden, diese so genannten Container haben die Münchner Brauereien zur Verfügung gestellt. „In einer Deponie warten die Bäume auf 1972. Dann können sie – bereits belaubt – in den Containern eingesetzt werden.“1409 Nachdem sich die Jury unter dem Vorsitz von Egon Eiermann für den spektakulären Stadionentwurf von Behnisch und Partner entschieden hat, nimmt das Architekturbüro im Sommer 1968 1405 |

Ebd.

1406 |

Vgl. Schreiben des BDGA an Hubert Abreß vom 20. April 1967. In: Olympiade 1972 –

Architekten Wettbewerb – Gestaltung der Grünflächen Stadtarchiv München, 352. 1407 |

Vgl. Olympiade 1972 – Architekten Wettbewerb – Gestaltung der Grünflächen

Stadtarchiv München, 352. 1408 |

Auszug aus einem Bericht des Hauptgeschäftsführers der Olympia-Baugesell-

schaft mbH für das 1. Halbjahr 1971. In: Olympiade 1972 – Bebauung Oberwiesenfeld. Stadtarchiv München, 388. 1409 |

„Die Bauten für die Spiele der XX. Olympiade in München“, Presse Exposé 1971.

In: Olympische Baugesellschaft und Deutscher Sportbund – Handakt Camillo Noel. Stadtarchiv München, 515.

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offiziell seine Arbeit auf. Für die Grünplanung auf dem Oberwiesenfeld wird Günther Grzimek aus Kassel hinzugezogen. Behnisch hat sich ausdrücklich für diesen Gestalter ausgesprochen, wie Linder bemerkt.1410 Den zusätzlichen Wettbewerb, von dem zeitweise die Rede gewesen ist, hat es letztlich nie gegeben, und in der offiziellen Dokumentation der Spiele ist zwar der Park mit seinen Formen und Ideen mehrfach abgebildet und beschrieben, Grzimek wird aber lediglich als ein Akteur im Gesamtprojekt Olympiapark angeführt. Das einzigartige Setting der Spiele in München geht dabei wesentlich auf die gemeinsame Arbeit der Architekten zurück. Mit dem Begriff von Gernot Böhme orientiert sich Grzimek als ästhetischer Arbeiter ebenso wie Behnisch an den drei Motiven der Bewerbung und macht sich bei der Planung des Parks grundlegend über die Umsetzung der „Olympiade im Grünen“, der „Olympiade der kurzen Wege“ und der „Olympiade des Sports und der Musen“1411 Gedanken. Das Konzept des Stuttgarter Architekturbüros sieht auf dem Areal des Oberwiesenfelds eine Olympialandschaft vor, als konstituierendes Prinzip dieses Entwurfs betrachtet Grzimek die Verbundenheit aller Positionen innerhalb dieses Raums. Wie in einer Erklärung der Planer deutlich wird, soll der Park mit den zentralen Sportstätten und dem Olympischen Dorf noch über das eigentliche Kerngebiet der Spiele hinauswirken. „Der menschliche Maßstab sollte dort trotz der notwendigen Ausmaße der Bauten gewahrt bleiben. Es sollte ein Rahmen geschaffen werden, der zu einer heiteren und gelösten Atmosphäre der Spiele beiträgt. Darüber hinaus sollte eine für das Bild der Landeshauptstadt München bedeutende, neue Komponente geschaffen werden, deren kulturelle und städtebauliche Gestaltung der des Englischen Gartens und des Nymphenburger Parks entspricht. Die Anlage ist eng mit dem städtischen Gewebe verflochten, die von außen kommenden Elemente wie Grünzüge, Wasserläufe, Fußwege, Radwege, Straßen wurden aufgenommen und innerhalb des Gebiets intensiviert.“1412 Das Gelände wird von der Streckenführung des Autoverkehrs im Münchner Norden durchtrennt, die Wettkampfstätten auf der einen und die Wohnbebauung mit den Unterkünften für die Sportlerinnen und Sportler auf der anderen Seite des Geländes werden durch die Landschaftsplanung miteinander verknüpft. Der Park soll den Besucherinnen und Besuchern ein „urbanes Lebensgefühl“1413 vermitteln und auch die Stadt München sichtbar in die Gestaltung einbeziehen. „Die Gaskessel oder die kreuzungsfreien Anlagen des 1410 |

Vgl. Gespräch mit dem Landschaftsarchitekten Gerd Linder auf einer Tour des

Bund Naturschutz durch den Olympiapark am 10. Oktober 2010. 1411 |

Grzimek 1972 a: S. 10.

1412 |

Behnisch und Partner; Grzimek, Günther (1972 b): Zum Entwurf des Olympia-

parks. In: Harbeke, Carl Heinz; Kandiza, Christian; in Zusammenarbeit mit Behnisch und Partner (Hg.): Bauten für Olympia 1972. München – Kiel – Augsburg. München, S. 32-35. Hier: S. 32. 1413 |

Grzimek 1972 a: S. 13.

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mittleren Ringes, der Fernsehturm, Fabrikbauten, die nördlichen Stadtteile Fasanerie und Lerchenauer See, aber auch fast greifbar nahe die Blickverbindung zur City mit den Türmen der Frauenkirche – und wenn es die Gunst des Wetters will, die Alpenkette – schaffen die Identität des Ortes: Man weiß, wo man ist.“1414 Günther Grzimek, 1915 in Köln geboren, verließ das Gymnasium frühzeitig, um zunächst eine Ausbildung als Gärtner zu machen. Der bekannte Tierfilmer Bernhard Grzimek war sein Onkel. Auf der Abendschule holte er parallel zu seiner Lehre das Abitur nach und studierte von 1937 bis 1942 Garten- und Landschaftsarchitektur an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin. Nach der Kriegsgefangenschaft in Frankreich war Grzimek zunächst als freier Gartenarchitekt in Ravensburg tätig, 1947 wurde er Leiter des Stadtgartenamts in Ulm.1415 An der dort angesiedelten Hochschule für Gestaltung, an der neben vielen bekannten Planerinnen und Planern, Künstlerinnen und Künstlern, Graphikerinnen und Graphikern, Architektinnen und Architekten auch Frei Otto, der Konstrukteur des Zeltdachs, Kurse gab, werden sich auch Günther Grzimek und der Graphiker Otl Aicher, der spätere Leiter der Schule, begegnet sein. Briefe aus dem Nachlass von dessen Ehefrau Inge Aicher-Scholl lassen aber schon Anfang der 1950er Jahre auf Kontakte zwischen den beiden Gestaltern schließen.1416 Seit 1960 führt Grzimek ein eigenständiges Ingenieurbüro für Grünplanung und erstellt 1962, gemeinsam mit Aicher, ein Gutachten über das Grünflächensystem in Darmstadt, „abgeleitet aus dem Bestand, den Voraussetzungen und den langfristigen Notwendigkeiten“1417. Der Architekt lehrt von 1965 bis 1972 als Professor an der Hochschule der Bildenden Künste in Kassel und ist Mitglied im Rat der „documenta IV“. Mit Studierenden und Kollegen gründet er im Jahr 1969 das Büro EGL zur Entwicklung und Gestaltung von Landschaft als gesellschaftlich wie planerisch innovative Arbeitsform. Nach seinen Arbeiten im Olympiapark bleibt Grzimek in München und tritt 1972 eine Professur für Landschaftsarchitektur an der Technischen Universität an. Im folgenden Jahr erhält der Grünplaner von der Bayerischen Akademie der Schönen Künste den Friedrich-Ludwig-von-Sckell-Ehrenring, der nach dem Gestalter 1414 |

Ebd.: S. 12.

1415 |

Vgl. www.architekturarchiv-web.de/egl.htm, (15. Juli 2010) und Egger, Simone

(2010 d): Landschaftsarchitekt Günther Grzimek. Ein urbanes Lebensgefühl. In: Haus der Bayerischen Geschichte (Hg.): München ‘72. (Edition Bayern, Sonderheft 2) Augsburg, S. 42-43. 1416 |

Vgl. vorläufiges Findbuch zum Nachlass Inge Aicher-Scholl. In: Institut für Zeitge-

schichte, ED 474. Verfügbar unter: http://www.ifz-muenchen. de/archiv/ed_0474.pdf, (12. März 2010). 1417 |

Grzimek, Günther; Aicher, Otl (1962): Grünplanung Darmstadt. Gutachten über

den Ausbau eines Grünflächensystems, abgeleitet aus dem Bestand, den Voraussetzungen und den langfristigen Notwendigkeiten. Bearbeitet von: Ingenieurbüro Günther Grzimek. Analyse und Entwurf: Günther Grzimek und Otl Aicher. Erstes Gutachten. Ulm.

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des Englischen Gartens benannt ist und die höchste Auszeichnung im Bereich der Landschaftsgestaltung darstellt.1418 „Vieles, was einfach aussieht“, sagt Günther Grzimek, „ist in Wirklichkeit das Ergebnis optisch bewußt heruntergespielter technischer Mittel.“1419 Nach der Entfernung von zehn Tonnen Blindgängern aus dem Zweiten Weltkrieg wird mit der Strukturierung des Oberwiesenfelds begonnen, die Umformung des Areals ist Voraussetzung für die weiteren Schritte.1420 „Auf dem Oberwiesenfeld wird Natur gebaut“,1421 lässt das OK 1971 verlautbaren. „Die an seinem Südrand nach dem Kriege mit dem Trümmerschutt Münchens und später mit dem Aushubmaterial vom U-Bahnbau aufgeschütteten Aussichtsberge wurden neu modelliert und in die olympische Landschaft mit einbezogen. Eine von Professor Grzimek geplante raffinierte Form der Bepflanzung läßt diese Berge wesentlich höher erscheinen als sie mit 65 Metern in Wirklichkeit sind. An ihrem Fuße – zu den Wettkampfstätten hin – ist bereits der Olympia-See in seinen Umrissen erkennbar.“1422 Mit den Hügeln und Tälern knüpft der Park bewusst an die Gestalt der oberbayerischen Landschaft und die geographische Lage der Stadt München an. Auf Grund eines speziell zusammen gestellten Saatguts werden aus den Hängen blühende Wiesen, der niedrig wachsende Rasen rund um den See und die Sportstätten ist dagegen für eine intensive Nutzung angelegt. Der Landschaftsarchitekt Christoph Valentien erklärt, dass die Auswahl der Bäume und Sträucher nicht nur die Silhouette, sondern auch die Aufteilung des Geländes betonen. Linden, die im Abstand von siebeneinhalb Meter auf siebeneinhalb Meter gepflanzt sind und sich immer wieder zu Hainen verdichten, dienen als Leitsystem für die Orientierung ohne dabei die Linie zu bestimmen.1423 Die Besucherinnen und Besucher können sich auf schmalen Wegen, breiten Spuren oder auch auf Trampelpfaden, die sich durch das Gelände ziehen, bewegen. Das Areal um den See markieren Silberweiden, und ebenso werden Bäume, die schon seit längerem auf dem Oberwiesenfeld gewachsen sind, nach Möglichkeit in das Konzept der Olympischen Landschaft eingebunden. Eine Frau berichtet, dass sich während der Spiele besonders viele 1418 |

Vgl. www.architekturarchiv-web.de/egl.htm, (15. Juli 2010) und http://www.

egl-plan.de/profil_geschichte. php, (15. Juli 2010). 1419 |

Grzimek; Behnisch und Partner 1972 b: S. 37.

1420 |

Organisationskomitee für die Spiele der XX. Olympiade – Bauten 1972: S. 11.

1421 |

„Die Bauten für die Spiele der XX. Olympiade in München“, Presse Exposé 1971.

In: Olympische Baugesellschaft und Deutscher Sportbund – Handakt Camillo Noel. Stadtarchiv München, 515. 1422 |

Vgl. Einführung durch den Landschaftsarchitekten Christoph Valentien bei einer

Tour durch den Olympiapark im Rahmen der Vierten Architekturwoche München am 4. Juni 2008. 1423 |

Gespräch mit dem Landschaftsarchitekten Gerd Linder auf einer Tour des Bund

Naturschutz durch den Olympiapark am 10. Oktober 2010.

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junge Leute rund um eine Esche am Radstadion aufgehalten haben.1424 Grzimek hat manchmal auch andere Sorten, zum Beispiel exotische Nadelhölzer, zwischen Baumgruppen setzen lassen, „vielleicht um das eigene, strenge Konzept doch ein wenig in Frage zu stellen“1425, wie Linder vermutet. Der Grünplaner erinnert sich, dass Grzimek am Ende des Olympiaparks „Pop wollte“1426, bunte Rhododendronbüsche sollen blühen und zwischen die Ginkgos werden tausende Salbei- und Thymianpflanzen gesetzt. Eine Besonderheit der Spiele in München sind die Nationenbäume. Alle teilnehmenden Länder sind aufgefordert, als Gastgeschenk einen typischen Baum mit nach München zu bringen. Mit der Pflanzung soll jeweils ein Fest verbunden sein. Insgesamt haben sich etwa 50 Staaten an der Aktion beteiligt, die Sorten sind in Absprache mit den Landschaftsarchitekten ausgesucht worden. Dabei haben die einzelnen Nationen das Thema durchaus unterschiedlich interpretiert, einige haben die Bäume vor Ort bestellt, andere haben sie aus ihrem Land zustellen lassen. Japan hat beispielsweise 200 Ginkgosetzlinge nach München geschickt, aber „[d]ie konnte man natürlich nicht repräsentativ einpflanzen, Gärtner mussten die kleinen Pflanzen erst einmal aufpäppeln“1427. Neben einem Hain, der unweit des Radstadions angelegt ist, sind die Ginkgos in der ganzen Stadt verteilt worden. Die Bäume aus Spanien sind unterdessen am Flughafen Riem zurück gehalten worden, weil Esskastanien nicht in die Bundesrepublik eingeführt werden dürfen. Ein Kollege ist daraufhin zum Zoll gefahren und hat festgestellt, dass Spanien die falschen Bäume geschickt hat, und Rosskastanien nicht in Quarantäne bleiben müssen. Aus der Schweiz kommen Lerchen, Jugoslawien übermittelt eine serbische Fichte, die später als Weihnachtsbaum gestohlen wird und nachgepflanzt werden muss. Mit den Pflanzungen wird 1971 begonnen und jeder Termin gefeiert, Gerd Linde erinnert sich an Büffets mit gefüllten Truthähnen und gerösteten Raupen. Die Koordination der Termine für das IOC leitet ein Franzose, für seine eigene Nation sucht „dieser weltgewandte Mann“1428 eine französische Eiche aus Elsaß-Lothringen aus; dabei handelt es sich aber um eine deutsche Eiche, wie sich Linder und die Landschaftsarchitekten in München wundern. Die Eiche ist als letzter Baum im Rahmen eines großen Spektakels gepflanzt worden, das Fest wird am Abend im „Tantris“, dem angesagtesten Restaurant der Stadt fortgesetzt und bei der Gelegenheit soll der schwedische Kronprinz Carl Gustav, der an den

1424 |

Vgl. Gespräch mit einer Besucherin auf der Tour des Bund Naturschutz durch den

Olympiapark am 10. Oktober 2010. 1425 |

Gespräch mit dem Landschaftsarchitekten Gerd Linder auf einer Tour des Bund

Naturschutz durch den Olympiapark am 10. Oktober 2010. 1426 |

Ebd.

1427 |

Ebd.

1428 |

Ebd.

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Olympischen Segelwettbewerben teilgenommen hat, seine zukünftige Frau Silvia Sommerlath kennen gelernt haben.1429

O TL A ICHER UND DAS VISUELLE E RSCHEINUNGSBILD DER S PIELE „Der Skeptiker mit den Tänzerhänden ist Deutschlands Super-Designer. Er wird die größte Massenschau stilisieren, die Deutschland seit den Reichsparteitagen erlebt hat, er wird ein ästhetisches Bild schaffen, das – rechnet man alle Fernseher ein – zwei Milliarden Menschen erreichen wird: Otl Aicher – der ‚Gestaltungsbeauftragte der Olympischen Spiele‘ (Herrje, was für ein Wort!) in München.“1430 Im Januar 1971 interviewt der Reporter Karl Günter Simon den populären Designer für das Nachrichtenmagazin Publik. „‚Wir wollen heitere, unpathetische Spiele‘, hat Otl Aicher gesagt, wobei ihm unter dem Stahlgerüst, das der Montage des Riesenzeltdachs dient, etwas Pathos in die Stimme geriet.“1431 Obgleich das Stadion und der Olympiapark in ihrer Konzeption einmalig sind und schon für sich allein genommen ein Setting bilden, das seinesgleichen sucht, wird die Ästhetik der Olympischen Spiele mit der graphischen Gestaltung von Otl Aicher und seinem Büro noch einmal gesteigert und dabei auch maßgebend definiert. In einem ganzheitlich angelegten Programm werden die Zeichen der Zeit mit den Bildern und Motiven einer Weltgesellschaft zusammengedacht und dabei fließen lokale Bezugspunkte ebenso wie regionale Eigenheiten in das ästhetische Konzept von München ‘72 ein. In seiner Diplomarbeit an der Hochschule der Bildenden Künste in Berlin hat sich der Gestalter Jörg Michael Matthaei zur gleichen Zeit mit den „Grundfragen des Graphik-Design“ befasst und thematisiert in seiner populären Studie auch die Verantwortung, die ein Designer oder eine Designerin für seine Arbeit trägt. Prinzipiell ist ein Projekt stets dem Auftrag entsprechend umzusetzen, für weit bemerkenswerter hält Matthaei aber „[...] das Bedenken und Reflektieren des eigenen Tuns im Hinblick auf seine gesellschaftliche Relevanz bzw. seine Auswirkungen auf das Leben der Gesellschaft. Dabei spielen für den Graphik-Designer über die allgemein diskutierten kritischen Gesellschaftsfragen hinaus, auch diejenigen eine Rolle, die sich aus den speziellen Funktionen und Eigenschaften der Zeichen und der Kommunikationskanäle, die er verwendet und wie er sie verwendet, ergeben.“1432 Günter Behnisch, Günther Grzimek und Otl Aicher sind sich bereits im Vorfeld der Spiele begegnet, die Biographien und Erfahrungen der drei zentralen Gestalter gleichen sich. Jeder von ihnen ist nicht nur auf seinem Gebiet 1429 |

Ebd.

1430 |

Simon, Karl Günter (8. Januar 1971): Ein Dackel für Olympia. Rubrik: Simons Zeit-

genossen. In: Publik, Nr. 1/2, S. 27. In: Personen Otl Aicher. Stadtarchiv München, 5/16. 1431 |

Ebd.

1432 |

Matthaei, Jörg Michael (1985): Grundfragen des Grafik-Design. München 1975,

S. 13.

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eine herausragende Persönlichkeit, den Arbeiten liegt eine überaus empathische Auffassung zugrunde. Auch wenn im Moment der Entscheidung noch keiner der im Nachhinein so überaus einflussreichen Designer mit einer Aufgabe betraut ist und sich eine derartige Zusammenarbeit um die Mitte der 1960er Jahre nicht einmal abzeichnet, entsteht mit dem Zuschlag für Olympia eine Situation, in der die vielen Aufgaben, mit denen das OK konfrontiert ist, nicht einfach bewältigt, sondern außerordentliche Räume des Denkens, Handelns und Repräsentierens erschlossen werden. Die heitere Stimmung der Olympischen Spiele geht besonders von den Dingen aus, dem Stadion, dem Zeltdach, dem Park, den Farben und Fahnen, die im Zug der Ereignisse hergestellt worden sind und sich in affektiver Weise auf die Wahrnehmung von München ‘72 auswirken. Viele Menschen sind an der Umsetzung von Olympia beteiligt, haben kreative Ansätze, Innovationen und Ideen eingebracht; die Gestaltung des Oberwiesenfelds als Herzstück der Sommerspiele ist jedoch wesentlich auf die enge Kooperation von Behnisch, Grzimek und Aicher zurückzuführen. Otl Aicher wurde 1922 in Ulm geboren. Die Familie ist dem katholischen Arbeitermilieu zuzurechnen, der Vater war in einer Fabrik angestellt und machte sich später als Heizungsbauer selbstständig. Aicher interessierte sich schon als Jugendlicher für philosophische Fragen, er las und zeichnete, machte sich allein in seinem Zimmer Gedanken über Kunst und Politik.1433 Im Alter von 15 Jahren besuchte er eine Fotoausstellung in Berlin und wurde kurzzeitig von der Gestapo festgesetzt, weil die Bilder als nicht konform mit der herrschenden nationalsozialistischen Ideologie galten. Aicher verweigerte auch den Eintritt in die Hitlerjugend und engagierte sich stattdessen in der Bündischen Jugend, was weitere Repressionen nach sich zog.1434 Obgleich ihn seine Eltern stets unterstützten, fand er den intellektuellen Austausch und die Ansprache, die er sich wünschte, vor allem bei der Familie Scholl, die seit Anfang der 1930er Jahre ebenfalls in Ulm-Söflingen lebte. Der Jugendliche schloss Freundschaft mit Robert und Magdalena Scholl und ihren Kindern, die Bibliothek des Hauses wurde zum Treffpunkt und bot Raum für Diskussionen. Aicher teilte die Ansichten der Scholls, verfasste Essays, Fotografierte, gestaltete Skulpturen und veröffentlichte erste Texte in Magazinen.1435 Während die Geschwister Hans und Sophie in München studierten, wurde Aicher zur Wehrmacht eingezogen. Seine Eindrücke setzte er Jahre später in einem autobiographischen Roman mit dem Titel „Innenseiten des Kriegs“ auseinander, darin ist auch ein Treffen mit Hans Scholl am Münchner Hauptbahnhof dokumentiert. „Der ganze Bahnhof wimmele von Soldaten und den Müttern und Frauen, die 1433 |

Vgl. Rathgeb 2007: S. 10-11.

1434 |

Vgl. ebd.: S. 11 und Egger, Simone (2010 e): Gestalter Otl Aicher. Das Erschei-

nungsbild der Spiele. In: Haus der Bayerischen Geschichte (Hg.): München ‘72. (Edition Bayern, Sonderheft 2) Augsburg, S. 44-47. 1435 |

Vgl. Rathgeb 2007: S. 13-14.

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Urlaubsabschied nahmen oder auf Urlaub warteten. Ich hatte Hans bereits ausgemacht, als der Zug einlief.“1436 Otl Aicher versuchte offenbar noch, den Freund vor dem Zugriff der Gestapo zu warnen, was ihm nicht mehr gelang. Er wurde selbst verhaftet, und anschließend wieder freigelassen, da er kein Mitglied der „Weißen Rose“ war. Im März 1945 desertierte Aicher von der Front und versteckte sich bei Inge und Magdalena Scholl auf einem Bauernhof im Schwarzwald. Diese Erlebnisse sollten sein Denken und Handeln ein Leben lang prägen.1437 Nach Kriegsende wurde Robert Scholl Oberbürgermeister von Ulm, und auch Aicher gehörte zu dem Kreis an Bürgerinnen und Bürgern, die sich intensiv mit dem geistigen und materiellen Wiederaufbau der Stadt befassten. Inge, die älteste Tochter der Scholls, gründete schon 1946 die „Ulmer Volkshochschule“ (VHS), um den Ideen der „Weißen Rose“ Taten folgen zu lassen. „Einmischung erwünscht“, lautete das explizite Motto; Aicher entwarf das Emblem, eine Eule, und zahlreiche Veranstaltungsplakate für die VHS.1438 Sein Studium an der Münchner Akademie beendete er 1947 nach nur einem Semester, zurück in Ulm arbeitete Aicher als Autor, Designer, Stadtplaner und Visionär. Nach Jahren der Freundschaft heirateten Otl Aicher und Inge Scholl 1952. „Aicher’s work for the Volkshochschule during the late 1940s and early 1950s shows that he was learning design as much from doing as from study. Although his initial posters for the Thursday Lectures mixed traditional and modern forms for the same purpose, Aicher’s affinity for the modernist ideas from America and Switzerland soon dominated his work. Nonetheless, to fully to one specific style and continued to diversify his designs, a practice he would continue throughout his career – consistently redefining his own philosophies about what constituted good design and design method.”1439 Zusammen mit dem Schweizer Architekten Max Bill dachten die Aichers das Konzept der ganzheitlichen Bildung in allen Lebensbereichen weiter, mit finanzieller Unterstützung der amerikanischen Besatzer konnte im Jahr 1954 die „Hochschule für Gestaltung“ (HfG) am Ulmer Kuhberg eröffnen. Aicher ist zuerst als Dozent für „Visuelle Kommunikation“ tätig und leitet die HfG von 1962 bis 1964 auch selbst. Mit Kolleginnen und Kollegen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an der Uni und anschließend in seinem eigenen Büro, arbeitet der Designer vorwiegend am visuellen Erscheinungsbild von Firmen, Unternehmen und Institutionen. Entwickelt werden charakteristische Schriftzüge, Farbkonzepte, Ausstellungspavillons und

1436 |

Vgl. ebd.: S. 15 und Aicher, Otl (1985): Innenseiten des Kriegs. Frankfurt am Main,

S. 146. 1437 |

Vgl. Rathgeb 2007: S. 16-17.

1438 |

Vgl. ebd.: S. 20-22 und http://www.vh-ulm.de/cms/index.php?id=72, (10. Juni

2010). 1439 |

Rathgeb 2007: S. 38.

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Embleme für BASF, Braun und die Lufthansa, für die Sparkassen und Raiffeisenbanken, den Frankfurter Flughafen oder die BayWa.1440 Im Frühjahr 1967 wird Otl Aicher als Gestaltungsbeauftragter der Olympischen Spiele eingesetzt, seine Aufgabe besteht darin, ein visuelles Erscheinungsbild für München 1972 zu entwerfen. Die generelle Entscheidung, Olympia als ästhetische Einheit zu begreifen und entsprechend zu präsentieren, hat das OK auch mit Blick auf die Spiele in Japan und Mexiko getroffen. Das Spektrum der gestalterischen Aufgaben reicht vom zentralen Emblem über die Eintrittskarten, Bulletins, Wegweiser und Plakate bis hin zur Einkleidung der Helferinnen und Helfer und dem Erscheinungsbild der Stadt. Der Gestalter aus Ulm ist in den 1960er Jahren bereits eine bekannte Größe in der Bundesrepublik, Aichers Umfeld überschneidet sich mit den Beraterkreisen in München.1441 Nachdem die Designerinnen und Designer zunächst im Haus des OK in der Saarstraße untergebracht sind, wird eine Fabrikhalle in Hochbrück bei Garching zum Atelier für den Gestalter und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Am 15. Juli 1967 legt Aicher erstmals Entwürfe für die Gesamtkonzeption und das Signet der Spiele vor. „Der Gestaltungsbeauftragte [...] erläutert eingangs den gegenständlich vorgeführten Entwurf eines Emblems, des sogenannten Strahlenkranzes. Er habe versucht, mit diesem Zeichen das Ziel der Olympischen Spiele in München darzustellen, nämlich Leichtigkeit, Heiterkeit und Frische, was in etwa dem Begriff ‚Strahlendes München‘ entspreche. Es liege zwar nahe, für das Emblem Olympischer Spiele neben den Olympischen Ringen das Wappen der gastgebenden Stadt zu nehmen. Das Wappen Münchens sei aber international zu wenig bekannt. Deshalb habe er ein allgemein verständliches Zeichen gesucht, dem ein gewisser Assoziationswert zu München und seiner Umgebung innewohnt. An verschiedenen Anwendungsbeispielen, insbesondere dem Briefkopf, erläutert er, daß der Strahlenkranz vorzugsweise durch zwei senkrechte schwarze Linien eingefaßt werden soll. – Als Hauptfarbe schlage er ein frisches lichtes Blau vor, weil dieses allgemein als Farbe des Friedens bewertet werde.“1442 Zur Veranschaulichung hat das Team ein Plakat gestaltet, das aufgehängt und anschließend längere Zeit betrachtet werden soll. „Das Prospekt erzählt einige Geschichten um dieses Zeichen und wirbt zum ersten Mal für die Spiele der XX. Olympiade in München 1972. Es gibt mehrere solcher visueller Geschichten. Die folgenden erzählen, wie aus den fünf olympischen Ringen die Grundform des Münchner Zeichens wird, wie der Zustrom aus aller Welt in diesem Zeichen seinen Ausdruck findet und wie es verstanden werden kann als Symbol der ganzen 1440 |

Vgl. ebd.: S. 44-51.

1441 |

Vgl. ebd.: S. 78 und Organisationskomitee für die Spiele der XX. Olympiade – Or-

ganisation 1972: S. 268 und Olympiade 1972 – Gross-Stadion Oberwiesenfeld. Stadtarchiv München, 321. 1442 |

Protokoll der 7. Sitzung des Vorstands des OK vom 15. Juli 1967. In: Olympiade

1972 – Emblem. Stadtarchiv München, 541.

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Erde und als ihr Kristallisationspunkt. Dass das Zeichen eine grafische Interpretation für das ‚strahlende München‘ ist, mag von selbst einleuchten. Als solches ist es zuerst gemeint.“1443 In der Reihe der Bilder verdichten sich die Olympischen Ringe zu einer Weltkugel, die sich in Pfeile auflöst und wieder zum Emblem der Spiele wird. „Auf Bitte des Präsidenten verliest der Vorsitzende des Ausschusses für visuelle Gestaltung, Wirsing, die Resolution des Ausschusses, mit welcher der Entwurf dem  Vorstand nachdrücklich zur Annahme empfohlen worden ist.“1444 Unter den versammelten Mitgliedern des OK kommt es zu einer längeren Debatte um die Schutz- und Lizensierungsmöglichkeiten des Strahlenkranzes. „Dr. Vogel stellt außerdem in Frage, ob das vorgeschlagene Zeichen auch den Bezug zu München deutlich genug erkennen lasse. Er glaube, daß mit Rücksicht auf die politische Situation unseres Vaterlandes der Bezug zu München doch klar herausgestellt werden müsse. Im Ergebnis kommt er zu der Empfehlung, in der heutigen Sitzung noch keine Entscheidung zu fällen. Vielmehr sollte der Gestaltungsbeauftragte aufgefordert werden, entsprechend den Bestimmungen seines Vertrages noch Alternativentwürfe für das Emblem zu liefern. Diese sollten zusammen mit dem vorgelegten Entwurf dem Ausschuß für Öffentlichkeitsarbeit, möglicherweise wegen der finanziellen Auswirkungen auch dem Finanzausschuß unterbreitet werden. Außerdem sei daran zu denken, ein Meinungsforschungsinstitut darüber Untersuchungen anstellen zu lassen, ob diese Zeichen bei der Bevölkerung den entsprechenden Anklang finden.“1445 Obwohl die Ansichten bei der Bewertung des Entwurfs voneinander abweichen, stimmt der Vorstand darin überein, „[...] daß Einnahmen aus der Lizenzierung sehr wünschens- und erstrebenswert seien. Bei der Entscheidung müßten aber ästhetisch-künstlerische Gesichtspunkte und als weiterer Maßstab die Werbewirksamkeit und der Bezug zu München als OlympiaStadt ausschlaggebend sein.“1446 Der Ausschuss für Visuelle Gestaltung favorisiert Aichers Entwurf weiterhin uneingeschränkt. „Der Strahlenkranz hat alle Eigenschaften eines signalhaften Leitmotivs für das gesamte Erscheinungsbild, er läßt sich in Bildformen jeder Art einfügen, er ist in allen möglichen Techniken gut darstellbar und leicht reproduzierbar (z.B. Schablone, Sandguß, Siebdruck, Sichtbeton usw.), er ist sowohl schwarzweiß wie farbig gleich signifikant, seine Grundform läßt eine Reihe spielerischer Variationen zu, er ist sowohl in kleinster (Durchmesser 3 mm) wie auch in größter (Durchmesser 3 m) Dimension gut erkennbar und wirksam, er läßt sich

1443 |

Poster zur Präsentation des Signets im Rahmen der 7. Sitzung des Vorstands des

OK vom 15. Juli 1967. In: Olympiade 1972 – Emblem. Stadtarchiv München, 541. 1444 |

Protokoll der 7. Sitzung des Vorstands des OK vom 15. Juli 1967. In: Olympiade

1972 – Emblem. Stadtarchiv München, 541. 1445 |

Ebd.

1446 |

Ebd.

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nicht nur flächig, sondern auch plastisch darstellen.“1447 In der Zwischenzeit hat sich allerdings herausgestellt, dass eine kanadische Fluggesellschaft ein ähnliches Signet verwendet, immer mehr Faktoren sprechen daher für einen Wettbewerb. Werner Wirsing setzt den Ausschreibungstext auf, obwohl der Architekt dieses Vorgehen ablehnt. Am 16. November 1967 übermittelt OK-Generalsekretär Kunze die Ergebnisse einer EMNID-Umfrage an Hubert Abreß, den Leiter des Investitionsplanungs- und Olympiaamts der Stadt. Blau wird als Farbe Bayerns und des Friedens sehr gut aufgenommen, viele Menschen verstehen aber die Aussage des Kranzes nicht. Kritische Stimmen im Umfeld des OK monieren daraufhin, dass es wohl doch nicht sinnvoll gewesen ist, ein einziges Büro mit der gesamten Visualisierung von Olympia zu beauftragen.1448 Aichers Arbeiten sind richtungsweisend, avantgardistisch und gerade deshalb keineswegs unumstritten. An den Diskussionen um das Emblem und die Gestaltung der Spiele zeichnet sich ein deutlicher Widerstreit zwischen konservativen Positionen und den visionären Ideen des Gestaltungsbeauftragten ab. Auf der 8. Vorstandssitzung des OK, die am 22. November 1967 im Haus der Allianz Versicherungs AG in München stattgefunden hat, heißt es an vierter Stelle der Tagesordnung: „Darlegung der Grundsätze der visuellen Gestaltung durch Herrn Otl Aicher (Paragraph 7 des Werkdienstvertrages vom 24.4.1967); Fragen des Emblems.“1449 Der Designer führt die Anwesenden bei dieser Gelegenheit nicht nur in seine Überlegungen zu Olympia, sondern in seine Art des Denkens ein. „Was ist ein Erscheinungsbild? Der Anspruch, der an ein visuelles Erscheinungsbild gestellt wird, ist hoch. Das bedeutet nicht, daß dementsprechend hohe Mittel erforderlich wären. Eigentlich handelt es sich um eine Ordnungsaufgabe. Man braucht das, was als Träger des Erscheinungsbildes in Frage kommt, in jedem Fall: Drucksachen, Plakate, Broschüren, Bulletins, Eintrittskarten, Zeitungsköpfe, Fernsehvorspanne, Fahnengruppen, Uniformen, Abzeichen ... Es kommt nur darauf an, ob sie nach einheitlichen Kriterien gestaltet werden. Stellt man eine rein theoretische Alternative auf, ob ein qualitativ zweitrangiges Erscheinungsbild einem Konzept gegenüber standhält, das von einer Summe erstrangig autonomer Einzelentwürfe ausgeht, so sollte man sich eindeutig auf die Seite der Einheitlichkeit und Geschlossenheit stellen, selbst wenn das qualitative Niveau nicht das höchste wäre. Einheitlichkeit kann wieder in zweifacher Weise verstanden werden: Als ein System aus gleichen Elementen, das zu einer mehr oder weniger großen Uniformität führt. Oder als ein System mit vorwiegend variablen Elementen, das 1447 |

Protokoll der Sitzung des Visuellen Ausschusses vom 10. Oktober 1967. In: Olympia-

de 1972 – Emblem. Stadtarchiv München, 541. 1448 |

Vgl. Emnid-Umfrage zu dem Emblem der Spiele, November 1967. In: Olympiade

1972 – Emblem. Stadtarchiv München, 541. 1449 |

Protokoll der Sitzung der 8. Sitzung des Vorstands des OK vom 22. November

1967. In: Olympiade 1972 – Emblem. Stadtarchiv München, 541.

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zu einem Verwandtschaftsverband führt. Für die Olympischen Spiele in München wird das letztere Konzept angestrebt: Gleichheit durch Verwandtschaft. Es gestattet mehr Reichtum, mehr Autoren, mehr Beweglichkeit. Auf der andern Seite fordert es mehr Autorität des Gestaltungsbeauftragten. Um ein variables System vor Aufweichung und Auflösung zu bewahren, braucht es eine eindeutige Entscheidungsspitze. Ein System der Uniformität braucht Normen und ihre Kontrolle. Das flexible System dagegen einen Steuermann.“1450 Neben der Präsentation graphischer Muster und der Reflexion seiner eigenen Rolle, geht Otl Aicher auch auf inhaltliche Punkte ein. „Warum war Berlin ein Höhepunkt? [...] Die Wirkung von Berlin beruhte wesentlich auf [...] [der] Strategie von Formen und Farben.“1451 Vor dem Hintergrund von 1936 setzt der Gestaltungsbeauftragte für 1972 auf die „Umkehrung von Berlin. Nimmt es uns die Welt ab, wenn wir darauf hinweisen, daß das Deutschland von heute ein anderes ist als das Deutschland von damals? Vertrauen gewinnt man nicht durch Worte, sondern durch sichtbare Bezeugungen und gewonnene Sympathie. Es kommt weniger darauf an, zu erklären, daß es ein anderes Deutschland gibt, als es zu zeigen. Dementsprechend ist die Aufgabe, den Olympischen Spielen in München ein umfassendes Erscheinungsbild zu geben, mehr als die Aufgabe, einen festlichen Rahmen zu schaffen. Die Welt erwartet eine Korrektur gegenüber Berlin schon deshalb, weil sie seinem Einfluß zum großen Teil erlegen ist.“1452 Es folgt eine kurze und dabei ungeheuer präzise Auseinandersetzung mit den Gestaltungselementen von 1936, der Text beinhaltet auch eine Analyse der nationalsozialistischen Bild- und Atmosphärenproduktion. Als Antwort auf die Frage „Was will München?“, verweist der Designer auf den Vorstand des OK, der sich vorgenommen hat, „eine Brücke zwischen Ost und West“ zu bauen und sich grundsätzlich für „unpolitische Spiele im Sinne politischer Ideologien“1453 ausgesprochen hat. In der Gestaltung von Olympia gibt es deshalb „[...] keine nationalen Demonstrationen, keinen Gigantismus. [...] Pathos wird vermieden, ebenso der weihevolle Schauer. Tiefe drückt sich nicht immer im Ernst aus. Leichtigkeit und Nichtkonformität sind ebenfalls Zeichen von achtbarer Subjektivität. Die Olympischen Spiele von München sollen den Charakter der Offenheit, Leichtigkeit und Gelöstheit haben“1454 . Die festliche Anmutung soll 1972 nicht durch „traditionelle Gesellschaftlichkeit“, sondern durch „spielerische Improvisation“1455 erzeugt werden. 1450 |

Büro Aicher, Hochbrück bei München: Das Erscheinungsbild der Olympischen

Spiele, München 1972. Vorlage für die Sitzung des Vorstands des Organisationskomitees am 22. November 1967. In: Olympiade 1972 – Emblem. Stadtarchiv München, 541. 1451 |

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Das visuelle Erscheinungsbild der XX. Olympischen Sommerspiele lässt sich auf zwei zentrale Perspektiven beziehen. „Wie möchten wir selbst von der Welt gesehen und verstanden werden und [...] wie ist die Welt geneigt uns zu sehen und wo sollte dieses Bild korrigiert werden.“1456 Die Architektur von Behnisch und Partner nennt Aicher einen „Glücksfall“1457, nahtlos geht die Ästhetik des Parks und des schwebenden Zeltdach in der Gesamtgestaltung auf. Das Erscheinungsbild dient in erster Linie der „visuellen Präsentation der übergeordneten Zielsetzung, des spezifischen Sinngehalts der Münchner Olympischen Spiele“1458 . Ferner hat es die wichtige Funktion, „[...] Orientierung und Verkehr flüssig zu halten. Systeme von Zeichen und Farben sollen den meist ausländischen Besucher ohne sprachliche Mittel zu seinen Zielorten führen, die Topografie von Stadt und Veranstaltungen transparent machen und ihm das Gefühl der Unsicherheit nehmen.“1459 Aus diesen Überlegungen heraus hat das Büro in Hochbrück eine Serie von stilisierten Motiven entwickelt. Die Piktogramme sind als abstrakte Fortsetzung einer figurativen Sprache zu verstehen, die der Japaner Katsumi Matsura für die Spiele in Tokio 1964 entworfen hat.1460 Aichers Überlegungen zu einem Zeichensystem erinnern an die im Jahr 1960 erschienene Studie des amerikanischen Stadtplaners Kevin Lynch, der sich unter dem Titel „Image of the City“ mit der Frage befasst, wie sich Menschen im urbanen Raum bewegen und auf welche Weise sie sich in dieser Umgebung zurechtfinden.1461 Der Gestalter will mit der Beschilderung im Olympiapark keine feststehenden Routen vorgeben und betont stattdessen die Möglichkeiten; das räumliche Handeln der Besucherinnen und Besucher begreift er in Verbindung mit der zeitlichen Ordnung der Strukturen. „In das Verkehrsdiagramm von Stadt und Olympiagelände eingewoben werden muß der Veranstaltungskalender. Man hat es während der Olympischen Spiele mit einem Verkehrsfluß zu tun, der durch zeitliche Termine bestimmt wird. [...] Das gesamte Problem erfordert eine technisch optimale, funktionale Typographie und Zeichengebung, welche den Disziplinen der Systemforschung und des Operation-Research nahe steht. Gleichzeitig wird eine optimale ästhetische Erscheinung verlangt, die sich innerhalb des formalen Kodex des gesamten Erscheinungsbildes bewegt.“1462

1456 |

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1461 |

Vgl. Lynch, Kevin (1960): The Image of the City. Cambridge.

1462 |

Büro Aicher, Hochbrück bei München: Das Erscheinungsbild der Olympischen

Spiele, München 1972. Vorlage für die Sitzung des Vorstands des Organisationskomitees am 22. November 1967. In: Olympiade 1972 – Emblem. Stadtarchiv München, 541.

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Obgleich alle Aussagen und Entwürfe des Gestaltungsbeauftragten in geradezu idealer Weise unter dem Paradigma einer „Ästhetisierung des Realen“1463 zu verstehen sind, scheinen Aichers Ausführungen zum Thema „Künstliches Klima“1464 mit Blick auf die Atmosphären der Stadt besonders bemerkenswert. Analog zu einem kulturanalytischen Verfahren nimmt das Gestalterteam lokalspezifische Themen auf, filtert Topoi heraus und übersetzt deren Ausdruck in eine international verständliche Formen- und Farbensprache, deren Inhalte vor allem über die ästhetische Signatur vermittelt werden. „Aufgabe des Erscheinungsbildes ist es, das psychologische Klima, die Stimmungsebene der Olympischen Spiele in München zu bestimmen. Erreicht wird das vor allem mit der durchgängigen Anwendung einfacher Elemente wie: Farben, Schriften, Zeichen. Diese Elemente müssen mit Sorgfalt bestimmt, ausgewählt und auf ihre Verwendbarkeit hin überprüft werden. Für die Olympischen Spiele in München werden folgende Vorschläge gemacht: Farben: Vorgeschlagen wird als Primärfarbe ein lichtes, mittleres Blau, als Stützungsfarbe ein mittleres Grün gleicher Helligkeit, dazu Weiß und Silber. Blau gilt als unpolitische Farbe. Nach statistischen Umfragen besitzt es eine hohe, in unserem Land sogar die höchste Präferenz. Es ist die Farbe des strahlenden Himmels, die Farbe des Friedens und die Farbe der Jugend. Zudem – das ist vielleicht ausschlaggebend – ist es die Farbe der oberbayerischen Landschaft, ihrer Seen und ihrer Alpensilhouette. München gilt als die blau-weiße Hauptstadt. (Obwohl seine offiziellen Farben Schwarz und Gelb sind.) Selbstverständlich darf die vorgeschlagene Farbgebung nicht dazu führen, als seien die Olympischen Spiele in München weiß-blau dekoriert. Schrift: Aus der großen Zahl möglicher Schriften wurde eine leichte Grotesk-Schrift, die ‚Univers‘, zur Stützung der Assoziationen: Unpathetisch, agil, frisch, leicht. Die ‚Univers‘ ist eine in den letzten Jahren entstandene Schrift und verbindet in ihrem Bild Korrektheit, Sachlichkeit mit dem Eindruck von Jugendlichkeit und natürlicher Eleganz. Das angestrebte typografische Gesamtbild soll nicht aufgedonnert sein: Deshalb wird ein zurückhaltendes Schriftbild bevorzugt. Keine großen Titel, keine fetten Auszeichnungen, keine aggressiven Schriftgrößen.“1465 Zu Aichers Präsentation erhalten die Vorstandsmitglieder des OK ein ausformuliertes Exposé, der Besuch einer Ausstellung, die das Büro vorbereitet hat, bietet Gelegenheit, einen Eindruck von den „farblichen und graphischen Grundformen der Planung für die visuelle Gestaltung“1466 zu gewinnen. Ferner macht Aicher 1463 |

Böhme 1995: S. 13.

1464 |

Büro Aicher, Hochbrück bei München: Das Erscheinungsbild der Olympischen

Spiele, München 1972. Vorlage für die Sitzung des Vorstands des Organisationskomitees am 22. November 1967. In: Olympiade 1972 – Emblem. Stadtarchiv München, 541. 1465 |

Ebd.

1466 |

Protokoll der 8. Sitzung des Vorstands des OK vom 22. November 1967. In: Olympia-

de 1972 – Emblem. Stadtarchiv München, 541.

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alternative Vorschläge für das Signet, und wie es im Protokoll heißt, fasst „[...] der Präsident unter Zustimmung mehrerer Vorstandsmitglieder seine Meinung dahingehend zusammen, daß er die Gesamtkonzeption sehr eindrucksvoll finde“1467. Willi Daume und Hans-Jochen Vogel sprechen sich in den Diskussionen wiederholt für die Ideen des Gestalters aus. Die Debatte um das Emblem geht jedoch weiter; und Vogel erkundigt sich, „[...] ob der Vorstand dabei bleiben wolle, daß Zeichen im Wege der Lizenzierung kommerziell verwertbar zu sein haben. Diese Frage müsse vorrangig entschieden werden, weil davon die Beurteilung des vorliegenden und auch möglicher anderer Entwürfe entscheidend abhänge. Man müsse in dieser Frage wohl dem Urteil des aus Fachleuten bestehenden Ausschusses folgen, daß ein Zeichen nach der den Vorstellungen des Gestaltungsbeauftragten entsprechenden einfachen graphischen Grundform niemals schutzfähig im Sinne des Urheberrechts sein könne. Er persönlich sei aus zwei Gründen dazu gekommen, an der Forderung einer den urheberrechtlichen Schutz bewirkenden Ausgestaltung des Zeichens nicht mehr festzuhalten. Erstens werde die Lizenzierung des Emblems zu einer Kette langwieriger und außerdem juristisch problematischer Prozesse führen; nur mittels einer schlagkräftigen Verfolgung unberechtigter Benutzung aber werde der angestrebte Schutz auch wirksam. Zweitens aber frage er sich, nicht zuletzt indem er die Zeichen früherer Spiele zum Vergleich heranziehe, ob es der Sinn eines Emblems sei, als Einnahmequelle zu dienen, oder ob seine Aufgabe sich nicht darauf beschränke, in ideeller Weise die ganze Welt auf die Spiele in München aufmerksam zu machen.“1468 OK-Generalsekretär Kunze hält dagegen, dass es von Seiten der Industrie ein großes Interesse gibt, das Emblem zu verwerten. Die Einnahmequelle wird derart ergiebig sein, dass der eine oder andere, der das Signet ohne Lizenz nutzt, nicht weiter auffällt.1469 Für die Verantwortlichen des OK gilt es, den Spagat zwischen der inhaltlichen Konzeption und der kommerziellen Nutzung der Olympischen Spiele zu schaffen. „Wie auch die Diskussion über das Emblem ausfalle, solle Aicher für seine bisherigen Entwürfe gedankt werden.“1470 Weiter stellt sich die Frage, ob das herausragende Gesamtkonzept mit einem anderen Emblem noch einmal überarbeitet werden muss. Hans-Jochen Vogel erklärt, dass er dem Entwurf des Strahlenkranzes zustimmen kann, seine Schlichtheit trifft die Idee der Spiele ohne Gigantismus. Im Falle eines Wettbewerbs fordert der OB, dass Aichers Vorschlag bestehen bleibt, da nicht abzusehen ist, was eingereicht wird.1471 Sinngemäß äußert sich auch Daume gegenüber Abreß und dem Ausschuss für Visuelle Gestaltung. „Unsere große Sorge ist das Emblem für die Olym1467 |

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pischen Spiele von München. Das heißt, es braucht keine Sorge zu sein – denn wir haben ja einen guten Entwurf –, wenn wir nicht optimale Ansprüche an dieses Emblem stellen würden. Diese wiederum ergeben sich nicht nur in Richtung Qualität, das Emblem muss vielmehr in weiten Teilen der Bevölkerung ‚ankommen‘, und insoweit sowohl den New Yorker als auch den afrikanischen Buschneger ansprechen. Außerdem sollte es möglichst noch schützbar sein, und zwar nicht nur, weil unser Komitee effektiv auf zusätzliche Einnahmen angewiesen ist. Bekanntlich leben wir auf absehbare Zeit fast ausschließlich von öffentlichen Mitteln, sind also der Kontrolle unseres Finanzwesens durch die Rechnungshöfe unterworfen; diese aber verlangen – und wohl auch mit Recht – die gewissenhafte Ausschöpfung aller Einnahmemöglichkeiten. Die uns allen und insbesondere Herrn Aicher mit dem Emblem gestellte Aufgabe ist außergewöhnlich komplex. Der Vorstand des Komitees hat sich in seiner überwiegenden Mehrheit grundsätzlich der Auffassung angeschlossen, daß Herr Aicher sie gut gelöst habe. Das gilt, allseits und ohne jede Einschränkung anerkannt, im besonderen für die vorgelegte Gesamtkonzeption; das gilt aber auch speziell für die Qualität des Emblems. Wenn der Vorstand sich trotzdem entschloß, einen Wettbewerb, begrenzt natürlich auf das Emblem, auszuschreiben, dann waren dafür folgende Gründe maßgebend: 1. In den Meinungsumfragen und Tests ist herausgekommen, dass viele Menschen und vor allem ausländische Sportler das Logo nicht verstehen. 2. Von der Wirksamkeit des Emblems hängt für den ideellen und effektiven Erfolg der Olympischen Spiele von München sehr viel ab.“1472 Daume schließt bei seinen Überlegungen den Strahlenkranz nicht aus und sichert die Einbindung von Experten in der Frage zu. „5. Die Ausschreibung des Wettbewerbs muß mit den Herren des Gestaltungsausschusses abgestimmt werden und ihren Grundsatzforderungen in Bezug auf Signifikanz und Modernität entsprechen. Damit ist auch gewährleistet, daß ein neues Emblem für die Gesamtkonzeption des Herrn Otl Aicher ohne weiteres oder mit nur geringfügigen Änderungen dieser Konzeption auszutauschen ist.“1473 Der Präsident konstatiert, dass auch der Gestaltungsbeauftragte selbst einen Wettbewerb gefordert hat. Diesem Rat nicht zu folgen, ist ein Fehler des OK gewesen. „Den Tag nach der Vorstandssitzung habe ich gleich zu einem fundierten Gespräch mit den Herren Wirsing und Aicher genutzt. Die Einzelheiten für die Ausschreibung des Wettbewerbs sind noch am gleichen Tage gemeinsam festgelegt worden.“1474 Daume wirbt um Verständnis für die schwierige Situation. „Insbesondere möchte ich mich aber bei Ihnen für Ihre wertvolle und entscheidend wichtige Mitarbeit bedanken und der Überzeugung Ausdruck geben, daß am Ende doch alle optima-

1472 |

Schreiben von Willi Daume an Hubert Abreß und den Ausschuß für Visuelle Gestal-

tung, 29. November 1967. In: Olympiade 1972 – Emblem. Stadtarchiv München, 541. 1473 |

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len Lösungen für das Gestaltungskonzept der Olympischen Spiele von München gewonnen werden.“1475 Die Ausschreibung wird in der Presse offiziell bekannt gegeben: „Das Organisationskomitee für die Spiele der XX. Olympiade München 1972 hat sich zur Aufgabe gestellt, ein Emblem zu schaffen und zu verwenden, das für sein Vorhaben, den Olympischen Spielen ein einheitliches, visuelles Erscheinungsbild zu geben, richtungsweisend sein soll. Das Organisationskomitee sucht daher ein Zeichen, das in einfacher aber doch überzeugender Weise seine Vorstellungen für die Olympischen Spiele darstellt: Es werden im Sinne der olympischen Ideale gelöste und heitere Spiele der Jugend angestrebt, die im besonderen Maße dem Gedanken der Völkerverständigung und dem Zusammenspiel von Sport und Kultur dienen. Das Emblem soll als Kennzeichen der Spiele auf allen Plakaten, Publikationen, Briefköpfen, Eintrittskarten u. ä. erscheinen. Ferner wird angestrebt, daß es von der Presse, die im Zusammenhang mit den Olympischen Spielen Bericht erstattet, verwendet werden kann.  Auch sollen es die Teilnehmer, Offiziellen und Gäste als Abzeichen erhalten.“1476 Am Wettbewerb können Fachleute ebenso wie Laien teilnehmen, ausgelobt werden fünf Preise, der erste Platz ist mit 20.000 DM dotiert, der zweite mit 14.000 DM etc. In der Jury sitzen Vogel, Daume und der bayerische Kultusminister Ludwig Huber sowie Mitglieder der Ausschüsse für Visuelle Gestaltung, Kunst und Öffentlichkeitsarbeit des OK, Werner Wirsing, Herbert Hohenemser, Paolo Nestler, Richard Roth und andere, den Vorsitz hat Anton Stankowski, Graphiker aus Stuttgart und Mitglied im Ausschuss für Visuelle Gestaltung. Stichtag ist der 15. März 1968, das Preisgericht soll Anfang April tagen.1477 Insgesamt werden 2332 Arbeiten eingereicht, den ersten Preis erhält Gerhard Eisenmann aus Geislingen, seine Skizze zeigt ein Stadion als Signet. „Dynamisch, Symbol für Bewegung und Leichtigkeit“, begründet die Jury, „entspricht von den eingereichten Zeichen am besten den Ausschreibungsbedingungen; die Assoziation ‚Stadion‘ schafft eine besondere Verbindung zum Sport.“1478 In keiner Weise nimmt Eisenmanns Emblem jedoch auf den Entwurf eines Erdstadions mit Zeltdach Bezug, das in München gebaut werden soll, sondern orientiert sich augenscheinlich an den Plänen von Henschker und Deiß. Die FAZ spottet, dass die prämierten Embleme an „Sendezeichen und Haarkosmetik“1479 erinnern und meldet Bedenken ob der totalen Beliebigkeit. Der Münchner Merkur titelt „Wer hat 1475 |

Ebd.

1476 |

Ausschreibung des Emblem-Wettbewerbs, Dezember 1967. In: Olympiade 1972 –

Emblem. Stadtarchiv München, 541. 1477 |

Ebd.

1478 |

Begründung der Preisvergabe für das Emblem vom 4. April 1968. In: Olympiade

1972 – Emblem. Stadtarchiv München, 541. 1479 |

Emblem für die Olympischen Spiele. Sendezeichen und Haarkosmetik (6. April

1968). In: FAZ. In: Olympiade 1972 – Emblem. Stadtarchiv München, 541.

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Angst vorm Münchner Kindl?“1480 und klagt über die Verschwendung von 50.000 DM. „Läßt das derzeitige gebrauchsgraphische Prestige es wirklich nicht zu, daß sich Populäreffekte zu einem Signet gesellen? Und wäre ein stilisiertes Münchner Kindl nicht auch eine sinnvollere, ästhetisch besser fundierte Ergänzung zu den fünf Ringen? [...] Die international orientierten Studioentwürfe haben gesiegt. Das Kindl paßte ihnen nicht in die genormte Welt, es wurde vielleicht bloß als Billigmacher empfunden und nicht als Aufgabe.“1481 Schon im Januar 1968 ist bei einem Treffen des Finanzausschusses erklärt worden, dass ein Wettbewerb durchgeführt werden muss, und wenn er nur stattfindet, damit diejenigen beruhigt sind, die die ausschließliche Vergabe der Gestaltung an ein einziges Büro beanstanden. „Eine grundsätzliche Feststellung aber sei im Vorstand angesichts der vom Gestaltungsbeauftragten vorgelegten Gesamtkonzeption getroffen worden: Die Idee, die gesamte grafische und dekorative Ausgestaltung der Olympischen Spiele nach einheitlichen Leitlinien in Formen, Farben, Schrifttypen und Stilrichtungen vorzunehmen, sei allgemein gut angekommen. Sie sei Teil des Wunsches, den Spielen in München einen hohen künstlerischen Rang zu verleihen.“1482 Der Vertrag mit Aicher wird auch nicht ausgesetzt, die Präsentation der Stadt München bei den Spielen in Mexiko muss schließlich vorbereitet werden.1483 Im Mai 1968 begrüßt Präsident Daume den Vorstand des OK zu einer weiteren Sitzung und erklärt den Anwesenden, dass der Wettbewerb schon deshalb richtig gewesen ist, weil er weite Kreise angesprochen und wieder Interesse für die Sache geweckt hat. Wirsing resümiert im Anschluss, dass die Ausschreibung inhaltlich nichts gebracht hat, da selbst die ausgezeichneten Entwürfe weit unter dem Niveau von Otl Aichers Vorschlag liegen.1484 In dieser Situation schüttelt Daume nicht nur ein sprichwörtliches As aus dem Ärmel. „Unabhängig von der Erörterung im Ausschuß, so fährt der Präsident fort, seien Überlegungen angestellt worden, auf welche Weise ein positiveres Ergebnis erreicht werden könne. Um nun noch einen weiteren Weg zu versuchen, habe er, Daume, gemeinsam mit dem Gestaltungsbeauftragten und dem Vorsitzenden des Preisgerichtes, Herrn Stankowski, sich kurzfristig entschlossen, noch vor der Vorstandssitzung eine kleine Arbeitsgruppe aus Fachleuten zusammenzurufen, deren Aufgabe es gewesen sei, unter Berücksichtigung aller künstlerischen und technischen, aber auch psychologischen und soziologischen Gesichtspunkte ge1480 |

Wer hat Angst vorm Münchner Kindl? (6./7. April 1968). In: Münchner Merkur. In:

Olympiade 1972 – Emblem. Stadtarchiv München, 541. 1481 |

Ebd.

1482 |

Vgl. Protokoll der Sitzung des Finanzausschusses vom 19. Januar 1968. In: Olympia-

de 1972 – Emblem. Stadtarchiv München, 541. 1483 |

Vgl. ebd.

1484 |

Vgl. Auszug aus der Niederschrift über die 10. Sitzung des Vorstands des Organisati-

onskomitees am 6. Mai 1968. In: Olympiade 1972 – Emblem. Stadtarchiv München, 541.

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meinsam neue Möglichkeiten des Emblems in Teamarbeit zu erkunden: er bitte den Vorstand nachträglich um die Billigung dieses Vorgehens. Dieser Arbeitsgruppe hätten neben Herrn Stankowski die Herren Herbert Kapitzki (Ulm), Coordt von Mannstein (Köln), Klaus Winterhager (Köln) und Wolf Zimmermann (Feldafing) angehört. Das Ergebnis liege nunmehr vor, wobei zu bemerken gilt, daß es unter ständiger Fühlungnahme mit dem Gestaltungsbeauftragten erreicht worden sei und daher besonders mühelos in das Aichersche Gesamtkonzept eingepasst worden könne.“1485 Zusätzlich zu den fünf Entwürfen aus dem Wettbewerb bringt die AG sechs weitere Vorschläge ein. Der Strahlenkranz ist dabei, ebenso ein Kranz, der um die Buchstaben M 72 ergänzt wird, ein „Strahlenkranz, bestehend aus fünf von innen nach außen nebeneinander liegenden Ringen“1486, ein Kranz mit Spirale, die Buchstaben D und M aus dem Dürerschen Alphabet und die „Olympischen Ringe, ergänzt durch ‚München 1972‘ oder ‚M 72‘“1487. Einigkeit herrscht vor allem darüber, dass die Abstimmung nicht mehr vertagt werden soll. Während sich Vogel nach wie vor für die erste Version ausspricht, mahnen einige Mitglieder wieder einen fehlenden Ortsbezug an. Nach mehreren Runden bleiben der Strahlenkranz, der Kranz mit der Spirale und die Buchstaben; am Ende kann sich die Strahlenspirale mit acht zu drei Stimmen gegen das Dürer D durchsetzen.1488 Am 14. Juni 1968 findet eine Pressekonferenz im Atelier von Aicher statt, und das Emblem wird vorgestellt. „Nun ist es endlich soweit“, kommentiert die Süddeutsche Zeitung, „nach vielen vergeblichen Anläufen, einem sinnlosen Wettbewerb und etlichen Kampfdiskussionen ist jetzt die Entscheidung gefallen. Auf der Basis des ursprünglichen blauweißen Strahlenkranzes, den das Team des Gestaltungsbeauftragten für die Spiele von 1972, Otl Aicher, als Olympia-Emblem entwickelt hatte, wurde von einem erweiterten Team das endgültige Zeichen entworfen. Neben den verschiedensten Einwänden gegen die scheinbar zu simple Ästhetik des Strahlenkranzes, die nicht zuletzt aus traditionalistischen Ressentiments gespeist wurden, war offenbar der juristisch-ökonomische Einwurf, daß das geometrische Strahlenzeichen urheberrechtlich nicht schützbar sei, der stichhaltigste. Das neue Zeichen ist trotz seiner rein geometrischen Herkunft schützbar, es wird sogar sechs bis acht Millionen Mark an Reklamegeldern einbringen. Doch ist es auch ein besseres Zeichen geworden, ist der Kompromiß gelungen? Zweifellos kann man viele schöne Dinge mit der Spirale assoziieren. Solche Symbole sind ja – und das wollten die Graphiker auch – recht vieldeutig. Aber die sich überlagernde Kombination von Spirale und Strahlenkranz verdirbt ein wenig den heiteren Elan, die leicht erkennbare Form des ersten Vorschlags. Man muß schon zweimal hinschauen, das Auge verwirrt sich leicht, es scheint sich ein Spiel aus der Pop-Kunst zu vollzie1485 |

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1488 |

Vgl. ebd.

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hen. Dennoch darf man froh sein, daß sich in diesem Falle die Graphiker gegenüber den Laien haben durchsetzen können. Denn nichts wäre schlimmer für das Erscheinungsbild der Münchner Olympischen Spiele gewesen, als wenn wirklich die Frauentürme oder das Münchner Kindl oder der Alte Peter eine bajuwarischprovinzielle Ehe mit den olympischen fünf Ringen eingegangen wären. Bei einem Emblem muß man ja immer daran denken, daß weit weg – in anderen Erdteilen vielleicht – niemand mehr die spezifischen Merkmale der Landeshauptstadt wird erkennen können. Und es sind ja schließlich nicht nur Spiele für München; ein Fest für die Jugend der ganzen Welt sollte darum ein unbelastetes, freies Symbol bekommen, das in seinem Wert wohl erst dann erkannt werden kann, wenn die Welt nach den Spielen bei diesem Zeichen an München denkt.“1489 Otl Aicher und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter seines Büros betrachten die Spiele aus einer ganzheitlichen Perspektive. Farben und Formen sind aufeinander abgestimmt, die einzelnen Teile nehmen stets auf das Gesamtkonzept Bezug. Wie ein Netz legt sich das Erscheinungsbild über München, versinnbildlicht und verstärkt die heitere Stimmung der Stadt. Ausgehend vom Olympiapark und den zentralen Sportstätten setzt sich das Design der Spiele im urbanen Raum fort, München wird mit Fahnen in leuchtenden Farben ausstaffiert. „Die Gesamtbeflaggung der Olympischen Spiele in München und Kiel ist organisatorisch abgeschlossen“, heißt es von Seiten des Herstellers im Sommer 1972, „die Fahnen der teilnehmenden Nationen, Fahnen für die Sieger und die olympischen Erscheinungsbild-Flaggen liegen wohlverpackt und geordnet bereit: 8000 Stück!“1490 Die wehenden Stoffbahnen in den Farbtönen Gelb, Orange, Grün, Weiß und Hellblau haben nachhaltig Wirkung gezeigt und sind vielen Menschen in Erinnerung geblieben. Elfriede, die 1938 im Stadtteil Neuhausen geboren ist und sich selbst als echte Münchnerin sieht, erzählt, dass ihr vor allem die Aufmachung von Olympia gefallen hat. „Überall der Schmuck und die Fahnen in Frühlingsfarben!“1491 Das Dekor mutet ebenso wie das gesamte Erscheinungsbild heiter und unbeschwert an, ein fröhliches Hochgefühl erfasst München, seine Bewohnerinnen und Bewohner und die Gäste aus aller Welt. Elfriede berichtet von ihrer glücklichen Kindheit und lässt auch die Entbehrungen während des Krieges und die schweren Zerstörungen in München nicht außen vor; sie erwähnt die Bockerlbahn und den Umstand, dass sie noch in den 1950er 1489 |

Das neue Olympia-Emblem: ein Kompromiß (15./16./17. Juni 1968). In: Süddeut-

sche Zeitung. In: Olympiade 1972 – Emblem. Stadtarchiv München, 541. 1490 |

Ney, Harro (1972): Flaggen für Olympia. Apfelstedt + Hornung sorgt für festliches

Dekor. In: Harbeke, Carl Heinz; Kandiza, Christian; in Zusammenarbeit mit Behnisch und Partner (Hg.): Bauten für Olympia 1972. München – Kiel – Augsburg. München, S. 171. 1491 |

Gespräch mit Elfriede und ihren Freundinnen Erna und Luise in der Gaststätte

„Donisl“ am Marienplatz, 6. April 2009.

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Jahren mit einem Schirm im Klassenzimmer gesessen ist, weil es hineingeregnet hat. Resümierend schließt sie: „Stolz ist man gewesen, stolz auf die Stadt und die Olympiade! Und die Anlage! Das Stadion und der Park sind schon besonders!“1492 Der Fabrikant der farbenfrohen Beflaggung, Theodor Hornung, weist auf die langjährige Erfahrung seines Betriebs bei Sportveranstaltungen hin. „Schon vor 36 Jahren, bei den Olympischen Sommerspielen in Berlin sowie den Winterspielen in Garmisch-Partenkirchen, sorgte die Hamburger Firma Apfelstedt und Hornung für einen Olympischen Rekord in der Disziplin Dekoration: aus den unerschöpflichen Lagern des [...] Unternehmens gingen Tausende von Fahnen an die Wettkampfstätten und gaben den Spielen ihr festliches Gepräge.“1493 Das Bühnenbild von Olympia 1972 arbeitet demnach mit erprobten Requisiten, und die Prozesshaftigkeit von Geschichte wird an diesem Beispiel auf eindrückliche Weise evident. Dass sich eine solche Charakterisierung ausgerechnet in einem Band findet, der die modernen Bauten der Olympischen Spiele in Zusammenarbeit mit Behnisch und Partner präsentiert, wirkt in gewisser Weise eigenartig; die Episode erzählt allerdings mehr über die Realitäten jener Jahre als die zahlreichen anderen Berichte über Verfahrensweisen in der Kunststofftechnik oder Details beim Schwimmbadbau. Am Exempel der Fahnen wird einmal sichtbar, welche Bedeutung von Seiten der Gestalter intendiert worden ist, wie ein derart aufgeladener Gegenstand auf die Umgebung wirken kann und wie er mit der städtischen Atmosphäre wahrgenommen wird. Zum anderen sind die Firma Apfelstedt und Hornung wie die Vergangenheit von Stadt, Land und Nation untrennbar mit dem beeindruckenden Signet verbunden. Die Verwaltung der Nutzungsrechte für das Emblem und die Piktogramme vergibt das OK an die Atlas GmbH & Co KG, 8 München 15, Sonnenstraße 29. Vogel plädiert dafür das Wappen der Stadt freizugeben, immer wieder ist schließlich eine vermeintliche Nichtbeachtung des Münchner Kindls bedauert worden. Daraufhin beschweren sich jedoch die örtlichen Brauereien, dass damit auch auswärtige Brauer das Zeichen nutzen dürfen, und das Stadtwappen wird nur partiell zur Verfügung gestellt.1494 Den Vertrieb der Waren übernimmt ein weiteres Unternehmen, mit der Ausfertigung der zahlreichen Einzelteile werden Hersteller und Spielzeugfabrikanten im gesamten Bundesgebiet beauftragt. „Im dritten Stock über dem bekannten Hamburger Scherzartikel-Geschäft Fahnen-Fleck sind die ersten 120 Muster der ‚Olympic Souvenirs‘ ausgestellt: Bierseidel, Bierdeckel, Streichholzschachteln, Tüten, Schirme, Hemden und so weiter. ‚Ich schätze, daß für 10 bis 15 Millionen Mark Artikel produziert werden‘, sagt Heinz Fleck, der Generalbeauftragte von Olympic Souvenirs. Das dürfte freundlich untertrieben sein. 1492 |

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Ney 1972: S. 171.

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Vgl. Olympiade 1972 – Emblem, wirtschaftliche Verwertung. Stadtarchiv Mün-

chen, 540.

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Am 26. Januar [1971], beim Olympiaball im Kieler Schloß, werden alle Souvenirs der Öffentlichkeit vorgestellt – ein Jahr lang werden Sonderbasare in Kaufhäusern, Versandfirmen, Verkäufer in Uniformen, Extra-Kioske, das Olympialand auf das ästhetische Klima der Spiele vorbereiten.“1495 Mit dem Waldi gibt es 1972 zum ersten Mal ein Olympisches Maskottchen; die Idee kommt von Willi Daume, Otl Aicher hat die Figur gezeichnet und das Konzept der variablen Streifen in den Olympiafarben stammt von Rolf Müller. Die Designerin Elena Winschermann hat die diversen Anwendungen des Regenbogen-Dackels betreut. Müller erzählt, dass die Herausforderung darin bestanden hat, ein nach Meinung der Gestalter wenig ansprechendes Tier, das mit München zu tun hat und sowohl die Gemütlichkeit als auch die Schwerfälligkeit der Stadt repräsentiert, in die Gesamtkonzeption aufzunehmen und entsprechend zu übersetzen.1496„In einer Extravitrine unter dem Computer-Design der Olympia-Spirale ruht der Dackel Waldi, das neue Maskottchen in Blau-Grün-Orange. Vergleicht man ihn mit dem hehren Silber der Einladungskarten, wirkt er ausgesprochen nett. ‚Nett‘ ist ein unmodernes Wort.“1497 Die Poster zu den Sportarten, die überall in der Stadt plakatiert worden sind, zeigen Graphiken auf der Basis von Fotografien. Zu den Souvenirs, die gekauft werden können, kommen Werbegeschenke wie Streichholzbriefchen etc. Auch wenn es sich bei diesen Dingen um Massenkonsumgüter handelt, sind die Artikel von Olympia ‘72 wie die Spiele selbst für viele Menschen zu Identifikationsobjekten geworden. Nicht wenige bewahren ihren Waldi mit den Erinnerungen in der Wohnzimmervitrine auf und können sich kaum von den lieb gewonnenen Sachen lösen.1498 Die emotionale Aufladung verweist zum wiederholten Mal auf den Zusammenhang von Sport, Stadt und Atmosphäre, der nicht nur in individuellen Biographien, sondern auch im kommunikativen Gedächtnis und in der Außenwahrnehmung von München eingeschrieben ist und wesentlich auf der wirkmächtigen Gestaltung der Spiele basiert. Aichers Büro hat über funktionale Erzeugnisse wie Programme und Eintrittskarten hinaus auch ästhetische Utopien für die Spiele entwickelt. Im Konzept angedacht sind etwa „Luftballons und kleine Fahrräder – das Gelände habe ja immerhin die Größe der Münchner City. Auf die Fahrräder müsse man wohl verzichten, man fürchte das Durcheinander. ‚Dabei‘, sagt der Otto mit dem verspielten Namen, ‚ist doch die Via Veneto viel lustiger als

1495 |

Simon, Karl Günter (8. Januar 1971): Ein Dackel für Olympia Rubrik: Simons Zeit-

genossen. In: Publik Nr. 1/2, S. 27. In: Personen Otl Aicher. Stadtarchiv München, 5/16. 1496 |

Vgl. Gespräch mit Rolf Müller am 27. Oktober 2010.

1497 |

Simon, Karl Günter (8. Januar 1971): Ein Dackel für Olympia. Rubrik: Simons Zeit-

genossen. In: Publik Nr. 1/2, S. 27. In: Personen Otl Aicher. Stadtarchiv München, 5/16. 1498 |

Vgl. Gespräche im Rahmen des Sammelaufrufs für die Ausstellung „München 72“

vom Haus der Bayerischen Geschichte und dem Institut für Bayerische Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München am 9. und 10. März 2010.

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eine autofreie Straße, die Zivilisation muss hinein in die Stadt und nicht heraus. Sie muß sich anpassen: auf den Rädern kann man ja langsam fahren.‘“1499 Auch die Bekleidung aller Mitwirkenden ist von Aichers Büro in Hochbrück gestaltet worden. Schon im Vorfeld der Sommerspiele von 1972 wird vor allem das Bild der Hostess im Dirndl als charmante Werbung für die Weltstadt mit Herz eingesetzt. Mehr als 1500 junge Frauen arbeiten während der Spiele als Übersetzerinnen und Betreuerinnen, wie tausende andere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, das Personal des OK, die Servicekräfte, Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter, Wettkampfhelferinnen und Wettkampfhelfer, der Reinigungsdienst und der Ordnungsdienst müssen für Olympia ausgestattet werden. Im Juni 1970 kommt der Beraterkreis „Einkleidung“ zusammen, eine Arbeitsgruppe um den Gestaltungsbeauftragten und Maria Bogner vom gleichnamigen Mode- und Sportartikelhersteller aus München, hat sich mit der Umsetzung dieser speziellen Aufgabe beschäftigt. „Aicher führt – nach einer kurzen Zusammenfassung der Ergebnisse der konstituierenden Sitzung des Beraterkreises – dem Beraterkreis die zwischenzeitlich von der Abteilung Visuelle Gestaltung überarbeiteten Farbkombinationen vor. Nach ausführlicher Diskussion der Vorschläge, wird Einigung darüber erzielt, daß grundsätzlich auch im Bereich der Einkleidung der Farbkatalog bestimmend sein soll, der für das gesamte Erscheinungsbild festgelegt wurde. Für die Dessinierung soll grundsätzlich nur die Strahlenspirale Verwendung finden. In beiden Bereichen können Detailfragen erst entschieden werden, wenn Modellentwürfe vorliegen.“1500 Anschließend präsentiert Aicher „[...] anhand von Dias das von Mitgliedern des Beraterkreises für die Bereiche Dirndl-Look und Safari-Look seit der 1. Sitzung gesammelte Material.“1501 Den verschiedenen Gruppen werden entsprechende Farben zugeordnet, so dass ihre Funktion in dem weitläufigen Areal des Olympiaparks und den anderen Sportstätten deutlich zu erkennen ist, die mitwirkenden Wettkampfrichterinnen und -kampfrichter werden auf die Weise auch selbst zu Piktogrammen. Aichers Verwandtschaftssystem setzt sich noch in der Farbwahl der Kleiderordnung fort.1502 Ausgewählte Hersteller werden angeschrieben und dazu aufgefordert, Skizzen auszuarbeiten und Schaustücke anzufertigen.1503 Als Berater wird aber nicht, wie 1968 von ihm angekündigt, der Modedesigner Heinz Oestergaard, sondern der französische Star-Couturier André Courrèges hinzugezogen. Mit seinen Kleidern 1499 |

Simon, Karl Günter (8. Januar 1971): Ein Dackel für Olympia. Rubrik: Simons Zeit-

genossen. In: Publik Nr. 1/2, S. 27. In: Personen Otl Aicher. Stadtarchiv München, 5/16. 1500 |

Niederschrift über die 2. Sitzung des Beraterkreises „Einkleidung“ vom 10. Juni

1970. In: Olympia Förderverein – Bekleidung Olympia. Stadtarchiv München, 319. 1501 |

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1502 |

Vgl. Rathgeb 2007: S. 88-89.

1503 |

Vgl. Olympia Förderverein – Bekleidung Olympia. Stadtarchiv München, 319.

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im futuristischen Stil gilt der Franzose als einer der prägendsten Designer der 1960er Jahre, Courrèges hat beispielsweise den Minirock von Mary Quant in die Haut Couture eingeführt. Für Olympia 1972 entwirft er Overalls und gestaltet Details, außerdem wird die französische Mannschaft von Courrèges eingekleidet.1504 Das Team der Bundesrepublik trägt bei offiziellen Anlässen wie der Eröffnungsfeier im Stadion Kostüme und Anzüge in den Farben gelb und hellblau, das Material ist ein modernes Polyestergemisch. Die Bestandteile der verschiedenen Ausstattungen werden in Standardgrößen produziert, wie eine Schneiderin berichtet, sind die Jacken, Hemden, Hosen und Röcke des Kurzzeitpersonals in einem der temporären Pavillons auf dem Areal des Olympiaparks bei Bedarf angepasst worden.1505 Angehörige der Bundeswehr tragen Anzug und Krawatte in den Farbtönen beige, braun und blau. Die überwiegende Zahl der Mitwirkenden wird mit dem international und an der Mode der Zeit ausgerichteten Safari-Look eingekleidet, allein die 1500 Hostessen werden im Dirndl-Look inszeniert. Im Verlauf der Vorbereitungen reichen bayerische und österreichische Fabrikanten Kostenvoranschläge für die Fertigung des Baumwollkleids ein, die Firma Hummelsheim aus Murnau erhält am Ende den Zuschlag für die Produktion. Die Ausrüstung der Hostessen umfasst laut Plan jeweils zwei Tagesdirndl, zwei Schürzen zum Tagesdirndl, drei Blusen zum Tagesdirndl, einen Janker, ein Abenddirndl, eine Schürze zum Abenddirndl, eine Kotze, einen Hut (ev. Kopftuch), fünf Paar Strumpfhosen, zwei Paar Halbschuhe, je einen Regenschirm und eine Umhängetasche. Die gesteppten Janker liefert der Trachtenhersteller Heller & Ponwenger aus Salzburg, die Abenddirndl sind von der Firma Queisser.1506 Mit dem kurzen Dirndl in den Farben Weiß und Blau hat Aicher ein Motiv gestaltet, das im Zusammenwirken mit den Trägerinnen nicht nur die Idee der emotionalen Arbeit perfektioniert, sondern auch das Motiv des Dirndls in die Zukunft von Bayern und München transformiert. Das Thema Tracht kommt neben dem Einsatz der Schuhplattler während der Eröffnungsfeier und dem modischen Dirndl-Look der Hostessen noch in einer anderen Variante zum Tragen. „Selbst Finanzminister Dr. Ludwig Huber war begeistert von den Landestrachten aus elf verschiedenen Gauen, die von den 44 Siegerehrungs-Hostessen während der Olympischen Spiele getragen werden. [...] Ein Sprecher des Finanzministeriums: ‚Wir wollen damit der bayerischen Volks-

1504 |

Vgl. Loschek 1999: S. 492.

1505 |

Vgl. Gespräch mit einer Schneiderin aus Dachau im Rahmen des Sammelaufrufs

für die Ausstellung „München 72“ vom Haus der Bayerischen Geschichte und dem Institut für Bayerische Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München am 9. und 10. März 2010. 1506 |

Vgl. Korrespondenz zur Bekleidung, um 1970. In: Olympia Förderverein – Beklei-

dung Olympia. Stadtarchiv München, 319.

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kunst eine weltweite Ausstrahlung geben.‘“1507 Ein Poster zeigt die von Aichers Büro gestalteten Uniformen in der Gesamtschau, die vom Ministerium erwähnten Kleider sind nicht abgebildet.1508 Das Ansinnen kommt offenkundig von Seiten des Freistaats, mit der Ausarbeitung der Festgewänder wird eine bekannte Trachtenwerkstätte in Riedering am Chiemsee beauftragt. Das Ansinnen kommt offensichtlich von Seiten des Freistaats, mit der Ausarbeitung der Festgewänder wird eine Trachtenwerkstätte in Riedering am Chiemsee beauftragt. Die Inhaberin Brigitte Bogenhauser-Thoma legte ihre Gesellenprüfung als Schneiderin 1938 ab und arbeitete in den 1940er Jahren mit der österreichischen Trachtenspezialistin Gudrun Pesendorfer am Innsbrucker Museum für Volkskunde. Ihr Vater, der Maler Emil Thoma, stammte aus der Schweiz und war um die Jahrhundertwende in die Region gezogen; mit anderen Malern hatte er um 1920 die Künstlervereinigung Welle begründet. Der Name war eine Idee seiner Frau Anette Thoma, die zunächst Englisch und Französisch studiert hatte und sich in späteren Jahren mit dem bayerischen Volksliedforscher Kiem Pauli und dem österreichischen Musiker und Leiter des Salzburger Heimatwerks Tobi Reiser um die Volksmusik im Alpenraum bemühte.1509 Brigitte Bogenhauser-Thoma spezialisierte sich vor diesem familiären Hintergrund auf die Trachtenerneuerung in der Region. Zum illustren Kundenkreis ihres bayerischen Heimatwerks zählten Baronin Maria von Trapp, die Schauspielerin Gaby Dohm oder die Moderatorin Carolin Reiber. „Den Höhepunkt fand die Arbeit von Frau Bogenhauser 1972, als die bayerische Staatsregierung der Firma Bogenhauser-Thoma den Auftrag gab, für die Siegerehrungshostessen der Olympiade in München 11 bayerische Trachten und 3 Holsteiner Trachten zu erneuern“,1510 heißt es in den privaten Aufzeichnungen der Riederinger Familie. „Im vorolympischen Anprobe-Test wurde noch gezupft und gerichtet, gesteckt und genäht. Hier fehlte noch ein Kropfschmuck, hier eine Blume. In tagelanger Arbeit werden die Kleider originalgetreu nach den Trachten der verschiedenen Landschaften (u.a. Berchtesgaden, Chiemgau, Werdenfelser Land, Tegernsee) geschneidert. Eine Tracht kostet zwischen 400 und 700 Mark.“1511 Fotografien aus der Staatskanzlei zeigen den Bayerischen Ministerpräsident Alfons Goppel, Finanzminister 1507 |

Schechtl, Christa (3. Juni 1972): Bayerische Dirndl ehren die Olympia-Sieger. In:

Bild. In: Presseamt Zeitungsausschnitte – Olympiade Kulturprogramm. Stadtarchiv München, 2684. 1508 |

Vgl. Rathgeb 2007: S. 88.

1509 |

Vgl. Bosl, Karl (Hg.) (1983): Bosls bayerische Biographie. 8000 Persönlichkeiten

aus 15 Jahrhunderten, S. 776. Verfügbar unter: http://rzblx2.uni-regensburg.de/blo/ boslview/boslview.php?seite=792, (10.03.2011). 1510 |

Aufzeichnungen von Karin Locke-Bogenhauser. In: Private Sammlung Monika

Ständecke. 1511 |

Schechtl, Christa (3. Juni 1972): Bayerische Dirndl ehren die Olympia-Sieger. In:

Bild. In: Presseamt Zeitungsausschnitte – Olympiade Kulturprogramm. Stadtarchiv München, 2684.

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Ludwig Huber und den OK-Präsidenten Willi Daume, die der Präsentation der Siegerehrungstrachten in bester Laune folgen. Unter den Damen, die Brigitte Bogenhauser-Thomas Modelle vorführen, ist auch die noch unbekannte Hostess Silvia Sommerlath.1512 Wie die Abbildungen der Frauen in den hellblauen Dirndln gehen die Aufnahmen der Siegerehrungshostessen um die Welt, pittoresk wirken die Trachtenkleider vor der Kulisse des modernen Stadions; im Zusammenspiel mit den leuchtenden Kostümen der anderen Mitwirkenden und den bunten Trainingsanzügen der Athletinnen und Athleten aus dem In- und Ausland ergibt sich ein besonders einprägsames Bild.

O LYMPIA DER KURZEN W EGE . G ESELLSCHAF T, K UNST UND R AUM Im Zusammenhang mit den Spielen von 1972 ist im Nordwesten von München eine moderne Stadtlandschaft entstanden, die sich besonders durch die enge Vernetzung der verschiedenen Räume und ihre richtungsweisende Konzeption auszeichnet. Mit seiner Idee der Raumbilder versucht der Stadtforscher Detlev Ipsen „[...] die Gestalt des Raumes als symbolischen Ausdruck gesellschaftlicher Entwicklungskonzepte zu interpretieren [...]. Die Theorie bezieht sich zunächst nicht auf Landschaften, sondern ist allgemein gefasst. Ein bestimmtes Gebäude in einer Stadt [...] oder ein städtebauliches Ensemble [...] stehen für spezifische Vorstellungen gesellschaftlicher Entwicklung. So zeigt der Eiffelturm, der anlässlich der Weltausstellung in Paris gebaut wurde, nicht eine beliebige Eisenkonstruktion, sondern symbolisiert die moderne Stadt.“1513 München wird während der Vorbereitung auf Olympia von einer Metropolis zu einer Postmetropolis. Schon als sich die Stadt um die Austragung bewirbt, ist von drei Devisen, den Spielen im Grünen, den Spielen der kurzen Wege und den Spielen der Musen und des Sports die Rede. Was sich in der Phase von 1966 bis 1972 in München abgespielt hat, ist ausschließlich in dieser Situation, unter diesen Bedingungen, an diesem Ort und in diesem gesellschaftlichen Kontext möglich. Mit dem Zuschlag für Olympia können Bilder und Räume entstehen, die zu Beginn der 1960er Jahre nicht einmal denkbar gewesen sind. „Die großartigen architektonischen Lösungen für einzelne Bauwerke“, meint der Soziologe Bernhard Schäfers, „brachten neue, im gesellschaftspolitischen Bereich dominant werdende Prinzipien zum Tragen: Öffentlichkeit und Transparenz, Demokratie und Partizipation. [...] Als dann für die Olympiade in München 1972 technisch und architektonisch, für Athleten und Publikum und nicht zuletzt für den Städtebau außergewöhnlich progressive Lösungen gefunden wurden, schien Deutschland endgültig das Stadium des ‚motorisierten Biedermeier‘ hinter sich

1512 |

Vgl. Fotografien aus dem Bestand des Münchner Stadtarchivs.

1513 |

Ipsen 2006: S. 92.

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gelassen und beispielhaft Konsequenzen aus dem fundamentalen sozialen, kulturellen und politischen Wandel seit den 60er Jahren gezogen zu haben.“1514 Die kurzen Distanzen bilden sich ganz konkret in der Verkehrsanbindung des Olympiaparks ab, mit Straßen, Trambahnen, S- und U-Bahn-Linien wird das Gelände erschlossen und in das Gewebe der Stadt eingebunden. Der Ausbau des städtischen Schienennetzes ist bereits Mitte der 1960er Jahre konzipiert worden, aber „[d]ie Bewerbung der Stadt München für die XX. Olympischen Sommerspiele hatte einen neuen Entwurf des U-Bahn-Liniennetzplans zur Folge, der am 16.06.1966 vom Stadtrat verabschiedet wurde. Man entschloss sich, die U3 als Zubringer zum Olympia-Gelände zu bauen.“1515 Wenn die Eröffnung anfänglich für 1974 vorgesehen ist, beschleunigen sich die Abläufe, und der Anschluss wird schon im Jahr 1971 fertig gestellt. Im Süden ist das Oberwiesenfeld an das Tramnetz angebunden, für Olympia wird eine eigene Haltestelle eingerichtet. Unmittelbar über der zentralen U-Bahn Station entsteht ein Busbahnhof, der Olympiapark wird mit dem S-Bahn Nordring für die Dauer der Spiele mit dem öffentlichen Schienennetz verknüpft.1516 „Hand in Hand mit den Baumaßnahmen für die olympischen Wettkampfstätten laufen die Infrastrukturmaßnahmen. 34 Kilometer Straßen und Wege innerhalb und außerhalb des Oberwiesenfeldes müssen größtenteils neu oder beträchtlich ausgebaut werden.“1517 Kritiker werfen den Verantwortlichen vor, dass die Kosten für Olympia in Zukunft zu Einsparungen in den Bereichen Kunst, Wissenschaft und Kultur führen werden. Daume hält dagegen, dass die Stadt München viele der Maßnahmen ohnehin beabsichtigt hat, das Olympische Dorf etwa ist langfristig als Studentenwohnheim angelegt. „Das gleiche gilt sinngemäß für den größten Teil der Verkehrsanlagen. In München wird eine U-Bahn gebaut. Das geschieht ganz unabhängig von den Spielen, weil es einfach eine Notwendigkeit ist [...]. Auch Planungen und Entscheidungen zugunsten der sogenannten V-Bahn – zwischen den Bahnhöfen – lagen schon längst vor. Ursächlich haben diese Vorhaben überhaupt nichts mit den Olympischen Spielen zu tun. Genauso verhält es sich mit der Verkehrssanierung der Innenstadt.“1518 1514 |

Schäfers, Bernhard (2006): Architektursoziologie. Grundlagen – Epochen – The-

men. 2. Aufl. Wiesbaden, S. 144. 1515 |

Pischek; Junghardt 2002: S. 16.

1516 |

Ebd.: S. 17 und Organisationskomitee für die Spiele – Die Bauten 1972: S. 23 und

Olympiade 1972 – Verkehrsausbau Nordring-Linie 1966/68. Stadtarchiv München, 313. 1517 |

„Die Bauten für die Spiele der XX. Olympiade in München“, Presse Exposé 1971.

In: Olympische Baugesellschaft und Deutscher Sportbund – Handakt Camillo Noel. Stadtarchiv München, 515. 1518 |

Daume, Willi (1973): Stellungnahme des Präsidenten zur Bewerbung Münchens

um die Olympischen Spiele 1972, Olympisches Feuer, März 1966. In: Daume, Willi: Deutscher Sport. 1952-1972. Hg. vom Deutschen Spotbund anläßlich des 60. Geburtstages von Willi Daume am 24. Mai 1973. München, S. 220.

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Obgleich die Modernisierung der Stadt auf den Beschlüssen von 1963 basiert, ist der Jensen-Plan doch bis in die 1990er Jahre hinein angelegt. Durch die Konstellationen, die sich mit dem bevorstehenden Ereignis ergeben, wird in wenigen Jahren konsequent umgesetzt, was ansonsten Jahrzehnte in Anspruch genommen hätte. Mit den entsprechenden Mitteln folgt der notwendige Ausbau aber nicht nur funktionalen Kriterien, sondern erlaubt technische und gestalterische Innovationen. Der Standard von München wird auf diese Weise innerhalb eines Jahrzehnts auf Weltstadtniveau angehoben. „Die Entstehung des Raums ist ein soziales Phänomen und damit nur aus den gesellschaftlichen Entwicklungen heraus, das heißt auch als prozeßhaftes Phänomen, zu begreifen“,1519 meint Martina Löw. „Raum wird konstituiert als Synthese von sozialen Gütern, anderen Menschen und Orten in Vorstellungen, durch Wahrnehmungen und Erinnerungen, aber auch im Spacing durch Plazierung (Bauen, Vermessen, Errichten) jener Güter und Menschen an Orten in Relation zu anderen Menschen und Gütern. Die Konstitution von Raum (Synthese und Spacing) vollzieht sich im Alltag vielfach in Routinen. Über die repetetiven Handlungen werden räumliche Strukturen diskursiv reproduziert. Räumliche Strukturen sind in Institutionen eingelagert, die durch relationale Platzierungen und das Wiedererkennen bzw. Reproduzieren dieser (An)ordnungen repetitiv wiederholt werden. Räumliche Strukturen sind eine Variante gesellschaftlicher Strukturen.“1520 Mit den Spielen in München haben sich Möglichkeitsräume eröffnet, die besonders von dem Umstand gekennzeichnet sind, dass bei allem Druck und den funktionalen Kriterien durch die Statuten des IOC bis in Detail eine zukunftsweisende Verknüpfung von Gesellschaft, Kunst und Raum nachzuvollziehen ist. Auf dem Oberwiesenfeld werden neben den zentralen Sportstätten auch das Radstadion und die Zentrale Hochschulsportanlage (ZHS) mit einer Volleyballhalle sowie Trainingsplätze für verschiedene Disziplinen gebaut. Der Fernsehturm ist im Vorfeld der Spiele errichtet worden und fügt sich als Olympiaturm nahtlos in die Olympialandschaft ein, die bestehende Halle am Boden wird 1972 für die Austragung der Boxkämpfe genutzt. Auf dem Gelände befinden sich auch technische Anlagen wie der Gärtnerhof, der als erster Bau fertig gestellt werden kann und für seine Architektur ausgezeichnet wird, ein Hausmeistergebäude, ein Bootshaus etc. Die Bebauung wird für Olympia durch provisorische Restaurants, Biergärten und temporäre Pavillons sowie modern gestaltete Kioskpulks ergänzt.1521 Als Präsident des NOK begründet Willi Daume 1966 die Bewerbung Münchens im „Olympischen Feuer“, dem offiziellen Magazin des Deutschen Olympischen Sportbunds und der Deutschen Olympischen Gesellschaft. Dem immer wieder 1519 |

Löw 2001: S. 263.

1520 |

Ebd.

1521 |

Vgl. „Die Bauten für die Spiele der XX. Olympiade in München“, Presse Exposé 1971.

In: Olympische Baugesellschaft und Deutscher Sportbund – Handakt Camillo Noel. Stadtarchiv München, 515.

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vorgebrachten Argument, dass die Verknüpfung von Kunst, Wissenschaft und Sport über die eigentlichen Probleme hinwegtäuscht, tritt Daume ganz bestimmt entgegen. Gleichwohl relativiert er die Bedeutung der Spiele von 1936. Der Präsident macht sich unterdessen Gedanken, was 1972 in München alles möglich sein kann. Ein Internationales Jugendlager, wie es in Rom und Tokio schon erfolgreich erprobt worden ist, soll eingerichtet werden. Im Rahmenprogramm können Filmund Fotowettbewerbe und ebenso Konzerte stattfinden. Der Kunst wird eine zentrale Rolle beigemessen, Daume hebt die Literatur und vor allem den Tanz, der sowohl als sportliche Disziplin als auch als musische Darbietung zu verstehen ist, hervor. „Das große Jazz-Festival würde während der Zeit der Spiele abrollen und hätte eine besondere Verbindung zur olympischen Jugend, genau wie Folkloregruppen aus allen Erdteilen.“1522 Über diese Ideen hinaus regt der Präsident an, dass das Olympische Dorf gemeinsam von Architekten aus aller Welt geplant werden soll. „Jeder Bau, wenn auch völlig verschieden in seiner Gestalt, würde sich leicht, weil völlig natürlich, mit den anderen Gebäuden zu einem Gesamtbild starker Individualität und organischen Lebens ergänzen. Immer vorausgesetzt, daß wir die großen Meister gewinnen können und – olympischen Prinzipien getreu – auf Mittelmäßigkeit verzichten!“1523 Die Sportlerinnen und Sportler sind mit ihrem Betreuungsstab in unmittelbarer Nähe zu den Wettkampfstätten untergebracht. Die Anlage im Nordwesten des Olympiaparks besteht aus Hochhäusern, Terrassenhäusern und Bungalows. Das Olympische Dorf ist als eine Stadteinheit zu verstehen, die während der Spiele 12.000 Wettkämpferinnen und Wettkämpfer mit ihren Begleiterinnen und Begleitern aus 122 Nationen in 4728 Appartements beherbergt.1524 Das Frauendorf umfasst 1800 Apartments, für die Männer stehen 3000 Wohnungen zur Verfügung. Die Gebäude sind nicht von der Olympia-Baugesellschaft, sondern von privaten Bauträgern und dem Studentenwerk ausgeführt worden, das OK mietet die Räumlichkeiten lediglich für die Dauer der Spiele.1525 Am 16. Februar 1972 sind „[d]ie ersten Häuser des Olympischen Dorfes [...] bezugsfertig und werden dem OK übergeben“1526. Der Sportfunktionär Walther Tröger ist für die Verwaltung der Unterkünfte zuständig und nennt sich selbst Bürgermeister des Dorfs, um die Bedeutung der Gemeinschaft zu betonen. Die Wohnungen sind bereits im Vorfeld der Spiele vermietet worden, aus Interesse an der modernen Architektur der Bauten hat der Student Hartwig Linderkamp schon in den Monaten vor Olympia im 1522 |

Daume 1973: S. 223.

1523 |

Ebd.

1524 |

Vgl. Organisationskomitee für die Spiele – Die Bauten 1972: S. 104.

1525 |

Vgl. „Die Bauten für die Spiele der XX. Olympiade in München“, Presse Exposé 1971.

In: Olympische Baugesellschaft und Deutscher Sportbund – Handakt Camillo Noel. Stadtarchiv München, 515. 1526 |

Vgl. Organisationskomitee für die Spiele – Die Bauten 1972: S. 26.

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Dorf gelebt.1527 „Die gesamte Urbanität wird sich durch ihre Wohlabgewogenheit von der oft trostlosen Langeweile und Durchschnittswirtschaftlichkeit vieler, auch Münchner, ‚Parkstädte‘ oder Schlafvororte vorteilhaft unterscheiden.“1528 Die Pläne des Architektenteams Heinle, Wischer und Partner, die bei der Ausschreibung für die gesamte Bebauung den zweiten Platz belegt haben, sowie die Architekten Günther Eckert und Werner Wirsing, die das Konzept für das Frauendorf entwickeln, sehen vor, dass die Autos unter den Häusern geparkt werden. Im verkehrsfreien Dorf ist auf diese Weise genügend Platz zum Spielen und Flanieren. Christian Ude erinnert sich an seine Zeit als Lokalreporter in den 1960er Jahren, viele Münchnerinnen und Münchner sind angesichts der Rohbauten des Olympischen Dorfs entsetzt gewesen und haben das Konzept der autofreien Stadt keineswegs als Superinnovation, sondern vielmehr als Rückschritt verstanden.1529 „Der Entwurf zum Olympischen Dorf“, fasst die Pressestelle des OK zusammen, „ist das Ergebnis einer mehrstufigen Optimierung, die – gemessen am Umfang und an der Vielschichtigkeit des Objekts – erstmals in dieser Größenordnung in der Architektur angewendet wurde. Herausragende Merkmale sind einmal die hängenden Terrassen, die den Bewohnern ein Höchstmaß an Himmel und Sonne bieten sollen, sowie die strikte Trennung von Fußgänger- und Fahrverkehr.“1530 Film- und Fotoaufnahmen vom August 1972 zeigen Menschen aus aller Welt, die sich während der Spiele im Olympischen Dorf begegnen und gemeinsam lachen, feiern und trainieren. Orientierung bieten die Media Linien des Künstlers Hans Hollein, die sich durch den gesamten Komplex ziehen. Das System aus Rohrleitungen ist als Medium zu verstehen und kann Informationen in Form von Aushängen und Durchsagen vermitteln, zugleich bieten die Linien durch Leuchten und eine spezifische Farbe für jeden Wohnarm Orientierung; die Gestaltung knüpft an Aichers Gesamtkonzept für die Spiele an.1531 Die U-Bahn verbindet das Dorf sowohl in technischer als auch in ästhetischer Weise mit der Innenstadt. Läden und Büros, Banken und Ämter wie die Post und der Zoll, Dienstleistungsbetriebe, Ärzte, über 500 Arbeitsplätze für Masseurinnen und Masseure sowie Theater, Kino, Tanz- und Leseräume, die

1527 |

Vgl. Gespräch mit Hartwig Linderkamp am 4. Juni 2008.

1528 |

Harbeke, Carl Heinz; Kandiza, Christian; in Zusammenarbeit mit Behnisch und Part-

ner (Hg.) (1972): Bauten für Olympia 1972. München – Kiel – Augsburg. München, S. 184. 1529 |

Vgl. Rede des Münchner Oberbürgermeisters Christian Ude zur Eröffnung der Aus-

stellung „München: Ansichtssache? Stadtgestalt sehen, erkennen, verstehen“ am 13. Januar 2011 in der Rathausgalerie. 1530 |

„Die Bauten für die Spiele der XX. Olympiade in München“, Presse Exposé 1971.

In: Olympische Baugesellschaft und Deutscher Sportbund – Handakt Camillo Noel. Stadtarchiv München, 515. 1531 |

Vgl. Organisationskomitee für die Spiele – Die Bauten 1972: S. 109.

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Verwaltung und ein Bereich zur „Begegnung des Sportlers mit der Außenwelt“1532 sind in den drei bis zu 22 Stockwerke hohen Gebäuden im Zentrum des Dorfs untergebracht. Die gesamte Anlage ist mit Kunstobjekten und Spielmöglichkeiten ausgestattet, die anders als in Neuperlach auch konkrete Impulse zur Beschäftigung mit den Räumen setzen. „Eine große Verpflegungsstätte, die nach den Spielen als Mensa der Studentenstadt dienen wird“, so erfahren die Journalistinnen und Journalisten von der Pressestelle des OK, „erhält Speisesäle mit rund 2.600 Sitzplätzen. Den Athleten wird eine einheitliche, eiweiß- und vitaminhaltige, auf wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse gestützte Basisverpflegung gereicht. Doch wird eine der drei Großküchen es den Köchen der Mannschaft erlauben, Sonderwünsche zu erfüllen. Große Kochautomaten ermöglichen die Herstellung schmackhafter Speisen, ohne daß die Hand eines Koches mit ihnen in Berührung kommt: Die rohen Gerichte wandern auf der einen Seite in den Automaten, auf der anderen kommen sie fix und fertig wieder heraus. Das Backen, Braten oder Kochen, Würzen, Süssen oder Sossen besorgt der automatische Koch. Damit die Sportler in diesen Speisesälen keine Zeit mit der Suche nach freien Plätzen verlieren, werden Lichtsignale den Weg zu unbesetzten Tischen weisen.“1533 Auf dem Forum zwischen den Bauten zeigen Weltzeituhren nicht nur die Stunden, sondern auch die weit reichenden Verbindungen der Stadt München an. Ein besonderer Ort ist das ökumenische Kirchenzentrum, das als erstes in Bayern und eines der ersten in der Bundesrepublik die Weltoffenheit der christlichen Kirche repräsentiert. Während der Spiele werden die Sportlerinnen und Sportler sowie ihre Betreuerinnen und Betreuer von den Kirchlichen Diensten im Olympischen Dorf seelsorgerisch begleitet. Auch die Einrichtung dieser Anlaufstelle ist ein bemerkenswertes Novum, das München im Olympiajahr zu bieten hat.1534 „Es fanden internationale Gottesdienste in 14 Sprachen statt, die ökumenischen, katholischen, evangelischen, ukrainisch-katholischen und ukrainisch-orthodoxen in den Kirchenräumen, die der jüdischen und islamischen Religionsgemeinschaften in den Räumen des [...] [späteren] Kindergartens“,1535 erklärt die Kunsthistorikern Monika Römisch. Die Kirchlichen Dienste haben für ihr Emblem einen eigenen Wettbewerb ausgeschrieben, die Bauten sind mit Aichers Schrift und Sprache gekennzeichnet. Im gesamten Park sind Skulpturen, Plastiken und Figuren wie die „Olympia Triumphans“, eine kräftige Frau, die mit den Händen auf einer Weltkugel balanciert 1532 |

„Die Bauten für die Spiele der XX. Olympiade in München“, Presse Exposé 1971.

In: Olympische Baugesellschaft und Deutscher Sportbund – Handakt Camillo Noel. Stadtarchiv München, 515. 1533 |

Ebd.

1534 |

Römisch, Monika (2003): Ökumenisches Kirchenzentrum „Frieden Christi“ und

evang.-luth. Olympiakirche Olympiadorf München. Lindenberg, S. 2-3. 1535 |

Römisch 2003: S. 1.

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und von dem Bildhauer Martin Meyer gestaltet worden ist, aufgestellt.1536 Kunst im weitesten Sinne ist allgegenwärtig und wirkt sich entscheidend auf die Atmosphäre der Olympialandschaft aus. „Heinz Mack, einmal Mit-Begründer der Kunstrichtung ‚Zero‘, die eine Kunst aus Elementen der Wirklichkeit wollte, aus Licht und Wasser und Bewegung, wird gemeinsam mit der Firma Siemens, über den See eine Wasser-Wolke legen. Mit 630 000 Watt werden 54 000 Liter Wasser aus schwimmenden Düsen so versprüht, daß der Eindruck einer (Geysir-ähnlichen) Naturerscheinung entsteht. Zunächst wird die Wolke als horizontale Figur, Format: dreißig mal elf Meter, in einer Höhe von etwa acht Metern über den See schweben. In einer zweiten und dritten Phase stellt sich die Wolke dann zu einem vertikalen Gebilde auf, gesteigerter Wasserdruck läßt sie aus der Horizontalen in die Senkrechte aufschießen. Mack hat sich mit seinem Einfall geschickt auf die Wünsche der Architekten eingestellt, die alle Bauten definieren als zur Umgebung hin offen und in ihr fortgesetzt, also auch als durch Fassaden nicht abgegrenzt. Fließende Übergänge zwischen Berg, See und Stadien – die Wolke scheint sich da gut einzufügen. Zugleich leistet sie auch die Verknüpfung zweier Zonen des Areals. Eine ihrer Funktionen ist nämlich die, das Theatron – ein Arena-Theater mit mehreren hundert Plätzen, dessen Spielfläche unterhalb des Schwimmstadions an den See grenzt – und die gegenüber angelegte ‚Spielstraße‘ [...] zu verklammern. Die Gefahr von Macks Idee ist vor allem aber wohl die, daß im Ergebnis ein monströses technisches Spektakel das poetische Potential des Gebildes verdeckt. Mack sagt voraus, daß die Wolke für die Besucher des Geländes ein ‚Primäreindruck‘ sein werde.“1537 112 Unterwasserscheinwerfer setzen das temporäre Spektakel in Szene; den Moment, in dem die Wolke wie von selbst über den See schwebt, hat ein Besucher auf einem Super-8-Film festgehalten.1538 Mit Stehlen aus Spiegelglas nimmt der Künstler Adolf Luther die fließenden Übergänge zwischen Innen- und Außenräumen, Bauten und Parkflächen auf.1539 „Gerhard Richter, der in die westdeutsche Malerei der Gegenwart das illusionistisch (und tendentiell romantisch) nachgemalte Bild von Menschen und Landschaften wiedereingeführt hat, wird eine Begrenzungswand der Schwimmhalle (Breite 92 m, Höhe: vier Meter) von innen mit einem aus vielen Segmenten zusammengesetzten, vergrößerten Farb1536 |

Vgl. Ude, Christian (1992): Grußwort. In: Mayer, Martin: Olympia Triumphans –

Skulptur Architektur Landschaft. München. 1537 |

Iden, Peter (12. Februar 1972): Vom Loch zur Wolke. Sport und Kunst in München.

In: Frankfurter Rundschau. In: Zeitungsausschnittsammlung Olympia Zeltdach. Stadtarchiv München, 2682. 1538 |

Vgl. Schmied, Wieland (Hg.) (1998): Utopie und Wirklichkeit im Werk von Heinz

Mack. Köln und Super-8-Aufnahmen von Familie Peters, August 1972. In: Private Sammlung Biggi Peters. 1539 |

Vgl. Iden, Peter (12. Februar 1972): Vom Loch zur Wolke. Sport und Kunst in Mün-

chen. In: Frankfurter Rundschau. In: Zeitungsausschnittsammlung Olympia Zeltdach. Stadtarchiv München, 2682.

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dia ausstatten, das von hinten beleuchtet ist und eine Landschaft zeigt mit Tälern, Schneebergen und Wolken am Himmel, die wahrscheinlich in Kenia fotografiert wird.“1540 Die auffallende Positionierung von Kunst, Gestaltung und Architektur im Kontext der Olympischen Spiele ist in vieler Hinsicht als politische Aussage zu verstehen. Dabei geht es auch um das Herstellen von Settings, wie die Beispiele aus den einzelnen Bereichen zeigen, setzt die Beschäftigung aber nicht an der Oberfläche, sondern weitaus tiefer an. Die Motive gehen ineinander über, während die kreativen Akteurinnen und Akteure den Bedingungen der Zeit genügende Pläne und Ideen entwickeln, will sich die Stadt weltoffen präsentieren und auch der Freistaat und die Bundesrepublik wissen das Potential zu nutzen. Der Geograph Donald McNeill verfolgt die Entwicklung der Stadt Barcelona seit den 1980er und 1990er Jahren und befasst sich ebenfalls mit der Verbindung von Kunst, Macht und Politik.1541 Um den ideellen Wandel nach dem Ende der Franco-Diktatur deutlich zu machen und eine neue sozialdemokratische Identität in der spanischen Großstadt zu manifestieren, wird der städtische Raum nicht nur zum Meer hin aufgezogen und mit modernen Bauten der Architekten Herzog und de Meuron oder Santiago Calatráva Valls, sondern auch mit Objekten wie dem silbernen Fisch von Frank Gehry an der Strandpromenade ausgestattet.1542 Olympia ist auch für Barcelona ein Ereignis, mit dem sich die Entwicklung des urbanen Raums nachdrücklich beschleunigt. Sichtbar wird an beiden Städten, was Welsch mit der fortschreitenden Ästhetisierung des Alltags meint, und ebenso wird evident, was der Philosoph als Anästhesie bezeichnet.1543 München und Barcelona stellen sich im Rahmen der Spiele als moderne europäische Städte zur Schau und blenden ihre Vergangenheit bewusst wie unbewusst aus. Auch der Soziologe Mike Davis denkt in den 1990er Jahren über die Gestaltung städtischer Räume nach und übt daran auch deutlich Kritik. „Die gegenwärtige Suche nach bürgerlicher Sicherheit lässt sich nicht nur am Design von Busbänken und Riesengebäuden ablesen, sondern ist auch auf der auteur-Ebene sichtbar. Kein Architekt der letzten Jahre hat die Sicherheitsfunktion der Stadt so gekonnt ausgearbeitet oder die daraus entstehende frisson so dreist aufgenommen wie der Pritzker-Preisträger von Los Angeles, Frank Gehry. Wie wir oben sahen ist er (im Disneyschen Sinne) mittlerweile einer der wichtigsten ‚Phantasietechniker‘ des Neoboosterism der 90er Jahre. Eine besonders gute Hand zeigt er bei Überschneidungen, nicht nur zwischen Architektur und moderner Kunst, sondern auch zwischen älteren, vage radikalen, und gegenwärtigen, im Grunde zynischen Stilen. So ist sein Werk eine prinzipielle Absage an die Postmoderne und gleichzeitig eine ihrer schlauesten Sublimierungen; eine nostalgische Be1540 |

Ebd.

1541 |

Vgl. McNeill 1999.

1542 |

Vgl. McNeill 1999: S. 153.

1543 |

Vgl. Welsch 2003: S. 57.

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schwörung des revolutionären Konstruktivismus und ein söldnerhaftes Abfeiern des bürgerlich-dekadenten Minimalismus. Von diesen amphibischen Wechseln und paradoxen Nuancen in Gehrys Werk lebt eine schier unüberschaubare GehryInterpretation, die meist überschäumt vor übertriebener Bewunderung.“1544 Der Stararchitekt begeistert mit seinen Entwürfen auf der ganzen Welt, ausgehend von Los Angeles, der Stadt der Inszenierung und des Kulissenbaus.1545 Davis greift die Faszination für den Architekten auf und betrachtet dessen Werk im Diskursfeld der amerikanischen Postmetropolis. Frank Gehrys Arbeit reflektiert in einer avantgardistischen Weise das Zeitgeschehen, aus Sicht von Davies ruft der Gedanke an die Sicherheit im Zusammenhang mit den Bauten jedoch Irritationen hervor. Unter dem Einfluss der beschleunigten Globalisierung befindet sich Los Angeles in den 1990er Jahren in einem fortgeschritten Stadium der postmodernen Stadtentwicklung. Gehry und seine Bauten sind ausschließlich vor dem Hintergrund eines bestimmten Zeitraums und der entsprechenden Konstellationen zu verstehen. Indem er einen etablierten Künstler aus einer ganz anderen Perspektive hinterfragt, gelingt es dem Stadtforscher, den Blick auf die Bedeutung von Kunst und Design nachhaltig zu erweitern. „Man kann mit den falschen Plausibilitäten und der substantialistischen Verkennung von Orten nur mittels einer stringenten Analyse der Wechselbeziehungen zwischen den Strukturen des Sozialraums und jenen des physischen Raums brechen“,1546 konstatiert der Soziologe Pierre Bourdieu. München als europäische Stadt wird in den langen 1960er Jahren ebenfalls zu einer spezifischen Postme-tropolis. Auch im Zusammenhang mit Olympia 1972 ist die explizite Bezugnahme auf die Kunst durchaus kritisch zu reflektieren, allerdings scheinen die Bemühungen in diesem Moment noch von einer anderen Qualität. Der Graphiker Rolf Müller geht davon aus, dass die Gestaltung der Spiele auch deshalb so nachhaltig zur Geltung gekommen ist, weil das OK ansonsten keine Signets oder Embleme zugelassen hat.1547 Während die Ästhetisierung der Stadt in den 1960er Jahren sichtbar voranschreitet, gewinnt der Inszenierungswert zwar an Gewicht, aber die kommerzielle Besetzung der Bilder und Räume hält sich noch vergleichsweise in Grenzen. Aus der Perspektive der beteiligten Künstlerinnen und Künstler, Architektinnen und Architekten, Designerinnen und Designer sind die Spiele auch als Chance zu begreifen, mit den entsprechenden finanziellen Mitteln können Utopien zeitgleich in einer außerordentlichen Dichte umgesetzt werden. Niemals haben sich derart bedeutende Gestalterinnen und Gestalter in einem solchen Maß mit dem Erscheinungsbild der Stadt beschäftigt wie in den Jahren nach 1966. Die Atmosphäre der Spiele geht wesentlich auf die Ästhetik der Stadt zurück, das Setting wird durch die 1544 |

Davis 2006: S. 275.

1545 |

Vgl. Zukin 1998.

1546 |

Bourdieu 1998: S. 18.

1547 |

Vgl. Gespräch mit Rolf Müller am 27. Oktober 2010.

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Kunst und die Architektur überformt. Die Bilder und Räume, die anlässlich von Olympia entstehen, berühren dabei das Imaginäre von München.1548 Die Bedeutung der historischen Kunststadt wird in die Wirklichkeit der 1960er Jahre übertragen. Die Bauten und Objekte wirken im Kontrast zu dem klassizistischen Gepräge der Stadt und den Pastelltönen der Nachkriegszeit nicht einfach modern, sondern geradezu avantgardistisch. Im Alltag der Stadt München ist die Kunst selbstverständlich. Für die Schwimmhalle im Olympiapark haben die Grazer Architekten Günther Domenig und Eilfried Huth einen entsprechenden Pavillon konzipiert. „Das Restaurant ist als große begehbare Plastik in den Hallenraum gestellt. Es ist in 2 Ebenen gegliedert, den Bereich für Badegäste mit Selbstbedienungstheke auf der Foyerebene und den Bereich für Gäste in Straßenkleidung, die dieses direkt von außen betreten können.“1549 Auch in der unmittelbaren Umgebung des Oberwiesenfelds wird gebaut. Im Nordwesten des Olympiaparks liegt neben dem Dorf auch die Pressestadt, in der „[d]ie vom 22 Geschoß hohen Hochhaus bis zum 2geschossigen Reihenhaus abgestuften Wohngebäude [...] so gruppiert [sind], daß vom Fahrverkehr abgewandte Höfe und Grünzonen entstehen, in denen die Bewohner sich ausruhen und entspannen“1550. Während der Spiele sollen in der Anlage 4000 Reporterinnen und Reporter sowie 2500 Technikerinnen und Techniker aus aller Welt untergebracht werden. Der Entwurf für die Gebäude stammt von den Münchner Architekten Fritz Angerer und Alexander von Branca, wie das Dorf werden die Unterkünfte für die internationalen Medienvertreterinnen und -vertreter mit Mobiliar der Bundeswehr eingerichtet. Das Pressezentrum befindet sich in unmittelbarer Nachbarschaft.1551 Am 18. August 1972 informiert Camillo Noel die Bürgermeister Georg Kronawitter, Helmut Gittel und Eckhart Müller-Heydenreich über den Umstand, dass „[d]ie ursprünglich vorgesehene Begrüßungsparty für die akkreditierten Journalisten im Pressezentrum am 25. August 1972 um 14 Uhr entfällt, da die Zahl der Journalisten so groß ist, daß eine Begrüßungsfeier für alle technisch nicht organisiert werden kann. Es findet täglich im Dachgarten des Hochhauses in der Pressestadt eine Begrüßungsparty für die am Tag eingetroffenen Journalisten statt, ab 20. August ist das sogar zweimal täglich der Fall, um 17.30 Uhr und um 20.30 Uhr.“1552 Im ganzen Stadtgebiet werden Sportanlagen errichtet und bestehende Einrichtungen saniert, dazu kommen temporäre Bauten für die Dauer der Sommerspiele. Kioske 1548 |

Vgl. Lindner 2008 a.

1549 |

Organisationskomitee für die Spiele – Die Bauten 1972: S. 71.

1550 |

Ebd.: S. 170.

1551 |

Ebd.: S. 168-169.

1552 |

Schreiben von Camillo Noel an die Bürgermeister Georg Kronawitter, Helmut Gittel

und Eckhart Müller-Heydenreich, 18. August 1972. In: Olympiade 1972 – Allgemeiner Schriftwechsel aus dem Büro des Bürgermeisters – Camillo Noel. Stadtarchiv München, 521.

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und Pavillons werden auch in der Innenstadt aufgestellt. Gebäude wie die Messehallen an der Theresienhöhe werden im Rahmen der Spiele zu Stätten des Sports. Wechselseitig sind die städtischen Räume mit den olympischen Orten verknüpft. „Die [...] ‚Spiele der kurzen Wege‘ erhalten ihre besondere Atmosphäre durch den Austragungsort München, die Stadt der Lebensfreude. Es sollen heitere Spiele werden.“1553 Stadtdirektor Otto Haas vom Münchner Presseamt bezieht das Motto nicht nur auf die Erreichbarkeit der Sportstätten, sondern auch auf die Verknüpfung mit München. Die Ausstrahlung der schönen Stadt wird in die Präsentation der Spiele einbezogen, beeindruckende Bilder liefert zum Beispiel das Bogenschießen im Englischen Garten. In einer Notiz vom 25. Februar 1969 ist vermerkt, dass Richard Roth, Mitglied des Kunstausschusses, den Vorschlag unterbreitet hat, den Marathon durch die Ludwigstraße führen zu lassen. „Herr Professor Richard Roth erwartet sich hier rund 200.000 zahlende Besucher in einer typisch münchnerischen Umgebung.“1554 Im Nymphenburger Schlosspark finden die Dressurwettbewerbe statt, viele Menschen erinnern sich an die besonders stimmungsvolle Szenerie in der prachtvollen Anlage. „Pferd und Reiter zeichneten im Wettkampf kunstvolle Figuren in das Sandviereck. Die bunt gekleideten Zuschauerscharen, saßen beidseitig, teils unter leicht gewölbten Dächern, welche mit durchscheinender Folie überspannt waren. Die grüne Baumkulisse im Hintergrund, zur einen Seite der Achse der große Wasserkanal, zur anderen die glanzvolle Symmetrie des Schlosses. Dies war ein gelungener Einklang höfischer Noblesse vergangener Tage und olympischen Spiels neuer Zeit.“1555 Rund 8 000 Besucherinnen und Besuchern fassen die Tribünen im Park; die Münchnerin Friedl Rößler ist von der Veranstaltung begeistert, die junge Frau hat die Eintrittskarten über ihre Tätigkeit bei einer Anwaltskanzlei erhalten.1556 Adelheid Boeck, die beim ADAC beschäftigt gewesen ist, hat ebenfalls Reitwettbewerbe besucht, in ihrem Programmheft sind die Punkte der einzelnen Durchläufe sowie die Namen und Wertungen der Reiterinnen und Reiter notiert. Das Springreiten findet auf den Anlagen in Riem und in Poing statt, der „Große Preis der Nationen“ im Springreiten wird am letzten Tag der Spiele im Olympiastadion ausgetragen.1557

1553 |

Haas, Otto (1972): Traumaufgabe einer Werbung – für Olympia 1972. In: Weitpert,

Hans (Hg.): Olympia in München. Offizielles Sonderheft 1972 der Olympiastadt München. München, S. 94-99. Hier: S. 94. 1554 |

Notiz vom 25. Februar 1969. In: Olympiade 1972 – Emblem. Stadtarchiv Mün-

chen, 541. 1555 |

Organisationskomitee für die Spiele – Die Bauten 1972: S. 149.

1556 |

Vgl. Gespräch mit Friedl Rößler am 27. Mai 2009.

1557 |

Vgl. Programmheft Reiten, Olympische Spiele 1972. In: Private Sammlung Adel-

heid Boeck.

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Auch über die Stadtgrenzen hinaus werden Bezirkssportanlagen wie das Freisinger Bad oder das Schwimmbad in Gauting umgebaut und als Trainingsstätten genutzt.1558 Während sich die sowjetische Mannschaft im Schyrenbad an der Isar auf die Entscheidungen vorbereitet, trainieren die amerikanischen Schwimmer mit ihrem Star Mark Spitz im Dantestadion.1559 Nachdem der Schliersee, ebenso wie die anderen bayerischen Binnenseen als ungeeignet für Ruderwettkämpfe befunden worden ist, wird eine künstliche Strecke unweit von Schleißheim gebaut.1560 In Hochbrück bei Garching entsteht parallel eine neue Schießanlage.1561 Das Radrennen über 100 km wird entlang der Autobahn zwischen Starnberg und Penzberg ausgetragen, der Rundkurs führt durch Grünwald.1562 Nicht nur auf das Umland strahlt das Ereignis aus, Vorrundenspiele im Handball und im Fußball werden in ganz Bayern veranstaltet. Zurückzuführen ist diese Streuung auf einen Beschluss des Bayerischen Landtags, nach dem auch andere Orte im Freistaat in die Austragung von Olympia einbezogen werden sollen.1563 Wie die Historikerin Christine Egger erklärt, hat sich diese Verteilung sowohl für die Sportler als auch für das Publikum als Erfolg erwiesen. Mit großer Begeisterung empfangen etwa die Zuschauerinnen und Zuschauer in Böblingen, Regensburg oder auch Ingolstadt und den baden-württembergischen Städten Ulm und Göppingen die Mannschaften zu Vorrundenspielen. Auf diese Weise breitet sich die heitere Atmosphäre in der Fläche des Landes aus. „Als zentralern Austragungsort für das olympische Fußballturnier bestimmte das OK das Münchner Olympia-Stadion, das auch für die Leichtathletik-Wettbewerbe vorgesehen war. Für die Spiele der Vor- und Zwischenrunde wurden in Kooperation mit dem Deutschen Fußballverband (DFB) am 27. November 1971 aber das Frankenstadion in Nürnberg, das Rosenaustadion in Augsburg, das ESV-Stadion in Ingolstadt, das Jahnstadion in Regensburg und das Dreiflüssestadion in Passau ausgewählt.“1564

1558 |

Vgl. Olympische Baugesellschaft und Deutscher Sportbund – Handakt Camillo

Noel. Stadtarchiv München, 515. 1559 |

Vgl. Gespräche im Rahmen des Sammelaufrufs für die Ausstellung „München 72“

vom Haus der Bayerischen Geschichte und dem Institut für Bayerische Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München am 9. und 10. März 2010. 1560 |

Vgl. Lerchenperg, Harald (Hg.) (1972): Olympische Spiele 1972. Sapporo – Mün-

chen. München, S. 317. 1561 |

Vgl. Lerchenperg 1972: S. 294.

1562 |

Vgl. ebd.: S. 313, 315.

1563 |

Vgl. Berücksichtigung anderer bayerischer Städte bei der Durchführung olym-

pischer Wettkämpfe, Bd. 1, 1967. Bayerisches Hauptstaatsarchiv, StK 14 051. Zitiert nach: Kramer 2008. 1564 |

Egger, Christine (2010 a): Olympia der kurzen Wege. Wettkampfstätten außerhalb

Münchens. In: Haus der Bayerischen Geschichte (Hg.): München ‘72. (Edition Bayern, Sonderheft 2) Augsburg, S. 28-31. Hier: S. 30.

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1972 ist der Kanuslalom als Disziplin der Olympischen Spiele eingeführt worden, obgleich die Isar starke Strömungen hat, kommt der Fluss aber nicht wie zunächst vorgesehen als Wettkampfstätte in Frage. Währenddessen bewirbt sich die Stadt Augsburg um die Austragung der Konkurrenzen, und im Siebentischwald entsteht das erste Kanuslalomstadion der Welt. Die Rasenterrassen für das Publikum fügen sich harmonisch in die Landschaft am Lech. Zehntausende Besucherinnen und Besucher strömen zu den Wettbewerben am Eiskanal, die Entscheidungen in Augsburg werden zu einem Publikumserfolg.1565 „‚Wo wird gesegelt?‘ wollte IOCMitglied König Konstantin von Griechenland, ein ehemaliger Segelsportler und Goldmedaillen-Gewinner im Drachen, schon vor der Wahl der Olympiastadt für das Jahr 1972 wissen. Die Antwort auf seine Frage ließ jedoch auch nach der Vergabe der Spiele an München noch einige Zeit auf sich warten. In ihrer Bewerbung hatte die Stadt bayerische Gewässer wie den Chiemsee oder den württembergischen Bodensee als mögliche Austragungsorte der Segelwettbewerbe vorgeschlagen.“1566 Die Seen im Süden der Bundesrepublik erweisen sich allerdings auch für diese Konkurrenzen als ungeeignet, zudem sieht das IOC in seinem Reglement vor, dass die Regatten auf offenen Gewässern stattfinden müssen.1567 Wenngleich die Austragungsorte grundsätzlich nicht all zu weit von der Olympiastadt entfernt liegen sollen, erlauben die Statuten eine Ausnahme für das Segeln. Zum zweiten Mal nach den Spielen von 1936 wird Kiel Schilksee zum Schauplatz olympischer Wettkämpfe, zur Eröffnungsfeier am 27. August 1972 reist eine bayerische Trachtengruppe an die Ostsee und übermittelt Grüße.1568 „Nur nach dem Dirndl wird man in Kiel vergeblich Ausschau halten: An der Kieler Förde dominiert der maritime Look“,1569 heißt es in der Informationsschrift für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des OK. „Da alle Sportlerinnen und Sportler im Olympischen Dorf in München untergebracht waren, mussten die Mannschaften zu den Wettkampfstätten außerhalb Münchens anreisen, wofür die Bundesbahn Sonderzüge zur Verfügung stellte. Diese ‚rollenden Olympiadörfer‘ bestanden ausschließlich aus Wagen der 1. Klasse, hatten Liegewagen mit Massageabteilen, Konferenzräume standen zur Verfügung, und in den Speisewägen wurden Spieler und Funktionäre kulinarisch versorgt.“1570 1565 |

Vgl. Egger, Christine (2010 b): Augsburg. Das erste Kanuslalomstadion der Welt.

In: Haus der Bayerischen Geschichte (Hg.): München ‘72. (Edition Bayern, Sonderheft 2) Augsburg, S. 32-35. 1566 |

Egger, Christine (2010 c): Kieler Wasserspiele. Das Olympiazentrum Schilksee.

In: Haus der Bayerischen Geschichte (Hg.): München ‘72. (Edition Bayern, Sonderheft 2) Augsburg, S. 36-39. Hier: S. 36. 1567 |

Vgl. Egger, Christine 2010 a: S. 29.

1568 |

Vgl. Egger, Christine 2010 c: S. 38.

1569 |

Organisationskomitee der Olympischen Spiele (Hg.) (1972): Sportstätten außer-

halb des Olympiaparks. Lernprogramm Nr. 3, Punkt 04. 1570 |

Egger, Christine 2010 a: S. 30-31.

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D ER K ÖNIGSTIGER TUAH . E IN G ASTGESCHENK AUS M AL AYSIA Die Internationalisierung der städtischen Beziehungen, die in den langen 1960er Jahren kontinuierlich anwächst und sich mit dem Zuschlag und den Vorbereitungen für die Olympischen Spiele noch einmal deutlich steigert, erreicht im August und September 1972 ihren Höhepunkt. Der Schriftwechsel aus dem Büro des Münchner Oberbürgermeisters, der in dieser Phase von Camillo Noel, dem persönlichen Referenten von Hans-Jochen Vogel und von dessen seit Juli 1972 amtierenden Nachfolger Georg Kronawitter, verwaltet wird, lässt nachvollziehen, wie die bayerische Landeshauptstadt als Cosmopolis nicht nur internationale Kontakte pflegt, sondern gleichzeitig zur Bühne des politischen Weltgeschehens wird. Während im Rathaus über die Beleuchtung der Straßen während der Abschlussfeier oder die inhaltliche Abstimmung der Reden zum Empfang des Olympischen Feuers auf dem Königsplatz nachgedacht wird, bittet der Chef de Mission der Mannschaft von Kolumbien, Guillermo Quiltro, beim Oberbürgermeister einen Antrittsbesuch machen zu dürfen. Der Chef de Mission von Trinidad bekundet ebenfalls Interesse an einem Empfang (Notiz von Kronawitters Büro am 21. August 1972: Bürgermeister Müller-Heydenreich wird den Termin wahrnehmen). Über die Absprache ist Fräulein von Stülpnagel von der Protokoll-Abteilung des Olympischen Dorfs zu informieren.1571 Auch der Bürgermeister von Djakarta und andere politische Würdenträger senden Grußadressen an den Oberbürgermeister. Hinzu kommen Schreiben aus Wirtschaftskreisen und immer wieder auch von Privatpersonen, die vor Jahrzehnten von Bayern aus in die USA oder nach Australien ausgewandert sind.1572 Intensiv bereitet die Stadt München den Besuch des Oberbürgermeisters bzw. des Vorsitzenden des Exekutivausschusses des Moskauer Stadtsowjets, Wladimir Fjodorowitsch Promyslow, vor. Kay Schiller und Christopher Young gehen in ihrer Studie ausgiebig auf die deutsche Ostpolitik mit dem Ziel der Entspannung und die Beziehungen zu Moskau ein. Schon zur offiziellen Eröffnung des Olympiastadions im Frühjahr 1972 ist die Fußballmannschaft der Sowjetunion gegen das Team der Bundesrepublik angetreten. Die diplomatische Situation gestaltet sich jedoch schwierig, erstmals treten bei den Spielen in München zwei deutsche Kader gegeneinander an.1573 An der Organisation des Besuchs von Promyslow im August 1972 ist eine Reihe von Personen beteiligt, unter anderem muss abgeklärt werden, ob ein Hubschrauberflug über die Stadt möglich ist. Mit dem Hinweis auf das Flugverbot während der Spiele wird dem Botschafter der Türkei eine Ballonfahrt zur Begrüßung der türkischen Olympiamannschaft

1571 |

Vgl. Olympiade 1972 – Allgemeiner Schriftwechsel aus dem Büro des Bürgermei-

sters – Camillo Noel. Stadtarchiv München, 521. 1572 |

Vgl. ebd.

1573 |

Schiller; Young 2010: S. 181-186.

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gleichzeitig untersagt, die Einladungen sind allerdings schon verteilt worden.1574 Das Programm für die russische Delegation sieht am Tag der Eröffnung der XX. Olympischen Spiele, ein Treffen von Promyslow und Kronawitter vor, es folgen eine bayerische Brotzeit und ein Rundflug mit der Bundeswehr, die Teilnahme an der offiziellen Eröffnungsfeier, einem von Vogel gegebenen Essen im Drehrestaurant des Fernsehturms sowie dem Empfang von Bundespräsident Heinemann um 20.30 Uhr im Antiquarium der Residenz. Für den folgenden Tag ist ein Besuch der städtischen Sehenswürdigkeiten oder auch ein Ausflug ins bayerische Oberland vorgesehen. Promyslow residiert im Hotel „Bayerischer Hof“.1575 Im Februar 1972 wendet sich die Deutsche Botschaft in Kuala Lumpur erstmals mit einem Schreiben, das die Fußballmannschaft von Malaysia betrifft, an das Auswärtige Amt in Bonn. „Der Ministerpräsident des malaysischen Bundesstaates Selangor, Dato Harun, der dem Vorstand der ‚Football Association of Malaysia‘ angehört und die malaysische Fußballmannschaft zu den olympischen Spielen begleiten wird, hat bei der Botschaft angefragt, ob die Stadt München einen jetzt vier Monate alten männlichen Tiger als Gastgeschenk der Fußballer aus Malaysia annehmen würde. Dato Harun will mit dem ‚Zak‘ genannten Tiger vor allem der Münchner Jugend eine Freude bereiten.“1576 Dem Brief, der an das Büro des Münchner Oberbürgermeisters weitergeleitet wird, liegt ein Vermerk von Legationsrat Martius bei: „Sehr geehrter Herr Noel! Hiermit sende ich ihnen ein Doppel eines Berichts der Deutschen Botschaft in Kuala Lumpur vom 29. Februar 1972. Ich wäre Ihnen dankbar für eine Stellungnahme zu der Frage, ob die Stadt München den Tiger als Geschenk annehmen würde. Mit allen guten Wünschen für ihre Reise nach Moskau und einen Erfolg der Ausstellung bin ich Ihr Goetz Martius.“1577 Einem weiteren Schreiben ist zu entnehmen: „Der Ministerpräsident des malaysischen Bundesstaates Selangor, Dato Harun, hat bereits am 1. März 1972 den als Gastgeschenk der malaysischen Olympiafußballmannschaft für die Stadt München vorgesehenen Tiger in Empfang genommen. Es handelt sich um einen sechs Wochen alten Tiger, der auf den Namen Tuah (malaiisch für ‚Glück‘) ‚getauft‘ wurde. Diese Zeremonie ist von der hiesigen Presse und vom Fernsehen stark beachtet worden. Der Ministerpräsident, der als Vorsitzender des malaysischen Fußballverbandes die Olympiamannschaft nach München begleiten wird, teilte mit, daß ein Tiger als Gastgeschenk gewählt wurde, weil er das Wappentier des malaysischen Fuß1574 |

Vgl. Olympiade 1972 – Allgemeiner Schriftwechsel aus dem Büro des Bürgermei-

sters – Camillo Noel. Stadtarchiv München, 521. 1575 |

Vgl. ebd.

1576 |

Schreiben der Deutschen Botschaft in Kuala Lumpur an das Auswärtige Amt in Bonn

vom 29. Februar 1972. In: Olympische Baugesellschaft und Deutscher Sportbund – Handakt Camillo Noel. Stadtarchiv München, 515. 1577 |

Brief des Auswärtigen Amts an Camillo Noel, 13. März 1972. In: Olympische Bauge-

sellschaft und Deutscher Sportbund – Handakt Camillo Noel. Stadtarchiv München, 515.

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ballverbandes sei.“1578 Unterzeichnet sind die Schriftstücke aus Kuala Lumpur von Gerhard Fischer, dem Deutschen Botschafter in Malaysia. Am 7. April 1972 wendet sich Arnd Wünschmann, der zoologische Direktor des Tierparks, an Camillo Noel, den Referenten von Vogel: „Sehr geehrter Herr Noel! Für Ihr freundliches Anerbieten, dem Tierpark Hellabrunn zu einem männlichen Königstiger zu verhelfen, der als Geschenk der malaysischen Regierung für den Oberbürgermeister bestimmt ist, danke ich Ihnen vielmals. Ich deutete Ihnen allerdings bereits telefonisch an, daß uns – trotz der Freude über die Bereicherung unseres Tierbestandes – mit einem einzelnen Tigermännchen nicht allzusehr gedient ist. Das Tier würde sich hier recht einsam fühlen, denn eine dazu passende Partnerin läßt sich gegenwärtig in europäischen Zoos kaum beschaffen. Auch der Königstiger zählt leider inzwischen zu den bedrohten Tierarten, und eine Einfuhr aus dem Herkunftsland wäre eigentlich nur zu verantworten, wenn es sich um ein Pärchen handeln würde, das später selbst für Nachwuchs sorgt. Ich wäre Ihnen deshalb sehr dankbar, wenn Sie auf diplomatischem Wege erkunden könnten, ob die Regierung von Malaysia der Stadt München möglicherweise ein Tiger-Paar schenken würde, und ich hoffe, daß Sie die Bitte nicht als Unbescheidenheit verstehen. Obwohl unsere Finanzlage bekanntlich nicht zum Besten steht, wären wir unter Umständen bereit, das Weibchen zu kaufen oder ein Gegengeschenk aus unserem Tierbestand zur Verfügung zu stellen. In jedem Fall möchte ich Sie bitten, uns über alle näheren Umstände der Schenkungsaktion zu unterrichten. Ich möchte Ihnen bei der Gelegenheit die Bitte vortragen, die ich wegen der Kürze der Zeit dem Herrn Oberbürgermeister in unserem Gespräch am 14. März nicht mehr unterbreiten konnte: Hellabrunn ist jetzt mehr als je zuvor auf Spenden und Hilfe jeder Art angewiesen, und wir wären außerordentlich dankbar, wenn die an den Olympischen Spielen teilnehmenden Nationen der Stadt München anstelle anderer Geschenke lebende Tiere für den Tierpark übergeben würden. Haben Sie die Möglichkeit, uns hierbei Ihre Vermittlung zuteilwerden zu lassen? Ich bin gerne bereit, mit Ihnen hierüber einmal ein persönliches Gespräch zu führen, und verbleibe mit freundlichen Grüßen Dr. A. Wünschmann.“1579 Noel gibt die Ausführungen des Experten noch am selben Tag an das Auswärtige Amt in Bonn weiter: „Sehr geehrter Herr Dr. Martius! Wir haben uns ja bereits am Telefon unterhalten über das Angebot der malaysischen Fußballmannschaft, der Stadt München anläßlich der Olympischen Spiele einen jungen männlichen 1578 |

Schreiben der Deutschen Botschaft in Kuala Lumpur, 10. März 1972, weiterge-

leitet am 16. März 1972. In: Olympische Baugesellschaft und Deutscher Sportbund – Handakt Camillo Noel. Stadtarchiv München, 515. 1579 |

Schreiben von Arnd Wünschmann an Camillo Noel, 7. April 1972. In: Olympische

Baugesellschaft und Deutscher Sportbund – Handakt Camillo Noel. Stadtarchiv München, 515.

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Tiger als Geschenk zu überreichen. Selbstverständlich ist die Landeshauptstadt München gerne bereit, diese Gabe anzunehmen. Unser Tierpark wird sich über diesen Zuwachs freuen. Allerdings ist damit ein weiteres Problem verknüpft. Da der Tierpark im Augenblick keine bengalischen Tiger hat, müßte innerhalb eines gewissen Zeitraums auch ein Weibchen beschafft werden, da es sonst zu großen Schwierigkeiten in der Tierhaltung kommt. Vielleicht besteht die Möglichkeit, daß unsere Botschaft in  Kuala Lumpur dem Tierpark behilflich ist, wenn dieser Fall eintritt. Selbstverständlich erwartet hier niemand ein weiteres Geschenk. Der Tierpark wäre aber sehr dankbar, wenn ihm der Ankauf des zweiten Tieres zu einem möglichst günstigen Preis vermittelt werden könnte. Mit freundlichen Grüßen Ihr Camillo Noel.“1580 Wenige Tage darauf antwortet Noel dem Zoodirektor: „Sehr geehrter Dr. Wünschmann! [...] Es dürfte kaum möglich sein, von Malaysia die Schenkung eines Tiger-Pärchens (anstatt nur eines Männchens) unverblümt zu erbitten. Ich habe das Auswärtige Amt jedoch auf das Problem hingewiesen und darum gebeten, daß unsere Botschaft in Kuala Lumpur mindestens dabei behilflich sein möge, den Kauf eines Tiger-Weibchens zu einem günstigen Preis zu vermitteln. Unter Umständen wird in Kuala Lumpur dieser Hinweis als ‚Wink mit dem Zaunpfahl‘ verstanden. Im Augenblick bleibt uns nichts anderes übrig, als die weitere Entwicklung abzuwarten. Ich werde Sie darüber selbstverständlich auf dem Laufenden halten.“1581 Am 16. Mai berichtet Martius an Noel: „Auf Ihr Schreiben vom 7. April wegen des malaysischen Tigerweibchens berichtet die Botschaft in Kuala Lumpur, daß die malaysische Seite über den Wunsch, dem Tiger ein Weibchen zu beschaffen, unterrichtet worden sei. Sie teilte der Botschaft mit, daß sie den nächsten Wurf einer Tigerin abwarten und dann die Botschaft verständigen werde.“1582 In einer Telefonnotiz für Noel setzt sich die Geschichte nach einiger Zeit fort: „Am 2.8.1972 hat Herr Hauser von der Verbindungsstelle des Auswärtigen Amtes in München [...] mitgeteilt, daß eine Delegation des malaysischen Fußballverbands mit dem gestifteten Tiger und seinem Wärter am 17.8.1972 mit LH 962 in München ankommt. Die Abholung auf dem Flugplatz soll von der Stadt sichergestellt werden. Ferner hat der malaysische Fußballverband darum gebeten, der Wärter, Herr Tumar B. Zaid, möge auf Kosten des Tierparks Hellabrunn einige Tage in München bleiben, um seinen Münchner Kollegen einweisen zu können. Herr 1580 |

Schreiben von Camillo Noel an das Auswärtige Amt in Bonn, 7. April 1972. In: Olym-

pische Baugesellschaft und Deutscher Sportbund – Handakt Camillo Noel. Stadtarchiv München, 515. 1581 |

Schreiben von Camillo Noel an Arnd Wünschmann an, 11. April 1972. In: Olympi-

sche Baugesellschaft und Deutscher Sportbund – Handakt Camillo Noel. Stadtarchiv München, 515. 1582 |

Schreiben des Auswärtigen Amts in Bonn an Camillo Noel, 16. Mai 1972. In: Olym-

pische Baugesellschaft und Deutscher Sportbund – Handakt Camillo Noel. Stadtarchiv München, 515.

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Hausner bittet um rasche Antwort.“1583 Noel informiert Wünschmann: „Die Verbindungsstelle des Auswärtigen Amtes in München hat mitgeteilt, daß eine Delegation des malaysischen Fußballverbandes mit einem jungen Tiger samt Wärter am 17. August 1972 [...] in München ankommt. Wir haben über diese Angelegenheit ja bereits einen Schriftwechsel geführt. Der malaysische Fußballverband als Stifter des Tigers hat darum gebeten, daß der Wärter, Herr Tumar B. Zaid, einige Tage auf Kosten des Tierparks Hellabrunn in München bleiben könne, um seine Münchner Kollegen mit dem Tier vertraut zu machen. Nach einer Rücksprache mit Herrn Zoll – Sie waren leider abwesend – habe ich Herrn Hausner von der Verbindungsstelle des Auswärtigen Amtes [...] erklärt, daß von seiten des Tierparks dafür grundsätzlich Bereitschaft bestehe. Ich bitte Sie, die konkreten Abmachungen unmittelbar mit Herrn Hausner zu treffen. Ferner bitte ich darum, daß der Tiger am 17. August auf dem Flugplatz München-Riem in Empfang genommen wird. Dabei sollte wohl auch ein Vertreter der Landeshauptstadt zugegen sein. Ich bitte in diesem Punkt um telefonische Verständigung. Die eigentliche Empfangszeremonie mit Pressephotographen sollte meiner Meinung nach aber wohl erst einige Tage später in Gegenwart des Vertreters von Malaysia und eines Vertreters der Landeshauptstadt München im Tierpark selbst stattfinden. Auch darüber würde ich mich gerne mit Ihnen unterhalten.“1584 Am 9. August übermittelt Noel weitere Informationen nach Hellabrunn: „Von seiten der Stadt werde ich zur Übernahme des Tigers am 17. August auf dem Flugplatz München-Riem sein, um dem Ministerpräsidenten des Staates Selangor, Herr Dato Harun, den Dank der Landeshauptstadt München auszusprechen. Die eigentliche Übergabezeremonie soll nach unserer bereits bestehenden Absprache, mit der auch das Auswärtige Amt einverstanden ist, am 18. August um 10 Uhr im Tierpark Hellabrunn erfolgen. Daran wird auch der Deutsche Botschafter in Malaysia, Herr Gerhard Fischer, teilnehmen. Ferner hat Oberbürgermeister Kronawitter seine Teilnahme bereits zugesagt. Von seiten des Tierparks oder der Landeshauptstadt München sollte dem Ministerpräsidenten Harun als Zeichen des Dankes ein Geschenk übergeben werden. [...] Ferner sollte wohl der Tierpark Hellabrunn rechtzeitig die Presse unterrichten, damit eine ausreichende Publizität garantiert ist. Ich halte das für umso mehr angebracht, als von malaysischer Seite angekündigt wurde, daß in wenigen Monaten als weiteres Geschenk ein junges Tiger-Weibchen dem Tierpark Hellabrunn übersandt werden soll.“1585 Auf dem Durchschlag des Briefs für das Direktorium vermerkt Noel: 1583 |

Telefonnotiz vom 2. August 1972, Büro Camillo Noel. In: Olympische Baugesell-

schaft und Deutscher Sportbund – Handakt Camillo Noel. Stadtarchiv München, 515. 1584 |

Schreiben von Camillo Noel an Arnd Wünschmann, 7. August 1972. In: Olympische

Baugesellschaft und Deutscher Sportbund – Handakt Camillo Noel. Stadtarchiv München, 515. 1585 |

Schreiben von Camillo Noel an Arnd Wünschmann, 9. August 1972. In: Olympische

Baugesellschaft und Deutscher Sportbund – Handakt Camillo Noel. Stadtarchiv München, 515.

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„Ich schlage vor, für Ministerpräsident Harun einen Schäffler aus Porzellan als Geschenk der Landeshauptstadt zur Verfügung zu stellen. Ferner muß wohl zur Abholung des Ministerpräsidenten am 18. August 1972 um 10 Uhr ein Wagen zur Verfügung gestellt werden.“1586 Eine Presseerklärung der Landeshauptstadt München fasst zusammen: „Einen neun Monate alten männlichen Tiger names ‚Tuah‘ (‚Glück‘) übergab am Freitag im Tierpark Hellabrunn der Leiter der malaysischen Olympia-Delegation, Dato Harun, Ministerpräsident von Selangor, an Oberbürgermeister Georg Kronawitter im Rahmen einer kleinen Feier, an der die gesamte Olympia-Mannschaft von Malaysia teilnahm. Das Stadtoberhaupt bedankte sich in herzlichen Worten für dieses großzügige Geschenk, das eine besonders willkommene Bereicherung für Hellabrunn sei. Dies gelte umso mehr, als in einigen Monaten auch noch ein Weibchen nachkomme, das im Zoo von Kuala Lumpur bereits geboren wurde. Scherzhaft bemerkte Kronawitter dazu, leider habe ‚Tuah‘ damit keine freie Wahl mehr seiner Lebensgefährtin, aber München sei glücklich, daß es die Möglichkeit erhalte, im Tierpark [...] eine Familie malaysischer Tiger heranzuziehen. Der malaysischen Mannschaft wünschte er gute und angenehme Tage in München und viel Erfolg bei den Olympischen Spielen.“1587 Aus seinem Hotel schreibt Botschafter Fischer am Abend: „Lieber Herr Noel, ich bin, trotz oder vielleicht gerade wegen des Starkbiers schnell und leicht an den Chiemsee zurückgekehrt. Sie haben sicher auch empfunden, wie sehr sich die Malaysier über den Empfang heute früh gefreut haben. Der Ministerpräsident wollte als Präsident der Mannschaft nicht mit leeren Händen nach München kommen; das Interesse an dem kleinen Tuah und damit an der Mannschaft hat unseren Gästen sehr wohlgetan. Ihnen und allen, die an der Vorbereitung und Durchführung des heutigen Empfangs mitgewirkt haben, möchte auch ich für die Aufmerksamkeit herzlich danken. Bitte übermitteln Sie meinen Dank auch dem Oberbürgermeister. Vielleicht haben wir noch einmal Gelegenheit zusammenzutreffen [...].“1588 Noel bedankt sich auch bei Harun: „Your Excellency, attached to this letter I am sending you five photos of the ceremony,

1586 |

Notiz auf dem Durchschlag des Schreibens von Camillo Noel an Arnd Wünsch-

mann, 9. August 1972. In: Olympische Baugesellschaft und Deutscher Sportbund – Handakt Camillo Noel. Stadtarchiv München, 515. 1587 |

Presseerklärung der Landeshauptstadt München, 18. August 1972. In: Olympi-

sche Baugesellschaft und Deutscher Sportbund – Handakt Camillo Noel. Stadtarchiv München, 515. 1588 |

Schreiben von Gerhard Fischer an Camillo Noel, 18. August 1972. In: Olympische

Baugesellschaft und Deutscher Sportbund – Handakt Camillo Noel. Stadtarchiv München, 515.

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which we had at the Munich zoo. It will always be a pleasure to remember this day with deep appreciation.“1589 Einige Tage nach der offiziellen Übergabe berichtet Wünschmann aus dem Tierpark: „Nochmals sehr herzlichen Dank für alle Ihre Bemühungen in der Tiger Angelegenheit! Leider fiel in den Kelch unserer Freude inzwischen ein großer Wermutstropfen: erst nachdem der offizielle Trubel vorüber war, hatten wir selbst Gelegenheit, uns den Tiger Tuah genauer anzusehen, und wir mussten dabei feststellen, daß er seinem glücksverheißenden Namen nicht viel Ehre macht! Das arme Tier ist nicht in der Lage, seine Hinterbeine richtig zu gebrauchen. Wir schrieben das zunächst der Aufregung und der Angst zu, der Tuah während des Transportes und der Übergabezeremonie ausgesetzt war. Inzwischen wissen wir aber, daß diese Symptome von einer angeborenen oder in früher Jugend erlittenen Mißbildung herrühren. Die Röntgenuntersuchung zeigte, daß der Tiger eine abnorme Verkrümmung der Wirbelsäule (Lordose) im Lendenbereich aufweist, die eine permanente Nervenquetschung bewirkt. Dadurch sind die Funktionen der Hinterextremitäten zeitlebens beeinträchtigt. Das Tier wird niemals normal gehen, geschweige denn springen können. Eine Heilungsaussicht besteht kaum. Die Behinderung ist so offensichtlich, daß sie selbst unbefangenen Tierparkbesuchern sofort auffällt, wie ich in den letzten Tagen mehrfach feststellte. Eine genaue Kotuntersuchung ergab außerdem, daß das Tier hochgradig mit Katzenspulwürmern und vor allem auch mit Hakenwürmern befallen ist. Letztere sind besonders gefährliche Parasiten, die mit keinem Mittel bekämpft werden können. Wir mußten bereits strenge Sicherheitsmaßnahmen treffen, um der zu befürchtenden Übertragung von Hakenwürmern auf unsere wertvollen Raubkatzen vorzubeugen! Was sollen wir nun mit diesem ‚Danaergeschenk‘ tun? Ich kann es eigentlich nicht verantworten, das Tier in Hellabrunn zu behalten, schon allein wegen der Infektionsgefahr für unseren Bestand. Ich möchte sie deshalb bitten, Ministerpräsident Dato Harun, noch während seines Aufenthaltes in München ganz offen von den genannten Tatsachen zu berichten und ihn zu ersuchen, TUAH bei der Heimreise seiner Mannschaft wieder mit zurückzunehmen. Herrn Botschafter Fischer habe ich schon vor einigen Tagen informiert. Falls die Rücknahme des Tigers aus diplomatischen Gründen unmöglich ist, müßte uns freie Hand gegeben werden, das Tier – nach den Olympischen Spielen – notfalls einschläfern zu lassen. Einen anderen Ausweg sehe ich leider nicht. In diesem Falle müßte die ganze unerfreuliche Angelegenheit mit größter Vertraulichkeit behandelt werden. Vielleicht sieht das Auswärtige Amt eine Möglichkeit, dieses Tier zu einem späteren Zeitpunkt

1589 |

Schreiben von Camillo Noel an Dato Harun, 22. August 1972. In: Olympische Bau-

gesellschaft und Deutscher Sportbund – Handakt Camillo Noel. Stadtarchiv München, 515.

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durch ein einwandfreies, gesundes Pärchen junger malaysischer Tiger ersetzen zu lassen.“1590 Wünschmann bittet Noel um eine Entscheidung. Am 26. August, dem Tag der Eröffnung der Olympischen Spiele, schreibt Harun, der sich weiter in München befindet: „Sehr geehrter Herr Noel. Wir haben heute Ihre schönen Fotos erhalten. Sie sind eine herrliche Erinnerung an die feierliche Stunde in Hellabrunn. Wir sind sehr glücklich, dass Ihnen unser kleiner Tiger Freude macht. Bitte empfehlen Sie mich und das gesamte Malaysische Team dem Herrn Oberbürgermeister.“1591 Zwei Tage später wendet sich Noel über die Verbindungsstelle „Olympia“ des Auswärtigen Amts, das in der Winzererstraße 47 e Quartier bezogen hat, an Martius: „Zu Ihrer Information übermittle ich Ihnen beiliegend einen Brief des zoologischen Direktors des Tierparks Hellabrunn über den unglücklichen Tiger, den die malaysische Olympia-Delegation als Geschenk mitgebracht hat. Wir haben uns ja bereits am Telefon darüber unterhalten. Ich selbst halte es nicht für opportun, den Ministerpräsidenten Dato Harun von uns aus auf die Lage hinzuweisen. Das sollte wohl nur geschehen, wenn er sich selbst nach dem Tier erkundigen sollte. Ich glaube, daß das sicher auch im Sinne des Auswärtigen Amtes ist. Im übrigen habe ich auch Herrn Oberbürgermeister Kronawitter über die Lage informiert und Herrn Dr. Wünschmann gesagt, daß er nach seiner Verantwortung als Zoodirektor handeln müsse. Wie sie wissen, will Malaysia in einigen Wochen noch ein Tiger-Weibchen schenken. Um die Sache auch für die Zukunft in die rechte Bahn zu bringen, bitte ich Sie um ihren Rat, ob eventuell eine Information über den Zustand und das Schicksal des Tiger-Männchens TUAH zwischen den Tierparks von München und Kuala Lumpur laufen soll oder ob dies besser auf diplomatischem Wege geschieht.“1592 Am 1. September 1972 schreibt Wünschmann in englischer Sprache an Harun, der im Hotel International in der Hohenzollernstraße unweit des Olympiaparks residiert, und bittet um ein persönliches Treffen.1593 Der letzte Brief von Wünschmann in Sachen Tuah datiert vom 12. September 1972 und richtet sich an Noel: „Leider kam unsere Unterredung mit einem führenden 1590 |

Schreiben von Arnd Wünschmann an Camillo Noel, 24. August 1972. In: Olympi-

sche Baugesellschaft und Deutscher Sportbund – Handakt Camillo Noel. Stadtarchiv München, 515. 1591 |

Schreiben von Dato Harun an Camillo Noel, 26. August 1972. In: Olympische Bauge-

sellschaft und Deutscher Sportbund – Handakt Camillo Noel. Stadtarchiv München, 515. 1592 |

Schreiben von Camillo Noel an das Auswärtige Amt, 28. August 1972. In: Olym-

pische Baugesellschaft und Deutscher Sportbund – Handakt Camillo Noel. Stadtarchiv München, 515. 1593 |

Vgl. Schreiben von Arnd Wünschmann an Dato Harun, 1. September 1972. In:

Olympische Baugesellschaft und Deutscher Sportbund – Handakt Camillo Noel. Stadtarchiv München, 515.

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Mitglied der Malaysischen Olympia-Delegation über den Tiger nicht zustande. Da Ministerpräsident Dato Harun nicht in München war, hatte ich mich für den 7. September um 15.30 Uhr mit Mr. Welappan, dem Betreuer der Mannschaft, im Olympischen Dorf verabredet. Nachdem ich mit meinem Tierarzt fast eine Stunde lang warten mußte, bis ich den Passierschein erhielt, erfuhr ich im Büro der Malaysier, daß kein Gesprächspartner für uns da war. Ich konnte lediglich der deutschen Sekretärin den Zustand des Tieres schildern und unseren Wunsch um eine Entscheidung hinterlassen, ob wir den Tiger einschläfern lassen sollen oder ob ihn die malaysische Mannschaft wieder mit zurück nimmt.“1594 Welappan hat sich nicht mehr im Zoo gemeldet, und Wünschmann plant deswegen mit dem Tierpark in Kuala Lumpur in Verbindung zu treten. Auch der Botschafter und das Auswärtige Amt sind über das Vorgehen informiert. An der erst einmal belanglos erscheinenden Episode mit dem Gastgeschenk aus Malaysia wird nicht nur offensichtlich, wie weit sich der Aktionsradius der bayerischen Landeshauptstadt zu Beginn der 1970er Jahren ausgedehnt hat. Gleichsam ist nachzuvollziehen, mit welch vielfältigen Aufgaben die Verantwortlichen für die Spiele in München konfrontiert worden sind. Am Exempel des Tigers lassen sich die Wege verfolgen, auf denen Entscheidungen in dieser Phase getroffen werden. Die Geschichte von Tuah macht deutlich, wie sich politische Räume in einer solchen Situation überlagern und eine doch verhältnismäßig marginale Begebenheit sowohl das Direktorium der Stadt München als auch das Auswärtige Amt in Bonn und die Deutsche Botschaft in Malaysia beschäftigen kann. Ausgehend von einer Schnittstelle spannt sich ein Netz aus Beziehungen rund um den Globus. Am diplomatischen Handeln der bayerischen Landeshauptstadt wird zudem ersichtlich, welche Bedeutung die ästhetische Qualität des Schenkens und Repräsentierens im Zeitalter der Postmoderne und der wachsenden medialen Verfügbarkeit gewinnt. Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges und der zentral rezipierten Wirkung des Ost-West-Konflikts vermag die Beschäftigung mit Tuah den Blick auf das politische Geschehen in mancher Weise zu relativieren. München ist als Olympiastadt weitaus komplexer in die Interessen der Welt verstrickt und diese Verknüpfungen machen sich noch im städtischen Tierpark bemerkbar. „Es tut mir wirklich leid“, resümiert Zoodirektor Wünschmann, „daß diese gutgemeinte Angelegenheit so unbefriedigend für alle Beteiligten verlaufen ist.“1595

1594 |

Schreiben von Arnd Wünschmann an Camillo Noel, 12. September 1972. In: Olym-

pische Baugesellschaft und Deutscher Sportbund – Handakt Camillo Noel. Stadtarchiv München, 515. 1595 |

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O LYMPIA DER M USEN UND DES S PORTS . „E IN W ELTPROGR AMM MIT WEISSBL AUEN A K ZENTEN “1596 Auf Weisung des OK gründet sich im Herbst 1967 ein Gremium, das die in Rom angekündigten Spiele der Musen erarbeiten soll. Den Vorsitz übernimmt der Münchner Kulturreferent Herbert Hohenemser.1597 „Ferner gehören dem Kunstausschuß folgende Persönlichkeiten an: Reinhold Borzikowski, Egon Eiermann, Günter Grass, Carl Gussone, Rudolf Hagelstange, Kurt Hoffmann, Hans Egon Holthusen, Siegfried Janzen, Erich Kästner, Herbert von Karajan, Walter Keim, Alexander Kluge, Friedrich Luft, Kurt Martin, Walther von Miller, Konrad Mommsen, Carl Th. Müller, Helmut Oeller, Carl Orff, Reinhard Raffalt, Günther Rennert, Carl Zuckmayer.“1598 In Anwesenheit der Medien wird das Konzept am 30. September 1969 im Rathaus unterbreitet. „Ein Weltprogramm mit weißblauen Akzenten“1599, titelt der Journalist Rudolf Reiser tags darauf in der Süddeutschen Zeitung. „Für jeden soll das umfassende Kulturprogramm etwas bieten, das den Gästen aus aller Welt während der Olympischen Spiele 1972 in München gezeigt wird. Kulturreferent Dr. Herbert Hohenemser gab gestern im Kulturausschuß des Stadtrats zum ersten Mal einen größeren Gesamtüberblick. Im Mittelpunkt sollen die zwei großen Ausstellungen ‚Weltkulturen und moderne Kunst‘ und ‚Bayern in der Welt – die Welt in Bayern‘ stehen. Weißblaue Akzente setzt auch eine große bayerische Folkloreveranstaltung. Welturaufführungen, Neuinszenierungen und Gastspiele von weltberühmten Ensembles, Orchestern und Solisten sowie ein großes internationales Filmfestival und ein ‚unkonventionelles Kunstprogramm‘ für die Jugend runden die Münchner ‚Olympischen Kulturfestspiele‘ ab.“1600 Bereits im Sommer 1972 startet ein vielseitiges Programm, das die sportlichen Wettbewerbe rahmt und zugleich einleitet. Von Aufführungen und Konzerten der Bayerischen Staatsoper über Gastspiele renommierter Orchester, des „Schwarzen Volkstheaters“ aus New York oder der südkoreanischen Oper bis hin zur Schau des Zirkus Krone auf der Theresienwiese reicht das Angebot für Bewohnerinnen und Bewohner wie für die in großer Zahl erwarteten Besucherinnen und Besucher. 1596 |

Reiser, Rudolf (1. Oktober 1969): Ein Weltprogramm mit weißblauen Akzenten. In:

Süddeutsche Zeitung. In: Presseamt Zeitungsausschnitte – Olympiade Kulturprogramm. Stadtarchiv München, 2684. 1597 |

Vgl. Bericht zum Stand der Vorbereitungen vom 21. Dezember 1966. In: Olympiade

1972 – Gross-Stadion Oberwiesenfeld. Stadtarchiv München, 321. 1598 |

Protokoll der Bekanntgabe des Olympischen Kunst- und Kulturprogramms im Kul-

turausschuss des Stadtrats am 30. September 1969. In: Presseamt Zeitungsausschnitte – Olympiade Kulturprogramm. Stadtarchiv München, 2684. 1599 |

Reiser, Rudolf (1. Oktober 1969): Ein Weltprogramm mit weißblauen Akzenten. In:

Süddeutsche Zeitung. In: Presseamt Zeitungsausschnitte – Olympiade Kulturprogramm. Stadtarchiv München, 2684. 1600 |

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Während sich München in den 1950er Jahren vornehmlich auf die Wiederherstellung seiner Identität konzentriert und zu Beginn der 1960er Jahre um eine Stilisierung als moderne Metropole bemüht ist, entspricht die Zurschaustellung von 1972 in idealer Weise den Dispositionen und dem Imaginären der Stadt. Im Wechsel mit der architektonischen und der visuellen Gestaltung schließt das Rahmenprogramm von Olympia unmittelbar an die Ästhetik von München an. Die drei wesentlichen Stränge, die sich im kulturellen Gewebe der Stadt ausmachen lassen, München als kreative Stadt der Bildung und Wissenschaft, München als leuchtende Metropole der Kunst und Kultur und München als eine Stadt mit starken regionalen Bezügen und einer Fülle von lokalen Traditionen, finden sich im Zusammenhang mit den Spielen beständig wieder. Die Verknüpfung von Motiven und ihre Verwendung zeigen aber auch, dass die Bilder nicht einfach reproduziert, sondern den Konstellationen der 1960er Jahre entsprechend angeordnet werden. Der Volkskundler Gottfried Korff setzt sich mit der Inszenierung von Städten in der Bundesrepublik auseinander und zeigt gerade am Exempel von München, wie sich urbane Ausdrucksformen seit den 1960er und 1970er Jahren wandeln. Neben einer zunehmenden Homogenisierung von Stadtbildern und gesellschaftlichen Ereignissen ist analog auch eine Heterogenisierung von Praktiken und Repräsentationen zu beobachten. „Einerseits bietet die [...] Olympiade von 1972 mit ihrem expansiv angelegten, großstädtischen Festivalcharakter das Muster für eine sich später voller Energie entwickelnde urbane Eventkultur – und führt so zu einem gewissermaßen großformatigen Lokalismus. An die Stelle des Traditionalismus trat das Bewusstsein einer sich in neuen Ritualen und Interaktionsformen artikulierenden Gegenwärtigkeit und Zeitbezogenheit. Andererseits meldet sich in den frühen 1970ern, zugleich mit dem olympischen Großevent in München, eine Art Retromode, Kiezromantik und Stadtteilorientierung, die sich in einem gewissermaßen kleinformatigen Lokalismus darbietet, der – im Zeichen der in den 1970ern auftretenden milieugebundenen und lebensweltbezogenen Geschichtszuwendungen – stark von Zügen eines ‚neuen‘ Historismus gekennzeichnet ist.“1601 In den kommenden Jahrzehnten werden sich diese Tendenzen weiter ausdifferenzieren, aber „[d]ie Olympischen Spiele lieferten das Vorbild für eine ‚von oben‘ bis ins Detail, bis in die Form- und Farbgebung hinein (Stichwort Otl Aicher) durchorganisiertes Stadtfestival. In ihm werden unterschiedliche Kunst- und Kultursparten auf ästhetisch distinkten Ebenen bedient und auf differente urbane Milieus und Zielgruppen (unter Einschluss einer internationalen Klientel) zugeschnitten. Die Olympischen Spiele und ihr ambitioniertes Begleitprogramm machten einen neuen Typus von Kulturpolitik sichtbar: die Politik des großen Ereignisses.“1602 Ganz „Weltstadt mit Herz“ gibt sich München regional verbunden und ist dabei immer auch auf die internationale Ausrichtung seines Erscheinens bedacht. Pa1601 |

Korff 2006: S. 166.

1602 |

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radigmatisch für diese Dichotomie stehen die zwei zentral gesetzten Ausstellungen im Kunst- und Kulturprogramm von Olympia. Während sich das Haus der Kunst unter dem Titel „Weltkulturen und moderner Kunst“ mit der „Begegnung der europäischen Kunst und Musik im 19. und 20. Jahrhundert mit Asien, Afrika, Ozeanien, Afro- und Indo-Amerika“1603 befasst, wird im Münchner Stadtmuseum die Schau „Bayern. Kunst und Kultur“ mit einer eben solchen Fülle an Material gezeigt. „Die Bayern-Ausstellung unternimmt zum ersten Mal den Versuch einer umfassenden Darstellung bayerischer Kultur von der Römerzeit bis in die Gegenwart. Der Schwerpunkt liegt dabei auf bildender Kunst in Bayern; dazu kommen Musik, Literatur, Theater und – mehr am Rand – Wissenschaft und Technik. Die Ausstellung soll den Gästen Münchens im Sommer der Olympischen Spiele, vor allem aber auch den Einheimischen zeigen: Was gibt es wo in Bayern an bildender Kunst zu sehen, wo liegen die kulturellen Schwerpunkte, was wurde in den verschiedenen Epochen geschaffen“,1604 heißt es im Vorwort des umfassenden Katalogs. „Bayern in seinen heutigen Grenzen – also Altbayern, Schwaben und Franken – bildet einen äußeren Rahmen, der sich auch jeweils zu einem europäischen Rahmen erweitern kann.“1605 Die Schau im Münchner Stadtmuseum ist von Michael Petzet vom Zentralinstitut für Kunstgeschichte konzipiert worden und kann am 9. Juni 1972 eröffnen, weil eine Vielzahl von Archiven und Museen miteinander kooperieren. Die analoge Ausstellung im Haus der Kunst beginnt am 16. Juni 1972, unter der Leitung des Kunsthistorikers Siegfried Wichmann hat ein Konsortium von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mit Hilfe internationaler Kontakte und einem Budget von mehreren Millionen Mark an der Präsentation gearbeitet. Den Katalog hat der Münchner Bruckmann Verlag hergestellt. Aufgrund des Umfangs wird im angrenzenden Englischen Garten ein temporärer Anbau errichtet, an diesem Ort soll Kindern ein innovatives Vermittlungsprogramm geboten werden. „Im Klangzentrum finden schließlich musikalische Begegnungen europäischer und außereuropäischer Musikensembles statt; sie zielen daraufhin, die Bezüge der außereuropäischen Musiktraditionen zur abendländischen Musik an Hand des praktischen Musizierens zu demonstrieren. Hier werden u. a. einige

1603 |

Weltkulturen und moderne Kunst. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung des Or-

ganisationskomitees für die Spiele der XX. Olympiade in München im Haus der Kunst vom 16. Juni bis 30. September 1972. München. 1604 |

Dreesbach, Martha; Petzet, Michael (1972): Vorwort. In: Bayern. Kunst und Kultur.

Katalog zur gleichnamigen Ausstellung des Freistaates Bayern und der Landeshauptstadt München, veranstaltet von den Münchner staatlichen und städtischen Museen, dem Zentralinstitut für Kunstgeschichte und dem Bayerischen Rundfunk im Münchner Stadtmuseum vom 9. Juni bis 15. Oktober 1972. München. 1605 |

Dreesbach; Petzet 1972.

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Kompositionen uraufgeführt, die das Musikmaterial der Ausstellung kompositorisch auswerten.“ 1606 Angesichts der ausdrücklichen Betonung von Kunst und Kultur bei Olympia stellt sich ebenso offensichtlich die Frage, was in diesem Zusammenhang unter dem Begriff der Anästhesie zu verstehen ist. Die Betonung der kulturellen Besonderheiten mutet überaus ambivalent an. Einmal sind die beiden zentralen Ausstellungen als bedeutsame Positionierungen im Feld der Olympischen Spiele zu sehen und die Herausstellung der musischen Elemente muss entsprechend hoch eingeschätzt werden; nicht einmal zwei Jahrzehnte nach dem Ende des Nationalsozialismus wirken die beiden Schauen mit ihrer ungeheuren Masse an Bildern und Objekten aber auch seltsam begrenzt. „In München wurde 1972 mit einem neo-humanistischen ‚Menschenbild‘ die Erinnerung an die nationalsozialistische Kampagne der ‚Entarteten Kunst‘ verleugnet“, kritisiert die Kunsthistorikerin Viktoria Schmidt-Linsenhoff und vergleicht die Ausstellung im Haus der Kunst mit einer Präsentation des Museum of Modern Art, „in New York [wurde] 1984 eine der Autonomie verpflichtete Museumspolitik gegen die Postmoderne verteidigt. Das MoMA erzählte mit ‚tribal art‘ und Avantgardekunst die männlichen Heldengeschichten der kolonialen Entdeckung, Eroberung und Einverleibungen anderer Kulturen. ‚Weltkulturen und moderne Kunst‘ erzählte die Geschichte der erfolgreich abgeschlossenen ‚reeducation‘ der Deutschen. Die unabweisbare Erinnerung an die rassistischen Kunst- und Biopolitiken der Olympiade in Berlin 1936 wurde mit dem Begriff des abendländischen ‚Menschenbildes‘ und der Positivierung von ‚Negerkunst‘ sowohl angesprochen, als auch zum Schweigen gebracht.“1607 Die Präsentation von Schätzen aus allen Teilen Bayerns führt weg von der neuesten Geschichte der Stadt und spannt wiederholt den Bogen in eine glanzvollere Vergangenheit. Nicht das Lokale oder das Nationale stehen demnach im Fokus der Inszenierung, die Akzentuierung der regionalen und internationalen Qualitäten bildet das häufig variierte Grundmotiv von München ‘72. Zudem werden über diese Ebenen auch lokale Merkmale der Stadt hervorgehoben und repräsentieren immer auch die demokratische Bundesrepublik auf der Bühne der Welt. Das Kunst- und Kulturprogramm der Olympischen Spiele lässt gleichermaßen nachvollziehen, wie variantenreich die Dispositionen einer Stadt aufgenommen und umgesetzt werden. Der offiziellen Dokumentation des OK ist beispielsweise auch zu entnehmen, dass das Institut für Volkskunde an der Ludwig-Maximilians1606 |

Begleitheft zur Ausstellung „Weltkulturen und moderne Kunst“ vom 16. Juni bis

zum 30. September 1972 im Haus der Kunst. 1607 |

Schmidt-Linsenhoff, Viktoria (2002): Wer begegnet wem. Bildbegriff und „Men-

schenbild“ in der Ausstellung „Weltkulturen und moderne Kunst“ in München 1972. In: Körner, Hans; Stercken, Angela (Hg.): 1926 – 2002. GE SO LEI. Kunst, Sport und Körper. Ostfildern-Ruit, S. 332-341. Hier: S. 339.

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Universität München im Jahr 1969 ein Konzept für die Zurschaustellung bayerischer Folklore vorgeschlagen und ausgearbeitet hat. Ausgehend von dem zeitgenössischen Forschungsstand, hat der Volkskundler Günther Kapfhammer ein modernes Programm entwickelt, um den Bereich der Volkskultur aus einer allzu statischen Wahrnehmung herauszulösen. Das Programm ist allerdings von der Sektion Volkskunde an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften kuratiert worden. „Die geplante Veranstaltung sollte sich den üblichen ‚konzertanten‘ Volksmusikveranstaltungen abheben, alle Möglichkeiten optischer und akustischer Gestaltung sollten genutzt werden. Auf verbale Darbietungen sollte im Hinblick auf die ausländischen Gäste möglichst verzichtet werden: Tanz, Musik und Handlung waren als dramaturgische Einheiten gefaßt. Das bayerische Fernsehen produzierte Filme, die die Mitwirkenden in ihrer heimatlichen Verflechtung zeigten. Teile daraus wurden repräsentativ in das Bühnenbild (Lichtprojektionen auf mehrere im Raum verteilte Leinwände einbezogen).“1608 Der bayerische Bilderbogen führt während den Vorbereitungen aber zu erheblichen Kontroversen. „Wenn in knapp drei Wochen in München ‚die herrlichste Nebensache der Welt‘ beginnt, sollen die Besucher aus aller Welt nicht nur am Kampf um Zehntelsekunden und Millimeter teilhaben, sondern auch eine bleibende Erinnerung an Bayern, wie es leibt und lebt mit nach Hause nehmen. Von diesem Gedanken jedenfalls – der nicht nur Zustimmung gefunden hat – ließ sich der Kulturausschuß des olympischen Organisationskomitees leiten, als er ins olympische Rahmenprogramm sieben Folkloreabende unter dem Titel ‚Vita Bavarica‘ aufnahm.“1609 Wie sich kurz vor Olympia herausstellt, ist die Finanzierung der Vorführungen nicht gesichert. Der Bayerische Ministerpräsident Alfons Goppel lässt daher eine Art Zahlungsbefehl an alle Landkreise, Städte und Gemeinden ergehen, die sich an dem Programm beteiligen. Die Verantwortlichen sollen die Kosten selbst tragen, worauf sich lauter Protest unter Bürgermeistern und Landräten regt. Das OK gesteht ein, schon länger von der Misere gewusst zu haben. „Es gibt nicht wenige in Bayern, die ‚Vita Bavarica‘ in der jetzt vorgesehenen Form überhaupt für einen ‚ausgemachten Schmarrn‘ halten, weil hier den Besuchern aus aller Welt ein uraltes bayerisches Klischee geboten und eine ‚heile Welt‘ vorgegaukelt werde. Wegen Mißstimmigkeiten über die Konzeption der Veranstaltung ist bereits vor einem Jahr der Leiter des Instituts für Volkskunde, Günther Kapfhammer, aus dem Organisationskomitee ausgeschieden.“1610 Wenig später meldet die Passauer Neueste Presse, dass das Folkloreprogramm „Vita Bavarica“ wie vorgesehen am Tag nach der Eröffnungsfeier beginnen kann. „Der 1608 |

Organisationskomitee für die Spiele der XX. Olympiade – Organisation 1972: S. 234.

1609 |

Schneider, Christian (9. August 1972): „Vita Bavarica“ nicht olympiareif. In: Süd-

deutsche Zeitung. In: Presseamt Zeitungsausschnitte – Olympiade Kulturprogramm. Stadtarchiv München, 2684. 1610 |

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Dramaturg des Programms, der oberpfälzische Bezirksheimatpfleger Dr. Adolf Eichenseer, betonte in München, die ‚Vita Bavarica‘ mit dem Untertitel ‚Bayerischer Bilderbogen‘ verfolge keinen anderen Zweck als den der Selbstdarstellung. Die Veranstaltung solle zeigen, daß es in Bayern nicht nur Oberbayern, sondern auch Niederbayern, Oberpfälzer, Franken und Schwaben mit einer volkstümlichen Tradition gebe.“1611 Das Pendant zur regional verbundenen Darbietung in der Kongresshalle bildet die Internationale Folkloreschau im Zirkus Krone. Die Mitwirkenden treten jeweils am Vormittag auf dem Marienplatz auf, um für ihre Vorstellung am Abend zu werben. „Völkerverbindend wirken die Olympischen Spiele schon ehe sie beginnen“,1612 heißt es in einer Bildunterschrift der Süddeutschen Zeitung. Immer wieder sind vergleichbare Aufnahmen in der Berichterstattung über Olympia zu sehen. „Auf dem Marienplatz tanzte am Montag ein ‚Bilderbuch-Bayer‘ mit einer rassigen Schönheit des Balletts von Martinique. Die Truppe trat am Montagabend beim Internationalen Folklore-Festival im Rahmen des olympischen KulturProgramms im Krone-Bau auf und gab nachmittags vor dem Rathaus eine Probe ihres Könnens ab.“1613 Organisiert worden ist Reihe von Robert Huber, der gleichzeitig für den Oktoberfestumzug, den Fasching und die avantgardistische Schwabinger Woche zuständig gewesen ist.1614 Lokalspezifische Klischees und Kostüme illustrieren die Inszenierung von München als weltgewandter Cosmopolis.1615 Das Regionale erhält nicht nur im Kontrast zum Globalen weitere Bedeutungen, auch im Zusammenspiel mit der modernen Architektur erlangen regionale Eigenheiten eine neuartige Wirkung. Unter dem Zeltdach, das ebenso für die Stadt der Kunst wie die Stadt der Wissenschaften steht, gewinnen die Trachtengruppen mit der Eröffnungsfeier eine ästhetische Qualität, die nicht das Konservative, sondern das Herzliche in den Vordergrund rückt. München, Bayern und die Bundesrepublik werden in dem Moment als charakteristische Einheit wahrgenommen, wenn die Schuhplattler mit den mexikanischen Tänzerinnen und Tänzern in ihren farbenfrohen Kostümen auftreten. Zu den Programmen in München und Kiel, dem feierlichen Auftakt und der Abschlussfeier im Stadion gilt es für die Verantwortlichen auch Veranstaltungen im 1611 |

„Vita Bavarica“ stellt Bayern vor (18. August 1972). In: Passauer Neueste Presse.

In: Presseamt Zeitungsausschnitte – Olympiade Kulturprogramm. Stadtarchiv München, 2684. 1612 |

Fotografie (16. August 1972). In: Süddeutsche Zeitung. In: Presseamt Zeitungsaus-

schnitte – Olympiade Kulturprogramm. Stadtarchiv München, 2684. 1613 |

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1614 |

Vgl. Ständecke, Monika (2011): Von Fasching bis Oktoberfest – Veranstaltungen

des Münchner Verkehrsverein-Festring e.V. zur Amtszeit Robert Hubers. Ein Beitrag zur Münchner Festkultur der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Oberbayerisches Archiv 135, S. 233-284. 1615 |

Vgl. Soja 2000 und Gockerell 1974.

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Olympiapark zu entwerfen. Rund um den See soll die Jugend der Welt zusammenkommen und miteinander kommunizieren. Am 11. November 1969 weiht „[...] Hohenemser seine Stadtratskollegen im Kulturausschuß in die Geheimnisse des unkonventionellen Olympia-Kunstprogramms ein, wie es von der ‚Gestaltungsgruppe Oberwiesenfeld‘ entwickelt und nach einigen Änderungen vom olympischen Kunstausschuß zum zweiten Mal einstimmig gebilligt wurde. Es besteht kaum ein Zweifel, daß die zukunftweisende Konzeption auch die letzte Hürde überspringt und in der Sitzung des Olympia-Vorstandes am 22. November endgültig akzeptiert wird. Wir projizieren im folgenden die papiernen Details, die Hohenemser vortrug, in die ‚Wirklichkeit‘ des Jahres 1972 und bummeln (mit den Augen eines Zukunftsreporters) durch Olympias Kunstgarten: Wir besuchen die Spaßzentren auf dem Oberwiesenfeld: Die Sportleidenschaft, die durch Happening-Zutaten entkrampft wird, und die moderne Kunst, die sich in ‚Wettkämpfen‘ der Heiterkeit populär macht, feiern ein Fest der Versöhnung. Schwabylon liegt am OlympiaSee! Auf der berühmten ‚Spielstraße‘ streben wir – elektronische Klänge im Ohr, psychedelisches Geflimmer im Auge – dem Theatron zu, in dem eine abendliche Multimediaveranstaltung angesagt ist. Links Spielsalons, Würstchenbuden und Pop-Boutiquen; rechts heben und senken sich hydraulisch gepumpte Szenenpodien, auf denen internationale Gruppen Folkloristisches und Pantomimisches präsentieren. Dazwischen Marionetten- und Puppentheater. Über riesige Leinwände, die sich wie geheimnisvolle Fenster im Nachthimmel öffnen, huschen Licht- und Schattenspiele, nüchterne Ergebnisse olympischer Disziplinen und Experimentalfilme, die abstrakte Begriffe wie Bewegung, Schnelligkeit und Konzentration veranschaulichen. Tatsächlich hat die internationale Filmausschreibung 1970 eine Auswahl aufregender Signalfilme (alle nicht länger als 2-8 Minuten) eingebracht. Wobei viele Lichtspiele, die nicht auf den Projektionsflächen des Olympiageländes flimmern, in der neuen Filmgalerie von Gunter Sachs besichtigt werden können. Wir verlassen den audiovisuellen Jahrmarkt und dringen ins lautstarke Paradies der Jugend ein: Am südlichen Ufer des Olympiasees gibt es zwei Spielebenen, die durch kleinere Aktionsfelder verbunden sind, auf denen internationale Jugendgruppen tanzen, singen und diskutieren. Hippies veranstalten ein Happening. Und zeitgenössische Straßentheater agieren in babylonischem Sprachgewirr und machen den Zuschauer zum Mitspieler. Am See, in dessen Wasser sich die bis zum ‚Seepodest‘ am Fuße des Schuttbergs gespannten Lichtgirlanden spiegeln, besteigen wir eines der modernen Kunststoffboote und stoßen vom Ufer ab. Hinter rauschenden Wasser- und Lichtfontänen ragt der Schuttberg in die illuminierte Nacht. Er ist im olympischen Getümmel ein Ort der Ruhe. Und lädt mit seinen kinetischen Objekten, die sich lautlos im Wind bewegen zur Meditation.“1616

1616 |

Seeliger, Rolf (12. November 1969): Spaß am Olympia-See. In: tz. In: Presseamt

Zeitungsausschnitte – Olympiade Kulturprogramm. Stadtarchiv München, 2684.

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Biggi Peters ist in München geboren und aufgewachsen, in den 1960er Jahren hat die junge Frau als Modell in der Modebranche gearbeitet. Für die Trend Show Production GmbH führt Biggi Peters unter anderem Kreationen des Münchner Designers Werner Jansen und Kleider von Detlef Albers in Düsseldorf vor. Die Schauen finden im Hotel „Bayerischer Hof“ oder in den Ateliers der Schneider statt. Im Jahr 1968 heiratet Biggi Peters, gibt ihre Tätigkeit als Mannequin auf und zieht nach Landsberg am Lech. 1972 will sie einfach „mal wieder was erleben“1617. Über die Künstlervermittlung des Münchner Arbeitsamts wird ihr eine Stelle während der Olympischen Spiele angeboten. Biggi Peters unterschreibt einen Vertrag als Modell für den französischen Couturier Pierre Cardin, zwei Wochen lang soll sie seine Entwürfe täglich in drei Schauen am Olympiasee vorführen. Die Präsentation der Mode ist neben der darstellenden und der bildenden Kunst ein weiterer Bestandteil der Spielstraße, von dem Konzept dieser Veranstaltung hat Biggi Peters im Vorfeld allerdings noch nichts gehört. Die Männer und Frauen, die für Cardin arbeiten, tragen hautenge Anzüge in Orange und Violett. Die futuristische Optik mit silbernen Applikationen, die an die US-amerikanische Fernsehserie Star Trek erinnern – in Deutschland sind die Geschichten aus den 1960er Jahren unter dem Titel Raumschiff Enterprise bekannt geworden – setzt sich in der Bemalung der Gesichter und einem Tanz, den die Akteurinnen und Akteure auf einer Bühne im See zum Besten geben, fort. Der Ehemann von Biggi Peters hat die Szenerie mit einer Super-8-Kamera festgehalten, sein Film zeigt auch Besucher und Besucherinnen im Park.1618 Biggi Peters ist der Ästhetik der Stadt aber nicht nur durch ihre Arbeit als Modell verbunden. In einem der vielen Bildbände, die 1972 als Erinnerung an die Spiele erscheinen, sind zwei Portraits der jungen Frau abgebildet. Auf diesen Fotografien verkörpert Biggi Peters das Ideal der schönen Münchnerin. Das offene Unterhaltungsprogramm auf dem Oberwiesenfeld korrespondiert mit dem Konzept der Bauten und dem fließenden Zeltdach. Wie der Architekt Günter Behnisch konstatiert, ist „[d]as Herz der Anlage [...] der von drei Seiten gefaßte Freiraum, der sich nach vorn zum See senkt. Um diesen Freiraum gruppieren sich die Kampfstätten, Fernsehturm, Wasser und Berg; in diesen Freiraum münden alle Wege. Hier sollen die die Wettkämpfe ergänzenden Veranstaltungen stattfinden; hier ist der Raum, in dem sich am Abend die Jugend der Welt, die Gäste und die Münchner Bevölkerung treffen können. In dieser gestalteten Landschaft mit ihren dem Sport und der Muse dienenden Anlagen könnte jene Atmosphäre entstehen, die den Charakter der Olympischen Spiele als eines Festes des Sportes und der Musen trifft.“1619 Im Park schenken die städtischen Brauereien ihr Bier aus, während am Seeufer ein avantgardistisch anmutendes Spektakel präsentiert wird. „Das ge1617 |

Gespräch mit Biggi Peters am 10. Dezember 2009.

1618 |

Vgl. ebd.

1619 |

Behnisch, Günter (1968): Atmosphäre der Offenheit, Leichtigkeit und Mensch-

lichkeit. In: Münchner Leben, Olympia-Sonderheft Oktober 1968, S. 42-43. Hier: S. 43.

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samte Olympiagelände“, erklärt der Landschaftsarchitekt Günther Grzimek, „soll, soweit es nicht dem Sport vorbehalten ist, zu einer Spiel- und Freizeitlandschaft werden. In der Stadt ist der Bewegungsdrang, der nicht nur für Kinder notwendig ist, gehemmt. Alles ist reglementiert, vieles verboten. Es gibt keinen Raum zur Entfaltung freier, eigener Initiative. In der Olympialandschaft soll möglichst vieles erlaubt sein.“1620 Elisabeth Kellner ist im Münchner Umland aufgewachsen und hat als Jugendliche während der Spiele häufig den Park besucht. Die Spielstraße hat „so eine schöne Stimmung“1621 geboten. Die Terrassen am See und vor allem das Theatron, eine Bühne unterhalb des Schwimmstadions, erscheinen wie das gebaute Ideal der Playboys und Gammler. Die Spielstraße mit ihren Artistinnen und Artisten eint hedonistische und kritische Momente und mutet wie eine Fortsetzung von Schwabing an. Eine Performance im Laufrad hinterfragt beispielsweise den Sinn des Marathons, der immer dort endet, wo er beginnt. Aufgequollene Schaumstoffpuppen weisen auf das Thema Doping hin.1622 Elisabeth Kellner erzählt, dass sie mit ihren Freundinnen und Freunden am Nachmittag mehrmals auf der Spielstraße gewesen ist; das Zwanglose, Hippiemäßige hat ihnen gefallen, sie spricht von einem Gefühl der Gemeinschaft, die Spielstraße ist etwas Besonderes, etwas wirklich Neues gewesen. „Da konnte man Leute aus aller Welt treffen, die ganze Stadt war international aufgeladen.“1623

M ÜNCHEN 1972. V ON DEN HEITEREN S PIELEN ZUR KOSMOPOLITISCHEN TR AGÖDIE „Eine glanzvolle Premiere voller Dramatik brachten vor der Rekordkulisse von 70 000 Besuchern am Vormittag und 80 000 am Nachmittag die Wettkämpfe der Leichtathletik. Für die Mannschaft der Bundesrepublik, speziell aber für Heide Rosendahl, die nach eigenen Worten für diesen Augenblick 14 Jahre gelebt hatte, ging dabei der große Traum in Erfüllung: Die 25 Jahre alte ‚Miß Leichtathletik‘ aus Leverkusen stand nach ihrem Weitsprung-Sieg mit der Welt-Jahresbestleistung von 6,78 Metern als erste Siegerin der Leichtathletik-Wettbewerbe überhaupt auf dem ‚Treppchen‘ und erhielt aus der Hand von IOC-Präsident Brundage ‚ihre‘ Goldmedaille.“1624 In der ersten Woche bestimmen vor allem Entscheidungen in der Leichtathletik das Programm. Eine Münchnerin berichtet, dass sie mehrmals 1620 |

Grzimek 1972 a: S. 15.

1621 |

Gespräch mit Elisabeth Kellner am 1. Juli 2009.

1622 |

Vgl. Eckardt, Verena (2010): Ein großes Experiment. Die „Spielstraße“ auf dem

Olympiagelände. In: Haus der Bayerischen Geschichte (Hg.): München ‘72. (Edition Bayern, Sonderheft 2) Augsburg, S. 54-55. 1623 |

Gespräch mit Elisabeth Kellner am 1. Juli 2009.

1624 |

Valérien, Harry (Hg.) (1972 a): Olympia 1972. München – Kiel – Saporro. München,

S. 86.

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im Stadion gewesen ist. „Für die Wettkämpfe habe ich natürlich keine Karten bekommen. Aber auch die Vorentscheide waren voll. Heide Rosendahl!“1625 Einen weiteren Höhepunkt bilden die Schwimmwettbewerbe. Mark Spitz bricht alle Rekorde und schwimmt insgesamt sieben Mal zu Gold. Der Amerikaner ist der unumstrittene Star der Spiele. Sein westdeutscher Konkurrent Werner Lampe hat sich sogar eine Glatze schneiden lassen, um im Wasser davonzuziehen. Am Ende steht er mit einer Perücke im Stil der Zeit hinter Spitz auf dem Treppchen.1626 Die Chefhostess Gertrude Krombholz, die in der Schwimmhalle im Einsatz gewesen ist, hat sich von den Medaillengewinnerinnen und -gewinnern vor der Siegerehrung Autogramme geben lassen; unter anderem von der erfolgreichen amerikanischen 4 x 200 m Freistil-Staffel der Herren mit Mark Spitz und den Silbermedaillengewinnern aus der Bundesrepublik.1627 Auch der Fotograf Wolfgang Roucka ist für Olympia akkreditiert und hat zwei Wochen lang Erfolge und Niederlagen der Sportlerinnen und Sportler festgehalten. Die bemerkenswertesten Momente des Tages stellt er mit den entsprechenden Kommentaren zu einer Wandzeitung zusammen. Die Poster werden am gleichen Abend mit der Post an Sparkassenfilialen im gesamten Bundesgebiet verschickt und hängen schon am nächsten Morgen in den Schaufenstern.1628 Mit zwei Kameras gelingt es Roucka, ein Panorama von den Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei der Eröffnungsfeier im Stadion zu machen. Eine Kopie dieses Bildes wird allen Beteiligten vom OK als Erinnerung an die Spiele überreicht. Bereits 1964 in Innsbruck hat der Fotograf einen Auftrag für die Firma Schirner Pressebild übernommen. „Presse-Sportphotos von der IX. Winterolympiade 1964 [...] mit Manfred Schnelldorfer sowie Bildbände ‚Eislauf im Bild‘ und ‚Reiten im Bild‘ mit Ute Richter waren das richtige Training für die XX. Olympischen Spiele 1972 in München [...].“1629 Dennoch gibt Wolfgang Roucka zu bedenken, dass auch die allabendliche Plakatproduktion und besonders der Weg zur Post einige Kondition erfordert haben. Die Atmosphäre, die sich im Vorfeld der Wettkämpfe aufgebaut hat und mit der Eröffnungsfeier eine enorme Intensität erreicht, wird in den Erzählungen der Besucherinnen und Besucher unmittelbar spürbar. „Mein Vater war kriegsversehrt, 1625 |

Gespräch mit einer Besucherin im Rahmen einer Tour des Bund Naturschutz durch

den Olympiapark am 10. Oktober 2009. 1626 |

Vgl. Torberg, Friedrich (1972): Menschen wie Delphine. In: Deutsche Olympische

Gesellschaft (Hg.) (1972): Die Spiele der XX. Olympiade München-Kiel 1972 und die XI. Olympischen Winterspiele Sapporo 1972. Das offizielle Standardwerk des Nationalen Olympischen Komitees für Deutschland. Freiburg; Basel; Wien, S. 113-124. Hier: S. 120. 1627 |

Vgl. Ausstellung „München 72“ vom Haus der Bayerischen Geschichte und dem

Institut für Bayerische Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München in den Räumen des Bayerischen Hauptstaatsarchivs vom 7. Oktober bis zum 12. Dezember 2010. 1628 |

Vgl. Interview mit Wolfgang Roucka am 11. März 2009.

1629 |

Roucka 2006: S. 5.

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Olympia war der Höhepunkt seines Lebens“,1630 sagt ein Münchner über die Bedeutung der Spiele für seine Familie. Viele Zuschauerinnen und Zuschauer berichten von den Ereignissen und erinnern sich an Situationen, die sie vor Ort oder an ihren Bildschirmen zu Hause erlebt haben. Besonders die Stimme von Moderator Joachim „Blacky“ Fuchsberger, der für die Dauer der Spiele als Stadionsprecher fungiert hat, ist vielen Menschen in Erinnerung geblieben. Dabei stellt sich generell die Frage, was auf welche Weise wahrgenommen, behalten und schließlich wiedergegeben wird. Im Kontext von Interviews und Zeitzeugengesprächen setzt sich auch der Kulturwissenschaftler Harald Welzer mit dieser Thematik auseinander. „Gibt es nicht aber Erlebnisse, deren emotionale Qualität so einschneidend gewesen ist, daß sie sich nachgerade ins Gedächtnis eingebrannt [...] und dort starr, aber vollständig, abgelagert haben?“1631 Welzer erklärt, dass etwa im Hinblick auf Traumata an derartige Modi gedacht worden ist. Des Weiteren spricht er von so genannten flashblub memories, „[...] blitzlichtartige aufgenommene Ereignisse, die wie photographiert im Gedächtnis ihre unveränderliche Gestalt zu behalten scheinen“1632 . Der Kulturwissenschaftler bezieht seine Ausführungen auf den Historiker Reinhardt Koselleck, der Stimmungen und Gefühle in Zusammenhang mit dem Erfahren und Wiedergeben von Erlebnissen ebenfalls für außerordentlich bemerkenswert hält. „Es geht hier um emotionale Erinnerung, und dazu lässt sich anmerken, daß sich mittlerweile sogar neuroanatomisch belegen lässt, daß Emotionen und Kognitionen im Gehirn mittels unterschiedlicher Systeme verarbeitet werden [...].“1633 Entsprechend bleiben die ästhetischen Qualitäten von Ereignissen im Gedächtnis präsenter, während rationale Verknüpfungen bisweilen vergessen werden.1634 Mitunter wird sogar der Anlass obsolet, aber das Gefühl, das in einer bestimmten Situation empfunden worden ist, schreibt sich ein. Euphorie, Ärger, Glück, Freude oder Trauer werden unmittelbar aufgenommen und auch in einer direkteren Weise als Erinnerung gespeichert. Wie Momentaufnahmen bleiben Szenen, die mit intensiven ästhetischen Erfahrungen einhergehen, in Erinnerung. Dabei ist nicht nur an die effektive, sondern ebenso an die affektive Wirkung zu denken. Kollektive Begebenheiten wie die Olympischen Spiele sind mit individuellen Erfahrungen verwoben und damit Bestandteil vieler verschiedener Biographi-

1630 |

Gespräch mit einem Besucher im Rahmen des Sammelaufrufs für die Ausstellung

„München 72“ vom Haus der Bayerischen Geschichte und dem Institut für Bayerische Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München am 9. und 10. März 2010. 1631 |

Welzer, Harald (2000): Das Interview als Artefakt. Zur Kritik der Zeitzeugenfor-

schung. In: Bios. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History, Jg. 13, H. I, S. 51-63. Hier: S. 55. 1632 |

Welzer 2000: S. 55.

1633 |

Ebd.

1634 |

Ebd.

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en. „Wissen Sie, ich war da auch dabei, an dem Sonntag im Stadion. Als der Klaus Wolfermann seine Goldmedaille im Speerwerfen gewonnen hat!“1635 Über die Atmosphäre werden die Spiele als etwas Besonderes wahrgenommen; gleichzeitig kann die Gestimmtheit in der Stadt nur entstehen, weil sich auch nicht ästhetische Konstellationen in diesem Zeitraum verdichten. Die Emotionen, die im Rahmen der Eröffnungsfeier gespürt und erlebt werden, sind niemals ohne die kulturellen und sozialen Bedingungen ihres Zustandekommens zu verstehen. Der Philosoph Heiner Hastedt weist auf den konstruierten Sinn von Empfindungen hin. Gleichwohl ist es nicht möglich, sich ohne Weiteres zu entziehen oder emotionale Realitäten als individuelle Angelegenheiten abzutun. „Weder sind Gefühle willkürlich konstruiert noch einfach vor aller Interpretation authentisch gegeben.“1636 Mit der Kontextualisierung wird ersichtlich, dass die positiven Anmutungen, von denen ausdrücklich die Rede ist, von einer gesellschaftlichen Akzeptanz ausgehen. „Die Stimmung in der Stadt war so ungeheuerlich.“1637 Adelheid Boeck, die ihr gesamtes Leben in München verbracht hat, erinnert sich begeistert an die Umstrukturierung der Stadt im Zuge der Olympischen Spiele. „Raum“, meint Gernot Böhme, „wird genuin erfahren dadurch, dass man im Raum ist. Durch leibliche Anwesenheit. Die einfachste und überzeugendste Art sich der leiblichen Anwesenheit in einem Raum zu versichern ist Bewegung. Deshalb sind auch im Sehen diejenigen Elemente, die Bewegung enthalten, nämlich wechselnde Perspektive und wechselnde Fixierung am besten geeignet, uns den Eindruck von Räumlichkeiten zu vermitteln. Das Sehen selbst aber ist kein Sinn für das Darin-Sein, sondern eher ein Sinn, der Unterschiede setzt und Distanzen schafft. Dagegen gibt es einen spezifischen Sinn für das Darin-Sein, den Sinn, den man Befindlichkeit nennt. Im Befinden spüren wir wo wir uns befinden. Das Spüren unserer eigenen Anwesenheit ist zugleich das Spüren des Raumes, indem wir anwesend sind.“1638 Ausgehend von einer habituell geprägten Ästhetik der Stadt, erfahrbaren Räumen und der ästhetischen Überhöhung durch Olympia geht die Gestimmtheit auf Individuen über und wird zugleich von ihnen multipliziert. Diese Dichte an Interdependenzen erschließt sich nicht allein über Fakten, sondern im komplexen Zusammenwirken von ästhetischen und rationalen Elementen. „Das war schon toll!“,1639 sagt Gudrun Mendheim, die seit den 1960er Jahren in 1635 |

Gespräch im Rahmen einer Führung durch die Ausstellung „München 72“ vom Haus

der Bayerischen Geschichte und dem Institut für Bayerische Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München in den Räumen des Bayerischen Hauptstaatsarchivs vom 7. Oktober bis zum 12. Dezember 2010. 1636 |

Hastedt, Heiner (2005): Gefühle. Philosophische Bemerkungen. Stuttgart, S. 92.

1637 |

Interview mit Adelheid Boeck am 8. März 2010.

1638 |

Böhme 2006: S. 110.

1639 |

Gespräch mit Gudrun Mendheim im Rahmen einer Tour des Bund Naturschutz

durch den Olympiapark am 10. Oktober 2009.

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der Umgebung des Oberwiesenfelds lebt und alle Entwicklungen mitverfolgt hat. Insgesamt stehen ihr für Olympia 40 Eintrittskarten zur Verfügung, bei der Olympia-Lotterie sind jeweils 20 Karten auf sie und ihren Sohn entfallen. Jeden Morgen hat Gudrun Mendheim einen Rucksack mit Essen und Trinken gepackt und ist den ganzen Tag lang in der Stadt und im Olympiapark unterwegs gewesen.1640 Eine andere Frau bestätigt diesen Eindruck. „Ja, das ist schon toll gewesen!“1641 Auch die Nähe zu den Sportlerinnen und Sportlern illustriert den offenen Charakter der Olympischen Spiele von 1972. Aglaja Reuter verabredet sich Anfang September am Fischbrunnen, einem beliebten Treffpunkt auf dem Münchner Marienplatz. Während die junge Frau wartet, gesellt sich der Langstreckenläufer Lasse Virén aus Finnland zu ihr. Ein Fotograf der finnischen Zeitschrift apu hält die Szene fest, Virén bedankt sich mit einem Autogramm. Zur Erinnerung hat Aglaja Reuter auch ein Belegexemplar des Magazins bekommen.1642 Wenngleich eine politische Dimension der Spiele in vielen Momenten greifbar wird, zu denken ist beispielsweise an die offene Architektur der Sportstätten, wirkt sich auch die Realpolitik auf das Ereignis in München aus. Wiederholt ist es in der Geschichte von Olympia auch zu Boykotten gekommen. 1956 nehmen die Mannschaften der Niederlande, Spaniens und der Schweiz aus Protest gegen die Niederschlagung des Ungarnaufstands durch das sowjetische Militär nicht an den Spielen in Melbourne teil. 1958 fordert China den Ausschluss von Taiwan und tritt aus dem IOC aus.1643 Wenige Tage vor der Eröffnung in München kommt es ebenfalls zu einem Machtkampf. Die afrikanischen Staaten, die Mitte der 1960er Jahre bereits erfolgreich gegen die Teilnahme von Südafrika interveniert haben, weil die weiße Minderheit die schwarze Bevölkerung in einem System der Apartheid unterdrückt, fordern im Vorfeld der Spiele von 1972 auch den Ausschluss der rhodesischen Mannschaft. Obwohl die weiße Regierung des Staates, der Mitte der 1960er Jahre seine Unabhängigkeit von Großbritannien erklärt hat, international nicht anerkannt ist, befindet sich das Team zu diesem Zeitpunkt schon in München. Die Rhodesier haben zu den Spielen anreisen können, weil die Bundesregierung mit Blick auf die DDR keine Pässe, sondern lediglich Identitätskarten verlangt. Afrikanische Sportfunktionäre drohen daraufhin mit einem Boykott aller afrikanischen Teams, auch die Organisation für Afrikanische Einheit schaltet sich ein und ver1640 |

Vgl. ebd.

1641 |

Gespräch mit einer Besucherin im Rahmen einer Tour des Bund Naturschutz durch

den Olympiapark am 10. Oktober 2009. 1642 |

Gespräch mit Aglaja Reuter im Rahmen des Sammelaufrufs für die Ausstellung

„München 72“ vom Haus der Bayerischen Geschichte und dem Institut für Bayerische Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München am 9. und 10. März 2010. 1643 |

Huberty; Wange 1972: S. 16 und Schneider, Werner (1972 b): Die Olympische Er-

pressung. In: Die Olympischen Spiele 1972. München. Kiel. Sapporo mit Werner Schneider. München; Gütersloh; Wien, S. 24.

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langt, dass Rhodesien als britische Kolonie antritt. Das IOC gibt schließlich nach, weiße und schwarze Sportlerinnen und Sportler, die gemeinsam für die Olympischen Spiele trainiert haben, müssen wieder nach Hause fahren.1644 „Dienstag, 5. September, etwa 5.30 Uhr“, notiert der Reporter Harry Valérien aus der Perspektive eines teilnehmenden Beobachters, „Lärm tieffliegender Hubschrauber schreckt die Pressestadtstadt auf. Ein Soldat trommelt an meine Zimmertür. Araber sollen israelische Sportler als Geiseln im Olympischen Dorf festgesetzt haben. Reinemachefrauen erzählen im Fernsehzentrum, sie hätten Schüsse gehört; ein Sportler soll dabei getötet worden sein, vielleicht auch zwei. Ich renne die paar Schritte zum Tor des Olympischen Dorfes hinüber. Wagen mit Blaulicht, vor dem Eingang bewaffnete Polizisten. Das erste von drei Autos setzt sich schnell in Bewegung. Ich erkenne im Fond Innenminister Hans-Dietrich Genscher und frage ihn durch das offene Schiebedach, ob er Konkretes zu den Gerüchten sagen oder selber ins Studio kommen könne? Wir sind ab 8.50 Uhr auf Sendung. Genscher: ‚Nein, das geht nicht.‘ Starre Hoffnungslosigkeit im Gesicht des Ministers. Das war so, als ob er mit den paar Worten schlagartig Licht ins Dunkel gebracht hätte. Ich laufe an einen anderen Toreingang, wo ein israelischer Journalist zu einem Interview bereitsteht. Zwei Beamte der Bundespost sprechen mich unvermittelt an: ‚Kurz nach vier Uhr früh haben wir zwei Gruppen von Männern mit großen Taschen über den Zaun springen sehen. Wir dachten an Sportler, die spät ins Dorf zurückkehrten und nicht weiter auffallen wollten…‘ An diesem dämmrigen Morgen kam ihnen der Gedanke an Terroristen mit Maschinenpistolen und Handgranaten keinen Augenblick lang in den Sinn. In der Zwischenzeit wussten wir alle was geschehen war, noch nicht was kommen sollte. Ein Ultimatum der Terroristen jagte das andere. Entweder Israel lässt 200 namentlich genannte politische Häftlinge frei, oder die neun Geiseln, an Händen in ihren Quartieren gefesselt und unablässig bewacht, werden liquidiert. Das Ende der Verhandlungen lag zuerst auf 9 Uhr früh, danach auf 12 Uhr und 13 Uhr, schließlich auf 17 Uhr fest.“1645 Biggi Peters kommt am 5. September 1972 geschminkt für Ihre Auftritte in den Olympiapark. Die Stimmung scheint ihr verändert, sie ahnt zunächst aber nicht, dass etwas geschehen ist. Die Kolleginnen kommen ihr bereits ohne Maske und Kostüm entgegen. „Auf einmal ist die Atmosphäre ganz anders gewesen.“1646 In Anbetracht der dramatischen Ereignisse im Olympischen Dorf wird das bunte Treiben auf der Spielstraße eingestellt. In der Leichtathletik ist am 5. September ohnehin ein Ruhetag eingeplant, die Wettkämpfe am Vormittag werden durchgeführt. Moshe 1644 |

Vgl. Valérien, Harry (1972 b): Glanz und Elend der Spiele. In: Valérien, Harry (Hg.):

Olympia 1972. München – Kiel – Saporro. München, S. 20-25. Hier: S. 22-24 und Olympia Boykott. Sieg, Sieg (28. August 1972). In: Der Spiegel. Verfügbar unter: http://www. spiegel.de/spiegel/print/d-42891503.html, (5. Oktober 2011). 1645 |

Valérien 1972 b: S. 20.

1646 |

Interview mit Biggi Peters am 10. Dezember 2009.

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Weinberger, der Trainer der Ringer, und der Gewichtheber Josef Romano sind zu diesem Zeitpunkt bereits tot; die Israelis sind ermordet worden, als sie versucht haben, die Angreifer am Morgen abzuwehren.1647 Die heiteren Sommerspiele der XX. Olympiade werden erst am Nachmittag offiziell unterbrochen.1648 „Die ganze Stimmung war kaputt!“1649 Eine Technikerin des Bayerischen Rundfunks erzählt, dass sie an diesem Tag an der Kamera gearbeitet hat, die auf das Appartement in der Conollystraße 31 gerichtet ist. Lieselotte Knebel hat die Situation noch unmittelbar vor Augen.1650 Die mediale Vermittlung spielt im Kontext von Olympia 1972 eine zentrale Rolle. Aus der Kulisse der geschmückten Stadt werden auch die Forderungen der Geiselnehmer erstmals live und in Farbe übertragen. Das Dorf ist abgeriegelt, Hans-Dietrich Genscher, der Bayerische Innenminister Bruno Merk und andere Mitglieder des Krisenstabs verhandeln über Stunden von Angesicht zu Angesicht mit den Geiselnehmern.1651 Mit der Aktion in München will das Kommando „Black September“ die Freilassung von mehr als 200 palästinensischen Gefangenen aus israelischen Gefängnissen erzwingen. Die internationale Dimension des Terrorismus wird auch durch die Nennung von Andreas Baader und Ulrike Meinhof, die seit Juni 1972 als Mitglieder der ersten Generation der RAF in Stuttgart inhaftiert sind, evident.1652 Der Journalist Harry Valérien fährt in seinen Aufzeichnungen fort: „Während unserer Sendung im Studio 5 sah ich auf einem Kontrollschirm Bilder, die eine Kamera vom Dach des Fernsehzentrums auch einfing: Polizisten in Trainingsanzügen mit Gewehren und Maschinenpistolen im Anschlag.“1653 Über TV können aber auch die Geiselnehmer die Bewegungen der Polizei verfolgen.1654 „Es fiel kein Schuß. Unendlich langsam brach die Nacht herein. Und immer noch bestand Hoffnung, 1647 |

Vgl. Taylor, Paul (2004): Jews and the Olympic Games: The Clash between Sport

and Politics. Sussex, S. 159-161. 1648 |

Vgl. Scherer 1972 a: S. 45-46 und Olympia in der Tasche. Treffpunkt München ‘72.

Mit Kiel und Sapporo. Frankfurt am Main; Berlin; Wien, S. 45. 1649 |

Gespräch mit einer Besucherin im Rahmen einer Tour des Bund Naturschutz durch

den Olympiapark am 10. Oktober 2009. 1650 |

Gespräch mit Lieselotte Knebel im Rahmen des Sammelaufrufs für die Ausstel-

lung „München 72“ vom Haus der Bayerischen Geschichte und dem Institut für Bayerische Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München am 9. und 10. März 2010. 1651 |

Vgl. „Schwarzer September“ im Olympischen Dorf (1972). In: Die Olympischen Spie-

le 1972. München. Kiel. Sapporo mit Werner Schneider. München; Gütersloh; Wien, S. 2-3. 1652 |

Vgl. Schiller; Young 2010: S. 196 und Daase, Christopher (20. August 2007): Die

erste Generation der RAF (1970-1975). Verfügbar unter: http://www.bpb.de/themen/ QE7XDS,1,0,Die_erste_Generation_der_RAF_%28 19701975%29.html, (9. November 2011). 1653 |

Valérien 1972 b: S. 20.

1654 |

Vgl. Schiller; Young 2010: S. 199.

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daß die Geiseln gerettet werden. Erste Zweifel spürte ich, als Hubschrauber mit den gefesselten Israelis und den Terroristen aus dem Olympischen Dorf ausflogen. Riem wurde als Ziel angekündigt, doch die Flugrichtung der Helikopter ließ sofort einen anderen Landeort erkennen. Die blutige Konfrontation schien in dieser Minute schon unausweichlich. Kurz nach Mitternacht jedoch atmete die Welt auf: ‚Alle Geiseln sind frei‘, so wurde durch Fernsehen und Rundfunk gemeldet. Und ich ging schlafen wie Millionen andere Menschen auch.“1655 Die Süddeutsche Zeitung titelt in ihrer Abendausgabe ebenfalls, dass alles gut ausgegangen ist. Die Schlagzeile vom 6. September 1972 beklagt jedoch ein Drama.1656 „Das Erwachen am nächsten Morgen war grausam und erschreckend. In den Frühnachrichten um 6 Uhr wurde gemeldet: ‚Auf dem Militärflugplatz Fürstenfeldbruck sind gestern Nacht bei einer blutigen Schießerei alle 9 Geiseln, 5 Terroristen und 1 Münchner Polizist getötet worden. Die Zahl der Opfer beläuft sich nach diesem Massaker auf 17 Menschen.‘“1657 In doppelter Hinsicht ist von einer nationalen Tragödie zu sprechen. Der Überfall gilt zuerst Israel. Aber auch für das Land, in dem die Spiele ausgetragen werden, ist das Geschehen im Olympischen Dorf von nationaler Tragweite. Die Bundesrepublik hat versucht, sich als demokratischer Staat zu beweisen und scheitert an der Befreiung der israelischen Geiseln. Stattdessen gehen Bilder eines blutigen Kampfes um die Welt. Keiner der Verantwortlichen ist offenkundig auf ein solches Szenario vorbereitet gewesen. Die Terroristen und ihre Geiseln sollen nach Kairo ausgeflogen werden, auf dem Flugplatz in Fürstenfeldbruck kommt es jedoch zur Eskalation. „Untrained in close combat and fearing for their lives, a special commando of twelve volunteers police officers, posing as flight assistants on the waiting Lufthansa plane, abandoned their mission to overpower the terrorists shortly before the helicopters bringing them to the airport landed. When a shootout started, police marksmen were ill-positioned, badly lit, and scandalously underequipped; support from armoured vehicles took an age to weave through the heavy traffic and onlookers clogging the city center.”1658 Der Ablauf ist immer wieder rekonstruiert worden, und auch weiterhin wird spekuliert, wie die Katastrophe zu verhindern gewesen wäre.1659 Viele Fragen bleiben offen, rückblickend gibt HansJochen Vogel jedoch zu bedenken: „Man hat sich einfach nicht vorstellen können, 1655 |

Valérien 1972 b: S. 20.

1656 |

Vgl. Ausstellung „München 72“ vom Haus der Bayerischen Geschichte und dem

Institut für Bayerische Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München in den Räumen des Bayerischen Hauptstaatsarchivs vom 7. Oktober bis zum 12. Dezember 2010. 1657 |

Valérien 1972 b: S. 20.

1658 |

Schiller; Young 2010: S. 200.

1659 |

Vgl. Das Massaker von München. War es zu vermeiden? (11. September 1972.

In: Der Spiegel, Ausgabe 38. Verfügbar unter: http://www.spiegel.de/spiegel/print/ d-21112636.html, (10. November 2011).

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dass so etwas passiert.“1660 Sowohl die Israelis als auch die Deutschen sind 1972 davon ausgegangen, dass der Olympische Frieden unantastbar ist. Diese abstrakte Idee wird in dem Moment ad absurdum geführt, in dem sich bewaffnete Terroristen der Spiele und ihrer supranationalen Ästhetik bemächtigen. Der Konflikt im Nahen Osten soll auf die Bühne der Welt gebracht werden und ihre Aufmerksamkeit gewinnen. Dabei ist der Ort des Sichtbarmachens im Grunde beliebig, die Vergangenheit der nationalsozialistischen „Hauptstadt der Bewegung“ spielt im Grunde keine Rolle. Besonders nachhaltig hebt sich der Überfall aber von der geradezu idealen Präsentation in München ab. „Das Spannungsverhältnis und die Tragik zwischen den großen Bemühungen der Organisatoren um ‚heitere Spiele‘ mit ihrem bemerkenswerten Erfolg bei der Eröffnungsfeier und dem brutalen Morden, verankerte München nachhaltig in der internationalen Erinnerung“,1661 konstatiert der Historiker Ferdinand Kramer und verweist auf die Rezeption des später so genannten Attentats. Zahlreiche Studien, Filme und Publikationen beschäftigen sich mit dem Überfall und seinen Auswirkungen. Immer wieder wird die Schuldfrage thematisiert. Auch für fünf Terroristen endet die Geiselnahme mit dem Tod, die drei Überlebenden werden im Oktober 1972 mit der Entführung einer Lufthansa-Maschine aus der Bundesrepublik freigepresst.1662 In seinem Film „Munich“ erzählt der amerikanische Regisseur Steven Spielberg die Geschichte der mutmaßlichen Vergeltungsaktion, die der Tod der Israelis in München nach sich zieht. Dem Plot zufolge lässt der israelische Geheimdienst die Drahtzieher der Geiselnahme in den darauf folgenden Jahren liquidieren.1663 Der Überfall auf die israelische Olympiamannschaft ist vor allem eine menschliche Tragödie, die besonders die Familien der Toten trifft. Auf einer häufig gezeigten Fotografie ist Ankie Spitzer, die Witwe des israelischen Fechttrainers Andre Spitzer, im Zimmer ihres Mannes zu sehen. Josef Romano ist am 5. September in dem Raum verblutet, den der Fechttrainer bewohnt hat.1664 Andre Spitzer, 1945 in Rumänien geboren, ist Mitte der 1960er Jahre in die Niederlande gegangen, wo er seine Frau kennen gelernt hat. 1971 heiratet das Paar und wandert nach Israel aus, um ein Fechtzentrum aufzubauen. Wenige Monate vor Beginn der Spiele 1660 |

Gespräch zwischen Hans-Jochen Vogel und dem Journalisten Ulrich Chaussy, „Die

Olympischen Spiele 1972 – Bilanz und Perspektiven auf 2018“, im Rahmen der Reihe „M 2018 – Staffellauf nach Olympia“ am 16. März 2010 im Gasteig. 1661 |

Kramer 2008: S. 251.

1662 |

Vgl. Schiller; Young 2010: S. 215-216.

1663 |

Vgl. Spielberg, Steven (2005): Munich. Spielfilm und Bar-Zohar, Michael; Haber,

Eitan (2006): Rache für München. Düsseldorf und Reeve, Simon (2000): One Day in September. The Full Story of the 1972 Munich Olympics Massacre and the Israeli Revenge Operation „Wrath of God“. New York. 1664 |

Vgl. Taylor, Paul (2004): Jews and the Olympic Games: The Clash between Sport

and Politics. Sussex, S. 159-161.

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kommt Tochter Anouk auf die Welt. Spitzer beruhigt seine Frau, die deutliche Bedenken wegen des gespannten Verhältnisses zwischen Israel und dem Libanon geäußert hat, und reist voller Enthusiasmus nach München.1665 Bei einer Begegnung im Olympischen Dorf schüttelt er libanesischen Sportlern demonstrativ die Hand. „Here [...] I can go to them, I can talk to them, I can ask them, how they are and everything, that’s exactly where the Olympics are all about“,1666 lautet Spitzers Überzeugung. Armin Eppelein aus München hat während der Spiele im Olympischen Dorf gearbeitet. Für die Firma BP hat er einen Rennsimulator betreut, das moderne Gerät ist eine Attraktion gewesen und hat zahllose, darunter auch prominente Besucherinnen und Besucher unterhalten. Um diese einmalige Aufgabe zu dokumentieren, hat der Pressesprecher nicht nur Filmaufnahmen gemacht, sondern auch ein privates Album angelegt. Die Abfolge der Begebenheiten und besondere Ereignisse sind auf vielen Seiten in Gestalt einer Collage festgehalten. Das Buch beginnt mit Eppeleins Akkreditierung, er hat Bilder und Motive zusammengetragen und eingeklebt. Der Band transportiert den Stolz, die Begeisterung und ebenso das Entsetzen über das allzu abrupte Ende des heiteren Sommers. Nicht nur die Situation in München, auch die Dokumentation verändert sich schlagartig, im zweiten Teil von Eppeleins Album bleiben viele Seiten leer. Lediglich die lose eingelegte Berichte aus der Bild-Zeitung halten die Dramatik der Ereignisse fest.1667„Die Stimmung war auf dem Tiefpunkt. Das heißt, da war gar nichts mehr.“1668 Am Vormittag des 6. September 1972 veranstaltet das IOC eine zentrale Gedenkstunde im Olympiastadion, an der auch die israelische Ministerpräsidentin Golda Meir teilnimmt. Diese Zeremonie ist bereits nach der Ermordung der ersten beiden Männer in der Connollystraße anberaumt worden. Mehr als 80 000 Menschen haben sich unter dem Zeltdach versammelt, um ihr Mitgefühl auszudrücken.1669 „Wir haben alle geweint als wir gehört haben, was passiert ist“,1670 erinnert sich Gudrun Mendheim. Im Gedenken an die Opfer sprechen Willi Daume als Präsident des Organisationskomitees, der deutsche Bundespräsident Gustav Heinemann, Avery Brundage, der Präsident des IOC, Shmuel Lalkin, der israelische Chef de Mission, und Ben Horin, der israelische Botschafter in Bonn. „Die Sportler Israels kamen nach München zu den Spielen der XX. Olympiade im Geiste der Olympischen 1665 |

Vgl. Taylor 2004: S. 154.

1666 |

Ebd.: S. 153.

1667 |

Vgl. Album von Armin Eppelein, 1972. Gesichtet im Rahmen der Vorbereitung zu

der Ausstellung „München 72“ vom Haus der Bayerischen Geschichte und dem Institut für Bayerische Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München in den Räumen des Bayerischen Hauptstaatsarchivs vom 7. Oktober bis zum 12. Dezember 2010. 1668 |

Gespräch mit Karl Egger am 3. November 2011.

1669 |

Scherer 1972 a: S. 46.

1670 |

Gespräch mit Gudrun Mentheim im Rahmen einer Tour des Bund Naturschutz

durch den Olympiapark am 10. Oktober 2009.

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Brüderlichkeit, der Freundschaft, der Fairneß und des Friedens“, wie Lalkin in seiner Rede sagt, „gemeinsam mit allen Sportlern der Welt. Zutiefst trauern wir über die Schändung des olympischen Geistes, verursacht durch den heimtückischen Überfall von Terroristen, bei welchem elf unserer Sportler in verbrecherischer Weise ermordet wurden. [...] In tiefer Erschütterung verlässt die israelische Delegation diesen Ort. Wir danken allen für die uns erwiesene Solidarität.“1671 Der aus Israel angereiste Cousin von Moshe Weinberger, Carmel Eliash, erleidet während der Rede im Stadion einen Herzinfarkt.1672 Zu dem Zeitpunkt befindet sich HansJochen Vogel mit einer Bundeswehrmaschine auf dem Weg nach Tel Aviv, um die Ermordeten in ihre Heimat zu überführen.1673 „Die Mörder haben als Tatort ihres wahnsinnigen Verbrechens gerade die Arena der Olympischen Spiele gewählt“,1674 analysiert Ben Horin in seiner Ansprache. Und Walter Tröger, Bürgermeister des Olympischen Dorfs und Mitglied des Krisenstabs, bezeichnet Olympia in der Rückschau als „Schaufenster, wie es die Welt sonst nicht bietet“1675 . Nach den Ereignissen vom 5. September 1972 wenden sich Politiker und Privatpersonen aus vielen Ländern an den Münchner Oberbürgermeister. Die Schreiben sind in erster Linie an Hans-Jochen Vogel gerichtet, der weiterhin als Stadtoberhaupt wahrgenommen wird. Am 3. Oktober 1972 erreicht ein Brief von Emile Félix Bexio aus Guadeloupe, Mitarbeiter der Vereinten Nationen, das Büro des Münchner Direktoriums. Das Schreiben richtet sich an Gustav Heinemann: „Eure Exzellenz! Trotz aller vielseitigen Probleme, die Sie während der Olympischen Spiele zu lösen hatten, sei es mir gestattet, Herr Bundespräsident, Ihnen sowie allen Ihren Organisatoren, hiermit meine Glückwünsche zu dem hohen technischen Charakter dieser Spiele und zu dem Sportgeist mit dem die Spiele selbst ausgetragen wurden, auszusprechen. Sie waren für alle, die sie aus der Nähe oder Ferne verfolgt haben, das Symbol der unbestreitbaren Brüderlichkeit unter den Völkern, dieser unerschütterlichen Brüderlichkeit, die es den Menschen ermöglichen wird, eine sichere, auf eingehend erarbeiteten Grundlagen basierende Zukunft zu dem Zweck einer aus-

1671 |

Lalkin, Shmuel (1972): Ansprache aus Anlass der Trauerfeier am 6. September

1972. In: Valérien, Harry (Hg.): Olympia 1972. München – Kiel – Saporro. München, S. 35. 1672 |

Vgl. Groussard, Serge (1975): The Blood of Israel. The Massacre of the Israeli

Athletes. The Olympics, 1972. New York, S. 444-445. 1673 |

Vgl. Gespräch zwischen Hans-Jochen Vogel und dem Journalisten Ulrich Chaussy,

„Die Olympischen Spiele 1972 – Bilanz und Perspektiven auf 2018“, im Rahmen der Reihe „M 2018 – Staffellauf nach Olympia“ am 16. März 2010 im Gasteig. 1674 |

Horin, Ben (1972): Ansprache aus Anlass der Trauerfeier am 6. September 1972.

In: Valérien, Harry (Hg.): Olympia 1972. München – Kiel – Saporro. München, S. 35. 1675 |

Erinnerungen von Walter Tröger. In: Klinger, Thomas (2010): Münchens Olympi-

sches Erbe. Reportage. Bayerischer Rundfunk.

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sichtsreicheren Existenz aufzubauen.“1676 Wieder geht es um eine generelle Verurteilung von Hass und Gewalt, die das friedliche Zusammenleben in aller Welt bedrohen. Am 20. Oktober 1972 wendet sich Camillo Noel an Elisabeth Zabello, eine Deutsche, die in den USA lebt und nach München geschrieben hat. Dabei gibt er auch einen Überblick zu den internationalen Reaktionen. „Herr Oberbürgermeister Kronawitter dankt Ihnen für die Zusendung des Kommentars aus Newsweek ‚Blood on the Playground‘ [...]. Anläßlich der tragischen Vorgänge [...] erschienen in allen Teilen der Welt Kommentare, deren Spektrum nahezu unbegrenzt war: Von verständnisvoller Anteilnahme über die kritische, aber nüchterne Analyse bis zur absoluten Verdammung, verknüpft mit Erinnerungen an die nationalsozialistische Gewaltherrschaft. Der Kommentar in Newsweek, der uns wie vieles andere bereits vorlag, ist nur ein Beispiel dafür. Es ist völlig unmöglich und es wäre auch sinnlos, von uns aus auch nur auf die wichtigsten dieser Publikationen einzugehen. Sie haben es in diesem Fall versucht und damit Ihre Verbundenheit mit ihrem alten Heimatland dokumentiert. Dafür möchten wir Ihnen herzlich danken. Im übrigen ist in München nicht der einzige Terrorakt passiert. Gewalttaten wie diese und noch schlimmere passieren immer wieder in vielen Ländern der Welt. Die Vorgänge in München erregten allerdings mehr Aufsehen, weil sie sich auf der olympischen Bühne abspielten, weil damit offensichtlich auch ein Tabu verletzt wurde, an dessen Existenz vorher noch viele geglaubt hatten. Das soll keine Relativierung sein, sondern vielmehr zu dem Schluß führen, daß es darum geht, gemeinsam und auf wirksame Weise gegen Gewalt als ein Mittel der politischen Auseinandersetzung überall vorzugehen. Die Landeshauptstadt München und alle an den Olympischen Spielen Beteiligten haben dementsprechend reagiert, und wir alle hoffen, daß diese Impulse auch zu Ergebnissen führen werden.“1677 Die Sozialwissenschaftler Daniel Levy und Natan Sznaider befassen sich mit der Frage, ob sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine kosmopolitische Gedächtniskultur entwickelt hat. Ausgangspunkt der Überlegungen ist der Umgang der westlichen Welt mit der Shoah nach 1945. „Im Zeitalter der Globalisierung, so unsere These, kann kollektive Erinnerung nicht mehr auf einen territorial oder national fixierten Ansatz reduziert werden.“1678 Levy und Sznaider streifen das klassi1676 |

Schreiben von Emile Félix Bexio aus Guadeloupe, Mitarbeiter der Vereinten Natio-

nen, an Bundespräsident Gustav Heinemann, September 1972. In: Olympiade 1972 – Allgemeiner Schriftwechsel aus dem Büro des Bürgermeisters – Camillo Noel. Stadtarchiv München, 521. 1677 |

Schreiben von Camillo Noel an Elisabeth Zabello, 20. Oktober 1972. In: Olympiade

1972 – Allgemeiner Schriftwechsel aus dem Büro des Bürgermeisters – Camillo Noel. Stadtarchiv München, 521. 1678 |

Levy, Daniel; Sznaider, Natan (2007): Vom Holocaust zur kosmopolitischen Erinne-

rungskultur. In: Beck, Ulrich (Hg.): Generation Global. Ein Crashkurs. Frankfurt am Main, S. 187-198. Hier: S. 187.

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sche Konzept des Kosmopolitismus, das als Weltbürgertum über die nationale Ebene hinausreicht und Humanität wie Solidarität verspricht. „Kosmopolitismus ist aber zunächst etwas anderes: die neue Wirklichkeit, viel banaler als die große Idee, eine erzwungene Wirklichkeit der uneingrenzbaren Interdependenzen, die wir erst noch begreifen müssen.“1679 Je nach Perspektive ist das Konzept mit positiven und/oder negativen Bedeutungen verknüpft. Dieser Gedanke zielt weder auf ein universelles Gedächtnis noch auf eine universelle Form der Geschichtsschreibung. „Ein wurzelloses Gedächtnis gibt es nicht, und natürlich sind der Geschichte und Erinnerung Grenzen gesetzt. Diese allerdings verschieben, verlagern und ändern sich.“1680 Nationale und lokale Bezugssysteme werden zusehends durchlässiger, bleiben aber weiterhin bestehen. Mit dem Wissen um die Shoah, argumentieren Levy und Sznaider, hat sich in der westlichen Welt ein Menschenrechtsdiskurs herausgebildet, der stets auf die Folie dieser Erfahrung rekurriert. Thematisiert wird auch eine gesteigerte Emotionalität, mit der politisches Handeln in der Epoche einhergeht. Vor dem Hintergrund der historischen Entwicklungen und angesichts gegenwärtiger Kriege und Konflikte wird schließlich ein Kosmopolitismus real, der „[...] für eine wachsende Zahl von Menschen zum Werthorizont und zur Lebenswelt wird“1681 . Wie Levy und Sznaider festhalten, bedeutet „Kosmopolitismus [...] dann auch universelle Werte, die Menschen emotional engagieren, und sozusagen von der Stufe der abstrakten Philosophie in die Emotionen der Menschen hinabsteigen“1682 . Die Werte, die auf der inter-, trans- und zugleich supranationalen Ebene von Olympia während der Trauerfeier von den Vertretern Israels und der Bundesrepublik wie auch in den Kommentaren der westlichen Welt beschworen werden, Frieden, Verständigung und Brüderlichkeit, gehen ebenfalls in diese Richtung. Die beiden Nationen verbindet eine spezifische Geschichte. Analog bedient sich aber auch der internationale Terrorismus einer vernetzten Infrastruktur, um seine Werte zu inszenieren. München bildet die Schnittstelle dieser Räume. Die Idee des palästinensischen Kommandos, gerade an diesem Ort auf sich aufmerksam zu machen, erweist sich aber nicht nur wegen des blutigen Ausgangs, sondern auch im Hinblick auf die erwünschte Wahrnehmung als Fiasko. Die Rezeption der Tragödie wird in Zukunft von der besonderen Beziehung zwischen Israel und der Bundesrepublik dominiert. „Die kosmopolitische Qualität der Zweiten Moderne ergibt sich also nicht aus der Auflösung, sondern aus dem Fortbestand von partikularen und universalen Erinnerungsformen.“1683

1679 |

Levy; Sznaider 2007: S. 188.

1680 |

Ebd.

1681 |

Ebd.: S. 189.

1682 |

Ebd.

1683 |

Ebd.: S. 196.

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Das IOC entscheidet, die Wettkämpfe fortzuführen und damit dem Angriff auf die olympische Idee zu trotzen. „The Games must go on!“, 1684 verkündet Avery Brundage bei der Trauerfeier. Gleichwohl ist die Atmosphäre eine spürbar andere geworden, die Ungezwungenheit ist der Beklommenheit gewichen. Noch eine Woche werden Athletinnen und Athleten wetteifern und Triumphe und Niederlagen erfahren. „16 000 Zuschauer trampelten, daß die provisorischen Stahlrohrtribünen des Hockeystadions einzustürzen drohten. Elf deutsche Spieler lagen sich überglücklich in den Armen. Sportwart Werner Delmes schlug Purzelbäume vor Freude: Die deutsche Hockeyauswahl gewann das Hockeyturnier vor Pakistan und Indien, den beiden Lehrmeistern!“1685 Die Fortführung findet Zuspruch und zieht ebenso Kritik nach sich. Die Abschlussfeier am 10. September 1972 findet in einer zurückgenommenen Version statt, bayerische Trachtengruppen sind ein ganz wesentlicher Bestandteil des abschließenden Bildes, treten aber nicht mehr mit eigenen Darbietungen in Erscheinung. „Das Olympische Komitee hatte unter dem Eindruck des Massakers in der vergangenen Woche auf die Darbietungen verzichtet. Der geschäftsführende Direktor der [...] [Deutschen Zentrale für Tourismus], Günther Spazier, erklärte gestern, das ‚Reiseland Deutschland sei dadurch um eine einmalige Chance gekommen, sein bei ausländischen Touristen beliebtes Angebot über die Massenmedien in Form einer großen Show in aller Welt darzustellen‘“1686. Das OK konzentriert sich im Wesentlichen auf den Ablauf des offiziellen Zeremoniells, das Löschen des Feuers, das Einholen der Olympischen Flagge etc. Ein überdimensionaler Regenbogen, den der Sky Art-Künstler Otto Piene aus fünf jeweils 600 m langen und mit Helium gefüllten Röhren aus Polyethylen gestaltet hat, fasst die Szene im Olympiastadion zusammen. „Der Regenbogen war schon kitschig, aber schön“,1687 erinnert sich eine Besucherin, die an diesem Abend dabei gewesen ist. Am 12. September 1972 bedankt sich Camillo Noel über die Deutsche Botschaft in Washington bei Otto Bammel für dessen Telegramm und sagt zu, dass Bammels Vorschlag, das Stadion nach dem ermordeten Moshe Weinberger zu benennen, an die entsprechende Stelle weitergeleitet wird. Auf dem Durchschlag des Briefs für Oberbürgermeister Kronawitter notiert Noel aber, dass Vogel die Idee nicht gutheißt. „Es würde einmal das richtige Maß überschreiten und zum zweiten dazu

1684 |

Valérien 1972 b: S. 20.

1685 |

Valérien 1972 a: S. 206.

1686 |

Verbitterung über die Absetzung der „Show“ (12. September 1972). In: Nürn-

berger Nachrichten. In: Presseamt Zeitungsausschnitte – Olympiade Kulturprogramm. Stadtarchiv München, 2684. 1687 |

Gespräch mit einer Besucherin im Rahmen einer Tour des Bund Naturschutz durch

den Olympiapark am 10. Oktober 2009.

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beitragen, die Erinnerung an die Tragödie im Olympischen Dorf zu verewigen.“1688 Der Referent leitet noch eine Einschätzung an Kronawitter weiter. „Herr Dr. Vogel hat im Gespräch die Frage aufgeworfen, welche Verwendung das Haus Conollystraße 31 im Olympischen Dorf, in dem der Überfall arabischer Terroristen auf die israelische Mannschaft stattgefunden hat, in Zukunft finden kann. Es dürfte ziemlich ausgeschlossen sein, daß die Räume in diesem Haus als normale Wohnungen verwendet werden können. Er hat deshalb angeregt, die Landeshauptstadt München möge auch einige Überlegungen anstellen. Möglicherweise könne dort ein  Haus der Begegnung oder eine ähnliche Gemeinschaftseinrichtung entstehen. Meine Erkundigungen haben ergeben, daß dieses Gebäude der Bayerischen Hausbau gehört. Es handelt sich um Eigentumswohnungen, die aber noch nicht verkauft sind. Die Bayerische Hausbau befürchtet wohl auch zu Recht, daß diese Wohnungen unverkäuflich sind.“1689 Wie nahe Freude und Leid nicht nur im Sport beieinander liegen, illustriert eine andere Meldung vom Abschluss der Spiele. „Mit einem Abendessen im ‚Platzl‘ verabschiedeten sich jetzt Vertreter des Münchner Zeitungs-Verlages und des Süddeutschen Verlages von den fünf japanischen Schülern aus Sapporo, die sie im Rahmen eines Austauschprogrammes zu den Spielen nach München eingeladen hatten. An dem Abschiedsessen nahmen auch die fünf Münchner Schüler, deren Eltern und Mitglieder des Schulreferats teil. Außer einem Koffer voll schöner Erinnerungen (‚Das Schloß Neuschwanstein ist wunderschön‘) nimmt das vierzehnjährige Nesthäckchen Haruko Ishii auch ein stilechtes Dirndl-Kleid mit nach Hause. Ihre Freunde entschieden sich für eine Blockflöte und eine Gitarre als Andenken aus München. Während ihres vierwöchigen Aufenthalts entdeckten die fünf jungen Japaner ihre Vorliebe für bayerisches Essen. ‚Schweinshaxe und Knödel mit Lunge waren ihre Favoriten, wenn wir in einem Lokal aßen‘, weiß ihr deutscher Begleiter, der Lehrer Horst Pointner, zu berichten. Die fünf Schüler aus Sapporo nahmen auch an der offiziellen Feier im Rathaus teil, die die Partnerschaft der beiden Olympiastädte München und Sapporo besiegelte und waren Gäste des Hotel Eden, das seine Freundschaft mit dem japanischen Hotel Miyakoshi in Sapporo feierte.“1690

1688 |

Schreiben von Camillo Noel an Otto Bammel, 12. September 1972. In: Olympia-

de 1972 – Allgemeiner Schriftwechsel aus dem Büro des Bürgermeisters – Camillo Noel. Stadtarchiv München, 521. 1689 |

Schreiben von Camillo Noel an Georg Kronawitter zur künftigen Verwendung des Hau-

ses Conollystraße 31 vom 13. September 1972. In: Olympiade 1972 – Allgemeiner Schriftwechsel aus dem Büro des Bürgermeisters – Camillo Noel. Stadtarchiv München, 521. 1690 |

Abschied mit bayerischer Folklore. In: Münchner Merkur, 15. September 1972.

In: Presseamt Zeitungsausschnitte – Olympiade Kulturprogramm. Stadtarchiv München, 2684.

12. Am Ende der Utopie. 12. Schwabylon

„Am 8. November [...] [1973] öffnet Schwabylon, die ‚Stadt der Stadt‘, ihre Tore. Und wo könnte sie besser stehen als an Münchens berühmter Leopoldstraße: Mittendrin im swingenden Millionendorf. Ideal für Bummeln, Shopping und Freizeit. ‚Ich bin ein Schwabylonier‘, das wird man in München ab November öfter hören. Gleich von welcher Hautfarbe und Nationalität – Schwabylonier kann jeder werden. Schwabylon wird Treffpunkt der Münchner mit dem Rest der Welt sein. Hier wird gebummelt, kennengelernt, ‚gefreizeitet‘ und Schwabings liebster Sport betrieben: sehen und sich-sehen-lassen.“1691 Diese Informationen sind den hauseigenen Schwabylon Nachrichten bereits im Vorfeld der Eröffnung zu entnehmen. Die Rede ist von einem Gebäudekomplex in der Leopoldstraße 200 nahe des Mittleren Rings, der aus den Bauten des Hotels „Holiday Inn“, einem Appartementhaus, einem Ärztehaus, einem Biergarten, einer Parkgarage sowie einem Einkaufs- und Freizeitzentrum besteht. „Als 1966 München die Olympiade zugesprochen wurde, begann der Run der internationalen Konzerne, der ‚Ausländer‘, die sich alle einen Stützpunkt in der Olympiastadt sichern wollten. Holiday Inn (mit Lizenznehmer Otto Schnitzenbaumer) in der Leopoldstraße mit 600 Betten (dazu ein zweites Haus mit 250 Plätzen), Sheraton in Partnerschaft mit dem ‚Baulöwen‘ Josef Schörghuber am Arabella Park in Bogenhausen mit 1300 Betten, Hilton an der Isar nahe dem Englischen Garten mit 1000 Betten, und eine Reihe weiterer Häuser (wie das Esso MotorHotel und das ‚Tourotel‘ des Wienerwald Chefs Friedrich Jahn) eröffneten rechtzeitig zu den Spielen.“1692 Während das Hotel „Holiday Inn“ schon 1972 fertig gestellt worden ist, folgt das auffällige Herzstück der Anlage erst im darauf folgenden Jahr. „5000 Quadratmeter groß ist die schräge Fassade aus bunten, emaillierten Metallplatten. Mit der aufgehenden ‚Schwabylon-Sonne‘ ist sie nicht nur augenfälliges, sondern auch architektonisch richtungsweisendes Wahrzeichen dieser ‚Stadt in der Stadt‘.“1693

1691 |

„Schwabylon Nachrichten“. Werbeblatt (3. November 1973). In: Zeitgeschichtliche

Sammlung – Schwabylon. Stadtarchiv München, 453/13. 1692 |

Bößenechtr, Hermann (27. September 1972): München nach Olympia. Jammer vor

leeren Betten. In: Die Zeit. Verfügbar unter: http://www.zeit.de/1972/39/jammer-vorleeren-betten/seite-1, (1. November 2011). 1693 |

„Schwabylon Nachrichten“. Werbeblatt (3. November 1973). In: Zeitgeschichtliche

Sammlung – Schwabylon. Stadtarchiv München, 453/13.

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Die Realisierung des 156 Millionen Mark Projekts im Norden von Schwabing leitet die Schnitzenbaumer Wohnungsbau KG mit Sitz in München. Bauherren sind der Fonds 2000 – Schwabylon Intercommerciale – Bau- und Verwaltungs KG, Frankfurt am Main und der Bauunternehmer Otto Schnitzenbaumer junior aus Augsburg.1694 An der Finanzierung ist die Hessische Landesbank wesentlich beteiligt.1695 Die hypermoderne Einheit von Arbeiten und Leben hat der Architekt Justus Dahinden entworfen. Auch das nahe gelegene Lokal „Tantris“, das vor allem unter der Ägide des Sternekochs Eckhardt Witzigmann bekannt wird, hat der Schweizer konzipiert. „‚Exotisch‘ und ‚fremd‘, sagt Professor Justus Dahinden, [...] der es 1971 erbaute, so sollte es sein, jenes Restaurant, welches sich der Münchner Bauunternehmer Fritz Eichbauer ‚nur so zum Vergnügen‘ erdacht und errichtet hat.“1696 Das „Schwabylon“ wird der Öffentlichkeit zwei Jahre später „mit Blasmusik und Brez’n, Jazzgottesdienst und einwöchigem Festival“1697 präsentiert. In den Schwabylon Nachrichten sind die zahlreichen Attraktionen von Schnitzenbaumers „Super-Freizeit-Stadt“1698 angeführt. Das Center beherbergt über 100 Läden und Geschäfte, darunter den Nostalgie-Markt, eine Kosmetik-Boutique, die Weingrotte, einen Gambling-Room, einen Kindergarten, ein Dampfbad, eine Schwimmhalle, eine Eislaufbahn und eine Bar mit Namen „Yellow Submarine“.1699 Bullaugen in der Wand geben den Blick frei auf ein Aquarium mit 36 Haien. Wie das Nachrichtenmagazin Spiegel berichtet, hat Otto Schnitzenbaumer die Fische extra im Golf von Mexiko fangen lassen und nach München importiert.1700 „Das steht fest: die Agora wird ‚das Herz‘ Schwabylons. An ihr kann kein Schwabylonier vorbeigehen. Sie ist das Zentrum der Aktionen und Auktionen. Für Kunst und Mode steht eine mobile Tribüne und eine Galerie zur Verfügung; Projektionen informieren über die neuesten Angebote in der Ladenstadt, eine Life-TV-Station sendet Tag und Nacht. Mit immer neuen Attraktionen wird sich die Agora von ihrer Umwelt abheben. Sie wird, wie ihr Vorbild im antiken Griechenland, Anziehungspunkt für Menschen jeden Alters und aller Schattierungen sein. Hier sieht man und wird man gesehen. Und genau das ist auch vom Architekten beabsichtigt: die Agora 1694 |

Ebd.

1695 |

Vgl. Fürstweger, Walter (20. April 1979): Schwabylons Schicksal ist jetzt besiegelt.

In: Süddeutsche Zeitung. In: Zeitgeschichtliche Sammlung – Schwabylon. Stadtarchiv München, 453/13. 1696 |

http://www.tantris.de/fundamente.php, (11. November 2011).

1697 |

Fürstweger, Walter (20. April 1979): Schwabylons Schicksal ist jetzt besiegelt.

In: Süddeutsche Zeitung. In: Zeitgeschichtliche Sammlung – Schwabylon. Stadtarchiv München, 453/13. 1698 |

„Schwabylon Nachrichten“. Werbeblatt (3. November 1973). In: Zeitgeschichtliche

Sammlung – Schwabylon. Stadtarchiv München, 453/13. 1699 | 1700 |

Vgl. ebd. Schwabylon. Unterm Dach (19. April 1971). In: Der Spiegel, S. 68. Verfügbar unter:

http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-43278737.html, (10. Oktober 2011).

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bringt die Voraussetzung für Diskussion, Begegnung und Kommunikation. Hier auf der Agora soll Schwabylon ein wenig zu Babylon werden: ein vielfältiges Gemisch, das von der Sprachverwirrung nicht gestört wird, sondern eher dazu beiträgt, sie zu überwinden.“1701

S TADT, R ÄUME UND K ONFRONTATIONEN . „W ELTSTADT MIT H ERZ VOR DEM H ERZINFARK T ?“1702 An der Beschäftigung mit der Architektur lassen sich Phasen des Wandels ebenso verfolgen wie verschiedene Positionen im städtischen Raum. Gernot Böhme fasst zusammen, dass sich die ästhetische Qualität eines Gegenstands mit der Postmoderne als eigener Wert etabliert. Erkennbar wird diese Entwicklung auch an den gebauten Formen der Stadt. Der Philosoph zeigt, dass sich „[d]ie postmoderne Architektur [...] damit als ein Produkt ästhetischer Ökonomie [erweist]. Alles was hier gefeiert wird: die Integration der anderen Künste in die Architektur, die Annäherung an die Pop-Art, die Wiederkehr des Ornamentes, die Applikation von Symbolen ist genau das, was die Ware Architektur zu einer Ware macht, deren Wert wesentlich ein Inszenierungswert ist. Architektur lässt die Grenze zum Bühnenbild verschwimmen. Ihre Funktion besteht darin Szenisches zu schaffen, im Wesentlichen Szenen für den Konsum. Die Bedeutung ihrer Werke besteht in dem, was sie zum Image einer Stadt beitragen, und sie präsentieren sich selbst als ihre eigene Verpackung.“1703 In München finden sich in den langen 1960er Jahren zahllose Beispiele, die diesen Kontext am Übergang von der Moderne hin zur Postmoderne nachvollziehen lassen. Angefangen bei der Idee des Zeltdachs und der Anlage des Olympischen Dorfs über die Präsentation von Bildern in Rouckas Poster-Shop, die veränderte Wahrnehmung des Jugendstils oder die richtungsweisende Gestaltung der Piktogramme von Otl Aicher bis hin zum Bau des Freizeitcenters „Schwabylon“ spannt sich ein Bogen, in dem die Visualisierung von Konzepten nach und nach in der Zurschaustellung kommerzieller Interessen aufgeht. Böhme verweist auf die „Architektur der Verführung“1704 , ein Begriff, der auf die amerikanischen Architekten Robert Venturi und Denise Scott Brown und deren Auseinandersetzung mit der Ästhetik städtischer Räume zurückgeht. Dabei ist ein Bauwerk immer aus verschiedenen Perspektiven zu denken. Mitunter kann sich die Rezeption 1701 |

„Schwabylon Nachrichten“. Werbeblatt (3. November 1973). In: Zeitgeschichtliche

Sammlung – Schwabylon. Stadtarchiv München, 453/13. 1702 |

Flugblatt gegen den Ausbau des Mittleren Rings, 1973. In: Zeitgeschichtliche

Sammlung – Bürgerinitiativen. Stadtarchiv München, 17/3. 1703 |

Böhme 2006: S. 10.

1704 |

Venturi, Robert; Scott Brown, Denise; Izenour, Steven (2001): Learning from Las

Vegas. The forgotten Symbolism of architectural Form. Cambridge; Massachusetts; London 1972, S. 9. Zitiert nach: Böhme 2006: S. 10.

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eines Gebäudes auch verändern. Die Ansprüche der Architektinnen und Architekten, Nutzerinnen und Nutzer oder Betrachterinnen und Betrachter bewegen sich oft zwischen divergierenden Standpunkten, die meist nicht eindeutig zuzuordnen sind. Der Konsumtempel der 1970er Jahre begreift sich im Selbstverständnis seiner Macher ebenfalls als authentischer Ort. „Schwabylon ist [...] nicht nur eine bloße Ansammlung von Attraktionen und Kuriositäten, Schwabylon ist eine Idee. Sie ist ein Stückchen Zukunft, die der Freizeitgesellschaft der kommenden Jahre Rechnung trägt. Schwabylon setzt ein Zeichen als eine ‚Stadt in der Stadt‘. In der man durch die Konzentration vielfältiger Möglichkeiten auf kurzer Strecke Zeit sparen, damit die Freizeit verlängern und diese dann auch noch sinnvoll verbringen kann.“1705 Der adäquate Umgang mit dem städtischen Raum wird in einer späteren Phase der langen 1960er Jahre zusehends intensiver debattiert. „Einst hieß es: Stadtluft macht frei und dieser Slogan hat kaum noch Werbekraft. Heute heißt es eher: Stadtluft macht krank und wer sich finanziell in der Lage sieht, eine Datscha zu erwerben, der flieht die Willkür der Vermieter, die verpesteten und verstopften Straßen, die Hektik und das laute Treiben in der Innenstadt, um sich zwischen seinen Rosen auf der Terrasse zu erholen und vom Fernsehgerät unterhalten und bilden zu lassen“,1706 konstatiert der Architekt Burkard Greger, seit 1971 Baurat bei der Regierung von Oberbayern. Innerhalb der Dekade werden nicht nur die Möglichkeiten, sondern auch die Grenzen des Wachstums evident. Wie der Stadtplaner Gerd Albers erläutert, führen verschiedene Prozesse bei gegenseitiger Beeinflussung unweigerlich zum Verfall des städtischen Organismus. „Es ist nicht nur die technische und finanzielle Leistungsfähigkeit der Stadt, die der Kritik ausgesetzt ist – wenngleich sie natürlich eine wichtige Rolle spielt –, sondern auch ihre Eignung als menschlicher Lebensraum. Gleichzeitig wird festgestellt, daß die Stadt als Sozialgefüge hinter den gesellschaftlichen Ansprüchen zurückbleibt. Das Überhandnehmen des Konsumdenkens, der Verlust an städtischer Öffentlichkeit, das Schwinden bürgerschaftlichen Engagements – alles das wird häufig beklagt und manchmal in Verbindung gebracht mit jenen Vorwürfen und Anklagen, die sich auf das sichtbare Gefüge der Stadt beziehen: von Wohnungen entleerte Innenstädte mit wimmelnder Geschäftigkeit in den Flutstunden des Berufsverkehrs, aber ohne das erstrebte vielfältige urbane Leben; weite und monotone Wohngebiete in den Außenbezirken der Städte ohne die als notwendig empfundenen Gemeinschaftseinrichtungen, und noch weiter draußen das Revier der flächenfressenden freistehenden Einfamilienhäuser, die in Standort und Grundstückszuschnitt weit häufiger auf das zufällige Landangebot der Eigentümer oder auf den Ehrgeiz der 1705 |

„Schwabylon Nachrichten“. Werbeblatt (3. November 1973). In: Zeitgeschichtliche

Sammlung – Schwabylon. Stadtarchiv München, 453/13. 1706 |

Greger, Burkhard (1973): Städtebau ohne Konzept. Kritische Thesen zur Stadtpla-

nung der Gegenwart. Hamburg, S. 8.

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Vorortbürgermeister zurückgeht als auf rationale Planungsüberlegungen.“1707 Lange Zeit ist laut Albers überhaupt nicht berücksichtigt worden, dass Architektur auf gesellschaftliche Entwicklungen reagieren und dabei in erster Linie den Bedürfnissen der Menschen gerecht werden muss. „Rettet unsere Städte jetzt!“,1708 lautet das Motto des Deutschen Städtetags im Jahr 1971. Auf das Tableau gebracht wird dieser unmissverständliche Appell von HansJochen Vogel. Münchens Oberbürgermeister befasst sich eingehend mit der Krise der Stadt, diskutiert ihre Ursachen und damit aufgeworfene Probleme. Vogel sieht das Streben nach Expansion im Sinne eines teleologisch gedachten höher, schneller, weiter an ein Ende gekommen. Gerade mit Blick auf soziale Fragen können ökonomische Gesichtspunkte nicht länger Maß des Städtebaus sein, vielmehr muss die Lebensqualität der Bewohnerinnen und Bewohner im Mittelpunkt der Planungen stehen. Lebensqualität ist dabei weder mit der kontinuierlichen Erhöhung des Lebensstandards gleichzusetzen noch damit zu erreichen. „Es ist nicht zu leugnen: [...] [Das ökonomische] System hat gewaltige Kräfte freigesetzt und dazu beigetragen, die Massen aus der materiellen Not herauszuführen. Jetzt aber kehrt es sich gegen die Menschen, wird zum Selbstzweck und vertreibt die Menschlichkeit aus den Städten.“1709 Vogel beklagt ein alles überzeichnendes Profitstreben. Städten, die in Zukunft nicht bereit sein werden, sich umzuorientieren, droht jedoch unweigerlich der Kollaps. „Wer das verhindern will, muß unser System verändern. Sicher muss auch im Bereich der Urbanistik vieles geschehen. Wir brauchen zum Beispiel intensivere Stadtforschung, durchdachtere Konzeptionen für die Stadtentwicklung, ein neues Verständnis der Stadtplanung, bessere Techniken der Partizipation, der Verwaltung und der Steuerung und eine bessere regionale Kooperation. Aber hier fällt die Entscheidung nicht. Die besten Planungsteams werden mit modernsten Verwaltungs- und Steuerungstechniken und voll entwickelten Regionalverbänden den Kampf um die Vermenschlichung der Städte nicht gewinnen. Die Entscheidung fällt vielmehr auf dem Feld der allgemeinen Gesellschaftspolitik.“1710 Die Kulturwissenschaftlerin Beate Binder befasst sich aus einer historischen Perspektive „mit dem Begriff der Urbanität und seinen normativen und utopischen Semantiken in der Stadtplanungsdiskussion der 1960er und 1970er Jahre“1711 . Ausgehend von einer Überlegung des schwedischen Kulturanthropologen Orvar Löf1707 |

Albers, Gerd (1972): Was wird aus der Stadt? Aktuelle Fragen der Stadtplanung.

München, S. 8. 1708 |

Albers 1972: S. 7.

1709 |

Vogel 1972 a: S. 306.

1710 |

Ebd.: S. 307.

1711 |

Binder, Beate (2006): Urbanität als „Moving Metaphor“. Aspekte der Stadtent-

wicklungsdebatte in den 1960er/1970er Jahren. In: Saldern, Adelheid von (Hg.): Stadt und Kommunikation in bundesrepublikanischen Umbruchszeiten. (Beiträge zur Kommunikationsgeschichte, 17) Stuttgart, S. 45-63. Hier: S. 48.

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gren versteht Beate Binder den Begriff der Urbanität als moving metaphor, die sich trotz der grundlegenden Definitionen von Georg Simmel oder Louis Wirth nicht durch einen feststehenden Inhalt auszeichnet, sondern im Wechsel mit den Konstellationen der Zeit von variierenden Wertvorstellungen belegt wird.1712 An den unterschiedlichen Bedeutungen ist nachzuvollziehen, wie sich die Wahrnehmung von Themen im Zusammenhang mit der Stadt verschiebt. Die sechs maßgebenden Diskurse, von denen Edward Soja mit Blick auf die Postmetropolis spricht, sind am Exempel von München in den langen 1960er Jahren nicht nur im Entstehen, sondern auch in der Ausdifferenzierung zu beobachten. Bayerns Landeshauptstadt entwickelt sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer Postfordist Industrial Metropolis, die eng mit der Region und dem Umland verknüpft ist. Durch die Restrukturierung der Ökonomie beginnen sich sowohl die gebauten Formen zu verändern als auch sozialräumliche Strukturen zu verschieben. Immer deutlicher zeichnet sich eine Segregation des Stadtgefüges ab.1713 „Was ist eigentlich München? [...] Weiß jeder was gemeint ist? Ich bin mir dessen nicht so sicher. Ich fürchte in unseren Köpfen steckt noch immer die alte statische Vorstellung der stabilen Stadt, die zwar keine Mauern mehr hat, in der aber dort geborene Menschen einen einmal in der Jugend erlernten Beruf ein Leben lang ausüben und schließlich in hohem Alter sterben. München ist für viele immer noch irgendwie das München von 1914, vielleicht sogar ein München, dass es so überhaupt nie gegeben hat, sondern das nur als Wunschbild existierte.“1714 Der Oberbürgermeister führt die Schwierigkeiten an, die der massenhafte Zustrom von Menschen in die Stadt mit sich bringt. Benötigt werden nicht nur Wohnungen, auch soziale und kulturelle Einrichtungen müssen berücksichtigt werden.1715 Die Krise der Stadt ist in den USA schon Anfang der 1960er Jahre von Jane Jacobs diskutiert worden1716, als prominenter Sprecher beklagt Alexander Mitscherlich in der Bundesrepublik eine immer offenkundiger spürbare „Unwirtlichkeit der Städte“1717. Nach einer Phase der nahezu uneingeschränkt wachsenden Konjunktur beginnt sich die ökonomische Situation unter dem Einfluss von inneren und äußeren Faktoren zu wandeln.1718 Analog zum Schwund der Wirtschaftskraft zeichnen sich die Nebenfolgen der Modernisierung immer nachdrücklicher ab. In der Gesellschaft der Bundesrepublik beginnt sich nach und nach ein Bewusstsein zu entwickeln, das diese Probleme wahrnehmen lässt. Gerade in München ist der Aufwärtstrend seit den 1950er Jahren enorm gewesen, aufgrund der Spiele und 1712 |

Binder 2006: S. 46.

1713 |

Vgl. Soja 2000.

1714 |

Vogel 1972 a: S. 318.

1715 |

Vgl. ebd.

1716 |

Vgl. Jacobs 1961.

1717 |

Mitscherlich 1970.

1718 |

Vgl. Görtemaker 2004: S. 571-572, 597-598.

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der damit verbundenen Euphorie wird die Rezession in der bayerischen Landeshauptstadt erst mit der Ölkrise von 1973 in vollem Umfang spürbar. Angesichts der zunehmenden Verschärfung von Gegensätzen, des Auseinanderdriftens sozialer Strukturen und der kommerziellen Ästhetisierung des Stadtraums formiert sich innerhalb der Bevölkerung aktivistische Gegenwehr. Diese Art der Partizipation an Entscheidungsprozessen ist gleichsam vor dem Hintergrund der politischen Erfahrungen in den späten 1960er Jahren zu sehen. Mit der Krise der Stadt werden lokale Konflikte an konkreten Orten ebenso diskutiert wie weiter reichende soziale und kulturelle Fragen.1719 Welche Auswirkungen hat das Handeln der Gegenwart auf die Zukunft? Was bedeutet Menschlichkeit und welchen Stellenwert hat der Mensch innerhalb der Gesellschaft? Ausgehend von den Städten entwickelt sich ein Diskurs, der sowohl auf gesellschaftliche Utopien als auch auf das alltägliche Zusammenleben rekurriert und in seiner sozial- und kulturpolitischen Dimension besonders an den Debatten um die Raumplanung sichtbar wird. Beate Binder macht deutlich, dass die Urbanität in dieser Situation emanzipatorisches Potential erhält und durchaus als programmatische Aufforderung zu bürgerschaftlichem Engagement zu begreifen ist.1720 „Die Wiedergewinnung des Ästhetischen“1721 fordern analog auch Hermann Glaser und Karl-Heinz Stahl. 1974 entwickeln die Kulturwissenschaftler ein Konzept der Soziokultur, das Kunst und Kultur in die Mitte der Gesellschaft zurückholen soll und darauf abzielt, dass Menschen zu mündigen Bürgerinnen und Bürgern des Staates werden. Gerd Albers denkt ebenfalls darüber nach, wie die urbane Zukunft gestaltet werden kann. „Was aus der Stadt wird, kann also nicht allein in der Stadt, muß auch auf den Ebenen von Land und Bund entschieden werden. So düster die Perspektiven heute sind: das Schicksal der Stadt ist nicht vorgezeichnet, aber es wird sich auch nicht von selbst zum Guten wenden. Weder technische Geniestreiche noch künstlerische Spitzenleistungen können die Städte retten, wenn nicht die Bereitschaft des Bürgers wie des Politikers hinzukommt, im täglichen Handeln wie in der politischen Entscheidung der Stadt einen Rang einzuräumen, der ihrer Bedeutung als Lebensraum des einzelnen und der Gesellschaft entspricht.“1722 Auch die Topoi Ökologie und Umwelt werden verstärkt thematisiert. Die amerikanische Biologin Rachel Carson hat bereits 1962 ihre wegweisende Untersuchung „Silent Spring“ veröffentlicht, in der sie die Nebenwirkungen des Spritzmittels DDT, das weltweit zur Insektenbekämpfung verwendet wird, aufzeigt. Eine deut-

1719 |

Vgl. Binder 2006: S. 50-51.

1720 |

Vgl. ebd.: S. 53.

1721 |

Vgl. Glaser, Hermann; Stahl, Karl Heinz (1974): Die Wiedergewinnung des Ästheti-

schen. Perspektiven und Modelle einer neuen Soziokultur. München. Zitiert nach: Binder 2006: S. 51-52. 1722 |

Albers 1972: S. 9.

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sche Übersetzung der Arbeit erscheint erstmals im Jahr 1963.1723 In Zusammenhang mit den sich formierenden sozialen Bewegungen gewinnt auch der Denkmalschutz an Beachtung. 1975 schreibt der Journalist Peter M. Bode aus Anlass des Europäischen Denkmalschutzjahrs über den damit verbundenen Gemeinsinn. „Denkmalschutz von allen für alle, fordert in erster Linie freilich den Staat heraus, dem wir eine grundlegende Umverteilung der Mittel im Bereich des Bauens abverlangen müssen, wenn die alten Städte nicht sterben sollen. Denkmalschutz für alle heißt aber auch, daß das Heimatschutz ist, der nur von allen geleistet werden kann [...].“1724 Die Argumentation in den einzelnen Feldern zielt vorwiegend darauf ab, dass eine Verantwortung gegenüber den Mitmenschen und den nachfolgenden Generationen besteht. Die Stadt wird damit zum Laboratorium für ein sozial gerechteres Leben. Der Umgang mit dem Phänomen Migration spielt in der Cosmopolis ebenfalls eine zentrale Rolle. „München ist [...] eine Einwanderungsstadt. Das mag manche erschrecken. Aber es ist die Wahrheit.“1725 Nicht erst mit dem Anwerbestopp 1973 bleiben viele der ehemaligen Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter in der Bundesrepublik, eine Realität, mit der man sich befassen muss, wie Hans-Jochen Vogel ausdrücklich betont. „Denn warum holen wir denn die ausländischen Arbeitnehmer zu uns? Weil uns ihre schlechten Lebensbedingungen in ihren Heimatländern nicht schlafen lassen und wir ihnen zu einem höheren Einkommen, zu einem besseren Lebensstandard verhelfen wollen? Doch wohl kaum. Wir rufen sie, um mit ihrer Hilfe unser Sozialprodukt noch rascher zu steigern [...].“1726 Die Münchnerin Margarete Diringshofen hat sich seit den 1960er Jahren ehrenamtlich um die Kinder von Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern in ihrer Nachbarschaft gekümmert. Über diese Tätigkeit ist sie Mitglied bei der „InitiativGruppe - Interkulturelle Begegnung und Bildung e.V. (IG)“ geworden, die sich seit 1971 für die Belange von Migrantinnen und Migranten einsetzt, Deutschkurse anbietet oder Familien bei der Hausaufgabenbetreuung unterstützt.1727 Auch Edward Sojas Simcities bilden sich in München auf verschiedene Weise ab. Eine hyperreale Welt im klassischen Sinne der Kommerzialisierung stellt einmal 1723 |

Vgl. Carson, Rachel (1963): Der stumme Frühling. München.

1724 |

Bode, Peter M. (1975): Unser Lebensraum braucht Schutz, Denkmalschutz – eine

Kampagne der ‚Aktion Gemeinsinn‘ zum Denkmalschutzjahr. In: Europäisches Denkmalschutzjahr 1975. Eine Zukunft für unsere Vergangenheit. Denkmalschutz und Denkmalpflege in der Bundesrepublik Deutschland. Katalog zur gleichnamigen Wanderausstellung 1975-1976, im Auftrag des Deutschen Nationalkomitees für das Europäische Denkmalschutzjahr vorbereitet vom Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege, eröffnet am 3. Juli 1975 im Münchner Stadtmuseum. München, S. 38-55. Hier: S. 46. 1725 |

Vogel 1972 a: S. 320.

1726 |

Ebd.: S. 321.

1727 |

Vgl. Interview mit Margarete Diringshofen am 26. Juni 2008 und http://www.initia

tivgruppe.de/, (11. November 2011).

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das „Schwabylon“ dar. Ebenso sind die Bürogebäude, Geschäftszentralen und Luxuswohnungen, die an immer mehr Orten der Stadt gebaut werden, als ein Effekt der Postmetropolis zu verstehen. In München haben sich in der Zeit um 1970 zahlreiche Bürgerinitiativen formiert, in erster Linie geht es den Aktivistinnen und Aktivisten um den drohenden Verlust des ohnehin knappen Wohnraums in der Stadt. Die Ausweisung von Stadtteilen als Kerngebiete durch die Stadtverwaltung bildet die Basis für räumliche Umstrukturierungen. Damit steht nicht länger die Wohnqualität eines Stadtteils im Vordergrund, und vor allem Innenstadtviertel werden auf diese Weise für Spekulanten interessant. Immer mehr Häuser werden verkauft und abgerissen, für den Neubau des Europäischen Patentamts in der Isarvorstadt muss zum Beispiel ein mehrere Blocks umfassendes Areal mit Wohnraum weichen. Protest regt sich in der Maxvorstadt, im Lehel, in Sendling und in anderen Münchner Bezirken.1728 Wie Schwabing wird das Lehel in den späten 1960er Jahren nicht nur instand gesetzt, sondern infolgedessen auch umstrukturiert. Eine Projektgruppe, die ihren Sitz in der Christophstraße 7 hat, wendet sich im Sommer 1970 entschieden gegen die geplanten und bereits durchgeführten Baumaßnahmen. „Wir wissen, dass es im Lehel miese Wohnungen gibt, darum fordern wir, daß diese saniert werden. Wir wissen, daß es hier zu wenig soziale Einrichtungen (Schulen, Kindergärten, Kinderspielplätze usw.) gibt, darum kämpfen wir für deren Verwirklichung. Wir wissen, daß das Lehel saniert werden muß, aber wie das Lehel saniert wird, das werden wir, die Bevölkerung bestimmen. Die Kennzeichnung der von Konzernen aufgekauften Gebäude war der erste Schritt.“1729 Unter der Überschrift „Wieder stirbt ein Stück München!“ berichtet die Journalistin Gerda Wuster 1972 in der Abendzeitung vom Abriss eines Hauses in der Maxvorstadt. „Ein neues Geschäfts- und Wohnzentrum verdrängt ein altes Stück München: Die Alt-Münchner Gaststätte ‚Witwe Bolte‘ in der Amalienstraße 87 ist bereits zum Abbruch freigegeben, die angrenzenden Gebäude sollen so schnell wie möglich geräumt werden. Ulrich Novotny, betroffener Druckereibesitzer: ‚Nicht nur die Mieter sind betroffen, bei uns Geschäftsleuten geht es sogar um die Existenz!‘ Die Proteste der Bürger werden von der ‚Aktion Maxvorstadt‘ unterstützt.“1730 Wie die Abendzeitung im Juni 1972 schreibt, hat eine Frau versucht, sich zu erschießen, weil ihr der Mietvertrag gekündigt worden ist. Mit ihrer Wäscherei in der Amalienstraße 42 bestreitet sie den Lebensunterhalt für die ganze Familie. Gegenspieler ist in dem Fall die Ludwig-Maximilians-Universität, die an dieser Stelle zusätzliche Erweiterungsbauten plant. Auf einem Flugblatt erläutert die „Aktion Maxvorstadt“ unter der Überschrift „‚Schluckt‘ die Uni die Maxvorstadt?“, dass in den Jahren 1728 |

Vgl. Zeitgeschichtliche Sammlung – Bürgerinitiativen, Stadtarchiv München, 17/2.

1729 |

Flugblatt von 1970. In: Zeitgeschichtliche Sammlung – Bürgerinitiativen. Stadtar-

chiv München, 17/1. 1730 |

Wuster, Gerda (5. April 1972): „Wieder stirbt ein Stück München!“ In: Abendzei-

tung, S. 15. In: Zeitungsarchiv der Bibliothek der Institute am Englischen Garten.

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von 1972 bis 1980 mit wachsenden Studierendenzahlen von 30 000 auf 80 000 zu rechnen ist. Die Initiative befürchtet die „allmähliche Verödung eines lebendigen Wohnviertels durch universitäre Monostruktur“1731 . Die Münchner Kulturwissenschaftlerin und Journalistin Hella Schlumberger skizziert die Entstehung der „Aktion Maxvorstadt“ in einem Beitrag für die Basler National-Zeitung. Offenbar hat sich eine alte Frau im Winter 1970 aus Verzweiflung über die Kündigung ihrer Wohnung aus dem Fenster gestürzt.1732 Um den Missständen im Viertel entgegen zu wirken, findet sich 1971 ein Kreis von Aktivistinnen und Aktivisten zusammen. Die Gruppe trifft sich jeden Mittwoch in der Ludwigskirche, einer ihrer Gründer ist Ralf Dantscher, der so genannte „Mieter-Kaplan“1733 . Die „Aktion Maxvorstadt“ ist allerdings nicht mit der Bürgerinitiative Schwabing-Maxvorstadt gleichzusetzen, wie es in einer Erklärung vom Mai 1974 heißt. An dieser Bürgerinitiative sind wohl Mitglieder der Deutschen Kommunistischen Partei beteiligt, von denen man sich augenscheinlich distanzieren will.1734 Die „Aktion Maxvorstadt“ fragt auf neongelben Flugblättern: „Soll die Universität so weiterwuchern? Das nächste ‚Lehel‘ heißt Maxvorstadt! Vertreibung? Noch höhere Mieten?“1735 Verantwortlich sind die Architekten Karl Klühspies und Theodor Henzler. In dem Blatt „Maxvorstadt aktuell“ wird auf Entmietungspraxen und den fortgesetzten Abbruch von Wohnungen hingewiesen. Auch der Künstler Ali Mitgutsch, der in den 1960er Jahren mit seinen Wimmelbüchern für Kinder bekannt geworden ist, hat einen Artikel in dem Blatt verfasst.1736 Ein anderes Flugblatt stammt ebenfalls von Mitgutsch. „Aktion Maxvorstadt aktuell. Neuer Uni-Skandal: 300 % Mieterhöhung für eine kleine Altbauwohnung. Jahrelang sekkierte die Universität den Puppendoktor und seine Frau in der Amalienstrasse mit Kündigungen.“1737 Einem weiteren Flugblatt ist zu entnehmen: „Die Maxvorstadt ist zu klein für die Universität“1738 . Die abgebildete Karika1731 |

Flugblatt vom 23. Juni 1972. In: Zeitgeschichtliche Sammlung – Bürgerinitiativen.

Stadtarchiv München, 17/2. 1732 |

Vgl. Schlumberger, Hella (1973). In: National-Zeitung. In: Zeitgeschichtliche

Sammlung – Bürgerinitiativen. Stadtarchiv München, 17/2. 1733 |

Jacobsen, Cornelia (6. April 1973): Aktion Maxvorstadt. Unter Menschen gehen.

Warum Kaplan Dantscher seine Soutane ablegte. Verfügbar unter: http://www.zeit. de/1973/15/unter-menschen-gehen, (1. Juli 2011). 1734 |

Erklärung der „Aktion Maxvorstadt“ vom 29. Mai 1974. In: Zeitgeschichtliche

Sammlung – Bürgerinitiativen. Stadtarchiv München, 17/2. 1735 |

Flugblatt von 1973. In: Zeitgeschichtliche Sammlung – Bürgerinitiativen. Stadtar-

chiv München, 17/2. 1736 |

Vgl. Maxvorstadt aktuell 1973. In: Zeitgeschichtliche Sammlung – Bürgerinitiati-

ven. Stadtarchiv München, 17/2. 1737 |

Flugblatt a, um 1973. In: Zeitgeschichtliche Sammlung – Bürgerinitiativen. Stadt-

archiv München, 17/2. 1738 |

Flugblatt b, um 1973. In: Zeitgeschichtliche Sammlung – Bürgerinitiativen. Stadt-

archiv München, 17/2.

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tur zeigt einen riesigen Mann im Talar, der auf den Häusern der Maxvorstadt sitzt. Es geht wieder um die drohende Ausdehnung der Universität in der Amalienstraße und die umstrittene Nutzung des Leopoldparks. An der Bebauung der Grünfläche sind sowohl die Universität als auch das erzbischöfliche Ordinariat interessiert und werden als Aggressoren wahrgenommen.1739 Ein Teil des Parks bleibt letztlich erhalten, allerdings werden die Mensa, ein Kindergarten, das Studentenwerk, die Katholische Hochschulgemeinde und andere Bauten auf dem Areal errichtet. Oskar Holl, Kunsthistoriker und ab 1974 langjähriger Geschäftsführer des „Münchner Forums“, spricht von „brutalen Ausbreitungstendenzen“1740 der Uni. „Wollen Sie untätig zusehen, wie die Universität die Maxvorstadt erdrückt, nur weil uninteressierte Landtagsabgeordnete und starrköpfige Bürokraten im Kultusministerium es so haben wollen. So wird ein Viertel zerstört, das einst für viele Heimat war!“1741 Die Umwidmung von Stadtteilen in Kerngebiete wird von der „Aktion Maxvorstadt“ auf 1965 datiert, offenkundig hängt diese Entwicklung mit dem Jensen-Plan von 1963 zusammen. Im STEP 74, einem weiteren Stadtentwicklungsplan sind diese Entscheidungen zum Teil wieder zurückgenommen. Die Stadt ist gegen das Vorgehen privater Investoren im Grunde machtlos, erklärt sich solidarisch mit den Bürgerinnen und Bürgern und verkauft ihre Grundstücke mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit von Einkünften dennoch an meist bietende Interessenten. Als Beispiel wird ein Gebäude am Oskar-von-Miller-Ring aufgeführt. In einer Mitteilung äußert sich die Aktionsgruppe im April 1975 ablehnend zum STEP. Besprochen wird der Verkauf von Grundstücken an Banken und Versicherungen. „Es müssen [...] Zweifel an der Logik angemeldet werden, neue Lebensqualität dadurch zu schaffen, daß man die in Form städtischer Platzräume immerhin schon vorhandene und unwiederbringliche Lebensqualität zerstört. Die fortgesetzte Verschleuderung wertvollen Betriebsvermögens zur Deckung laufender Investitionskosten führt bei der Privatwirtschaft gewöhnlich zum Konkurs.“1742 Ein Streitpunkt ist auch der Bau der Amalienpassage, die von der „Aktion Maxvorstadt“ abgelehnt wird. Immer wieder geht es in der Presse und den Texten der Aktivistinnen und Aktivisten um Entmietungspraxen und um Menschen, die aus vollständig intakten Häusern ausziehen sollen, die anschließend abgebrochen werden. In der Friedrichstraße wird nach Angaben der „Aktion Maxvorstadt“ eine Jugendstilvilla abgeris-

1739 |

Flugblatt c, um 1973. In: Zeitgeschichtliche Sammlung – Bürgerinitiativen. Stadt-

archiv München, 17/2. 1740 |

E-Mail von Oskar Holl am 1. März 2008.

1741 |

Flugblatt d, um 1973. In: Zeitgeschichtliche Sammlung – Bürgerinitiativen. Stadt-

archiv München, 17/2. 1742 |

Grundsatzerklärung der „Aktion Maxvorstadt“, April 1975. In: Zeitgeschichtliche

Sammlung – Bürgerinitiativen. Stadtarchiv München, 17/2.

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sen, die zuvor sechs Wochen lang besetzt worden ist. Leerstand kann aber nicht geahndet werden, sondern liegt in privatem Ermessen, wie die Juristen feststellen.1743 Auf einem Flugblatt von 1973 wird auf die negativen Konsequenzen des Projekts Mittlerer Ring verwiesen: „Weltstadt mit Herz vor dem Herzinfarkt? Würgegriff: Mittlerer Ring. Verkehrschaos auf Pariser Ring-Autobahn! Oder Baustopp für Ringstraßen in London! Wofür entscheiden sich Münchens Stadtplaner?“1744 Aus Protest haben sich 24 Stadtteilinitiativgruppen zusammengeschlossen. Berichtet wird von ähnlichen Streckenführungen in anderen europäischen Ländern, die bereits fertig gestellt sind, aber dennoch zu Stau und Chaos führen. Der Ring bringt noch mehr Lärm, vertreibt Anwohnerinnen und Anwohner, verpestet die Luft. Die Initiative fordert: „Kein Ausbau des Mittleren Rings“, „Vorrangiger Ausbau der Massenverkehrsmittel“, „Keine Fahrpreiserhöhungen“ und „Nulltarif“1745 . Ein weiteres Flugblatt ruft ebenfalls zur Gegenwehr auf. Geltend gemacht werden zu hohe Kosten, auch eine Schädigung des Lebensraums Stadt wird befürchtet. Dazu wird Hans-Jochen Vogel auf dem Flugblatt zitiert: „Mit jeder Milliarde, die wir in den Straßenbau stecken, bringen wir die Stadt ihrem Tode näher.“1746 Verantwortlich zeichnen die Initiativgruppen Richard-Strauß-Straße, Maxvorstadt, Kurfürstenplatz, Landshuter Allee, Sendling, Haidhausen, Neuperlach etc.1747 Des Weiteren schickt das Bündnis am 25. September 1973 einen Fragebogen an alle Mitglieder des Stadtrats. Mit dem Schreiben soll auf die Nebenwirkungen, die den Bau einer Straße begleiten, aufmerksam gemacht und für eine Sensibilisierung der Stadträte geworben werden.1748 Wie komplex die Situation in der Stadt ist, zeigt die Entwicklung des Olympischen Dorfs. Obwohl die Struktur der Bauten im Vorfeld auch kritisch gesehen wird, ist an dieser Stelle die Utopie des autofreien Lebens realisiert worden. Trotzdem steht ein Großteil der Wohnungen nach dem Ende der Spiele erst einmal leer. Der Architekturkritiker Manfred Sack erklärt, dass 1972 nur 800 von 3 000 Eigentumswohnungen verkauft worden sind. Nach der boomenden Konjunktur der 1960er Jahre ist das Angebot in München ein einziges Mal allzu reichhaltig. An den Bauten werden zudem massive Schäden sichtbar, der Bauingenieur Raimund 1743 |

Vgl. ebd.

1744 |

Flugblatt a von 1973. In: Zeitgeschichtliche Sammlung – Bürgerinitiativen. Stadt-

archiv München, 17/3. 1745 |

Vgl. Flugblätter, um 1973. In: Zeitgeschichtliche Sammlung – Bürgerinitiativen.

Stadtarchiv München, 17/3. 1746 |

Flugblatt b von 1973. In: Zeitgeschichtliche Sammlung – Bürgerinitiativen. Stadt-

archiv München, 17/3. 1747 |

Ebd.

1748 |

Vgl. Fragebogen an den Münchner Stadtrat vom 25. September 1973. In: Zeitge-

schichtliche Sammlung – Bürgerinitiativen. Stadtarchiv München, 17/3.

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Probst spricht deshalb auch von der „Bundestropfsteinhöhle“1749 . 1973 ist ein Drittel der Wohnungen noch immer nicht belegt. „Häuser sind zum Wohnen da, nicht zum Profit!“,1750 lautet eine Parole gegen den Leerstand. Sack erinnert sich an Aktionsgruppen, die mit der Besetzung der Räumlichkeiten drohen.1751 Flugblätter weisen ebenso auf diese Pläne hin, allerdings sind den Worten keine Taten gefolgt.1752 Wie der Kritiker anführt, lässt sich die Diskussion auch in den Zeitungen verfolgen. Thematisiert werden die Sterilität der Anlage, die Leerstände und die schlechte Bausubstanz. Erste Bewohnerinnen und Bewohner klagen über schiefe Wände und die mangelhafte Ausführung der Bauten. Politiker schalten sich ein. Das Olympische Dorf gilt als Betonburg und als Geisterstadt. An einem derart stigmatisierten Ort will niemand leben.1753 In den darauf folgenden Jahren gewinnt das Dorf jedoch an Wert und wird bald als Stadtparadies wahrgenommen. Die Absicht der Architektinnen und Architekten geht erst mit einiger Verzögerung auf. Unterschiedliche Wohnungstypen und variierende Grundrisse bieten eine ungeheure Vielfalt, öffentliche und private Räume wechseln sich ab. Autos können nur unterirdisch einfahren, und die Anlage wird mit den Jahren immer grüner. Kunst ist Teil der Stadtlandschaft. 1975 hat das Dorf schon 13 000 Bewohnerinnen und Bewohner. Sack spricht von einer „wohl situierten Mittelschicht“1754, die sich im Norden der Stadt niederlässt und eine eingeschworene Gemeinschaft bildet. „Das ‚Schwabylon‘, im letzten November mit Pomp und Prominenz eröffnet“, berichtet der Journalist Martin Eckert im Juli 1974 in der Münchner Abendzeitung, „hat sich in eine Geisterstadt verwandelt. Aus dem Einkaufsparadies hinter der popig bemalten Metallfassade ist – so ein ehemaliger Mieter – eine ‚verdammte Blechkiste‘ geworden. Aus der jüngsten Münchner Spekulationsruine sind bis auf ein Dutzend Läden alle Geschäftsleute wieder ausgezogen. Ursprünglich beherbergte das Einkaufszentrum fast hundert Einzelgeschäfte. [...] Ingo Bubenik, Inhaber der Gemäldegalerie im Untergeschoß hält nur deshalb aus, weil er einen festen Kundenstamm hat, und nicht auf ‚Laufkundschaft‘ angewiesen ist. ‚Von dem, was ich hier umsetze, könnte ich natürlich nicht leben.‘ [...] Seine Nachbarin, die Boutiquenbesitzerin Doris Corzelius zahlt überhaupt keine Miete mehr. ‚Wovon denn auch!‘ meint sie.“1755 Obgleich der Hang zur Inszenierung eine zentrale Disposi1749 |

Vortrag von Manfred Sack, Architekturkritiker, zur Geschichte des Olympischen

Dorfs im Rahmen der Vierten Architekturwoche München am 4. Juni 2008. 1750 |

Ebd.

1751 |

Ebd.

1752 |

Vgl. Zeitgeschichtliche Sammlung – Bürgerinitiativen. Stadtarchiv München, 17/1.

1753 |

Vgl. Vortrag von Manfred Sack, Architekturkritiker, zur Geschichte des Olympi-

schen Dorfs im Rahmen der Vierten Architekturwoche München am 4. Juni 2008. 1754 |

Ebd.

1755 |

Eckert, Martin (17. Juli 1974): Ist das Schwabylon am Ende? In: Abendzeitung. In:

Zeitgeschichtliche Sammlung – Schwabylon. Stadtarchiv München, 453/13.

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tion der Residenzstadt ist, kann die artifiziell erzeugte Atmosphäre im direkten Vergleich zu Schwabing nicht bestehen. Der ehemalige Olympiasieger Manfred Schnelldorfer muss seine Eisarena ebenfalls schließen. „Das Hotel floriert, und auch die Wohnanlage, in der schon kurz nach der Eröffnung im Appartement einer Prostituierten ein 16jähriger Italiener ermordet wurde und in der sich blitzschnell sogenannte ‚Hostessen-Services‘ etabliert hatten, scheint jetzt bessere Zeiten zu erleben. Doch auf der Pleiteruine des ‚Schwabylon‘ blieben die Hessische Landesbank und 5000 Zeichner eines Finanzierungsfonds sitzen. Nur Otto Schnitzenbaumer selbst war zum 1. Januar 1974 rechtzeitig wieder ausgestiegen, denn er, der das ganze Spektakel inszeniert hatte, merkte auch als erster, daß die Spekulation auf die angeblichen Freizeitbedürfnisse der Großstädter zu einer gewaltigen Pleite führen würde.“1756 Das „Schwabylon“ hat sich in Zeiten des wirtschaftlichen Abschwungs als allzu phantastisches Blendwerk erwiesen. „Nach dem frühen Tode des phantasiebegabten Geschäftemachers Anusch Samy wollte Schnitzenbaumer der neue ‚Groß-Entertainer‘ Schwabings werden. Ein kühnes Vorhaben, Schnitzenbaumers ‚Schwabylon‘, nachdem ein ähnliches, allerdings bescheidener konzipiertes Projekt, Samys ‚Citta 2000‘, sich schon als Mißerfolg erwies, obwohl es weitaus besser, nämlich in Universitätsnähe, lag als Schwabylon.“1757 Der Reporter Karl Stankiewitz stellt im Münchner Merkur diverse Möglichkeiten vor, was aus dem „Schwabylon“ werden kann. Die Hessische Landesbank strebt eine finanziell einträgliche Lösung an und will das Gebäude als Warenhaus nutzen. Ingo Bubenik meldet sich dagegen mit einem anderen Vorschlag zu Wort. „Innerhalb des bislang ziemlich düsteren Pyramiden-Baus an der Leopoldstraße sollen nach Bubeniks Vorstellung unterkommen: eine Reihe von Kunstgalerien aller Art; eine Mustermesse für Möbeldesign; ein Museum für textile Kunst (hierfür hat sich schon ein Träger gemeldet); das von Gunter Sachs und einem interessierten Kreis seit Jahren geplante Modern-Art-Museum; offene Handwerkerbetriebe (Goldschmiede, Keramiker usw.) ein Kunst-Kino; Ausstellungs- und Arbeitsbereiche für experimentierende und startende Künstler; Graphiker- und Typographiker-Studios; ein Antiquitätenmarkt; Clubräume für Hobby-Maler und Laien-Musiker. [...] Man hofft nun, die Münchner gegen etwaige Pläne einer nunmehr totalen Kommerzialisierung Schwabings mobilisieren zu können und zur Grundfinanzierung des Kunstkonzeptes eine Trägerschaft auf die Beine zu bringen.“1758

1756 |

Biburger, Carl (19. November 1977): Erst Pop und dann Pleite in Schwabylon. In:

Rheinische Post. In: Presseamt Zeitungsausschnitte – Schwabylon. Stadtarchiv München, 1185. 1757 |

Wagner, Gerhard (11. November 1977): Requiem auf Schwabylon. In: Deutsche

Zeitung. In: Presseamt Zeitungsausschnitte – Schwabylon. Stadtarchiv München, 1185. 1758 |

Stankiewitz, Karl (31. Januar 1975): Kunstburg, Kaufhaus oder Rummelplatz?

In: Münchner Merkur. In: Zeitgeschichtliche Sammlung – Schwabylon. Stadtarchiv München, 453/13.

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Mit den Jahren verfällt der eindrucksvolle Bau. „Die Lampen am Eingang sind zersplittert, die Türen verschmutzt, von der bunten Fassade, die noch immer jeden Ästheten beleidigt, zieht sich in dicken Schlieren Dreck bis zum Boden hinunter. [...] In diesen Wochen wird das popfarbene Pleitezentrum Schwabylon, endlich zu 100 000 Kubikmetern Beton-, Glas- und Metallschutt verarbeitet – als Sinnbild einer gigantischen Fehlinvestition, die auf dem vermeintlich goldenen Boden der nacholympischen Jahre gedieh. [...] Dahinden stilisierte den container-förmigen Klotz sogar zu einem ‚urbano-sozialen Experiment‘ hoch, dessen ‚geschlossener Architekturraum zu jeder Tages- und Nachtzeit die Machbarkeit eines gezielten audio-visuellen Milieus zuläßt‘. Dahinden: ‚Damit ist es möglich, Atmosphäre, Stimmung, Überraschung zu schaffen und eine Gefühlskultur zu erzeugen, die in den meisten Öffentlichkeitsbereichen unserer gewachsenen Städte fehlt.‘ Daß mit gewachsenen Städten nicht zu spaßen ist, merkten die Mieter der Boutiquen und Läden im ewigen Kunstlicht des Schwabylon schon bald.“1759 Das Baureferat der Landeshauptstadt München genehmigt 1977 die Pläne zu einer Neubebauung des Areals. Im April 1979 wird die Simcity in der Leopoldstraße abgerissen.1760 Der Architekt Gabriel Hollo denkt in einem Leserbrief an die Süddeutsche Zeitung darüber nach, was das „Schwabylon“ für die Stadt bedeutet hat und ob es tatsächlich notwendig gewesen ist, den Bau einfach abzureißen. „Trotz des wirtschaftlichen Desasters der Pop-Pleite-Burg stellt sich im nachhinein die Frage, ob man dieses Bauwerk nicht hätte einer Nutzung zuführen können, welche seinem Erscheinungsbild adäquat gewesen wäre, z. B. Theater, Kino, Disco-Center, Nachtlokal oder ähnliches – Nutzungen, die ohne natürliche Beleuchtung (Fenster) auskommen. Immerhin wurde dieses Bauwerk von einem hochbegabten, anerkannten und weltweit durch Publikationen bekannten Architektur-Professor gestaltet und ist auf seine Art (Pop art Stil) gekonnt gemacht. Beispiele der Baukunst waren zu allen Zeiten Ausdruck von Zeitgeist (auch Ungeist) in Synthese mit zeitgenössischer Bautechnik und Material. Mit dem Abbruch dieses Bauwerks hat sich die Stadt München eines originellen und sehr zeittypischen Baudokumentes beraubt, welches auch für spätere Generationen kunsthistorisch von Interesse gewesen wäre als gebauter Ausdruck eines skurrilen Zeitabschnittes der Baugeschichte Münchens und der Welt.“1761

1759 |

Henkel, Rolf (16. Juni 1978): Ende einer Geisterstadt. In: Die Zeit. In: Presseamt

Zeitungsausschnitte – Schwabylon. Stadtarchiv München, 1185. 1760 |

Vgl. Beschluss des Bau- und Vergabeausschusses des Münchner Stadtrats vom 8.

Juni 1978. In: Presseamt Zeitungsausschnitte – Schwabylon. Stadtarchiv München, 1185. 1761 |

Hollo, Gabriel (16. Mai 1979): Schwabylon – ein Architekturdokument. Leserbrief.

In: Süddeutsche Zeitung. In: Zeitgeschichtliche Sammlung – Schwabylon. Stadtarchiv München, 453/13.

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Z UR A TMOSPHÄRE VON M ÜNCHEN IN DEN L ANGEN 1960 ER J AHREN „‚Schee wars.‘ ‚Schee wars scho.‘ ‚Ganz schee wars.‘ ‚So schee wars überhaupt no nia.‘ ‚Wenn ma denkt, dass dann auf a Mal alls vorbei ist.‘ ‚Ja mei.‘ ‚So ist das im Leben: zuerst is schee, dann is auf a Mal alls vorbei.‘ ‚Ja, ja. Heut is Samstag, morgen is Sonntag und übermorgen is Montag [...].‘“1762 Nach einem rauschenden Faschingsfest in der Thierschstraße sitzen Tscharlie, Gustl und Achmed an der Isar. Kostümiert als Zoro, Gringo und Zapata sinnieren die drei im Morgengrauen über die Feier und das Leben. Mit Blick auf die bevorstehende Arbeitswoche beschließen die Freunde, ihre Rollen beizubehalten und eine Reise zu unternehmen. „Der lange Weg nach Sacramento“ führt nicht im eigentlichen Sinne aus München heraus, vielmehr werden die Bedeutungen unmittelbar vor Ort verschoben. Die bayerische Landeshauptstadt wird zum Wilden Westen, die Isar zum Rio Bravo. Aus Tscharlie, Gustl und Achmed werden Zoro, Gringo und Zapata, zwei Cowboys und ein Mexikaner. Die beschriebene Episode stammt aus Helmut Dietls Serie „Münchner Geschichten“ von 1974. In einer ungeheuren Poesie und Dichte zeigt der Regisseur auf, welche Möglichkeiten die Stadt München in den langen 1960er Jahren zu bieten hat. Dabei erinnert der Vergleich zwischen den eng bebauten Räumen einer Großstadt im 20. Jahrhundert und der Weite der amerikanischen Landschaft um 1850 an die metaphorische Rede von der Stadt als Dschungel. In der Reihe des Bayerischen Rundfunks geht es um Tscharlie, gespielt von Günther Maria Halmer, der bei seiner Großmutter, die von Therese Giese verkörpert wird, wohnt und versucht, sein Leben in München zu meistern. Als die Freunde nach dem Fest nicht nach Hause kommen, beruhigt die Oma Tscharlies Bekannte und erklärt, dass alle Männer einmal eine solche Reise machen müssen. Ein Lagerfeuer am Fluss bringt den Helden eine erste Anzeige wegen Landstreicherei ein. Auf der Polizeiinspektion spricht Tscharlie die Beamten als Zoro im schwarzen Anzug mit Hut und Pistole im breitesten Münchner Dialekt als Marshalls an. Höhepunkt der Story ist der Ritt über die Ludwigstraße bzw. durch Das Tal des Todes, im Hintergrund ist der Odeonsplatz mit der Feldherrnhalle und der Theatinerkirche zu sehen. Unterm Siegestor kommt es zum Showdown, drei berittene Polizisten stellen sich den Helden von Angesicht zu Angesicht in den Weg. Es folgt eine Anzeige wegen Pferdediebstahl, dabei sind die Tiere von der Reitschule an der Königinstraße ausgeliehen, wie Zapata in seinem mexikanischen Umhang auf der Wache zugibt. Ein drittes Erlebnis führt Zoro und Gringo schließlich in einen Saloon, der Verräter ist inzwischen am Rio Bravo verstoßen worden und reumütig nach Hause zurückgekehrt. „Auf dem Weg nach Sacramento“ ist den Freunden das Geld ausgegangen, und das Kartenspielen erscheint als besonders effiziente Methode, die Kasse

1762 |

Dietl, Helmut (1974): Münchner Geschichten. Serie.

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aufzufüllen. Die beiden Cowboys geraten jedoch an die Falschen, und auch diese Aktion endet unweigerlich in der Realität einer Münchner Polizeiinspektion.1763 „Aber, wird man sagen, was bringt uns diese besondere Art und Weise des Kunstverständnisses? Lohnt es sich, womöglich den Reiz eines Kunstwerks zu zerstören, nur um es zu erklären? Und was hat man gewonnen, außer dem immer etwas sauertöpfischen Vergnügen der Bescheidwisserei, wenn man etwas historisch analysiert, was als eine absolute, von den Kontingenzen einer historischen Genese unberührte Erfahrung erlebt werden will?“1764 Diese Fragen wirft Pierre Bourdieu auf, um sich in seiner Argumentation explizit für eine „entschieden historische Sichtweise“1765 auf die Dispositionen und Verläufe eines Subjekts oder Gegenstands auszusprechen. In den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellt der Soziologe die Prozesshaftigkeit von Phänomenen. Entsprechend muss es auch der Forschung darum gehen, „exaktes Wissen von den historischen Bedingungen der Entstehung transhistorischer Logiken wie der der Kunst oder der Wissenschaft“1766 zu erwerben, um einen kritischen Diskurs aus „der platonischen Versuchung des Wesensfetischismus“1767 zu befreien. Aus einer analytischen Perspektive gilt es nicht das spezifische Prinzip als solches, sondern seine relative Bedeutung in der Konstellation von spezifischen Strukturen in Raum, Zeit und Gesellschaft zu verstehen. „Die Geschichte kann das Übergeschichtlich-Allgemeine nur hervorbringen, indem sie soziale Universen schafft, in denen es durch die sozial-alchimistische Wirkung der spezifischen Gesetze, denen ihre Abläufe unterliegen, zur allmählichen Erkennung der sublimierten Essenz des Allgemeinen aus den oft gnadenlosen Auseinandersetzungen zwischen den besonderen Standpunkten kommt.“1768 Und die „[...] realistische Sichtweise, die die Produktion des Universalen zu einem kollektiven Unternehmen macht, das bestimmten Regeln unterliegt“1769, hält Bourdieu nicht nur für beruhigender, sondern in gewisser Weise auch für menschlicher als den Glauben „an die Wunderkräfte des schöpferischen Geistes“1770. Die Stadt ist ebenso als Kunstwerk zu begreifen. Ein städtischer Organismus setzt sich aus einer Vielzahl von physischen, kulturellen, sozialen, zeitlichen und ideellen Räumen zusammen. Die Stadt schillert, wird in ihren Einzelteilen und analog in ihrer Gesamtheit wahrgenommen. Die Stadt gleicht einem dichten Gewebe und markiert dabei immer eine Schnittstelle in einem weit reichenden Netz an Bezügen. „Der Versuch, ein Leben als eine einmalige und sich selbst genügende Abfolge von 1763 |

Vgl. ebd.

1764 |

Bourdieu 1998 a: S. 73.

1765 |

Ebd.

1766 |

Ebd.

1767 |

Ebd.

1768 |

Ebd.: S. 74.

1769 |

Ebd.

1770 |

Ebd.

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Ereignissen zu verstehen, deren einziger Zusammenhang in der Verbindung mit dem ‚Subjekt‘ besteht, dessen Konstanz nur die eines Eigennamens sein dürfte, ist ungefähr so absurd wie der Versuch, eine Fahrt mit der U-Bahn zu erklären, ohne die Struktur des Netzes zu berücksichtigen, das heißt, die Matrix der objektiven Relationen zwischen den verschiedenen Stationen.“1771 Gleiches mag auch für die Biographie einer Stadt gelten. Der britisch Historiker Eric Hobsbawm bezeichnet das kurze 20. Jahrhundert als „Zeitalter der Extreme“1772 . Das Katastrophenzeitalter bezieht sich auf die beiden Weltkriege und dauert von 1914 bis 1945, das Goldene Zeitalter schließt an die Phase an, und Mitte der 1970er Jahre spricht Hobsbawm von einem Erdrutsch nach dem Boom.1773 Mit der „Historisierung der Bundesrepublik“ beschäftigt sich der Historiker Axel Schildt. Die Genese des deutschen Staats von 1949 bis 1989 ist zugleich als Erfolgsgeschichte und als Geschichte von Misserfolgen, als Belastungsgeschichte, als Modernisierungs- und als Verwestlichungsgeschichte aufzufassen.1774 Die alte Bundesrepublik muss stets vor dem Hintergrund ihrer jüngsten Vergangenheit betrachtet werden. München liegt nach 1945 in Trümmern, die Stadt kann wieder aufgebaut werden und ernennt sich 1962 selbst zur „Weltstadt mit Herz“. Die Bemühungen der „Heimlichen Hauptstadt Deutschlands“ gipfeln 1972 in der Austragung der XX. Olympischen Sommerspiele. „Die Kategorie Zeit offenbart sich in unserer Lebenswelt auf unprätentiöse Weise so allgegenwärtig“, konstatiert der Architekt Robert Kaltenbrunner, „dass man sie zu ignorieren geneigt ist. Gerade die Koppelung von stabilen und instabilen Prozessen ist es ja, was Städte einerseits zu höchst dauerhaften und andererseits zu brodelnd lebendigen Gebilden macht. Städte gehören zu den beständigsten gesellschaftlichen Strukturen überhaupt. Ihre Dauerhaftigkeit ist aber unlösbar verbunden mit ständiger Veränderung und Entwicklung.“1775 Ausgehend von der grundlegenden These, dass sich der Wandel, den München in dieser Epoche durchläuft, nachhaltig auf die Biographie der Stadt und das Leben der Menschen auswirkt, stellt sich die Frage, was in den langen 1960er Jahren mit München und seinen Bewohnerinnen und Bewohnern geschehen ist. Im Alltag der Stadt lassen sich Prozesse der Modernisierung, der Internationalisierung und der Regionalisierung sowie einer fortschreitenden Ästhetisierung nachzeichnen. Bei allen Verschiebungen zeigt sich am Beispiel von 1771 |

Bourdieu 1998 a: S. 82.

1772 |

Hobsbawm, Eric (1998): Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahr-

hundert. München. 1773 |

Hobsbawm 1998.

1774 |

Schildt, Axel (2011): Überlegungen zu einer Historisierung der Bundesrepublik.

In: Schildt, Axel: Annäherung an die Westdeutschen. Sozial- und kulturgeschichtliche Perspektiven auf die Bundesrepublik. Hg. von der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg. Göttingen, S. 11-30. 1775 |

Kaltenbrunner, Robert (14./15. März 2009): 1 + 1 = 3. In: Süddeutsche Zeitung.

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München aber auch, dass der Habitus der Stadt, von dem der Kulturanthropologe Rolf Lindner spricht, wiederkehrend in den städtischen Eigenheiten und Artikulationen zum Tragen kommt.1776 München wird auf seine Weise moderner. Um die Situation der bayerischen Landeshauptstadt einschätzen zu können, weiten Vergleiche mit anderen Städten und urbane Parameter den Blick. Sojas Diskurse der Postmetropolis lassen sich auf ihre Weise auch in München nachvollziehen. Die ästhetischen Qualitäten der Stadt werden erinnert und beschrieben und öffnen gleichzeitig die Dimensionen der Wahrnehmung. Nicht nur die habituellen Dispositionen gehen in der Ästhetik der Stadt auf, als Medium übermittelt die Atmosphäre auch die Gestimmtheit von München und transportiert diese Eindrücke auch aus der Vergangenheit in die Gegenwart. Als Topoi werden über einen ästhetischen Zugang immer wieder Bauten und Bilder evident, an denen die Idee von der Stadt als Gewebe besonders sichtbar wird. Im Lauf der langen 1960er Jahre arrangieren sich politische, ökonomische und soziokulturelle Konstellationen, die München zu einer bedeutenden Schnittstelle dieser Zeit werden lassen. Als Postmetropolis repräsentiert sich die Stadt selbst und zugleich den Freistaat Bayern und die Bundesrepublik. „Historisierung, recht verstanden, ist also nichts anderes als das Geschäft der Geschichtswissenschaft. Ereignisse, Strukturen, Prozesse werden in ihren zeitlichen Kontexten gedeutet, periodisiert, im Verhältnis von Kontinuitäten und Brüchen verortet.“1777 Des Weiteren erklärt Axel Schildt, dass die „[p]rofessionelle Zeitgeschichte oder Neueste Geschichte [...] für ihre analytische und hermeneutische Arbeit aber eines gewissen Abstands [bedarf ], der in der Regel im generationellen Wechsel zustande kommt und seinen technischen Ausdruck etwa in den meist dreißigjährigen Sperrfristen staatlicher Archive findet“1778 . Bis dato sind daher lediglich einzelne Abschnitte und Sequenzen bearbeitet worden, „[...] während der immer noch größere Teil sich im Niemandsland zwischen Zeitgeschichte und Gegenwart befindet, für die kaum schon geschichtswissenschaftlich erprobte und diskutierte Deutungsmuster zur Verfügung stehen, in dem aber wie wir als Zeitungsleser und Zuschauer von Talkshows erfahren, die historisch daherkommenden Legenden am besten gedeihen“1779 . Das Zeltdach und die außergewöhnliche Gestimmtheit von München werden in den 1960er Jahren vielfach thematisiert. Der Architekt Günter Behnisch will mit seinen Bauten ausdrücklich dazu beitragen, dass sich die Spiele durch eine „Atmosphäre der Offenheit, Leichtigkeit und Menschlichkeit“1780 auszeichnen. Wie der Gestalter Otl Aicher und der Landschaftsarchitekt Günther Grzimek hat Behnisch den Zweiten Weltkrieg als Soldat 1776 |

Vgl. Lindner 2003 b.

1777 |

Schildt 2011: S. 15.

1778 |

Ebd.

1779 |

Ebd.

1780 |

Behnisch 1968: S. 42.

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erlebt und aus dieser Erfahrung heraus eine politische Haltung entwickelt, die in der Formensprache der Spiele auffallend zur Geltung kommt und von den kreativen Köpfen immer wieder selbst postuliert worden ist. Der Olympiapark erscheint als spezifischer Raum, der nicht nur wegen seiner eindrucksvollen Oberflächen als Utopie betrachtet werden muss. Von „Spielen der Menschlichkeit“1781 spricht auch die Kölner Sportwissenschaftlerin Lieselott Diem. „Selten haben Olympische Spiele ein solches Maß an Menschlichkeit als gemeinsames Erlebnis dem Einzelnen bewusst gemacht wie diese Spiele der XX. Olympiade in München.“1782 Als Witwe des Sportfunktionärs Carl Diem, der maßgeblich an der Inszenierung der Sommerspiele von 1936 beteiligt gewesen ist, formuliert Lieselott Diem ihre Eindrücke aber in dem Bewusstsein, dass die Ereignisse des Jahres 1972 als Fortsetzung von Berlin zu begreifen sind. Aus ihrem Blickwinkel gibt es auch nach dem Ende des Nationalsozialismus keinen Bruch. Bei den Sommerspielen in München gehört Lieselott Diem ebenfalls zum erweiterten Führungszirkel des OK.1783 An der Rede von der Menschlichkeit zeigt sich, wie verschieden die Positionen in den langen 1960er Jahren sind. Ebenso wird ersichtlich, dass vollständig divergierende Einstellungen zu übereinstimmenden Aussagen führen können, die es aus dem Grund konsequent zu hinterfragen gilt. „Architektur als gefrorene Musik? Die Sinuskurven der Olympischen Dächer decken sich wie zufällig mit den Sinuskurven aus dem Arabellahochhauskeller“,1784 meint Andreas Neumeister. Uli Walter vom Denkmalschutzamt der Stadt München hält das Olympiazentrum für einzigartig und nicht kopierbar. Der Architekt spricht von informellen Begegnungsräumen und einem unbedingten „Willen zur Utopie“1785 . Die Bauten haben allein zu dieser Zeit und an diesem Ort unter diesen Bedingungen entstehen können. „München“, sagt Hans-Jochen Vogel über die Olympiastadt von 1972, „war [...] in diesen Tagen mehr als eine anonyme Stadtmaschine, ein perfekter Programmproduzent. Es war für die Spiele Hintergrund, Rahmen, Nährboden und Stimulanz in einem. Die Kinder, deren Gruß einen der Höhepunkte der Eröffnungsfeier bildete, waren Münchner Kinder. Die Menschen, die zu tausenden auf dem Schuttberg saßen und ihn in allen Farben leuchten ließen, waren ganz überwiegend Münchnerinnen und Münchner. Und es waren wiederum zum großen Teil Münchner, die an allen Tagen schon bei den Vorentscheidungen die Sportstätten fast bis zum letzten Platz füllten. Ein zu 85 Pro1781 |

Diem, Lieselott (1972): Spiele der Menschlichkeit. In: Organisationskomitee für

die Spiele – Wettkämpfe, S. 7-8. Hier: S. 7. 1782 |

Diem 1972: S. 7.

1783 |

Vgl. Schiller; Young 2010: S. 20-22.

1784 |

Neumeister 2008: S. 202.

1785 |

Bemerkung von Uli Walter anlässlich des Vortrags von Manfred Sack, Architektur-

kritiker, zur Geschichte des Olympischen Dorfs im Rahmen der Vierten Architekturwoche München am 4. Juni 2008.

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zent ausverkauftes Gesamt-Kartenkontingent – das hatte es bisher noch in keiner Olympia-Stadt gegeben. Auch war der Olympiapark schon von seiner Eröffnung an ebenso ein Stück Münchner Landschaft wie Schwabing, die Ludwigstraße oder die Innenstadt. Münchner Lebensart und Daseinsfreude teilen sich so den Spielen und all ihren auswärtigen Teilnehmern und Gästen mit – in unaufdringlicher aber durchaus wirksamer Weise.“1786 In der Biographie einer Stadt finden sich solche Situationen wie auch im Leben eines Menschen in der Regel nicht nach Belieben. Immer wieder gibt es Phasen, in denen alles in Bewegung ist, ohne dass irgendetwas Herausragendes passiert, Phasen, in denen nichts zusammengehen will, und dann entwickeln sich die Konstellationen mit einem Mal so, dass alles passt und noch darüber hinaus Potential entwickeln kann. Die langen 1960er Jahre sind ein ausgesprochen prägender Zeitraum für München und seine Bewohnerinnen und Bewohner. Maßgeblich wirken sich die Entscheidungen und Errungenschaften dieser Epoche noch auf die Zukunft der Stadt aus. Das Faschingswochenende ist fast vorbei. Zoro und Gringo sitzen hinter Gittern. In der Amtsstube sprechen die Polizisten, einer von ihnen ist Walter Sedlmayr, über ihr weiteres Vorgehen. „‚Was mach ma jetzt?‘ ‚Ja, I weiß au net, was ma da macha.‘ ‚Und wenn mas laufa lassen?‘ ‚Könn mer fei sauber eigeh. Wenn der Schwarze da wirklich der Zoro is. Ja, I moin, langsam weiß ma ja scho selber nimmer, wer ma is. Was woas na i. Woast was i moan? Wenn des ganz raffinierte Ganoven san oder von der Zeitung, die uns da blitzen wollen. Woast scho. [...] Ob die Polizei an Spaß versteht. … Des geht dann scho in die landespolitischen Bereiche und so. Da mias ma fei wahnsinnig aufpassen.‘ ‚Ja.‘ ‚Derfst net vergessen, dass Fasching is, verstehst?‘“1787 Die beiden Beamten öffnen schließlich die Tür der Zelle, Zoro und Gringo nutzen die Gelegenheit und machen sich aus dem Staub. Wenngleich die einzelnen Szenen eine abstruse Geschichte erzählen, scheint die Vorstellung von der Stadt als Wilder Westen durchaus plausibel. Das sonderbare Geschehen erweitert die Perspektive und lotet aus, was zu der Zeit in München möglich ist. Der Film überzeichnet eine Atmosphäre, die aus der Reibung von Momenten entsteht, die konkret zu verorten sind und zugleich darüber hinausweisen. Die Figur des Stenz spielt ebenso eine wesentliche Rolle wie die Geschmackslandschaft der Kunststadt. Der Regisseur berührt das Imaginaire1788 einer Stadt, in der im Verlauf der langen 1960er Jahre alles vorstellbar geworden ist. Am Ende scheint gerade die hyperreale Westernstadt die Atmosphäre von München im Kern zu treffen. „Der lange Weg nach Sacramento“ führt in der Schlussszene wieder an die Isar bzw. an den Rio Bravo. Das Motiv vom Anfang wird noch einmal aufgegriffen und damit zu einem Satz von allgemeiner Gültigkeit. „‚Schee wars.‘ ‚Schee wars scho.‘ ‚Ganz 1786 |

Vogel, Hans-Jochen (1972 c): Der große Zwiespalt. In: Valérien, Harry (Hg.): Olym-

pia 1972. München – Kiel – Saporro. München, S. 16-17. Hier: S. 16. 1787 |

Dietl, Helmut (1974): Münchner Geschichten. Serie.

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Lindner 2008 a.

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schee wars.‘ ‚So schee wars überhaupt no nia.‘ ‚Wenn ma denkt, dass dann auf a Mal alls vorbei ist.‘ ‚Ja mei.‘ ‚So ist das im Leben: zuerst is schee, dann is auf a Mal alls vorbei.‘ ‚Genau.‘“1789

1789 |

Dietl, Helmut (1974): Münchner Geschichten. Serie.

13. Bibliographie

I NTERVIE WS UND G ESPR ÄCHE Interview mit Oskar Holl am 27. Februar 2008. Interview mit Antonie Thomsen am 17. März 2008. Interview mit Ernst Grasser am 20. Oktober 2008. Interviews mit Hartwig Linderkamp am 4. Juni 2008, am 23. Juni 2008 und am 3. Juli 2008. Interviews mit Margarete Diringshofen am 26. Juni 2008 und am 30. Juli 2009. Interview mit Wolfgang Roucka am 11. März 2009. Interview mit Robert Huber am 9. April 2009. Interview mit Karin Kastner am 9. Juni 2009. Interview mit Biggi Peters am 10. Dezember 2009. Interviews mit Adelheid Boeck am 8. März 2010 und am 21. Januar 2011. Interview mit Eckhart Just am 12. Mai 2010. Gespräche mit Karl Egger (3. November 2011), Jutta Esch (19. August 2009), Helge Gerndt (11. November 2010), Angelika Grimm (12. Dezember 2010), Anton Gschwendtner (17. Dezember 2009), Gisela Holighaus (30. Mai 2008), Elisabeth Kellner (1. Juli 2009), Lieselotte Knebel (10. März 2010), Gerd Linder (10. Oktober 2009), Gudrun Mendheim (10. Oktober 2009), Rolf Müller (27. Oktober 2010), Veronika Bauer, Mathilde Nolte (19. August 2009), Otto Thomas (9. März 2010), Elisabeth Tworek, Dagmar Püschel, Hans Thiem (1. Juli 2009), Aglaja Reuter (9. März 2010), Friedl Rößler (27. Mai 2009), Johann Suckart (9. März 2010), Bernd Zeytz (3. Februar 2009), Elfriede, Erna und Luise (6. April 2009) und anderen.

V ORTR ÄGE UND TERMINE Zeitzeugenforum mit Hans-Jochen Vogel am Institut für Bayerische Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München am 3. Juni 2004. Besuch des Timofei Museums auf dem Gelände der Ost-West-Friedenskirche am 6. Dezember 2007. Podiumsdiskussion des Münchner Forum e.V. mit der Münchner Stadtbaurätin Elisabeth Merk, mit Wilfried Spronk, dem Geschäftsführer der Olympiapark

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GmbH, dem Architekten Fritz Auer und dem Landschaftsplaner Christoph Valentien im Saal des Münchner Stadtmuseums am 4. März 2008. Vortrag von Hans Günter Hockerts, Professor für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität, zum Thema „Verbrannte Bücher, zerstörte Demokratie. Der 10. Mai 1933 in historischer Perspektive“ im Audimax der Ludwig-Maximilians-Universität München am 9. Mai 2008. Einführung durch den Landschaftsarchitekten Christoph Valentien bei einer Tour durch den Olympiapark im Rahmen der Vierten Architekturwoche München am 4. Juni 2008. Vortrag von Manfred Sack, Architekturkritiker, zur Geschichte des Olympischen Dorfs im Rahmen der Vierten Architekturwoche München am 4. Juni 2008. „Grüß Gott, die Welt!“, Präsentation von Image-Filmen der Stadt München durch Elisabeth Tworek, Leiterin der Monacensia, Literaturarchiv und Bibliothek der Landeshauptstadt München, im Rahmen des Monacensia Sommerfests am 8. Juli 2008. Symposium „Städtisches Selbstverständnis und Stadtjubiläen – Bilder, Inszenierungen und Visionen“ an der Katholischen Universität Eichstätt am 31. Oktober 2008. Jubiläumswochenende „160 Jahre Münchner Hauptbahnhof“ am 19. und 20. Juli 2009. Besuch in „Gino’s Gelateria“ auf der Leopoldstraße am 20. August 2009. Gespräche mit Besucherinnen und Besuchern und dem Landschaftsarchitekten Gerd Linder im Rahmen einer Tour des Bund Naturschutz durch den Olympiapark am 10. Oktober 2009. Michael Graeter im Gespräch mit den Journalisten Arno Makowski, Christian Mayer und Kimberly Hoppe im Rahmen der Lokalrunde „HeimAZbend“, veranstaltet von der Abendzeitung im Vereinsheim München, Occamstraße 8, am 9. Dezember 2009. Gespräche und Sichtung von Objekten im Rahmen des Sammelaufrufs für die Ausstellung „München 72“ vom Haus der Bayerischen Geschichte und dem Institut für Bayerische Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München am 9. und 10. März 2010. Gespräch zwischen Hans-Jochen Vogel und dem Journalisten Ulrich Chaussy, „Die Olympischen Spiele 1972 – Bilanz und Perspektiven auf 2018“, im Rahmen der Reihe „M 2018 – Staffellauf nach Olympia“ am 16. März 2010 im Gasteig. Begegnungen in der Reihe „24 h. Bahnhofsviertel“ von Karnik Gregorian und Anne-Isabelle Zils im Rahmen von „Munich Central“, dem Stadtprojekt der Münchner Kammerspiele im Juni 2010. Begegnungen bei „Gleis 11“ von Christine Umpfenbach und Paul Brodowsky im Rahmen von „Munich Central“, dem Stadtprojekt der Münchner Kammerspiele im Juni 2010. Ausstellung „München 72“ vom Haus der Bayerischen Geschichte und dem Institut für Bayerische Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München

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in den Räumen des Bayerischen Hauptstaatsarchivs vom 7. Oktober bis zum 12. Dezember 2010. Führungen durch die Ausstellung „München 72“ vom Haus der Bayerischen Geschichte und dem Institut für Bayerische Geschichte der Ludwig-MaximiliansUniversität München in den Räumen des Bayerischen Hauptstaatsarchivs vom 7. Oktober bis zum 12. Dezember 2010. Literarischer Salon in der „Traumstadtwohnung“, Kaulbachstraße 75, zum Thema „Rainer Maria Rilke und München“ am 1. Dezember 2010. Rede des Münchner Oberbürgermeisters Christian Ude zur Eröffnung der Ausstellung „München: Ansichtssache? Stadtgestalt sehen, erkennen, verstehen“ am 13. Januar 2011 in der Rathausgalerie. Reitz, Edgar (1992): Die Zweite Heimat – Chronik einer Jugend. Spielfilm. Wiederaufführung von 15. bis 19. April 2011 im Filmmuseum München. Vortrag von Gerhard Fürmetz, Archivoberrat am Bayerischen Hauptstaatsarchiv, zum Thema „Gewehrkolben für Geschäftszeiten. Die Ladenschlussunruhen von 1953/54 und die Polizei“ im Bayerischen Hauptstaatsarchiv am 19. April 2011. Vortrag von Detlef Siegfried, Professor für Deutsche Geschichte und Kulturgeschichte an der Universität Kopenhagen, im Rahmen der Ringvorlesung „Protest! Wissenschaftliche Perspektiven“ an der Ludwig-Maximilians-Universität München, zum Thema „Forever Young. Pop und Protest in den 60er Jahren“ am 23. Mai 2011. Vortrag von Gerhard Fürmetz, Archivoberrat am Bayerischen Hauptstaatsarchiv, zum Thema „Die ‚Schwabinger Krawalle‘ von 1962 in der öffentlichen Erinnerung. Protestrezeption in Fernsehen, Film und Jubiläumskultur“ im Rahmen des Forschungskolloquiums „Dagegen! Formen und Funktionen von Widerständigkeit und Protest“ am Institut für Volkskunde/Europäische Ethnologie der Ludwig-Maximilians-Universität München am 5. Juli 2011.

Q UELLEN UND A RCHIVE Archiv der Münchner Arbeiterbewegung Ň Gewerkschaften Archiv des Bayerischen Rundfunks Ň Gastarbeiterinnen und Gastarbeit Ň Stadtumbau Ň Olympische Spiele Bayerisches Hauptstaatsarchiv Ň Plakatsammlung Olympische Spiele 1972 Ň Staatskanzlei

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Institut für Zeitgeschichte München Ň Nachlass Inge Aicher-Scholl Monacensia. Literaturarchiv und Bibliothek der Landeshauptstadt München Ň Autorenmappen Ň Münchner Leben Private Sammlung Adelheid Boeck Ň Programmheft Reiten Private Sammlung Ernst Grasser Ň Pressematerial Private Sammlung Robert Huber Ň Skript von Karl Ude Private Sammlung Biggi Peters Ň Super 8-Aufnahmen, August 1972 Private Sammlung Wolfgang Roucka Ň Fotografien von Georg Rauchwetter Ň Fotografien von Uli Handel Ň Olympiaplakate von Wolfgang Roucka Ň Fotografien von Wolfgang Roucka Private Sammlung Monika Ständecke Ň Aufzeichnungen von Karin Locke-Bogenhauser Stadtarchiv München Ň Gewerbeamt Wirtschaftskonzessionen Ň Zeitgeschichtliche Sammlung Ň Ausstellungen und Messen Ň Olympiade 1972 Ň Olympia-Förderverein Ň Olympische Baugesellschaft und Deutscher Sportbund Ň Gewerbeamt Ň Polizeidirektion Ň Personen Ň Presseamt Zeitungsausschnitte Ň Fotografien und Filme Von Parish Kostümbibliothek Ň Oktoberfest

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Ň Trachten München Ň Trachtenmode 1920-1970 Zeitungsarchiv der Bibliothek der Institute am Englischen Garten Ň Abendzeitung Ň Süddeutsche Zeitung Ň Die Zeit Ň Münchner Leben

L ITER ATUR UND VERÖFFENTLICHTE Q UELLEN „Schwarzer September“ im Olympischen Dorf (1972). In: Die Olympischen Spiele 1972. München. Kiel. Sapporo mit Werner Schneider. München; Gütersloh; Wien, S. 2-3. 175 Jahre Oktoberfest. 1810-1985 (1985). Hg. von der Landeshauptstadt München. Zsgest. von Richard Bauer und Fritz Fenzl. München. Ackroyd, Peter (2002): London. Die Biographie. München. Aicher, Otl (1985): Innenseiten des Kriegs. Frankfurt am Main. Albers, Gerd (1972): Was wird aus der Stadt? Aktuelle Fragen der Stadtplanung. München. Althaus, Peter Paul (1966): Dr. Enzian. Karlsruhe. Althaus, Peter Paul (1969): In der Traumstadt. Dr. Enzian. Gedichte. München. Angerer, Wolf (1972): Einführung. In: Harbeke, Carl Heinz; Kandiza, Christian; in Zusammenarbeit mit Behnisch & Partner (Hg.): Bauten für Olympia 1972. München – Kiel – Augsburg. München, S. 8-12. Angermaier, Elisabeth (1994): Das Oberwiesenfeld. Exerzierplatz, Flugfeld, Olympiapark. Ausstellungskatalog des Stadtarchivs München. München. Appadurai, Arjun (1996): Modernity at Large: Cultural Dimensions of Globalization. Minneapolis; London. Assmann, Aleida (2007): Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung. Regensburg. Auszug aus einer Informationsschrift der Stadt München zu der Ausstellung „Olympische Spiele im Grünen“. In: Organisationskomitee für die Spiele der XX. Olympiade (Hg.) (1972): Die Spiele. Der offizielle Bericht. 3 Bände (2, Die Bauten). München, S. 5. Bar-Zohar, Michael; Haber, Eitan (2006): Rache für München. Düsseldorf. Bauer, Helmut (1998): Schwabing. Kunst und Leben um 1900. Publikation zur gleichnamigen Ausstellung vom 21. Mai bis 27. September 1998 im Münchner Stadtmuseum. München. Bauer, Reinhard (2004): Schwabing leuchtet. Geschichte, Kultur, Wirtschaft. München.

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14. Bilder der Stadt. München wird moderner

Stachus bei Nacht, München um 1965

Bildbestand Gerhard Rauchwetter/Wolfgang Roucka

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München bewirbt sich um die Olympischen Spiele, Rom im April 1966

Bildbestand Gerhard Rauchwetter/Wolfgang Roucka

Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel, NOK-Präsident Willi Daume und Bürgermeister Georg Brauchle nach der siegreichen Entscheidung in Rom am 26. April 1966

Bildbestand Gerhard Rauchwetter/Wolfgang Roucka

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U-Bahn Baustelle Sonnenstraße, München um 1967

Bildbestand Gerhard Rauchwetter/Wolfgang Roucka

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U-Bahn Baustelle und Verkehr in der Sonnenstraße und am Stachus, München um 1967

Bildbestand Gerhard Rauchwetter/Wolfgang Roucka

Eröffnung des ersten U-Bahnhofs, München Nordfriedhof 1971

Bildbestand Gerhard Rauchwetter/Wolfgang Roucka

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Eröffnungsfeier der XX. Olympischen Sommerspiele in München, 26. August 1972

Bildbestand Gerhard Rauchwetter/Wolfgang Roucka

Mark Spitz, Star der Schwimmwettbewerbe und der Spiele (Mitte), München 1972

Bildbestand Gerhard Rauchwetter/Wolfgang Roucka

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Die Spielstraße im Olympiapark, München 1972

Bildbestand Gerhard Rauchwetter /Wolfgang Roucka

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Trauerfeier für die ermordeten Israelis, München, 6. September 1972

Bildbestand Gerhard Rauchwetter/Wolfgang Roucka

Abschlussfeier der XX. Olympischen Sommerspiele in München, 11. September 1972

Bildbestand Gerhard Rauchwetter/Wolfgang Roucka

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Urban Studies Andrea Baier, Christa Müller, Karin Werner Die Stadt der Commonisten Neue urbane Räume des Selbermachens April 2013, ca. 250 Seiten, Hardcover, zahlr. farb. Abb., ca. 19,80 €, ISBN 978-3-8376-2367-3

Anne Huffschmid, Kathrin Wildner (Hg.) Stadtforschung aus Lateinamerika Neue urbane Szenarien: Öffentlichkeit – Territorialität – Imaginarios April 2013, ca. 420 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2313-0

Daniel Nitsch Regieren in der Sozialen Stadt Lokale Sozial- und Arbeitspolitik zwischen Aktivierung und Disziplinierung April 2013, ca. 324 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2350-5

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Piotr Kuroczynski Die Medialisierung der Stadt Analoge und digitale Stadtführer zur Stadt Breslau nach 1945 2011, 328 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1805-1

Guido Lauen Stadt und Kontrolle Der Diskurs um Sicherheit und Sauberkeit in den Innenstädten 2011, 618 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1865-5

Eva Reblin Die Straße, die Dinge und die Zeichen Zur Semiotik des materiellen Stadtraums 2012, 464 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1979-9

Eberhard Rothfu Exklusion im Zentrum Die brasilianische Favela zwischen Stigmatisierung und Widerständigkeit 2012, 290 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-2016-0

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