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German Pages 273 [278] Year 2014
Kristin Reichel
Dimensionen der (Un-)Gleichheit Geschlechtsspezifische Ungleichheiten in den sozial- und beschäftigungspolitischen Debatten der EWG in den 1960er Jahren
SGEI – SHEI – EHIE
EI SGEI HEI SHEI HIE EHIE Geschichte
Franz Steiner Verlag
Kristin Reichel Dimensionen der (Un-)Gleichheit
Studien zur Geschichte der Europäischen Integration (SGEI) Études sur l’Histoire de l’Intégration Européenne (EHIE) Studies on the History of European Integration (SHEI) ––––––––––––––––––––––– Nr. 23 Herausgegeben von / Edited by / Dirigé par Jürgen Elvert In Verbindung mit / In cooperation with / En coopération avec Charles Barthel / Jan-Willem Brouwer / Eric Bussière / Antonio Costa Pinto / Desmond Dinan / Michel Dumoulin / Michael Gehler / Brian Girvin / Wolf D. Gruner / Wolfram Kaiser / Laura Kolbe / Johnny Laursen / Wilfried Loth / Piers Ludlow / Maria Grazia Melchionni / Enrique Moradiellos Garcia / Sylvain Schirmann / Antonio Varsori / Tatiana Zonova
Kristin Reichel
Dimensionen der (Un-)Gleichheit Geschlechtsspezifische Ungleichheiten in den sozial- und beschäftigungspolitischen Debatten der EWG in den 1960er Jahren
Franz Steiner Verlag Stuttgart
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-10776-1 (Print) ISBN 978-3-515-10778-5 (E-Book) Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © 2014 Franz Steiner Verlag, Stuttgart Zugleich Dissertation am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt 2013 Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Druck: Laupp & Göbel GmbH, Nehren Printed in Germany
INHALTSVERZEICHNIS EINLEITUNG ..................................................................................................7 I.
DIE 1960ER JAHRE – WIRTSCHAFTLICHE PROSPERITÄT UND GESELLSCHAFTLICHER WANDEL ..................................................31 1. 2.
Der Boom 1948–1973 – Annäherung der europäischen Wirtschaft und Gesellschaft ...............................................................................32 Umbrüche im Geschlechterverhältnis?.............................................39
II. SOZIALPOLITIK IN DER REGIONALEN UND INTERNATIONALEN ZUSAMMENARBEIT NACH 1945 ................59 1. 2. 3.
Sozialpolitische Bestimmungen im EWG-Vertrag...........................60 Die Sozialpolitik als umkämpftes Feld in den 1960er Jahren ..........64 Die soziale Dimension der europäischen Integration und der globale Gleichheitsdiskurs................................................................75
III. MUTTERSCHUTZ: EIN FALL FÜR DIE HARMONISIERUNG IN DER EWG? .............................................................................................87 1. 1.1 1.2 2. 3. 4.
Mutterschaft als soziales Risiko .......................................................88 Mutterschutz als Aspekt der sozialen Sicherheit in der EWG..........90 Mutterschutz-Standards internationaler Organisationen ..................92 Die Empfehlung als Mittel zur Angleichung....................................94 Die Mutterschutzdebatte in den EWG-Gremien ............................103 Die Mutterschutzempfehlung im Kontext der sozialpolitischen Debatten ..............................................................109 Zwischenfazit..................................................................................117
IV. FRAUENERWERBSARBEIT ALS SOZIALES PROBLEM..............121 1.
Vom Protektionismus zur Gleichheit: Frauenerwerbsarbeit als Thema der ILO ..........................................................................121 2. Frauenerwerbsarbeit auf der Agenda der EWG .............................128 3. Die „Frau mit Familienpflichten“ im Fokus...................................134 3.1 Die ILO und die „Frauen mit Familienpflichten“ ..........................144 3.2 Teilzeitarbeit als Lösung der Doppelbelastung? Die Strategie der ILO .....................................................................150 4. Die Frauenarbeitsfrage als Aspekt der Beschäftigungspolitik .......153
Inhaltsverzeichnis
Zwischenfazit.................................................................................156 V. GESCHLECHTERGLEICHHEIT IM KONTEXT DES GEMEINSAMEN MARKTES..............................................................159 1. 2. 2.1 2.2 3. 3.1 3.2 4. 5. 6.
„Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“: Die Erweiterung des Lohngleichheitsprinzips .................................................................159 Chancen(un)gleichheit: Berufliche Bildung und Geschlecht .........162 Der bildungspolitische Zugriff der ILO..........................................162 Die Bildungspolitik der EWG – Leerstelle Geschlecht? ................166 Von der Lohngleichheit zur Gleichbehandlung..............................170 Die Berufsbildung als Aspekt der Frauenarbeitsfrage....................173 Chancenungleichheit als Thema der Zivilgesellschaft ...................175 Gleichbehandlung hinsichtlich der Berufsbildung (Richtlinie 1976).............................................................................189 Gleichbehandlung in Systemen der sozialen Sicherheit (Richtlinie 1979).............................................................................195 Zur Funktion von ExpertInnenwissen in der Entwicklung der Gleichbehandlungspolitik.........................................................198 Zwischenfazit..................................................................................201
VI. FAMILIEN- UND GESCHLECHTERLEITBILDER IN DER ARBEITNEHMERFREIZÜGIGKEIT-POLITIK........................205 1. 1.1 1.2 2. 2.1 2.2
Die Politik der EWG für Wanderarbeitnehmer ..............................206 Die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer ............................206 Koordinierung der Sozialdienste für Wanderarbeitnehmer............214 Sozialpolitik als Familienpolitik?...................................................221 Die Zusammenarbeit mit Familienverbänden ................................222 Familienpolitische Vorstellungen der Kommission .......................227 Zwischenfazit..................................................................................229
SCHLUSSBETRACHTUNG .......................................................................233 DANKSAGUNG ..........................................................................................249 QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS........................................251 ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS .................................................................265 ANHANG .....................................................................................................266
EINLEITUNG Die Gleichstellung der Geschlechter gilt heute als ein Grundprinzip des EURechts. Durch „Gender Mainstreaming“ und spezifische Maßnahmen verfolgt die EU das Ziel, Chancengleichheit für Männer und Frauen zu garantieren und zugleich Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts zu verhindern. Die Gleichstellung wird dabei in der EU und in anderen internationalen Organisationen als Mittel zur Erreichung weiterer politischer Ziele gesehen, z.B. zur Beseitigung von Armut und ungleichen Bildungschancen, als Maßnahme zur gleichberechtigten wirtschaftlichen und politischen Partizipation und zur Anerkennung von Frauenrechten als Menschenrechten.1 Die Gleichstellungspolitik gilt heute gar als einer der am weitesten entwickelten Bereiche der europäischen Sozialpolitik. Während in anderen Politikbereichen nationale Standards und Verfahrensregeln „europäisiert“ wurden, schritt die EU im Bereich der Gleichstellungspolitik als Innovator voran. Die Entwicklung der europäischen Gleichstellungspolitik wird meist auf die ökonomische Zielsetzung der Europäischen Gemeinschaften und die damit verbundenen Bestrebungen zur Harmonisierung von Standortfaktoren zurückgeführt. Vor diesem Hintergrund wurde in den Verhandlungen über den EWG-Vertrag auch die Lohngleichheit für Männer und Frauen thematisiert, die auf Forderung der französischen Regierung2 und nach umfangreichen Debatten in Art. 119 des Vertrags festgeschrieben wurde. Somit wurde das Prinzip zu einem Bestandteil bzw. zu einer Voraussetzung des Gemeinsamen Marktes. Zugleich konnte damit eine neue Form der Verbindlichkeit und Kontrolle eines international anerkannten Grundsatzes etabliert werden. Bereits 1951 hatte die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) die Lohngleichheit im Übereinkommen über die Gleichheit des Entgelts männlicher und weiblicher Arbeitskräfte für gleichwertige Arbeit verankert.3
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Vgl. zur EU-Gleichstellungsstrategie: http://europa.eu/ legislation_summaries/employment_ and_social_policy/equality_between_men_and_women/index_de.htm, letzter Zugriff, 28.11.2012. Die französische Regierung und die Arbeitgeber fürchteten Wettbewerbsnachteile, da die Verfassung von 1946 Männern und Frauen gleichen Lohn für gleiche Arbeit garantierte. Vgl. ILO-Empfehlung Nr. 90 betreffend die Gleichheit des Entgelts männlicher und weiblicher Arbeitskräfte für gleichwertige Arbeit, 1951, http://www.ilo.org/ilolex/german/docs/ recdisp1.htm, letzter Zugriff, 03.01.2013. Im Rahmen der ILO erlangte das Übereinkommen nur Wirkung, wenn es von den Mitgliedstaaten ratifiziert und dann innerhalb der Staaten umgesetzt wurde. Durch die Verankerung in Art. 119 des EWGV wurden die Mitgliedstaaten unmittelbar zur Umsetzung angehalten. Vgl. zur Entstehung des Art. 119: Hoskyns, Catherine: Integrating Gender. Women, Law and Politics in the European Union, London/New York 1996, S. 54–60; Wobbe, Theresa/Biermann, Ingrid: Die Metamorphosen der Gleichheit in der Europäischen Union. Genese und Institutionalisierung supranationaler Gleichberechtigungs-
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Einleitung
In den 1960er Jahren wurde die Umsetzung des Artikels 119 jedoch kaum vorangetrieben. Erst Ende des Jahrzehnts führte der sozioökonomische Wandel, die zunehmend öffentlichkeitswirksame Frauenbewegung und die institutionelle Entwicklung der EWG zu einem gesteigerten Interesse an der Umsetzung der Lohngleichheit. In den 1970er Jahren wurden die Bemühungen sukzessive auf die Themen Gleichbehandlung und Chancengleichheit ausgedehnt und diverse Richtlinien, Empfehlungen und Aktionsprogramme verabschiedet (vgl. Kap. V). Seit den 1990er Jahren wurden schließlich auch andere Formen der Benachteiligung über den Erwerbszusammenhang hinaus thematisiert, z.B. Armut, Gesundheit, Gewalt und politische Mitbestimmung. Im Vertrag von Amsterdam wurde die thematische Öffnung der Gleichstellungspolitik dann festgeschrieben und als Querschnittsaufgabe der Gemeinschaft formuliert.4 Geschlecht als Kategorie sozialer Problembeschreibung Während die Entwicklung der Gleichstellungspolitik und der zugrunde liegenden Vorstellungen über Geschlechterbeziehungen, Geschlechterrollen und Gleichstellungskonzepte für die Zeit ab 1970 bis heute erforscht ist, blieb bislang unklar, wie Geschlecht als Kategorie der Problemfokussierung in den 1960er Jahren erfasst wurde. Ebenso wenig wurde bisher der Frage nachgegangen, welche Geschlechternormen in die Entscheidungsfindung eingingen. Diese Lücke entstand, da sich die Forschung auf die Entwicklung „erfolgreicher“ gleichstellungspolitischer Initiativen konzentrierte, d.h. auf die Entstehungsgeschichte der Richtlinien und Aktionsprogramme seit den 1970er Jahren. In der vorliegenden Arbeit soll jedoch ein anderer Zugriff gewählt werden. Es wird davon ausgegangen, dass Vorstellungen über die Beziehungen der Geschlechter und die Geschlechterrollen auch unintendiert jede Art von politischen Entscheidungen betreffen: „State policies of all kind are shaped by gender relations [...].“5 In dem Maße wie die Sozialpolitik auf einer geschlechterpolitischen Dimension beruht, bezieht sich auch Geschlechterpolitik stets auf das Soziale. In diesem Sinne können nicht nur gleichstellungs- oder frauenpolitische Initiativen ein fruchtbares Untersuchungsfeld darstellen, sondern sozial- und beschäftigungspolitische Debatten im Allgemeinen. Zudem soll nicht nur auf Initiativen fokussiert werden, die erfolgreich waren, d.h. die in Form von Rechtsakten aus dem Entscheidungsprozess hervorgingen. Vielmehr soll es darum gehen, auf der Ebene
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normen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 59, Nr. 4, 2007, S. 565–588, hier S. 570. Vgl. zur Entwicklung der EU-Gleichstellungspolitik u.a.: Klein, Uta: Geschlechterverhältnisse, Geschlechterpolitik und Gleichstellungspolitik der Europäischen Union. Akteure - Themen - Ergebnisse, Wiesbaden 2006, S. 23; Hantrais, Linda: Social Policy in the European Union, London u.a. 1995, S. 119. Orloff, Ann: Gender in the Welfare State, in: Annual Review of Sociology, Bd. 22, 1996, S. 51–78, hier S. 53.
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der Debatten und vorbereitenden Arbeiten zu untersuchen, in welchen Kontexten es möglich war, Geschlecht als Kategorie sozialer Ungleichheit zu thematisieren. „Sozialpolitik“ soll dabei als Reaktion auf und Beitrag zu einem spezifischen Umgang mit sozialen Problemlagen verstanden werden. Des Weiteren wird davon ausgegangen, dass die Wahrnehmung eines sozialen Ereignisses als soziales Problem von bestimmten Wertvorstellungen und Deutungsmustern abhängt.6 Wie die Geschlechterforschung hinreichend belegen konnte, fungiert das Geschlecht neben anderen Kategorien wie Ethnie oder Klasse als bedeutsame soziale Kategorie und kognitives Prinzip in der Ordnung und Organisation sozialer Systeme. Erving Goffman verwies auf das Geschlecht als „Prototyp einer sozialen Klassifikation“7 und „bemerkenswerte[s] organisatorische[s] Hilfsmittel“.8 Die Konstruktion der sozialen Bedeutung des Geschlechts reicht ins 18. Jahrhundert zurück. Infolge der Ausdifferenzierung der Funktionsbereiche (Erwerbsarbeit, Haushalt) wurden soziale Rollen zunehmend an die Geschlechtszugehörigkeit gekoppelt. Die sozialen Unterschiede zwischen den Geschlechtern wurden zugleich auf natürliche Merkmale zurückgeführt. Die „Naturalisierung von Ungleichheit“9 wurde somit maßgeblich für die Bestimmung sozialer und ökonomischer Rollen entlang der Trennlinie Geschlecht. Die Vorstellung einer natürlichen Geschlechterdifferenz wurde als Legitimation für soziale Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen akzeptiert und in diversen Lebens- und Politikbereichen institutionalisiert, z.B. in der Familiengesetzgebung, im Arbeitsrecht, im Bildungswesen oder in der Sozialgesetzgebung.10 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die Ungleichbehandlung von Männern und Frauen aus „natürlichen“ Erklärungen zunehmend in Frage gestellt. Dieser Prozess ist auf die wachsende Bedeutung des Menschenrechtsgedan6
Vgl. Hornstein, Walter/Mutz, Gerd: Die europäische Einigung als gesellschaftlicher Prozeß. Soziale Problemlagen, Partizipation und kulturelle Transformation, Baden-Baden 1993. S. 57, 61f.; Böllert, Karin: Sozialpolitik als Geschlechterpolitik, in: Böllert, Karin/Heite, Catrin (Hg.): Sozialpolitik als Geschlechterpolitik, Wiesbaden 2011, S. 11–22. 7 Knoblauch, Hubert (Hg.): Erving Goffman. Interaktion und Geschlecht, Frankfurt a.M. u.a. 1994, S. 108. 8 Ebenda, S. 131. Vgl. zum gesamten Absatz: Kocka, Jürgen: Fragen zum Thema, in: Geschichte und Gesellschaft, Bd. 18, Nr. 2, 1992, S.137–142, hier S.140. 9 Klinger, Cornelia: Ungleichheiten in den Verhältnissen von Klasse, Rasse und Geschlecht, in: Knapp, Gudrun-Axeli/Wetterer, Angelika (Hg): Achsen der Differenz. Gesellschaftstheorie und feministische Kritik II, Münster 2003, S. 14–29, hier S. 28. 10 Vgl. ebenda, S. 31; Müller, Marion: Geschlecht und Ethnie. Historischer Bedeutungswandel, interaktive Konstruktion und Interferenzen, Wiesbaden 2003, S. 39–42; Wobbe, Theresa/Nunner-Winkler, Gertrud: Geschlecht und Gesellschaft, in: Joas, Hans (Hg.): Lehrbuch der Soziologie, Frankfurt a.M. 32007, S. 287–312; Hornstein/Mutz: Die europäische Einigung, Baden-Baden 1993, S. 164; Kerner, Ina: Konstruktion und Dekonstruktion von Geschlecht. Perspektiven für einen neuen Feminismus, in: gender…politik…online, 2007, http://web.fuberlin.de/gpo/pdf/kerner/kerner.pdf, letzter Zugriff, 29.11.2012. Vgl. zum Zusammenhang der Nationalstaatsbildung und der Institutionalisierung der Geschlechterordnung: Appelt, Erna: Geschlecht, Staatsbürgerschaft, Nation. Politische Konstruktionen des Geschlechterverhältnisses in Europa, Frankfurt a.M. 1999, S. 131–176; Frevert, Ute: Die Kasernierte Nation. Militärdienst und Zivilgesellschaft in Deutschland, München 2001.
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kens und des Gleichheitsideals zurückzuführen, die u.a. in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte in der Formel „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“11 zum Ausdruck kamen. Politische, wirtschaftliche und soziale Ungleichheiten aufgrund des Geschlechts wurden erklärungsbedürftig und die Geschlechtergleichheit zum politischen Programm.12 Gender und Sozialpolitik: der Forschungsstand Auf die Bedeutung der Geschlechterordnung für institutionelle Strukturen und Praktiken hat im Besonderen die feministische Wohlfahrtsstaatsforschung hingewiesen. Dabei wurden zum einen die institutionellen und ideologischen Kontexte wohlfahrtsstaatlicher Politik analysiert und zum anderen deren Wirkung auf die Geschlechterbeziehungen beschrieben. Im Zentrum des Interesses stand die Regulierung der Markt-Heim-Beziehung durch Beschäftigungs-, Sozial- und Familienpolitik. Die Forschungsergebnisse zeigten, dass (Sozial-)Politik bestehende Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern bestätigen kann oder aber z.B. durch eine Umverteilung der Ressourcen zwischen Männern und Frauen Veränderungen hervorrufen kann.13 In Hinblick auf die geschlechternormativen Grundlagen politischer Entscheidungen konnte bspw. Orloff zeigen, dass das Alleinernährermodell einen erheblichen Einfluss in der Aufbauphase der Wohlfahrtsstaaten hatte. Politische Entscheidungen zielten darauf ab, das Familienleitbild der Ernährer-Hausfrauenehe und die geschlechtliche Arbeitsteilung zu stützen, indem bspw. das Familiengehalt steuerlich begünstigt wurde, die Ehe als Familienform privilegiert und die Arbeitsethik für Männer und die Familienethik für Frauen gestützt wurde. Wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen konnten die Geschlechterhierarchie (re-)produzieren, 11 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Art. 1, 10. Dezember 1948, http://www.un.org/ depts/german/grunddok/ar217a3.html, letzter Zugriff, 20.11.2012. 12 Für die Ungleichheitskategorie „Ethnie“ lässt sich ähnliches beobachten. Nicht nur sind die Teilungsdimensionen Ethnie und Geschlecht in ihrer Entstehung „verwandt“, auch im Kampf um Gleichheitsrechte zeigten sich Parallelen (z.B. Abolitionismus, Bürgerrechtsbewegung). Vgl. dazu: Müller: Geschlecht und Ethnie, Wiesbaden 2003. S. 92, 97; Wobbe/NunnerWinkler: Geschlecht und Gesellschaft, in: Joas, Hans (Hg.): Lehrbuch der Soziologie, Frankfurt a.M. 32007, S. 290. Vgl. Berger, Peter/Schmidt, Volker: Welche Gleichheit, welche Ungleichheit? Einleitung, in: Dies. (Hg.): Welche Gleichheit, welche Ungleichheit? Grundlagen der Ungleichheitsforschung, Wiesbaden 2004, S. 7–27, hier S. 8–16. 13 Vgl. Daly, Mary: The Gender Division of Welfare. The Impact of the British and German Welfare States. Cambridge 2000, S. 6- 8, 29f.; Orloff, Ann: Gender and the social rights of citizenship: the comparative analysis of gender relations and welfare states, in: American Sociological Review, Bd. 58, Nr. 3, 1993, S. 303–328, hier S. 304. Einen Überblick über die verschiedenen Schwerpunkte der Wohlfahrtsstaatskritik gibt Böllert: Sozialpolitik als Geschlechterpolitik, in: Böllert/Heite (Hg.): Sozialpolitik als Geschlechterpolitik, Wiesbaden 2011, S. 14f. Vgl. zur Thematik der Umverteilung auch prominent: Fraser, Nancy: Die halbierte Gerechtigkeit. Schlüsselbegriffe des postindustriellen Sozialstaats, Frankfurt a.M. 2001.
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indem z.B. geschlechtsspezifische Modi der sozialen Absicherung konstituiert wurden. Während Männer über ihren Status als Arbeitnehmer sozial abgesichert wurden (Sozialversicherung), wurden Frauen als Familienangehörige über den Familienernährer gegen soziale Risiken geschützt. Zugleich wurden damit geschlechtsspezifische Mechanismen der sozialen Integration verankert und soziale Ungleichheiten aufgrund des Geschlechts manifestiert. Vor allem innerhalb von Familien wurden Ungleichheiten (re-)produziert, so dass Frauen trotz der formalen Gleichheit an der Wahrnehmung ihrer Chancen gehindert wurden. Auch ökonomische und soziale Unterschiede zwischen Familien sind an das Geschlechterarrangement gekoppelt.14 Teresa Kulawik bezeichnete diese doppelte Abhängigkeit vom Ehemann und „Vater Staat“ in einem grundlegenden Beitrag zur feministischen Sozialpolitikanalyse als „Familiensubsidiarität“15. Da Familienarbeit bzw. Reproduktionsarbeit keine eigenen Sozialansprüche generiert, sind Frauen entweder vom Ehemann oder von wohlfahrtsstaatlichen Leistungen abhängig. Ist das familiäre Zusammenleben vor allem nach dem Hausfrauen-Alleinernährer-Modell organisiert, spart der Wohlfahrtsstaat sowohl soziale Sicherungsleistungen als auch öffentliche Dienstleistungen wie z.B. die Kinderbetreuung ein.16 Die Bedeutung der Geschlechterleitbilder wurde auch für die Gestaltung internationaler Politik untersucht. Sandra Witworth fragte, welche Konzepte von Männlichkeit, Weiblichkeit und die Vorstellungen von den Geschlechterbeziehungen die Akteure der ILO-Geschlechterpolitik teilten und wie ihr politisches Handeln davon beeinflusst wurde.17 14 Vgl. zur feministischen Kritik an der Wohlfahrtsstaatsforschung Orloff: Gender in the Welfare State, in: Annual Review of Sociology, Bd. 22, 1996, S. 53f.; Orloff: Gender and the social rights, in: American Sociological Review, Bd. 58, Nr. 3, 1993, S. 315; Sainsbury, Diane: Gender, Equality, and Welfare States, Cambridge 1996, S. 49; Weinbach, Christine/Stichweh, Rudolf: Geschlechtliche (In-)Differenzen in modernen Gesellschaften: Theoretische Positionen. Die Geschlechterdifferenz in der funktional differenzierten Gesellschaft, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 41, 2001, S. 30–52, bes. 36–38; Vgl. zur feministischen Kritik an Gerechtigkeitstheorien, v.a. am egalitären Liberalismus Okin, Susan Moller: Justice, Gender and the Family, New York 1989, S. 8, 13–16. Okin wies darauf hin, dass Gerechtigkeitstheorien (Rawls, Dworkin u.a) das Geschlecht und das bipolare Geschlechterarrangement in den Familien als Ursache für Ungleichheiten übersahen. Ein guter Überblick findet sich bei Rössler, Beate: Der ungleiche Wert der Freiheit. Aspekte feministischer Kritik am Liberalismus und Kommunitarismus, in: Analyse und Kritik, Bd. 14, 1992, S. 86–113. 15 Kulawik, Teresa: Auf unsicheren Wegen. Perspektiven der sozialen Sicherung von Frauen, in: Riedmüller, Barbara/ Rodenstein, Marianne (Hg.): Wie sicher ist die soziale Sicherung? Frankfurt a.M. 1989, S. 241–265, hier S. 248. 16 Vgl. Leitner, Sigrid: Was wurde aus den armen Frauen? Eine Zeitreise durch die feministische Sozialstaatskritik in Deutschland, in: Leitner, Sigrid/Ostner, Ilona/Schratzenstaller, Margit (Hg.): Wohlfahrtsstaat und Geschlechterverhältnisse im Umbruch. Was kommt nach dem Ernährermodell? Wiesbaden 2004, S. 28–44, bes. S. 29. 17 Vgl. Whitworth, Sandra: Gender, International Realations and the Case of the ILO, in: Review of International Studies, Bd. 20, Nr. 4, 1994, S. 389–405, hier S. 389; Savery, Lynn: Engendering the State. The International Diffusion of Women’s Human Rights, London/New
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Auch für die Europäischen Gemeinschaften wurde die wechselseitige Beziehung zwischen Geschlechterkulturen, Institutionen und Politik herausgearbeitet. Zu Beginn der 1990er Jahre fragte eine feministische Perspektive innerhalb der europäischen Integrationsforschung verstärkt nach der Rolle von Frauen und der Frauenpolitik im Integrationsprozess. Bis heute grundlegend ist Catherine Hoskyns Werk „Integrating Gender“, in dem sie u.a. die Rolle feministischer Netzwerke untersuchte.18 Hoskyns und andere zeigten die Entwicklung der Gleichbehandlungspolitik seit den 1970er Jahren und die meist unzureichende Implementierung der EG/EUGesetzgebung in den Nationalstaaten auf. Die Autorinnen verwiesen zudem auf das Gendering des Integrationsprozesses, d.h. auf die Institutionalisierung des Geschlechts als soziale Kategorie und der modernen Geschlechterordnung (Zweigeschlechtlichkeit) in gesellschaftlichen und politischen Strukturen und Handeln. Die Entwicklung der Gleichbehandlungspolitik wurde dabei oft als defizitär dargestellt.19 Während in der feministischen Wohlfahrtsstaatsforschung meist die normativen Leitbilder aus geschlechtertheoretischer Perspektive untersucht wurden, fragte Nancy Fraser, wie der Wohlfahrtsstaat organisiert sein müsse, um die Geschlechtergleichheit zu fördern. Nach Fraser kann Geschlechtergleichheit an fünf normativen Prinzipien gemessen werden: der Bekämpfung von Armut, der Bekämpfung der Ausbeutung von Frauen, der Umverteilung (hinsichtlich des Gehalts, der Freizeit und der Achtung), der Bekämpfung der Marginalisierung und der BekämpYork 2007. In vielen Publikationen zur internationalen Geschlechterpolitik wird die Rolle der Frauenverbände untersucht, weniger zu Grunde liegenden Normen. Vgl. dazu: Cook, Rebecca (Hg.): Human Rights of Women. National and International Perspectives, Philadelphia 1994; Schuler, Margaret (Hg.): From Basic Needs to Basic Rights. Women’s Claim to Human Rights, Washington D.C. 1995; Fraser, Arvonne: Becoming Human: The Origins and Development of Women’s Human Rights, in: Agosín, Marjorie (Hg.): Women, Gender, and Human Rights. A Global Perspective, New Brunswick/London 2001, S. 15–64; Stienstra, Deborah: Women's Movements and International Organizations, Basingstoke 1994; Lubin, Carol Riegelman/Winslow, Anne: Social Justice for Women. The International Labor Organization and Women, Durham 1990. 18 Vgl. Hoskyns: Integrating Gender, London/New York 1996; Vleuten, Anna van der: The Price of Gender Equality. Member States and Governance in the European Union, Aldershot 2007. 19 Vgl. für viele: Lewis, Jane/Ostner, Ilona: Geschlechterpolitik zwischen europäischer und nationalstaatlicher Regelung, in: Leibfried, Stephan/Pierson, Paul (Hg.): Standort Europa. Europäische Nationalpolitik, Frankfurt a.M. 1998, S. 196–239; Pfau-Effinger, Birgit: Kultur und Frauenerwerbstätigkeit in Europa: Theorie und Empirie des internationalen Vergleichs, Opladen 2000, S. 18–23, 29–60, 68–93; Klein, Uta: Gleichstellungspolitik in der EU. Eine Einführung, Schwalbach 2006; Liebert, Ulrike (Hg.): Gendering Europeanisation, Brüssel 2003; Abels, Gabriele: Feministische Perspektiven, in: Bieling, Hans-Jürgen/Lerch, Marika (Hg.): Theorien der europäischen Integration, Wiesbaden 2005, S. 347–349, 366–369. In neueren Publikationen wird zunehmend der Einfluss der europäischen Geschlechterpolitik auf den Wandel in den Nationalstaaten betont. Vgl. Lombardo, Emmanuela/Forest, Maxime: The Europeanization of Gender Equality Policies. A Discursive-Sociological Approach, Basingstoke 2012.
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fung des Androzentrismus. Fraser sieht diese fünf Prinzipien am besten in einem Integrationsmodell umgesetzt, das ein Modell der allgemeinen Erwerbstätigkeit mit einem Modell der Gleichstellung der Betreuungsarbeit verbindet. Frasers Modell hebt sich von anderen feministischen Ansätzen besonders durch die Berücksichtigung verschiedener Dimensionen ab. In der feministischen Wohlfahrtsstaatsforschung ist meist die Annahme leitend, dass Geschlechtergleichheit durch die Individualisierung der Arbeitsbeziehungen und der Sozialversicherungsansprüche realisiert werden könne. Gleichstellung ist dann meist gleichbedeutend mit dem adult-worker-modell, indem die Umverteilung der Haus- und Familienarbeit zum Maßstab der Gleichstellung erklärt wird. An diesem Modell ist jedoch der verengte Arbeitsbegriff zu kritisieren, der die Familienarbeit gegenüber der Erwerbsarbeit abwertet. Der Kern des Integrationsmodells nach Fraser liegt darin, die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung aufzubrechen und Männer stärker in die Betreuungsarbeit einzubinden. Zugleich schließt Fraser die Gleichwertigkeit von Reproduktions- und Erwerbsarbeit ein. Wenngleich Frasers Modell als Vision eines geschlechtergerechten postindustriellen Wohlfahrtsstaates zu verstehen ist, können ihre Überlegungen auch für historische Analysen hilfreich sein. Ohne ihr Modell normativ zu überhöhen, kann anhand der von ihr genannten Prinzipien analysiert werden, wie das Gleichheitsideal in den Debatten und Maßnahmen der EWG gefasst wurde.20 20 Vgl. zur Kritik am adult-worker-modell Arn, Christoph/Walter, Wolfgang: Wer leistet die andere Hälfte der Arbeit? Die Beteiligung von Männern an der Hausarbeit als Bedingung eines „integralen“ Modells der Zwei-Verdiener-Familie, in: Leitner/Ostner/Schratzenstaller (Hg.): Wohlfahrtsstaat und Geschlechterverhältnisse, Wiesbaden 2004, S.133–155, bes. S. 134; Vgl. auch Fraser, Nancy: Die Gleichheit der Geschlechter und das Wohlfahrtssystem: Ein postindustrielles Gedankenexperiment, in: Honneth, Axel (Hg.): Pathologien des Sozialen. Die Aufgaben der Sozialphilosophie, Frankfurt a.M. 1994, S. 351–376, bes. S. 355–359. Geschlechtergleichheit kann nach Fraser nur erreicht werden, wenn wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen das Armutsrisiko von Frauen mindern, ohne Frauen zu stigmatisieren (Bekämpfung von Armut). Das Ernährermodell und der Familienlohn führen zu Abhängigkeiten innerhalb der Ehe. Auch Arbeitgeber nutzen die Situation von Frauen aus, indem sie keine guten Arbeitsbedingungen gewähren und niedrige Löhne zahlen, basierend auf der Annahme, Frauen seien nicht primär für das Familieneinkommen verantwortlich. Fraser schlägt daher alternative Einkommensquellen vor (Bekämpfung der Ausbeutung). Ausgeschlossen sind nach Fraser solche Leistungen, die Frauen über die Erwerbsarbeit des Ehemannes soziale und ökonomische Sicherung gewähren. Das dritte Prinzip der Gleichheit bezieht sich auf die Umverteilung. Darunter fasste Fraser die Lohngleichheit, die Umverteilung der Arbeitsbelastung bzw. Zeit (gleiche Freizeit) und die gleiche Achtung. Damit nimmt Fraser vor allem die Degradierung von Frauen zum Objekt sexueller Begierde und die Abwertung der weiblichen Arbeitsleistung in den Blick. Geschlechtergleichheit sei dann erreicht, wenn ein Wohlfahrtssystem Frauen nicht auf einen Teilbereich festlegt und die Partizipation in allen Teilbereichen (Arbeit, Politik, Zivilgesellschaft) ermöglicht. Voraussetzung dafür sind infrastrukturelle Verbesserungen, die Vergesellschaftung der Betreuungsarbeit (Kindergärten, Pflegeeinrichtungen, öffentliche Möglichkeiten zum Stillen) und der Abbau männlich geprägter Arbeitsstrukturen (Bekämpfung der Marginalisierung). Das fünfte Prinzip ist dem vierten ähnlich und zielt auf die Bekämpfung des Androzentrismus. Gleichheit dürfe nicht als Angleichung von Frauen an die männliche Erwerbsbiographie missverstanden werden. Frauen dürften nicht als Sonderfall erscheinen, sondern als Partnerinnen. Dazu müssten die „männlichen“
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In Hinblick auf die wissenschaftliche Aufarbeitung der Beschäftigungs- und Sozialpolitik der EWG bietet sich hingegen ein weniger umfassendes Bild. Der Forschungsstand ist auffallend eng gekoppelt an das politische Interesse an der Thematik. Soziale Probleme, die im Zuge des wirtschaftlichen Einigungsprozesses auftraten, wurden vor allem unter dem Kommissionspräsidenten Jacques Delors seit den 1980er Jahren verstärkt thematisiert. Ab dieser Zeit war auch ein höheres wissenschaftliches Interesse an der Thematik zu beobachten.21 In der Frühphase der Integration hingegen scheinen die sozialen Probleme nur marginal behandelt worden zu sein. Tatsächlich lagen angesichts der vom Ministerrat angenommenen Rechtsakte die Schwerpunkte der Gemeinschaft in anderen Gebieten: Zwischen 1958 und 1965 betrafen 90 Prozent des Gemeinschaftsrechts die Agrarpolitik.22 Neuere Arbeiten weisen jedoch darauf hin, dass sozialpolitische Fragen seit der Gründung der EWG auf der Agenda standen und eng mit der Entwicklung der Wirtschaftspolitik verbunden waren. Schon im Gründungsvertrag wurde der Aufbau eines Gemeinsamen Marktes mit der Steigerung und Angleichung des Arbeits- und Lebensstandards als Garant für eine stabile Friedensordnung verbunden. Allerdings wurde die Verbesserung des Sozialstandards hauptsächlich als Folge ökonomischer Maßnahmen gedacht. Da die sozialpolitischen Ziele und Maßnahmen im Vertrag kaum definiert worden waren, ergab sich für die Akteure ein mehr oder weniger großer Interpretationsraum, den die EWG-Kommission zur Auseinandersetzung mit den Sozialstandards in den Gemeinschaften und zur Entwicklung sozialpolitischer Initiativen nutzte.23 Die Ausrichtung auf einen Gemeinsamen Markt führte zu einem neuen Inklusions- und Exklusionsmodus, der anstelle des nation-buildings das marketbuilding zum Integrationsprinzip erhob. Der Marktlogik folgend, forcierte die EWG-
und „weiblichen“ Sphären so umgestaltet werden, dass beiden Geschlechtern der Zugang dazu offen steht und sie Aufgaben übernehmen können. 21 Vgl. Hornstein/Mutz: Die europäische Einigung, Baden-Baden 1993, S. 24; Schieren, Stefan: Europäische Sozialpolitik: eine Einführung, Schwalbach 2012; Ribhegge, Hermann: Europäische Wirtschafts- und Sozialpolitik, Heidelberg 22011. Puetter, Uwe: Die Wirtschafts- und Sozialpolitik der EU, Stuttgart 2009. 22 Vgl. Knudsen, Ann-Christina/Rasmussen, Morten: A European Political System in the Making 1958–1970. The Relevance of Emerging Commitee Structures, in: Journal of European Integration History, Bd. 14, Nr. 1, 2004, S. 51–67, hier S. 58. 23 Vgl. Puetter: Wirtschafts- und Sozialpolitik, Stuttgart 2009, S. 140–168; Mechi, Lorenzo: Stabilisation sociale et efficience économique. Les origines ‚productivistes’ du Fonds social européen, in: Preda, Daniela/Pasquinucci, Daniele (Hg.): The Road Europe travelled along. The Evolution of the EEC/EU Institutions and Policies, Brüssel u.a. 2010, S. 353–366; Giddens, Anthony (Hg.): Global Europa, Social Europe, Cambridge 2007; Heise, Bernt: Sozialpolitik in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft: Zweckmäßigkeit und Grenzen einer sozialen Harmonisierung im Bereich der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft unter besonderer Berücksichtigung der Maßnahmen zur sozialen Sicherung, Göttingen 1966, S. 12f., 25.
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Kommission in den 1960er Jahren sozialpolitische Vorstöße, die sich vor allem auf ArbeitnehmerInnen konzentrierten.24 Damit stellte die EWG das Privileg der Nationalstaaten in Frage, als Garant sozialer Rechte aufzutreten. Anstelle der „nationalen Bürgerschaft“ (Staatsbürgerschaft), die auf dem Prinzip der Differenz basierte, sollte eine universelle „ökonomische Bürgerschaft“ Gleichheits- und Rechtsansprüche garantieren.25 Die sozialpolitischen Vorstöße müssen daher in der Entwicklung des Binnenmarktes kontextualisiert werden. Vor allem in Hinblick auf die Umstrukturierung der Wirtschaft und die Arbeitsmigration wurde die Gemeinschaft aktiv. Diese Bemühungen wurden auch zeitnah in wissenschaftlichen Publikationen beschrieben.26 Betrachtet man die EWG als Gleichheits- bzw. Antidiskriminierungsprojekt stellt sich die Frage, in welchem Maße in der frühen Phase der Integration das Geschlecht als Trennlinie für ökonomische, soziale und kulturelle Rechte erkannt wurde. Öffneten die Prinzipien der Gleichheit und Universalität den Blick für geschlechtsspezifische Ungleichheiten und konnte Gleichheit auch als Geschlechtergleichheit konzipiert werden? In Bezug auf wen und worauf sollte Gleichheit hergestellt werden? Blieb die europäische Sozialpolitik an Differenzvorstellungen gebunden und schrieb somit die Geschlechterhierarchie, die den männlichen Arbeitnehmer zum „Normalfall“ und Maßstab für soziale Rechte erklärte, fort? Institutionelle Besonderheiten – methodische Herausforderungen Abgesehen von der Logik des Binnenmarktes müssen weitere Aspekte berücksichtigt werden, um zu erklären, wie Geschlecht als soziale Kategorie auf die Agenda der EWG geriet. Es wird davon ausgegangen, dass die Spezifika des EWGSystems und des Integrationsprozesses einen Raum eröffneten, soziale Probleme über die Kategorie Geschlecht zu erfassen. Die EWG/EU hebt sich als Mehrebenensystem von anderen internationalen Organisationen ab, da neben den intergouvernementalen Gremien (Ministerrat) eigenständige supranationale Einrichtungen (Kommission, Parlament) stehen. Des Weiteren kann die EWG als System im 24 Vgl. Soysal, Yasemin Nuhoglu: Limits of Citizenship. Migrants and Postnational Membership in Europe, Chicago/London 1994, S. 142–158; Wobbe, Theresa/Biermann, Ingrid: Von Rom nach Amsterdam. Die Metamorphosen des Geschlechts in der Europäischen Union, Wiesbaden 2009, S. 16–20. 25 Vgl. Bach, Maurizio: Die Europäisierung der nationalen Gesellschaft? Problemstellungen und Perspektiven einer Soziologie der europäischen Integration, in: Ders. (Hg.): Die Europäisierung nationaler Gesellschaften, Wiesbaden 2000, S. 11–38, hier S 13. Bach sieht im Auf- und Ausbau transnationaler Expertennetzwerke und europäischer Institutionen alternative Kompetenzräume entstehen. Er verweist vor allem die supranationale Rechtsordnung als Überwölbung der nationalen Ordnung. 26 Vgl. Heise: Sozialpolitik in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Göttingen 1966; Collins, Doreen: The European Communities. The Social Policy in the First Phase, The European Economic Coal and Steel Community. 1951–1970. 2 Bde., London 1975.
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Werden verstanden werden, in dem sich das Institutionengefüge, die Entscheidungsprozesse und Verwaltungsverfahren erst im Laufe der Zeit entwickelten. Dadurch eröffnete sich ein Gestaltungsraum für die Akteure, die im EWGV festgeschriebenen Kompetenzen auszudehnen und Politikbereiche zu definieren. Hierbei muss auch die „Mentalität“ und Verwaltungspraxis der BeamtInnen berücksichtigt werden, die für neue Themen offen waren und einer sozialpolitischen Interpretation der Verträge zuneigten. Die „Offenheit“ des Systems ermöglichte auch die Zusammenarbeit mit externen AkteurInnen (Zivilgesellschaft, ExpertInnen) und Netzwerkbildungen. Dadurch gelangten wiederum Anregungen und Informationen in das EWG-System, die von der Kommission genutzt werden konnten. Die Prozesshaftigkeit der Integration zeigte sich u.a. auch in der Einrichtung neuer Gremien im Laufe der Zeit. Nicht zu unterschätzen ist schließlich auch die Einbettung des Integrationsprojekts und der Gemeinschaftspolitik in einen globalen Diskurs über Gleichheit. Der Integrationsprozess kann durch einen Perspektivenwechsel erfasst werden, indem sowohl endogene als auch exogene Faktoren als Integrationsmechanismen und Kontextfaktoren berücksichtigt werden. Als Kontextfaktor können insofern auch kulturelle und soziale Transformationsprozesse konzipiert werden, da sie den Entscheidungsprozess rahmten.27 Der Integrationsprozess in historischen Darstellungen Ein Nachteil vieler geschichts- und sozialwissenschaftlicher Analysen des Integrationsprozesses liegt darin begründet, dass sie die beschriebenen Spezifika der EWG kaum in Rechnung stellen. Daher bieten sie nur geringe Erklärungsansätze, wie das Geschlecht als Kategorie der Problembeschreibung erfasst und geschlechtsspezifische Ungleichheiten thematisiert wurden. In der Historiographie wurde überwiegend versucht, eine lineare Geschichte des Integrationsprozesses zu schreiben, der sich aus dem Erfolg oder Misserfolg zwischenstaatlicher Verhandlungen entwickelte. Dabei wurde oftmals ein Machtkampf zwischen supranationalen und intergouvernementalen Institutionen suggeriert. So wurde von einer ersten erfolgreichen Integrationsphase berichtet, in der viele politische Projekte umgesetzt wurden (Senkung der Binnenzölle, erste Vereinheitlichung der Außenzölle, Regelung der Freizügigkeit, Errichtung des Sozialfonds u.a.). Die Kommission konnte in dieser Zeit ihre Rolle als Motor der Gemeinschaft erfüllen und sich als eigenständiger Akteur innerhalb der Gemeinschaft etablieren. Zum guten Start der EWG trug sicher auch die ausgezeichnete
27 Vgl. Ziltener, Patrick: Regionale Integration im Weltsystem. Die Relevanz exogener Faktoren für den europäischen Integrationsprozess, in: Bach (Hg.): Europäisierung, Wiesbaden 2000, S. 155–177, hier S. 155f.; Hornstein/Mutz: Die europäische Einigung, Baden-Baden 1993, S. 32.
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Wirtschaftslage bei: das Bruttosozialprodukt war in der Gemeinschaft zwischen 1957 und 1962 um 5,2 Prozent pro Jahr gewachsen.28 Ab Mitte der 1960er Jahre wurde eine schwere Krise der EWG konstatiert, die vor allem durch den Widerstand de Gaulles gegen den Ausbau des supranationalen Elements ausgelöst worden sei. Infolge der Krise seien die Spielräume der Kommission eingegrenzt und der Ministerrat gestärkt wurden.29 Impulse für eine Vertiefung der Integration seien in den folgenden Jahren nur noch durch die Regierungschefs und deren Gipfeltreffen möglich gewesen. So habe beispielsweise der Gipfel von Den Haag (1969) den Neustart der Gemeinschaft eingeläutet und den Startschuss für die politische Zusammenarbeit gesetzt. Die Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ) bzw. die Vertiefung im Europäischen Rat (1974) institutionalisierten die intergouvernementale Richtlinienkompetenz. Die Kommission hingegen wurde im Laufe der 1970er Jahre verstärkt als Verwaltungsstelle des Ministerrats wahrgenommen und sei selten ihrer Rolle als Motor der Gemeinschaft nachgekommen.30 Durch die Fokussierung auf die Rolle der Nationalstaaten in den historiographischen Darstellungen des Integrationsprozesses konnte bislang nicht hinreichend erklärt werden, wie neue Themen auf die Agenda gerieten. Der Zugriff verstellt zudem den Blick darauf, welche Normen, Ideen, materielle Interessen und innen- und außenpolitische Zwänge im Integrationsprozess wirkten. Die Rolle externer nicht-staatlicher AkteurInnen, z.B. Interessengruppen, wurde kaum berücksichtigt. Auch in der aktuellen historischen EU-Forschung werden diese Faktoren oft noch außer Acht gelassen.31 28 Vgl. Bührer, Werner: Abschied von der Supranationalität. Deutsche Europapolitik und europäische Integration 1958–1972, in: Schildt, Axel/Siegfried, Detlef/Lammers, Karl Christian (Hg): Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, S. 248–272, hier S. 250–253. 29 Vgl. Schönewald, Matthias: Walter Hallstein and the „Empty Chair“ Crisis 1965/66, in: Loth, Wilfried (Hg.): Crises and Compromises: The European Project 1963–1969, BadenBaden/Brüssel 2001, S. 157–192, hier S. 166; Brunn, Gerhard: Die Europäische Einigung von 1945 bis heute, Bonn 2006, S.138–142, 144–148; Bührer: Abschied von der Supranationalität, in: Schildt/Siegfried/Lammers (Hg): Dynamische Zeiten, Hamburg 2000, S. 253–258. 30 Vgl. Brunn: Die Europäische Einigung, Bonn 2006, S. 173–183, S. 205–207; Bührer: Abschied von der Supranationalität, in: Schildt/Siegfried/Lammers (Hg): Dynamische Zeiten, Hamburg 2000, S. 266–269, eine neue Perspektive auf den Pariser Gipfel bieten MourlonDruol, Emmanuel: The Victory of the Intergovernmental Method? The Emergence of the European Council in the EEC’s Institutional Set-Up, 1974–1977, in: Preda, Daniele/Pasquinucci, Daniela: The Road Europe Travelled Along. The Evolution of the EEC/EU Institutions and Policies, Brüssel 2010, S. 27–40. 31 Vgl. Kaiser, Wolfram/Leucht, Brigitte/Rasmussen, Morten: Origins of a European Polity, a new research agenda for European Union history. In: Dies. (Hg.): The History of the European Union. Origins of a trans- and supranational polity 1950–72, New York/London 2009. S. 1–11, hier S. 1–4. Als gelungenes Beispiel gilt Pier Ludlows Beitrag zur supranationalen Geschichte der Gemeinschaft. Er vermied es, die Integration als Ergebnis nationaler Entscheidungen zu präsentieren. Allerdings blieb der Wandel administrativer und politischer Kulturen unberücksichtigt. Vgl. Ludlow, N. Piers: The European Community and the Crises of the 1960s: Negotiating the Gaullist Challenge, London 2006.
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Annäherung an die Sozialwissenschaften Auch in den Sozialwissenschaften gab es Tendenzen, die nationale und supranationale Ebene als konkurrierende Einheiten zu begreifen und die Nationalregierungen als Entscheidungsmacht zu verstehen. Auch Kompetenzverschiebungen wurden zum Teil als Ergebnis zweckrationaler Entscheidungen oder als zwangsläufiges Ergebnis der Gemeinschaftsverträge (Pfadabhängigkeit) bewertet. Vor allem der historische Institutionalismus (maßgeblich nach Pierson) wies auf die Pfadabhängigkeit hin, durch die ganz eigene Zwänge und Logiken entstanden. Die Pfadabhängigkeit wirkte sowohl hinsichtlich der Ausdehnung des Gemeinschaftsrechts, der Verstetigung der Institutionen, der Entwicklung der Verwaltungspraxis als auch der Erweiterung supranationaler Kompetenzen.32 Letztlich ging aber auch der historische Institutionalismus davon aus, dass meist Entscheidungen der nationalen Regierungen am Anfang eines Pfades standen. Da die Regierungen aber in einem begrenzten zeitlichen Horizont agierten, waren langfristige Folgen ihrer Entscheidungen kaum absehbar. Einmal eingeschlagene Pfade waren relativ resistent gegen Reformversuche und der Verlauf des Integrationsprozess wurde dadurch unvorhersehbar. Auch einmal eingerichtete Institutionen wurden Bestandteil der „institutionellen Infrastruktur“33 und konnten als solche kaum verändert oder abgeschafft werden. Verwaltungspraktiken wurden in der Regel nicht in großen zwischenstaatlichen Verhandlungsprozessen festgelegt, sondern entstammen der alltäglichen politischen Praxis, die nach und nach politische und institutionelle Pfade ebnete. Über die Jahre wurde auch eine zunehmende Verknüpfung der intergouvernementalen und supranationalen Institutionen beobachtet, die so nicht intendiert war und zu einem selbstverstärkenden Mechanismus wurde. Unter Berücksichtigung des Konzepts der Pfadabhängigkeit lassen sich auch Kompetenzerweiterungen erklären. Es gelang vor allem der Kommission und dem EuGH, die supranationale Zuständigkeit in Politikfeldern auszudehnen, in denen die Mitgliedstaaten ihre Kompetenzen ursprünglich wahren wollten. So lässt sich mit Verweis auf die Pfadabhängigkeit beispielsweise die Ausdehnung sozialpolitischer Maßnahmen und der Gleichbehandlungspolitik erklären.34 32 Vgl. Leibfried, Stephan/Pierson, Paul: Mehrebenen-Politik und die Entwicklung des „Sozialen Europa“, in: Dies. (Hg.): Standort Europa. Europäische Sozialpolitik, Frankfurt a.M. 1998, S. 11–57, hier S. 22f.; Patel, Klaus-Kiran: Europäisierung wider Willen. Die Bundesrepublik Deutschland in der Agrarintegration der EWG 1955–1973, München 2009, bes. S. 505. Patel spricht auch von der Logik der „Selbstverstärkung“. Dazu zählt er auch „package deals“, d.h. die Stabilisierung eines Politikfeldes durch die Einbindung in einen anderen Bereich. 33 Rasmussen, Morten: Supranational Governance in the Making. Towards a European political system, in: Kaiser/Leucht/Rasmussen (Hg.): The History of the European Union, New York/London 2009, S. 34–55, hier S. 48. 34 Die Delegation von Kompetenzen kann auch mit dem „principal-agent“- Modell des rationalen Institutionalismus erfasst werden. „Principals“ (Regierungen) delegieren Zuständigkeit an „agents“ (EU-Institutionen), um Kosten zu senken, Kooperation zu intensivieren und deren Erfolgschancen zu steigern. Ideen und Ideologien werden in dem Modell als zweitrangig be-
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Die Erklärungskraft des historischen Institutionalismus blieb jedoch beschränkt, da den AkteurInnen zweckrationales Handeln unterstellt wurde. Kulturelle, soziale und normative Faktoren sowie die Wechselwirkungen mit der internationalen Ebene wurden hingegen kaum berücksichtigt.35 Die Dichotomie national-supranational überwinden In der EU-Historiographie wird daher verstärkt gefordert, die Prozesshaftigkeit sowie die räumliche und zeitliche Offenheit des Integrationsprojekts ernst zu nehmen. Auch in der sozialwissenschaftlichen Integrationsforschung wird darauf hingewiesen, dass die institutionellen Eigenheiten Einfluss auf die Gestaltung der Gemeinschaftspolitik nahmen. Dabei wird ein differenziertes Verständnis des Integrationsprozesses entwickelt und die Dichotomie zwischen Supranationalem und Nationalem relativiert.36 Erhellend sind vor allem die Arbeiten zur Komitologie. Als Komitologie wird die Ausweitung von Ausschüssen (comitology committees) auf supranationaler und intergouvernementaler Ebene bezeichnet, die sowohl als Versuch der Kompetenzerweiterung, aber auch als Verschmelzung verschiedener Interessen, Politikund Verwaltungsstile begriffen werden kann.37 Funktionalistisch gesprochen, steht die Komitologie für die Differenzierung des Arbeitsprozesses in der EWG. Die Differenzierung begann bereits mit der Einberufung der Fachminister-Sitzungen durch den Ministerrat in den 1960er Jahren (zunächst Landwirtschaftsminister, später z.B. auch Sozial- und Arbeitsminister) und die Stärkung des Ausschuss der Ständigen Vertreter (COREPER38). Dieser Prozess kann als Eingeständnis der Mitgliedstaaten über die Komplexität der
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trachtet. Es wird davon ausgegangen, dass Agenten systematisch und zweckorientiert versuchen, ihre eigenen Kompetenzen auszudehnen, um Politik nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Vgl. dazu Knudsen/Rasmussen: A European Political System, in: Journal of European Integration History, Bd. 14, Nr. 1, 2004, S. 56f. und Rasmussen: Supranational Governance in the Making, in: Kaiser/Leucht/Rasmussen (Hg.): The History of the European Union, New York/London 2009, S. 49. Vgl. Rasmussen: Supranational Governance in the Making, in: Kaiser/Leucht/Rasmussen (Hg.): The History of the European Union, New York/London 2009, S. 38–40; Gold, Michael: Overview of the social Dimension, in: Ders. (Hg.): The Social Dimension. Basingstoke 1993, S. 10–40; Watson, Philippa: EU Social and Employment Law: Policy and Practice in an Enlarged Europe, Oxford 2009. S. 153–172. Vgl. Kaiser/Leucht/Rasmussen: Origins of a European Polity, in: Dies. (Hg.): The History of the European Union, New York/London 2009, S. 5. Vgl. Knudsen/Rasmussen: A European Political System, in: Journal of European Integration History, Bd. 14, Nr. 1, 2004, S. 52. Durch den sogenannten Komitologie-Beschluss 87/373 wurden die Komitologie-Ausschüsse zum festen Bestandteil des Entscheidungsprozesses. Vgl. Maurer, Andreas/Mittag, Jürgen/Wessels, Wolfgang: Theoretical perspectives on administrative interaction in the European Union, in: Christiansen, Thomas/Kirchner, Emil (Hg.): Committee Governance in the European Union, Manchester 2000. S. 23–44, hier S. 24. Im Weiteren wird die französische Abkürzung COREPER (Commission des Représentants Permanents) verwendet, da sie gebräuchlicher ist.
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Gemeinschaftspolitik gedeutet werden. Aufgrund der Zuständigkeiten und personellen Zusammensetzung bildeten die Komitees und die Arbeitsgruppen des COREPER eine Schnittstelle zwischen der nationalen und supranationalen Verwaltung. Die Beiträge zur Komitologie und zum COREPER revidieren somit bereits für die Frühphase der Integration das Bild einer strengen Dichotomie des Supranationalen/Nationalen.39 Ein anderer, viel versprechender Ansatz zur Überwindung der Dichotomie national-supranational liegt in der Anwendung des Bourdieuschen Feldkonzepts auf den Integrationsprozess. Mikael Rask Madsen und Yves Dezalay betrachteten die europäischen Institutionen und das europäische politische System nicht isoliert, sondern als Teil eines Feldes, dessen AkteurInnen auf nationaler und europäischer Ebene agierten. Die AkteurInnen reproduzierten im Feld ihre Machtposition aus dem nationalen Kontext und trugen zum Aufbau des europäischen Systems bzw. zur Entwicklung neuer Praktiken bei, indem sie ihr spezifisches Wissen einsetzten und ihrem Eigeninteresse folgten. Auch Stefan Bernhard näherte sich dem Integrationsprozess über Bourdieus Feldkonzept. Er begriff die Institutionen, AkteurInnen und Ideen als Teil und Ausdruck eines sozialen Feldes. In Anlehnung an Bourdieu untersuchte Bernhard akteurs- und feldspezifische Strategien der Kapitalumwandlung als Teil eines Herrschaftskampfes und konnte damit Verschiebungen in der gemeinschaftlichen Sozialpolitik erklären. Sowohl diese Arbeiten als auch die Literatur zur Komitologie können als Anregung verstanden werden, über die Entstehung und Gestaltung von Politikfeldern jenseits rationalistischer Ansätze nachzudenken.40 Akteurs- und netzwerkzentrierte Ansätze Auch akteurszentrierte Ansätze revidierten die Bedeutung nationaler Regierungsinteressen und verweisen auf die Komplexität des Entscheidungsprozesses bereits in den 1960er Jahren. Sibylle Hambloch zeigte beispielsweise an der Wettbewerbspolitik, dass unterschiedlichste AkteurInnen in die Gestaltung des Politikbe39 Die Komitees der Kommission wurden mit eigenen und nationalen BeamtInnen und mit MitarbeiterInnen der Sozialpartner besetzt. Vgl. Rasmussen: Supranational Governance in the Making, in: Kaiser/Leucht/Rasmussen (Hg.): The History of the European Union, New York/London 2009, S. 47. Knudsen/Rasmussen: A European Political System, in: Journal of European Integration History, Bd. 14, Nr. 1, 2004, S. 60–62, Böhling, Kathrin: Symbolic Knowledge At Work: Comitology and Learning from Experts in European Technology Policy. Discussion Paper SP IV 2009–301, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung 2009, S. 2f. Böhling zeigte, dass die Komitologie auf die Integration eher förderlich statt hemmend wirkte. 40 Vgl. Rasmussen: Supranational Governance in the Making, in: Kaiser/Leucht/Rasmussen (Hg.): The History of the European Union, New York/London 2009, S. 40–42; Madsen, Mikael/Dezalay, Yves: The Power of the Legal Field: Pierre Bourdieu and the Law, in: Banakar, Reza/Travers, Max (Hg): An Introduction to Law and Social Theory, Oxford, S. 189–207; Bernhard, Steffen: Die Konstruktion von Inklusion. Europäische Sozialpolitik aus soziologischer Perspektive, Frankfurt a.M. 2010, S. 48–70.
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reichs involviert waren. Kiran Patel konnte für den Bereich der Agrarpolitik den Einfluss von Interessenverbänden nachzeichnen. Auch in der Entwicklung der Gleichstellungspolitik seit den 1970er spielten feministische Netzwerke eine wichtige Rolle. In der Zusammenschau verweisen die Arbeiten darauf, dass die europäische Einigung als vielschichtiger Prozess betrachtet werden muss, der je nach Politikbereich unterschiedlich schnell voranschritt.41 Der akteurszentrierte Zugriff lässt sich durch die Netzwerkanalyse operationalisieren. Dadurch wird zugleich der Forderung einiger IntegrationshistorikerInnen nachgekommen, Ansätze aus benachbarten Disziplinen, wie der Sozial- und Politikwissenschaft, als heuristisches Mittel zu nutzen.42 Die Netzwerkanalyse öffnet den Blick auf die Akteursebene, da sie von einem nicht-hierarchischen Verständnis des Regierens auf der Gemeinschaftsebene ausgeht. Die Entscheidungsfindung wird als Aushandlungsprozess zwischen vertikalen Ebenen (supranational, national, regional) und horizontal angeordneten Institutionen (Kommission, Rat, Parlament) konzipiert. Die Verbindung zwischen den Ebenen wird oftmals über informelle Netzwerke hergestellt, die bemüht sind, private und öffentliche Interessen zu vereinen und sowohl auf verschiedenen Ebenen als auch in verschiedenen Institutionen informelle Unterstützung zu suchen.43 Wenngleich ein akteurszentrierter Ansatz sehr vielversprechend erscheint, ist eine Anwendung auf den konkreten Untersuchungsfall schwierig. Die Quellenlage bietet wenige personenbezogene Daten, so dass die Wertvorstellungen, die Sozialisation und die Vernetzung von Einzelpersonen im Dunkeln bleiben. Allein für die Führungsrige der Kommission sind biographische und autobiographische Darstellungen, Manuskripte u.ä. überliefert. Aber auf der Arbeitsebene innerhalb der Kommission sind Einzelpersonen schwer zu identifizieren. Die vorliegende Arbeit stellt daher nicht den Anspruch, eine Netzwerkanalyse im Sinne einer politikwissenschaftlichen Untersuchung durchzuführen. Daher werden an dieser Stelle auch nicht die Differenzierungen einzelner Netzwerktypen weiter ausgeführt.44 Stattdessen soll nach der Funktion von Netzwerken gefragt werden. Netzwerke können 41 Vgl. Hambloch, Sibylle: Europäische Integration und Wettbewebspolitik: Die Frühphase der EWG, Baden-Baden 2009; Patel: Europäisierung wider Willen, München 2009; Rasmussen, Morten: European Rescue of the Nation-state? Tracing the Role of Economics and Business, in: Kaiser, Wolfram (Hg.): European Union History. Themes and Debates, Basingstoke 2010, S. 128–149, hier S. 144; Kaiser, Wolfram: Transnational Networks in European Governance, in: Kaiser/Leucht/Rasmussen (Hg.): The History of the European Union, New York/London 2009, S. 12–34, hier S. 28. 42 Vgl. Kaiser/Leucht/Rasmussen: Origins of a European Polity, in: Dies. (Hg.): The History of the European Union, New York/London 2009, S. 4f. und Knudsen/Rasmussen: A European Political System, in: Journal of European Integration History, Bd. 14, Nr. 1, 2004, S. 55. 43 Vgl. Kaiser/Leucht/Rasmussen: Origins of a European Polity, in: Dies. (Hg.): The History of the European Union, New York/London 2009, S. 4 und Kaiser: Transnational Networks, in: Kaiser/Leucht/Rasmussen (Hg.): The History of the European Union, New York/London 2009, S. 23. 44 Vgl. Kaiser: Transnational Networks, in: Kaiser/Leucht/Rasmussen (Hg.): The History of the European Union, New York/London 2009, S. 15. Grundlegend: Haas, Peter (Hg.): Knowledge, Power and International Policy Coordination, Massachusetts 1992.
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als Ressource verstanden werden, die Wissen und Legitimation bietet. Bereits in den 1960er Jahren existierten Verbindungen zwischen der Kommission und Interessenverbänden, die bislang nicht eingehend untersucht wurden. Die frühen Kontakte z.B. zu feministischen Netzwerken können als Strategie der Kommission verstanden werden, ihre Kompetenzen auszudehnen. Über die Netzwerke wurden Wissen und Informationen sowie Integrationskonzepte vermittelt. Zugleich konnte die Kommission vielfältige Argumente und Rückhalt für ihre Initiativen erhalten. Die Beziehungen zu Interessenverbänden und die Netzwerkbildung sollen daher in ihrer Funktion für die Kommission betrachtet werden.45 Globaler Gleichheitsdiskurs und europäische Integration Das europäische Integrationsprojekt schrieb sich in einen globalen Diskurs über Gleichheit und Menschenrechte ein, der von neu gegründeten bzw. in ihrem Mandat verstärkten Organisationen wie den Vereinten Nationen, dem Europarat oder der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO46) vorangetrieben wurde. In der vorliegenden Arbeit soll vor allem die ILO als Protagonist des globalen Gleichheitsdiskurses näher betrachtet werden. Unter Mitwirkung der ILO wurden die Gleichheitsdiskurse nach dem Zweiten Weltkrieg verdichtet und die Idee des Fortschritts, der Menschenrechte und der sozialen Gerechtigkeit entwickelten sich zu „Sinnbezüge[n] mit weltweiter hoher Resonanz“47. Hervorzuheben ist dabei die 45 Vgl. Kaiser: Transnational Networks, in: Kaiser/Leucht/Rasmussen (Hg.): The History of the European Union, New York/London 2009, S. 23f.; Rasmussen: Supranational Governance in the Making, in: Kaiser/Leucht/Rasmussen (Hg.): The History of the European Union, New York/London 2009, S. 49; Kaiser/Leucht/Rasmussen: Origins of a European Polity, in: Dies. (Hg.): The History of the European Union, New York/London 2009, S. 4; Patel: Europäisierung wider Willen, München 2009, S. 14; Anregend ist auch die Forschungsfrage der WZBNachwuchsforschergruppe „Positionsbildung in der EU-Kommission“. Die Gruppe um Miriam Hartlapp fragt für den Zeitraum von 1999–2008 wie und warum externe Einflüsse (nationale, organisierte gesellschaftliche und parteipolitische Interessen) den Entscheidungsprozess bestimmen. Im Einfluss organisierter gesellschaftlicher Interessengruppen erkennt die WZBNachwuchsgruppe eine wichtige Ressource der Kommissionsarbeit und beschreibt diesen Mechanismus als „Güteraustausch“. Die Kommission benötigt Ressourcen, die Interessengruppen bieten Legitimität und Expertise. Dieser Mechanismus zeigt sich m.E. schon in Frühphase der EWG als bevorzugte Strategie der Kommission. Vgl. Hartlapp, Miriam/Metz, Julia/Rauh, Christian: Made in Brussels. Wie externe Interessen ihren Weg in die Politikformulierung der EU-Kommission finden, in: WZB Mitteilungen, Heft 130, Dezember 2010, S. 7– 10. 46 Die ILO wurde 1919 mit dem Auftrag gegründet, soziale Gerechtigkeit zu schaffen. Zu ihren wichtigsten Aufgabengebieten zählten die Erarbeitung internationaler Standards der sozialen Sicherheit z.B. bei Invalidität, Arbeitslosigkeit und Krankheit, aber auch Mutterschaft und Familienlasten (Normsetzung) und die Beratung der Nationalstaaten bei deren Umsetzung (technische Hilfe). Vgl. Guinand, Cédric: Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) und die soziale Sicherheit in Europa, Bern 2003, S. 2f. 47 Wobbe/Biermann: Die Metamorphosen der Gleichheit, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 59, Nr. 4, 2007, S. 568.
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Erweiterung des Menschenrechtsdiskurses um die Forderung nach Geschlechtergleichheit. Die so entstehende „globale Erwartungsstruktur“48 wurde auch zu einer bedeutenden kognitiven Referenz europäischer Regionalorganisationen.49 Die Menschenrechtsrhetorik der Nachkriegszeit war zunächst Teil einer „rekonstruktiven Internationalisierung“50 und als solche vor allem symbolischer Natur. Die Bereitschaft der Großmächte, sich in internationalen Übereinkommen zu den Menschenrechten zu bekennen, war vor allem sicherheits- und machtpolitisch motiviert, so dass zunächst kaum wirkungsvolle Instrumente zur Umsetzung etabliert wurden. Die aktuelle Forschung weist darauf hin, dass das Konzept anschlussfähig für unterschiedlichste Interpretationen ist und dass die Geschichte der Menschenrechte vor allem in der Nachkriegszeit „diskontinuierlich“ und „polyzentrisch“51 war. Vor allem aus feministischer Perspektive wurde darauf hingewiesen, dass die Menschenrechte und der damit verbundene Universalitätsbegriff mit Prozessen des Ausschlusses und der Differenzierung verbunden waren. Bereits 1791 übte Olymp de Gouges in ihrer Déclaration des droits de la Femme et de la Citoyenne daran Kritik.52 Die Geschichte der Menschenrechte sollte nicht als lineare Erfolgsgeschichte erzählt werden, sondern als Geschichte eines Paradoxons. Die internationalen Übereinkommen beruhten auf dem Prinzip nationaler Souveränität. Eben jene wurde aber durch den universell-moralischen Anspruch der Menschenrechte herausgefordert. Diese Ambivalenz wurde auch in dem Umstand offenbar, dass Verstöße gegen die internationalen Menschenrechtskonventionen kaum geahndet werden konnten, während die Menschenrechtsidee auf der anderen Seite sowohl für nationale Regierungen (als rhetorisches Mittel im Systemkonflikt) als auch für zivilgesellschaftliche Akteure zum wichtigen symbolischen Referenzpunkt avancierte. Seit den 1970er Jahren dienten Menschenrechte als politischer Modebegriff einer „Sprache der politischen Erneuerung“53. Sowohl Menschenrechtsaktivisten als auch Regierungen bedienten sich des Konzepts im Sinne einer „universellen Mo48 Ebenda, S. 565. 49 Vgl. Johnson, Ailish: European Welfare States and Supranational Governance of Social Policy, Basingstoke 2005, S. 25. Johnson forderte, die sozialpolitischen Initiativen der EWG im globalen Gleichheitsdiskurs zu verorten. 50 Eckel, Jan: Utopie der Moral, Kalkül der Macht. Menschenrechte in der globalen Politik seit 1945, in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 49, 2009, S. 437–484, hier S. 439. 51 Ebenda, S. 438. 52 Geneviève Fraisse beschrieb für den französischen Fall, dass die Differenzierung konstitutiv für das Konzept der Menschenrechte und Universalität war. Sie wies darauf hin, dass der Universalismus französischer Prägung zu einer Geschlechtertrennung in Politik und Gesellschaft führte und dass der Ausschluss von Frauen aus der Politik ein Wesensmal der modernen Demokratie sei. Fraisse erörterte, wie sich Staatstheorie und Geschlechterphilosophie in wechselseitiger Abhängigkeit entwickelten und ging dabei besonders auf den cartesianischen Dualismus und Abbé Sièyes’ Entwurf der aktiven und passiven Staatsbürgerschaft ein. Ähnliche Überlegungen finden sich bei Iris Marion Young und Sabine Lang. Vgl. dazu Hergenhan, Jutta: Sprache, Macht, Geschlecht. Sprachpolitik als Geschlechterpolitik. Der Fall Frankreich, Sulzbach 2012, S. 39, 41. 53 Eckel: Utopie der Moral, in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 49, 2009, S. 471.
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ralität“54, um jenseits ideologischer Konfrontationen ihren Aktionismus bzw. Interventionen zu begründen.55 Auch die Gründungsdokumente der EGKS und EWG und die daraus abgeleitete sozialpolitische Dimension rekurrierten auf den globalen Menschenrechtsdiskurs. Jedoch waren die Beziehungen der Regionalorganisationen zur ILO äußerst ambivalent. Denn die sozialpolitischen Maßnahmen der europäischen Organisationen zeigten auch einen Bruch bzw. eine Verschiebung im Normsetzungsprozess an. Da die EGKS und die EWG Kompetenzfelder der ILO besetzten, forderten sie deren Rolle heraus. Zwar bestanden zwischen der ILO und den Regionalorganisationen aufgrund gemeinsamer Kompetenzbereiche Kooperationsabkommen (26. Juni 1953 ILO-EGKS, 7. Juli 1958 ILO-EWG), aber die Beziehungen wurden zunehmend auch als Konkurrenzsituation wahrgenommen.56 Zudem wurde die Position der Genfer Organisation durch eine programmatische Umorientierung gegenüber den europäischen Partnern geschwächt. Aufgrund ihrer sozial-universellen Orientierung und der veränderten Mitgliederstruktur wandte sich die ILO verstärkt anderen Regionen zu und es gelang ihr immer weniger, ein konkretes, kohärentes Konzept für die europäische Sozialpolitik zu präsentieren.57 Es stellt sich daher die Frage, ob der Einflussverlust der ILO in Europa für die EWG die Chance bot, sich als neuartiges Normsetzungs- und Ordnungssystem zu etablieren und sich aus dem internationalen Normensystem und dem übrigen Europa „Herauszueinigen“?58 Zur Klärung dieser Fragen soll durch einen Vergleich der ILO- und EWG-Debatten herausgearbeitet werden, in welchem Rahmen Un54 Ebenda, S. 471. 55 Vgl. Hoffmann, Stefan-Ludwig: Einführung. Zur Genealogie der Menschenrechte, in: Ders. (Hg.): Moralpolitik. Geschichte der Menschenrechte im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010, S. 7–37. 56 Vgl. Maul, Daniel: Menschenrechte, Sozialpolitik und Dekolonisation: Die Internationale Arbeitsorganisation (IAO), 1940–1970, Essen 2007, S. 168–184; Guinand: Die Internationale Arbeitsorganisation, Bern 2003, S. 279–287, 414–423. Eines der wenigen Felder der „erfolgreichen“ Zusammenarbeit eröffnete sich im Bereich der sozialen Sicherungssysteme (darunter fiel z.B. Schutz von Frauen und Kindern), deren Harmonisierung die EWG-Kommission anstrebte. Andererseits eignete sich die Kommission dieses Aktionsfeld der ILO immer stärker an, indem sie beispielsweise eine Konferenz über die soziale Sicherheit (10–15. Dezember 1962) einberief, die als Ersatz für die in anderen Weltregionen üblichen ILO-Regionalkonferenzen wahrgenommen wurde. 57 Eine Ursache dafür lag u.a. in der Pattsituation des Kalten Krieges, in der die ILO möglichst neutral bleiben wollte. Ab den 1960er Jahren bestimmte neben der veränderten Mitgliederstruktur eine Schwerpunktverschiebung der ILO infolge der Dekolonialisierung ihr (Nicht)Agieren in Europa. Vgl. dazu Maul: Menschenrechte, Essen 2007, S. 314f.; Zur Konkurrenzsituation vgl. Guinand: Die Internationale Arbeitsorganisation, Bern 2003, S. 287–306, 341– 346, 425f., 443f.; Murray, Jill: Transnational Labour Regulation: the ILO and EC Compared, Den Haag u.a. 2001, S. 95–97. 58 Hampel, Gustav: Die Bedeutung der Sozialpolitik für die Europäische Integration, Kiel 1955, S. 31. Hampel und andere Beobachter der europäischen Integration warnten bereits in den 1950er Jahren vor der Entstehung eines „europäischen Sonderraums“, der sich durch die sozialpolitische Harmonisierung aus Europa und der Welt herauszueinigen drohe.
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gleichheiten aufgrund des Geschlechts von den beiden Organisationen erfasst und Lösungen angeboten wurden. Es soll darauf geachtet werden, ob die EWGBeamtInnen den Wissensstand der ILO rezipierten und nutzbar machten. Es wird auch untersucht, ob die ILO-Normen im Kontext der Gemeinschaft zu genuin „europäischen“ Standards weiterentwickelt wurden.59 Aufbau Die Untersuchung nimmt vor allem den Zeitraum von der Gründung der EWG bis Mitte der 1970er Jahre in den Blick. Die Periode von 1958–1972 gilt in der Integrationsforschung als Gründungsphase der EWG. Beendet wurde diese Phase durch die erste Erweiterungsrunde und eine Neuausrichtung der Gemeinschaftsagenda. Diese Periodisierung erscheint auch in Hinblick auf die Gleichstellungspolitik zunächst sinnvoll. Während in den 1960er Jahren soziale Problemlagen bereits über die Kategorie Geschlecht erfasst wurden, gelang es jedoch nicht, Gemeinschaftsinitiativen auf den Weg zu bringen, die zur Aufhebung der Ungleichheiten beitragen konnten. Erst ab Mitte der 1970er Jahre gewann die Gleichstellungspolitik durch Richtlinien und Aktionsprogramme deutlich an Kontur. Die ersten Richtlinien zur Gleichbehandlung werden daher als Ausblick in die Darstellung einbezogen.60 Die vorliegende Arbeit gliedert sich in zwei größere Einheiten. In einem ersten Teil werden die Kontextfaktoren betrachtet, d.h. der sozioökonomische Wandel und der Stellenwert der Sozialpolitik in der internationalen Zusammenarbeit bzw. in den Europäischen Gemeinschaften. Der wirtschaftliche Boom der 1960er Jahre bildete eine Grundlage für den erfolgreichen Start des Binnenmarktprojekts. Zugleich kam es zu demographischen und sozialen Umbrüchen, die von den EWG-Institutionen beobachtet und beschrieben wurden. Aus den Problembeschreibungen entwickelte vor allem die Kommission ein spezifisches Verständnis von Sozial- und Wirtschaftspolitik und begründete damit Gemeinschaftsinitiativen. Die sozioökonomischen Umbrüche und der Wandel der Geschlechterverhältnisse wurden in historischen Arbeiten bereits umfassend untersucht. Allerdings überwiegen dabei nationale Darstellungen bzw. bi-nationale Vergleiche. Seltener sind Analysen, welche alle sechs EWG-Mitgliedstaaten in die Betrachtung einbeziehen und Konvergenzen und Divergenzen abbilden. Aufgrund des Forschungsstandes konzentriert sich das erste Kapitel auf die Situation in der Bundesrepublik Deutschland.61 59 Vgl. Murrays instruktive Untersuchung zum Verhältnis von ILO-Normen und EGKS/EWGNormen am Beispiel der Arbeitszeitregelungen. Murray: Transnational Labour Regulation, Den Haag u.a. 2001. 60 Vgl. Zur Periodisierung Rasmussen: Supranational Governance in the Making, in: Kaiser/Leucht/Rasmussen (Hg.): The History of the European Union, New York/London 2009, S. 35; Klein: Gleichstellungspolitik, Schwalbach 2006, S. 65, 69. 61 Vgl. für einen gesamteuropäischen Überblick Bock, Gisela: Frauen in der europäischen Geschichte. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 2005; Kaelble, Hartmut: Sozialge-
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Im zweiten Kapitel sollen die sozialpolitischen Kompetenzen und Konzepte der EWG-Institutionen erörtert werden, um deren Handlungsspielraum nachvollziehen zu können. Erst vor dem Hintergrund der sozialpolitischen Dimension im Gründungsvertrag und der Interpretation wird verständlich, in welchem Kontext das Geschlecht als Kategorie sozialer Ungleichheit thematisiert werden konnte. Dabei soll vor allem auf die institutionelle Ordnung und den globalen Gleichheitsdiskurs als Rahmen eingegangen werden. Die sozialpolitische Dimension der EWG wurde bereits von zeitgenössischen Beobachtern diskutiert und wird auch in der aktuellen Forschung zum europäischen Sozialmodell analysiert. Dabei stand vor allem die Auslegung der Vertragstexte im Vordergrund des Interesses. Bislang existieren aber kaum Untersuchungen, die sich mit dem sozialpolitischen Konzept der Kommission befassen. Die sozialpolitischen Überlegungen sind in den Gesamtberichten der Kommission, in Redebeiträgen, Grußworten und Schriften hochrangiger Kommissionsvertreter gut überliefert.62 Das Verhältnis zwischen der ILO und der EWG in den 1960er Jahren wurde bislang kaum in der Forschungsliteratur behandelt. Eine Rekonstruktion des Verhältnisses wird durch die Quellenlage zudem erschwert. In den Archiven der Europäischen Institutionen (Florenz und Brüssel) sind kaum Korrespondenzen oder interne Einschätzungen zu der Beziehung überliefert. Besser gestaltet sich dagegen die Situation im Archiv der ILO in Genf. In Genf sind einige Mitteilungen an den Generaldirektor der ILO erhalten, die AbteilungsleiterInnen und der Ständige Vertreter der ILO in Brüssel anlässlich ihrer Dienstreisen und Gespräche mit Repräsentanten der EWG angefertigt haben. Dadurch ergibt sich allerdings ein mitunter lückenhaftes und einseitiges Bild der Arbeitsbeziehungen.63 Die Untersuchung konzentriert sich vor allem auf die Ebene der Kommission, d.h. auf ihr Führungspersonal, die Arbeit der Generaldirektionen und Direktionen, ExpertInnen-Komitees und Verwaltungskommissionen. Als Exekutive konnte die Kommission Impulse für die Gemeinschaftspolitik setzen und die Agenda erweitern. Dafür wurden Untersuchungen, Studien und Statistiken über verschiedenste schichte Europas. 1945 bis zur Gegenwart, Bonn 2007; Judt, Tony: Die Geschichte Europas seit dem Zweiten Weltkrieg, Bonn 2006. 62 Die Entwicklung sozialpolitischer Konzepte wurde teilweise in Publikationen über den ESF analysiert. Vgl. Brine, Jacqueline: The European Social Fund and the EU, London 2002. Vgl. zur Entwicklung der Sozialpolitik Collins: The European Communities, 2 Bde., London 1975; Degimbe, Jean: La politique sociale européenne. Du traité de Rome au traité d’Amsterdam, Brüssel 1999; Gold: Overview, in: Ders. (Hg.): The Social Dimension, Basingstoke 1993, S. 10–40; Puetter: Wirtschafts- und Sozialpolitik, Stuttgart 2009; Ribhegge: Europäische Wirtschafts- und Sozialpolitik, Heidelberg 22011; Heise: Sozialpolitik in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Göttingen 1966; Hampel: Sozialpolitik, Kiel 1955; Ramadier, Paul: Die europäische Integration- sozialpolitisch gesehen. Ein Diskussionsbeitrag, in: Sozialer Fortschritt, Bd. 4, 1954, Nr. 1, S. 8–9; Weydert, Jean: The Social Policy of the European Economic Community. Part II. Why A Social Policy?, in: Junckerstorff, Henry Alfred Kurt (Hg.): International Manual on the European Economic Community, St. Louis 1963, S. 429–446. 63 Vgl. Guinand: Die Internationale Arbeitsorganisation, Bern 2003; Murray: Transnational Labour Regulation, Den Haag u.a. 2001 und HAILO IGO 051.
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Problemlagen in Auftrag gegeben bzw. vom Kommissionspersonal angefertigt. Dieser Prozess der Wissensproduktion und -sammlung wurde zu einer der wichtigsten Arbeitsmethoden der Kommission. Die Berichte sind in den Archiven der EU-Institutionen beinah vollständig überliefert. Anders gestaltet sich die Quellenlage mit Blick auf die Dikussionen innerhalb der Kommission und die Arbeitspraktiken ihrer Dienststellen. Zwar sind Protokolle der Kommissionssitzungen überliefert, diese geben aber keine Auskunft über die Positionen einzelner Kommissare. Der Transfer bzw. die Selektion des ExpertInnenwissens im Entscheidungsprozess kann daher nur durch einen Vergleich zwischen den Berichten und evt. folgenden Initiativen nachvollzogen werden. Auch fehlt es an Einschätzungen, Arbeitsberichten u.ä. subalterner MitarbeiterInnen. Die institutionelle Entwicklung kann teilweise anhand von Interviews mit KommissionsmitarbeiterInnen nachvollzogen werden, die im Rahmen des Oral-History-Projekts „The European Commission 1958–1972. Memories of an institution“ unter der Leitung von Michel Dumoulin entstanden. Die Perspektive der Kommission wurde für die Untersuchung ausgewählt, um zu unterstreichen, dass der Integrationsprozess keine Folge intergouvernementaler Entscheidungen war. Stattdessen sollen am Beispiel der Kommission die Überschneidungen zwischen regionalen, nationalen, supranationalen und internationalen Interessen analysiert werden. Andere Akteure, wie das Parlament, der Wirtschafts- und Sozialausschuss, der COREPER, der Ministerrat und Interessenverbände trugen ihre Forderungen und Anmerkungen an die Kommission heran. Die so entstehenden institutionellen Zwänge und strategischen Erwägungen nahmen ebenfalls Einfluss auf die Kommissionsinitiativen. Im zweiten Teil der Arbeit wird gezeigt, wie die Kommission den sozioökomischen Wandel, vor allem aber die Umbrüche im Geschlechterverhältnis erfasste und Ungleichbehandlungen aufgrund des Geschlechts in sozial- und beschäftigungspolitischen Debatten problematisierte. In einem ersten Schritt werden jene Diskussionen untersucht, die Frauen gezielt als Arbeitnehmerinnen in den Blick nahmen. In den 1960er Jahren wirkte die Kommission auf eine Angleichung der nationalen Mutterschutzbestimmungen hin. Im EU-Archiv in Florenz sind die Vorarbeiten, verschiedenste Entwürfe eines Empfehungstextes, Stellungnahmen des Europäischen Parlaments (EP) und des Wirtschafts- und Sozialausschusses (WSA) überliefert. Anhand der Dokumente können Aussagen über das Gleichheitskonzept und die Geschlechterleitbilder der Institutionen getroffen werden. Im Zusammenhang mit der Mutterschutzdebatte soll auch der sozialpolitische Spielraum der Kommission vor dem Hintergrund der institutionellen Entwicklung erörtert werden. Dafür werden u.a. Sitzungsdokumente des Ministerrats herangezogen, die ebenfalls in den Archiven der EU überliefert sind. Die Kommission ließ in den 1960er Jahren mehrer Berichte über die Situation erwerbstätiger Frauen anfertigen. Damit gerieten wiederum Benachteiligungen und Ungleichheiten aufgrund des Geschlechts, aber auch des Familienstandes, der sozialen Herkunft oder des Alters in den Blick. Die ILO widmete sich ebenfalls diesem Problembereich. Daher soll in einem Vergleich der Frauenarbeitsberichte analysiert werden, unter welchen (institutionellen) Bedingungen das Geschlecht als Kategorie der Problembeschreibung auf die Agenda kam. Es ist anzunehmen,
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dass die ExpertInnen-Berichte zentral für die Institutionalisierung des Problemzusammenhangs Geschlecht – soziale Ungleichheiten auf der Agenda der EWG und ILO waren. Für die EWG liegen keine Quellen vor, die Rückschlüsse erlauben, wie mit den Informationen seitens der Kommission verfahren wurde. Erst mit der Entwicklung der Gleichbehandlungspolitik in den 1970er Jahren nahmen die KommissionsmitarbeiterInnen dezidiert Bezug auf ExpertInnen-Berichte. Anders gestaltet sich die Quellenlage im Falle der ILO. Die Frauenarbeitsberichte wurden in den Sitzungen des Verwaltungsrates und z.T. auf der Internationalen Arbeitskonferenz (IAK) präsentiert und diskutiert. Daher kann die Entwicklung gleichstellungspolitischer Konzepte auch für einzelne AkteurInnen bzw. Akteursgruppen ausgehend von dem Wissen der ExpertInnen nachgezeichnet werden. In der Korrespondenz der ILO-MitarbeiterInnen finden sich vereinzelt auch Hinweise auf eine wechselseitige Beobachtung und einen Austausch zwischen der EWG und der ILO in Bezug auf die Problematik Frauenarbeit. Neben diesen beiden „frauenzentrierten“ Debatten sollen mit der Bildungsund der Freizügigkeitspolitik in den Kapiteln V und VI Bereiche untersucht werden, die nicht dezidiert auf die Verbesserung der Lebens- und Beschäftigungssituation von Frauen abzielten. Die Untersuchung der Bildungspolitik vertieft die Betrachtung zur Bedeutung des institutionellen Gefüges für den Umgang mit spezifischen sozioökonomischen Problemstellungen. Der Kommission lagen zahlreiche Informationen über die Bedeutung der beruflichen Qualifikation für die Beschäftigungssituation von Frauen vor, die u.a. von Interessengruppen (Frauenverbänden) zusammengetragen wurden. An dieser Stelle soll daher auch die Funktion von Netzwerken im Integrationsprozess beleuchtet werden. Im EU-Archiv in Florenz sind nicht nur die Bestände der EWG-Institutionen überliefert, sondern auch von pro-europäischen Bewegungen. Im Bestand der Europäischen Bewegung konnten Dokumente gesichtet werden, die Aufschluss über die Aktivitäten einer transnationalen Frauenbewegung und deren Kontakte zur Kommission geben. Auf der Grundlage der Dokumente soll die Rolle der transnationalen Frauenbewegung in der Entwicklung der Gleichbehandlungspolitik bewertet werden.64 In einem letzten Teil wird untersucht, welche sozialen Probleme infolge der Freizügigkeit von der Kommission erfasst wurden. Die gewünschte Mobilität der europäischen ArbeitnehmerInnen warf Fragen der Angleichung und „Europäisierung“ der sozialen Sicherungen auf. In diesen Debatten manifestierten sich die unterschiedlichen Vorstellungen von Sozialstaatlichkeit. Aus den im EU-Archiv überlieferten Arbeitsunterlagen der Verwaltungskommission für die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer lassen sich Vorstellungen über Familie, Markt, Arbeit und Geschlecht ablesen. So war ein Konfliktpunkt beispielsweise die Regelung der Familienbeihilfen oder der Hinterbliebenenrenten. Die Kommission 64 Vgl. vor allem den Bestand HAUE ME; zur theoretischen Verortung: Boswell, Christina: The Political Functions of Expert Knowledge: Knowledge and Legitimation in European Union Immigration Policy, in: Journal of European Public Policy, Bd. 15, Nr. 4, 2008, S. 471–488; Hartlapp/Metz/Rauh: Made in Brussels, in: WZB Mitteilungen, Heft 130, Dezember 2010, S. 7–10.
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konnte/musste in diesen Debatten eine Synthese der nationalen Leitbilder schaffen bzw. eigene Normen generieren. In der Verwaltugskommission wirkten wiederum auch ILO-MitarbeiterInnen mit, die einen wichtigen Beitrag für die Überarbeitung der EWG-Verordnungen leisteten. Die Vorschläge der ILO sind in Genf und Florenz gut dokumentiert, ebenso wie Einschätzungen über die Zusammenarbeit mit den KollegInnen auf europäischer Ebene.65
65 Vgl. Bestand HAILO SI 12; HAEU BAC 006/1977.
I. DIE 1960ER JAHRE WIRTSCHAFTLICHE PROSPERITÄT UND GESELLSCHAFTLICHER WANDEL Will man erfassen, in welcher Weise die Europäische Kommission Geschlecht in den 1960er Jahren als soziale Problemlage thematisierte, so erscheint es zunächst nützlich, die sozioökonomischen Entwicklungen in den 1960er Jahren zu vergegenwärtigen. Das Integrationsprojekt startete zu einer Zeit wirtschaftlicher Prosperität und gesellschaftlicher Liberalisierung. Ab 1948 wurde ganz Westeuropa von einem Wirtschaftsboom erfasst, der mit der Ölkrise 1973/74 endete. Neben dem wirtschaftlichen Wachstum zeichnete sich diese Periode durch einen gesellschaftlichen Wandel aus, der mit den Schlagwörtern Liberalisierung und Individualisierung beschrieben werden kann. Die benannten Prozesse hatten auch Einfluss auf das Geschlechterverhältnis und das Frauenleitbild. Bereits in den 1950er Jahren lassen sich Veränderungen feststellen, wenngleich in der Historiographie und in der öffentlichen Wahrnehmung bislang die Vorstellung geteilt wird, die Liberalisierung der Geschlechterverhältnisse habe erst mit der Frauenbewegung 1968 eingesetzt.1 Tatsächlich wurde aber bereits seit der Mitte der 1950er Jahre z.B. in der bundesdeutschen Gesellschaft über Veränderungen des Geschlechterverhältnisses und vor allem über das Frauenleitbild diskutiert. In den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Teilbereichen, von den Medien über die Wissenschaft bis hin zur Politik wurde um die Stabilisierung und Veränderung der Wertvorstellungen gerungen. Die Diskussionen konzentrierten sich dabei auf ein offenbar neuartiges Phänomen: die steigende Berufstätigkeit verheirateter Frauen und Mütter.2 Der Wandel des Geschlechterverhältnisses ordnet sich damit in Deutschland in die Geschichte der „langen 1960er Jahre“ ein, in die „Hochphase der Liberalisierung“ der bundesdeutschen Gesellschaft. In dieser Zeit koexistierten in vielen gesellschaftlichen und politischen Bereichen reformerische und konservative Tendenzen. Schlagworte wie „Öffentlichkeit“, „Mitbestimmung“, „mehr Demo-
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Vgl. Frevert, Ute: Umbruch der Geschlechterverhältnisse? Die 60er Jahre als geschlechterpolitischer Experimentierraum, in: Schildt/Siegfried/Lammers (Hg): Dynamische Zeiten, Hamburg 2000, S. 642–660, hier S. 642. Vgl. Oertzen, Christine von: Teilzeitarbeit für die ‚moderne‘ Ehefrau: Gesellschaftlicher Wandel und geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in den 1960er Jahren, in: Frese, Matthias/Paulus, Julia/Teppe, Karl (Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn 2003, S.63–82, hier S. 64.
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kratie wagen“ verweisen auf die reformerischen Ansätze. Aber auch die Wohlstandssicherung und -verteilung galten als politische Leitmotive dieser Phase.3 Im Folgenden sollen die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen dieser Zeit knapp skizziert werden. Dabei wird vor allem auf die Auswirkungen des Booms auf die Frauenarbeit und das Geschlechterverhältnis eingegangen werden. Es ist der Literaturlage geschuldet, dass sich die Darstellung vornehmlich auf die Bundesrepublik Deutschland konzentriert, statt eine europäische Perspektive einzunehmen. Der nationale Zugriff erscheint aber insofern gerechtfertigt, da gesellschaftliche Wandlungsprozesse durch nationale Politik- und Rechtsvorschriften gerahmt wurden. Die Ausführungen zur wirtschaftlichen Entwicklung sind zudem notwendig, um die Bedingungen des Integrationsprozesses und die Themensetzung der Gemeinschaftspolitik zu erfassen. . 1. DER BOOM 1948–1973 – ANNÄHERUNG DER EUROPÄISCHEN WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT Die Zeit zwischen 1948 und 1973 galt in den westeuropäischen Ländern als Phase eines bis dato ungekannten wirtschaftlichen Aufschwungs, mit Wachstumsraten von bis zu fünf Prozent im Jahr. In den meisten westeuropäischen Staaten herrschte Vollbeschäftigung mit Arbeitslosenquoten von zwei bis drei Prozent. Nur in der Bundesrepublik und in Italien lagen die Zahlen vergleichsweise hoch mit sieben bis acht Prozent. Zudem näherte sich in dieser Zeit die Wirtschaftsleistung (gemessen am Pro-Kopf-Einkommen) der Staaten immer stärker einander an, so dass ein leistungsstarker quasi gleichmäßiger Wirtschaftsraum entstand.4 Während des Booms glichen sich auch die Wirtschafts- und Erwerbsstrukturen der (west-) europäischen Staaten immer weiter an. Durch die DeAgrarisierung und Durchindustrialisierung, die in den 1960er Jahren zum Abschluss kamen, verlor die Agrarbeschäftigung zugunsten der Industriebeschäftigung, aber vor allem gegenüber dem Dienstleistungssektor an Bedeutung. Das bislang stark agrarisch geprägte Frankreich erlebte beispielsweise einen extrem raschen strukturellen Wandel, in dem die Agrarbeschäftigung von 37 (1946) auf 12 Prozent (1975) schrumpfte. Zugleich überstieg die Industriebeschäftigung
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Vgl. Frese, Matthias/Paulus, Julia: Geschwindigkeiten und Faktoren des Wandels – Die 1960er Jahre in der Bundesrepublik, in: Frese/Paulus/Teppe (Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch, Paderborn 2003, S. 1–23, hier S. 7. In der BRD wuchs das Bruttosozialprodukt um durchschnittlich 4,9 Prozent im Jahr, in Italien um 5 Prozent, in Frankreich um 4 Prozent. Zahlen für die Jahre um 1960. Vgl. Hardach, Gerd: Krise und Reform der Sozialen Marktwirtschaft. Grundzüge der wirtschaftlichen Entwicklung in der Bundesrepublik der 50er und 60er Jahre. In: Schildt/Siegfried/Lammers (Hg): Dynamische Zeiten, Hamburg 2000, S. 197–217, hier S. 197; Therborn, Göran: Die Gesellschaften Europas 1945–2000. Ein soziologischer Vergleich, Frankfurt a.M. 2000, S. 71, 213.
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erstmals die landwirtschaftliche Beschäftigung (von 29 Prozent im Jahr 1946 auf 38 Prozent im Jahr 1968).5 Gleichzeitig verringerte sich der Anteil der abhängig Beschäftigten und die Zahl der Angestellten und Beamten stieg beträchtlich an. In den 1960er Jahren wurde somit der Wandel von der Arbeitergesellschaft zur Angestelltengesellschaft vorbereitet, der dann in den 1970er Jahren vollzogen wurde. In der soziologischen Literatur wird darauf hingewiesen, dass immer mehr Männer und Frauen in die Lohnarbeit eingebunden wurden: „Die Einbindung in beziehungsweise Orientierung an der Lohnarbeit wurde zu einer nichthintergeh- und fragbaren ‚Normalform’ nicht nur der männlichen, sondern in Varianten auch der weiblichen Lebensplanung.“6
Die Institutionalisierung des Normalarbeitsverhältnisses ging mit einer Individualisierung der Lebenslagen und Lebenswege einher. Es muss jedoch bedacht werden, dass dieser Prozess geschlechtsspezifisch verlief und dass die Pluralisierung der Lebenschancen nicht zwangsläufig eine Pluralisierung der Partizipationschancen bedeutete.7 Unter diesen Vorzeichen (struktureller Wandel, Wandel der Beschäftigungsstruktur, Institutionalisierung des Normalarbeitsverhältnisses, Individualisierung) veränderte sich auch der weibliche Arbeitsmarkt. In der Bundesrepublik stiegen die Beschäftigungsquoten von Frauen in den 1950er Jahren beispielsweise um 8,4 Prozent und in den 1960ern um weitere 9,7 Prozent an.8 Wenngleich in allen Staaten ein struktureller Wandel zu beobachten war, so muss doch die unterschiedliche Dynamik und Qualität berücksichtigt werden. In Frankreich veränderte sich die Beschäftigungsstruktur beispielsweise schneller als in Deutschland: Die Agrarbeschäftigung sank dort in einem Zeitraum von dreißig Jahren um einen Umfang, für den Deutschland ca. sechzig Jahre gebraucht hatte. Allgemein kann für Frankreich aufgrund der gravierenden Veränderungen in Beschäftigung, Technik und Wirtschaft von einem regelrechten Modernisierungsschub zwischen 1948 und 1973 gesprochen werden, der sich qualitativ vom Wiederaufbau während des deutschen Wirtschaftswunders unterschied.9 5
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Vgl. Kaelble, Hartmut: Europäische Vielfalt und der Weg zu einer europäischen Gesellschaft, in: Hradil, Stefan/Immerfall, Stefan (Hg.): Die westeuropäischen Gesellschaften im Vergleich, Opladen 1997, S. 27–68, hier S. 44–48; Kaelble: Boom und gesellschaftlicher Wandel 1948–1973. Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland im Vergleich, in: Ders. (Hg.): Der Boom 19548–1973. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen in der Bundesrepublik Deutschland und in Europa, Opladen 1992, S. 219–247, hier S. 231–234; Ders.: Sozialgeschichte Europas, Bonn 2007, S. 61. Hornstein/Mutz: Die europäische Einigung, Baden-Baden 1993, S. 70. Vgl. ebenda, S. 43. Vgl. Schildt, Axel: Materieller Wohlstand – pragmatische Politik – kulturelle Umbrüche. Die 1960er Jahre in der Bundesrepublik, in: Schildt/Siegfried/Lammers (Hg): Dynamische Zeiten, Hamburg 2000, S. 21–53, hier. S. 24–26. Vgl. Kaelble, Hartmut: Nachbarn am Rhein. Entfremdung und Annäherung der französischen und deutschen Gesellschaft seit 1880, München 1991, S. 155f.; Ders.: Boom und gesellschaftlicher Wandel, in: Ders. (Hg.): Der Boom 19548–1973, Opladen 1992, S. 231–234.
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Vor dem Hintergrund des enormen Wirtschaftswachstums schritten auch das Integrationsprojekt der EWG und der Aufbau einer gemeinschaftlichen Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik voran. Der Wille, gemeinsame Problemlagen gemeinsam zu gestalten, wurde aber durch unterschiedliche politische Traditionen und kulturelle Orientierungen durchbrochen. Und auch die unterschiedliche Qualität der Entwicklungen erschwerte mitunter die Konsensfindung. Der Ausbau der Wohlfahrtsstaaten Mit dem wirtschaftlichen Wachstum und dem Strukturwandel ging auch ein Ausbau der wohlfahrtsstaatlichen Leistungen einher, so dass sich die Aufstiegschancen für breite Bevölkerungsteile verbesserten. Unter dem Eindruck der Konjunktur und der Vollbeschäftigung stieg in Westeuropa der Anteil wohlfahrtsstaatlicher Ausgaben an den Gesamtausgaben der Staaten. Diese Entwicklung hing maßgeblich mit der Erweiterung der sozialen Sicherungssysteme und der Universalisierung der Wohlfahrtsstaaten zusammen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden erstmals weite Teile der Bevölkerung durch verpflichtende Systeme gegen Altersarmut, Invalidität, Krankheit und Arbeitslosigkeit abgesichert. Die Sozialversicherung wurde universalistisch und schloss alle Bürger ein. Allein in Italien vollzog sich die Ausweitung des Versicherungsschutzes sehr langsam und große Teile der Beschäftigten blieben weiterhin ausgeschlossen. Hier blieb die soziale Grundsicherung an Familien und kommunale Entitäten gebunden.10 Die Gestalt der Wohlfahrtsstaaten differierte allerdings weiterhin, so dass keine identischen Wohlfahrtsstaaten entstanden. Vor allem die Zielsetzung der sozialen Sicherung lag weiterhin auseinander. In Frankreich war sie beispielsweise auf die Absicherung der Familie und die Einkommensumverteilung zwischen Kinderlosen und Eltern ausgelegt. Um das Jahr 1960 wandte der französische Staat mehr als ein Viertel der Sozialversicherungsleistungen für Familien auf. In Deutschland hingegen stand die Versorgung kranker und älterer (männlicher) Arbeitnehmer im Vordergrund. Dieser Unterschied relativierte sich aber binnen 20 Jahren, da in Frankreich die Ausgaben für Kranken- und Rentenkosten stiegen und in Deutschland familienpolitische Leistungen ausgebaut wurden.11 10 Vgl. Raphael, Lutz: Europäische Sozialstaaten in der Boomphase (1948–1973). Versuch einer historischen Distanzierung einer „klassischen Phase“ des europäischen Wohlfahrtsstaats, in: Kaelble, Hartmut/Schmid, Günther (Hg.): Das europäische Sozialmodell. Auf dem Weg zum transnationalen Sozialstaat, Berlin 2004, S. 51–73, hier S. 57. 11 Vgl. Kaelble: Europäische Vielfalt, in: Hradil/Immerfall (Hg.): Westeuropäische Gesellschaften, Opladen 1997, S. 44–48; Ambrosius, Gerold/Kaelble, Hartmut: Einleitung: Gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen des Booms der 1950er und 1960er Jahre, in: Kaelble (Hg.): Der Boom 1948–1973, Opladen 1992, S. 7–32, hier S. 29; Kaelble: Boom und gesellschaftlicher Wandel, in: Ders. (Hg.): Der Boom 19548–1973, Opladen 1992, S. 239; Kaelble: Sozialgeschichte Europas, Bonn 2007, S. 340f., Kaelble: Nachbarn am Rhein, München 1991, S. 217, 225.
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Wenngleich der Ausbau und die Universalisierung der Sicherungssysteme nationalen Pfaden folgten, so lag eine Gemeinsamkeit in der Orientierung an der lohnförmigen Beschäftigung, der lebenslangen Erwerbsbiographie und dem Ernährermodell. Die sozialen Sicherungssysteme waren androzentrisch und basierten auf der Annahme, dass der Familienvater als Haupternährer den Lebensunterhalt der Familie erwirtschaftete. Damit wurde – mit nationalen Variationen – das Geschlechterarrangement der Haupternährerehe bekräftigt. Die soziale Sicherung von Ehefrauen und Müttern wurde von der Erwerbsarbeit des Ehemannes abgeleitet. Durch das patriarchalische Ordnungsmuster wurden Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern fortgeschrieben bzw. geschaffen, auf die an anderer Stelle noch zurückgekommen werden soll.12 Die Ausweitung der sozialen Sicherung war auf ein gemeinsames sozialpolitisches Leitbild zurückführen, das durch einen verstärkten Austausch über Sozialpolitik befördert wurde. Dieser Austausch verlief in zwischenstaatlichen Foren, vor allem aber in internationalen und regionalen Organisationen. In der ILO, OECD, EGKS und EWG wurden die „Grundlagen einer gemeinsamen europäischen Sozialbeobachtung und -berichterstattung [gelegt, die] für die Harmonisierung sozial- und arbeitsrechtlicher Regelungen […]“13 sorgten. Das gemeinsame Leitbild basierte darauf, die soziale Sicherheit neben politischen und bürgerlichen Rechten zunehmend als Grundrecht zu verstehen.14 Im Falle der BRD folgte daraus eine funktionelle Neuausrichtung des Sozialstaates. Sozialstaatliche Maßnahmen wurden nicht mehr nur als Armutsvorsorge und Existenzsicherung konzipiert. Eine Basissicherung sollte stattdessen die Grundlage für die soziale Gleichheit, die gesellschaftliche Teilhabe und politischsoziale Mitbestimmung bilden. Sozialpolitik wurde in einem breiteren Sinne als Gesellschaftspolitik verstanden und sollte Teilhabechancen (Konsum, Wohlstand, Bildung) verbessern. Unter der Zielstellung der Chancengleichheit sollten die Partizipationschancen benachteiligter Gruppen (z.B. Frauen, Jugendliche, körperlich Behinderte) durch spezifische Maßnahmen verbessert werden.15 Die integrative Funktion wohlfahrtsstaatlicher Leistungen bezog sich auch auf die Identifikation und Loyalität mit dem Nationalstaat. Über die Erweiterung sozialer Rechte und Pflichten konnte nach dem Zweiten Weltkrieg die nationale
12 Vgl. Raphael: Europäische Sozialstaaten, in: Kaelble/Schmid (Hg.): Das europäische Sozialmodell, Berlin 2004, S. 54, 65f. Vgl. zur Entwicklung auch Bock: Frauen in der europäischen Geschichte, München 2005, S. 248–259. 13 Raphael: Europäische Sozialstaaten, in: Kaelble/Schmid (Hg.): Das europäische Sozialmodell, Berlin 2004, S. 59. 14 Vgl. Ritter, Gerhard: Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, München 1989, S. 14, 21; Maul: Menschenrechte, Essen 2007, S. 123. 15 Vgl. Boldorf, Marcel: Gesamtbetrachtung, in: Ruck, Michael/Boldorf, Marcel (Hg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 4, 1957–1966, Baden-Baden 2007, S. 841–872, hier S. 843–845; Kaelble: Sozialgeschichte Europas, Bonn 2007, S. 341–343.
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Solidarität auf eine neue Basis gestellt werden. Daher wurde die nationale Souveränität im Bereich der Sozialpolitik auch in besonderem Maße behauptet.16 Die Konzeption von Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik zeigte sich u.a. in Hinblick auf die Bildung. Der strukturelle Wandel und das Wachstum des tertiären Sektors führten zu einer Neubewertung schulischer und akademischer Bildung. In den Dienstleistungsberufen war nicht wie in der Industrie das physische, sondern das geistige Kapital entscheidend. Die Schul- und Berufsausbildung und die berufliche Weiterbildung wurden zu den wichtigsten Ressourcen für ein Bestehen am Arbeitsmarkt. Die nationalen Regierungen reagierten auf die Anforderungen durch eine Verlängerung der Schulpflicht und den Ausbau der Sekundarschulen, wodurch das Qualifikationsniveau deutlich anstieg.17 Die Bildungsreformen sollten auch dazu beitragen, Chancenungleichheiten abzubauen. Bildung sollte ungeachtet der sozialen Herkunft, auf dem Lande wie in der Stadt, Jungen und Mädchen zugänglich sein. Tatsächlich stiegen der Anteil von Kindern aus Arbeiterfamilien und der Mittelschicht und von Mädchen und Frauen an der höheren Bildung. Jedoch bewirkte die Bildungsreform keine Chancenumverteilung, so dass die Bildungschancen zwar verbessert wurden, aber weiterhin ungleich verteilt blieben.18 Durch den Ausbau der Sozialpolitik entstanden nach dem Zweiten Weltkrieg zwischen den Staaten Westeuropas deutliche Konvergenzen. Der Lebens- und Wohnstandard und das Bildungsniveau glichen sich durch die Ausweitung sozialpolitischer Programme immer weiter an. Auch die sozialen Unterschiede zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen reduzierten sich merklich. Die Lebensverhältnisse zwischen Arbeiter- und Angestelltenhaushalten glichen sich einander an und die soziale Schichtung wandelte sich durch den Zuwachs der Angestelltenverhältnisse. Die Bildungsreformen hoben das Bildungsniveau, so dass immer weniger Schulabgänger ohne Berufsausbildung blieben und immer mehr Schülern eine Hochschulbildung offen stand. Die Boomjahre gingen in Westeuropa mit einem enormen sozialen Wandel einher, wobei ähnliche Tendenzen mit unter-
16 Kaelble, Harmut: Das europäische Sozialmodell – eine historische Perspektive, in Kaelble/Schmid: Das europäische Sozialmodell, Berlin 2004, S. 31–50, bes. S. 41; und Raphael: Europäische Sozialstaaten, in: Kaelble/Schmid (Hg.): Das europäische Sozialmodell, Berlin 2004, S. 60f. Vgl. Überblick über die soziologische Diskussion zur integrativen Funktion des Wohlfahrtsstaates: Kaufmann, Franz-Xaver: Sozialpolitik und Sozialstaate: Soziologische Analysen, Wiesbaden 32009, S. 298–300. 17 Vgl. Lefaucheur, Nadine: Mutterschaft, Familie und Staat, in: Thébaud, Françoise (Hg): Geschichte der Frauen, 20. Jh, Frankfurt/Wien 1995, S. 463–483, hier S. 473–476; Kaelble: Boom und gesellschaftlicher Wandel, in: Ders. (Hg.): Der Boom 1948–1973, Opladen 1992, S. 236f.; Vgl. zur Bildung auch Therborn: Die Gesellschaften Europas, Frankfurt a.M. 2000, S. 266–269. 18 Vgl. Frese/Paulus: Geschwindigkeiten und Faktoren, in: Frese/Paulus/Teppe (Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch, Paderborn 2003, S. 4f.; Lefaucheur: Mutterschaft, in: Thébaud (Hg): Geschichte der Frauen, Frankfurt/Wien 1995, S. 473–476; Kaelble, Harmut: Soziale Mobilität und Chancengleichheit im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1983, S. 210–226.
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schiedlichen Qualitäten zu beobachten waren. In Frankreich fiel der soziale Wandel beispielsweise extremer aus als in der Bundesrepublik.19 Demographischer Wandel Neben der Entwicklung der Wirtschaft und Sozialpolitik lässt sich auch in Hinblick auf die gesellschaftlichen Veränderungen mit Hartmut Kaelble von einer Annäherung der europäischen Gesellschaften und der Entstehung eines europäischen Gesellschaftsmodells sprechen.20 Sehr deutlich zeigte sich der gesellschaftliche Wandel am Beispiel der Familie, der in der Forschungsliteratur durch Schlagwörter wie „Individualisierung“, „Pluralisierung der Lebens- und Familienformen“ und „Strukturwandel der Familie“ beschrieben wurde.21 Zunächst lassen sich gravierende demographische Veränderungen feststellen, die auf die Zusammensetzung der Familie Einfluss nahmen. Nachdem es nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Geburtenanstieg kam, fiel die Geburtenquote nach 1964 deutlich ab.22 Der Geburtenrückgang korrelierte überraschenderweise mit einer hohen Heiratsneigung und einem Absinken des Heiratsalters. Üblicherweise hätte dieser Effekt zu steigenden Geburtenzahlen führen müssen, da mehrere Kohorten gleichzeitig Eltern wurden. Der Geburtenrückgang in den 1960er Jahren wurde oftmals auf die Einführung oraler Kontrazeptiva – den berüchtigten Pillenknick – zurückgeführt. Stattdessen kann die Ursache für die Entwicklung aber in der Durchsetzung der Kleinfamilie als Familienleitbild gesehen werden. Je jünger die Frauen waren, umso häufiger verzichteten sie auf weitere Kinder. Um 1939 geborene Frauen, die zwischen 1965 und 1970 bereits zweifache Mutter waren, entschieden sich gegen ein drittes Kind und die um 1946 Geborenen beließen es bei durchschnittlich einem Kind. Der Geburtenrückgang war ein genereller Trend, wenngleich regionale, konfessionelle, schicht- und kohortenspezifische Unterschiede bestanden. Die Orientierung auf die Kleinfamilie brachte es mit sich, dass sich die Eltern verstärkt auf ihre wenigen Kinder und deren Erziehung als Lebensprojekt konzentrierten.23 19 Vgl. Kaelble: Boom und gesellschaftlicher Wandel, in: Ders. (Hg.): Der Boom 19548–1973, Opladen 1992, S. 234; Ders.: Das europäische Sozialmodell, in: Kaelble/Schmid: Das europäische Sozialmodell, Berlin 2004, S. 39. 20 Vgl. Ambrosius/Kaelble: Einleitung, in: Kaelble (Hg.): Der Boom 1948–1973, Opladen 1992, S. 12; Kaelble: Europäische Vielfalt, in: Hradil/Immerfall (Hg.): Westeuropäische Gesellschaften, Opladen 1997, S. 44–48. 21 Vgl. Leicht-Scholten, Carmen: Das Recht auf Gleichberechtigung im Grundgesetz. Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts von 1949 bis heute, Frankfurt a.M. 2000, S.48f. 22 Vgl. Höhn, Charlotte: Bevölkerungsentwicklung und demographische Herausforderung, in: Hradil/Immerfall (Hg.): Westeuropäische Gesellschaften, Opladen 1997, S. 71–95, hier S. 74, 76. 23 Vgl. Niehuss, Merith: Einführung, in: Frese/Paulus/Teppe (Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch, Paderborn 2003, S. 27–38, hier S. 27–31.
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Die sinkende Geburtenrate löste unter Zeitgenossen besorgte Diskussionen aus, da bereits in den 1960er Jahren Arbeitskräfte knapp waren und die wirtschaftliche Prosperität an Arbeitskraftressourcen gebunden schien. Als Ursache für die negative Geburtenentwicklung wurde in der zeitgenössischen Wahrnehmung die zunehmende Mütterberufstätigkeit ausgemacht. Dabei zeigt der französische Fall, dass die Berufstätigkeit von Frauen keinen Einfluss auf die Kinderzahl haben musste, sondern vielmehr das Geschlechterarrangement entscheidend war. In Frankreich war die Geburtenrate im europäischen Vergleich traditionell sehr niedrig. Aufgrund des Arbeitskräftemangels war die Frauenarbeit – vor allem die Arbeit verheirateter Frauen – traditionell höher als z.B. in Deutschland. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es dann zu einem radikalen Umbruch, als die französische Geburtenrate wuchs und sogar die deutsche überstieg. Der Anteil der erwerbstätigen Frauen ging aber auch nach dem Anstieg der Geburtenrate nicht zurück. Im Gegenteil, der Anteil verheirateter Frauen an der Erwerbsbevölkerung stieg wie auch in anderen Ländern. 1950 waren in Frankreich bereits 42 Prozent der Ehefrauen berufstätig, in Deutschland waren es hingegen 25 Prozent.24 Die Geburtenrate hatte offensichtlich keinen Einfluss auf die weibliche Erwerbsquote. Viel entscheidender waren die allgemeine wirtschaftliche Lage, die Akzeptanz der Frauenarbeit und das Angebot öffentlicher sozialer Dienstleistungen. In den Boomjahren war der Anteil der erwerbsfähigen Bevölkerung in Frankreich noch immer zu gering, berufstätige Ehefrauen wurden gebraucht und ihre Arbeit war selbstverständlicher als in anderen Ländern. Es wurde akzeptiert, dass Kleinkinder nicht unmittelbar von der Mutter betreut wurden. Dabei war es zunächst nicht die öffentliche Kinderbetreuung, die diese Leistung erbrachte. Vielmehr war in Frankreich die Bindung an die Großfamilie sehr eng, so dass berufstätige Eltern von unter Dreijährigen auf ein familiäres Betreuungsnetz zurückgreifen konnten. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging in Frankreich aber diese Bande zur Großfamilie verlustig und die Familie war einem radikalen Funktionswandel unterworfen. Innerhalb einer Generation setzte sich die Auffassung durch, dass Kinder unter ihresgleichen am besten aufgehoben seien. Dieses Erziehungsideal öffnete die Akzeptanz für die außerhäusliche Betreuung in den écoles maternelles. In der Bundesrepublik hingegen galt weiterhin die Mutter als zentrale Bezugsperson und die Ablösung von der Familie/Mutter wurde in eine spätere Lebensphase verlagert.25 Wenngleich die Familienstrukturen in Deutschland, Frankreich und den anderen europäischen Staaten hinsichtlich des Heiratsalters und des Zeitpunkts der Familiengründung, der Stärke verwandtschaftlicher Beziehungen und der Kinderzahl verschieden blieben, lässt sich doch eine Annäherung der Familienstrukturen feststellen. Die Familien wurden kleiner, die Zahl der Ehescheidungen stieg an. Neue Familienformen setzten sich durch, z.B. die Ein-Eltern-Familien oder Familien mit Stiefgeschwistern. „[…] wirtschaftliche Entwicklung und sozialer Struk-
24 Vgl. Kaelble: Nachbarn am Rhein, München 1991, S. 163, 174f. 25 Vgl. ebenda, S. 171f.
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turwandel [haben] in Zusammenspiel mit Wertwandel [sic] europaweit zu ähnlichen familiären Veränderungen geführt.“26 2. UMBRÜCHE IM GESCHLECHTERVERHÄLTNIS? Der ökonomische, soziale und demographische Wandel bildete die Ausgangslage für einen Wandel der Geschlechterverhältnisse in den langen 1960er Jahren. Als sich in den 1960er Jahren infolge der Bildungsexpansion, der Absenkung des Rentenalters und der Verringerung der Arbeitszeit das Arbeitskräfteproblem verschärfte, gerieten AusländerInnen und Frauen, vor allem verheiratete Mütter, verstärkt in den Blick von Politik und Wirtschaft.27 Die Anwerbung von Frauen während wirtschaftlicher Wachstumsphasen war keine Besonderheit der Nachkriegszeit. Diese Strategie war während der Industrialisierung, in Frankreich in der Zwischenkriegszeit und in den arbeitskraftintensiven Kriegswirtschaften erprobt worden.28 In den 1950er und 1960er Jahren wurde aber – in der Bundesrepublik – der „Durchbruch zur Berufstätigkeit von Ehefrauen und Müttern“29 geschafft. Ehefrauen zogen sich nach der Konjunktur nicht wie zu anderen Zeiten vom Arbeitsmarkt zurück. Zum einen, weil sich in diesen Jahren auch die kulturellen Leitbilder zur Frauenerwerbsarbeit verändert hatten. Zum anderen, weil die ökonomischen Veränderungen zu tief greifend waren. Der „[...]traditionelle, familienwirtschaftliche und nicht lohnorientierte Sektor der europäischen Wirtschaften [war] während des Booms aufgesaugt [worden].“ Damit verschwand „eine
26 Höpflinger, François: Haushalts- und Familienstrukturen im intereuropäischen Vergleich, in: Hradil/Immerfall (Hg.): Westeuropäische Gesellschaften, Opladen 1997, S. 97–138, hier S. 98; Vgl zum gesamten Abschnitt Kaelble: Boom und gesellschaftlicher Wandel, in: Ders. (Hg.): Der Boom 19548–1973, Opladen 1992, S. 224f.; Ders.: Sozialgeschichte Europas, Bonn 2007, S. 35f.; Hornstein/Mutz: Die europäische Einigung, Baden-Baden 1993, S. 183. 27 Vgl. Ambrosius/Kaelble: Einleitung, in: Kaelble (Hg.): Der Boom 1948–1973, Opladen 1992, S. 18, 27; Niehuss, Merith: Einführung, in: Frese/Paulus/Teppe (Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch, Paderborn 2003, S. 27–31; Boldorf: Gesamtbetrachtung, in: Ruck/Boldorf (Hg.): Geschichte der Sozialpolitik, Baden-Baden 2007, S. 843, 852–854. Boldorf weist darauf hin, dass der Anstieg der Frauenerwerbsquote in den frühen 1960er Jahren u.a. auf den Anstieg ausländischer Arbeitnehmerinnen zurückzuführen war. Zwischen 1959 und 1966 stieg der Frauenanteil um 7 Prozent auf 25 Prozent aller ausländischen ArbeitnehmerInnen. 28 Vgl. Lagrave, Rose-Marie: Eine Emanzipation unter Vormundschaft. Frauenbildung und Frauenarbeit im 20. Jahrhundert, in: Thébaud (Hg): Geschichte der Frauen, Frankfurt/Wien 1995, S. 485–522, hier S. 491f.; Pfau-Effinger: Kultur und Frauenerwerbstätigkeit, Opladen 2000, S. 115f. Pfau-Effinger weist darauf hin, dass in Deutschland während des Zweiten Weltkriegs nur wenige Frauen für die Kriegswirtschaft mobilisiert werden konnten. Ursächlich dafür war die widersprüchliche Politik der Nationalsozialisten, die auf der einen Seite die Mutterschaft aus demographisch-rassistischen Gründen förderte und andererseits Arbeitskräfte für die Kriegswirtschaft benötigte. Der „Arbeitsdienst“ für Mädchen ab 17 Jahren traf vor allem jene sozialen Schichten, in denen Frauen ohnehin berufstätig waren. 29 Kaelble, Hartmut: Sozialgeschichte Europas. 1945 bis zur GegenwArt. München, 2007, S. 33.
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Vor allem für Frauen schwand damit die Rückzugsmöglichkeit in landwirtschaftliche und kleingewerbliche Familienunternehmen. Frauenerwerbsarbeit in den 1950er und 1960er Jahren Die Arbeitsmarktbeteiligung von Frauen war hochgradig abhängig von geschlechterkulturellen Leitbildern (zu Mutterschaft, Kindheit, Arbeitsteilung), der Organisation des Wohlfahrtsstaates und der Arbeitsmarktentwicklung und -steuerung.31 Mit der Durchsetzung des Bürgertums als dominante gesellschaftliche Kraft hatte sich in den europäischen Staaten auch das bürgerliche Familienideal (ErnährerHausfrauenehe) als kulturelles Leitbild durchgesetzt. Im Zentrum des Modells stand eine komplementäre Auffassung der Lebensbereiche. Die Ehefrau und Mutter galt als zuständig für den inneren Bereich des Hauses und die damit verbundenen Tätigkeiten, während der Ehemann und Vater durch Erwerbsarbeit für das Familieneinkommen sorgte. So hieß es beispielsweise in einem französischen Schulbuch von 1953: „The father’s role is to provide for the family. If possible, he should allow the mother to stay at home. The mother’s mission is above all the education of children and the adorning of the family nest.”32
Dieses Ideal war eng mit der Vorstellung einer geschützten Kindheit im privaten Bereich verbunden. Der idealisierte Lebenslauf sah vor, dass Frauen nach der Heirat, spätestens nach der Geburt des ersten Kindes, die Berufstätigkeit aufgaben und wenn nötig erst nach der Phase der aktiven Mutterschaft wieder berufstätig wurden. In den Niederlanden und in Deutschland beispielsweise wurde die Erwerbstätigkeit von verheirateten Müttern noch von einer breiten Bevölkerungsmehrheit bis in die 1970er Jahre als Zeichen sozialer Benachteiligung abgelehnt. Es muss jedoch bedacht werden, dass die Idealvorstellung der Alleinernährer-Hausfrauenehe und die Lebenswelt vieler Familien je nach sozialer oder regionaler Herkunft, aber auch abhängig von berufssoziologischen Faktoren bei weitem nicht deckungsgleich waren.33 30 Ambrosius/Kaelble: Einleitung, in: Kaelble (Hg.): Der Boom 1948–1973, Opladen 1992, S. 14. 31 Vgl. Pfau-Effinger: Kultur und Frauenerwerbstätigkeit, Opladen 2000, S. 18–22; Therborn: Die Gesellschaften Europas, Frankfurt a.M. 2000, S. 77. Pfau-Effinger betont vor allem die kulturellen und institutionellen Faktoren, Therborn hingegen eher die Bedeutung von Konjunkturlagen. 32 Zitiert nach Duchen, Claire: Women’s Rights and Women’s Lives in France 1944–1968, London 1994, S. 151. 33 Vgl. Pfau-Effinger: Kultur und Frauenerwerbstätigkeit, Opladen 2000, S. 117, 148–151, 156. Pfau-Effinger weist an anderer Stelle darauf hin (S. 221), dass nicht zwingend der Übergang
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Die Durchsetzung des Ideals als gelebte Familienform war u.a. an die Wohlstandsverteilung gebunden. In den Niederlanden lässt sich die Hausfrauenehe bspw. bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgen und wurde in allen gesellschaftlichen Schichten praktiziert. In Deutschland galt die Hausfrauen-Versorgerehe seit der Wende zum 20. Jahrhundert als kulturelles Leitbild, obwohl die soziale Praxis oftmals davon abwich und Frauen aus dem Arbeitermilieu oder dem Bauerntum Vollzeit arbeiteten. Erst in den 1950er Jahren konnten auch Arbeiterfamilien aufgrund der steigenden Realeinkommen an der Wohlstandserfahrung partizipieren und von einem einzelnen Einkommen leben. Dies war eng mit dem Aufstieg des männlichen Facharbeiters zur „zentrale[n] Figur der industriellen Arbeitswelt“34 verbunden. Die Qualifikation zum Facharbeiter eröffnete Männern ein höheres Einkommen, einen sicheren Arbeitsplatz und schließlich den sozialen Aufstieg. Die Chancen zur breiten gesellschaftlichen Umsetzung des Alleinernährermodells standen damit sehr gut: „Zu keiner Zeit schien dieses Ideal seiner Verwirklichung näher als am Ende der 1950er Jahre.“35 Außerdem erlebte die Familie in der Nachkriegszeit eine enorme Aufwertung. Sie galt als Sinnbild für Normalität und als einzig funktionierende Solidargemeinschaft. Damit wurde ein idealisierter Gegenentwurf zu den familiären Veränderungen der Nachkriegszeit gezeichnet. Bedingt durch Kriegswirtschaft und -wirren waren flexiblere Familienformen, meist mit weiblichem Haushaltsvorstand und größere Freiräume für Frauen und Kinder entstanden, die das Ideal der patriarchalen Familie in Frage stellten. Nach den entbehrungsreichen Jahren, in denen Frauen oft schwere körperliche und unqualifizierte Arbeit geleistet hatten, versinnbildlichte die Ernährer-Hausfrauenehe die Rückkehr zu einer befriedeten Gesellschaft. Das Leitbild wurde nicht nur medial und politisch propagiert, es fand auch die Zustimmung vieler Frauen.36 In Frankreich beispielsweise wurden die Mutterschaft und das Hausfrauendasein in den 1950er Jahren in Anknüpfung an die pronatalistische Tradition als patriotische und natürliche Pflichterfüllung normativ überhöht. Vor allem Frauen der Mittelschicht wurden z.B. in Magazinen eine klare Rollenverteilung suggeriert, die der Ehefrau die Verantwortung für ein sauberes Heim, das Wohlergehen der Kinder und des Ehemanns zuwies. Selbst linke Parteien und Medien trugen diesen Diskurs, wenngleich sie ihn um die Probleme erwerbstätiger Mütter der Arbeiterschicht ergänzten. Auch für Arbeiterfrauen galt eine Alleinernährer-
zur Industriegesellschaft zum Wandel des Geschlechterarrangements beitrug, sondern die Durchsetzung der bürgerlichen Kultur als Leitmotiv. Vgl. auch Duchen: Women’s Rights, London 1994, S. 65. 34 Zitiert nach Boldorf: Gesamtbetrachtung, in: Ruck/Boldorf (Hg.): Geschichte der Sozialpolitik, Baden-Baden 2007, S. 846. 35 Oertzen: Teilzeitarbeit, in: Frese/Paulus/Teppe (Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch, Paderborn 2003, S. 65; Vgl. zum gesamten Abschnitt Pfau-Effinger: Kultur und Frauenerwerbstätigkeit, Opladen 2000, S. 117; Boldorf: Gesamtbetrachtung, in: Ruck/Boldorf (Hg.): Geschichte der Sozialpolitik, Baden-Baden 2007, S. 846f. 36 Vgl. Pfau-Effinger: Kultur und Frauenerwerbstätigkeit, Opladen 2000, S. 119.
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Hausfrauenehe als erstrebenswert, da sie einen höheren Lebensstandard, gesellschaftlichen Status und eine geringere Arbeitsbelastung versprach. Das Frauenideal wurde mit der Mutterschaft und der Rolle der guten Hausund Ehefrau (femme au foyer) gleichgesetzt. Durch die „Taylorisierung der Heimarbeit“37, die vor allem von einer breiten Ratgeberliteratur und Hauswirtschaftsschulen getragen wurde, erfuhr die Hausfrauentätigkeit eine Aufwertung und Professionalisierung. Hausarbeit wurde durchaus als Arbeit interpretiert, die einen volkswirtschaftlichen Beitrag leistete und entsprechende Qualifikationen erforderte. Claire Duchen wies darauf hin, dass dieser Diskurs der Häuslichkeit (domesticity) durch einen Feminisierungsdiskurs ergänzt wurde. Die gelungene Haushaltsführung und ein erfülltes Familienleben galten als die alleinige Verantwortung von (Ehe-)Frauen und als Sinnbild von Weiblichkeit.38 Wenngleich in den 1950er Jahren die Alleinernährer-Hausfrauenehe als gesellschaftliches Leitbild gepriesen und viele Familien (auch durch Sozialleistungen) finanziell zur Umsetzung dieses Modells befähigt wurden, kam es in den folgenden Jahrzehnten keineswegs zur Durchsetzung, sondern eher zur Auflösung der Familienform. Diese Entwicklung kann auf zwei Faktoren zurückgeführt werden: auf die steigende Erwerbsbeteiligung verheirateter Frauen und die Veränderung der politischen Rahmenbedingungen. Trotz des gängigen Leitbilds stieg seit 1950 die Arbeitsmarktbeteiligung verheirateter Frauen stark an. Allein in Deutschland verdoppelte sich die Zahl erwerbstätiger verheirateter Frauen und Mütter zwischen 1950 und 1965. Auch in anderen Ländern ließ sich dieser Trend beobachten. In Frankreich betrug bereits zu Beginn der 1960er Jahre der Anteil der verheirateten Frauen an der weiblichen Erwerbsbevölkerung 53,2 Prozent, in Deutschland wurde dieses Niveau am Ende des Jahrzehnts erreicht. In den Niederlanden dauerte die Einbindung verheirateter Frauen in den Arbeitsmarkt nochmals länger als in Deutschland (West). Hier schnellten die Beschäftigungszahlen verheirateter Frauen in den 1970er Jahren empor. Der Trend zur Beschäftigung verheirateter Frauen und Mütter zeigte sich in allen Ländern vor allem unter den jüngeren und noch stärker unter den gut ausgebildeten Frauen. Das Ausmaß der Müttererwerbsarbeit wird vor allem dann sichtbar, wenn man die generelle Entwicklung der Frauenerwerbsquoten betrachtet. In dem Zeitraum zwischen 1950 und 1980 gingen konstant zwischen 30–33
37 Duchen: Women’s Rights, London 1994, S. 71. Duchen spricht von der „Tylorisation of the home“. 38 Vgl. ebenda, S. 65–67, 72, 81–84, 102f. Vgl. auch Laubier: The Condition of Women, London 1990, S. 17f., 20. Laubier beschreibt den Mutterschaftsdiskurs anhand der Empörung über Simone de Beauvoirs „Le deuxième sexe“. Beauvoir kritisierte, dass Frauen auf die Mutterrolle beschränkt wurden. Kritiker sahen darin einen Angriff auf die Familie und Ehe als moralische Konstanten der französischen Gesellschaft. Laubier zitiert allerdings auch zahlreiche zustimmende Leserbriefe von Frauen an Beauvoir. Vgl. Zur Entwicklung des Ernährermodells auch Coonitz, Stephanie: Das späte Auftreten und der frühe Niedergang des männlichen Ernährers, in: Bertram, Hans/Ehlert, Nancy (Hg.): Familie, Bindungen und Fürsorge. Familiärer Wandel in einer vielfältigen Moderne, Opladen 2011, S. 33–49, bes. S. 39–43.
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Prozent aller Frauen in der BRD einer bezahlten Arbeit nach, d.h. das Ausmaß der weiblichen Erwerbsarbeit an sich veränderte sich kaum. Der Zuwachs verheirateter Frauen unter den Erwerbstätigen stand in engem Zusammenhang mit dem strukturellen Wandel. Viele Ehefrauen waren zuvor als mithelfende Familienangehörige oder Selbständige in landwirtschaftlichen und gewerblichen Familienbetrieben beschäftigt gewesen.39 Durch den Strukturwandel entfielen ihre Arbeitsplätze und sie strebten in die Industrie und den Dienstleistungssektor, wo sie als Arbeiterinnen, Angestellte oder Beamtinnen beschäftigt wurden. Vor allem der tertiäre Sektor galt als treibende Kraft für die Ausbreitung der Frauenerwerbsarbeit. Hier entstanden viele soziale, kommunikative, gut entlohnte Beschäftigungen, die gesellschaftlich akzeptiert wurden, weil sie den weiblichen Arbeitsneigungen und -vermögen zu entsprechen schienen. Auch in jenen Industrie- und Dienstleistungszweigen, die den Haushaltsbedarf bedienten, fanden verheiratete Frauen eine Beschäftigung. Zwischen 1954 und 1980 stieg beispielsweise in Deutschland (West) die Zahl der Frauen in der Nahrungsmittelindustrie, im Lebensmittel- und Konfektionshandel um 80 Prozent, in der Gastronomie um 150 Prozent, in der Haushaltsgeräteindustrie um 250 Prozent. Auch der Ausbau der europäischen Wohlfahrtsstaaten eröffnete vielen Frauen „angemessene“ Beschäftigungschancen in der Verwaltung oder den sozialen Dienstleistungen. Für die Entwicklung seit den 1950er Jahren war somit prägend, dass immer mehr verheiratete Frauen einer Lohnarbeit nachgingen. Dieser Trend ergriff alle westeuropäischen Staaten, wenn auch mit unterschiedlicher Geschwindigkeit.40 Ein neuer gesellschaftlicher Konsens über Frauenarbeit Die steigende Berufstätigkeit verheirateter Frauen wurde auch durch eine Erneuerung des gesellschaftlichen Konsenses über die Rolle der Frau und durch neue Begründungs- und Bewertungsmuster der Frauenerwerbsarbeit möglich. Vor dem Hintergrund der Hausfrauenehe wurde die Frauenarbeit nur aus wirtschaftlicher Notwendigkeit akzeptiert und noch in den 1950ern Jahren bestätigten westdeutsche Ehefrauen in Umfragen diese Motivation. Es sei dahingestellt, ob 39 Vgl. Ostner, Ilona/Willms, Angelika: Strukturelle Veränderungen der Frauenarbeit in Haushalt und Beruf, in: Matthes, Joachim (Hg.): Krise der Arbeitsgesellschaft. Verhandlungen des 21. Deutschen Soziologentages in Bamberg 1982, Frankfurt/New York 1983, S. 206–227; Bührmann, Andrea/Diezinger, Angelika/Sigrid Metz-Göckel: Arbeit, Sozialisation, Sexualität. Zentrale Felder der Geschlechterforschung, Opladen 2000, S. 66. 40 Der Anteil der verheirateten Frauen unter den berufstätigen Frauen stieg zwischen 1950 und 1961 von 19 auf 35 Prozent in der BRD an. Vgl. Oertzen: Teilzeitarbeit, in: Frese/Paulus/Teppe (Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch, Paderborn 2003, S. 65–67; Vgl. für Frankreich Lagrave: Emanzipation unter Vormundschaft, in: Thébaud (Hg): Geschichte der Frauen, Frankfurt/Wien 1995, S. 500f.; Vgl. allgemein auch Lefaucheur: Mutterschaft, in: Thébaud (Hg): Geschichte der Frauen, Frankfurt/Wien 1995, S. 473– 476; Niehuss: Einführung, in: Frese/Paulus/Teppe (Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch, Paderborn 2003, S. 31–33; Kaelble: Sozialgeschichte Europas, Bonn 2007, S. 66f.
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nicht auch andere Motive eine Rolle spielten, gesellschaftlich akzeptiert und benennbar waren sie nicht. Die Erwerbsarbeit der Frau galt als Zeichen einer defizitären Wirtschaft, als Notlösung und vor allem als Zuverdienst. Mit Beginn der 1960er Jahre wandelte sich diese Wahrnehmung von der Last hin zur „Lust am Zuverdienen“41. Die Erwerbsarbeit wurde sowohl in der Begründung als auch in der Bewertung zunehmend von der wirtschaftlichen Not entkoppelt und akzeptiert. Als Gründe für die Berufstätigkeit wurden nun die Befriedigung von Konsumwünschen42, die Freude an der eigenen Autonomie und die Abwechslung vom Hausfrauenalltag genannt. Frauen wurde zunehmend ein weibliches Erwerbsbedürfnis und der Wunsch nach sozialen Kontakten zugestanden. Ende der 1960er Jahre wurden dann in Umfragen vor allem immaterielle Motive für die Berufstätigkeit benannt.43 Die Erweiterung der Begründungsmöglichkeiten und die steigende Akzeptanz lassen sich auf die Durchsetzung eines „neuen“ Geschlechterleitbildes zurückführen. In der Bundesrepublik wurde das Leitbild der „modernen Hausfrau“ dominant, an dessen Aufbau und Vermittlung vor allem Frauenzeitschriften einen entscheidenden Anteil hatten. Zentral blieb im Leitbild der „modernen Hausfrau“ die Mutterschaft als vorbestimmte Aufgabe der Frau. Aber das Muttersein wurde nicht mehr als einziger Lebensinhalt betont. Stattdessen wurde die Beziehungsarbeit als wichtige Aufgabe von Ehefrauen herausgehoben. Um den Erwartungen des Ehemannes gerecht zu werten, sollte eine Frau gepflegt, adrett, gebildet und kommunikativ sein. In der Berufstätigkeit wurde eine Möglichkeit gesehen, diese Eigenschaften und die eigene Persönlichkeit auszubilden. Eine maßvolle Erwerbstätigkeit kam somit der Paarbeziehung und dem Ehemann zu Gute. Es wurde angenommen, dass Ehefrauen aufgrund der eigenen Berufserfahrung mehr Interesse und Verständnis für die Arbeit des Ehegatten aufbringen könnten. Indem die Berufstätigkeit als angemessene Lebensform und „neues“ Geschlechterleitbild verbreitet wurde, wurde die „Nur-Hausfrauentätigkeit“ zunehmend als unbefriedigend beschrieben und belächelt. In der Bundesrepublik wurde um 1970 die Berufstätigkeit als Recht und teilweise gar als Pflicht von (Ehe-)Frauen diskutiert und die „Nur-Hausfrauentätigkeit“ wurde missbilligt. Auch in anderen Ländern verlor die Hausfrauenehe zunehmend an kultureller Prägkraft. In Frankreich wurde im Laufe der 1960er Jahre die Nur-Hausfrauentätigkeit nicht mehr als Ideal betrachtet und die anerkennende Bezeichnung „femme au foyer“ durch die pejorative Wendung „sans profession“ ersetzt. Das Nur-Hausfrauen-Dasein wurde zunehmend als Luxus bewertet, den sich die Ge41 Oertzen: Teilzeitarbeit, in: Frese/Paulus/Teppe (Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch, Paderborn 2003, S. 63. 42 Ebenda, S. 78–80. Oertzen beschreibt am Beispiel der Zeitvermittlung, wie Arbeit selbst zur Ware umgewertet und als solche angepriesen wurde. Der Wunsch nach Erwerbstätigkeit wurde quasi selbst zum Konsumbedürfnis umgedeutet und in das Bild der konsumierenden Hausfrau und Mutter integriert. 43 Vgl. Niehuss: Einführung, in: Frese/Paulus/Teppe (Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch, Paderborn 2003, S. 32; Frevert: Umbruch der Geschlechterverhältnisse?, in: Schildt/Siegfried/Lammers (Hg): Dynamische Zeiten, Hamburg 2000, S. 646.
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sellschaft nicht leisten könne. Die „neue Frau“ oder „neue Mutter“ wurde als gebildet und berufstätig präsentiert. In der öffentlichen Debatte wurde nun bekräftigt, dass die Hausarbeit allein Frauen keine Genugtuung verschaffen könne. Frauen sollten neben dem Haushalt und der Familie andere Interessen verfolgen, am besten in Teilzeitarbeit. SoziologInnen, die sich mit der Thematik befassten, hofften, dass die berufliche Einbindung von Frauen ihre wirtschaftliche Situation und damit die familiären Machtverhältnisse ändere. Stattdessen stieg die Belastung für die meisten Frauen zusätzlich, da sie neben der Haus- und Familienarbeit mehr Erwerbsarbeit leisteten. Die Erfüllung der Hausarbeit wurden dabei stillschweigend vorausgesetzt und nicht mehr als Arbeitsleistung gewürdigt: der domesticity-Diskurs hatte sich nicht durchsetzen können.44 In den Niederlanden fiel der Wandel noch dramatischer aus als in anderen europäischen Staaten, so dass von einer „kulturellen Revolution“ gesprochen wurde. Die Liberalisierung und Pluralisierung der Lebensstile zeigten auch Wirkung auf das Geschlechterverhältnis. Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre setzte sich dann in vielen westeuropäischen Staaten ein Leitbild durch, das Frauen in den zwei Sphären – der Hausarbeit und der Erwerbsarbeit – verortete. Die Erwerbsarbeit wurde zunehmend ungeachtet der familienwirtschaftlichen Lage als angemessenes Lebensmodell für jüngere und ältere Ehefrauen betrachtet. Die Umdeutung des Frauenleitbildes hatte je nach Land auch unterschiedliche Auswirkungen auf das Familienmodell. In Deutschland war der Wandel zu einem modernisierten Ernährermodell zu beobachten. Die Berufstätigkeit von Ehefrauen wurde toleriert, so lange sie einen Zuverdienst bedeutete. In Frankreich hingegen wurde zunehmend die kontinuierliche Vollzeiterwerbsarbeit von Müttern in einer DoppelVerdienerehe zum Ideal. Zugleich wurde aber im Bereich der Familie die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung beibehalten.45 Im deutschen Fall barg das neue Leitbild einen gewichtigen Widerspruch. Auf der einen Seite wurde die Berufstätigkeit als Gewinn dargestellt, aber auf der anderen Seite wurde auch ihre Gefahr für das Kindeswohl betont. Dieser Widerspruch lag daran, dass die Leitbilder zur Mutterschaft und Kindheit keine Aktualisierung erfuhren. Partnerschaft und Mutterschaft gerieten im Bild der „modernen Hausfrau“ allmählich in Konkurrenz und wurden in der Öffentlichkeit unter dem 44 Vgl. Duchen: Women’s Rights, London 1994, S. 90–95, 114–117. Einen wichtigen Impuls für die Umdeutung des Frauenideals setzte Betty Friedans „The Feminine Mystique“ (französische Übersetzung 1964), das in Frankreich auf hohe Resonanz stieß. 45 Vgl. Niehuss: Einführung, in: Frese/Paulus/Teppe (Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch, Paderborn 2003, S. 35f.; Oertzen: Teilzeitarbeit, in: Frese/Paulus/Teppe (Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch, Paderborn 2003, S. 65–67; Lindner, Ulrike: Rationalisierungsdiskurse und Aushandlungsprozesse. Der moderne Haushalt und die traditionelle Hausfrauenrolle in den 1960er Jahren, in: Frese/Paulus/Teppe (Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch, Paderborn 2003, S. 83–106, hier S. 104f.; Paulus, Julia: Familienrollen und Geschlechterverhältnisse im Wandel, in: Frese/Paulus/Teppe (Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch, Paderborn 2003, S. 107–119, hier S. 116–118; Frevert: Umbruch der Geschlechterverhältnisse?, in: Schildt/Siegfried/Lammers (Hg): Dynamische Zeiten, Hamburg 2000, S. 646; Pfau-Effinger: Kultur und Frauenerwerbstätigkeit, Opladen 2000, S. 159f.
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Stichwort der Doppelbelastung diskutiert. Viele Frauen klagten über die Schwierigkeit, Hausarbeit, Kinderbetreuung und Berufstätigkeit zu vereinbaren. Dabei erwies sich u.a. der Wunsch nach mehr Konsum und moderner Haushaltstechnik als Motiv für die Berufstätigkeit als Ursache neuer Belastungen. Die Technisierung der Hausarbeit führte nicht – wie werbewirksam vermittelt wurde – zur Entlastung von Hausfrauen. Stattdessen wurde damit ein neuer Grad der Professionalisierung erreicht und die Arbeiten konnten ohne Hilfe ausgeführt werden. Frauen wurden bei der Hausarbeit zunehmend von anderen Familienmitgliedern oder der Hausgemeinschaft isoliert und die Be- und Überlastung verstärkt: „Aufgrund der verbesserten Ausstattung allein kann man nicht schließen, dass sich der konkrete Alltag der Hausfrauen sehr viel einfacher oder deutlich weniger zeitintensiv gestaltete.“46
In den politischen Debatten, die dann auf eine Minderung der Doppelbelastung abzielten, wurde paradoxerweise die Technologisierung der Hausarbeit immer wieder angeraten. Familienpolitische Leitbilder Die Erwerbstätigkeit verheirateter Frauen nahm – wie oben gezeigt – durch den strukturellen Wandel deutlich zu. Ihre gesellschaftliche Akzeptanz wurde aber erst durch einen Wandel des Ehe- und Familienbildes möglich. Die Modernisierung des Geschlechterleitbildes und die Erwerbsquote sind dabei in wechselseitiger Abhängigkeit zu denken. Erst das neue Leitbild der „modernen Hausfrau“ ermutigte viele Frauen, eine Arbeit aufzunehmen. Zugleich rekrutierten viele Unternehmen wegen des Arbeitskräftemangels Ehefrauen, so dass die soziale Praxis verstärkt in Widerspruch zum Leitbild der Ernährerehe geriet. Die veränderte Situation setzte auch die Politik unter Zugzwang, die Teilhabechancen von Frauen zu verbessern. Das Arbeits-, Sozial- und Familienrecht war auf das BreadwinnerModell ausgerichtet, benachteiligte Frauen beim Zugang zur Arbeit und manifestierte ungleiche Beschäftigungsbedingungen. Inwiefern wurden die Aktualisierungen der kulturellen Leitbilder politisch reflektiert und die Erwerbsarbeit verheirateter Frauen ermöglicht? Wie wurde auf das Problem der Doppelbelastung reagiert? Im Folgenden sollen knapp die Leitlinien der Familienpolitik und Ver-
46 Lindner: Rationalisierungsdiskurse, in: Frese/Paulus/Teppe (Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch, Paderborn 2003, S. 97, allgemein dazu auch S. 89, 99f; vgl. auch Duchen: Women’s Rights, London 1994, S. 72f., 80. Lindner und Duchen weisen darauf hin, dass die Zeiteinsparungen marginal gewesen seien. Es sei zwar möglich gewesen, die Hausarbeit durch Kleingeräte etc. zu rationalisieren. Zugleich seien aber durch die Technik die Ansprüche an Sauberkeit, Ernährung und Hygiene gestiegen, so dass häufiger geputzt und gewaschen wurde oder frische Mahlzeiten gewünscht waren.
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änderungen der Arbeitszeitregelungen (Teilzeitarbeit) in der Bundesrepublik skizziert werden.47 Die Ära Adenauer wird meist mit der Wiederherstellung eines konservativen Familien- und Frauenbildes in Verbindung gebracht. Jedoch setzten in dieser Zeit auch Liberalisierungstendenzen ein, die auf die gesellschaftlichen und ökonomischen Veränderungen reagierten. In der Zeit zwischen 1958 und 1966 bestand in der politischen Landschaft weitestgehend Konsens hinsichtlich der familienpolitischen Leitlinien. Die Volksparteien CDU und SPD stimmten dem bürgerlichen Familienmodell zu und regten keine familienpolitischen Grundsatzdebatten an. Frauen wurden im Kontext der Familie betrachtet, so dass auch Frauenpolitik nur im Kontext der Familienpolitik gedacht wurde. Die frauenpolitischen Diskussionen beschränkten sich darauf, eine angemessene Reaktion auf den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel zu finden, ohne das traditionelle Rollenbild der Frau aufgeben zu müssen. Die Erwerbsarbeit wurde als Gefahr für die Institution der Ehe und als Vernachlässigung der Kinder bewertet. Erwerbstätige Mütter wurden daher nicht nur als „Familienstörfaktoren“, sondern als Risiko für die gesamte gesellschaftliche Ordnung betrachtet. Vor allem das 1953 gegründete Familienministerium unter Franz-Josef Würmeling (CDU, 1953–1962) „versuchte, sich mit dem katholisch-restaurativen Gedankengut des 19. Jahrhunderts gegen eine unaufhaltsam fortschreitende Gesellschafts- und Wirtschaftsentwicklung zu stemmen […].“48
Die familienpolitische Leitlinie orientierte sich dabei eng an den Argumenten der zeitgenössischen familienwissenschaftlichen Diskussion über die Berufstätigkeit von Müttern und die daraus erwachsende Doppelbelastung.49 Das Interesse der 47 Vgl. Pfau-Effinger: Kultur und Frauenerwerbstätigkeit, Opladen 2000, S. 111–115; Frese/Paulus: Geschwindigkeiten und Faktoren, in: Frese/Paulus/Teppe (Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch, Paderborn 2003, S. 3f. Am Beispiel der Arbeitszeitregelungen wird deutlich, dass es sich eher um Verschiebungen handelte. Die Ausdehnung der Teilzeitarbeitsstellen bedeutete z.B. nicht, dass das Modell des Vollzeitarbeitsplatzes als Normalarbeitsverhältnis abgelöst worden wäre. 48 Ruhl, Klaus-Jörg: Verordnete Unterordnung. Berufstätige Frauen zwischen Wirtschaftswachstum und konservativer Ideologie in der Nachkriegszeit. (1945–1963), München 1994, S. 153. 49 Bereits in der Zwischenkriegszeit wurde die Mütterarbeit zum Gegenstand familiensoziologischer und -politischer Debatten. Auch damals wurde die steigende Frauenerwerbsarbeit als Ursache für den gesellschaftlichen Wandel (Geburtenrückgang, Kindersterblichkeit, Familien- und Wertewandel) verantwortlich gemacht. In Belgien, Italien und Österreich wurde deshalb ein Arbeitsverbot für verheiratete Frauen diskutiert. In Frankreich, wo der Anteil verheirateter Frauen an der weiblichen Erwerbsbevölkerung von 35,2 Prozent (1921) auf 41,4 Prozent (1941) gestiegen war, wurde anstelle repressiver Maßnahmen das Bild der aktiven Mutter verbreitet. Vgl. Lagrave: Emanzipation unter Vormundschaft, in: Thébaud (Hg): Geschichte der Frauen, Frankfurt/Wien 1995, S. 488, 490; Vgl. auch Paulus: Familienrollen, in: Frese/Paulus/Teppe (Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch, Paderborn 2003, S. 113;Vgl. Studien der 1950er/1960er Jahre: Pfeil, Elisabeth: Die Berufstätigkeit von Müttern, Tübingen, 1961; Junker, Reinhold: Die Lage der Mütter in der Bundesrepublik Deutschland, Teil 1, Köln 1965; Institut für angewandte Sozialwissenschaften: Frau und Öf-
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Studien lag selten darin, die strukturellen Ursachen der Doppelbelastung zu erforschen. Vielmehr sollten die gefährlichen Tendenzen der Erwerbsarbeit aufgezeigt und die Ehe und Familie als gesellschaftliche Grundkonstante behauptet werden. Die Wahrnehmung der Frauen- und Mütterarbeit als anomale, deviante Erscheinung spiegelte sich auch darin wider, dass keine vergleichbaren Untersuchungen über die Beschäftigung von Männern angefertigt wurden. In den Studien wurde zudem ein sehr enger Arbeitsbegriff angelegt, da die Arbeitsbedingungen in der Heimarbeit und die Beschäftigung von Frauen in Familienbetrieben nicht erfasst wurden. Die Erwerbsarbeit im Sinne der Lohnarbeit galt als der „normale“ Wirkungskreis der Männer. Das Gegenstück dazu bildete die „natürliche“ Verschränkung von Frau und Familie. Die Statistiken und Studien spiegelten damit kaum die Arbeits- und Lebensrealität wider, sondern das Leitbild der Ernährer-Hausfrauenehe. Sie reproduzierten die Geschlechterleitbilder und „verdoppelten“ die Geschlechterdifferenz.50 Die empirischen Daten wurden in diesem Sinne als Beleg für die Gefährdung der hergebrachten Geschlechterordnung interpretiert. Die Berufstätigkeit und die daraus gewonnene Unabhängigkeit galten als Gefahr für das weibliche Wesen, da die Frau nicht mehr ihre Fähigkeit pflegen konnte, eine intim-gemütliche häusliche Atmosphäre für ihren Mann zu schaffen. SoziologInnen und PädagogInnen sahen einen Zusammenhang zwischen der Erwerbsarbeit von Müttern und der Verwahrlosung und Delinquenz von Kindern und trugen mit Schlagwörtern wie der „Entinnerlichung der Familie“ (Helmut Schelsky) oder dem „Erziehungsnotstand der Schlüsselkinder“ (Otto Speck) zum Bild der gefährdeten Kernfamilie bei. Unter Bezug auf wissenschaftliche Thesen über Deprivation (Heimkinder, Kriegskinder) wurde die Abwesenheit der berufstätigen Mutter als Verletzung der biologischen Bindung zwischen Mutter und Kind bzw. als Missachtung des „Recht[es] der Kinder auf die Mutter“51 beschrieben. Folglich musste die berufstätige Mutter für seelische Schäden des Kindes verantwortlich zeichnen. Neben den kritischen Studien, gab es auch durchaus Stimmen, die sich für die Erwerbsarbeit von Ehefrauen aussprachen. Egal, welche Ziele die Arbeiten verfolgten – die Verdammung oder die Befürwortung der Frauenarbeit – Referenzpunkt blieben stets die Auswirkungen auf die Familie.52 fentlichkeit. Eine im November 1963 durchgeführte Befragung des Instituts für angewandte Sozialwissenschaften, Bad Godesberg 1963. 50 Vgl. Hornstein/Mutz: Die europäische Einigung, Baden-Baden 1993, S. 182. Duchen: Women’s Rights, London 1994, S. 128–131. 51 Zitiert nach Münch, Ursula: Familien-, Jugend- und Altenpolitik, in: Ruck, Michael/Boldorf, Marcel (Hg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Bd. 4, 1957–1966, Bundesrepublik Deutschland. Sozialpolitik im Zeichen des erreichten Wohlstandes, Baden-Baden 2007, S. 549–609, hier S. 558. 52 Ende der 1960er Jahre kamen dann auch in der BRD Stimmen auf, die die Annahme widerlegten, dass die biologische Mutter unersetzbar in der ganztägigen Betreuung der Kinder sei. Helgard Ulshoefer wies 1969 z.B. nach, dass sich die These in der deutschen Debatte u.a. so lange hielt, weil die deutschen Wissenschaftler ausländische Befunde ignorierten und Vorurteile reproduzierten. Vgl. dazu Paulus: Familienrollen, in: Frese/Paulus/Teppe (Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch, Paderborn 2003, S. 108–111; Boldorf: Gesamt-
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Das Anliegen, Frauen auf die Familie zu beschränken, ging auch mit dem Versuch einher, die Erwerbsarbeit zu degradieren. Die Berufstätigkeit wurde als „Eingliederung in die individualitätsarmen Berufe der bürokratischen Verwaltung und technischen Produktion“53 beschrieben. Entgegen den Versprechen der bürgerlichen Frauenbewegung könne die Berufstätigkeit Frauen keine Individualisierung oder Persönlichkeitsbildung bieten. Stattdessen wurde den Frauen die Familie als Raum der Individualisierung angepriesen. Die politischen Reaktionen auf die steigende Frauenarbeit ähnelten sich in den 1950er Jahren länderübergreifend. Vor allem durch den Aus- bzw. Aufbau von Familienbeihilfen sollte der Familienentwurf der Alleinernährerehe unterstützt werden. In Frankreich wurden 1955 die allocation de salaire unique bzw. der salaire de la mère au foyer eingeführt. Diese Beihilfen sollten zunächst einen finanziellen Ausgleich für mithelfende Familienangehörige in der Landwirtschaft und Familienbetrieben leisten, wurden aber zunehmend auch zur Propagierung der Hausfrauenehe bzw. als Anerkennung für nicht erwerbstätige Ehefrauen konzipiert. Aus der Sicht der christlich-konservativen Partei (MRP) sollten Frauen die Möglichkeit erhalten, ihre Mutterschaft frei von finanziellen Zwängen zu leben ohne einer wirtschaftlich erzwungenen Erwerbsarbeit nachzugehen. Die Familienpolitik knüpfte an den pronatalistischen Diskurs an, der bereits vor 1945 geführt worden war: Die finanzielle Unterstützung der Hausfrauenehe wurde zunächst an das Ziel der Geburtensteigerung gekoppelt. Auch die linken Parteien trugen den salaire de la mère au foyer zunächst mit, weil damit durchaus auch eine Anerkennung der Reproduktionsarbeit verbunden werden konnte. Jedoch forderte die Linke von der Regierung, die Diskrepanz zwischen dem Familienideal und der Lebenswirklichkeit anzuerkennen und Maßnahmen gegen die Doppelbelastung zu ergreifen. Egal aus welcher politischen Richtung die Erwerbsarbeit von Frauen betrachtet wurde: auch im Frankreich der 1950er Jahre war die Mutterschaft der familienpolitische Referenzpunkt.54 In Deutschland spiegelten sich in den politischen Reaktionen auf die Doppelbelastung jene wissenschaftlichen Thesen wider, die an der Ernährer-Hausfrauenehe festhielten. Die CDU-Regierung bekräftigte zunächst die Unvereinbarbetrachtung, in: Ruck/Boldorf (Hg.): Geschichte der Sozialpolitik, Baden-Baden 2007, S. 850–852; Münch: Familien-, Jugend- und Altenpolitik, in: Ruck/Boldorf (Hg.): Geschichte der Sozialpolitik, Baden-Baden 2007, S. 554; Die besondere Stellung der Familie lässt sich, wie bereits ausgeführt, im deutschen Fall auch auf die Kriegserfahrung und das Versagen bzw. Misstrauen in andere soziale Organisationen und Solidaritätsgemeinschaften zurückführen. Vgl. dazu Schelsky, Helmut: Die Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart und ihr Einfluß auf die Grundanschauungen der Sozialpolitik, in: Sozialer Fortschritt, Bd. 1, 1952, Nr. 12, S. 284–288. Für Frankreich Duchen: Women’s Rights, London 1994, S. 107f. Vgl. auch div. Beiträge in: Klein, Michael (Hg.): Themen und Konzepte in der Familiensoziologie der Nachkriegszeit, Würzburg 2006. 53 Schelsky, Helmut: Die Gleichberechtigung der Frau und die Gesellschaftsordnung, in: Sozialer Fortschritt, Bd. 1, 1952, Nr. 6, S. 129–132, hier S. 132. 54 Vgl. Duchen: Women’s Rights, London 1994, S. 104–110. Allein die CGT sah Mutterschaft als soziale Funktion und forderte Maßnahmen zur Vereinbarkeit (Krippen, Kindertagesstätten, Schulspeißung, Freizeitzentren, etc.)
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keit von Beruf und Familie.55 Die familienpolitischen Maßnahmen zielten daher vorerst darauf ab, die Mütterarbeit einzudämmen. Wie in anderen europäischen Staaten wurde die Einführung von Familienbeihilfen bzw. Kindergeld diskutiert. Ähnlich wie in Frankreich verband sich damit auch in der bundesdeutschen Debatte die Absicht, die materielle Not von Familien und die Berufstätigkeit von Müttern zu mindern und die Geburtenzahlen zu steigern. Die Familienbeihilfen sollten das Breadwinner-Modell stabilisieren, indem Familienväter darin unterstützt wurden, mit ihrem Lohn die Familie zu ernähren. Die Familienbeihilfen waren (in der BRD) folglich nicht als Familienlohn konzipiert, wie er von der bürgerlichen Frauenbewegung vor dem Ersten Weltkrieg eingefordert worden war oder in anderen Ländern verstanden wurde. Die Frauenbewegung hatte mit ihrem Konzept auf eine gesellschaftliche Anerkennung der Reproduktionsarbeit und eine Dekommodifizierung abgezielt. Die ab 1955 in der Bundesrepublik ausgezahlten Kinderbeihilfen verfehlten allerdings die gewünschten Effekte, da sie zu gering waren, um ein zweites Einkommen zu ersetzen.56 Da die CDU zunächst keine konkrete Frauenbeschäftigungspolitik formulierte, zog die steigende Erwerbstätigkeit verheirateter Frauen auch keine strukturellen Anpassungen nach sich. So standen viele Frauen vor der Herausforderung, die Kinderbetreuung und die Besorgung des Haushalts mit ihrer Berufstätigkeit zu vereinbaren. Der steigende Bedarf an Arbeitskräften zwang die Bundesregierung jedoch zum Handeln. Im Jahr 1962 forderte die SPD, die Regierung möge einen Bericht über die Lage der Frauen erstellen. Fünf Jahre später lag dann der Bericht der Bundesregierung über die Situation der Frauen in Beruf, Familie und Gesellschaft – die sogenannte Frauenenquete – vor. Die Studie beruhte weitestgehend auf der Volks- und Berufszählung aus dem Jahr 1961 und war in fünf Gebiete gegliedert: Die Situation der Frau in Familie und Haushalt, die Situation der Frau im Beruf, die Situation der Frauen in der Gesellschaft, die Situation der Frau in der Landwirtschaft und allgemeine Bemerkungen über die Gesundheit der Frau. Der Bericht thematisierte die steigende Berufstätigkeit, die sinkende Kinderzahl und das gewandelte Ehe- und Familienverständnis. Der Bericht beschränkte sich aber nicht nur auf eine Situationbeschreibung, sondern versuchte, ein spezifisches Frauenleitbild zu vermitteln, das Frauen vorrangig auf ihre Mutterrolle festlegte. Die Berufstätigkeit verheirateter Mütter wurde nicht ausgeschlossen, solange die 55 Vgl. Niehuss: Einführung, in: Frese/Paulus/Teppe (Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch, Paderborn 2003, S. 31–33. Es gab aber auch innerhalb der CDU moderne Töne, z.B. Elisabeth Schwarzhaupt. Sie forderte bereits 1958 auf den 8. Bundesparteitag der CDU, die Partnerschaft zwischen Mann und Frau wiederherzustellen, die bereits in der vorindustriellen Zeit, vor der Trennung der Erwerbs- und Hausarbeit, bestanden habe. Vgl. zu den Überlegungen der SPD, Münch: Familien-, Jugend- und Altenpolitik, in: Ruck/Boldorf (Hg.): Geschichte der Sozialpolitik, Baden-Baden 2007, S. 558–561. 56 Vgl. Ruhl: Verordnete Unterordnung, München 1994, S. 156–182, 198. Dekommodifizierung wird hier in Anlehnung an Esping-Andersen, Gosta: The three worlds of welfare capitalism, Cambridge 1990, S. 21f. verwendet und bezieht sich auf das Ausmaß, indem Wohlfahrtsstaaten Individuen eine (Grund-)Sicherung unabhängig von der Erwerbsarbeit, bzw. dem Markt, ermöglichen.
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Frauen ihre häuslichen Pflichten erfüllen konnten. Die AutorInnen des Berichts orientierten sich dabei am Dreiphasenmodell nach Alva Myrdal und Viola Klein.57 Dieses konstruierte aus Statistiken einen idealen Lebenslauf für Frauen. Nach einer ersten Phase der Ausbildung und Berufstätigkeit gingen die meisten Frauen im Alter von ca. 25 Jahren eine Ehe ein und gebaren ca. 2 Jahre später ihr erstes Kind. Danach sah das Modell eine Vollzeit-Betreuung des Kindes vor. Die Phase der aktiven Mutterschaft umfasste nach Myrdal/Klein ca. 15 Jahre, da sie von einer Drei-Kind-Familie mit Geburtenabständen von ca. 2 Jahren ausgingen. Folglich sollten Frauen im Alter von ca. 40 Jahren ihre primären Mutterpflichten erfüllt haben, um sich dann in einer dritten Phase erneut der Berufstätigkeit widmen zu können.58 Das Drei-Phasen-Modell erlaubte das Problem der Doppelbelastung dadurch zu umgehen, dass die Berufstätigkeit und die aktive Mutterschaft zeitlich getrennt wurden. Zeitgenössische Kritikerinnen beanstandeten deshalb, dass die Frauenenquete selbst von einem traditionell-bewahrenden Frauenbild geprägt war, das Frauen in erster Linie als Mütter dachte. Dies spiegelt sich auch in den Empfehlungen, die der Bericht abgab. In Hinblick auf die Doppelbelastung setzten die Lösungsvorschläge bei der Annahme an, dass „die Frau nach ihrer körperlichen und geistig-seelischen Beschaffenheit auf die Mutterschaft hin angelegt ist.“59 Der Bericht forderte deshalb, das Hausfrauen- und Mutterdasein im sozialen Ansehen zu heben.60 Des Weiteren sollte verhindert werden, dass Frauen aus wirtschaftlichen Erwägungen eine Arbeit aufnehmen (mussten). Zu diesem Zweck sollten materielle Anreize ausgebaut werden, z.B. der Familienlastenausgleich oder der Mutterschaftsurlaub. Es wurde auch angedacht, Kindertagesstätten auszubauen, aber nur als Ergänzung der familiären Erziehung, nicht als deren Ersatz. Die Mitwirkung des Vaters wurde im Bericht aufgrund der „starken beruflichen Inanspruchnahme“61 dezidiert ausgeschlossen. Auch in der Teilzeitarbeit wurde eine Möglichkeit gesehen, die Doppelbelastung und den Wiedereinstieg in den Beruf zu bewäl-
57 Vgl. Myrdal, Alva/Klein, Viola: Die Doppelrolle der Frau in Familie und Beruf. Köln/Berlin, 1956. 58 Dieses Modell muss als Idealvorstellung betrachtet werden. Schon in der Zeit, als die Frauenenquete verfasst wurde, waren die empirischen Grundlagen durch den demographischen und sozialen Wandel überholt. Das Heiratsalter der Frauen und die Kinderzahl sanken deutlich ab. Dadurch verkürzte sich die Familienphase. Zudem gaben die wenigsten Frauen mit der Heirat die Berufstätigkeit auf. Durch den Ausbau von Teilzeitarbeitsplätzen konnten sie auch in der angedachten Familienphase weiterhin berufstätig bleiben. Vgl. Lindner: Rationalisierungsdiskurse, in: Frese/Paulus/Teppe (Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch, Paderborn 2003, S. 102f.; Leicht-Scholten: Das Recht auf Gleichberechtigung, Frankfurt a.M. 2000, S. 50f. 59 Zitiert nach Leicht-Scholten: Das Recht auf Gleichberechtigung, Frankfurt a.M. 2000, S. 52. 60 Vgl. Kipphoff, Petra: Die restlos ausgewertete Frau, in: DIE ZEIT, 30.09.1966, Nr. 40, http://www.zeit.de/1966/40/Die-restlos-ausgewertete-Frau?page=6, letzter Zugriff, 14.11.2012. 61 Zitiert nach Leicht-Scholten: Das Recht auf Gleichberechtigung, Frankfurt a.M. 2000, S. 53.
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tigen. Vor allem für die Gruppe der Wiedereinsteigerinnen wurden ferner berufsfördernde Maßnahmen durch die Bundesanstalt für Arbeit angedacht. Die erste Frauenenquete thematisierte ebenso die Benachteiligung von Mädchen hinsichtlich der Bildung. Es wurde herausgestellt, dass Mädchen selten Bildungschancen nutzten und ihnen somit politische und ökonomische Teilhabe verwehrt blieb. Obwohl damit sichbar wurde, dass Frauen und Mädchen nicht von dem politischen Programm der Chancengleichheit profitierten, wurden zunächst keine politischen Konsequenzen gezogen. Der Übergang zu einer Frauenbildungspolitik verlief dann eher unbemerkt, z.B. forciert von der Soziologin Helge Pross. Einen Impuls setzte dabei wohl auch der Systemvergleich mit der DDR, in der eine gezielte Frauenberufsförderung betrieben wurde.62 Zusammenfassend lässt sich über die erste Frauenenquete sagen: „Insgesamt verfolgt der Bericht also eine auf die traditionelle Rollenverteilung der Geschlechter aufbauende politische Zielsetzung, mit denen er die bestehende Wertordnung, insbesonders [sic!] im Bereich der Familie zu erhalten und gegenläufige gesellschaftliche Tendenzen möglichst innerhalb des bestehenden Gesellschaftskonzeptes aufzufangen sucht.“63
Mit der sozial-liberalen Koalition kam dann zwar Bewegung in die Frauen- und Familienpolitik, doch die Frauenberichte stützten weiterhin das Leitbild der Hausfrauenehe. Die geschlechtliche Arbeitsteilung und das Geschlechterverhältnis wurden auch in den folgenden Frauenberichten nicht in Frage gestellt. Noch im Jahr 1979 wurde im dritten Familienbericht die Aufwertung der Hausfrauentätigkeit eingefordert.64 Die Veröffentlichung des Frauenberichts ist nicht nur auf ein gesteigertes Interesse an der Situation von Frauen zurückzuführen, das sich im Übrigen nicht nur in Deutschland beobachten ließ. In den USA wurde bspw. 1963 ein Bericht über „Die amerikanische Frau“ vorgelegt. Auch internationale und regionale Organisationen wie die ILO und die EWG waren um die ‚Erforschung der Frau’ bemüht. In Kapitel IV wird zu zeigen sein, ob dabei ähnliche Motive zum Tragen kamen wie im bundesrepublikanischen Fall. Die Erstellung solcher Frauenberichte lässt sich auch auf eine allgemeine Entwicklung hinsichtlich des Politikstils zurückzuführen. Mitte der 1960er Jahre setzte in der BRD ein großer „Planungsboom“ ein, der bis ca. 1973 vorhielt. Planung kann dabei „als ein öffentlicher, verfahrensgestützter Vorgriff auf die Zukunft, der die räumliche, infrastrukturelle und daseinssichernde Ausgestaltung
62 Vgl. Kipphoff: Die restlos ausgewertete Frau, in: DIE ZEIT, 30.09.1966, Nr. 40; Anweiler, Oskar: Bildungspolitik, in: Ruck/Boldorf (Hg.): Geschichte der Sozialpolitik, Baden-Baden, S. 611–642, hier S. 636f; Frevert: Umbruch der Geschlechterverhältnisse?, in: Schildt/Siegfried/Lammers (Hg): Dynamische Zeiten, Hamburg 2000, S. 647–651; Pross, Helge: Über die Bildungschancen von Mädchen in der Bundesrepublik, Frankfurt a.M. 1969. 63 Leicht-Scholten: Das Recht auf Gleichberechtigung, Frankfurt a.M. 2000, S. 54. 64 Vgl. ebenda, S. 83. Zur Familienpolitik der sozial-liberalen Koalition: Münch, Ursula: Familien-, Jugend- und Altenpolitik, in: Hockerts (Hg.): Geschichte der Sozialpolitik, BadenBaden 2006, S. 633–707.
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von Gesellschaften betreibt“65 verstanden werden. Politische Entscheidungen verlangten zunehmend nach Fach- und Zukunftswissen, das aus wissenschaftlichen Erkenntnissen gewonnen wurde. Zwar existierte eine wissenschaftliche Politikberatung bereits seit den Anfangsjahren der BRD, aber erst jetzt setzte eine breite Verwissenschaftlichung der Politikfelder unter der Ägide von PolitologInnen und SoziologInnen ein. Der Planungsboom der 1960er Jahre lässt sich gewissermaßen auf die „Verwissenschaftlichung von Politik“66 zurückführen. Vor allem die Sozialpolitik wurde ab den 1950er Jahren von Wissenschaftsgläubigkeit und Planungsglauben erfasst. Die Sozialwissenschaften versprachen geeignete Methoden, um den gesellschaftlichen Ist-Zustand zu erheben sowie Prognosen über zukünftige Entwicklungen abzugeben. WissenschaftlerInnen, bzw. wissenschaftliche Erkenntnisse wurden in die Politikberatung und Verwaltungsverfahren einbezogen. So wurde beispielsweise die 1964 eingesetzte Sozialenquete-Kommission gebeten, die wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Sozialrechts darzustellen. Danach häuften sich die wissenschaftlichen Untersuchungen im Auftrag der Politik. Es wurden Familienberichte, Bildungsberichte und Frauenberichte publiziert.67 Auch in der Wirtschafspolitik wurde in den 1960er Jahren mit einiger Verspätung gegenüber anderen Staaten wie Frankreich, Großbritannien oder Italien die Planung wieder stärker thematisiert und angewandt. Dazu trug die Öffnung des Ordoliberalismus durch Ludwig Erhards Projekt einer „formierten Gesellschaft“ und der „zweiten Phase der Sozialen Marktwirtschaft“ bei. Aber auch der Einfluss des Europäischen Integrationsprojekts sollte nicht unterschätzt werden. Im Rahmen der EGKS und der EWG wurde das französische Konzept der planification verstärkt rezipiert. In Frankreich galt die Planung nach 1945 als politisches Ziel und wurde über den Schuman-Plan in der supranationalen Verwaltung institutio65 Laak, Dirk van: Planung. Geschichte und Gegenwart des Vorgriffs auf die Zukunft, in: Geschichte und Gesellschaft, Bd. 34, 2008, Heft 3, S. 305–326, hier S. 306. 66 Zitiert nach Gosewinkel, Dieter: Zwischen Diktatur und Demokratie. Wirtschaftliches Planungsdenken in Deutschland und Frankreich: Vom Ersten Weltkrieg bis zur Mitte der 1970er Jahre, in: Geschichte und Gesellschaft, Bd. 34, 2008, Heft 3, S. 327–359, hier S. 351; vgl. auch Raphael, Lutz: Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft, Bd. 22, 1996, S. 165–193. 67 Eine effiziente Planung als „rationale Gestaltung des Zukünftigen“ galt bereits seit dem frühen 20. Jahrhundert als Antwort auf gegenwärtige und kommende Krisen. Die BRD sei zu Beginn der 1960er Jahre wegen der Systemkonkurrenz zu einer offenen Planung übergangen, um den Boom abzusichern. In anderen westeuropäischen Gesellschaften gab es bereits in den 1950ern Tendenzen der planification (Bsp. Frankreich). Die „klassische Phase“ der Planung lag zwischen Ende des Ersten Weltkriegs und Beginn der 1970er Jahre. Vgl. Laak: Planung, in: Geschichte und Gesellschaft, Bd. 34, 2008, Heft 3, S. 307–311, 317. Lutz Raphael beschreibt die Verschränkung von Sozialpolitik und Sozialwissenschaft als Prozess, der seit dem 19. Jahrhundert im Kontext der „Sozialen Frage“ und der Entwicklung des Sozialstaates zu beobachten war. Vgl. Raphael: Die Verwissenschaftlichung des Sozialen, in: Geschichte und Gesellschaft, Bd. 22, 1996, S. 171 ff. Vgl. auch Boldorf: Gesamtbetrachtung, in: Ruck/Boldorf (Hg.): Geschichte der Sozialpolitik, Baden-Baden 2007, S. 855, 858–860; Münch: Familien-, Jugend- und Altenpolitik, in: Ruck/Boldorf (Hg.): Geschichte der Sozialpolitik, Baden-Baden 2007, S. 586.
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nalisiert. Befürworter der Planung wie Jean Monnet, Robert Marjolin, Walter Hallstein oder Walter von der Groeben nahmen Einfluss auf die Ausgestaltung der europäischen Institutionen und forcierten eine europäische Wirtschaftspolitik, die auf die Planung ausgerichtet war. Verwissenschaflichung und Planung wurden dann in der EWG zu zentralen Instrumenten der Gemeinschaftspolitik und bewirkten damit den Durchbruch der Planungsidee in der BRD: „Die Europapolitik, […] wurde zum Schrittmacher einer Politik der Modernisierung durch Planung, […].“68 Geschlechtsspezifische Arbeitszeitregelungen: die Ausweitung der Teilzeitarbeit In Deutschland wurde auf die Berufstätigkeit von Ehefrauen mit einem Ausbau der Teilzeitarbeit reagiert. Da das Arbeitsrecht auf das männliche Normalarbeitsverhältnis ausgerichtet war, musste die (Teilzeit-) Frauenarbeit erst sozial- und arbeitsrechtlich integriert werden. Noch in den 1950er Jahren war es in der Bundesrepublik ein beschäftigungspolitisches Gebot, den Arbeitsmarkt bzw. den männlichen Arbeitnehmer vor der weiblichen Konkurrenz zu schützen. Anfang der 1960er Jahre wurde das Paradigma „Schutz des männlichen Normalarbeitnehmers vor weiblicher Konkurrenz“ durch die Maxime „Schutz der Ehefrauen und Mütter vor den Härten des Arbeitsmarktes“ ersetzt. Gerade weil Frauen die Familienarbeit leisteten, müsse der Staat ihnen einen besonderen Schutz gegen die Normalarbeitsbedingungen einräumen und somit die gesellschaftlich-reproduktive Arbeit anerkennen. Dieser Wandel wurde 1962 mit einer Entscheidung des Bundessozialgerichts eingeläutet. Das Gericht sprach „häuslich gebundenen Frauen“ mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von mehr als 25 Stunden ein Recht auf Arbeitslosenunterstützung zu. Damit wurden verheiratete Frauen anders als zuvor partiell als Arbeitnehmerinnen mit individuellem Versicherungsanspruch wahrgenommen.69 Das Urteil des Bundessozialgerichts öffnete den Raum für weitere Debatten über die Sozialversicherungspflicht von Teilzeitarbeitsverhältnissen. Ab 1965 wurden Tätigkeiten von mehr als 20 Wochenarbeitsstunden bei einer Dauer von mindestens drei Monaten renten- und krankenversicherungspflichtig. Auch im Beamtinnenrecht setzte sich ab Mitte der 1960er ein neues Ethos gegenüber der Frauenarbeit durch. Der Staat verpflichtete sich, Beamtinnen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu ermöglichen. Diese Auffassung stand in radikalem Widerspruch zu dem bis ca. 1953 als Kann-Bestimmung praktizierten Kündigungs-
68 Gosewinkel: Zwischen Diktatur und Demokratie, in: Geschichte und Gesellschaft, Bd. 34, 2008, Heft 3, S. 353, und allgemein S. 328, 344–347, 350–353 zur Übertragung der planification in die EKGS und EWG; Vgl. auch Hockerts, Hans-Günter: Einführung, in: Frese/Paulus/Teppe (Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch, Paderborn 2003, S. 249–257, hier S. 249–251. 69 Vgl. Oertzen: Teilzeitarbeit, in: Frese/Paulus/Teppe (Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch, Paderborn 2003, S. 68.
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recht gegen verheiratete Beamtinnen. Die bundesweite Institutionalisierung der Teilzeitarbeit für Beamtinnen wurde aber erst 1969 realisiert.70 Vor allem in den Angestelltenverhältnissen stieg die Zahl der Teilzeitarbeitsplätze nach den Reformen des Arbeitslosen- und Sozialversicherungsschutzes schnell an. Diese Arbeitsverhältnisse bestanden meist in Branchen des tertiären Sektors, die sich durch eine rasante Mechanisierung auszeichneten, so dass Unterbrechungen im Arbeitsprozess möglich wurden (z.B. Einführung des Diktiergeräts und der elektrischen Schreibmaschine in der Büroarbeit). Frauen wurde in diesen Berufen eine lebenslange Berufsperspektive in Aussicht gestellt, die den Wiedereinstieg nach der Familienphase planbar machte und eine Ausbildung rentabel erscheinen ließ. Gegenüber den typischen Frauenbranchen in der Industrie erschienen die Büroberufe auch als krisenfest und konjunkturunabhängig. Auch der Status dieser Berufe ließ sich gut mit der akzeptierten Frauenrolle in Einklang bringen. Frauen konnten sich in den Büro- oder auch Einzelhandelsberufen als moderne, modebewusste Ehefrau und Mutter präsentieren. Zugleich konnten sich Frauen als Angestellte in der Mittelschicht verorten und das Bild vermitteln, dass die Erwerbsarbeit nicht zwingend ökonomisch notwendig war, weil ein Ehemann als Hauptverdiener zur Seite stand. Die Ausweitung des tertiären Sektors und der Teilzeitarbeitsverhältnisse begünstigten somit die Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt, ohne den sozialen oder geschlechterkulturellen Status quo zu gefährden.71 Am Beispiel der Teilzeitarbeit werden die Möglichkeiten und Grenzen der Modernisierung des Geschlechterverhältnisses sichtbar. Frauen wurde über die Teilzeitberufstätigkeit ein größerer Handlungsspielraum und gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht. Die Geschlechterordnung als solche wurde dadurch jedoch nicht in Frage gestellt. Frauen wurden weiterhin im Kontext der Familie wahrgenommen und die Berufstätigkeit wurde als ergänzendes Tätigkeitsfeld akzeptiert. Ein Achtstundenarbeitstag wurde folglich weiterhin mit der Vernachlässigung der Familie assoziiert. Teilzeitarbeitsmodelle waren sozusagen die praktische Umsetzung des gesellschaftlichen Konsenses über die berufstätige (Ehe)frau als Zuverdienerin unter der Wahrung der geschlechtlichen Arbeitsteilung. Frauen konnten in diesem Arbeitszeitmodell trotz ihrer Berufstätigkeit Haushalt und Kinder (allein) versorgen. Die rechtliche Verankerung der Teilzeitarbeit markierte neben der Umwertung des Ehefrauenleitbilds den schleichenden Abschied vom Leitbild der „Nur-Hausfrau“. Auf das Leitbild des Mannes bezogen, lässt sich feststellen, dass das Modell des Alleinernährers in ein Hauptverdiener-Modell überführt wurde. Von den Männern wurde auch nicht erwartet, sich in dem Maße stärker in der Familie einzubringen, in dem ihre Ehefrauen auf dem Arbeitsmarkt aktiv waren
70 Vgl. ebenda, S. 70. Beamtinnen konnten nach der Eheschließung gekündigt werden, wenn ihre wirtschaftliche Lage als gesichert galt. 71 Vgl. ebenda, S. 74–76.
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oder wurden. Erst in den 1970ern wurde auf strukturelle Ungleichheiten hingewiesen, die dieses Modell barg.72 Die Teilzeitarbeit wurde durch die beschriebenen Reformen als „geschlechterspezifisches reguläres Normarbeitsverhältnis“73 etabliert. Die Institutionalisierung der Teilzeitarbeit ergänzte die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung um eine geschlechtsspezifische Arbeitszeitteilung. Das heißt, die dualistische Auffassung, dass sich der Arbeitsmarkt in einen primären männlichen, leistungsfähigen, qualifizierten und einen sekundären weiblichen, unterqualifizierten und unterbezahlten Arbeitsmarkt aufteile, wurde durch den Ausbau der Teilzeitarbeit aktualisiert. An der Institutionalisierung der Teilzeitarbeit zeigt sich, dass die Ära Adenauer nicht uneingeschränkt als Restaurationsphase traditioneller Geschlechterverhältnisse bewertet werden kann. Sicher muss die Verankerung der Teilzeitarbeit als frauenspezifisches Normalarbeitsmodell als Versuch betrachtet werden, die geschlechterspezifische Arbeitsteilung aufrecht zu erhalten. Aber darin lag auch ein Zugeständnis an ein neues Frauenleitbild.74 Auch das Familienrecht und die Rechtsprechung reagierten auf das neue Frauenleitbild, so dass die Adenauer-Ära als Restaurationsphase traditioneller Leitbilder differenzierter betrachtet werden muss. Das Gleichberechtigungsgesetz von 1957 trug zur Reformierung des Familienrechts und zur Abschaffung männlicher Privilegien bei. Es begrenzte das Alleinentscheidungsrecht des Ehemannes und die väterlichen Vorrechte in der Kindererziehung und erweiterte das Arbeitsrecht von Ehefrauen. Allerdings galt die Hausfrauenehe bis zur Reform des Ehe- und Familienrechts 1976/77 weiterhin als familienrechtliches Leitbild. Auch das Arbeitsrecht wurde dahingehend reformiert, dass die Frauenlohngruppen in den Tarifverträgen nach 1955 verboten wurden. Trotzdem erhielten Frauen weiterhin einen geringeren Lohn und hatten nicht die gleichen Chancen wie Männer, ihren Lebensunterhalt selbständig zu sichern.75 Im Ländervergleich zeigt sich, dass ein ähnlich gelagertes Problem – die Müttererwerbsarbeit – je nach kulturellem und ökonomischen Kontext unterschiedlich bewertet und verschiedene politische Reaktionen nach sich ziehen konnte. Anders als in Deutschland manifestierte sich in Frankreich das neue Frauenleitbild nicht in geschlechtsspezifischen Arbeitszeitarrangements. Die steigende Berufstätigkeit von Ehefrauen ging auch nicht mit einer Zunahme der Teilzeitarbeit einher. Stattdessen setzte sich das Leitbild der vollzeiterwerbstätigen Mutter und der außerhäuslichen Kinderbetreuung durch. Teilzeitarbeit wurde zwar als Mittel diskutiert, 72 Vgl. Niehuss: Einführung, in: Frese/Paulus/Teppe (Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch, Paderborn 2003, S. 31–33; Oertzen: Teilzeitarbeit, in: Frese/Paulus/Teppe (Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch, Paderborn 2003, S. 64f., 70, 80f. 73 Oertzen: Teilzeitarbeit, in: Frese/Paulus/Teppe (Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch, Paderborn 2003, S. 69. 74 Vgl. Lagrave: Emanzipation unter Vormundschaft, in: Thébaud (Hg): Geschichte der Frauen, Frankfurt/Wien 1995, S. 509f. 75 Vgl. Frevert: Umbruch der Geschlechterverhältnisse?, in: Schildt/Siegfried/Lammers (Hg): Dynamische Zeiten, Hamburg 2000, S. 642–645; Boldorf: Gesamtbetrachtung, in: Ruck/Boldorf (Hg.): Geschichte der Sozialpolitik, Baden-Baden 2007, S. 852–854.
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die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu verbessern, aber sozialrechtlich wurde diese Arbeitsform erst später und unter anderen Vorzeichen als z.B. in Deutschland verankert. Seit den 1970er Jahren existieren in Frankreich gesetzliche Regelungen zur Teilzeitarbeit, die darauf abzielten, unter bestimmten Umständen die Arbeitszeit zu reduzieren (z.B. Übertritt ins Rentenalter, Krankheit). Die arbeitsrechtliche Gleichstellung von Teilzeit- und Vollzeitkräften erfolgte erst 1980.76 Auch in der französischen Familienpolitik zeichnete sich ab Mitte der 1960er Jahre eine Abkehr vom Alleinernährermodell ab. Zwar wurde die Mutterschaft noch immer als zentrale Aufgabe im Leben von Frauen konzipiert, aber auch die Doppelbelastung erwerbstätiger Mütter wurde nun zunehmend thematisiert. Dieser Wandel wurde u.a. an der Reform der Familienbeihilfen 1967 sichtbar, die fortan gegenüber anderen Sozialversicherungszweigen an Bedeutung verloren. Die Beihilfen wurden weniger als ein Beitrag zu einem konkreten Familienmodell verstanden, sondern als Mittel zur Umverteilung und zur Angleichung der Lebensverhältnisse.77 Zeitgleich wurde im Ehe- und Familienrecht das patriarchale Prinzip aufgegeben. Mit dem Code Civil war 1804 das Prinzip der patriarchalen Familie festgeschrieben und dem Ehemann die alleinige Entscheidungsgewalt über das Sorgerecht, den Wohnort der Familie, die Berufstätigkeit und das Vermögen der Ehefrau zugebilligt worden. Mit der Reform des Eherechts 1965 wurden erste Schritte zu einer Gleichberechtigung der Ehepartner gemacht, vor allem in finanziellen Fragen. Der Ehemann konnte nun nicht mehr allein über den Besitz verfügen oder die Ehefrau in der Berufstätigkeit einschränken. Vor allem aber setzte das Loi Neuwirth (1967) zur Legalisierung der Empfängnisverhütung ein wichtiges Zeichen auf dem Weg zur Selbstbestimmung von Frauen. Wie in Deutschland wurden die Reformen in den 1970er Jahren fortgesetzt (elterliches Sorgerecht 1970, Reform des Scheidungsrechts 1974).78
76 Vgl. Reuter, Silke: Frankreich: Die vollzeitberufstätige Mutter als Auslaufmodell, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Bd. 44, 2003, http://www.bpb.de/apuz/27330/frankreich-dievollzeitberufstaetige-mutter-als-auslaufmodell?p=0, letzter Zugriff: 09.09.2013. 77 Vgl. Duchen: Women’s Rights, London 1994, S. 118, zur Verhütungsdebatte S. 119–127. 78 Vgl. ebenda, S. 177f.; vgl. auch Laubier, Claire: The Condition of Women in France: 1945 to the Present; A Documentary Anthology, London 1990, S. 48f; Rogers, Catherine: Gender, in: Cook, Malcolm/Davie, Grace (Hg.): Modern France, Society in Transition. London 1999, S. 39–54, bes. S. 42.
II. SOZIALPOLITIK IN DER REGIONALEN UND INTERNATIONALEN ZUSAMMENARBEIT NACH 1945 Im vorangegangenen Kapitel wurden die allgemeinen ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der 1950er und 1960er Jahre dargestellt, um den Kontext der Sozial- und Beschäftigungspolitik der EWG abzubilden. Es ist davon auszugehen, dass die beschriebenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Konvergenzen den europäischen Integrationsprozess begünstigten. Die gute ökonomische Ausgangslage und ähnliche soziale Entwicklungen erhöhten die Akzeptanz des Integrationsprozesses und gemeinschaftlicher Initiativen. Auf der anderen Seite blieben trotz der Konvergenzen auch Unterschiede in der wohlfahrtsstaatlichen Orientierung erhalten, die eine Abstimmung auf Ebene der EWG erschweren konnten.1 Bevor anhand einzelner Debatten gezeigt werden kann, wie die Akteure im Rahmen der EWG die ökonomischen und sozialen Transformationsprozesse zur Kenntnis nahmen, soll der institutionelle Kontext erörtert werden. Einleitend wurde darauf hingewiesen, dass die institutionellen Besonderheiten der EWG berücksichtigt werden müssen, um zu erklären, wie soziale Problemlagen auf die EWGAgenda gerieten. Diese Besonderheiten lassen sich durch die Konzeption der EWG als Binnenmarktprojekt, als Mehrebenensystem und als System im Werden erfassen. Dieser Rahmen soll im Folgenden genauer betrachtet werden. Zunächst soll erörtert werden, welche Voraussetzungen und Möglichkeiten durch den Gründungsvertrag gegeben waren, soziale Probleme zu diskutieren. In einem weiteren Schritt soll der Wandel der Integrationskonzepte der Kommission vor dem Hintergrund der institutionellen Entwicklung berücksichtigt werden. Dadurch soll der Gestaltungsraum der Akteure erfasst werden, die im EWGV festgeschriebenen Kompetenzen auszudehnen und Politikbereiche zu definieren.2 Zudem sollen auch das Integrationsprojekt und die Gemeinschaftspolitik in einem globalen Diskurs über Gleichheit verortet werden. Der globale Diskurs, der u.a. über die ILO vermittelt wurde, setzte wichtige Sinnbezüge für das europäische Projekt.
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Vgl. Kaelble: Europäische Vielfalt, in: Hradil/Immerfall (Hg.): Westeuropäische Gesellschaften, Opladen 1997, S. 53; Ders.: Boom und gesellschaftlicher Wandel, in: Ders. (Hg.): Der Boom 1948–1973, Opladen 1992, S. 242, 245; Brunn: Die Europäische Einigung, Bonn 2006, S. 160f. An dieser Stelle sei auf die anregende Studie von Bernhard verwiesen, der das Bourdieusche Feldkonzept auf die Entwicklung der EU-Armutspolitik anwandte. Vgl. Bernhard: Die Konstruktion von Inklusion, Frankfurt a.M. 2010.
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1. SOZIALPOLITISCHE BESTIMMUNGEN IM EWG-VERTRAG Die Grundlage für gemeinschaftliche Initiativen im Bereich der Sozialpolitik bildeten die Römischen Verträge von 1957. Vorbild war dabei der EGKS-Gründungsvertrag, in dem bereits sozialpolitische Ziele festgehalten worden waren. In den Bestimmungen des EGKS-Vertrags wurde die Gleichbehandlung in- und ausländischer ArbeitnehmerInnen vorgesehen, vor allem hinsichtlich der Entlohnung und Arbeitsbedingungen und der Angleichung der Bestimmungen zur sozialen Sicherheit. Die EGKS konnte auch in Form von Wiedereingliederungsmaßnahmen, Abfindungen und Überbrückungsgeld die Folgen der Integration mildern.3 Die sozialpolitischen Bestimmungen im EWG-Vertrag waren hingegen weniger umfassend als die Bestimmungen des EGKS-Vertrags. Das schwache sozialpolitische Mandat der EWG kann vereinfacht auf drei Faktoren zurückgeführt werden.4 Zum einen ist die „Vernachlässigung“ der Sozialpolitik im EWGV durch die Konjunkturlage zu begründen. Wie in Kapitel I beschrieben, boomte die europäische Wirtschaft und es herrschte nahezu Vollbeschäftigung. Damit schienen keine gravierenden sozialen Problemlagen zu existieren, die nach einer internationalen Zusammenarbeit verlangten. Des Weiteren kann die schwache sozialpolitische Dimension darauf zurückgeführt werden, dass die Mitgliedstaaten darauf bedacht waren, sozialpolitische Kompetenzen zu wahren und nicht an die supranationale Ebene abzugeben.5 Entscheidend für die sozialpolitische Gestaltung der EWG war aber die Festschreibung des „Binnenmarktparadigmas“6 im Gründungsvertrag. Nach dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) und der Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) erschien die wirtschaftliche Zusammenarbeit als aussichtsreichste und am wenigsten konfliktbeladene Möglichkeit, eine 3
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Vgl. Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), Dritter Titel - Wirtschafts- und Sozialbestimmungen, Kapitel VIII: Löhne und Freizügigkeit der Arbeitnehmer, Artikel 69, Abs. 1; Abs. 4; Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), Abkommen über die Übergangsbestimmungen, Dritter Teil - Allgemeine Schutzmaßnahmen, Kapitel 1: Allgemeine Bestimmungen, Anpassung, Paragraph 23, Abschnitt 4; Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), Abkommen über die Übergangsbestimmungen, Erster Teil - Ingangsetzung des Vertrages, Kapitel I: Einsetzung der Organe der Gemeinschaft, Die Hohe Behörde, Paragraph 2, Abschnitt 4; Vgl. auch Naupert, Heinz: Schuman-Plan und Sozialpolitik, in: Sozialer Fortschritt, Bd. 1, 1952, Nr. 2, S. 37–39; Vgl. zur Freizügigkeit und sozialen Sicherheit in der EGKS, Collins: The European Communities, London 1975, Bd. 1, S. 57–69. Während bspw. der EGKS-Vertrag Anpassungsbeihilfen für Montanarbeiter vorsah, fand sich dazu im EWGV kein Äquivalent und der Sozialfonds war nur mit geringen Mitteln ausgestattet. Vgl. Degimbe: La politique sociale européenne, Brüssel 1999, S.16f.; Hantrais: Social Policy, London u.a. 1995, S. 2. Vgl. Degimbe: La politique sociale européenne, Brüssel 1999, S. 60; Vgl. Gold: Overview, in: Ders. (Hg.): The Social Dimension, Basingstoke 1993, S. 15. Bernhard: Die Konstruktion von Inklusion, Frankfurt a.M. 2010, S. 16.
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politische Einigung Westeuropas herbeizuführen. Auf der Konferenz von Messina bzw. im Spaak-Bericht wurde die neoliberale Ausrichtung der zukünftigen EWG vorbereitet. Paul-Henri Spaak war auf der Konferenz beauftragt worden, konkrete Pläne für den Aufbau eines Gemeinsamen Marktes zu erarbeiten. Aufgrund der gegensätzlichen integrations- und wirtschaftspolitischen Positionen der Mitgliedstaaten wurde schließlich ein Kompromiss gewählt. Basierend auf dem SpaakBericht wurde die neue Gemeinschaft als Zollunion, mit Schwerpunkt auf dem freien Waren-, Kapital-, Personen- und Dienstleistungsverkehr konzipiert. Den Forderungen der französischen Regierung, soziale Kosten als Wettbewerbsfaktor zu berücksichtigen, wurde dabei weniger Beachtung geschenkt als neoliberalen Vorstellungen (vertreten durch die BRD). Sozialpolitik wurde daher in den Gründungsverträgen nur als „marktschaffende und marktnahe Sozialpolitik“7 konzipiert. Konkrete Aussagen zu den Zielen und Maßnahmen der Sozialpolitik wurden nur dann festgehalten, wenn sie eine Relevanz für die Marktbildung hatten.8 Der „ideologische“ Kompromiss schlug sich bspw. in Art. 117 nieder, der als Grundlage der Sozialpolitik der EWG gilt: „Die Mitgliedstaaten sind sich über die Notwendigkeit einig, auf eine Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitskräfte hinzuwirken und dadurch auf dem Wege des Fortschritts ihre Angleichung zu ermöglichen.“9
Da der Artikel einen Kompromiss darstellte, wurden auch keine genaueren Angaben gemacht, wie die Angleichung und Anhebung vonstatten gehen sollte. Die Ungenauigkeiten provozierten daher in den Folgejahren Debatten über die Ziele, Methoden und Zuständigkeiten einer Angleichung.10 Weiteres Konfliktpotential barg Art. 118, in dem die Bereiche der sozialpolitischen Zusammenarbeit benannt wurden: Beschäftigung, Arbeitsrecht und -bedingungen, berufliche Aus- und Fortbildung, soziale Sicherheit, Verhütung von Berufsunfällen und -krankheiten, Gesundheitsschutz, Koalitionsrecht und Kollektivverhandlungen. Weitere Bereiche der Zusammenarbeit umfassten die Lohngleichheit zwischen Mann und Frau (Art. 119) und den Aufbau einer gemeinsamen Berufsausbildungspolitik (Art. 128).11 In Art. 118 fehlten jedoch Angaben über die zu erreichenden Standards und die Umsetzung der sozialpolitischen Bestimmungen. Zudem wurden kaum Zuständigkeiten auf die supranationale Ebene übertragen. Die Kommission sollte gemäß Art. 118 eine Kooperation im Bereich der Sozialpolitik zwischen den Mit7
Ebenda, S. 122f. Bernhard bezieht sich vor allem auf den deutschen Neoliberalismus, in dem das Wirtschaftswachstum selbst als Sozialpolitik betrachtet wurde. 8 Vgl. Collins: The European Communities, London 1975, Bd. 2, S. 4, 11; Heise: Sozialpolitik in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Göttingen 1966, S. 12f., 25; Hantrais: Social Policy, London u.a. 1995, S. 2–4. 9 Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (1957), http://eurlex.europa.eu/de/treaties/dat/11957E/tif/11957E.html, Zugriff 12.11.2012. 10 Vgl. Heise: Sozialpolitik in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Göttingen 1966, S. 109f. 11 Vgl. Collins: The European Communities, London 1975, Bd. 2, S. 24, 31.
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gliedstaaten koordinieren. Sie sollte die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten durch Stellungnahmen und durch die Vorbereitung von Beratungen und Untersuchungen fördern. Auch der Fusionsvertrag von 1965, in dem der Zusammenschluss der EGKS, EWG und EURATOM geregelt wurde, brachte keine Veränderung der sozialpolitischen Dimension, wenngleich die Bestimmungen der EGKS und EURATOM über den EWG-Vertrag hinausreichten.12 Akteure der europäischen Sozialpolitik Der EWGV schuf auch die institutionellen Grundlagen der Gemeinschaft und definierte die Zuständigkeiten und Entscheidungsmechanismen. Der Ministerrat, die Kommission und die Versammlung (ab 1962 Europäisches Parlament) bildeten das institutionelle Dreieck der EWG. Der Ministerrat setzte sich aus RegierungsvertreterInnen der Mitgliedstaaten zusammen und repräsentierte das intergouvernementale Element. Hier lag die eigentliche Entscheidungs- und Normsetzungskompetenz. Die Kommission galt als Motor der Gemeinschaft, da sie das Monopol hielt, Gesetzesinitiativen einzubringen und dem Ministerrat Vorschläge für Rechtsakte zu unterbreiten. Sie sollte die Gemeinschaftsinteressen vertreten und über die Einhaltung der Rechtsvorschriften wachen. Die Kommission bestand in den 1960er Jahren aus neun Kommissaren, die einvernehmlich von den Regierungen ernannt wurden, aber von diesen unabhängig waren. Innerhalb der Kommission übernahm je ein Kommissar die Verantwortung für einen Politikbereich, die so genannten Generaldirektionen (u.a. Wettbewerb, Soziale Angelegenheiten, Innerer Markt). Manche Generaldirektionen erhielten durch die recht langen Amtszeiten der Kommissare eine persönliche Prägung. Dieses Phänomen betraf vor allem die Generaldirektion Soziale Angelegenheiten, die von 1961 bis 1970 unter der Verantwortung von Lionello Levi Sandri stand.13 Zudem waren die Generaldirektionen untereinander nicht immer einig und behinderten so gegenseitig ihre Arbeit bzw. einen Austausch: „It seems evident that the various services (General Directions) of the Community are both highly politicised and divided amongst themselves.“14 Vor allem zwischen der Generaldirektion Soziale Angelegenheiten und der Generaldirektion Wirtschaft und Fi-
12 Vgl. ebenda, S. 170; Hantrais: Social Policy, London u.a. 1995, S. 2–4. 13 Vgl. Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft: Bericht über die Entwicklung der sozialen Lage in der Gemeinschaft im Jahr 1959, Anlage zum Dritten Gesamtbericht über die Tätigkeit der Gemeinschaften nach Artikel 122 des EWG-Vertrages, [Brüssel] 1960, S. 17. 14 Vgl. Memorandum of Cox concerning Contacts with the EEC, vom 21.02.1966, S. 3f., in: HAILO INST 3–1–3 J.2. Der ILO-Mitarbeiter Cox deutete einen Konflikt zwischen den Mitarbeitern der GD Soziale Angelegenheiten und der GD Wirtschaft und Finanzen bzw. dem Vizepräsidenten Robert Marjolin an.
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nanzen habe es widersprüchliche Auffassungen über die Kommissionsarbeit gegeben.15 Die Generaldirektionen waren in drei bis vier Direktionen unterteilt, die wiederum aus Divisionen bestanden. Die GD Soziale Angelegenheiten war untergliedert in eine Direktion für Sozialpolitik, eine Direktion für Arbeit, eine Direktion für Sozialfonds und Berufsbildung und eine Direktion für soziale Sicherung und soziale Dienste. Nach der Fusion der Gemeinschaften im Jahr 1967 kamen die Direktionen Gesundheit und Arbeitsschutz hinzu.16 Als weitere supranationale Institution wurde die parlamentarische Versammlung (für EWG und EURATOM) eingerichtet, der zunächst nur eine beratende Rolle durch Stellungnahmen zukam. Diese untergeordnete Rolle spiegelte sich zunächst in der fehlenden Möglichkeit der Direktwahl wider. Im sozialpolitischen Bereich konnte die Versammlung aber trotz ihrer beschränkten Vollmachten einen gewissen Einfluss erlangen. Als wichtiges Instrument erwiesen sich die Anfragen und Aussprachen mit der Kommission. Die internen Arbeitsgruppen und Ausschüsse produzierten stetig neue Materialien, die die Stellungnahmen unterfütterten. Die Tendenz zur Verwissenschaftlichung des Sozialen, auf die weiter oben für die nationale Ebene hingewiesen wurde (Kap. I.2), zeigte sich somit auch auf europäischer Ebene. Institutionen wie das Parlament, denen nur eine marginale Rolle im Institutionengefüge angedacht war, forderten die Erweiterung der Gemeinschaftspolitik und beriefen sich dabei auf wissenschaftliche Problemdefinitionen und Handlungsempfehlungen. So drängte bspw. der Ausschuss für Soziale Angelegenheiten die Kommission, die gemeinschaftliche Sozialpolitik auszudehnen. „It would be wrong […] to dismiss Parliament as negligible, for with the establishment of good working relationships and the willingness of the Commission to co-operate it played a more important part in policy formation than can be deduced from the treaty, whilst in function as a goad to action is well illustrated in the area of social policy.“17
Eine wichtige Rolle hinsichtlich der Ausdehnung der Sozialpolitik spielte auch der Wirtschafts- und Sozialausschuss, als Vertretung der Sozialpartner bzw. als direkte Verbindung der ArbeitnehmerInnenverbände und der Industrie zur Gemeinschaft. Der Wirtschafts- und Sozialausschuss kann als formales Forum transnationaler Netzwerke (UnternehmerInnen und ArbeitnehmerInnen) betrachtet werden. Allerdings beteiligten sich in den 1960er Jahren nur wenige der europäischen Spitzenverbände daran. Das mag am geringen Gewicht des WSA im institutionellen Gefüge gelegen haben. Andererseits konnten die Mitglieder durch ihr ExpertInnenwissen und die gehaltvollen Diskussionsbeiträge Einfluss auf den 15 Zum Konflikt zwischen den Generaldirektionen vgl. auch Boswell, Christina: The European Commission’s Use of Research in Immigration Policy: Expert Knowledge as a Source of Legitimation? Paper prepared for the panel: Driving and Legitimising Contentious EU PolicyMaking: The Case of Immigration Policy, EUSA Conference, Montreal, 17–20 May 2007. S.7, http://aei.pitt.edu/7709/1/boswell-c-09c.pdf, Zugriff: 18.10.2012. 16 Vgl. Collins: The European Communities, London 1975, Bd. 2, S. 16. 17 Ebenda, S. 34.
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Entscheidungsprozess gewinnen. Die ca. 100 Mitglieder waren als Individuen abgeordnet und vertraten nicht zwingend die Interessen ihrer Organisationen und ihrer nationalen Regierungen. Vielmehr bildeten sich im WSA Koalitionen entsprechend der behandelten Themen.18 Das Parlament und der WSA müssen in der vorliegenden Untersuchung weitestgehend außer Acht gelassen werden. Auch der Europäische Gerichtshof (EuGH), dessen Rolle in der Entwicklung der Gleichstellungspolitik bereits gut aufgearbeitet ist, kann nicht eingebunden werden. Im Laufe der Zeit etablierten sich auch andere Institutionen im EWG-System, die eine Rolle in der Entwicklung der gemeinschaftlichen Sozialpolitik spielen sollten. Dabei ist zum einen an den vertraglich legitimierten COREPER zu denken, aber auch an Arbeitsgruppen und Ausschüsse (z.B. Ad-Hoc Komitee Frauenarbeit). Zum anderen sei auf zivilgesellschaftliche AkteurInnen verwiesen, deren Beteiligung im EWGV nicht vorgesehen war. Diese Akteure und Netzwerke werden dann in die Untersuchung einbezogen, wenn sie an der Konstruktion der Problemdiskurse mitwirkten. 2. DIE SOZIALPOLITIK ALS UMKÄMPFTES FELD IN DEN 1960ER JAHREN In der Forschungsliteratur hält sich die Einschätzung, die Sozialpolitik sei in der ersten Phase der Integration zwischen 1958 und 1972 irrelevant gewesen. Manche AutorInnen gehen gar soweit, eine gemeinschaftliche Sozialpolitik bis in die 1970er Jahre als inexistent zu bezeichnen. Als Beleg werden die wenigen sozialpolitischen Bestimmungen des EWGV und die geringfügigen Rechtsakte herangezogen.19 Andere AutorInnen weisen wiederum darauf hin, dass in Bezug auf die Freizügigkeit der Arbeitnehmer (1968) und die Regelung über die soziale Sicherung der Wanderarbeitnehmer (1971) sozialpolitische Entscheidungen getroffen worden sind. Auch im Rahmen der Agrarpolitik wurde eine Sozialpolitik betrieben, um Folgen der Umstellung von der Agrar- zur Industriebeschäftigung abzufangen und Veränderungen der soziokulturellen Milieus durch Migrationsbewegungen zu begleiten. Weitere Erfolge seien durch Richtlinien und Empfehlungen zu verzeichnen gewesen, die gemeinsame Standards hinsichtlich des Arbeitsschutzes und der Arbeitsbedingungen etablierten.20 18 Vgl. Rasmussen: Supranational Governance in the Making, in: Kaiser/Leucht/Rasmussen (Hg.): The History of the European Union, New York/London 2009, S. 49; Collins: The European Communities, London 1975, Bd. 2, S. 35f. 19 Vgl. Schulte, Bernd: Das „Europäische Sozialmodell“ zwischen Realität und Normativität, in: Becker, Ulrich/Hockerts, Hans Günter/Tenfelde, Klaus (Hg.): Sozialstaat Deutschland. Geschichte und Gegenwart, Bonn 2010, S. 171–195, hier S. 183; Brunn: Die Europäische Einigung, Bonn 2006, S. 162; Köhler, Peter: Internationale Sozialpolitik, in: Ruck/Boldorf (Hg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland, Baden-Baden 2007, S. 819–840, hier S. 828f. 20 Vgl. La politique sociale de la communauté. Résumé de l’exposé de M. Raymond Rifflet, Directeur Général des Affaires Sociales à la Commission des Communautés européens,
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Wie der Blick auf die unterschiedlichen Arbeitsfelder zeigt, ist die Beurteilung der ersten Integrationsphase (1958–1972) als sozialpolitisches „benign neglect“21 nicht zutreffend. In manchen Bereichen konnte die Kommission durchaus sozialpolitische Entscheidungen herbeiführen, vor allem wenn sie eng an die Schaffung eines Gemeinsamen Marktes gebunden waren.22 Wendet man den Blick von den Rechtsnormen ab und betrachtet auch die Debatten innerhalb der Kommission, so zeigt sich, dass auch andere sozialpolitische Themen auf der Agenda standen, die mitunter gar über die im Vertrag definierten Bereiche hinausgingen. ZeitzeugInnen erinnerten sich, dass die Sozialpolitik bereits zu Beginn der Integration, vor allem in den 1960er Jahren, ein umstrittenes Politikfeld gewesen sei: „Donc, tout ce qui touche les affaires sociales était très délicat et on y allait extrêmement doucement, parce que ce n’était pas le moment de faire.“23 Die Brisanz des Feldes lag vor allem in ambivalenten Ansichten über das Verhältnis der Wirtschafts- und Sozialpolitik begründet. Noch vor der Unterzeichnung des EWG-Vertrags hatten Beobachter des Integrationsprozesses gemahnt, die Bedeutung der Sozialpolitik ernst zu nehmen und im Gründungsvertrag der EWG zu verankern.24
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25.09.1972, S. 2–4, in: HAUE ME 1653; vgl. auch Hantrais: Social Policy, London u.a. 1995, S. 61. Gold: Overview, in: Ders. (Hg.): The Social Dimension, Basingstoke 1993, S. 19. Vgl. Hantrais: Social Policy, London u.a. 1995, S. 197. Bitsch, Marie-Thérèse/Legendre, Anaïs: Entretien avec Odile Benoist-Lucy, 27.01.2004, Conshist.com, Histoire interne de la Commission européenne 1958–1973, http:// www.eui.eu/HAEU/OralHistory/pdf/INT701.pdf, letzter Zugriff: 12.11.2012, S. 13. BenoistLucy hatte ab 1960 für Robert Marjolin, Vizepräsident der Kommission (Wirtschaft und Finanzen, Außenbeziehungen und Wettbewerb) gearbeitet und war mit Sozialpolitik und Information befasst. Sie war damit eine von nur zwei Frauen, die in den Generaldirektionen auf verantwortungsvoller Stelle arbeiteten. Der Vorstandsvorsitzende der italienischen Verbandes der Arbeitergewerkschaften, Coppo, urteilte bspw. über die EGKS: „Malheureusement on a dû constater avec une grande amertume que dans la Communauté l’on adopte des mesures économiques sans en avoir d’abord évalué les conséquences sociales.“ Er forderte die Hohe Behörde der EGKS auf, sich ihrer Rolle als supranationales Gremium bewusst zu werden und eine Politik umzusetzen, die zur sozialen Gerechtigkeit führe. Vgl. Coppo, Dionigi: Problèmes sociaux de la C.E.C.A, in: Actes officiels du Congrès International d'Etudes sur la Communauté Européenne du Charbon et de l'Acier, Milan-Stresa 31. Mai 1957, Bd. 7, l’orientation sociale de la communauté, Mailand 1958, S. 294–320, Zitat S. 316; Hampel: Sozialpolitik, Kiel 1955, S. 2f., 5f.; Becker, Ulrich: Der Sozialstaat in der Europäischen Union, in: Becker/Hockerts/Tenfelde (Hg.): Sozialstaat Deutschland, Bonn 2010, S. 313–335, hier S. 317.
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Das Integrationskonzept der Kommission Die Debatte über den Stellenwert der Sozialpolitik wurde durch das Integrationskonzept der Kommission in den 1960er Jahren verschärft. Die Kommission war durchaus gewillt, der sozialen Dimension mehr Bedeutung beizumessen als der Gründungsvertrag vorsah.25 Die Kommission verstand die Integration als ökonomischen und sozialen Prozess und die EWG als Solidargemeinschaft. Das Soziale dürfe dem Ökonomischen nicht nachgeordnet werden, da auch in den Mitgliedstaaten beide Dimensionen eng miteinander verbunden seien. Der Kommissar für Soziale Angelegenheiten, Lionello Levi Sandri, wies bereits in den 1960er Jahren darauf hin, dass durch den Integrationsprozess soziale Ungleichheiten entstehen werden. Er bezweifelte, dass die wirtschaftliche Integration automatisch ein höheres Sozialniveau und soziale Gerechtigkeit herbeiführen werde. Die KommissionsvertreterInnen wurden nicht müde zu betonen, dass sie eine aktive gemeinschaftliche Sozialpolitik anstrebten, die über die im Vertrag (v.a. Art. 118) genannten Bereiche hinausgehen sollte: „Die Gemeinschaft verfolgt ebenso sehr soziale wie auch wirtschaftliche Ziele und die ersteren können nicht ausschließlich als Erfolg der letzteren angesehen werden, sondern sie müssen durch eigene Initiative sozialer Art erreicht werden. Auch wenn gewisse der im Vertrag vorgesehenen Vorschriften, Grundsätze und Instrumente ursprünglich wirtschaftlichen Erfordernissen und Überlegungen entsprangen, so steht es doch außer Zweifel, daß sie heute im allgemeinen Vertragsrahmen als sozialpolitische Vorschriften und Grundsätze aufzufassen und als solche anzuwenden sind. […] Die Gemeinschaft muß ihre eigene Sozialpolitik haben, […].“26
Unterstützung für diese Konzeption erfuhr die Kommission durch die Gewerkschaften und das Europäische Parlament.27 Die Kommission sah die Legitimation ihres Ansatzes in den Zielen der Gemeinschaft, wie sie u.a. in Art. 2 EWGV definiert worden waren. „The problem which the member countries of the European Economic Community have to solve in common is not only to produce more and to sell more, but, more fundamentally, to
25 Vgl. Gold: Overview, in: Ders. (Hg.): The Social Dimension, Basingstoke 1993, S. 19. 26 Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft: Memorandum der Kommission zum Aktionsprogramm der Gemeinschaft für die zweite Stufe, Brüssel 1962, S. 51 zitiert nach Heise: Sozialpolitik in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Göttingen 1966, S. 111. 27 Unterstützer waren der Internationale Bund Freier Gewerkschaften, der Internationale Bund Christlicher Gewerkschaften, der Sozialausschuss der Versammlung, Vgl. Heise: Sozialpolitik in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Göttingen 1966, S. 112f., 114, 177f.; Muynck, Guy de: The Social Policy of the European Economic Community, Part I, in: Junckerstorff (Hg.): International Manual, St. Louis 1963, S. 421- 427, bes. S. 421; Collins: The European Communities, London 1975, Bd. 2, S. 32, 157–160; Gold: Overview, in: Ders. (Hg.): The Social Dimension, Basingstoke 1993, S. 16–18.
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construct an economic society truly adapted to the requirements of the Twentieth Century and which is at the same time more free, more equitable, and more humane.“28
Die Kommission bezog sich auf die Menschenrechtsrhetorik mit der Absicht, das Integrationsprojekt zu legitimieren. Diese Strategie zielte nicht nur auf die BürgerInnen in den Mitgliedstaaten der EWG. Mit dem Hinweis auf die Menschenrechte und der Darstellung der EWG als Garantin einer demokratischen und gerechten Gesellschaft, grenzte die Kommission das Integrationsprojekt gegenüber der sozialistischen Einflusssphäre ab. Jan Eckel wies darauf hin, dass in den 1950er und 1960er Jahren im Kontext des Systemkonflikts und des „rhetorischen Kampf[s] um Legitimierung und Diskreditierung“29 die Menschenrechte als wichtige Referenz dienten. Der Menschenrechtsdiskurs konnte auch als Legitimation für sozialpolitische und in letzter Konsequenz ökonomische Ziele interpretiert werden. Eine gemeinschaftliche Sozialpolitik sollte helfen, die EWG gegenüber anderen Wirtschaftsräumen (USA und Ostblock) als weltweite Vorreiterin zu etablieren. Schließlich verwies die Kommission auf die politische Bedeutung einer gemeinschaftlichen Sozialpolitik. Sie könne einen entscheidenden Beitrag zur Integration leisten, da so die Identifikation und Teilhabe der europäischen Bürger gesichert werden könnte. Nur dadurch könne eine politische Union verwirklicht werden, die schließlich von den Mitgliedstaaten angestrebt wurde. Die Rolle der Sozialpolitik im europäischen Einigungsprozess wurde gar in Analogie zu den nationalen Staatsbildungsprozessen bewertet: so wie die Sozialpolitik Kohärenz im nationalen Rahmen schaffen konnte, sollte sie in der europäischen Gemeinschaft Solidarität und Akzeptanz für die Union herstellen: „Sie [die Bestimmungen des Vertrages über die Sozialpolitik, K.R.] erlegten den Organen der Gemeinschaft die Verpflichtung auf, ihre Sozialpolitik so zu gestalten, daß die arbeitende Bevölkerung ihre Ansprüche und Hoffnungen auf Arbeit, Frieden und Gerechtigkeit immer stärker mit dem Wachsen der europäischen Integration gleichsetze.“30
Die Kommission entwickelte auch eigene Vorstellungen über die Methode zur Erreichung sozialer Ziele. Im EWG-Vertrag wurde je nach Politikfeld mehr oder weniger präzise bestimmt, wie die sozialpolitischen Ziele erreicht werden sollten. Dabei wurden Begriffe wie „Angleichung“, „harmonische Entwicklung“ oder auch „Koordinierung“ verwendet. Für die in Art. 118 genannten Politikfelder war nur eine beratende Funktion der Kommission durch Untersuchungen und Stellungnahmen hinsichtlich nationaler und internationaler Probleme vorgesehen. Die
28 Muynck: The Social Policy, in: Junckerstorff (Hg.): International Manual, St. Louis, Missouri 1963, S. 429. 29 Eckel: Utopie der Moral, in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 49, 2009, S. 445. 30 Levi Sandri in seiner Ansprache an den Wirtschafts- und Sozialausschuss der EWG/Euratom, in: Protokoll des Wirtschafts- und Sozialausschusses über seine 16. Sitzungsperiode am 6./7. Juli 1961, Brüssel 1961, Seite 80f. zitiert nach Heise: Sozialpolitik in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Göttingen 1966, S. 111, vgl. auch ebenda, S. 80f., 84f.; Weydert: The Social Policy of the European Economic Community, in: Junckerstorff, (Hg.): International Manual, St. Louis 1963, S. 430.
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Koordinierung nationaler Sicherungssysteme wurde hingegen in Bezug auf die Problematik der Wanderarbeitnehmer bestimmt (Art. 51 und 121).31 Unklar blieb auch, was angeglichen werden sollte: Im EWGV wurde nicht spezifiziert, ob vergleichbare Standards zwischen den Mitgliedstaaten geschaffen werden sollten oder ob lediglich die Standards für ArbeiternehmerInnen gleicher Wirtschaftszweige vereinheitlicht werden sollten.32 Die vertraglichen Ungenauigkeiten boten der Kommission Raum für eigene Interpretationen. Von KommissionsvertreterInnen wurde der Begriff der Harmonisierung im Sinne einer konvergierenden Entwicklung verwendet. Dieses Harmonisierungs-Konzept beruhte auf der Idee, dass die Sozialpolitik Bestandteil und Antrieb des Integrationsprozesses sei. Vor allem Walter Hallstein prägte den Begriff der Harmonisierung als „progressive Konvergenz“. Darunter verstand er ein „Sich-aufeinander-zu-bewegen“ nationaler Standards. Damit war aber nicht gemeint, dass Länder mit höherem Sozialstandard Einschnitte machen sollten. Vielmehr sollte der soziale Fortschritt gefördert werden. Zugleich sollten Unterschiede ausgeglichen werden, indem in Bereichen bzw. Mitgliedstaaten mit geringerem Standard Fortschritte beschleunigt werden. Eine Angleichung im Sinne einer Konvergenz setzte die Änderung der nationalen sozialpolitischen Mittel und Bestimmungen nach gemeinsamen Standards voraus. Dieses Vorgehen war äußerst umstritten, da es eine Verlagerung der Kompetenzen von der nationalen auf die supranationale Ebene implizierte.33 Die Position der Kommission zur Bedeutung der Sozialpolitik und der Harmonisierung lässt sich u.a. auf das steigende Selbstbewusstsein der Institution zurückführen. Unter Führung des Kommissionspräsidenten Walter Hallstein und seiner Mitstreiter etablierte sich die Kommission als eigenständige Akteurin. Die Kommission nahm ihre Rolle als Motor der Gemeinschaft wahr und präsentierte sich als autonome Vertreterin der Gemeinschaftsinteressen. Ihre Initiativen verstand sie als „an autonomous political act by which the Commission, speaking with complete independence, expresses what it considers to be the general interest of the Community.“34
31 Die Ungenauigkeiten des Vertrags werden von Gold als größtes Hindernis für die Entwicklung einer einheitlichen gemeinschaftlichen Sozialpolitik betrachtet. Vgl. Gold: Overview, in: Ders. (Hg.): The Social Dimension, Basingstoke 1993, S. 15; ähnlich Hantrais: Social Policy, London u.a. 1995, S. 20f. 32 Erst auf der Konferenz zur sozialen Sicherheit 1962 wurde dazu eine Position erarbeitet: Es sollten die Standards für ArbeiternehmerInnen in gleichen Wirtschaftszweigen, innerhalb einer Region und innerhalb eines Staates bzw. zwischen den Staaten angeglichen werden. Vgl. dazu Collins: The European Communities, London 1975, Bd. 2, S. 161f. 33 Vgl. Collins: The European Communities, London 1975, Bd. 2, S. 164; Heise: Sozialpolitik in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Göttingen 1966, S. 118–120; Hantrais: Social Policy, London u.a. 1995, S. 21–23. 34 Collins: The European Communities, London 1975, Bd. 2, S. 15. Collins bezieht sich auf den Dritten Gesamtbericht der Kommission. Vgl. dazu auch Johnson: European Welfare States, Basingstoke 2005, S. 17–19.
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Erfolgreiche Projekte wie die Senkung der Binnenzölle, die Vereinheitlichung der Außenzölle, die Regulierung der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit, und die Anfänge der Agrarpolitik bestärkten die KommissionsmitarbeiterInnen zusätzlich.35 Der Bezug auf das Selbstverständnis und das Integrationskonzept der Kommission ist für die Entwicklung gemeinschaftlicher Initiativen nicht zu unterschätzen. Es waren weniger zweckrationale Überlegungen, die das Vorgehen der Kommission bestimmten, sondern die Selbstwahrnehmung als Vertreterin der Gemeinschaftsinteressen. An diesem Leitbild konnten sich die KommissionsmitarbeiterInnen orientieren und gemeinsame Wert- und Zielvorstellungen ausbilden.36 Basierend auf ihrem Selbstbewusstsein und ihren Vorstellungen zur Bedeutung der Sozialpolitik und der sozialen Harmonisierung versuchte die Kommission, sozialpolitische Maßnahmen voranzutreiben. Jedoch gelang es in den 1960er Jahren nicht, das Konzept und die Notwendigkeit sozialer Maßnahmen gegenüber den Entscheidungsträgern zu plausibilisieren und die wirtschaftsorientierte Ausrichtung des Einigungsprozesses bzw. das Binnenmarktparadigma in Frage zu stellen.37 Wie Steffen Bernhard ausführte, sei es der Kommission erst in den 1970er Jahren gelungen, ihr Konzept zu vermitteln und mehr Unterstützung für die Sozialpolitik zu erfahren. Bernhard führte diesen „Erfolg“ auf eine veränderte „symbolische Positionierungsstrategie“38 der Kommission zurück. Erst durch „semantisch-konzeptionelle Neuerungen“39 sei es der Kommission gelungen, ihre Forderung nach einer europäischen Sozialpolitik durchzusetzen. Bernhard übersah jedoch, dass die von ihm beschriebenen „Neuerungen“ (Sozialpolitik als Integrationsfaktor und Hinweis auf soziale Ungleichheiten durch Integration) bereits in den 1960er Jahren Bestandteil des sozialpolitischen Konzepts der Kommission waren. Geht man davon aus, dass die Kommission ihre Positionierungsstrategie beibehielt, stellt sich vielmehr die Frage, welche Faktoren dazu führten, dass das Konzept in den 1960er Jahren auf weniger Akzeptanz stieß als in den 1970er Jahren.40
35 Vgl. Bührer: Abschied von der Supranationalität, in: Schildt/Siegfried/Lammers (Hg): Dynamische Zeiten, Hamburg 2000, S. 248–272. 36 Vgl. Rasmussen: Supranational Governance in the Making, in: Kaiser/Leucht/Rasmussen (Hg.): The History of the European Union, New York/London 2009, S. 43; mehr dazu: Jachtenfuchs, Markus: Europäische Integration, Opladen 22003; Trondal, Jarle: The political dynamics of the 'parallel administration' of the European Commission, in: Andy Smith (Hg): Politics and the European Commission: actors, interdependence, legitimacy, London 2004, S. 67–82. Dumoulin, Michel (Hg): The European Commission 1958–1972. History and Memories, Brüssel 2007. 37 Bernhard: Die Konstruktion von Inklusion, Frankfurt a.M. 2010, S. 124. 38 Ebenda, S. 124. 39 Ebenda, S. 124. 40 Vgl. ebenda, S. 123–126.
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Sozialpolitik als Mittel der Kompetenzerweiterung Die Erklärung muss wohl darin gesehen werden, dass das Integrationskonzept der Kommission von einigen nationalen Regierungen und den Arbeitgeberverbänden als Versuch bewertet wurde, die supranationalen Kompetenzen auszudehnen. Sie wiesen darauf hin, dass die sozialpolitische Arbeit der EWG nur im Rahmen der vertraglich definierten Bereiche erfolgen dürfe. Die Kommission habe nur die Befugnis, die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten zu koordinieren, nicht aber, rechtssetzend tätig zu werden.41 Hochrangige Beamte wie Hallstein betrachteten die Erweiterung des Supranationalen als Folge des EWGV und als geeignetes Mittel zur Vertiefung der Integration. Nur so könne der Aufbau und die Funktion des Gemeinsamen Marktes gewährleistet werden.42 Die Kompetenzerweiterung der supranationalen Gremien war durchaus heikel, da sie das Kräfteverhältnis zwischen der supranationalen und intergouvernementalen Ebene berührte. Dieser Konflikt war bereits in den 1950er Jahren virulent, als über mögliche Formen eines Einigungsprozesses nachgedacht wurde. Einige Nationalregierungen, vor allem die Benelux-Staaten und Italien, waren durchaus gewillt, supranationalen Initiativen zuzustimmen und behielten die prosupranationale Position auch in den 1960er Jahren bei. Vor allem die Niederlande regten in den 1960er Jahren die Formulierung gemeinschaftlicher sozialpolitischer Ziele und erste informelle Treffen der Sozialminister an. Im Jahr 1968 forderte dann auch der WSA erstmals, die Sozialpolitik an gemeinschaftlichen Zielen auszurichten.43 Auf der anderen Seite stand vor allem die französische Regierung unter Charles de Gaulles, die in den nationalen Regierungen die Stützen der Einigung sah und supranationalen Einrichtungen jede politische Wirksamkeit absprach. De Gaulle versuchte in den 1960er Jahren immer wieder, das supranationale Element einzuschränken. Nachhaltige Wirkung zeigten seine Pläne einer politischen Union, durch die der Kommission 1961/62 die Degradierung zu einer technischen Institution drohte. Zwar scheiterten de Gaulles Pläne am Widerstand der kleineren Mitgliedstaaten, aber Frankreich verschärfte daraufhin die Kritik am Supranationalen. Zudem sank die Kompromissbereitschaft der anderen Regierungen, Zugeständnisse an die Kommission zu machen. Einige Beobachter gehen davon aus,
41 Vgl. Heise: Sozialpolitik in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Göttingen 1966, S. 112, 177f. 42 Vgl. Schönewald: Walter Hallstein, in: Loth (Hg.): Crises and Compromises, BadenBaden/Brüssel 2001, S. 163–165. 43 Vgl. Collins: The European Communities, London 1975, Bd. 2, S. 5f.; Eichenhofer, Eberhard: Internationale Sozialpolitik, in: Hockerts, Hans-Günter (Hg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. 1966–1974: Bundesrepublik Deutschland: eine Zeit vielfältigen Aufbruchs, Baden-Baden 2006, S. 912–941, bes. S. 917–928.
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dass sich das Kräfteverhältnis zwischen den Institutionen zu Gunsten des Ministerrats und des COREPER verschob.44 Unter diesen Bedingungen wurde es für die Kommission immer schwieriger, ihre sozialpolitischen Kompetenzen auszudehnen. Dies sollte sich in der Sitzung der Arbeits- und Sozialminister im April 1964 zeigen. Die Kommission hatte auf Grundlage des Art. 118 in verschiedenen sozialpolitischen Bereichen Untersuchungen in Auftrag gegeben. Die Themenwahl sowie die Zusammenarbeit mit externen ExpertInnen und die Zusammensetzung der Arbeitsgruppen wurden auf Seiten der Mitgliedstaaten als Kompetenzüberschreitung gewertet. Die RegierungsvertreterInnen untersagten der Kommission weitere Initiativen. Über das weitere Vorgehen hinsichtlich der laufenden Verfahren wurde zunächst keine Entscheidung gefällt. Als der Rat der Arbeits- und Sozialminister dann im Dezember 1966 erneut tagte, wurden die zukünftigen sozialpolitischen Aktionsfelder der Kommission eingeschränkt. Wollte die Kommission zukünftig Initiativen ergreifen, die über den Ratsentscheid hinausgingen, musste sie zunächst die Zustimmung des Rates bzw. des COREPER einholen. Diese Entwicklung verdeutlichte nicht nur Verschiebungen im institutionellen Gefüge, sondern markierte auch eine sozialpolitische Umorientierung der Kommission. Die Kommission beharrte weniger darauf, dass die Sozialpolitik der Wirtschaftspolitik gleichrangig sei. Umstrittene Vorhaben wurden zurückgestellt und die Kommission konzentrierte sich auf die soziale Dimension des Gemeinsamen Marktes (Landwirtschaft, Verkehr und Regionalpolitik).45 Die Beschränkung der supranationalen Kompetenzen zeichnete sich nicht nur im sozialpolitischen Bereich ab. Weitaus bekannter ist die Eskalation im Zusammenhang mit der Finanzierung der gemeinsamen Agrarpolitik. Die Kommission hatte versucht, die Debatte über die Finanzierung der Agrarpolitik zu nutzen, um die Haushaltskompetenz von Parlament und Kommission auszudehnen.46 Die Niederlande, Italien und Deutschland stimmten der Kompetenzerweiterung der Kommission und des Parlaments im Grunde zu. Die Niederlande legten gar ein Konzept vor, das über den Vorschlag der Kommission hinausging: Das Europäische Parlament sollte ein volles Veto-Recht über alle Ratsentscheidungen erhalten. In diesem Falle zeigt sich, was einleitend am Beispiel der KomitologieForschung ausgeführt wurde: Das supranationale und intergourvernementale Moment können nicht in einer strikten Dichotomie gedacht werden. Der Ministerrat votierte keineswegs geeint gegen eine Ausdehnung supranationaler Kompetenzen. Die Zustimmung der „kleineren“ EWG-Partner zur Ausdehnung supranationaler Kompetenzen kann aus rational-institutionalistischer Perspektive erklärt werden. Staaten mit einem hohen Interesse in einem spezifischen Politikfeld neig44 Vgl. Bührer: Abschied von der Supranationalität, in: Schildt/Siegfried/Lammers (Hg): Dynamische Zeiten, Hamburg 2000, S. 253–258, 263, 265–269; Brunn: Die Europäische Einigung, Bonn 2006, S. 138–142. 45 Vgl. Gold: Overview, in: Ders. (Hg.): The Social Dimension, Basingstoke 1993, S. 19–21. 46 Vgl. Schönewald: Walter Hallstein, in: Loth (Hg.): Crises and Compromises, BadenBaden/Brüssel 2001, S. 166.
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ten durchaus dazu, Souveränität abzugeben, ohne immer die Folgen der Kompetenzübertragung absehen zu können. Die französische Regierung stand einer Kompetenzerweiterung der Kommission und des Parlaments hingegen ablehnend gegenüber. Zudem sollte auch das Entscheidungsverfahren im Ministerrat geändert werden. In Opposition zu beiden Vorhaben beschloss de Gaulle, durch den Abzug der französischen Vertreter aus dem Ministerrat denselbigen im Juli 1965 zu blockieren.47 Die so entstandene Krise des Leeren Stuhls konnte erst im Januar 1966 beim Außenministertreffen in Luxemburg beigelegt werden. Ähnlich wie in der Entscheidung der Arbeits- und Sozialminister wurden die zukünftigen Initiativen der Kommission an die Zustimmung des Ministerrats gekoppelt. Auch das Vorgehen in internationalen Organisationen bedurfte der vorherigen Abstimmung mit dem Ministerrat. Hinsichtlich des Entscheidungsverfahrens im Ministerrat wurde die vertraglich vorgesehen Merhheitsentscheidung zu gunsten einer Konsenslösung fallen gelassen.48 Der Luxemburger Kompromiss und die Entscheidung der Sozialminister 1966 können zusammengenommen als Stärkung des intergouvernementalen gegenüber dem supranationalen Element interpretiert werden. Und tatsächlich wird in der Historiographie für die Mitte der 1960er Jahre von einer Lähmung der Kommission und einer Eurosklerose gesprochen. Jedoch sollte die Bedeutung des Luxemburger Kompromisses nicht überschätzt werden. Von einer Eurosklerose kann nicht gesprochen werden, da nach 1966 mit Blick auf die GAP und die Zollunion in vielen Politikbereichen das supranationale Prinzip ausgedehnt und wichtige Integrationsziele erreicht wurden.49 47 Vgl. Rasmussen: Supranational Governance in the Making, in: Kaiser/Leucht/Rasmussen (Hg.): The History of the European Union, New York/London 2009, S. 46f.; Knudsen/Rasmussen: A European Political System, in: Journal of European Integration History, Bd. 14, Nr. 1, 2004, S. 56f. Vgl. Beiträge zur Krise des Leeren Stuhls: Vaïsse, Maurice: La politique européenne de la France en 1965: pourquoi la „chaise vide“?, in: Loth (Hg.): Crises and Compromises, Baden-Baden/Brüssel 2001, S. 193–214, hier S. 206, 208, 210. Zu den Unterstützern des Supranationalismus wurden die Niederlande gezählt. Die Niederlande nahmen in den 1960er Jahren bespw. immer wieder andere Positionen als Frankreich ein, z.B. in Fragen der transatlantischen Zusammenarbeit, hinsichtlich des Fouchet-Plans, des Beitritts Großbritanniens. Vgl. Harryvan, Anjo G./Harst, Jan van der: For Once a United Front. The Netherlands and the “Empty Chair“ Crisis of the Mid–1960s, in: Loth (Hg.): Crises and Compromises, Baden-Baden/Brüssel 2001, S. 173–191, bes. S. 174–178. 48 Ludlow relativiert die Einschätzung, der Luxemburger Kompromiss habe das Ende der qualifizierten Mehrheitsentscheidung (QME) bedeutet. Bereits vor 1966 sei das Prinzip des „gentleman agreement“ angewandt worden. Vgl. Ludlow, N. Piers: The Eclipse of the Extremes. Demythologising the Luxembourg Compromise, in: Loth (Hg.): Crises and Compromises, Baden-Baden/Brüssel 2001, S. 247–264, hier S. 247–249; Vgl. auch Schönewald: Walter Hallstein, in: Loth (Hg.): Crises and Compromises, Baden-Baden/Brüssel 2001, S. 166; Brunn: Die Europäische Einigung, Bonn 2006, S. S.144–148, Bührer: Abschied von der Supranationalität, in: Schildt/Siegfried/Lammers (Hg): Dynamische Zeiten, Hamburg 2000, S. 266–269, 271. 49 Vgl. Ludlow: The Eclipse of the Extremes, in: Loth (Hg.): Crises and Compromises, BadenBaden/Brüssel 2001, S. 250f.
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Auch war die Ratsvorgabe über die zukünftigen Arbeitsfelder der Kommission weniger weitreichend als gemeinhin angenommen wird. Die Vorgaben waren rechtlich nicht bindend und hielten daher nur die Prioritäten des Ministerrats fest. Mit der Entscheidung von 1966 wurde zwar Einigkeit über das Wie der Integration erzielt (Arbeitsweise), jedoch blieb zwischen den Mitgliedstaaten und der Kommission bzw. dem Parlament weiterhin das Was umstritten. Die Auseinandersetzungen über die Integrationsbereiche hielten bis 1967 an. Die Auswirkungen des Luxemburger Kompromisses können daher nicht für alle Politikbereiche pauschalisiert werden. Wie sich noch zeigen wird, setzten die Kompromisse des Jahres 1966 keinen Schlussstrich unter die sozialpolitischen Differenzen zwischen den Akteuren.50 Allerdings muss bedacht werden, dass der Luxemburger Kompromiss und die Entscheidung der Sozial- und Arbeitsminister 1966 durchaus Einfluss auf die Selbstwahrnehmung, die Perspektiven und Motivation der Kommission nahmen. Die Ablehnung der Finanzierungspläne bedeutete für die Kommission finanzielle Engpässe und einen eingeschränkten Handlungs- und Personalspielraum. Da der Kompromiss ohne die Beteiligung der Kommission ausgehandelt wurde, war auch das „Vertrauensverhältnis“ zu den Mitgliedstaaten gestört. Des Weiteren wurde ein klares Zeichen gesetzt, dass die Mitgliedstaaten und nicht die Kommission Ziele und Tempo der Integration bestimmten. „The overwhelming institutional theme of the crisis was thus the defence of the Treaty and the maintenance of the Community structures as they had emerged during the EEC’s first seven years of existence.“51
Für einige BeobachterInnen wurden die Einschnitte durch die abrupte Amtsniederlegung Hallsteins und die Übernahme der Präsidentschaft durch Jean Rey 1967 versinnbildlicht. Auch die Fusion der Organe der EGKS, EWG und EURATOM wurde als weitere Verschiebungen im Institutionengefüge und Machtverlust der Kommission bewertet.52 Dabei wurde übersehen, dass bereits zu Beginn der 1960er Jahre in der Verwaltungspraxis die Grenzen zwischen nationalen und supranationalen Interessen verschwammen. Dieser Prozess zeigte sich vor allem durch den Ausbau der „comitology committees“53, der Verwaltungs- und Expertenausschüsse auf der Ratsund Kommissionsebene. Solche Ausschüsse wurden schon in der EGKS gegründet. In der EWG wurden in der Zeit zwischen 1962–1972 vor allem in den wachsenden Politikbereichen wie Landwirtschaft, Zollunion und Sozialpolitik Komi-
50 Vgl. ebenda, S. 251–253; Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Bericht über die Sozialpolitik der Gemeinschaft, SEK(67) 5014 endg., Brüssel, 18. Dezember 1967, S. 10, in: HAER CM2 1968–974. 51 Ludlow: The Eclipse of the Extremes, in: Loth (Hg.): Crises and Compromises, BadenBaden/Brüssel 2001, S. 259, allgemein S. 254–260. 52 Vgl. Brunn: Die Europäische Einigung, Bonn 2006, S. 173. 53 Knudsen/Rasmussen: A European Political System, in: Journal of European Integration History, Bd. 14, Nr. 1, 2004, S. 52.
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tees eingerichtet. In den 1980er Jahren wurden sie dann zum festen Bestandteil des Entscheidungsprozesses.54 Die Ausschüsse wurden aufgrund der Vielfalt der Themenbereiche nötig und vereinten nationale ExpertInnen, VertreterInnen der Gemeinschaftsorgane und der Sozialpartner. Dadurch verschmolzen auch die Interessen sowie die Politik- und Verwaltungsstile. Bereits Mitte der 1960er Jahre hatte die Kommission über ihre Komitees nach eigenen Angaben Kontakt zu ca. 14–15000 nationalen ExpertInnen, die so mit den Gemeinschaftszielen vertraut wurden.55 Als prominentes Beispiel für das Verschmelzen nationaler und supranationaler Politikstile und Interessen kann der COREPER herangezogen werden, der 1958 eingesetzt wurde. Als 1962 das Entscheidungsverfahren geändert wurde, gewann der COREPER an Bedeutung. Von da an wurde der Großteil der Entscheidungen im COREPER diskutiert und dem Ministerrat nur noch zur Abstimmung vorgelegt.56 Nationale Unstimmigkeiten und Differenzen mit der Kommission wurden bereits in den wöchentlichen Sitzungen des Ausschusses diskutiert und nicht im Ministerrat, wie meist vermutet wird. Entscheidend waren dabei wohl auch die Sozialisation der Delegierten im EWG-System und ihre Identifikation mit den Gemeinschaftszielen. Untersuchungen zeigten, dass der COREPER nicht nur als Kontrollinstanz fungierte, die den Einfluss der Mitgliedstaaten wahren sollte. Vielmehr kann er als Ergebnis einer funktionalen Differenzierung bewertet werden bzw. als Versuch, die Verfahrensweisen zu vereinfachen. Der COREPER wurde von der Kommission als wichtiger Ansprechpartner wahrgenommen und entwickelte sich schließlich zu einer mächtigen Verbindungsstelle zwischen der Kommission und dem Ministerrat. Die funktionale Differenzierung führte letztlich aber auch dazu, dass die beteiligten Institutionen, vor allem die Kommission und der COREPER leicht den Überblick über die Gesamtheit der Gemeinschaftsaktivitäten zu verlieren drohten.57 54 Vgl. Christiansen, Thomas/Kirchner, Emil: Introduction, in: Dies. (Hg.): Committee Governance, Manchester 2000, S. 1–22, hier S. 14; Maurer/Mittag/Wessels: Theoretical perspectives, in: Christiansen/Kirchner (Hg.): Committee Governance, Manchester 2000, S. 23–44, hier S. 24; Presse- und Informationsdienst der Europäischen Gemeinschaften: Sozialpolitik der Montanunion, Brüssel/Luxemburg [1960], S. 11. 55 Vgl. Knudsen/Rasmussen: A European Political System, in: Journal of European Integration History, Bd. 14, Nr. 1, 2004, S. 63–65. Knudsen und Rasmussen beziehen sich auf den Generalsekretär der Kommission, Émile Noël (1958–1987). 56 Ab 1962 wurden Vorlagen an den Ministerrat nach Priorität gelistet. Unter den so genannten A-Punkten einigten sich die Delegierten bereits im COREPER, so dass der Ministerrat die Entscheidung nur noch annehmen musste. Umstrittene Inhalte, die B-Punkte, wurden nicht abschließend im COREPER diskutiert und erforderten die Beratung im Ministerrat. Bereits 1964 wurden mehr als zwei Drittel der Entscheidungen des Rates über die „A-item procedure“ abgehandelt. Vgl: Ludlow, N. Piers: The European Commission and the Rise of Coreper: A controlled Experiment, in: Kaiser/Leucht/Rasmussen (Hg.): The History of the European Union, New York/London 2009, S. 189–205, hier S. 196f. 57 Levi-Sandri sprach bspw. aktiv die Ständigen Vertreter an, um seine Vorstellungen der sozialpolitischen Harmonisierung darzulegen. Vgl. Ludlow: The European Commission, in: Kaiser/Leucht/Rasmussen (Hg.): The History of the European Union, New York/London 2009,
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Betrachtet man den Integrationsprozess auf der Ebene der Verwaltungspraxis, so muss die Einschätzung des Luxemburger Kompromisses als Zäsur im supranationalen-intergouvernementalen Kräfteverhältnis relativiert werden. Für Ludlow stellt der Ausgang der Krise z.B. einen Gewinn an Stabilität dar, weil längst praktizierte Verfahrensweisen institutionell abgesichert wurden: „ […] the effect of the crisis was to consolidate the type of institutional compromise which had been emerging, largely unnoticed, ever since 1958.“58 Am Beispiel der Mutterschutzempfehlung wird noch einmal auf die institutionellen Verschiebungen und die Kompetenzstreitigkeiten zurückzukommen sein. 3. DIE SOZIALE DIMENSION DER EUROPÄISCHEN INTEGRATION UND DER GLOBALE GLEICHHEITSDISKURS Die europäischen Integrationsprojekte schrieben sich aufgrund der Zielstellung und der sozialpolitischen Bestimmungen in Entwicklungen der internationalen Zusammenarbeit ein. In der Nachkriegszeit wurde neben der EGKS und EWG eine Vielzahl internationaler und regionaler Organisationen gegründet bzw. in ihrem Mandat verstärkt, mit dem Ziel, weitere humanitäre Katastrophen und militärische Auseinandersetzungen zu verhindern, den sozialen Fortschritt zu fördern und eine demokratische Nachkriegsordnung und die Wirtschaft wieder aufzubauen. Für die Mitgliedstaaten der EGKS und EWG besonders relevant waren wegen der multiplen Mitgliedschaften und Überschneidungen der Kompetenzfelder z.B. die UNO (1944), die NATO (1949), die OEEC (1948), der Brüsseler Pakt (1948) und der Europarat (1949).59 Im Bereich der Sozialpolitik nahm der Menschenrechts- und Gleichheitsdiskurs als „verbindliche[s] soziale[s] Leitbild“60 einen zentralen Stellenwert in der internationalen wie regionalen Zusammenarbeit ein. Wie schon am Beispiel der Neuausrichtung der Wohlfahrtsstaaten (Kap. I, 1) beschrieben, wurden soziale Rechte nach 1945 verstärkt als Grundrechte wahrgenommen. Die Idee sozialer Rechte als Menschenrechte wurde auch in den Gründungsverträgen internationaler Organisationen wie der EGKS und der EWG festgeschrieben. Die soziale Gerechtigkeit sollte einen Beitrag zu einer friedlichen Nachkriegsordnung leisten. Im EWGV hieß es in Art. 2: „Aufgabe der Gemeinschaft ist es, durch die Errichtung
S. 196f., 200; Rasmussen: Supranational Governance in the Making, in: Kaiser/Leucht/Rasmussen (Hg.): The History of the European Union, New York/London 2009, S. 47; Knudsen/Rasmussen: A European Political System, in: Journal of European Integration History, Bd. 14, Nr. 1, 2004, S. 59–62. 58 Ludlow: The Eclipse of the Extremes, in: Loth (Hg.): Crises and Compromises, BadenBaden/Brüssel 2001, S. 260, allgemein S. 254–260. 59 Gasteyger, Curt Walter: Europa zwischen Spaltung zur Einigung. Darstellung und Dokumentationen 1945–2005, Bonn 2005, S. 57, 60f., 63f. 60 Hampel: Sozialpolitik, Kiel 1955, S. 2.
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eines Gemeinsamen Marktes […] eine beschleunigte Hebung der Lebenshaltung […] zu fördern.“61 Aufgrund der sozialpolitischen Bestimmungen wurden die EKGS und die EWG von BeobachterInnen dezidiert als Antidiskriminierungs-Projekt wahrgenommen. Einschränkend muss dabei erwähnt werden, dass von der Gleichheit und dem Diskriminierungsverbot nur jene Europäer profitieren sollten, die als ArbeitnehmerInnen oder Angehörige von ArbeitnehmerInnen in den Gemeinsamen Markt eingebunden waren: „Le marché commun du travail, c’est l’abolition de toute discrimination à l’emploi, fondée sur la nationalité […] ; c’est l’élimination de toutes les autres discriminations (découlant de la sécurité sociale, etc…) qui créent des inégalités artificielles entre les travailleurs […].“62
Bereits in der Aufbauphase der EGKS stellte sich die Frage, in welchem Umfang die Regionalorganisationen berechtigt waren, das Diskriminierungsverbot und die Gleichheit der Europäer durch eigene Normen bzw. durch eine Angleichung der sozialen Standards umzusetzen. BeobachterInnen des Integrationsprojekts diskutierten im Wesentlichen zwei Wege: die Normsetzung durch die Gemeinschaftsorgane oder die Koordinierung der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit mit Unterstützung bestehender internationaler Organisationen. Als geeigneter Partner erschien dabei vor allem die ILO.63 Die ILO als Weltsozialorganisation Die ILO hatte sich seit ihrer Gründung im Jahr 1919 als die „Weltsozialorganisation“64 etabliert. Ursprünglich sollte die Organisation mit Sitz in Genf die Forderungen der Arbeiterbewegung und einiger Sozialreformer nach einer internationalen Regulierung von Arbeitsnormen erfüllen und soziale Kämpfe beruhigen.65 Die ILO-Normen können die Form verbindlicher Übereinkommen oder unverbindlicher Empfehlungen und Resolutionen annehmen. Über die Rechtsakte entscheidet einmal jährlich die Internationale Arbeitskonferenz (IAK) als Legislative der ILO, die aus VertreterInnen der Regierungen, der ArbeitnehmerInnen und der ArbeitgeberInnen zusammentritt. Das Arbeitsprogramm der ILO wird vom Verwaltungsrat (Exekutive) bestimmt und an das Internationale Arbeitsamt überstellt. Das Internationale Arbeitsamt (IAA) und seine Abteilungen fungieren als 61 EWGV, Art. 2, S. 169. http://eur-lex.europa.eu/de/treaties/dat/11957E/tif/TRAITES_1957_ CEE_1_XM_0176_x222x.pdf , allgemein: Ritter: Der Sozialstaat, München 1989; Hampel: Sozialpolitik, Kiel 1955, S. 2f. Hampel nennt vor allem als Referenzen die Erklärung von Philadelphia, die Atlantik-Charta und die AEMR. 62 Delpérée, Albert: L’organisation des mouvements de main-d’œuvre dans la communauté européenne du charbon et de l’acier, in: Actes officiels du Congrès International d'Etudes sur la Communauté Européenne du Charbon et de l'Acier, Mailand 1958, S. 321–378, hier S. 326; Vgl. auch Wobbe/Biermann: Von Rom nach Amsterdam, Wiesbaden, 2009, S. 17. 63 Vgl. Ramadier: Die europäische Integration, in: Sozialer Fortschritt, Bd. 4, 1954, Nr. 1, S. 8. 64 Maul: Menschenrechte, Essen 2007, S. 17. 65 Vgl. ebenda, S. 43.
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Verwaltungs- und Dokumentationszentrum, in dem Berichte und Statistiken erstellt, die technische Zusammenarbeit und die Beratung der Mitgliedstaaten koordiniert werden. Das IAA erarbeitet zudem die Grundlagen der Rechtsakte, über die dann die IAK berät.66 Die ILO trat nach dem Zweiten Weltkrieg als zentrale Akteurin in der Aufwertung sozialpolitischer Ziele und der Entwicklung des Menschenrechtsdiskurses hervor. Als gegen Ende des Zweiten Weltkriegs die Bereitschaft der Großmächte wuchs, eine friedliche und gerechte Nachkriegsordnung auf der Grundlage internationaler Übereinkommen zu errichten, erwies sich das Konzept der Menschenrechte besonders anschlussfähig. Die Menschenrechte konnten als „Grundbegriff der internationalen Politik“67 den Schutz gegen staatliche Willkür begründen. Allerdings koexistierten und konkurrierten in der Arena internationaler Organisationen unterschiedliche Interpretationen des Menschenrechtsbegriffs. Auch sei daran erinnert, dass die Festschreibung der Menschenrechte in internationalen Übereinkommen macht- und sicherheitspolitisch motiviert war und keine effizienten Mechanismen zur Umsetzung festgeschrieben wurden.68 Der ILO gelang es, ihre Ressourcen und ihre Expertise in die Gestaltung der Nachkriegsordnung und die Ausdeutung des Menschenrechtskonzepts einzubringen. Denn anders als der Völkerbund, an den die ILO formal gebunden war, hatte sie ihr Ansehen während des Zweiten Weltkriegs wahren können. Die organisatorische Kontinuität wurde durch die Angliederung der ILO als erste Sonderorganisation an die UN 1946 bekräftigt.69 Die Mitgestaltung der Nachkriegsordnung durch die ILO wurde durch ihre „organisatorisch-programmatische Neugeburt“70 auf der Internationalen Arbeitskonferenz in Philadelphia im Jahr 1944 möglich. In der Declaration of Philadelphia71 erklärte die ILO die Steigerung der Produktivität und des Konsums zu wichtigen Voraussetzungen, um den sozialen Fortschritt (v.a. in „unterentwickelten“ Regionen) zu ermöglichen. Nach Jason Guthrie basierte die Neuausrichtung auf dem fordistisch-keynesianischen Modell. Die ILO wollte durch technische Hilfsprogramme die Produktivität und Effizienz steigern, um so auf die Vollbeschäftigung hinzuwirken, den allgemeinen Lebensstandard zu heben und soziale Gerechtigkeit zu schaffen. Damit erweiterte die ILO ihr Aufgabenspektrum von einer normgebenden zu einer operativen Organisation. Die operativen Programme 66 Bis heute unterscheidet sich die ILO organisatorisch durch die Dreigliedrigkeit von anderen internationalen Organisationen. 67 Hoffmann: Einführung, in: Ders. (Hg.): Moralpolitik, Göttingen 2010, S. 26. 68 Vgl. Eckel: Utopie der Moral, in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 49, 2009, S. 443–447. 69 Vgl. Guinand: Die Internationale Arbeitsorganisation, Bern 2003, S. 3f.; Maul: Menschenrechte, Essen 2007, S. 43, 54f. 70 Maul: Menschenrechte, Essen 2007, S. 109. 71 Die Erklärung von Philadelphia wurde später in die Verfassung der ILO aufgenommen. Vgl. vor allem Art. 2 § a, b, d, Art. 3 § a, h, j, Art. IV: Annex der ILO-Verfassung: Declaration concerning the aims and purposes of the International Labour Organisation (Declaration of Philadelphia), http://www.ilo.org/ilolex/english/constq.htm, Letzter Zugriff 03.01.2013. Vgl. Maul, Menschenrechte, Essen 2007, S. 66–120.
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hatten auch eine strategische Funktion: In Anbetracht der Systemkonkurrenz sollte die Bevölkerung (v.a. der postkolonialen Länder) durch Vollbeschäftigung und sozialen Ausgleich von demokratischen Werten überzeugt werden. Zugleich konnte die ILO damit ihren Anspruch bekräftigen, die globale sozialpolitische Agenda mitzugestalten. Die Erklärung von Philadelphia bedeutete nicht nur eine programmatische Neuausrichtung der ILO, sondern stand auch für die Kodifizierung ihres Menschenrechtskonzepts. In der Erklärung von Philadelphia wurde der Anspruch formuliert, dass alle Menschen, ungeachtet ihrer Rasse, ihres Glaubens oder ihres Geschlechts, ein Recht auf ein Leben in Freiheit und Würde, ökonomischer Sicherheit und Chancengleichheit haben. Als erste internationale Organisation definierte die ILO die Chancengleichheit als Voraussetzung des sozialen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritts. Dieser integrative Menschenrechtsansatz sollte in der Nachkriegszeit zum Kernstück internationaler Übereinkommen wie der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN (1948) oder der Europäischen Konvention der Menschenrechte und Grundfreiheiten des Europarats (1950) werden.72 Die ILO-Prinzipien wurden dann 1945 durch die Gründung der Vereinten Nationen und 1948 in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte legitimiert. Auch der 1966 verabschiedete Sozialrechtspakt und Bürgerrechtspakt stehen für die Erweiterung des Menschenrechtskonzepts um wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Es soll an dieser Stelle nicht darum gehen, eine Erfolgsgeschichte des Menschenrechtsgedankens zu zeichnen. Vielmehr soll gezeigt werden, dass die ILO als eine Akteurin betrachtet werden kann, die ihre Menschenrechtsnorm in internationale Deklarationen einschreiben konnte.73 Im Zuge der Dekolonialisierung setzte sich die „Aufwertung“ der sozialen Rechte in der internationalen Zusammenarbeit bzw. in internationalen Übereinkommen weiter fort. Dies wird u.a. am Entwicklungshilfediskurs deutlich. Die UN hatten die 1960er Jahre zur Entwicklungsdekade ausgerufen und ein Programm zur internationalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit angestrengt. Mitte der 1960er Jahre setzte sich die Auffassung durch, dass das Armutsproblem der 72 Die ILO hatte Mitarbeiter des Internationalen Arbeitsamts ins Autorenteam der AEMR entsandt. Vor allem Art. 22 (Recht auf soziale Sicherheit) und Art. 23 (Recht auf Arbeit und gleichen Lohn) tragen die Handschrift der ILO. Vgl. dazu Maul: Menschenrechte, Essen 2007, S. 258f., 263. An dieser Stelle sei auch darauf verwiesen, dass der Ansatz der ILO maßgeblich von internationalen Frauenverbänden mitgestaltet wurde. Vgl. dazu Stienstra: Women's Movements, Basingstoke 1994. Vgl. Zur Neuausrichtung Guhtrie, Jason: The ILO and the International Technocratic Class, 1944–1966, in: Kott, Sandrine/Droux Joëlle (Hg.): Globalizing Social Rights. The International Labour Organization and Beyond, Basingstoke 2013, S. 115- 134, bes. S. 121–123, 126f. 73 Vgl. Köhler: Internationale Sozialpolitik, in: Ruck/Boldorf (Hg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland, Baden-Baden 2007, S. 839f. Es zeigte sich allerdings, dass zwischen der normativen Erweiterung des Menschenrechtsansatzes und der Bereitschaft zur Umsetzung enorme Unterschiede bestanden. Nach der Verabschiedung dauerte es noch bis 1976, bis der Pakt die vorgeschriebene Anzahl von Ratifizierungen erreichte und in Kraft trat. Unter den EWG-Mitgliedstaaten gehörte zunächst nur die BRD zu den Unterzeichnerstaaten.
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postkolonialen Länder nicht allein durch wirtschaftliches Wachstum zu beheben sei, sondern umfassende sozialpolitische Konzepte erfordere. Die Zusammenführung wirtschaftlicher und sozialer Maßnahmen fand sowohl institutionell als auch programmatisch ihren Niederschlag.74 Im Programm der Zweiten UN-Entwicklungsdekade wurde die sozialpolitische Dimension der Entwicklungsstrategie dann festgeschrieben. „Darin wird das Wohlbefinden des Individuums als übergeordnetes Ziel der Entwicklungspolitik benannt.“75 Wie sich zeigt, war die Neubewertung sozial- und wirtschaftspolitischer Ziele ein internationales Phänomen, das nicht nur in der EWG beobachtet werden konnte. Die Europäische Integration als Herausforderung der ILO Der Auftrag der EGKS und der EWG, Ungleichheiten zwischen den ArbeitnehmerInnen im Gemeinsamen Markt zu beseitigen, stand im Widerspruch zu den geringen supranationalen Kompetenzen im Bereich der Sozialpolitik. Daher wurde diskutiert, ob eine sozialpolitische Harmonisierung in der EWG mit Unterstützung der ILO geleistet werden sollte, oder ob eine Koordinierung durch die supranationalen Organe sinnvoller war. BeobachterInnen des Integrationsprozesses verwiesen auf die Gefahr, durch eigene Sozialstandards einen „europäischen Sonderraum“ zu entwickeln, der sich aus „Europa“76 und der Welt herauseinige. Es erschien daher ratsam, die ILO aufgrund ihrer Erfahrung beratend heranzuziehen. Darin wurde eine Möglichkeit gesehen, die sozialpolitischen Ziele der Gemeinschaft trotz mangelnder supranationaler Kompetenzen zu erreichen. Zugleich wurde damit die Rolle der EGKS und der EWG nicht als alternative normsetzende Organisation bewertet, sondern als eine, die sich in das bestehende System internationaler Kooperation einfügen konnte: „Nous sommes en présence d’une internationalisation de la vie politique, économique et sociale qui appelle une adaptation du droit international. Cette internationalisation se manifeste […] par différentes formules d’intégration européenne parmi lesquelles la C.E.C.A. occupe une place caractéristique.“77
74 Im Jahr 1965 wurde das UN-Entwicklungsprogramm (UNDP) begründet, das alle UNAktivitäten im Entwicklungsbereich vereinte. Mit dieser Umorientierung ging auch die Umbenennung der Sozialkommission des UN-Wirtschafts- und Sozialrates in Kommission für soziale Entwicklung einher. 75 Köhler: Internationale Sozialpolitik, in: Ruck/Boldorf (Hg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland, Baden-Baden 2007, S. 838, allgemein S. 836–839. 76 Die Besorgnis war mit der Spaltung Europas im Kalten Krieg verbunden. Befürworter der Koordinierung über die ILO fürchteten, dass die Regionalorganisationen EGKS und EWG die Spaltung in Ost und West vertieften. 77 Delpérée: L’organisation des mouvements de main-d’œuvre, in: Actes officiels du Congrès International d'Etudes sur la Communauté Européenne du Charbon et de l'Acier, Mailand 1958, S. 359; Vgl. allgemein Delpérée, Albert: Soziale Aspekte der europäischen Integration, in: Sozialer Fortschritt, Bd. 4, 1954, Nr. 5, S. 102–105, bes. 104f.
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Die Koordinierung der europäischen Sozialpolitik durch die ILO erschien auch ratsam, da die Genfer Organisation von den verschiedenen Akteuren (Regierungen, Sozialpartnern) für ihre Vermittlungsleistung anerkannt wurde. Die ILO hatte sich darin bewährt, Konsenslösungen zwischen verschiedenen Interessen auszuhandeln. Neben der langen Tradition und der Anerkennung war die ILO durch die notwendigen Foren (z.B. Internationale Vereinigung für soziale Sicherheit) legitimiert. Die Sorge um ein „Herauseinigen“ der EWG aus europäischen bzw. internationalen Standards reichte gar soweit, dass die Unterstützung durch weitere Organe der OEEC, des Europarats oder der WHO angeraten wurde.78 Andere ExpertInnen gaben zu bedenken, dass die ILO-Normen in der Regel Minimalstandards waren, die von den Mitgliedstaaten der EGKS und der EWG bereits überschritten wurden. Dies wurde auf das höhere Wirtschaftsniveau und ähnliche soziale Lagen in Westeuropa zurückgeführt. VertreterInnen dieser Position standen einer Koordinierung der Sozialstandards für die europäischen Gemeinschaften durch die ILO ablehnend gegenüber und befürworteten die Normgebung durch die EGKS und EWG. Synergien zwischen der europäischen und internationalen Ebene sahen die BefürworterInnen dieser Position zu Gunsten der ILO. Die ILO sollte von dem europäischen Prozess profitieren können, um daraus höhere Weltstandards abzuleiten. Tatsächlich sollten ILO-MitarbeiterInnen das Verhältnis ihrer Organisation zur EWG später ähnlich einschätzen.79 In der Gründungsphase der europäischen Regionalorganisationen war zunächst offen, wie sich das Verhältnis zwischen der ILO und der EKGS/EWG entwickeln sollte. Die ILO war bemüht, aufgrund ähnlicher sozialpolitischer Zielstellungen der EGKS, eine gemeinsame Kooperation im Gründungsvertrag der Gemeinschaft festschreiben zu lassen. VertreterInnen der ILO fürchteten vor allem, im Bereich der sozialen Sicherheit Zuständigkeiten an die EGKS zu verlieren. Die Verhandlungspartner wiesen die Forderung der ILO ab, mit der Begründung, die Sozialpolitik und die Arbeitsrechtsnormen seien keine Kernaufgabe der Gemeinschaft. Die ILO-Funktionäre intensivierten ihre Kooperationsersuchen daraufhin, wandten sich aber nun an die neu eingesetzte Hohe Behörde der EGKS, in der sie eine zukünftige starke Partnerin vermuteten. Im Jahr 1953 schlossen die ILO und die Hohe Behörde schließlich ein Kooperationsabkommen.80 Das Abkommen vom 26.06.1953 sah die gegenseitige Konsultation und Präsenz in den Ausschüssen, den Austausch von Dokumenten und Informationen und die Gewährung technischer Unterstützung durch die ILO an die EGKS vor, enthielt aber nur wenige bindende Vorschriften. Ab 1953 arbeiteten die Institutionen vor allem gemeinsam an dem Abkommen über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer. In diesem Bereich hatte sich die ILO bereits im Rahmen des Mar78 Vgl. Hampel: Sozialpolitik, Kiel 1955, S. 6–8. 79 Vgl. ebenda, S. 29f.; Ramadier: Die europäische Integration, in: Sozialer Fortschritt, Bd. 4, 1954, Nr. 1, S. 9. 80 Vgl. Boldt, Gerhard: Arbeitsrechtliche Probleme in den Ländern der Montanunion. Bericht, in: Actes officiels du Congrès International d'Etudes sur la Communauté Européenne du Charbon et de l'Acier, Mailand 1958, S. 7–55, bes. S. 52–55.
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shallplans empfohlen, als sie sich gegenüber den europäischen Staaten als Informationsstelle für Fragen der Beschäftigungspolitik, der Arbeitsmigration und der Berufsausbildung präsentiert hatte. Die ILO unterstrich damit einen ab 1948 in die Wege geleiteten Profilwechsel von der normsetzenden zur operativen Organisation. Ab 1955 gestaltete sich die gemeinsame Arbeit im Bereich der Wanderarbeit aber immer schwieriger. Die ILO forderte, an allen Sitzungen der Hohen Behörde und des Ministerrats als vollwertiges Mitglied teilnehmen zu dürfen, was auf Seiten einer immer autonomeren EGKS auf Unverständnis stieß.81 Auch wurden die ILO-Normen als Grundlage einer europäischen Sozialpolitik abgelehnt. Die belgische Regierung hatte 1955 vorgeschlagen, dass alle Mitgliedstaaten die ILO-Übereinkommen Nr. 1, 52, 63, 81, 87, 88, 95, 96, 97, 98, 100, 102 unterzeichnen sollten. Dieser Vorschlag konnte sich jedoch nicht durchsetzen. Die Zusammenarbeit der EKGS und der ILO schien damit die zweite beschriebene Option anzunehmen, d.h. die Entwicklung der Regionalorganisation zu einem eigenständigen standard setter: „[…] using the ILO to create common standards among the Member States was rejected in favour of an idependent regional system.“82 Die Position der Genfer Organisation in Europa entwickelte sich ab Mitte der 1950er Jahre immer weniger förderlich. Die ILO-Führung debattierte lange Zeit, ob sie auch in Europa dem strukturellen Trend der Regionalisierung ihrer Arbeit folgen sollte. Wie in anderen Weltteilen sollte eine Regionalkonferenz einberufen werden. Die Frage wurde aber immer wieder hinausgeschoben. Eine erste europäische Konferenz im Jahr 1955 wurde als Desaster wahrgenommen. Danach zeigte sich die ILO lange Zeit verunsichert und war nicht in der Lage, ein konkretes, kohärentes Konzept für die europäische Sozialpolitik zu präsentieren. Dabei wurden Fragen, die aus der wirtschaftlichen Integration oder im Bereich der sozialen Sicherung entstanden, durchaus intern thematisiert.83 Das schwindende Engagement der ILO in Europa bzw. deren Behäbigkeit hatte verschiedene Ursachen. Zum einen wandelten sich in den 1960er Jahren die Zusammensetzung der Gremien und das Aktionsfeld der ILO im Zuge der Dekolonialisierung entscheidend. Auch wenn die europäischen Staaten nie die absolute Mehrheit im Verwaltungsrat und der Internationalen Arbeitskonferenz hatten, verloren sie durch den massiven Beitritt postkolonialer Staaten erheblich an Entscheidungsgewalt. Die veränderte Stimmverteilung führte dazu, dass die ILO ihr Engagement auf die postkoloniale Welt konzentrierte und dort vor allem techni81 Im Gesamtbericht der Hohen Behörde von 1953/54 sei von einer intensiven Zusammenarbeit auf Grundlage des Abkommens berichtet worden. Vgl. dazu Daig, Hans-Wolfram: Die Formen der bisherigen Beziehungen zwischen der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) und anderen Staatenverbänden, in: Actes officiels du Congrès d’études sur la C.E.C.A., 31. Mai–9. Juni, Mailand, Bd. 3, La communauté, les pays tiers et les organisations internationales, Mailand 1958, S. 127–144, bes. S. 142; Vgl. auch Maul: Menschenrechte, Essen 2007, S. 168–184; Guinand: Die Internationale Arbeitsorganisation, Bern 2003, S. 279– 287. 82 Johnson: European Welfare States, Basingstoke 2005, S. 156. 83 Vgl. Guinand: Die Internationale Arbeitsorganisation, Bern 2003, S. 287–306.
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sche Unterstützung leistete, zum Nachteil der Normsetzung durch Übereinkommen. Zudem wollte es die Führung der ILO unter den Umständen des Kalten Krieges vermeiden, in Europa Partei für einen der Blöcke zu ergreifen. Die europäischen Regionalkonferenzen sollten daher auch die Sowjetunion und die Ostblockstaaten einbeziehen, wenngleich die ILO fürchtete, damit politische Auseinandersetzungen zu provozieren, was 1955 auf der Konferenz bestätigt wurde. Auch deshalb konnte sich die ILO zu keiner aktiven europäischen Politik überwinden und musste mit ansehen, wie andere internationale bzw. supranationale Organisationen ihren Platz einnahmen (OECD, EGKS/EWG).84 Die ILO versuchte trotzdem weiterhin die Projekte der Europäer zu begleiten und so wurde auch zwischen der EWG und der Genfer Organisation ein Kooperationsabkommen geschlossen (1958). Dieses Abkommen bildete die Grundlage für den Austausch zwischen den Generaldirektionen und den Arbeitsabteilungen des IAA. Unter den ILO-Dienststellen, die der Kommission für eine Zusammenarbeit relevant erschienen, wurden u.a. die Abteilungen Arbeitskräfte, Berufsbildung, Arbeitsmigration und Frauen- und Jugendarbeit genannt.85 Die Zusammenarbeit zwischen der ILO und der EWG sollte ab 1961 in einem Permanenten Kontaktausschuss verstetigt werden. Ein erstes Arbeitstreffen fand 1962 statt und berührte die Themen Zusammenarbeit im Fortbildungsbereich, im Arbeits- und Gesundheitsschutz, die technische Zusammenarbeit in Afrika und die Verteilung finanzieller Belastungen. Die EWG-Kommission schlug zudem eine Harmonisierung der Systeme der sozialen Sicherheit vor (darunter fiel z.B. Schutz von Frauen und Kindern), woraufhin die ILO ihre Expertise anbot. In der folgenden Zeit kamen die Treffen des Kontaktausschusses nur noch auf die Initiative der ILO zustande und blieben oft ergebnislos. In den Sechzigerjahren brachte die Zusammenarbeit kaum Ergebnisse: „From 1958 until the early 1970s, relations between the EEC and the ILO were comparatively quiescent.“ Allerdings berief sich die Kommission auf die Traditionen und die Agenda der ILO: “The Commission, from the first, adopted a strongly internationalist rhetoric, claiming to share the ILO’s goal of social justice.“86 Der Kommissar für Soziale Angelegenheiten, Lionello Levi Sandri, betonte 1964 auf der Internationalen Arbeitskonferenz, dass keine regionale oder internationale Organisation umhin komme, sich mit der ILO auseinanderzusetzen. Vor allem die Agenda der ILO werde aufmerksam wahrgenommen: „[...] le Rapport présenté par le Directeur Général fournit-il une excellente occasion de réfléchir à des problèmes et à des solutions dont l’importance ne saurait être déniée dans les circonstances actuelles, […].“87
84 Vgl. ebenda, S. 341–346; Maul: Menschenrechte, Essen 2007, S. 314f. 85 Vgl. Direction générale des affaires sociales, Direction de la main-d’œuvre, Division de l’emploi: Note de M. Besse à M. Lambert, Directeur, Bruxelles, 21. April 1959, in: HAEU BAC007/1967–13, S. 264f. 86 Beide Zitate nach Murray: Transnational Labour Regulation, Den Haag u.a. 2001, S. 98. 87 Projet de discours de M. Levi Sandri, 48ème session de la Conférence Internationale du Travail, Bruxelles 16. Juni 1964, in: HAEU BAC 007/1967–1, S. 116–126, hier S. 117.
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Eines der Themen, das von der ILO auf die internationale sozialpolitische Agenda gesetzt und von der Kommission aufgegriffen wurde, umfasste die Frauenerwerbsarbeit. Dieser Bezug zur Tradition der ILO kann wiederum auch strategisch bewertet werden, da das Agendasetting der Kommission dadurch an Legitimation gewann. Es sollte nicht unterschätzt werden, dass die Kommission auf Basis der Kooperation über die Agenda und Ordnungsvorstellungen der ILO informiert war. Engere Arbeitskontakte entstanden vor allem auf der Basis persönlicher Beziehungen. Die ILO unterstützte die Kommission vor allem in der technischen Arbeit, d.h. sie stellte im Auftrag der Kommission allerhand Berichte und Statistiken zusammen, z.B. über die Berufsgruppen der Migranten, Listen von Berufskrankheiten, etc.88 Der einzige Bereich, in dem von einer „erfolgreichen“ Kooperation gesprochen werden konnte, umfasste die soziale Sicherheit. Die ILO-ExpertInnen überarbeiteten die Fassungen der Verordnungen, jedoch nur in dem von der EWGKommission zugelassenen Rahmen. Es sollte aber auch bedacht werden, dass die Zurückhaltung der Kommission in den institutionellen Unsicherheiten begründet war.89 Aus Perspektive der ILO besetzte die EWG immer stärker ihre Aktionsfelder. So wurde beispielsweise eine Konferenz über die soziale Sicherheit (10.– 15.12.1962) als Ersatz für eine ILO-Regionalkonferenz wahrgenommen, da sowohl VertreterInnen der Ministerien als auch der Sozialpartner teilnahmen. Auf der Konferenz wurde das Anliegen formuliert, die Harmonisierung der europäischen Systeme der sozialen Sicherheit voranzubringen und das Projekt der Kommission unterstrichen, auf Basis des Art. 118 soziale Aspekte stärker in die Gemeinschaftspolitik einzubinden.90 Die erkalteten Beziehungen zwischen der ILO und der Kommission wurden auf die unterschiedlichen Arbeitsbedingungen der Institutionen zurückgeführt. Die Kommission war um schnelle Resultate bemüht, um den Aufbau des Gemeinsamen Marktes voranzutreiben. Die Entscheidungswege der ILO über den Verwaltungsrat verliefen dafür zu langsam. Die unterschiedlichen Aufgaben und Gründungsumstände mögen dazu beigetragen haben, dass die Kooperation zwischen der ILO und den Europäischen Gemeinschaften nicht recht gelingen wollte. Die ILO war sozial und universal ausgerichtet, während die EGKS bzw. EWG vordergründig die ökonomische Entwicklung in Europa erfassten. Die ILO konnte sich nach dem Zweiten Weltkrieg zwar noch an sozialpolitischen Projekten in Europa beteiligen, musste dann aber vor der Schnelligkeit der europäischen Integration kapitulieren, da ihre Kräfte in anderen Regionen gebunden waren.91 88 Vgl. Murray: Transnational Labour Regulation, Den Haag u.a. 2001, S. 88–91; Mémorandum sur la collaboration entre l’Organisation Internationale du Travail et la Communauté économique européenne, 1962, in: HAILO Z 15/15/1 J.1. o.S. 89 ILO-MitarbeiterInnen sahen in der institutionellen Krise der EWG eine Ursache für die seltene Zusammenarbeit und hofften, dass die ILO in zukünftige Projekte wieder stärker eingebunden werde. Vgl. dazu Lemoine: Co-operation between the ILO and the European Community (Note for the Director General), 22.11.1971, in: HAILO Z 15/15/1 J.2, S.1. 90 Vgl. Guinand: Die Internationale Arbeitsorganisation, Bern 2003, S. 414–423. 91 Vgl. ebenda, S. 425f., 443f.
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MitarbeiterInnen der ILO nahmen Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre sensibel eine Verlagerung der sozialpolitischen Kompetenzen wahr. Internen Berichten zufolge wurde die EWG immer stärker als sozialpolitische Normgeberin und sogar als Vorbild für ILO-Projekte wahrgenommen. Die ILO-MitarbeiterInnen mussten eingestehen, dass die EWG über technische und kognitive Voraussetzungen zur Planung sozialpolitischer Maßnahmen verfügte, die das Niveau der ILO überstiegen: „the communities have both the expertise and resources, and the direct means of action to promote and implement a dynamic social policy, which far exceed those of the ILO.“92 Dem standen die mangelnden personellen und finanziellen Ressourcen der ILO gegenüber, so dass sich die ILO-MitarbeiterInnen gegenüber den Anfragen der EWG überfordert und verunsichert zeigten. Durch die Hinwendung auf soziale Probleme in den postkolonialen Ländern hatte die ILO an Attraktivität für die EWG verloren. Mehr noch, die Richtung des Informations- und Wissensaustauschs schien sich gar umgekehrt zu haben. Die ILO-MitarbeiterInnen sahen in der Kommission eine kompetente Ansprechpartnerin für Probleme der regionalen Entwicklung, der Beschäftigungssituation älterer und weiblicher Arbeitnehmer, der Verbesserung der Berufsberatung und -orientierung. Dies waren Themen, die einst von der ILO besetzt wurden, aber in denen die EWG aus der Perspektive der ILO-MitarbeiterInnen erfolgreiche Initiativen anschieben konnte. Auch hinsichtlich des Umgangs mit den sozialen Folgen von Binnenmarktprojekten erschien die EWG als lehrreich.93 Dennoch hielt die ILO an der Zusammenarbeit fest, um ihren Anspruch auf die Mitgestaltung des sozialen Europas zu behaupten. Vor allem in der Aufwertung der Sozialpolitik infolge der ersten Erweiterung sahen ILO-MitarbeiterInnen eine Chance, sich stärker einbringen zu können. Sie gingen davon aus, dass die EWG zukünftig auf die Unterstützung der ILO angewiesen sei, weil die ehemals sechs Mitgliedstaaten im Zuge der Erweiterung mit anderen sozialpolitischen Traditionen konfrontiert wurden. In der Überwindung sozialpolitischer Unterschiede lag gerade die Kernkompetenz der ILO. Eine intensivere Zusammenarbeit werde zudem erforderlich, da der Erfolg der Integration an die Unterstützung der ArbeitnehmerInnen gebunden sei. Diese könne leichter durch eine Zusammenarbeit mit der ILO gewonnen werden. Zwar verfügte die EG über die besseren Ressourcen und die nötige Expertise, um sozialpolitische Initiativen anzustrengen, aber die ILO verfüge über das größere „moral prestige“, vor allem über die Akzeptanz seitens der ArbeitnehmervertreterInnen.94
92 Lemoine, 22.11.1971, in: HAILO Z 15/15/1 J.2, S. 4. 93 Vgl. Question II du projet d’ordre du jour, Coopération dans le domaine sociale. A) Développement de la politique sociale communautaire, ca. 1970, in: HAILO IGO 051–2–1, o.S.; Watson an Béguin, Minute Sheet, Comité Permanent de contact BIT/CEE, Note pour Mr. Blanchard, 27.10.1970, in: HAILO IGO 051–2–1, o.S. 94 Vgl. Lemoine, 22.11.1971, in: HAILO Z 15/15/1 J.2, S. 4, 7f.; Blanchard au Directeur Général, Minute Sheet, 8.1.1971, in: HAILO IGO 051–2–1, o.S.; Lemoine an Blanchard, Minute Sheet, 18.12.1970, in: ILO IGO 051–2–1, o.S.
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Der Organisations- und Aufgabenwandel der ILO und die unterschiedlichen institutionellen Rahmenbedingungen schienen eine Entwicklung zu begünstigen, aus der die EG bzw. die Kommission spätestens mit dem sozialen Aktionsprogramm als regionale Normgeberin hervorgehen konnte. Die Rolle der ILO blieb in vielen Feldern auf die technische Zusammenarbeit und auf die moralische Instanz beschränkt.95 In manchen Politikbereichen, so wird an der Mutterschutzdebatte zu sehen sein, wurden ILO-Standards von der Kommission gar aufgegriffen, ohne explizit die Referenz zu benennen. Murray zeigte ähnliches für die Arbeitszeitempfehlung der EG von 1975. Darin wurden ILO-Standards reproduziert, ohne den Bezug zu benennen. Murray sah darin einen Bruch in der internationalen Sozialpolitik, d.h. das Reißen des Bandes zwischen der EG und ihrer globalen Referenz.96 Andererseits könnte man die Sozialpolitik der EG/EU als Umsetzung der ILO-Agenda bewerten, berücksichtigt man die Orientierung am globalen Gleichheitsdiskurs: „The concrete policy activity of the early days of the ECSC and the EEC were inspired directly by the ILO, and the goals of EU policy-making hold much in common with the Preamble of the ILO constitution.“97
Johnson bemerkte, dass die Initiativen und Entscheidungen zur Arbeitsmigration, zur Weiterbildung, zur sozialen Sicherheit, zum Arbeits- und Gesundheitsschutz, zum Arbeitsrecht, zur Geschlechtergleichheit und zur Nicht-Diskriminierung am Arbeitsplatz in einem frühen Stadium auf die Agenda der ILO bezogen waren.98 Aber nicht nur inhaltlich lassen sich Parallelen zwischen der ILO und der EWG feststellen. Vor allem in der Arbeitsweise des IAA und der EWGInstitutionen (Kommission, Parlament, Ausschüsse) lassen sich große Ähnlichkeiten erkennen. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die ILO durch ihre Neuausrichtung ein größeres Augenmerk auf die Planung wirtschaftlicher und sozialer Entwicklungen legte. Der Planungsgedanke sollte auch für die Arbeitsweise der Kommission in den 1960er Jahren bestimmend werden. Zudem griffen beide Organisationen auf die Expertise interner und externer Fachleute zurück. Sandrine Kott und Joëlle Droux wiesen jüngst darauf hin, dass die Entscheidungsprozesse innerhalb der ILO auf der Verwissenschaftlichung sozialer Probleme und der Informationssammlung beruhten und charakteristisch für die internationale Zusammenarbeit waren.99 95 Johnson zeigt den Vorsprung der EWG/EU im Bereich der Beschäftigungspolitik. Die ILO konnte erst 2002 eine „Global Employment Agenda“ verabschieden, die in weiten Teilen der Europäischen Beschäftigungsstrategie und der OECD Job Strategy glich. Vgl. Johnson: European Welfare States, Basingstoke 2005, S. 171f.; ähnliche Ergebnisse bei Murray: Transnational Labour Regulation, Den Haag u.a. 2001, S. 98. 96 Vgl. Murray: Transnational Labour Regulation, Den Haag u.a. 2001, S. 95–97. 97 Johnson: European Welfare States, Basingstoke 2005, S. 184. 98 Vgl. ebenda, S. 184. 99 Vgl. Kott, Sandrine/Droux Joëlle: Introduction: A Global History Written from the ILO, in: Dies. (Hg.): Globalizing Social Rights, Basingstoke 2013, S. 1–14.
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II. Sozialpolitik in der regionalen und internationalen Zusammenarbeit
Welche Relevanz hatte der globale Diskurs, vermittelt durch die ILO, aber in konkreten Politikbereichen? Inwiefern ähnelten sich die Agenda der ILO und die Arbeitsthemen der EWG und worauf lassen sich Parallelen zurückführen? In welchem Maße wurden internationale Standards und Wissensbestände in der EWG reproduziert und nutzbar gemacht? Konnten die Akteure der EWG internationale Normen im regionsspezifischen Kontext weiterentwickeln? Nachdem im ersten Teil der Arbeit der sozioökonomische Wandel der 1960er Jahre und die Grundlagen des Integrationsprozesses erörtert wurden, soll im Folgenden gefragt werden, inwiefern das Integrationsprojekt einen Raum eröffnete, das Geschlecht als Kategorie sozialer Ungleichheit zu thematisieren. In welchen Kontexten konnten geschlechtsspezifische Ungleichheiten als soziale Probleme erfasst werden? Es soll auch danach gefragt werden, welche Lösungen aufgezeigt wurden und in welchem Maße die Problembehandlung, z.B. durch die Einrichtung spezifischer Institutionen, verstetigt werden konnte. Inwiefern wurde die Geschlechterdifferenz als kognitives Prinzip, als Rechtfertigung für Ungleichheiten in der Arbeitswelt, im Rechtssystem und im Bildungswesen und die Rollenverteilung entlang der Trennlinie „Geschlecht“ in Frage gestellt? Diese Fragen sollen im Folgenden am Beispiel von vier Arbeitsfeldern eingehender untersucht werden, die sowohl auf der Agenda der ILO als auch der EWG standen: der Mutterschutz, die Frauenarbeit, die Aus- und Weiterbildung und die soziale Sicherung der Arbeitsmigranten. Die Untersuchung setzt vor allem bei der Kommission an, die als Motor der Gemeinschaft Themen der Gemeinschaftspolitik identifizieren, bearbeiten und schließlich Vorschläge für Rechtsakte erarbeiten konnte. Im Folgenden sollen vor allem Prozesse der Informationssammlung und Wissensproduktion berücksichtigt werden, da sie in der Definition von Politikfeldern und für die Problemlösungskompetenz besonders wichtig erscheinen.100
100 Vgl. dazu Böhling: Symbolic Knowledge At Work, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung 2009, S. 1f.
III. MUTTERSCHUTZ: EIN FALL FÜR DIE HARMONISIERUNG IN DER EWG? Der Forschungsstand lässt vermuten, dass die Kommission in den 1960er Jahren mit Blick auf das Geschlecht vor allem die Lohndifferenzen erfasste. Jedoch gerieten geschlechtsspezifische Ungleichheiten auch im Zuge der Arbeitsmarktbzw. Freizügigkeitspolitik in den Blick. Im Rahmen des Binnenmarktprojekts befasste sich die Kommission mit den unterschiedlichen Sozialversicherungsniveaus, untersuchte die Beschäftigungslage, die Entwicklung einzelner Branchen und Arbeitnehmergruppen. Dabei stellte sich die Frage, wie mehr Personen in den Gemeinsamen Markt integriert werden könnten, d.h. welche Arbeitskraftressourcen ausgeschöpft werden könnten. Zum anderen versuchte sie, Ungleichheiten zwischen den ArbeitnehmerInnen im Gemeinsamen Markt abzubauen und das Versprechen auf sozialen Fortschritt einzulösen. Über diese Zugriffe geriet auch das Geschlecht auf die Agenda der EWG. Zugleich bildet dieser Ansatz die Klammer für alle Politikfelder, die im Folgenden untersucht werden. Das Thema Mutterschutz wurde virulent, als die Kommission die Angleichung der sozialen Sicherungssysteme in Angriff nahm, um gleiche Wettbewerbsbedingungen im Gemeinsamen Markt zu schaffen. Zudem sollten Unterschiede in den Sozialversicherungssystemen ausgeglichen werden (im Sinne der Harmonisierung bzw. der progressiven Konvergenz), um den europäischen ArbeitnehmerInnen gleiche Arbeits- und Lebensbedingungen zu ermöglichen. Zwischen 1962 und 1965 ließ die Kommission vergleichende Studien über die Mutterschutzbestimmungen in den Mitgliedstaaten anfertigen, bis sie schließlich auf der Basis des Ländervergleichs im Dezember 1966 dem Ministerrat einen Empfehlungsentwurf vorlegte. Dieser Vorstoß wurde von Seiten der Mitgliedstaaten allerdings abgewehrt, so dass am Ende der Bemühungen nicht die angestrebte Empfehlung verabschiedet wurde. Im Folgenden sollen die Beweggründe der Kommission, der Inhalt des Empfehlungsentwurfs und die Stellungnahmen der anderen EWG-Gremien (WSA, Parlament) erörtert werden. Die Mutterschutzdebatte kann als Versuch der Kommission betrachtet werden, die supranationalen Zuständigkeiten im Bereich der Sozialpolitik auszudehnen. Am Beispiel der Mutterschutzinitiative soll daher das Wechselspiel institutioneller und sozialpolitischer Debatten exemplifiziert werden.
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III. Mutterschutz: Ein Fall für die Harmonisierung in der EWG?
1. MUTTERSCHAFT ALS SOZIALES RISIKO Die Forderungen nach Mutterschutz reichen bis ins späte 19. Jahrhundert zurück und sind eng mit der Problematisierung der außerhäuslichen Erwerbsarbeit von Frauen verbunden. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert wurde die Industriearbeit von Frauen und Müttern verstärkt als soziales Problem gedeutet. Vor allem die Fabrikarbeit von Frauen wurde als Gefahr für Gesundheit und Moral interpretiert, so dass ein Beschäftigungsverbot für Wöchnerinnen angestrebt wurde. Neben den moralischen und pronatalistischen Überlegungen wurden in der Mutterschutzdebatte auch Forderungen nach einer sozialen Absicherung von Müttern vorgebracht. Für die Absicherung sozialer Risiken von Frauen traten vor allem Feministinnen ein. Der Diskurs war dabei nicht auf die Nationalstaaten begrenzt, sondern wurde im Rahmen einer transnationalen Mutterschutzbewegung entwickelt. Feministinnen verschiedener Lager plädierten für ein gesetzliches Beschäftigungsverbot und damit verbundene Lohnausgleichszahlungen. Dadurch sollten die enorme Arbeitsbelastung durch Beruf und Mutterschaft und die existentiellen Folgen einer Erwerbsunterbrechung gemindert werden. Die soziale Absicherung der Mutterschaft wurde jedoch unterschiedlich begründet. Manche Befürworterinnen, wie Beatrice Webb, Eleanor Rathbone oder Käthe Schirmacher, verwiesen auf die soziale Rolle von Mutterschaft. Das Verständnis von Mutterschaft als soziale und nicht als private Aufgabe, fand von Frankreich aus Verbreitung in der transnationalen Mutterschutzbewegung. Französische Feministinnen reagierten mit dem Konzept auf pronatalistische Kräfte, welche die Vaterschaft stärken und durch Steuerfreibeträge für Ehefrauen und Kinder finanzielle Anreize für mehr Geburten setzen wollten. Auf diese Konzepte bezogen sich die französischen Feministinnen und forderten die Anerkennung der sozialen Rolle von Mutterschaft. Sie bewerteten die häuslichen Tätigkeiten von Frauen als Arbeit, die honoriert werden müsse. In einer Mutterschaftsversicherung sahen sie die Möglichkeit, den sozialen und wirtschaftlichen Beitrag der Reproduktionsarbeit anzuerkennen. Die Mutterschaftsleistung wurde somit als Umverteilung der Einkommen zwischen Männern und Frauen und als Beitrag zu einer geschlechtergerechten Lohnpolitik konzipiert. Nicht nur in Frankreich stellten die Feministinnen damit die Berechtigung eines männlichen Familienlohns und die Trennung in bezahlte und unbezahlte Arbeit in Frage. Mitunter gingen die Forderungen gar soweit, die Mutterschaftsversicherung auf alle Frauen auszudehnen und nicht nur auf erwerbstätige Frauen zu beschränken.1 Die Verfechterinnen argumentierten, dass Frauen durch eine Mutterschaftsversicherung vom Ehemann und Arbeitgeber unabhängig würden. „Gleichheit galt diesen Feministinnen nicht als Gleich-Sein, sondern als Unabhängigkeit […] und gleiche Freiheit […].“2 Die Bestrebungen für eine Mutterschaftsversicherung können dabei auch als Versuch betrachtet werden, den Anspruch auf soziale Si1 2
Vgl. Bock: Frauen in der europäischen Geschichte, München 2005, S. 224–226. Ebenda, S. 226.
III. Mutterschutz: Ein Fall für die Harmonisierung in der EWG?
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cherheit und Unabhängigkeit vom Bezug auf die Erwerbsarbeit zu lösen. Wie auch im Suffragismus wurde auf die Mutterschaft (bzw. die Möglichkeit der Mutterschaft) verwiesen, um den Anspruch auf soziale und politische Bürgerrechte und auf Partizipation zu bekräftigen. Die Feministinnen bezogen sich auf besondere Tätigkeiten und Fähigkeiten von Frauen, um Gleichheit zu beanspruchen. Die Geschlechterdifferenz als Fremdzuschreibung wurde somit in eine positive Selbstzuschreibung gewandelt und konnte als Begründung für geschlechtlich differenzierte Rechte herangezogen werden.3 KritikerInnen des Mutterschutzes sahen im Ausbau der Schutzbestimmungen hingegen eine Gefahr für die Wettbewerbsfähigkeit von Frauen. Andere kritisierten die Forderungen als unmoralisch, weil es kaum möglich sei, den Liebesdienst von Müttern monetär aufzuwiegen. Ein weiterer Kritikpunkt gründete auf der Vorstellung, dass Hausarbeit keinen volkswirtschaftlichen Wert darstelle und daher nicht entlohnt werden solle. Die Mutterschutzdebatte war eng mit der Entwicklung der europäischen Sozialstaaten verbunden. Über kurz oder lang wurde in allen europäischen Staaten Mutterschaft als soziales Risiko abgesichert. Der Verweis auf die soziale Rolle von Mutterschaft war dabei allerdings weniger entscheidend. Vielmehr wurde der gesetzliche Mutterschutz mit Bemühungen gegen die Säuglings- und Müttersterblichkeit, Abtreibungen, Geburtenrückgang und Mütterarmut verbunden. In der Aushandlung und den späteren Reformen der Mutterschutzgesetze und -bestimmungen spiegelten sich die dargestellten Konfliktlinien wider: Umstritten war, in welcher Form Mutterschaft als soziales Risiko in die allgemeinen Sozialversicherungssysteme integriert werden sollte. Sollte Mutterschaft als Krankheit betrachtet werden und die damit verbundenen Kosten und Leistungen über die Krankenversicherung getragen werden? Sollten alle Versicherten für die Leistungen aufkommen, oder nur die versicherten Frauen? Welche Leistungen sollten gewährt werden? Welche Schutzfristen sollten gelten? Welche Frauen sollten von der Versicherung erfasst werden: alle Frauen oder nur die Berufstätigen? Eng damit verbunden war die Frage, ob es legitim sei, dass der Staat auch ledige Mütter unterstützte oder ob aus moralischen Überlegungen nur verheiratete Frauen Anrecht auf die Leistungen haben sollten.4 An den Bestimmungen zum Mutterschutz lässt sich beispielhaft nachvollziehen, wie die Geschlechterordnung als Strukturelement im Arbeits- und Sozialrecht verankert und Männern und Frauen unterschiedliche Teilhabechancen zugewiesen wurden. Das „geschlechtsspezifisch ausgelegt[e] sozial[e] Ordnungsmodell“5 wurde in die sozialrechtliche Ordnung eingeschrieben. In den meisten Staaten, die später zu den Gründungsmitgliedern der EWG zählen sollten, war der Geltungsbereich des Mutterschutzes zunächst auf Industriearbeiterinnen beschränkt. In 3 4
5
Vgl. ebenda, S. 195–197. Vgl. ebenda, S. 233; Bock, Gisela: Weibliche Armut, Mutterschaft und Rechte von Müttern in der Entstehung des Wohlfahrtsstaats 1890–1950, in: Thébaud, Françoise (Hg): Geschichte der Frauen, 20. Jh. Frankfurt/Wien, 1995. S. 427–461, hier S. 428–430, 436–441. Hausen, Karin: Geschlechtergeschichte als Gesellschaftsgeschichte, Göttingen 2012, S. 211.
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III. Mutterschutz: Ein Fall für die Harmonisierung in der EWG?
Deutschland wurde beispielsweise in der Gewerbeordnung von 1878 ein obligatorischer Mutterschaftsurlaub von drei Wochen festgeschrieben, in Italien galt für Industriearbeiterinnen ab 1907 ein Beschäftigungsverbot nach der Entbindung. Sukzessive wurde die Dauer der Beschäftigungsverbote erweitert und ein Anspruch auf Lohnersatz eingeführt (Deutschland ab 1883, Italien ab 1910). Der Mutterschutz wurde über die Krankenversicherung in das Sozialversicherungssystem integriert, so dass das soziale Risiko der Mutterschaft von der Gemeinschaft getragen wurde. Zugleich wurde der Geltungsbereich dadurch auf Arbeitnehmerinnen beschränkt. Im Rahmen der Krankenversicherung wurden Schwangeren und Wöchnerinnen ein Beschäftigungsschutz, Lohnausgleichszahlungen und die Kostenübernahme medizinischer Versorgung gewährt. Zwar wurden bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts der Berechtigtenkreis und die Leistungen immer weiter ausgedehnt, sie konnten aber weiterhin nur von Versicherten und Angehörigen versicherter (männlicher) Arbeitnehmer in Anspruch genommen werden.6 1.1 Mutterschutz als Aspekt der sozialen Sicherheit in der EWG Was veranlasste schließlich in den 1960er Jahren die Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, sich mit dem Thema Mutterschutz auseinanderzusetzen und eine Koordinierung auf supranationaler Ebene vorzuschlagen? Maßgeblich für die Thematisierung des Mutterschutzes in der Gemeinschaft war die spezifische Auslegung des Gründungsvertrags durch die Kommission. Die Kommission zeigte sich unter der Leitung von Walter Hallstein überzeugt, dass der Sozialpolitik im EWG-Vertrag eine Eigenständigkeit zugesprochen werde und die Gewährung der sozialen Sicherheit deshalb ein selbständiges Ziel der Gemeinschaft sei. Im Sinne der Angleichung der Lebens- und Arbeitsbedingungen vor allem aber wegen des Prinzips der Freizügigkeit müssten daher auch die Verwaltungs- und Rechtsvorschriften im Bereich der sozialen Sicherheit angeglichen werden.7 Überzeugt von der „sozialen Verantwortung“8 der Gemeinschaft und dem Handlungsbedarf im Bereich der sozialen Sicherheit gab die Kommission schon in ihrem Ersten Gesamtbericht über die Tätigkeit der Gemeinschaft (1958) bekannt, dass sie auf eine Angleichung der sozialen Sicherungssysteme und der Sozialpoli6
7
8
Vgl. Generaldirektion Soziale Angelegenheiten: Mutterschutz in den sechs Ländern der EWG, Arbeitsunterlage, Dezember 1962, V/11.136/62-D, in: HAEU BAC006/1977–374, S. 61, 71, 76, 84. Vgl. Eröffnungsansprache von Herrn Professor Walter Hallstein, Präsident der Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, in: Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, Europäische Atomgemeinschaft: Europäische Konferenz über die Soziale Sicherheit, Band I, Brüssel 1962, S. 19–25. Vgl. zur Position und der Kommission zur Rolle der Sozialpolitik Collins: The European Communities, London 1975, Bd. 2, S. 189; Cram: Policy-making in the European Union, London 1997, S. 33. Eröffnungsansprache von Walter Hallstein: Europäische Konferenz über die Soziale Sicherheit, Brüssel 1962, S. 22.
III. Mutterschutz: Ein Fall für die Harmonisierung in der EWG?
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tik der Mitgliedstaaten hinwirken wolle. In der Folge wurden in der Generaldirektion für soziale Angelegenheiten diverse Ausschüsse und Unterausschüsse institutionalisiert. Sie zeichneten für ein umfassendes Studienprogramm in Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern und internationalen Organisationen verantwortlich, das jene sozialen Ungleichheiten identifizieren sollte, die den Aufbau des Gemeinsamen Marktes behinderten. Die Konsultation der ExpertInnen sollte also die Initiative der Kommission legitimieren.9 Bereits im April 1961 beschloss eine Gruppe aus Kommissions- und RegierungsvertreterInnen im Rahmen eines Arbeitsprogramms zur Umsetzung der Art. 117 und 118 eine dreigliedrige Arbeitsgruppe Frauen- und Jugendarbeitsschutz innerhalb der Direktion für Sozialpolitik bei der GD V einzurichten. Die Aufgabe der Gruppe bestand zunächst darin, die sozialrechtlichen Regelungen der Mitgliedstaaten in diesen Bereichen zu dokumentieren.10 Der Frauenarbeitsschutz wurde nicht prioritär behandelt und stand erst beim vierten Gruppentreffen am 28. Oktober 1961 auf der Agenda. An diesem Termin sollte über den Mutterschutz als Aspekt des Frauenarbeitsschutzes gesprochen werden.11 Die Arbeitsgruppe beschloss, eine vergleichende Studie über den Schutz erwerbstätiger Mütter in den sechs EWG-Ländern in Auftrag zu geben, da hierin ein enger Bezug zur sozialen Sicherheit und somit zu einem Bereich gesehen wurde, in dem die Kommission bereits aktiv war. Eine vergleichende Untersuchung über den Mutterschutz wurde zudem als Basis für die weitere Arbeit der Gruppe und als geeignetes Mittel, „den Problemen der Frauenarbeit näher zu kommen“12, betrachtet. Die Erstellung von vergleichenden Untersuchungen als Voraussetzung für eine Harmonisierung war eine übliche Praxis der Kommission und war bereits von der Hohen Behörde der EGKS erprobt worden. Untersuchungsprogramme galten als effektiver Weg, die Handlungsfelder der Gemeinschaft abzustecken und sozialpolitische Initiativen voranzutreiben. „The collection of data in comparable form is an essential part of the scaffolding of a European social policy.“13 Der Mutterschutzbericht wurde aus einer Datensammlung der Kommissionsdienste
9 Vgl. Collins: The European Communities, London 1975, Bd. 2, S. 189. 10 Vgl. Schreiben des Generaldirektors an Rolf Lahr, Botschafter, Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland bei den Europäischen Gemeinschaften, 5. Juli 1961, in: HAEU BAC006/1977–372, S. 164. 11 Vgl. Kommission der EWG: Kurzprotokoll der Sitzung der Arbeitsgruppe „Frauen- und Jugendarbeitsschutz“ vom 17.10.1961, V/8035/61-D, in: HAEU BAC006/1977–372, S. 281– 285; Schreiben des Generaldirektors Neirinck an Seine Exzellenz Herrn Botschafter Günter Harkort, Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland bei den Europäischen Gemeinschaften vom 16.09.1963, in: HAEU BAC006/1977–376, S 54. 12 Schreiben des Generaldirektors Dierendonck a.i. an Seine Exzellenz Herrn Botschafter Günter Harkort, Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland bei den Europäischen Gemeinschaften vom 3.04.1963, in: HAEU BAC006/1977–376, S. 38. 13 Collins: The European Communities, London 1975, Bd. 2, S. 189.
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III. Mutterschutz: Ein Fall für die Harmonisierung in der EWG?
synthetisiert und ließ allgemeine Vorschriften über die Beschäftigung von Frauen außer Acht, sie sollten gesondert analysiert werden.14 Mit der Initiative zu Beginn der 1960er Jahre stand der Mutterschutz nicht zum ersten Mal auf der Agenda der supranationalen Institutionen. Bereits die EGKS hatte Informationen über die Mutterschutzbestimmungen in den Mitgliedstaaten gesammelt und im Abkommen über die Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer (1957) die Ansprüche auf Mutterschutz reguliert. Allerdings wurde dabei auf Frauen abgezielt, die als abhängige Versicherte, d.h. als Angehörige eines männlichen Arbeitnehmers, von der Arbeitsmigration betroffen waren. Diese Bestimmungen wurden von der EWG im Rahmen der Freizügigkeitspolitik übernommen. Für die EWG-Kommission stellte sich aber nicht nur die Frage, welche Ansprüche auf Sozialversicherungsleistungen Ehefrauen von Wanderarbeitnehmern hatten. Stattdessen erfasste die Kommission unter dem Eindruck wachsender Beschäftigungszahlen Frauen als Erwerbstätige mit unabhängigem Versicherungsanspruch und nicht mehr nur als Zuverdienerinnen und abhängige Familienmitglieder. Im Sinne der Art. 117 und 118 prüfte die Kommission, wie gleiche Bedingungen für arbeitende Frauen in der Gemeinschaft etabliert werden konnten. Die Mutterschutzinitiative kann daher als eine Ausweitung des Gleichheitsprojekts auf die Arbeitnehmerinnen in der Gemeinschaft gedeutet werden. 1.2 Mutterschutz-Standards internationaler Organisationen Im Rahmen der Mutterschutzinitiative wurde auch das eingangs beschriebene Dilemma hinsichtlich der Koordinierungsmethode im Bereich der sozialen Sicherheit bedeutend. In den 1960er Jahren befassten sich auch andere internationale Organisationen mit der Thematik Mutterschutz. Der Europarat hatte 1961 die Europäische Sozialcharta verabschiedet, die in Art. 8 den Schutz erwerbstätiger Frauen und Mütter vorsah. Die Kommission, vor allem die Generaldirektion Soziales, beobachtete die Entwicklung der Sozialcharta aufmerksam, setzte sich mit den Bestimmungen auseinander und erfragte den Stand der Ratifizierung bei RegierungsvertreterInnen.15 Als wichtige internationale Referenz galt auch die ILO. Die EWGKommission war über die Arbeiten der ILO informiert, die Erwerbssituation von Frauen weiter zu verbessern. Hinsichtlich des Mutterschutzes hatte die ILO zuletzt 1952 internationale Standards gesetzt. Der Mutterschutz zählte quasi zu den Sozialstandards der ersten Stunde der ILO. Im Jahr 1919 hatte die IAK das Über14 Vgl. Generaldirektion Soziale Angelegenheiten: V/11.136/62-D, in: HAEU BAC006/1977– 374, Vorwort, S. 51; Collins: The European Communities, London 1975, Bd. 2, S. 190. 15 Vgl. Direction Générale des Affaires Sociales: Extrait de la Charte Sociale Européenne, V/10.418/63-F, in : HAEU BAC006/1977–376, S. 148f.; Vierte Sitzung der Arbeitsgruppe „Schutz der Jugend- und Frauenarbeit“, 28.10.1963, V/13.156/63-D, in: HAEU BAC006/ 1977–376 S. 207–221.
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einkommen Nr. 3 zum Mutterschutz angenommen. Darin wurden für eine Zeit von zwölf Wochen eine bezahlte Beschäftigungspause und ein Kündigungsschutz vor und nach der Entbindung vorgesehen. Des Weiteren erhielten die betroffenen Frauen einen Anspruch auf ärztliche Behandlung und auf zwei 30-minütige Stillpausen während der Arbeitszeit. Entsprechend der jeweiligen sozialpolitischen Tradition, oblag die Entscheidung über die Finanzierung des Mutterschutzes aus öffentlichen Mitteln oder aus Versicherungsbeiträgen den Unterzeichnerstaaten.16 Im Jahr 1952 wurde das Übereinkommen Nr. 3 durch das Übereinkommen Nr. 103 revidiert. Im Wesentlichen blieben die Bestimmungen von 1919 erhalten, es erfolgte jedoch eine Ausweitung auf alle Beschäftigungsbereiche, während der Anwendungsbereich zuvor auf Beschäftigte in Gewerbe und Handel begrenzt war. In dem Übereinkommen wurde betont, dass mit den Ausgleichszahlungen während des Mutterschutzes der vollständige Unterhalt der Frauen und ihres Kindes ermöglicht werden müsse. Es wurde zwar weiterhin den Mitgliedstaaten überlassen, die Höhe der Ausgleichszahlungen festzulegen, immerhin wurde aber eine Mindestgrenze von zwei Dritteln des vorhergehenden Durchschnittlohns vorgegeben.17 Das Übereinkommen hielt jedoch nur Mindestnormen fest. Und so wurde ihm eine Empfehlung (Nr. 95) beiseite gestellt, die den Willen zu höheren Standards erkennen ließ. Der Mutterschaftsurlaub sollte zukünftig auf mindestens 14 Wochen verlängert werden, die Ersatzzahlungen 100 Prozent des Arbeitsentgelts betragen. Der Kündigungsschutz sollte ab dem Tag der Meldung der Schwangerschaft beim Arbeitgeber gelten. War die Frau mit gesundheitsgefährdenden und schweren körperlichen Arbeiten betraut, sollte eine Versetzung ohne finanzielle Einbuße ermöglicht werden. Den Frauen sollte Anspruch auf Stillpausen von 1 ½ Stunden und auf zusätzliche Leistungen, z.B. zur Anschaffung von Baby-Bekleidung oder Stillgeld gewährt werden. Des Weiteren sollte die Einrichtung von Kinderbetreuungsstätten auf Kosten der Allgemeinheit gefördert werden.18 Als die EWG-Kommission den Mutterschutz in den Blick nahm, hatte noch keiner der EWG-Mitgliedstaaten das ILO-Übereinkommen Nr. 103 ratifiziert. Selbst das Übereinkommen von 1919 war bis dahin nur von Deutschland, Italien, Luxemburg und Frankreich, nicht aber von Belgien und den Niederlanden ratifiziert worden. Eine Angleichung der Bestimmungen in den Mitgliedstaaten hätte durch eine Anerkennung der ILO-Standards erfolgen können. Stattdessen entschloss sich die Kommission, eine gemeinschaftliche Norm zu erarbeiten, da sie den Mutterschutz als Teil der sozialen Sicherheit und somit im Rahmen des Binnenmarktprojekts betrachtete. Der Entschluss zu einer gemeinschaftlichen Mutterschutznorm war auch durch die Europäische Konferenz für soziale Sicherheit 16 Vgl. ebenda, S. 207–21. 17 Vgl. ILO-Übereinkommen Nr. 3 über die Beschäftigung der Frauen vor und nach der Niederkunft (1919), https://s3.amazonaws.com/normlex/normlexexotic/DE/DE_C003.htm, letzter Zugriff, 22.11.2012. 18 Vgl. ILO-Empfehlung Nr. 95 betreffend den Mutterschutz (1919), http://www.ilo.org/ilolex/german/docs/recdisp1.htm, letzter Zugriff 19.12.2012.
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III. Mutterschutz: Ein Fall für die Harmonisierung in der EWG?
1962 bekräftigt worden. ExpertInnen der Sozialpolitik hatten auf der Konferenz über die Ziele und Möglichkeiten einer supranationalen Koordinierung der Sozialpolitik beraten und dabei auch eine Angleichung der Mutterschutzbestimmungen eingefordert.19 2. DIE EMPFEHLUNG ALS MITTEL ZUR ANGLEICHUNG Im Dezember 1962 lag der Kommission ein erster vergleichender Bericht über den Mutterschutz in den Mitgliedstaaten vor, aus dem nach mehrfachen Ergänzungen seitens der Arbeitnehmerverbände und Regierungen 1965 eine Endfassung redigiert wurde. In dem Dokument wurden eingangs die geltenden internationalen Bestimmungen präsentiert, um anschließend die nationalen Bestimmungen anhand der Bereiche geltendes Recht, Anwendungsbereich, gesundheitlicher Schutz, Kündigungsschutz, wirtschaftliche Sicherung, ärztliche Betreuung und ärztliche Aufsicht und Zuwiderhandlungen darzustellen.20 Die Auswertung der vergleichenden Untersuchung deckte mitunter erhebliche Unterschiede zwischen den Mutterschutzbestimmungen in den Mitgliedstaaten auf (vgl. Anhang TAB 1 und 2). Aus der Perspektive der Generaldirektion Soziale Angelegenheiten ergaben sich daraus Ungleichheiten zwischen den Arbeitnehmerinnen, sowohl innerhalb der Staaten als auch im internationalen Vergleich. Die Regelungen führten zu unterschiedlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen und letztlich auch zu unterschiedlichen Wettbewerbsbedingungen, so dass sie ein Fall für die supranationale Harmonisierung waren. Die MitarbeiterInnen der GD Soziale Angelegenheiten konstatierten, dass in allen Staaten die Normen des ILO-Übereinkommens von 1919 umgesetzt seien, selbst wenn das Übereinkommen nicht ratifiziert worden war. Für die Kommission stellte sich daher weniger die Frage, ob die Mitgliedstaaten Sonderrechten für erwerbstätige Frauen zustimmen würden; auf diesen Konsens zwischen den Mitgliedstaaten konnte sie aufbauen. Die Frage bestand vielmehr darin, ob die Mitgliedstaaten bereit seien, die Mutterschutzstandards höher als im geltenden nationalen und internationalen Recht anzusetzen. 19 Vgl. Generaldirektion Soziale Angelegenheiten: V/11.136/62-D, in: HAEU BAC006/1977– 374, S. 54; Vgl. Europäische Konferenz über die Soziale Sicherheit, Bericht, Thema 3: Möglichkeiten der Harmonisierung der Leistungen der sozialen Sicherheit, a) Leistungen der Krankenversicherung, Berichterstatter: Bernt Heise, V/4964/62-D, in: HAEU BAC006/1977– 654, S. 161–217. 20 Vgl. Generaldirektion Soziale Angelegenheiten: V/11.136/62-D, in: HAEU BAC006/1977– 374, S. 48–93, die revidierte Fassung findet sich in: Generaldirektion Soziale Angelegenheiten: Mutterschutz in den sechs Ländern der EWG, Juni 1963, V/11136/62-rev.-D, in: HAEU BAC006/1977–375, S. 50–97. Vgl. auch: Vierte Sitzung der Arbeitsgruppe „Schutz der Jugend- und Frauenarbeit“, Brüssel 28. Oktober 1963. V/13.156/63-D. HAEU BAC006/1977– 376, S. 207–211; Generaldirektion Soziale Angelegenheiten: Mutterschutz in den sechs Ländern der EWG, Juni 1965, V/11136/2/62-D, Orig.1., in: HAEU BAC006/1977–375, S. 167– 233.
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Auf der Basis der Arbeitsunterlage „Mutterschutz in den sechs Ländern der EWG“ erarbeiteten BeamtInnen der GD V gemeinsam mit einer Gruppe aus RegierungsvertreterInnen und Sozialpartnern im Laufe des Jahres 1965 fünf Textentwürfe für eine Empfehlung zum Mutterschutz. Die Idee, eine Empfehlung zum Mutterschutz zu erarbeiten, fand kommissionsintern in der Arbeitsgruppe Art. 118, unter den führenden Kommissionsbeamten und in der dreigliedrigen Gruppe Jugend- und Frauenarbeitsschutz Zustimmung. Unter den ArbeitgebervertreterInnen und bei den Regierungen löste das Unternehmen allerdings Vorbehalte aus. Die ArbeitgeberInnen kritisierten die Initiative als eine Kompetenzüberschreitung der Kommission, da der Mutterschutz nicht in den Aufgabenbereich der EWG falle und bereits internationale Vorschriften sowie elaborierte nationale Regelungen existierten. Die RegierungsvertreterInnen stimmten dem Vorhaben hingegen generell zu und äußerten Vorbehalte nur in spezifischen Punkten.21 Unbeirrt von diesen Einwänden, legte die Kommission am 12. Januar 1966 dem Rat auf der Grundlage der Art. 117 und 118 EWGV einen „Entwurf einer Empfehlung zum Mutterschutz“ vor.22 Die Kommission rechtfertigte ihre Initiative mit den Unterschieden in den nationalen Bestimmungen und sah eine „Angleichung im Wege des Fortschritts“23 geboten. Darin kam die Vorstellung zum Ausdruck, dass der Gemeinsame Markt zu einer Verbesserung des Sozialniveaus beitragen werde und auch erwerbstätige Frauen davon profitieren sollten. Zudem sollte einem „Sozialdumping“ infolge der Marktbildung entgegen gewirkt werden. Da die Leistungen der Mutterschaftsversicherungen über das Krankenversicherungswesen abgedeckt wurden, berührte das Vorhaben der Kommission grundsätzlich die Organisation des Sozialversicherungswesens. Es stellte sich die Frage, „[i]nnerhalb welcher Grenzen und welcher Voraussetzungen es möglich [wäre], dieses Problem eingehender zu behandeln.“24 Vor allem eine Angleichung der Ausgleichszahlungen und der medizinisch-pflegerischen Betreuung schienen schwierig. Die Kommission befand sich in einer heiklen Situation: einerseits wollte sie gerade im Bereich der sozialen Sicherung auf eine Angleichung zwischen den nationalen Niveaus hinwirken, andererseits berührte sie damit an eine Kernkompetenz der Nationalstaaten. Die Kommission konnte es nicht wagen, die Prinzipien der Sozialversicherungssysteme in Frage zu stellen und dadurch 21 Vgl. Note de Ezio Toffanin à l’attention de Monsieur Morand, 02.07.1965, in : HAEU BAC 008/1966–2, S. 30. 22 Der juristische Dienst wies darauf hin, dass Art. 118 Empfehlungen als Maßnahme zur Koordinierung der Sozialpolitik nicht vorsehe. Da der Verweis auf Art. 118 aber vor allem auf sedes materiae verweise, in der die Maßnahme kontextualisiert sei, gab es keine Einwände gegen die Nennung. Vgl. Service Juridique des Exécutifs Européens: Note à la Direction Général V, Objet: Avant-projet de recommandation sur la protection de la maternité, JUR/CEE/2342/65-CM/JR, 02.07.1965, in: HAEU BAC006/1977–378, S. 73. 23 Kommission der EWG: Entwurf einer Empfehlung der Kommission zum Mutterschutz, KOM (66) 3, 12.01.1966, in: HAEU BAC006/1977–382, S.195–202, hier S. 196. Diese Formulierung bezog sich auf Art. 117 EWGV. 24 Generaldirektion Soziale Angelegenheiten: Aufzeichnung über verschiedene Fragen, die auf dem Gebiet des Mutterschutzes erörtert werden können, o.D. [ca. 1963], V/9550/63-D, Orig. 1, in: HAEU BAC006/1977–376, S. 94.
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eine Auseinandersetzung mit den Mitgliedstaaten zu provozieren. Vor dem Hintergrund dieser Überschneidungen musste die Angleichung der Mutterschutzbestimmungen behutsam geschehen. Die Bestimmungen des Entwurfs ähnelten stark den Zielvorgaben, die von der ILO in der Empfehlung Nr. 95 festgehalten wurden und gingen nur minimal über die existierenden nationalen Standards hinaus (vgl. Tab 1 und 2).25 Die Kommission rechtfertigte ihre Initiative damit, dass der Mutterschutz in den Mitgliedstaaten kaum in organischen Rechtsregelungen, sondern in Gesetzen und Verordnungen verschiedenster Politikfelder (z.B. Arbeitsrecht, soziale Sicherheit, soziale Fürsorge, Arbeitshygiene) verankert war. Die BeamtInnen erachteten es jedoch als dringend notwendig, den Mutterschutz in einer in sich geschlossenen Bestimmung zu verankern.26 Die Nationalstaaten waren in der Ausgestaltung der Mutterschutzbestimmungen unterschiedliche Wege gegangen. In manchen Staaten wurde der Mutterschutz in Gesetzen geregelt, so z.B. in im Mutterschutzgesetz der BRD vom 24. Januar 1952. In Italien gab es zum Zeitpunkt der Kommissionsuntersuchung kein Mutterschutzgesetz als solches, sondern einander ergänzende Bestimmungen: das Gesetz vom 28. August 1950 über den gesundheitlichen und wirtschaftlichen Schutz erwerbstätiger Mütter, das Gesetz vom 12. Dezember 1950 über das Verbot der Kündigung erwerbstätiger werdender und stillender Mütter, das Gesetz vom 23. Mai 1951 über die Erhaltung des Arbeitsplatzes für erwerbstätige Mütter. Auch die Verfassung sah den besonderen Schutz der Mütter vor: In Art. 37 wurden erwerbstätigen Frauen die gleichen Rechte und der gleiche Lohn wie Männern zugesichert. Zugleich wurde festgehalten, dass „die Arbeitsbedingungen die Erfüllung der Hauptaufgabe der Frau in der Familie ermöglichen und für Mutter und Kind einen entsprechend besonderen Schutz gewähren müssen.“27
In Frankreich reicht der gesetzliche Mutterschutz in das Jahr 1909 zurück und war seitdem erweitert und im Arbeits-, Sozial- und Familienrecht verankert worden. Die wichtigsten Regelungen fanden sich in Art. 29 (Dekret vom 2. Februar 1955), Art. 54a (Verordnung vom 2. November 1945) und Art. 54b-e (Gesetz vom 5. August 1917) des code du travail. Zusätzlich regelten nicht-kodifizierte Vorschriften den Mutterschutz, z.B. das Gesetz vom 2. September 1941, das die anonyme Geburt legalisierte. In den Niederlanden und Belgien waren die Mutter25 Vgl. ebenda, S. 89–94. 26 Vgl. Generaldirektion Soziale Angelegenheiten: Vorentwurf einer Empfehlung der Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft an die Mitgliedstaaten zum Mutterschutz, V/3126/1/65-D, in: HAEU BAC006/1977–376, S. 345. Im Entwurf wurden auch Erwerbslose aufgrund ihrer bisherigen Erwerbsarbeit bzw. ihrer Arbeitssuche als Akteure am Arbeitsmarkt betrachtet. Im ersten Empfehlungsentwurf fand sich die Formel des uneingeschränkten Geltungsbereichs noch nicht. Stattdessen wurden für die Kategorien Arbeitslose und gelegentlich bzw. befristet Beschäftigte Leistungsansprüche präzisiert. Den VerfasserInnen war wichtig, dass diese Gruppen vor allem Anspruch auf ärztliche Betreuung und den Pauschalbetrag für die Entbindung hatten. 27 Generaldirektion Soziale Angelegenheiten: V/11.136/62-D, in: HAEU BAC006/1977–374, S.78.
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schutzbestimmungen erstmals in den Jahren 1913 (Niederlande) und 1919 (Belgien) ebenfalls in arbeitsrechtlichen Bestimmungen, z.B. über Arbeitszeit, Frauenund Kinderarbeit, Arbeitssicherheit und Krankenversicherung verankert, aber bis in die 1960er Jahre in kein Gesetz überführt worden. Als letzter der sechs Staaten verankerte Luxemburg den Mutterschutz und griff dabei auf internationale Bestimmungen zurück: zentral war hier das Gesetz vom 5. März 1928 über die Ratifizierung des ILO-Übereinkommens Nr. 3.28 Ziel der Mutterschutzempfehlung sollte es sein, „die wirtschaftliche Sicherheit der weiblichen Arbeitnehmer“29 zu gewährleisten. Die Kommission schloss damit an die Tradition in den Nationalstaaten an, nicht nur die sozialen Risiken männlicher Arbeitnehmer, sondern auch die von Frauen abzusichern. Die Geschlechterdifferenz bzw. die spezifische Situation der Mutterschaft wurde auch von der Kommission als Argument für den gleichen Anspruch auf soziale Sicherheit herangezogen. Die Kommission sah vor, dass die Gemeinschaft (der Versicherten) die Kosten tragen sollte, da eine zusätzliche finanzielle Belastung der ArbeitgeberInnen durch die Ausweitung des Mutterschutzes „die Eingliederung der Frau in das Arbeitsleben […] noch mehr erschwer[en]“30 würde. Durch die Empfehlung sollten einerseits die nationalen Niveaus und andererseits die sozialen Rechte von Arbeitnehmerinnen innerhalb eines Staates angeglichen werden. Zu den gravierendsten nationalen Unterschieden zählten aus der Sicht der Kommission die Regelungen des Beschäftigungsschutzes. Die Dauer des Beschäftigungsschutzes variierte zwischen den Mitgliedstaaten zwischen sechs und 22 Wochen. Manche Länder sahen einen obligatorischen Mutterschaftsurlaub vor und nach der Geburt vor, andere nur danach. Zusätzlich bestand in manchen Ländern die Möglichkeit eines fakultativen Urlaubs, für den keine Lohnersatzzahlungen vorgesehen waren. Die KommissionsbeamtInnen fragten sich, ob diese Unterschiede nicht ein „Element der Diskriminierung in der Behandlung der erwerbstätigen Mutter zwischen den verschiedenen Ländern“31 bildeten und daher eine Angleichung angebracht sei.32 Eine der wichstigsten Bestimmungen des Empfehlungsentwurfs umfasste daher die Dauer des Mutterschutzes. Die Empfehlung sah vor der Entbindung ein obligatorisches Beschäftigungsverbot von mindestens sechs Wochen vor, das auf 28 Vgl. Generaldirektion Soziale Angelegenheiten: V/11.136/62-D, in: HAEU BAC006/1977– 374, S. 55, 63, 72, 86; Vgl. für Frankreich auch: Confédération Générale du Travail Force Ouvrière: Observation sur le Doc. V11136/63-F, Protection de la maternité, V/10347/63-F, o.D., in : HAEU BAC006/1977–376, S. 146f. 29 Kommission der EWG: KOM (66) 3, in: HAEU BAC006/1977–382, S. 197. 30 Ebenda, S. 197. Der Juristische Dienst der Kommission sprach von einer gesellschaftlichen Verantwortung aufgrund der moralischen und sozialen Dimension des Mutterschutzes. Vgl. Service Juridique des Exécutifs Européens: JUR/CEE/2342/65-CM/JR,in : HAEU BAC006/1977–378, S. 73. 31 Generaldirektion Soziale Angelegenheiten: V/9550/63-D, Orig. 1, in: HAEU BAC006/1977– 376, S. 91. 32 Vgl. Generaldirektion Soziale Angelegenheiten: V/11.136/62-D, in: HAEU BAC006/1977– 374, S. 58, 65f., 73f., 78f., 86, 89.
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Antrag der Frau und nach ärztlicher Genehmigung auf vier Wochen verkürzt werden konnte. Nach der Entbindung sollte ein Beschäftigungsverbot von acht Wochen, bei Früh- oder Mehrlingsgeburten zwölf Wochen betragen. Sollte ein ärztliches Attest vorliegen, dass die Einstellung der Tätigkeit gebot, sollte die Schutzfrist ausgedehnt werden.33 Der Empfehlungsentwurf orientierte sich hinsichtlich der Schutzfristen an den geltenden internationalen Standards, obwohl es durchaus Forderungen gab, die Schutzfristen auf bis zu zwölf Wochen vor der Entbindung auszudehnen. Dahinter standen Überlegungen, dass die Berufstätigkeit Schwangerer bzw. stillender Mütter eine Gefahr für das Wohl des Kindes und der Frau darstelle. Aus medizinischen Gründen war auch die freiwillige Verkürzung der Schutzfrist innerhalb der Kommission umstritten.34 Zusätzlich wurde die Möglichkeit eines fakultativen unbezahlten Urlaubs nach der Entbindung vorgesehen, wenn Frauen „aufgrund ihrer häuslichen Pflichten wegen der Mutterschaft noch nicht in der Lage sind, ihren Beruf wieder aufzunehmen.“35 Dieser fakultative Urlaub sollte unter Vorbehalt eines Einspruchsrechts des Arbeitgebers (besonders der Kleinbetriebe) gewährt werden. Die Regelungen zum fakultativen Urlaub orientierten sich an der inzwischen verabschiedeten ILOEmpfehlung Nr. 123 betreffend der Beschäftigung von Frauen mit Familienpflichten. Auch hinter den Regelungen zum fakultativen Urlaub standen psychosoziale Überlegungen, die in einer frühen Rückkehr von Müttern in den Beruf eine Gefahr für die „körperliche und geistig-seelische Entwicklung“36 der Kinder sahen. Es zeigt sich, dass im Empfehlungsentwurf der Kommission bevölkerungspolitische und z.T. pronatalistische Überlegungen, die bereits Anfang des 20. Jahrhunderts die Debatten über den Mutterschutz bestimmt hatten, gegen das Recht der Frau auf Erwerbsarbeit abgewogen wurden. Die längeren Schutzfristen sollten zudem die Vereinbarkeit von Familien- und Berufsarbeit verbessern. In diesem Sinne wurde auch die Schaffung und Erweiterung von Familienhilfsdiensten angedacht, „um eine Mutter, die ihren häuslichen Aufgaben vor, bei und nach der Entbindung nicht nachkommen kann, zu ersetzen oder sie zu unterstützen.“37 Die Verlängerung der Schutzfristen für stillende Mütter wurde zwar diskutiert, im Empfehlungstext aber verworfen. In diesem Bereich galten die nationalen
33 Die Möglichkeit, die Schutzfrist freiwillig zu verkürzen, fand sich erstmals in Kommission der EWG: KOM (66) 3, in: HAEU BAC006/1977–382. 34 Vgl. Europäische Konferenz über die Soziale Sicherheit, V/4964/62-D, in: HAEU BAC006/ 1977–654, S. 205. 35 Kommission der EWG: KOM (66) 3, in: HAEU BAC006/1977–382, S. 200. 36 Europäische Konferenz über die Soziale Sicherheit, V/4964/62-D, in: HAEU BAC006/1977– 654, S. 205. 37 Generaldirektion Soziale Angelegenheiten: V/3126/1/65-D, in: HAEU BAC006/1977–376, S. 349.
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Vorschriften als zu unterschiedlich, um eine Erweiterung der Bestimmungen zum Vorteil von Frauen durchzusetzen.38 Besonders wichtig erschien der Kommission auch die soziale Absicherung der Mutterschaft durch Lohnausgleichszahlungen. Zwar wurde Frauen während des Beschäftigungsverbots in allen Ländern ein Lohnersatz gezahlt, aber dieser variierte zwischen 50 Prozent (Frankreich) und 80 Prozent (Italien) des durchschnittlichen Arbeitsentgelts. Der Empfehlungsentwurf sah während des obligatorischen Arbeitsverbots eine Ersatzleistung in der Höhe des bisherigen Durchschnittsverdienstes vor. Diese Regelung sollte auch für arbeitslose Frauen gelten. Frauen, denen bereits während der Schwangerschaft oder für bis zu sechs Monate nach der Entbindung bestimmte Arbeiten aus medizinischen Gründen untersagt werden mussten und die nicht versetzt werden konnten, sollten mindestens zwei Drittel ihres bisherigen Durchschnittsverdienstes erhalten. Die Kommission bekräftigte damit die Unabhängigkeit von Frauen, ihren Unterhalt aus eigener Arbeisleistung bzw. daraus abgeleiteten Ansprüchen zu bestreiten. Die BeamtInnen stellten damit in Rechnung, dass der Einkommensverlust aufgrund der Schwangerschaft bzw. Mutterschaft aus selbstständig erworbenen Ansprüchen und nicht über das Familieneinkommen des Ehemannes kompensiert werden sollte.39 Der materielle Schutz schwangerer Arbeitnehmerinnen und Wöchnerinnen wurden in den meisten Ländern auch durch spezifische Arbeitsschutzbestimmungen flankiert. Zentral war dabei das Kündigungsverbot während der Schwangerschaft und/oder während der gesetzlichen Schutzfristen. Das Kündigungsverbot sollte verhindern, dass Frauen aufgrund der Mutterschaft ihren Arbeitsplatz verloren und wirtschaftlichen Härten ausgesetzt waren. Allein in den Niederlanden fehlte ein expliziter Kündigungsschutz wegen Mutterschaft. Zwar war die Kündigung im Krankheitsfall verboten, es existierte aber keine Vorschrift, die Schwangerschaft und Wochenbett mit Krankheit gleichstellte. Mit einem Sondererlass aus dem Jahr 1945 wurde versucht, Entlassungen von Schwangeren entgegenzuwirken. Im Falle einer Kündigung konnten die Betroffenen bei den Arbeitsvermittlungsämtern Widerspruch einlegen, die dann über das Wirksamwerden entschieden. Über den Schutz der werdenden Mütter durch diese Praktik kursierten allerdings unterschiedliche Einschätzungen. Während von Regierungs- und Arbeitgeberseite die Effizienz der Methode betont wurde, beklagte der niederländische Verband für Fachvereinigungen das Vorgehen, wonach Kündigungen im Schwangerschaftsfall meist von den Behörden genehmigt worden seien. Es sei auch durchaus üblich gewesen, dass entsprechende Kündigungsklauseln im Arbeitsvertrag vorgesehen waren, spätestens jedoch mit der Eheschließung auf die Schwangerschaft als Kündigungsgrund hingewiesen wurde.40 38 Vgl. Note de Neirinck, Directeur Général à l’attention de Monsieur le Vice-président Lionello Levi Sandri vom 30.09.1965, in: HAEU BAC 008/1966–2, S. 11. 39 Vgl. Generaldirektion Soziale Angelegenheiten: V/11.136/62-D, in: HAEU BAC006/1977– 374, S. 60f., 69f., 76, 83, 87, 91; Kommission der EWG: KOM (66) 3, in: HAEU BAC006/1977–382, S. 200. 40 Vgl. W.F. van Tilburg, Secrétaire du Nederlands Verbond van Vakvereningingen au Secrétariat Syndical Européen, V/10326/63-F, 25.07.1963, in: HAEU BAC006/1977–376, S. 102–
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Die KommissionsbeamtInnen stellten fest, dass das Kündigungsverbot nicht in allen Ländern mit jener Zeit deckungsgleich war, in der die wirtschaftliche Situation von Müttern durch Ausgleichszahlungen abgesichert wurde. Daher galt es auch in diesem Bereich, die Möglichkeiten einer „Vereinheitlichung“41, d.h. einer Angleichung nationaler Bestimmungen zu prüfen. Der Vorschlag der Kommission bedeutete dann eine deutliche Anhebung des sozialen Standards. Entsprechend der Empfehlung sollte das Kündigungsverbot bereits während der Schwangerschaft, während der Schutzfrist und bis acht Wochen nach deren Ablauf gelten.42 Die wirtschaftliche Belastung von Müttern sollte in einigen Ländern durch weitere Leistungen und Vergünstigungen reduziert werden. Dies konnten Zahlungen für die Babyausstattung in Belgien (250 BF) oder die Auszahlung eines Stillgeldes bzw. die Ausgabe von Gutscheinen zum Milcherwerb in Frankreich sein. Die Kommission sah vor, finanzielle Belastungen im Zusammenhang mit der Schwangerschaft, der Entbindung, der Geburt und dem Stillen durch einen Pauschalbetrag abzugelten. Die Auszahlung konnte an die Durchführung ärztlicher Untersuchungen gebunden werden.43 Neben dem besonderen Kündigungsschutz galten für schwangere Arbeitnehmerinnen in einigen Ländern auch spezifische Arbeitszeitvorschriften. So wurden die allgemeinen Verbote der Nacht- und Sonntagsarbeit und Überstundenregelungen für Schwangere und z.T. für stillende Mütter zusätzlich verschärft. Dahinter standen medizinische Überlegungen, Schwangere vor Überlastung und gesundheitsgefährdenten Arbeiten zu schützen und Schaden von dem ungeborenen Leben abzuwenden. Auf die Gesundheit der Kinder zielten auch jene Regelungen ab, die für stillende Mütter zusätzliche Pausenzeiten vorsahen.44 Der Empfehlungsentwurf der Kommission schloss sich den gesundheitspolitischen Überlegungen an und begrenzte die Arbeitszeit werdender und stillender Mütter auf acht Stunden pro Tag. Zudem sollte ein generelles Nachtarbeitsverbot gelten, das in Ausnahmefällen die Arbeit bis 23 Uhr oder ab fünf Uhr zuließ. Stillenden Müttern sollte eine Stillpause von mindestens einer Stunde zugestanden werden, die als Arbeitszeit gelten sollte.45 Ein weiteres Arbeitsverbot wurde für Tätigkeiten ausgesprochen, die das Leben oder die Gesundheit von Mutter und Kind gefährdeten. Dies galt auch für Frauen, die in den ersten sechs Monaten nach der Entbindung laut ärztlichem
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104; Vgl. Generaldirektion Soziale Angelegenheiten: V/11.136/62-D, in: HAEU BAC006/1977–374, S. 59f., 69, 75, 82, 87, 90. Generaldirektion Soziale Angelegenheiten: V/9550/63-D, Orig. 1, in: HAEU BAC006/1977– 376, S. 92. Vgl. Kommission der EWG: KOM (66) 3, in: HAEU BAC006/1977–382, S. 200. Vgl. Generaldirektion Soziale Angelegenheiten: V/11.136/62-D, in: HAEU BAC006/1977– 374, S. 61, 76; Generaldirektion Soziale Angelegenheiten: V/3126/1/65-D, in: HAEU BAC 006/1977–376, S. 349; Europäische Konferenz über die Soziale Sicherheit, V/4964/62-D, in: HAEU BAC006/1977–654, S. 209. Vgl. Generaldirektion Soziale Angelegenheiten: V/11.136/62-D, in: HAEU BAC006/1977– 374, S. 66, 67f., 74f., 80f., 87, 90. Vgl. Kommission der EWG: KOM (66) 3, in: HAEU BAC006/1977–382, S. 198.
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Zeugnis bestimmte Arbeiten nicht gefahrenfrei verrichten konnten. Der Arbeitgeber wurde verpflichtet, die betroffenen Frauen an gefahrenfreie Arbeitsplätze umzusetzen und dabei das durchschnittliche Gehalt weiterzuzahlen. Die Empfehlung sah in puncto Gesundheitsschutz weitreichende Bestimmungen vor. Während der Schwangerschaft, während und nach der Entbindung sollten Frauen Anspruch auf kostenlose ärztliche Betreuung, vor allem auf Kontrolluntersuchungen, auf Hebammenhilfe, Versorgung mit Arznei-, Verbands- und Heilmitteln und Pflege in Entbindungs- bzw. Krankenanstalten haben. Die Kommission folgte bzw. bekräftigte damit eine Tendenz der Medikalisierung von Mutterschaft. Mitte des 20. Jahrhunderts waren auch in Westeuropa Hausgeburten noch die Regel und die medizinische Kontrolle der gesamten Schwangerschaft eher unüblich. Mit der Mutterschutzempfehlung zielte die Kommission auf eine lückenlose medizinische Begleitung der Schwangeren, um Komplikationen zu vermeiden und die Sterblichkeitsraten zu senken.46 Neben den gesundheitspolitischen und demographischen Traditionslinien zeichnete sich der Mutterschutz in der Empfehlung der Kommission auch als eine Möglichkeit zur Vereinbarung beruflicher und familiärer Aufgaben ab. Die ArbeitgeberInnen sollten durch die Empfehlung angehalten werden, geeignete Maßnahmen zur „zweckmäßigen“ Gestaltung des Arbeitsplatzes und zur „Schaffung der notwendigen Dienste und Einrichtungen“47 zu ergreifen. Des Weiteren sollte die Einrichtung von Kinderkrippen und -gärten durch die ArbeitgeberInnen in jenen Wohnvierteln gefördert werden, die besonders viele erwerbstätige Mütter aufwiesen. In einem ersten Entwurf war noch von „wirtschaftlich weniger begünstigten Gebieten“48 gesprochen worden. Es liegt daher nahe zu vermuten, dass innerhalb der Kommission Frauenerwerbsarbeit und vor allem Müttererwerbsarbeit als klassenspezifisches Phänom betrachtet wurde. Vor allem Frauen, die aus wirtschaftlicher Not einer Erwerbsarbeit nachgingen, sollten durch Kinderbetreungseinrichtungen ihr Recht auf Erwerbsarbeit wahrnehmen können. Neben der Angleichung nationaler Standards sollte die Mutterschutzempfehlung vor allem auch gleiche Arbeitsbedingungen für Arbeitnehmerinnen innerhalb eines Landes schaffen. In den 1960er Jahren konnten längst nicht alle sozialversicherten Arbeitnehmerinnen im gleichen Maße von den Mutterschutzleistungen profitieren. Entsprechend dem Beschäftigungsstatus und der Berufsgruppe galten für Arbeitnehmerinnen eines Landes unterschiedliche Leistungsansprüche und 46 Im ersten Entwurf wurde der Anspruch auf kostenlose ärztliche Beratung vor allem für die Mindestdauer von 8 Wochen nach der Entbindung garantiert. Auch die Möglichkeit, „besonders belasteten Mütter[n] vor und nach der Entbindung“ Kuraufenthalte zu ermöglichen, wurde in der ersten Fassung genannt. Vgl. Generaldirektion Soziale Angelegenheiten: V/3126/1/65-D, in: HAEU BAC006/1977–376, S. 349. Vgl. zur Medikalisierung Kolip, Petra: Frauenleben in Ärztehand. Die Medikalisierung weiblicher Umbruchphasen, in: Kolip. Petra (Hg): Weiblichkeit ist keine Krankheit. Die Medikalisierung körperlicher Umbruchphasen im Leben von Frauen. Weinheim, München 2000. S. 9–30. 47 Kommission der EWG: KOM (66) 3, in: HAEU BAC006/1977–382, S. 201. 48 Generaldirektion Soziale Angelegenheiten: V/3126/1/65-D, in: HAEU BAC006/1977–376, S. 347.
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damit ungleiche Beschäftigungsbedingungen. Beschäftigte in der Landwirtschaft, der Haus- und Heimarbeit und Hausgehilfinnen wurden von den Mutterschutzbestimmungen in Belgien, Frankreich und Luxemburg (hier waren auch mithelfende Familienangehörige ausgeschlossen) gänzlich ausgeschlossen. In Italien galten zwar keine Beschränkungen für Beschäftigte in der Landwirtschaft, in Familienbetrieben und für Heimarbeiterinnen, de facto wurden diese Frauen aber durch eine andere Regelung von den Leistungen ausgeschlossen. Das Gesetz sah vor, dass Frauen, die mit dem Arbeitgeber bis zum dritten Grad verwandt oder verschwägert waren und unterhaltsberechtigt mit ihm zusammenlebten, keinen Anspruch auf Mutterschutzleistungen hatten. Vermutlich traf dieser Fall für viele Beschäftigte in Familienbetrieben und in der Landwirtschaft zu. Allein in den Niederlanden galten die Bestimmungen ungeachtet des Beschäftigungsbereichs der werdenden Mütter, d.h. in allen gewerblichen, landwirtschaftlichen und Handelsbetrieben, ebenso wie in der Haus- und Heimarbeit.49 Wurden Haus- und Heimarbeiterinnen nicht grundsätzlich von den Leistungen ausgeschlossen, dann hatten sie oftmals nicht die gleichen Ansprüche wie andere Arbeitnehmerinnen. Je nach Beschäftigungsgruppe waren die Dauer des Mutterschaftsurlaubs, die Ansprüche auf Lohnersatzzahlungen und der Kündigungsschutz unterschiedlich geregelt. Die Unterschiede erklärten sich z.T. damit, dass für verschiedene Berufsgruppen spezifische Sozialversicherungssysteme existierten. Vor allem für Beamtinnen galten in den meisten Staaten besondere Regelungen.50 Der Ausschluss spezifischer Berufsgruppen, vor allem der Heimarbeiterinnen, aus dem Geltungsbereich lässt sich darauf zurückführen, dass diese Tätigkeiten nicht als Arbeit bewertet wurden. Mit der Durchsetzung der Industrie- und Lohnarbeit als Normalarbeitsverhältnis wurde Heimarbeit seit dem frühen 20. Jahrhundert in Westeuropa nicht mehr als gängige Produktionsform, sondern als deviante, unmoralische, unhygienische Tätigkeit verurteilt. Die Heimarbeit wurde als Einfallstor der Produktionsarbeit in den feminisierten Bereich der Familie und somit als Gefahr für die Geschlechterordnung und den Status des Breadwinners betrachtet. Im Zuge der Institutionalisierung des Ernährermodells in der Sozialgesetzgebung blieben Heimarbeiterinnen und anderen Beschäftigungsgruppen soziale Rechte verwehrt.51 Im Aushandlungsprozess des Empfehlungsentwurfs wurde der Geltungsbereich sukzessive erweitert, bis in der Endfassung allen erwerbstätigen Frauen, einschließlich Heimarbeiterinnen und Beschäftigten im öffentlichen Dienst, die 49 Vgl. Generaldirektion Soziale Angelegenheiten: V/11.136/62-D, in: HAEU BAC006/1977– 374, S. 56, 63f., 73, 78, 86, 88f. 50 Vgl. Deutscher Gewerkschaftsbund an das Europäische Gewerkschaftssekretariat IBFG: Betrifft Mutterschutz in den 6 Ländern der Gemeinschaft, 29.07.1963, V/10327/63-D, in: HAEU BAC006/1977–376, S. 124; Generaldirektion Soziale Angelegenheiten: V/11.136/62D, in: HAEU BAC006/1977–374, S. 58–60, 65f., 69, 73f., 75, 78f., 82, 86f., 89f. 51 Vgl. zu den internationalen und nationalen Debatten über den Status von Heimarbeiterinnen: Prügl, Elisabeth: The Global Construction of Gender. Home-Based Work in the Political Economy of the 20th Century, New York 1999, S. 25–40.
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gleichen Ansprüche gewährt werden sollten. Damit sollte die Gleichbehandlung von erwerbsfähigen Frauen in den Mitgliedstaaten garantiert werden. Sogar Arbeitslose und Ehefrauen von Selbständigen, die „an der Erwerbstätigkeit des Ehegatten teilnehmen“52, sollten berücksichtigt werden. Aufgrund der Quellenlage ist allerdings nicht nachvollziehbar, welche AkteurInnen in der Debatte die Ausweitung durchsetzten. Indem der Anspruch auf soziale Sicherung teilweise vom Erwerbsstatus gelöst wurde, zielte der Kommissionsvorschlag auf eine Dekommodifizierung und damit (in Anlehnung an Fraser) auf die Geschlechtergleichheit ab. Der Empfehlungsentwurf ging an dieser Stelle deutlich über die Einschränkungen der nationalen Vorschriften hinaus. Die Erweiterung des Geltungsbereichs muss auch vor dem Hintergrund eines veränderten Arbeitsbegriffs gesehen werden. Die BeamtInnen blendeten Leistungen, die die im häuslichen Bereich erbracht wurden, nicht aus, sondern erkannten diese als Arbeit an. Die Kommission rückte davon ab, Arbeit ausschließlich als marktorientierte Erwerbsarbeit zu definieren und soziale Leistungsansprüche allein an marktvermittelte Arbeit zu binden. Doch wurde damit auch der Anspruch aufgegeben, das Ernährer-Modell in sozialrechtlichen Bestimmungen zu stabilisieren? Oder ging es den KommissionsmitarbeiterInnen vielmehr darum, die soziale Sicherung jener Frauen auszubauen, die in der privaten Sphäre erwerbstätig waren, so dass sie berufliche und familiäre Aufgaben vereinbaren konnten? Auf diese Frage wird später noch einmal zurückzukommen sein.53 3. DIE MUTTERSCHUTZDEBATTE IN DEN EWG-GREMIEN Der Empfehlungsentwurf der Kommission wurde, wie im EWGV vorgesehen, mit der Bitte um Stellungnahme an den Wirtschafts- und Sozialausschuss überstellt. Auch das Europäische Parlament erhielt eine Vorlage, obwohl dessen Konsultation nicht vertraglich vorgesehen war. Die Stellungnahmen illustrieren, welche unterschiedlichen Konzepte hinsichtlich der Harmonisierung der Sozialstandards die Akteure der EWG vertraten.
52 Kommission der EWG: KOM (66) 3, in: HAEU BAC006/1977–382, S. 197. 53 Vgl. Generaldirektion Soziale Angelegenheiten: V/3126/1/65-D, in: HAEU BAC006/1977– 376, S. 345; Generaldirektion Soziale Angelegenheiten: V/3126/5/65-D, in: HAEU BAC006/ 1977–377, S. 82; Kommission der EWG: KOM (66) 3, in: HAEU BAC006/1977–382, S. 198; Vgl. zur Kodierung von Arbeits- und Geschlechterordnung Hausen, Karin: Geschlechtergeschichte, Göttingen 2012, S. 238–252.
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Die Stellungnahme des WSA: die Empfehlung als Affront gegen nationale Traditionen Der WSA würdigte das Vorhaben der Kommission und bekräftigte: „[…]une égalité dans le progrès s’avère nécessaire […]“54, da die Bestimmungen in den Mitgliedsländern sehr unterschiedlich seien. Allerdings mahnte der WSA an, dass die weitreichenden supranationalen Regelungen und die Angleichung („Égalisation“) den Zugang von Frauen zum Arbeitsmarkt nicht zusätzlich einschränken dürften. Die Delegierten rekurrierten auf die Vorstellung, dass Schutzbestimmungen die Position von Frauen am Arbeitsmarkt verschlechtern konnten, weil dadurch für die ArbeitgeberInnen höhere Kosten entstanden.55 Welche Sprengkraft in der Angleichung sozialer Standards lag, zeigen die Debatten innerhalb der Gruppe für Sozialfragen im WSA. Die Gruppe sollte eine Stellungnahme zur Mutterschutzempfehlung erarbeiten, zerstritt sich allerdings über der Frage nach dem „korrekten“ Verständnis der sozialen Harmonisierung. Einige Mitglieder wiesen die sozialpolitische Konzeption der Kommission und die Zielsetzung der Harmonisierung („progressive Konvergenz“) entschieden zurück. Sie bestanden auf die Souveränität der Mitgliedstaaten, Rechtsbestimmungen entsprechend der nationalen politischen Kulturen und Konzeptionen von Sozialpolitik zu erlassen. Die Initiative der Kommission, die Mutterschutzvorschriften bis ins kleinste Detail zu vereinheitlichen, ging ihnen daher zu weit. Sie sei weder durch die Zielstellung einer funktionierenden Wirtschaftsgemeinschaft noch unter dem Aspekt der Wettbewerbsfähigkeit gerechtfertigt. Die Kritiker warnten davor, in gemeinschaftlicher Gleichmacherei die spezifischen nationalen Problemlagen zu marginalisieren und effiziente Regelungen auszuschalten. Sie favorisierten klar nationale Lösungsansätze: „On ne voit pas non plus pourquoi les Etats membres, en organisant de façon concrète une protection efficace de la maternité, doivent, pour tous les problèmes, parvenir aux mêmes résultats, attendu qu’il leur faut partir de conceptions et de conditions nationales différentes.“56
Andere Mitglieder der Gruppe hielten dieser Kritik entgegen, dass das Vorgehen der Kommission richtig sei, weil die soziale Harmonisierung nur auf dem „Wege des Fortschritts“ erreicht werden könne. Darin kam der Zweifel zum Ausdruck, dass das Wirtschaftswachstum im Gemeinsamen Markt zwangsläufig eine Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen nach sich ziehe. Stattdessen wurde die Position der Kommission geteilt, soziale Standards durch gezielte Maß54 Comité économique et social: Note Introductive sur le Projet de Recommandation de la Commission concernant la protection de la maternité, 01.02.1966, CES 34/66 jp, in: HAEU BAC026/1969–712, S. 15. 55 Vgl. ebenda, S. 12–17. 56 Le Comité économique et social, Rapporteur Mme Weber: Projet de rapport de la Section spécialisée pour les questions sociales sur le Projet de Recommandation de la Commission concernant la protection de la maternité, 14.03.1966, CES 54/66 W/jp, in: HAEU BAC026/1969–712, S. 69. Vgl. allgemein Collins: The European Communities, London 1975, Bd. 2, S. 187.
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nahmen zu steigern und immer breitere Bevölkerungsschichten am sozialen Fortschritt teilhaben zu lassen. Daher sei es gerechtfertigt, konkrete Vorschläge in Form einer Empfehlung zu formulieren.57 Die Zerissenheit der Gruppe für Sozialfragen führte schließlich zu ihrer Neubesetzung. In der neuen Zusammensetzung wurde eine Stellungnahme verabschiedet, die zwar viele Änderungsvorschläge enthielt, prinzipiell aber die Entscheidung der Kommission begrüßte, in der Empfehlung von Mindestnormen auszugehen und eine praktikable Gestaltung der Vorschriften anzustreben.58 Die Stellungnahme des EP: Die Empfehlung als Tropfen auf den heißen Stein Während einige Mitglieder des WSA die Mutterschutzempfehlung als eine Überschreitung der supranationalen Kompetenzen im Bereich der Sozialpolitik kritisierten, bemängelte das Europäische Parlament eher die Begrenztheit des Entwurfs. Zwar stimmte das Parlament dem Empfehlungsentwurf prinzipiell zu, es bedauerte jedoch, dass die Kommission keine weitreichenderen Maßnahmen ergriff, um die Erwerbssituation von Frauen zu verbessern. Die Stellungnahme der Sozialkommission des Parlaments spiegelte eine tiefe Reflexion über geschlechtsspezifische Ungleichheiten, Geschlechtergleichheit und Gleichbehandlung wider. Die Abgeordneten setzten sich beispielsweise damit auseinander, inwiefern Sonderrechte für Frauen der Gleichberechtigung zuträglich waren. Sie wiesen darauf hin, dass geschlechtsspezifische Bestimmungen im Arbeits- und Sozialrecht (Nachtarbeitsverbot, Mutterschutz) zu einer Abwertung von Frauenarbeit und schließlich zu Benachteiligungen führen konnten.59 In der Mutterschutzempfehlung erkannten die Abgeordneten einen ersten Schritt, von einer protektionistischen Gesetzgebung abzurücken und Frauen eine gleichberechtigte Teilhabe am Erwerbsleben zuzugestehen: „[…] l’harmonisation que vise la Commission de la C.E.E. par la présente recommandation, ne constitue qu’une première étape sur la voie d’une réglementation plus avancée qui devrait s’orienter vers des solutions nouvelles faisant une place plus adéquate à la femme au travail dans notre société, en la considérant non pas comme un homme fragile qu’on protège comme
57 Vgl. CES 54/66 W/jp. HAEU BAC026/1969–712, S. 69. 58 Vgl. ebenda, S. 68; Wirtschafts- und Sozialausschuss der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft: Bericht über die Beratungen des Wirtschafts- und Sozialausschusses über die Stellungnahme zu dem „Entwurf einer Empfehlung der Kommission zum Mutterschutz“, Sitzung am 27.10.1966, Punkt 5 der Tagesordnung, 28.11.1966, CES/385/66 S/re, in: HAEU BAC006/1977–386, S. 111–121, hier 118f. 59 Vgl. Parlement Européen, Commission Sociale, Rapporteur Mlle Lulling: Note Introductive sur le projet de recommandation de la Commission de la C.E.E. concernant la protection de la maternité (doc 122-II/1965–66), 8.3.1966 (PE15.227), in: HAEU BAC026/1969–712, S. 31. Für die Gleichheitsforderungen scheint die Beteiligung Astrid Lullings an der Stellungnahme nicht unerheblich gewesen zu sein. Lulling zählte zu einer der ersten Feministinnen im EP.
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III. Mutterschutz: Ein Fall für die Harmonisierung in der EWG? un protège les enfants au travail, mais comme un citoyen à part entière, qui a pendant une partie de sa vie, une fonction et une responsabilité particulières: la maternité.“60
Die Abgeordneten forderten, das Recht von Frauen auf Erwerbsarbeit nicht am Maßstab des männlichen Normalarbeiters zu messen. Gleichheit sollte nicht als Angleichung an den Mann verstanden werden. Stattdessen sollten Frauen als gleichberechtigte Bürgerinnen mit spezifischen Eigenschaften und Bedürfnissen behandelt werden und Geschlechterunterschiede, vor allem die Möglichkeit der Mutterschaft, berücksichtigt werden. Die Sozialkommission wandte sich von einem Leitbild ab, das die Mutterschaft als das Wesensmerkmal von Frauen konzipierte und die Frauen zum Sonderfall am Arbeitsmarkt degradierte. Die Abgeordneten warnten die Kommission explizit davor, Frauen auf die Mutterschaft zu reduzieren und dadurch ihre berufliche sowie gesellschaftliche Integration einzuschränken.61 Stattdessen verstanden die Abgeordneten Mutterschaft als soziale Funktion und zeitlich begrenzte Aufgabe im weiblichen Lebensverlauf. Angesichts der Destabilisierung des Alleinernährermodells und des Wandels von Familienformen zeigte sich immer deutlicher, dass die Ehe nicht mehr als lebenslage Versorgung für Frauen dienen konnte. Daher bekräftigten sie das Recht von Frauen, durch Erwerbsarbeit ihren Lebensunterhalt zu sichern. Während der Mutterschaft war aber eben dies erschwert und daher begrüßten die Abgeordneten den Vorschlag der Kommission, den Mutterschutz anzugleichen und zu erweitern. Die Regelungen sollten es Frauen ermöglichen, sich während einer bestimmten Lebensphase vorrangig der Familienarbeit zu widmen, ohne aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden zu müssen.62 Unter Hinweis auf die soziale Funktion von Mutterschaft forderten die Abgeordneten zudem spezifische Bestimmungen, die das Recht auf Arbeit, die Chancengleichheit (egalité de chance) und Gleichbehandlung (egalité de traitement) garantierten, d.h. die es Frauen ermöglichten, ihre Existenz durch Erwerbsarbeit zu sichern (z.B. Kinderbetreuung).63 Mit den Forderungen nach Gleichbehandlung und Chancengleichheit verband sich zudem eine Kritik am Ernährermodell und der Bindung weiblicher Arbeitskraft in der Familie. Angesichts der wirtschaftlichen Entwicklung und des Arbeitskräftebedarfs sahen die Abgeordneten die Arbeitsmarktintegration von Frauen als zwingend geboten. Der Rekurs auf die Ökonomie erlaubte es, das Recht auf
60 Parlement européen: Projet de proposition de Résolution portant avis du Parlement européen sur le Projet de Recommandation de la Commission de la C.E.E. aux Etats membres concernant la protection de la maternité, PE 15.643, in: HAEU BAC026/1969–712, S. 136–169, hier S. 167. 61 Vgl. ebenda, S. 139, 167. 62 Vgl. ebenda, S. 160; Résolution portant avis du Parlement européen sur le projet de recommandation de la Commission de la C.E.E. aux Etats membres concernant la protection de la maternité, adoptée lors de la séance du 27 juin 1966, in: HAEK BAC 1944/1992 S, 69–72. 63 Vgl. Parlement européen: PE 15.643, in: HAEU BAC026/1969–712, S. 169; Parlement européen: Note Introductive (PE15.227), in: HAEU BAC026/1969–712, S. 31.
III. Mutterschutz: Ein Fall für die Harmonisierung in der EWG?
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Erwerbsarbeit und die Forderungen nach Gleichbehandlung mit den Entwicklungszielen des Gemeinsamen Marktes zu verbinden. Wenn die Abgeordneten von einem „adäquaten Platz“ für Frauen am Arbeitsmarkt sprachen, zielten sie nicht auf eine Angleichung von Frauen an Männer, sondern auf die Gleichheit in der Differenz. Dies zeigt sich auch in dem Bewusstsein für Benachteiligungen aufgrund des Geschlechts. Die Abgeordneten wiesen darauf hin, dass nicht allein familiäre Verpflichtungen den Erwerbsstatus von Frauen beeinflussten, wie es der Empfehlungsentwurf der Kommission nahelegte. Die Abgeordneten erkannten vielmehr auch die strukturelle Diskriminierung aufgrund des Geschlechts und Grenzen der Gleichberechtigung, die auf der Geschlechterhierarchie basierten. So wurden Männer beispielsweise in Einstellungsverfahren bevorzugt, da ArbeitgeberInnen Vorbehalte gegen erwerbstätige Frauen hatten.64 Die Sozialkommission ging davon aus, dass die Gleichberechtigung eine Partnerschaft zwischen Mann und Frau im Beruf, in der Familie und der Gesellschaft voraussetze: „Ce partnership doit être dans notre société moderne, un droit; il est, un plus, une nécessite.“65 Die Abgeordneten kritisierten damit den fundamentalen Widerspruch zwischen der formalen Gleichberechtigung und den vielfältigen Einschränkungen in der Wahrnehmung der Rechte. Es sei an dieser Stelle beispielsweise daran erinnert, dass in der Bundesrepublik bis 1976 die Rollenverteilung innerhalb der Ehe gesetzlich vorgeschrieben blieb. Die Berufstätigkeit von Frauen wurde bis dahin an die Erfüllung ihrer Haushaltspflichten gebunden. Zudem oblag es den Ehemännern das letzte Wort (Stichentscheid) zu sprechen, konnten sich beide Elternteile in Fragen der Erziehung nicht einigen. Auch in den anderen Mitgliedstaaten wurde die formale Gleichberechtigung u.a. durch das Familienrecht eingeschränkt. Die Sozialkommission sah die EWG in der Pflicht, einen Beitrag zur wirtschaftlichen Integration von Frauen zu leisten und die Konzeption von Frauenarbeit zu überdenken. Daher wurde die Kommission aufgefordert, umfassende Studien über die sozialen, psychologischen, kulturellen und rechtlichen Bedingungen anzufertigen, die der ökonomischen und gesellschaftlichen Integration von Frauen entgegenstanden. Dafür sollte die Kommission mit allen erdenklichen PartnerInnen zusammenarbeiten, die daran interessiert waren
64 Vgl. „[Le Parlement européen revendique des] solutions nouvelles, faisant une place plus adéquate à la femme au travail et éliminant tout entrave à son accès à l’emploi, à ses droits à une égalité de traitement en matière des conditions de l’emploi et de carrière, ainsi qu’à sa pleine intégration dans la société.“ Parlement européen: PE 15.643, in: HAEU BAC026/ 1969–712, S. 169; Parlement européen: Note Introductive (PE15.227), in: HAEU BAC026/ 1969–712, S. 27–52. 65 Parlement européen: PE 15.643, in: HAEU BAC026/1969–712, S. 138.
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III. Mutterschutz: Ein Fall für die Harmonisierung in der EWG? „[…] à repenser fondamentalement le problème de l’emploi des femmes pendant la période de la maternité active, sans pour cels [sic !] nuire par une protection inadéquate à l’emploi des femmes en général.“66
Die Stellungnahmen des WSA und des EP zeigen den Interpretationsspielraum auf, in dem der EWG-Vertrag ausgelegt werden konnte und in dem die Kommission agieren konnte. Dies betraf zum einen die Frage, inwiefern Unterschiede der sozialen Sicherung als Wettbewerbsfaktoren bewertet und nivelliert werden konnten. Die im WSA geäußerte Kritik an der Mutterschutzempfehlung spiegelte die Position der ArbeitgebervertreterInnen und der Regierungen wieder. Sie kritisierten an einem Großteil der sozialpolitischen Initiativen, dass die Kommission Art. 117 und 118 in Feldern umzusetzen versuchte, denen die Regierungen nicht zugestimmt hatten oder die über den Vertrag hinausgingen. Ein weiterer Vorwurf betraf das Vorgehen, Kontakt zu Nichtregierungsorganisationen aufzunehmen und Ausschüsse einzurichten, die ebenfalls nicht vertraglich vorgesehen waren. Dem Parlament hingegen gingen die Bemühungen nicht weit genug. Die Abgeordneten wandten den Antidiskriminierungsauftrag des EWGV nicht nur auf die nationalen Unterschiede oder die Differenzen spezifischer Beschäftigungsgruppen an. Stattdessen wiesen sie auf geschlechtsspezifische Ungleichheiten hin. Durch den Lohngleichheitsartikel war bereits ein „Präzendenzfall“ für diese Ausdeutung des Integrationsprojekts gegeben. Die Mutterschutzempfehlung sollte daher nur ein erster Baustein einer umfassenden Frauenbeschäftigungspolitik sein. Wie an anderer Stelle zu sehen sein wird, wiesen die geschlechterpolitischen Ideen des Parlaments einige Parallelen zu den Debatten in internationalen Organisationen auf (z.B. Antidiskriminierungserklärung der UNCSW). Das Parlament stellte sich in der Stellungnahme zur Mutterschutzempfehlung auf die Seite der Kommission und forderte eine umfassende gemeinschaftliche Sozialpolitik und den Ausbau der supranationalen Kompetenzen. Anders als der WSA forderte das Parlament auch zur Konsultation zivilgesellschaftlicher Partner auf.67 In der Mutterschutzdebatte zeigte sich, welche Bedeutung der wissenschaftlich fundierten Aufbereitung von Informationen beigemessen wurde. Ebenso wie die Konsultation von ExpertInnen wurde die Verwissenschaftlichung teils heftig kritisiert oder energisch befürwortet. Aus heutiger Perspektive sind dies gängige Arbeitsmethoden der Kommission und des EU-Parlaments. Auch die AkteurInnen der 1960er Jahre scheinen bereits das Potential erkannt zu haben, das darin lag, um den inhaltlichen und institutionellen Rahmen der EWG zu verändern.
66 Ebenda, S. 169, vgl. allgemein dazu S. 144. 67 Vgl. Collins: The European Communities, London 1975, Bd. 2, S. 181, 191–194.
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4. DIE MUTTERSCHUTZEMPFEHLUNG IM KONTEXT DER SOZIALPOLITISCHEN DEBATTEN Die jahrelangen Vorarbeiten der Kommission zur Vereinheitlichung der Mutterschutzbestimmungen waren schließlich vergeblich. Wie bereits beschrieben, spitzte sich 1964 der institutionelle Konflikt der EWG über die Zuständigkeiten der supranationalen Gremien zu. Die Uneinigkeit in dieser Frage führte zu einer Lähmung der gemeinschaftlichen Sozialpolitik nach der Ratsitzung am 20. April 1964 und eskalierte in der Blockade des Ministerrats (1965).68 Die institutionelle Krise der EWG wurde dann ab dem Jahr 1966 allmählich beigelegt. Zunächst wurde hinsichtlich der Finanzierung der Agrarpolitik und des Entscheidungsverfahrens durch den Luxemburger Kompromiss Einigkeit erzielt. Im Dezember 1966 zeichnete sich dann auch eine Lösung im Bereich der Sozialpolitik ab, als nach zweijähriger Pause die Arbeits- und Sozialminister im Rat zusammentraten. Der Kompromiss stand im Zeichen der Luxemburger Vereinbarung und begrenzte die Möglichkeiten der Kommission, eigenständig Bereiche sozialpolitischer Aktionen zu bestimmen. Die Themen und Ziele der Studien und Vorschläge sollten nur im vertraglich genannten oder von den Regierungen genehmigten Bereichen liegen. Die Kommission erhielt zunächst den Auftrag, im Bereich der Beschäftigungspolitik bzw. der Arbeitskräfteentwicklung aktiv zu werden. Die Mitgliedstaaten wünschten eine Politik, die auf die wirtschaftlichen, technischen und kulturellen Veränderungen reagierte. Konkret bedeutete dies, die Methoden zur Bestimmung des Arbeitskräftebedarfs zu verbessern und bisher marginale Arbeitnehmergruppen zu integrieren. Zu diesen „Sondergruppen“ zählten Frauen, ältere, körperlich behinderte und jugendliche ArbeitnehmerInnen. Zum einen sollten in Hinblick auf die Berufsbildung Jugendlicher die Ausbildungsgänge und Qualifizierungsstufen angeglichen werden, um die Freizügigkeit zu erleichtern. Auch die Erwachsenenbildung sollte unter der Berücksichtigung des berechneten Arbeitskräftebedarfs und des zu erwartenden strukturellen Wandels umstrukturiert werden. Die berufliche Weiterbildung sollte zu einer „Politik der sozialen Aufstiegsförderung“69 beitragen. Als Zielgruppe dieser Politik wurden im Besonderen Arbeitnehmer aus strukturell unterentwickelten Gebieten, Beschäftigte aus der Landwirtschaft und Frauen (vor allem nach Arbeitsunterbrechungen) benannt. Die Beschäftigungs- und Ausbildungspolitik sollte die Einbindung bisher marginaler ArbeitnehmerInnengruppen in den Arbeitsmarkt und ihren sozialen Aufstieg ermöglichen. Unter diesen Prämissen wurde ein besserer Zugang für junge Mädchen zur Berufsausbildung angestrebt und es sollten Fragen 68 Vgl. ebenda, S. 193. 69 Rat der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft: Aufzeichnung des Vorsitzes, Betrifft: Folgerungen aus den Vereinbarungen von der Ratstagung am 19.12.1966, Brüssel 27.01.1967, T/28/67 SOC, in: HAEU BAC006/1977–222, S. 238.
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III. Mutterschutz: Ein Fall für die Harmonisierung in der EWG?
der Teilzeitbeschäftigung für Frauen geklärt werden. In Hinblick auf die weiblichen Arbeitnehmer sollte auch geklärt werden, wie „ihre Berufstätigkeit mit ihren Verpflichtungen gegenüber ihren Familien in Einklang zu bringen“70 sei. In der Ratssitzung im Dezember 1966 reagierten die Staats- und Regierungschefs auf verschiedene Strukturdefizite und beschlossen eine engere beschäftigungspolitische Kooperation. Der Beschluss konnte auch die Grundlage für beschäftigungspolitische Maßnahmen für Frauen bilden. In Hinblick auf die Mutterschutzempfehlung setzte die Ratsentscheidung allerdings keine neuen Impulse. Die Kommission erhielt zunächst den Auftrag, die Vorlage zu überarbeiten.71 Auch über die Frage der korrekten Verfahrensweise wurde 1966 auf der Ratssitzung gestritten, ohne dass sie abschließend geklärt werden konnte. Es ging darum, in welcher Etappe des Verfahrens eine Konsultation der Sozialpartner erlaubt und die des Ministerrats geboten sei. Dieses Problem hatte sich im Zusammenhang mit den Empfehlungsentwürfen zur Invalidität und zum Mutterschutz entladen und provozierte ganz unterschiedliche Antworten. An den Debatten über die Verfahrensweise zeigte sich, in welchem Maße die Regierungen bereit waren, Kompetenzen an die supranationale Ebene abzugeben. Die französische Delegation beharrte auf dem intergouvernementalen Prinzip und wollte Kontakte zu den Sozialpartnern nur in den vertraglich vorgesehenen Bereichen und im Rahmen des WSA erlauben. Deutschland war mit einer teilweisen Kompetenzverschiebung einverstanden und forderte eine fallabhängige Herangehensweise. Italien, Luxemburg und die Niederlande sahen hingegen keine Notwendigkeit, das Verfahren vorzugeben. Angesichts der unterschiedlichen Positionen kann also keineswegs behauptet werden, die nationalen Regierungen hätten geschlossen eine Ausweitung des supranationalen Prinzips abgelehnt.72 Verunsichert durch die Debatten über die Konsultationsformel, setzte die Kommission auf eine neue Strategie und suchte die Abstimmungen mit den Delegierten der Mitgliedstaaten. Die BeamtInnen wussten, dass eine Empfehlung kein bindender Rechtsakt für die Mitgliedstaaten war und zeigten sich daher bestrebt, „die Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten im Interesse einer größeren Wirksamkeit enger zu gestalten.“73 Doch auch im Folgejahr konnte keine Einigung zwischen der Kommission und dem Ministerrat über das weitere Vorgehen hinsichtlich der Mutterschutzempfehlung erzielt werden. Bereits in der Beratung der zukünftigen sozialpolitischen Schwerpunkte mit dem COREPER stießen die Bemühungen der Kommis70 Ebenda, S. 243, allgemein S. 233–245. 71 Vgl. Dokument gezeichnet L.Lambert, 8.5.1967: „Problème de caractère général“, Anhang, in: HAEU BAC237/1980–455, S. 8–21; Collins: The European Communities, London 1975, Bd. 2, S. 195. 72 Vgl. Dokument gezeichnet L.Lambert, 8.5.1967, in: HAEU BAC237/1980–455, S.6; Collins: The European Communities, London 1975, Bd. 2, S. 197. 73 Kommission: Gemeinsame Antwort auf die schriftlichen Anfragen Nr. 181 und Nr. 201 vom 5.12.1967, ABl Nr. 312/4, 21.12.1967; Vgl. auch Schriftliche Anfrage Nr. 201 von Fräulein Lulling an die Kommission der Europäischen Gemeinschaften vom 20.10.1967, ABl Nr. 312/4, 21.12.1967, in: HAEU BAC 026/1969–12.
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sion erneut auf Ablehnung. Da die Kommission den Mutterschutz als Aspekt der sozialen Sicherung auf die Agenda gesetzt hatte, äußerten der deutsche und der französische Vertreter im COREPER Bedenken, ob die Mutterschutzinitiative in Rahmen der Entscheidung vom Dezember 1966 zulässig sei.74 Auf der ersten Sitzung des Ministerrats für Sozialfragen nach der wegweisenden Entscheidung von 1966 wurde nochmals der Konflikt um die Kompetenzerweiterung der Kommission ersichtlich. Nach wie vor konnte keine Einigung darüber erzielt werden, wie in Zukunft hinsichtlich der Konsultation der Sozialpartner verfahren werden sollte. Während einige Delegationen in diesem Schritt eine Überschreitung der Befugnisse der Kommission sahen und erheblich Folgen auf die nationale Politik fürchteten, warnten andere (v.a. Niederlande) davor, das Initiativrecht der Kommission allzu stark zu beschränken.75 Die fortdauernde Uneinigkeit über die Verfahrensfragen, im Besonderen über die Konsultation der Sozialpartner, behinderte die inhaltliche Einigung in sozialpolitischen Fragen. Daher wurde auch die Vorlage der Mutterschutzempfehlung immer weiter hinaus geschoben.76 Der Durchbruch gelang schließlich in der Sitzung der Sozialminister im Dezember 1967 auf Initiative der deutschen Delegation. Ihr Vorschlag zielte darauf ab, in allen wirtschaftspolitischen Entscheidungen bereits sozialpolitische Konsequenzen mitzudenken und durch gemeinschaftliche oder koordinierte nationale Maßnahmen entgegenzusteuern. Dieser Vorschlag fand sowohl die Zustimmung der Delegationen als auch der Kommission, die diesen Ansatz schon länger verfolgte.77 Infolge des deutschen Vorschlags verschoben sich jedoch die sozialpolitischen Schwerpunkte der Gemeinschaft. Zum einen wurde infolge einer schwachen Rezession der Fokus auf die Freizügigkeits-, Beschäftigungs- und Berufsbildungspolitik verengt. Zum anderen wurden soziale Fragen im Bereich der Energiepolitik, Industriepolitik, Regionalpolitik und Wissenschafts- und Forschungspolitik auf die Tagesordnung gesetzt.78 74 Vgl. Der Rat: Aufzeichnung, betrifft: Folgerungen aus den Vereinbarungen der Ratstagung am 19.12.1966, Brüssel 22.03.1967, T/96/1 d/67 (SOC rev.1), in: HAEU BAC006/1977–223, S. 107f. Auf der Sitzung wurden die Leitlinien für die Kommissionsarbeit im Bereich soziale Angelegenheiten diskutiert. 75 Vgl. Rat der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Protokoll über die 220. Tagung des Rates der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft am Montag, 5. 06.1967, S. 44f., 52, in: HAER CM2 1967- 36. 76 Ebenda, S. 90; Der Rat der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft: Addendum zu Dok. 579/67 (SOC 89), Betrifft: Folgerungen aus den auf der Tagung des Rates am 19. Dezember 1966 getroffenen Vereinbarungen, Brüssel, 22.05.1967, 579/67 (SOC 89) Add. 1, S. 4a, in: HAER CM2 1969–1034. 77 Vgl. Der Rat der Europäischen Gemeinschaften, Protokoll über die 20. Tagung des Rates am Donnerstag, 21. 12.1967 in Brüssel, Brüssel 22.04.1968, 1792/67 (PV/CONS 16) endg., S. 37–42, in: CM 2 1967–90. 78 Vgl. Rat der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Protokoll über die 220. Tagung des Rates der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, 5.06.1967, S. 17, 36, in: HAER CM2 196736; Kommission der Europäischen Gemeinschaften: SEK(67) 5014 endg., Brüssel, 18. De-
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Die langen Auseinandersetzungen über die Konsultationsformel und die veränderte Schwerpunktsetzung bedeuteten für die Mutterschutzempfehlung quasi das Aus. Die Kommission brachte nach 1966 keine weiteren Versionen der Empfehlung im Ministerrat ein und erklärte im Jahr 1970 schließlich, dass sie ihre Bemühungen um die Harmonisierung der Mutterschutzbestimmungen einstellen werde. Eine Fortsetzung der Arbeit erschien angesichts der veränderten Agenda und personeller sowie finanzieller Notstände der Kommission nicht möglich. Die Kommission bekundete jedoch, dass sie die Mutterschutzdebatte und andere eingestellte Maßnahmen für wichtig erachte und zu einem gegebenen Zeitpunkt abschließen wolle. Weitere Arbeiten an der Mutterschutzempfehlung waren um 1970 zudem obsolet geworden, da sich inzwischen die Rechtslage in den Mitgliedstaaten verändert hatte.79 Die Arbeits- und Sozialminister hatten sich auf ihrer Sitzung im Dezember 1966 auf die Ratifikation diverser ILO-Übereinkommen, darunter das Übereinkommen Nr. 103, verständigt. Daran zeigt sich, dass in den Mitgliedstaaten durchaus Zustimmung zu einer Anhebung des Mutterschutzstandards bestand. Die nationalen Regierungen waren durchaus gewillt, beim Ausbau der Wohlfahrtsregime weibliche Lebensrisiken abzusichern, vor allem angesichts der steigenden Frauenerwerbsquoten. Die Angleichung der Mutterschutzbestimmungen in den Mitgliedstaaten erfolgte somit zwar durch den Druck der Gemeinschaft, orientierte sich aber letztlich an den ILO-Standards. Damit war ein Weg der Angleichung beschritten worden, den die Kommission zu Beginn der 1960er Jahre durch ihre Initiative verlassen und durch eine supranationale Methode ersetzen wollte.80 Die Empfehlung scheiterte schließlich nicht an den anvisierten Standards. Angesichts der boomenden Wirtschaft in den Mitgliedstaaten und der steigenden Frauenerwerbsquoten galt eine Reform der Mutterschutzbestimmungen als angemessene Möglichkeit, Frauen in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Das Thema Mutterschutz wurde auch auf nationaler und internationaler Ebene ausgiebig diskutiert und die EWG-Mitgliedstaaten hatten eine Erweiterung der Mutterschutzbestimmungen durch die ILO mitgetragen oder wie im Falle der BRD nationale Bestimmungen reformiert (1952, 1965). Da die Empfehlung der Kommission nur geringfügig die etablierten Standards überschritt, schien die Zustimmung des Ministerrats nicht abwegig. Allerdings stieß die Kommission mit ihrer Initiative aufgrund der Vorgehensweise auf Ablehnung. Das Scheitern der Mutterschutzempfehlung ist zember 1967, S. 10, in: HAER CM2 1968–974; Secrétariat Général: Rapport sur la 44ème session du Conseil (Affaires Sociales) tenue le lundi 29.07.1968 à Bruxelles, Brüssel 30.07.1968, in: HAEUK BAC 38/1984–176, S. 784f. 79 Vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Arbeitsprogramm zur Durchführung von Artikel 118, SEK (70), 1428/2, Brüssel 28.04.1970, S. 5 und Anlage S. 8, In: HAER CM2 1971–1176. 80 Vgl. Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, der Rat: Aufzeichnung, betrifft: Folgerungen aus den Vereinbarungen der Ratstagung am 19. Dezember 1966, T/96/1/67 (SOG rev. 1), Brüssel, 22.03.1967, S. 25, in: HAER CM2 1969–32; Der Rat der Europäischen Gemeinschaften, Protokoll über die 20. Tagung des Rates, Brüssel 22.04.1968, S. 97, in: CM 2 1967–90.
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zugleich als missglückter Versuch der Kommission zu verstehen, die supranationalen Kompetenzen im Bereich der Sozialpolitik auszudehnen und eine Harmonisierung der nationalen Sozialversicherungssysteme herbeizuführen. Die Mutterschutzempfehlung kann als eine jener sozialpolitischen Initiativen verstanden werden, die durch unterschiedliche Interpretationen des Gründungsvertrags erschwert wurden: „Plus généralement, on peut affirmer que les difficultés majeures ont toujours été rencontrées là où les auteurs du Traité on montré le plus de réticences, là où ils ont le plus répugné à étendre au secteur de la politique sociale les méthodes et les procédures communautaires. Ce n’est certainement pas un hasard si non seulement les plus profondes divergences d’interprétation, mais aussi les plus grandes résistances à la mise en œuvre d’une politique sociale réellement efficace et agissante se sont toujours manifestées sur le problème essentiel de la délimitation et de l’articulation des compétences entre la Commission et les gouvernements des Etats membres.“81
An der Mutterschutzempfehlung entlud sich nicht nur die Auseinandersetzung über die supranationalen Kompetenzen. Anders betrachtet, scheiterte das Vorhaben auch an dem neoliberalen Paradigma, wie es im EWGV verankert war. Zugleich war die Mutterschutzdebatte in einen Kontext eingebettet, indem dieses Paradigma in Frage gestellt wurde. Mit der Entscheidung der Arbeits- und Sozialminister 1966 wurde das Verhältnis von wirtschaftlicher und sozialer Integration neu bestimmt. Die Konzentration des Integrationsprozesses auf wirtschaftspolitische Probleme wurde in Frage gestellt und die sozialen Folgen der Integration auf die Agenda gesetzt: „The session must be considered a turning-point through its re-establishment of a degree of momentum in social affairs and recognition that they could no longer be ignored.“82
Die Mutterschutzdebatte war einer der Impulse, die einen Konsens über die sozialpolitische Ausrichtung der Gemeinschaft und Verfahrensweise herbeiführten. Wollte die Kommission den Mutterschutz jedoch nach 1966 weiterhin auf die sozialpolitische Tagesordnung setzen, musste sie andere Begründungszusammenhänge bedienen und sich enger mit dem COREPER und dem Ministerrat abstimmen.83 Es fällt jedoch auf, dass die Kommission die Mutterschutzempfehlung bereits ab ca. 1965 stärker in einen beschäftigungspolitischen Bezug stellte, als sie nach Möglichkeiten suchte, angesichts des Wachstums und zum Ausgleich des Arbeitsmarktes, Arbeitskraftressourcen besser in den Markt zu integrieren. Durch eine Angleichung der Mutterschutzbestimmungen erhoffte sich die Kommission „Einfluß auf die […] Erhaltung eines ausreichenden und leistungsfähigen Ar-
81 Réalisations et perspectives de la politique sociale de la CEE. Discours de Levi Sandri devant le Parlement Européen à Strasbourg, 24.11.1965, in: HAEU BAC 26/1969 - 439, S. 136. 82 Collins: The European Communities, London 1975, Bd. 2, S. 196. 83 Vgl: Der Rat der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft: Addendum zu Dok. 579/67 (SOC 89), Add. 1, S. 4a, in: HAER CM2 1969–1034.
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beitskräftepotentials“84 zu nehmen. Der Fokus der Kommission verschob sich auf Maßnahmen, die eine Steigerung der Frauenbeschäftigungsquote ermöglichen konnten. Dadurch gerieten die Themen der Aus- und Weiterbildung und der Doppelbelastung stärker in das Blickfeld. Auch der Mutterschutz wurde zunehmend als Beitrag zur Minderung der Doppelbelastung erwerbstätiger Frauen präsentiert. Durch die Initiative sollte der Wert der Familie geschützt und das Recht auf Arbeit gewährleistet werden.85 Die Kompetenzstreitigkeiten im Kontext der Mutterschutzdebatte zeigen schließlich auch, dass die Integrationsgeschichte differenzierter betrachtet werden muss. In der EU-Historiographie wurde darauf hingewiesen, dass der Sozialpolitik erst ab den 1970er Jahren mehr Beachtung geschenkt wurde. Diese Entwicklung wird jedoch allein auf die Bemühungen der Staats- und Regierungschefs zurückgeführt. Zugleich wird eine Festigung des intergouvernementalen Elements behauptet und auf die Konferenz der Staats- und Regierungschefs verwiesen, die ab Beginn der 1970er Jahre als Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ) verstetigt wurde und die Führung und Richtlinienkompetenz der Gemeinschaft übernehmen sollte.86 Es ist durchaus richtig, dass die Regierungschefs in Den Haag (1969) und Paris (1972) die Bedeutung der Sozialpolitik im Integrationsprozess aufwerteten. In Paris bekundeten die Regierungschefs den Willen zu einer aktiven gemeinschaftlichen Sozialpolitik. Der Sozialpolitik sollte zukünftig die gleiche Priorität wie der Wirtschafts- und Währungspolitik zugestanden werden. In der Literatur wird dieses Umdenken auf den Erweiterungsprozess und die Erkenntnis zurückgeführt, dass soziale Ungleichheiten auch im Gemeinsamen Markt fortbestanden und sich vergrößerten. Die oben dargestellten vielschichtigen Abstimmungsprozesse im COREPER und auf den Treffen der Sozialminister werden dabei außer Acht gelassen. Werden diese Prozesse in die Bewertung der europäischen Sozialpolitik einbezogen, ergibt sich ein anderes Bild, und die Dichotomie zwischen nationalen und supranationalen Interessen muss relativiert werden. Die Regierungen lehnten keineswegs einstimmig die Ausdehnung der supranationalen Kompetenzen und gemeinschaftlichen Sozialpolitik ab. Und auch wenn die Neuorientierung schließlich dem deutschen Vorschlag folgte, kam sie den Bestrebungen der Kommission entgegen, soziale und wirtschaftliche Maßnahmen zu verbinden.87 So ist auch der Befund der Integrationsgeschichtsschreibung zu relativieren, wonach die Kommission bzw. das Parlament in der sozialpolitischen Erneuerung keine tragende Rolle gespielt haben. Die Kommission wird für die 1970er Jahre 84 Kommission der EWG, Beratender Paritätischer Ausschuss für die sozialen Probleme der landwirtschaftlichen Arbeitnehmer: Entwurf einer Stellungnahme zum Vorentwurf einer Empfehlung der Kommission an die Mitgliedstaaten zum Mutterschutz, V/13.868/65-D, Brüssel 25.10.1965, in: HAEU BAC006/1977–377, S. 253. 85 Vgl. Parlement européen, Commission Sociale, Rapporteur Mlle Lulling: (PE15.227), in: HAEU BAC026/1969–712, S. 30. 86 Vgl. Brunn: Die Europäische Einigung, Bonn 2006, S. 179–183. 87 Vgl. zu einer ähnlichen Lesart Eichenhofer: Internationale Sozialpolitik, in: Hockerts (Hg.): Geschichte der Sozialpolitik, Baden-Baden 2006, S. 917–928.
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oft als Verwaltungsstelle des Ministerrats beschrieben, da sie ihrer Rolle als Motor der Gemeinschaft selten habe nachkommen können. Sie habe vor allem eine koordinierende, informierende Rolle übernommen, indem sie Studien durchführen ließ, Datensammlungen anlegte und Rechtsnormen bzw. Richtlinien vorbereitete.88 Zum einen ist eine solche Beobachtung wie eingangs beschrieben kaum zu verallgemeinern, da die Kommission ihre Aufgaben je nach Arbeitsfeld unterschiedlich ausfüllte und der Integrationsprozess unterschiedlich voranschritt. Zum anderen wird in einer solchen Lesart die Funktion der Wissensproduktion und der Informationssammlung verkannt. Laura Cram interpretierte den Prozess als eine Ausweichstrategie der Kommission, um in den Mitgliedstaaten die Bereitschaft für eine Zusammenarbeit auf Gemeinschaftsebene zu steigern und ihre Politikpräferenzen gegenüber anderen Akteuren zu begründen. In Anlehnung an aktuelle Studien zur Arbeitsweise internationaler Organisationen kann der Prozess der Wissensproduktion aber auch als Charakteristikum internationaler Zusammenarbeit verstanden werden. Die umfassenden Datensammlungen, Berichte und ExpertInnenkonsultationen dienten der Identifikation und Konstruktion sozialer Problemdiskurse, die wiederum als Ausgangspunkt für internationale und supranationale Initiativen fungierten.89 Die Idee einer kohärenten Sozial- und Wirtschaftspolitik manifestierte sich schließlich im ersten sozialen Aktionsprogramm (1974), das die Kommission nach dem Pariser Gipfel im Auftrag des Ministerrats erarbeitete und in das langjährige Überlegungen einflossen. Das Programm sollte die sozialen Folgen des Wirtschaftswachstums abfangen und eine Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen herbeiführen. Allerdings wurde die Zuständigkeit der Gemeinschaft in sozialpolitischen Angelegenheiten nach wie vor zurückhaltend formuliert. Die Rolle der Gemeinschaft blieb auf die Förderung der Kooperation zwischen den Mitgliedstaaten gemäß gemeinsamer Standards beschränkt; eigene Mittel waren nicht vorgesehen. Auf der Grundlage des Aktionsprogramms konnten aber in den Folgejahren weitere Maßnahmen im Bereich Bildung und Ausbildung, Arbeitsschutz, Arbeitsrecht und Gleichstellung initiiert werden.90 88 Richtlinien sind insofern verpflichtend, da sie sekundärrechtliche Gemeinschaftsnormen schaffen, d.h. sie müssen erst in nationales Recht implementiert werden. Vgl. dazu Berghahn, Sabine: Supranationaler Reformimpuls versus mitgliedstaatlicher Beharrlichkeit. Europäische Rechtsentwicklung und Gleichstellung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zu Wochenzeitung Das Parlament, Bd. 33–34, 2002, S. 29–37, hier S. 31. Vgl zur Entwicklung der Sozialpolitik Hantrais: Social Policy, London u.a. 1995, S. 207. 89 Vgl. Cram, Laura: Policy-Making in the European Union: Conceptual Lenses and the Integration Process, London 1997, S. 38; Kott/Droux: Introduction, in: Dies. (Hg.): Globalizing Social Rights, Basingstoke 2013, S. 1–14; Boswell: The European Commission’s Use of Research, S. 12f., http://aei.pitt.edu/7709/1/boswell-c-09c.pdf. 90 Vgl. Degimbe: La politique sociale européenne, Brüssel 1999, S. 94–98; Schulte: Das „Europäische Sozialmodell“, in: Becker/Hockerts/Tenfelde (Hg.): Sozialstaat Deutschland, Bonn 2010, S. 180–183; Hantrais: Social Policy, London u.a. 1995, S. 1, 5f.; Gold: Overview, in: Ders. (Hg.): The Social Dimension, Basingstoke 1993, S. 21f, Karama, Miriam: Struktur und Wandel der Legitimationsideen deutscher Europapolitik, Bonn 2001, S. 21ff., 129; Brunn:
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Ab Mitte der 1980er Jahre gelang es u.a. infolge eines neuen Konzepts der Kommission, die Gemeinschaft sozialpolitisch zu vertiefen. Jacques Delors arbeitete ab 1985 als Kommissionspräsident auf eine Kohäsion der nationalen Sozialpolitik hin, mit dem Ziel einen europäischen espace social zu errichten. Delors wollte den Widerstand der Mitgliedstaaten gegen eine Vereinheitlichung ihrer Systeme aufbrechen, indem er die Idee der Harmonisierung fallen ließ und die Kommission als Akteur der Kohäsion zu Gunsten der Sozialpartner zurücktreten sollte. In der Einheitlichen Europäischen Akte (1986) und dem Maastricht-Vertrag (1992) bzw. dem Sozialprotokoll wurden die Begriffe der Harmonisierung und Angleichung schließlich fallen gelassen.91 Fortan sollte die Gemeinschaft die Kooperation und Koordinierung der Mitgliedstaaten fördern, um so Einigkeit über soziale Mindestnormen herbeizuführen. Damit wurde die Idee aufgegeben, die nationalen Systeme zu vereinheitlichen. Mit diesem Strategiewechsel war auch die Anerkennung nationaler Differenzen verbunden: „Rather than engaging in endless discussions in an attempt to reach agreement over regulations, which would be legally binding and the strongest form of action possible […], the Community seemed to be working increasingly towards a situation of mutual recognition of systems […]. Mutual recognition implied that national systems are respected and not called into question.“92
Im Rahmen der veränderten Kommissionsstrategie konnte auch das Thema Mutterschutz in den späten 1980er Jahren erneut in der EG thematisiert werden. Diesmal vermied es die Kommission allerdings, das Thema als Aspekt der Sozialversicherung anzugehen. Stattdessen wurde der Mutterschutz unter dem Thema Gesundheitsschutz auf die Agenda der EG gesetzt. Ausgehend von der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte (1989) sollten die Arbeitsbedingungen, insbesondere die Hygiene und Sicherheit, verbessert werden. Schwangere Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillende Mütter wurden dabei als Arbeitnehmergruppen in den Blick genommen, die am Arbeitsplatz besonderen Risiken ausgesetzt sind. Der Schutz dieser Gruppen wurde dann durch die Richtlinie 92/85/EWG über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz geregelt. Unter dem Aspekt des Gesundheitsschutzes sah die Richtlinie u.a. ein Beschäftigungsverbot und Nachtarbeitsverbot vor. In der Richtlinie wurde auch der Anspruch auf
Die Europäische Einigung, Bonn 2006, S. 177ff., 197ff.; Hoskyns: Integrating Gender. London/New York 1996. S. 78ff. 91 Vgl. Hantrais: Social Policy, London u.a. 1995, S. 6, 25f.; Schulte: Das „Europäische Sozialmodell“, in: Becker/Hockerts/Tenfelde (Hg.): Sozialstaat Deutschland, Bonn 2010, S. 180– 183. 92 Hantrais: Social Policy, London u.a. 1995, S. 25.
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einen mindestens 14-wöchigen Mutterschaftsurlaub, einen Kündigungsschutz und Lohnfortzahlung festgehalten.93 Im Jahr 2008 legte die EU-Kommission Pläne zur Änderung der Richtlinie vor, die eine Ausdehnung des Mutterschaftsurlaubs auf 18 Wochen und eine Lohnersatzzahlung von 100 Prozent vorsahen. Im Ministerrat wurde die Reform im Jahr 2010 aus Kostengründen abgelehnt. Zudem wurde kritisiert, dass eine Erweiterung des Mutterschaftsurlaubs Arbeitsmarktchancen von Frauen verschlechtern könne.94 ZWISCHENFAZIT Das Beispiel der Mutterschutzinitiative zeigt, wie die unterschiedlichen Integrationskonzepte in sozialpolitischen Initiativen verhandelt werden konnten. Die Kommission befasste sich mit der Mutterschutzthematik in erster Linie als sozialrechtlichen Aspekt, da sie unterschiedliche Rechtsvorschriften als Hindernis für die Freizügigkeit von Arbeitnehmerinnen in einem Gemeinsamen Markt deutete. Ab ca. 1965 wurde das Thema Mutterschutz dann auch unter dem Aspekt der Arbeitskräftesicherung virulent. Die Kommission präsentierte die Mutterschutzbestimmungen fortan auch als Mittel zur Steigerung der Frauenerwerbsarbeit. Daneben zeigt das Beispiel der Mutterschutzdebatte jedoch auch, wie das Gleichheitspostulat in den 1960er Jahren von den EWG-Institutionen interpretiert werden konnte. Aus der Sicht der Kommission und des Parlaments mussten nationale Unterschiede und Unterschiede zwischen einzelnen Berufsgruppen angeglichen werden, um die Ziele des EWGV (Art. 117) zu erfüllen. Die Debatte zeigt exemplarisch, wie über einen wirtschafts- bzw. beschäftigungspolitischen Zugriff geschlechtsspezifische Problemlagen erfasst wurden und das Geschlecht als Kategorie sozialer Problembeschreibung auf die Agenda der EWG geriet. Damit konnte das Gleichheitspostulat auch für geschlechtsspezifische Unterschiede in Anschlag gebracht werden. Zwar wurde die Mutterschutzempfehlung nicht dezidiert als gleichstellungspolitische Maßnahme initiiert; aber sie konnte als solche interpretiert werden, wie sich bspw. an der Stellungnahme des Parlaments zeigte. In den Diskussionen der EWG-Institutionen wiederholte sich ein Prozess, der ähnlich bereits auf nationaler Ebene zu beobachten war: Durch den Mutterschutz wurden in den Sozialversicherungssystemen neben den Risiken männlicher Arbeiter (Krankheit, Alter, Invalidität) Frauen als Subjekte sozialer Bürgerschaft integriert. Wie eingangs beschrieben, wurde beim Ausbau der sozialen Sicherungssyteme das Modell des männlichen Normalarbeitnehmers und Alleinernährers fest93 Vgl. ebenda, S. 115f.; Wobbe/Biermann: Von Rom nach Amsterdam, Wiesbaden 2009, S. 140–142; Richtlinie 92/85/EWG, http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri= OJ:L:1992:348:0001:0007:DE:PDF, letzter Zugriff: 28.08.2012. 94 N.N.: EU-Ministerrat stoppt längeren Mutterschutz. 6.12.2010, http://www.focus.de/finanzen/recht/eltern-foerderung-eu-ministerrat-stoppt-laengeren-mutterschutz_aid_579188.html, letzter Zugriff: 28.08.2012.
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geschrieben. Damit wurden zugleich Abhängigkeiten von Frauen gegenüber dem Wohlfahrtsstaat und dem Familienernährer (re-)produziert. Aus der Perspektive der feministischen Wohlfahrtsstaatskritik kann Geschlechtergleichheit daher nur erreicht werden, wenn die sozialen Sicherungssysteme reformiert werden und alternative Einkommensquellen für Frauen angeboten werden. Im Fall einer Schwangerschaft müsste Frauen daher die unabhängige Sicherung ihres Lebensunterhalts ermöglicht werden, ohne dass der Einkommensverlust durch das Gehalt des Familienernährers kompensiert wird. Die Mutterschutzempfehlung hätte durch die Bestimmungen zum Lohnersatz und Kündigungsschutz einen solchen Effekt teilweise erzielt. Es muss bedacht werden, dass nur wenige Frauen mit einem Lohnersatz in Höhe von zwei Dritteln ihres durchschnittlichen Gehalts ihren Lebensunterhalt selbständig hätten bestreiten können. Weitreichender waren da die Forderungen der ILO-Empfehlung Nr. 95 nach vollem Lohnersatz. In Frasers Sinne einer geschlechtergerechten Sozialpolitik kann ein Kündigungsverbot während der Schwangerschaft auch eine Maßnahme gegen die Ausbeutung von Frauen bedeuten. Nach Fraser stellen die geringeren Löhne und schlechten Arbeitsbedingungen eine Ausbeutung weiblicher Arbeitnehmer dar. Die Ungleichbehandlung basiert auf der Annahme, Frauen seien nicht primär für das Familieneinkommen verantwortlich und könnten daher z.B. bei Heirat oder Schwangerschaft gekündigt werden. Dieser gängigen Praxis in manchen EWGStaaten hätte die Mutterschutzempfehlung entgegen gewirkt und wurde daher vor allem von den Abgeordneten des Europaparlements als wirksames Mittel gegen die Ausbeutung erwerbstätiger Frauen gelobt. In Frasers Konzept stellen die Überwindung androzentrischer Arbeitsstrukturen, die Anerkennung weiblicher Arbeitsleistung, die Umverteilung von Gehalt, Arbeits- und Freizeit wichtige Aspekte eines geschlechtergerechten Sozialstaats dar. Eine Reihe der vorgeschlagenen Mutterschutzbestimmungen hätten in diese Richtung wirken können. Besonders hervorzuheben ist nochmals der Vorstoß der Kommission, den Mutterschutz auf mithelfende Familienangehörige und Frauen in Heimarbeit auszuweiten. Dadurch wären andere Arbeitsformen als die Erwerbsarbeit anerkannt worden. Des Weiteren wurden in der Mutterschutzempfehlung allerhand Maßnahmen festgeschrieben, die auf Bedürfnisse von Müttern zugeschnitten waren und dadurch den männlich geprägten Arbeitsstrukturen und dem Androzentrismus entgegenwirken konnten: z.B. Stillpausen, Maßnahmen zum Gesundheitsschutz, Umgestaltung des Arbeitsplatzes oder die Einrichtung von Betreuungseinrichtungen. Vor allem die Abgeordneten erkannten das Potential der Mutterschutzempfehlung, androzentrische Arbeitsstrukturen abzubauen. Durch infrastrukturelle Maßnahmen hätten Frauen zudem mehr Zeit für die Erwerbsarbeit zur Verfügung gehabt. Fraser weist allerdings darauf hin, dass die Zeitverteilung erst dann gerecht ist, wenn Männer in dem Maße Verantwortung für die Reproduktionsarbeit übernehmen, wie Frauen in die Erwerbsarbeit integriert werden. Auf diese Art der Umverteilung und den Bruch mit der geschlechtlichen Arbeitsteilung zielte der Kommissionsentwurf hingegen nicht ab. Da nach Fraser auch die Marginalisierung von Frauenarbeit aus der geschlechtsspezifischen Rollenzuschreibungen und
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Arbeitsteilung resultiert, hätte die Empfehlung in dieser Hinsicht wenig bewirkt. Im Gegenteil, Sonderregelungen, wie die Mutterschutzbestimmungen, können Ungleichbehandlungen am Arbeitsmarkt verstärken und der Marginalisierung von Frauenarbeit Vorschub leisten. Zwar gründete die Empfehlung auf einem Leitbild, das Frauen nicht nur in der privaten Sphäre als Hausfrauen verortete, aber für die Kommission blieb die Familie bzw. Mutterschaft der Referenzpunkt und zentrale Aufgabenbereich für Frauen. Daraus ergeben sich Konsequenzen für die Konzeption von Frauenarbeit: Frauenarbeit wurde vor allem als klassenspezifisches Problem und nicht als grundlegendes Recht konzipiert. Die Erwerbsintegration von Ehefrauen wurde von der Kommission in Abhängigkeit von der Reproduktionsarbeit gedacht. Die ambivalenten Gleichheitsvorstellungen der Kommission werden an den Regelungen zum Lohnersatz besonders deutlich: zum einen wurden Frauen als Erwerbstätige mit unabhängigem Versicherungsanspruch gesehen, zugleich wurde das Leitbild des männlichen Familienernährers nicht aufgegeben. Es sei noch einmal darauf verwiesen, dass der angedachte Lohnersatz in vielen Fällen nicht ausgereicht hätte, um den Lebensunterhalt allein zu sichern. Die BeamtInnen schienen also durchaus davon auszugehen, dass erwerbstätige Frauen in letzter Konsequenz auf den Verdienst eines männlichen Ernährers zählen konnten. Das Gleichheitskonzept, wie es in der Mutterschutzempfehlung der Kommission zum Tragen kam, war differenztheoretisch begründet. Eine Andersartigkeit von Frauen sollte eine sozialrechtliche Gleichstellung begründen. Als Signum des Geschlechterunterschieds wurde die Mutterschaft herausgestellt; denn in der Möglichkeit, Leben zu geben, erschienen alle Frauen gleich. Die Präsenz von Frauen in beiden Sphären, der Familie und dem Arbeitsmarkt, war solange kein Problem, wie sie ihre Aufgaben in beiden Bereichen erfüllen konnten. Der Hinweis auf die „häuslichen Pflichten wegen der Mutterschaft“ legitimierte Ausgleichszahlungen zur Sicherung des Lebensunterhalts und infrastrukturelle Angebote wie Haushaltshilfen und erweiterte Kinderbetreuungsangebote. Die Kommission rekurrierte damit auf eine Vorstellung von Mutterschaft als soziales Risiko, wie sie um die Jahrhundertwende dominant geworden war. Die moralischen und pronatalistischen Aspekte, die in anderen Kontexten die Mutterschutzdebatte prägten, traten in der EWG jedoch zurück. Stattdessen wurden der Gesundheitsschutz und die Gleichstellung im Gemeinsamen Markt als Argumente in den Vordergrund gestellt. Die Stellungnahme des Parlaments zeigte, dass mit dem Bezug auf die Geschlechterdifferenz auch ein anderes Konzept von Gleichheit begründet werden konnte. Auch die Abgeordneten rekurrierten auf Geschlechterunterschiede. Sie forderten jedoch, das Leitbild von Mutterschaft zu überdenken und die Reproduktionsarbeit als temporäre Aufgabe zu sehen. Sie kritisierten den Empfehlungsentwurf der Kommission, weil Frauen auf die Mutterschaft reduziert wurden. Die Abgeordneten konzipierten Gleichheit nicht als Angleichung an den Mann. Das Gleichheitskonzept stellte daher stärker auf die Anerkennung weiblicher Bedürfnisse und Arbeitsleistung ab. Das Parlament nutzte die Mutterschutzdebatte, um das Gleichheitspostulat des EWGV über die Gleichheit der materiellen Lebens-
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verhältnisse hinaus auszulegen. Die Abgeordneten wiesen auf die unterschiedlichen Teilhabechancen und geschlechtsspezifische Ungleichheiten hin. Anders als die Kommission betrachteten die Mitglieder des Parlaments Mutterschaft als zeitlich begrenzte Aufgabe und konzipierten den Lebenslauf bzw. Lebenssequenzen als Grundlage wohlfahrtsstaatlicher Leistungen. An dieser Stelle zeigten sich auch Verschiebungen in der Konzeption von Sozialpolitik. Eine Ausrichtung der Sozialpolitik an den Lebensentwürfen setzte allerdings eine genaue Kenntnis der Lebensmodelle und -entwürfe der Bevölkerung voraus, die durch Studien erhoben werden sollten. Eine weitere Verschiebung in der Orientierung der Sozialpolitik kam hinsichtlich des Ernährer- und Partnerschaftsmodells zum Tragen. Während sich die Kommission und der WSA weiterhin stark am Ernährermodell orientierten, privilegierten die Abgeordneten das Partnerschaftsmodell. Die Gleichheit des Anspruchs auf ökonomische Unabhängigkeit, Selbstbestimmung und soziale Sicherung orientiert sich in diesem Modell nicht am Status des Mannes, sondern am Individuum. Somit eröffnete sich die Möglichkeit, Gleichheit als Geschlechtergleichheit zu diskutieren. Die Kommission wurde aufgefordert, androzentrische Strukturen am Arbeitsmarkt abzubauen und die Besonderheiten beider Geschlechter anzuerkennen. Auch plädierten die Abgeordneten für eine Anerkennung und Dekommodifizierung der Reproduktionsarbeit. Der Marginalisierung von Frauenarbeit konnte aus der Perspektive der Abgeordneten nur durch eine gleichberechtigte Partnerschaft von Mann und Frau begegnet werden, die bei der Integration von Frauen in die Erwerbsarbeit beginnen müsse, aber auch innerhalb der Familie wirksam werden sollte. Damit wurden Maßnahmen eingefordert, die auf Chancengleichheit und Gleichbehandlung zielten, ohne Frauen an Männer anzugleichen.95
95 Vgl. Fraser: Die Gleichheit der Geschlechter, in: Honneth (Hg.): Pathologien des Sozialen, Frankfurt a.M. 1994, S. 355–360; Weinbach/Stichweh: Geschlechtliche (In-)Differenzen in modernen Gesellschaften, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 41, 2001, S. 30–52; Dingeldey, Irene: Aktivierender Wohlfahrtsstaat und sozialpolitische Steuerung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 8–9, 2006, S. 3–9.
IV. FRAUENERWERBSARBEIT ALS SOZIALES PROBLEM Wie bereits an der Mutterschutzdebatte gezeigt, wurden die Erwerbssituation und Erwerbsbedingungen von Frauen seit dem 19. Jahrhundert als soziales Problem bzw. als Teil der sozialen Frage von sozialen Bewegungen diskutiert und sollten im Rahmen der Sozialreformen und der Sozialgesetzgebung verbessert werden. Während die soziale Frage mit dem Ausbau des Sozialstaates an Bedeutung verlor, blieb die Frauenerwerbsarbeit ein öffentliches und politisches Thema. Dabei verschob sich allerdings der Schwerpunkt der Debatte. Das Recht von Frauen auf Erwerbsarbeit, eine zentrale Forderung der Frauenbewegung, war Mitte des 20. Jahrhunderts formal verwirklicht. Auch das geschlechtsspezifische Risiko der Mutterschaft war in den sozialen Sicherungssystemen verankert worden. Ebenso waren die oftmals dramatischen Arbeitsbedingungen durch Hygiene- und Schutzvorschriften verbessert worden. Seit den 1950er Jahren, vor allem aber in den 1960er Jahren wurden die Debatten um die Frauenarbeit unter veränderten Vorzeichen geführt. Angesichts der steigenden Beschäftigungsraten verheirateter Frauen stellte sich die Frage nach der Notwendigkeit und Akzeptanz der Berufstätigkeit. Während die Erwerbsarbeit lediger, verwitweter oder geschiedener Frauen als notwendige Existenzsicherung sukzessive anerkannt und sozial abgesichert wurde, blieb die Berufstätigkeit verheirateter Frauen umstritten. Arbeitsrechtliche, steuerrechtliche und familienpolitische Bestimmungen beruhten auf dem Ernährermodell und soziale Ansprüche (Rente, Hinterbliebenenversorgung) wurden aus dem Abhängigkeitsverhältnis von Ehefrauen abgeleitet. In den 1960er Jahren formulierten internationale und supranationale Akteure die Arbeitsmarktintegration verheirateter Frauen als beschäftigungspolitisches Ziel, so dass das Geschlecht und der Familienstand als Kriterien des Berufszugangs und der sozialen Sicherung problematisiert wurden. 1. VOM PROTEKTIONISMUS ZUR GLEICHHEIT: FRAUENERWERBSARBEIT ALS THEMA DER ILO Die ILO befasste sich bereits seit ihrer Gründung im Jahr 1919 mit dem Thema Frauenerwerbsarbeit. Im Vordergrund standen zunächst als Teil der sozialen Frage die Arbeitsbedingungen der Industriearbeiterinnen, die durch das Übereinkommen über den Mutterschutz (Nr. 3) und über die Nachtarbeit von Frauen (Nr. 4) verbessert werden sollten. Somit betrafen zwei der sechs Übereinkommen,
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die auf der ersten Internationalen Arbeitskonferenz 1919 angenommen wurden, die Arbeitsbedingungen von Frauen.1 Zugleich war damit die Richtung der ILO-Frauenpolitik vorgegeben. In der Zwischenkriegszeit wurden die Arbeitsschutznormen für Arbeiternehmerinnen erweitert und eine protektionistische Frauenpolitik etabliert. Die Rechtsakte sollten weniger einer Gleichstellung von Frauen am Arbeitsmarkt dienen, sondern vielmehr dem Erhalt ihrer Arbeitskraft für die Reproduktionsarbeit. In den Folgejahren wurden die protektionistischen Bestimmungen vom Kreis der Industriearbeiterinnen auf weitere Frauengruppen ausgeweitet, z.B. auf Arbeitnehmerinnen in der Landwirtschaft. In den 1930er und 1940er Jahren wurde der protektionistische Ansatz allmählich erweitert, was u.a. auf die Einrichtung diverser ExpertInnengremien und einer Fachabteilung im Internationalen Arbeitsamt zurückzuführen ist. Bis 1932/1933 gab es in der ILO kein Gremium, das dezidiert mit dem Thema Frauenarbeit befasst war. Stattdessen zeichneten einzelne MitarbeiterInnen wie die deutsche Martha Mundt oder später die Französin Marguerite Thibert für das Thema verantwortlich: bei ihnen liefen Untersuchungen zum Thema zusammen und sie hielten den Kontakt zur transnationalen Frauenbewegung. Auf Druck von Frauenverbänden wie Open Door International oder International Alliance of Women for Suffrage and Equal Citizenship (später International Alliance of Women) wurde infolge der Wirtschaftskrise 1933 nach langen Diskussionen ein Correspondence Committee on Women’s Work eingerichtet. Das Komitee konnte bei Bedarf vom Verwaltungsrat aus verschiedenen ExpertInnen einberufen werden, um Stellungnahmen zu sozialen und wirtschaftlichen Aspekten der Frauenarbeit zu erarbeiten.2 Ebenfalls 1933 wurde infolge interner Umstrukturierungen eine Abteilung für Frauen- und Jugendarbeit eingerichtet, die zunächst von Marguerite Thibert geleitet wurde. Thibert war als promovierte Literaturwissenschaftlerin bereits lange Jahre in anderen ILO-Abteilungen tätig. Nicht zuletzt ihrem akademischen Hin1
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Vgl. ILO-Übereinkommen Nr. 3 über die Beschäftigung der Frauen vor und nach der Niederkunft, 1919, https://s3.amazonaws.com/normlex/normlexexotic/DE/DE_C003.htm, letzter Zugriff, 22.11.2012. ILO-Übereinkommen Nr. 4 über die Nachtarbeit der Frauen, 1919, https://s3.amazonaws.com/normlex/normlexexotic/DE/DE_C004.htm, letzter Zugriff, 22.11.2012. Die ersten Initiativen der ILO gehen auf die Bemühungen nationaler und internationaler Frauenverbände auf der Friedenskonferenz von 1919 zurück. Sie forderten: Lohngleichheit, Arbeitszeitverkürzung, Nachtarbeitsverbot, Mutterschutz- und Rentenleistungen, Entlohnung der Hausarbeit. Vgl. dazu Offen, Karen: European Feminisms 1700–1950. A political history, Stanford 2000, S. 341–357; Stienstra: Women's Movements, Basingstoke 1994, S. 55–58; Fraser: Becoming Human, in: Agosín (Hg.): Women, Gender, and Human Rights, London 2001, S. 38f., Fraser bezieht sich auf Whittick, Arnold: Woman into Citizen, London 1979; vgl. auch ILO: Women’s Empowerment: 90 years of ILO Action. May 2009, theme of the Gender Equality at the Heart of Decent Work Campaign, 2008–2009. http://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/---dgreports/---gender/documents/publication/ wcms_105088.pdf, letzter Zugriff 03.01.2013. Vgl. Rundschreiben von M. Phelan, an div. Minister, 6.03.1946, in: HAILO WN 1001/01, o.S.; Vgl. Procès verbaux du Conseil d’Administration, 98ème session, 23.–27.05.1946.
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tergrund ist es zuzurechnen, dass die Arbeit ihrer Abteilung auf wissenschaftlichen Untersuchungen basieren sollte. Die Abteilung für Frauen- und Jugendarbeit übernahm alsbald ein umfangreiches Aufgabenspektrum. Die MitarbeiterInnen bereiteten die diversen ExpertInnentreffen über die Frauenarbeit vor, d.h. sie beschafften oder erstellten Statistiken und Berichte und begleiteten die Beratungen. Nach der Gründung der UN wurde die Beratung von UN-Organen, vor allem der Frauenstatuskommission, in Fragen der Frauenerwerbsarbeit zu einer zentralen Aufgabe.3 Die Abteilung für Frauenarbeit und das Correspondence Commitee zeichneten dafür verantwortlich, dass Frauenarbeit in der ILO nicht mehr nur unter dem Aspekt des Protektionismus behandelt, sondern als allgemeines soziales Problem untersucht wurde. Zugleich kann die Einrichtung der Gremien als erster Schritt zur Institutionalisierung der Frauenarbeitsfrage innerhalb der ILO bewertet werden. Neben der Abteilung für Frauen- und Jugendarbeit befassten sich aber auch weiterhin andere Abteilungen (z.B. Arbeitskräfte) und ExpertInnengruppen (z.B. Industrial Committee) mit der Thematik Frauenarbeit.4 Die ExpertInnen im Correspondence Committee und in der Abteilung für Frauenarbeit bestimmten fortan maßgeblich die Entwicklung der Frauenpolitik der ILO. Sie privilegierten einen kombinierten Ansatz, in dem Protektionismus und Gleichheitsgarantien miteinander verbunden werden sollten. Dahinter stand die Idee, dass Arbeitsschutzbestimmungen für Frauen aufgrund biologischer Bedingungen (Mutterschaft) geboten seien, aber diese Bestimmungen oder Verbote kein Hindernis für die Beschäftigung von Frauen darstellen dürften. Im Sinne des sozialen Fortschritts sollten Frauen und Männern sichere Arbeitsbedingungen ermöglicht werden. Nach 1945 vollzog die Genfer Organisation dann einen scheinbar radikalen frauenpolitischen Wandel. Das oberste frauenpolitische Ziel der ILO bestand nicht mehr in der Erwirkung spezifischer Schutznormen für Frauen, sondern in der Bekämpfung der Ungleichheiten am Arbeitsmarkt. Nun setzte sich jener Diskussi3
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Vgl. International Labour Conference, 49th session, 1965, Records of Proceedings, Genf 1966, S. 374. Lubin/Winslow, stellten heraus, dass die Rolle von Frauen in den postkolonialen Ländern ein bedeutendes Thema wurde. Lubin/Winslow: Social Justice for Women, Durham 1990, S. 102f. Vgl. zur institutionellen Entwicklung und dem Einfluss der transnationalen Frauenbewegung Natchkova, Nora/Schoeni, Céline: L'Organisation internationale du travail, les féministes et les réseaux d'expertes. Les enjeux d'une politique protectrice (1919–1934), in: LespinetMoret, Isabelle/Viet, Vincent (Hg.): L’Organisation international du travail. Origine - Développement - Avenir, Rennes 2011, S. 39–52; Nach Thibert übernahm 1947 Mildred Fairchild die Leitung der Abteilung für Frauen- und Jugendarbeit. Vgl. Thébaud, Françoise: Réseaux réformateurs et politiques du travail féminin. L’OIT au prisme de la carrière et des engagements de Marguerite Thibert. Colloque „Politiques sociales transnationales, réseaux réformateurs et Organisation Internationale du Travail (1900–1980)“, Genf 11.–12.05.2009, http://www.ilo.org/public/english/century/download/thebau.pdf, Zugriff 26.10.2010. Aus Vorschlägen des Verwaltungsrats und der Frauenverbände wurde eine Liste, bestehend aus 96 Frauen- und 12 Männernamen verfasst, die potentiell in das Komitee einberufen werden konnten. Vgl. Procès verbaux du Conseil d’Administration, 57ème session, Genf 1932.
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onsstrang stärker durch, der auf die Geschlechtergleichheit abhob. Aber auch der protektionistische Ansatz wirkte latent in der Arbeit der ILO fort, da weiterhin die Überzeugung geteilt wurde, dass Arbeitnehmerinnen aufgrund ihres Geschlechts besonderer Schutz gebühre. Die ILO-Frauenpolitik war weiterhin auf die Annahme gestützt, dass die Kernaufgabe von Frauen in der Reproduktion lag. Zugleich wurde aber anerkannt, dass sich daraus spezifische Bedingungen bzw. Folgen für Frauen am Arbeitsmarkt ergaben.5 Frauen wurden als Arbeitnehmerinnen dezidiert in das Fortschrittsprojekt der ILO inkludiert. Frauen und Männern sollte durch gleiche Löhne, Arbeitszeiten und -bedingungen die gleichberechtigte Teilhabe am sozialen Fortschritt ermöglicht werden. Auf der Grundlage ihrer individuellen Erfahrungen und Kenntnisse sollten Frauen gleiche Chancen im Zugang zur Ausbildung und Beschäftigung gewährt werden.6 Chancengleichheit wurde zunächst vor allem als Angleichung an den arbeitenden Mann und die männlich dominierte Arbeitswelt konzipiert: „The ILO’s aim, in brief, has been to secure equality in practice for woman by guarding her from hazards to which she is peculiarly liable, by assuring that account is taken of the fact that she bears the greater share of responsibility for home and children, and by equipping her with skills and education so that she may enjoy the same opportunities as man. [Hervorhebung K.R].“7
Der frauenpolitische Ansatz der ILO und ihre Maßnahmen (Normsetzung, technische Zusammenarbeit) basierten auf einer Sprache der Differenz. Frauen sollten in ihrer Mutterrolle geschützt und Chancengleichheit und Gleichbehandlung erwerbstätiger Frauen garantiert werden.8 Für den Wandel des Gleichheitskonzepts war auch die Erklärung von Philadelphia ein wichtiger Referenzpunkt. Die Abteilung für Frauen- und Jugendarbeit und das ExpertInnen-Komitee rekurrierten darauf, wenn sie der wirtschaftlichen Entwicklung eine besondere Bedeutung für die Gleichstellung beimaßen. Sie gingen davon aus, dass durch ein steigendes Wirtschaftswachstum mehr Frauen in den Arbeitsmarkt eingebunden werden könnten und sich durch die ökonomische Partizipation auch die rechtliche Gleichstellung verwirklichen ließe: „As her contribution rises, so may her status as citizen be expected to be enhanced.“9 Unter den Vorzeichen der Vollbeschäftigung in den Industrieländern bemühten sich die ExpertInnen in den 1950er Jahren um eine Differenzierung der Orientierung und der Mittel der Frauenpolitik. Sowohl die Abteilung für Frauenarbeit 5
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Zwar wurden fortan keine geschlechtsspezifischen Arbeitsschutznormen mehr erlassen, aber in allgemeinen Arbeitsstandards wurden spezifische Vorschriften für Frauen eingebunden, vgl. Traglast-Übereinkommen 1967, Benzol-Übereinkommen 1971. Vgl. ILO: The I.L.O. and Women, Genf 1953, S. 2, 5–7; Gaudier, Maryse: The Development of the Women's Question at the ILO, 1919–1994. 75 Years of Progress Towards Equality, International Labour Organization, 1998. http://nird.ap.nic.in/clic/RRDL78.html, letzter Zugriff 13.11.2009. ILO: The I.L.O. and Women, Genf 1953, S. 12. Nach Fraser führt diese Forderung nicht zur Gleichheit, da der Androzentrismus bewahrt wird. Vgl. ebenda, S. 12; Gaudier: The development of the women's question, 1998, o.S. ILO: The I.L.O. and Women, Genf 1953, S. 22.
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als auch die Expertenkomitees befürworteten bereits in den frühen 1950er Jahren ein Frauenleitbild, das die Erwerbsarbeit als regulären Bestandteil des weiblichen Lebensentwurfs vorsah. Die weiblichen Arbeitnehmer sollten nicht mehr nur als Abweichung vom männlichen Normalarbeiter gelten. Anstatt die Reproduktion als Kernaufgabe von Frauen zu unterstreichen, wurde auf den enormen ökonomischen und sozialen Beitrag der Frauenarbeit hingewiesen. Dieser „weibliche“ Beitrag könne sich jedoch nur entfalten, wenn die politische, soziale und wirtschaftliche Gleichstellung von Frauen erreicht werde und die Politik die wirtschaftlichen Rechte von Frauen garantierte.10 Dieses Umdenken ist auf die zunehmende Einbindung von ExpertInnen in den Entscheidungsprozess der ILO zurückzuführen. Ab Ende der 1940er Jahre wurde zusätzlich zum Correspondence Comitee die Einrichtung eines Expertentreffens zur Frauenarbeit diskutiert. Diese Runde bestand aus einigen Mitgliedern des Correspondence Comitees und tagte erstmals 1951.11 Die Delegierten des Gremiums regten dann Mitte der 1950er Jahre eine weitere Institutionalisierung an. Sie schlugen vor, das Expertenkomitee in ein ständiges dreigliedriges Komitee für die Probleme weiblicher Arbeitnehmer umzuwandeln, das alle zwei Jahre tagen sollte. Ähnliche Forderungen waren dem Verwaltungsrat bereits von internationalen Frauenverbänden (International Federation of Christian Trade Unions, World Congress of Women Workers) vorgelegt worden. Die Umwandlung in ein ständiges Komitee war mit einer Erweiterung der Zuständigkeiten gleichzusetzen, weil die Mitglieder eigenständig über Themen bestimmen und Berichte zur Abstimmung auf der IAK vorlegen konnten. Anders als das Expertenkomitee erhielt das neue Komitee damit mehr Einfluss auf den Politikprozess, weil die Tagesordnung nicht mehr nur nach den Vorgaben des Verwaltungsrats ausgestalten werden musste.12 Anders als noch in den 1930er Jahren fand die weitere Institutionalisierung der Frauenarbeitsfrage eine breite Zustimmung unter den Arbeitnehmer- und Re10 Vgl. ILO, Meeting of Experts on Women’s Work, Genf, 11.–15.12.1951, S. 2, in: HAILO WN 1002. 11 Die ArbeitgebervertreterInnen bezweifelten den Nutzen der Sitzung, weil bereits für 1951 eine Sitzung des Correspondence Committees geplant war. Dem Verwaltungsrat war aber die Frauenarbeit vor dem Hintergrund des Beschäftigungsprogramms wichtig. Die ExpertInnengruppe tagte dann nach erneuter Terminverschiebung 1951 zu den Themen Berufsbildung, Arbeitsvermittlungsdienste, Anwendung der Lohngleichheit. Vgl. ILO, Minutes of the 109th session of the Governing Body, Genf Juni-Juli 1949, S. 30; ILO, Minutes of the 115th session of the Governing Body, Genf 1., 2., 21., 22. Juni 1951, S. 119 ff. An dem ersten Expertentreffen nahmen auf Seiten der Regierungen sieben Frauen, davon drei aus europäischen Ländern (Frau Nousbaum aus Frankreich, Frau Cingolani-Guidi aus Italien, Frau Smieton aus Großbritannien) und auf Seiten der ILO zwei Männer teil; Vgl. Meeting of Experts on Women’s Work, 11.–15.12.1951, S. 14, in: HAILO WN 1002. 12 Vgl. IAK, Provisional Record, 39th session, Genf, 21.- 26.06.1956; ILO, Governing Body, 133th session, 20.–24.11.1956, 14th item on the agenda, Report of the Meeting of experts on women’s employment (Genf 5.–10. 11.1956), S. 3, in HAILO WN 1001; Extract from Memorandum to the Director-General of the I.L.O. by the 1st World Conference of Women Workers, 14.–17.06.1956, in HAILO WN 1001, o.S.
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gierungsvertreterInnen. So wurde auf der 40. Sitzung der IAK 1957 die Einsetzung des Komitees für Frauenarbeit beschlossen. Das Komitee sollte sich zukünftig mit Problemen befassen, die aus der wachsenden Arbeitsmarktbeteiligung von Frauen resultierten.13 Nach der Einrichtung des Komitees beschnitt der Generaldirektor der ILO 1959 allerdings die Abteilung Frauen- und Jugendarbeit in der Möglichkeit, Grundsatzarbeit zu leisten und Untersuchungen anzustoßen. Die Abteilung sollte fortan als beratende und koordinierende Instanz allen Abteilungen zur Verfügung stehen und über die Entwicklungen der Frauenbeschäftigung informieren. Infolge der Umstrukturierung wurde es für die Abteilung schwierig, Themen auf die Agenda zu setzen. Auf der anderen Seite kann die Umstrukturierung als Institutionalisierung eines integrativen Gender-Ansatzes bewertet werden, d.h. die Abteilung für Frauenarbeit wachte darüber, dass alle Abteilungen die Probleme weiblicher Arbeitnehmerinnen als Querschnittsproblem in ihrer Arbeit berücksichtigten.14 Die Verschiebungen im geschlechterpolitischen Diskurs der ILO lassen sich nicht nur auf die Institutionalisierung der Frauenarbeitsfrage, sondern auch auf die programmatische Wende nach Philadelphia und die „Globalisierung“ der Organisation zurückführen. Die Erklärung von Philadelphia trug nicht nur, wie in Kapitel II, 3 beschrieben, zu einer Erweiterung des Menschenrechtskatalogs um soziale und wirtschaftliche Rechte bei, sondern legitimierte auch innovative geschlechterpolitische Ansätze.15 Im Zuge der Neugründung richteten sich die Aktivitäten nicht mehr ausschließlich auf die Formulierung von Arbeitsschutzstandards, sondern auf die technische Beratung der Mitgliedstaaten bei der Entwicklung aktiver Beschäftigungspolitiken und auf die Wirtschaftsplanung. Diese Wende vollzog sich auch unter dem wachsenden Einfluss der postkolonialen Mitgliedstaaten in den 1960er Jahren. Durch die veränderte Mitgliederstruktur wurden entwicklungspolitische Fragen relevant und im Zuge der UN-Entwicklungsdekade (1960–70) wurden schließlich die sozialen Aspekte der Wirtschaftspolitik stärker diskutiert.16 Vor diesem Hintergrund wurde auch die konzeptionelle Verknüpfung zwischen der sozialen und wirtschaftlichen Rolle der Frau in den 1960er Jahren allmählich zum Konsens internationaler Politik. Vor allem die UN-Frauenstatuskommission verband in ihren Berichten und Dokumentationen zur Frauenarmut, zur ländlichen Entwicklung, zur Familienplanung und zur Auswirkung des tech13 Viele der Mitglieder waren Frauen und gehörten in ihrer Heimat Frauenverbänden an, oder vertraten Fraueninteressen in den Gewerkschaften. Vgl. ILO, Governing Body, 134th session, 5.–8.03.1957, Draft Minutes of the third sitting, in HAILO WN 1001, o.S.; IAK, Provisional Record, 40th session, 24th sitting, 22.06.1957, in HAILO WN 1001, o.S. 14 Vgl. Director-General’s Instruction No. 109 vom 8.5.1959, in: HAILO Z.8/1/51, o.S; Schreiben von Fairchild an Rens vom 30.10.1953 und vom 23.10.1953, in: HAILO DADG 13–109/2, o.S.; International Labour Conference, 49th session, 1965, Genf 1966, S. 382. 15 Vgl. Maul: Menschenrechte, Essen 2007, S. 66–120; Gaudier: The development of the women's question, 1998, o.S; ILO: The I.L.O. and Women, Genf 1953, S. 12. 16 Vgl. Maul: Menschenrechte, Essen 2007, S. 167, 344.
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nologischen Fortschritts geschlechterpolitische und ökonomische Überlegungen, an denen sich die ILO als Sonderorganisation der UN orientieren konnte. Die Forderung nach einer Gleichstellung erwerbstätiger Frauen aufgrund ihres wirtschaftlichen und sozialen Beitrags lässt sich daher auch auf die zunehmende Vernetzung der ILO mit anderen internationalen Organisationen und Verbänden zurückführen.17 So hatte der Wirtschafts- und Sozialrat der UN (ECOSOC) beispielsweise 1948 eine Resolution angenommen, in der die geschlechtsbasierte Diskriminierung am Arbeitsmarkt als Verletzung der Menschenrechte konzipiert wurde. Diesen Gedanken aufgreifend, entwickelte auch die ILO eine zunehmende Sensibilität für die berufliche Benachteiligung von Frauen aufgrund des Geschlechts. In der Folge trieben die Abteilung für Frauenarbeit und das Frauenarbeits-Komitee eine Politik voran, die zur Gleichbehandlung am Arbeitsmarkt führen sollte. Auf der Grundlage differenzierter Studien wurden beispielsweise das Übereinkommen zur Lohngleichheit (1951) und zur Gleichheit in der sozialen Sicherung (1952) sowie die Familienpflichten-Empfehlung (1965) ausgearbeitet. Das größte Potential der ILO wurde intern in den Themenbereichen Beschäftigung verheirateter Frauen mit Familienpflichten und Berufsberatung gesehen.18 Dabei wurde auch zunehmend auf die Arbeitsbedingungen und den Rechtsstatus von Frauen in der postkolonialen Welt eingegangen. Im Jahr 1965 wurde der Hinwendung zu den Problemen in den postkolonialen Ländern auch institutionell Rechnung getragen und die Stelle einer Koordinatorin für Frauen- und Jugendarbeit eingerichtet.19 Die Umstrukturierung der Abteilung für Frauen- und Jugendarbeit Mitte der 1950er Jahre, die Intensivierung der technischen Arbeit in den postkolonialen Mitgliedstaaten und die vielen Auftragsarbeiten für die UN-Kommission für die Stellung der Frau führten zu einer ständigen Überlastung der Abteilung. In der Abteilung spiegelte sich damit eine Entwicklung wieder, die bereits für die ILO als Ganzes (Kap. II, 3) beschrieben wurde. So wie hochrangige ILO-MitarbeiterInnen bedauerten, sozialpolitische Initiativen der EWG nicht mehr mit der nötigen Aufmerksamkeit begleiten zu können, ist es durchaus denkbar, dass sich auch die Abteilung für Frauenarbeit aufgrund der Ressourcenknappheit aus den EWG-Debatten zurückzog.20 Bereits ab Ende der 1950er Jahre war es auf der Grundlage des Kooperationsabkommens durchaus zu einer ersten Zusammenarbeit zwischen der EWG und der ILO hinsichtlich des Problems der Frauenarbeit gekommen. Der Austausch fand sowohl im Rahmen des Kontaktausschusses als auch in zusätzlichen Korrespondenzen und Begegnungen statt. Dabei war sowohl das Führungspersonal (ILO17 Vgl. Berkovitch, Nitza: From Motherhood to Citizenship. Women’s Rights and International Organizations, Baltimore 1999, S. 109–116. 18 Vgl. Schreiben von Fairchild an Rens, in: HAILO DADG 13–109/2, o.S.; Gaudier: The development of the women's question, 1998, o.S. 19 ILO: Women’s Empowerment, 2009, o.S. 20 Vgl. dazu mehrere Dokumente in HAILO DADG 13–109/1–3.
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Generaldirektor David Morse, Walter Hallstein, Levi Sandri), MitarbeiterInnen auf Fachabteilungs-Ebene als auch der Ständige Vertreter der ILO in Brüssel involviert. Beiderseits wurden Informationen über die Fortschritte hinsichtlich der Lohngleichheit, den Mutterschutz und Berichte zum Thema Frauenarbeit ausgetauscht. Ranghohe Vertreter der Kommission wünschten gar, dass MitarbeiterInnen an den Sitzungen des ILO-Frauenarbeitskomitees teilnehmen durften.21 Es bleibt zu vermuten, dass die KommissionsmitarbeiterInnen die Erkenntnisse der ILO, die Statistiken und Berichte in die Bearbeitung des Frauenarbeitsproblems einbezogen. Allerdings fehlen konkrete Bearbeitungshinweise, Lektürenotizen oder ähnliches, die Aufschluss über den Umgang der KommissionsmitarbeiterInnen mit dem ILO-Material geben könnten.22 Als die Zusammentreffen im Kontaktausschuss Mitte der 1960er Jahre immer seltener wurden und meist auf die Initiative der ILO zurückgingen, wurde auch der direkte Austausch der Fachgremien erschwert. Die EWG-Kommission verfolgte zunehmend eigene Initiativen und die ILO-Abteilungen konzentrierten sich verstärkt auf Probleme in den postkolonialen Staaten. Dennoch kann davon ausgegangen werden, dass die ILO in Hinblick auf die Frauenarbeitsthematik eine wichtige Referenz für die Kommission blieb. 2. FRAUENERWERBSARBEIT AUF DER AGENDA DER EWG Auf der Ebene der EWG wurde der Reflexionsprozess über die Frauenarbeit durch ökonomische und beschäftigungspolitische Überlegungen in Gang gesetzt. Angesichts des Wirtschaftsbooms stellte sich der EWG-Kommission in den 1960er Jahren die Frage, wie die Produktivität und das Wachstum im Gemeinsamen Markt erhalten bzw. gesteigert werden könnte. Wie die nationalen Regierungen versuchte auch die Kommission, diese Frage durch eine Steigerung des Beschäfti21 Vgl. N.N. Rapport de Mission vom 1.5.1959, in: HAILO IGO 051–2/1, o.S. An dem Treffen nahm u.a. Hallstein teil. Vgl. auch Note à l’attention du Directeur général à l’occasion de la visite de M. Levi Sandri, Commissaire pour les Affaires Sociales de la Communauté économique européenne, o.D., in: HAILO IGO 051–2, S. 26f. Vgl. zum Austausch hinsichtlich der Frauenarbeit Schreiben von Ribas, Directeur de la Sécurité Sociale et des Services Sociaux à Johnstone, Div. Des Femmes et des Jeunes Travailleurs vom 2.2.1959, in: HAILO IGO 051– 5, o.S.; Schreiben von Toffanin, GD V, Department Work Problems an Johnstone vom 5.10.1959, in: HAILO IGO 051–5, o.S.; Schreiben von Fafchamps an Directeur Général vom 27.10.1960, Schreiben Le Correspondant de Bruxelles au Directeur Général Genève vom 30.08.1962, in: HAILO IGO 051–5, o.S.; Schreiben von Fafchamps, Le Correspondant de Bruxelles au Directeur Général, Genf 24.03.1966, in: HAILO IGO 051–5, o.S. Fafchamps informierte den Generaldirektor der ILO über die Lohngleichheitsdebatte und Mutterschutzstudie. Die Schreiben wurden auch an E. Johnstone weitergeleitet. 22 Die Kommission forderte u.a. folgende Berichte an: N.N.: La participation des femmes mariés et de mères de famille à l’activité économique (1951); N.N.: Les femmes en usine. Une expérience personnelle par Michèle Aumont (1956); Le travail à temps partiel des femmes ayant des charges de famille (1957). Vgl. dazu Schreiben der Direction de la Politique Sociale, Division des Affaires Générales an B.I.T. vom 8.01.1959, in: HAILO IGO 051–5, o.S.
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gungsniveaus zu beantworten. Seit Anfang der 1960er Jahre konzentrierte sich die Kommission auf drei Aspekte, die den aufkommenden Arbeitskräftemangel bekämpfen sollten: Migration, Bildung und Arbeitskräftegewinnung. Arbeitskräfte sollten vor allem durch die Integration bisher eher marginalisierter Arbeitnehmergruppen wie Alte, Jugendliche, körperlich Behinderte und Frauen gewonnen werden. Die Integration „marginaler“ ArbeitnehmerInnengruppen erforderte allerdings genaue Kenntnisse über ihren Bildungsstand, ihre Lebens- und Arbeitssituation. Zu diesem Zweck gab die Kommission ab 1963 u.a. Berichte über die Entwicklung der Frauenarbeit in den Mitgliedstaaten in Auftrag, die im Wesentlichen von (anonymen) KommissionsmitarbeiterInnen und externen ExpertInnen verfasst wurden.23 Der beschäftigungspolitische Ansatz der Kommission ähnelte dabei sehr dem Vorgehen in den Nationalstaaten bzw. in regionalen und internationalen Organisationen. Auf allen politischen Ebenen war die Beschäftigungspolitik durch einen Paradigmenwechsel und eine Tendenz zur Planung und Verwissenschaftlichung gekennzeichnet. Die Zielsetzung der nationalen Arbeitsmarktpolitik verschob sich weg von der Bekämpfung und Regulierung der Arbeitslosigkeit. Stattdessen rückte die optimale Verwendung des Arbeitskräftepotentials durch Aus- und Weiterbildung, Umschulung, soziale und berufliche Mobilität in den Fokus. Die Neuausrichtung der Beschäftigungspolitik erforderte zunehmend Prognosen über den Arbeitsmarkt und die Bevölkerungsentwicklung, die durch wissenschaftliche Expertisen erbracht wurden. Eine effektive Planung und Verwendung der arbeitsfähigen Bevölkerung verlangte jedoch danach, die bisherigen Hürden der Arbeitsmarktintegration zu kennen und zu beseitigen. Durch die Neuorientierung der Beschäftigungspolitik gerieten schließlich jene Mechanismen in den Blick der Experten und Entscheidungsträger, die zum Ausschluss spezifischer Bevölkerungsgruppen führten.24 Kott/Droux wiesen am Beispiel der ILO darauf hin, dass die Wissensproduktion in internationalen Organisationen ein wichtiger Schritt zur Kodifizierung sozialer Standards ist. Die Wissensproduktion geht dabei mit einem Prozess der Verwissenschaftlichung einher, in dem soziale Problemlagen zum Wissens- und Forschungsfeld werden. Politischen Handlungskonzepten gehen somit Prozesse der Problemidentifikation und Wissensproduktion voraus, durch die Situationen erst als soziale Probleme beschreibbar werden. In internationalen Organisationen kommt ExpertInnen und Netzwerken eine zentrale Rolle in diesem Prozess zu.25 In den europäischen Regionalorganisationen wurde bereits ab den 1950er Jahren verstärkt nach dem Geschlecht als „Beschäftigungsvoraussetzung“26 gefragt. Ergebnis dieses Interesses war eine wachsende Zahl wissenschaftlich fundierter 23 Kommission: Anlage zum Dritten Gesamtbericht, [Brüssel] 1960, S. 56. 59, 78. 24 Vgl. Collins: The European Communities, London 1975, Bd. 2, S. 41. 25 Vgl. Kott,/Droux: Introduction, in: Dies. (Hg.): Globalizing Social Rights, Basingstoke 2013, S. 1–14, bes. S. 3, 8ff. 26 Boldt: Arbeitsrechtliche Probleme, in: Actes officiels du Congrès International d'Etudes sur la Communauté Européenne du Charbon et de l'Acier, Mailand 1958, S. 18.
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Berichte zum Thema Frauenerwerbsarbeit im Auftrag nationaler Regierungen, internationaler und regionaler Organisationen in den 1960er Jahren. So ließen beispielsweise die EGKS, der Europarat, die OECD und die ILO von internen Diensten oder externen ExpertInnen untersuchen, welche Auswirkungen das Geschlecht auf die Berufstätigkeit hatte und wie sich die Frauerwerbsarbeit entwickelte.27 Das Interesse der EWG-Kommission an der Entwicklung der Frauenarbeit kann als Folge der sozioökonomischen Entwicklung und des Binnenmarktprojekts bewertet werden. Die Initiativen anderer Akteure setzten dabei einen Referenzrahmen für die Kommission. Das Engagement der Kommission stieg beispielsweise merklich, als die ILO eine Empfehlung vorbereitete, die den Zugang von Frauen und Müttern zur Erwerbsarbeit erleichtern sollte.28 In den Frauenarbeitsberichten gerieten vor allem Beschränkungen und Benachteiligungen aufgrund des Geschlechts und des Familienstandes in den Blick. In der folgenden Betrachtung soll aufgezeigt werden, welche sozialen Umstände in den Berichten als Problem konstruiert wurden und welche Personengruppen als Betroffene definiert wurden. Im Besonderen sollen die Bedingungen und Kontexte der Konstruktionsleistung in den Blick genommen werden. Durch einen Vergleich der ILO und der EWG soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern sich die Problembenennung und -behandlung abhängig von den institutionellen Strukturen unterschied. Daher soll auch aufgezeigt werden, welche Aspekte von den Entscheidungsträgern aufgegriffen und in ein politisches Handlungsprogramm übersetzt wurden. Aus dem Umgang mit den Frauenarbeitsberichten und dem sozialen Problem „Frauenarbeit“ lassen sich Rückschlüsse auf die Institutionalisierung der Problemdiskurse ziehen.29
27 Die Initiativen der EGKS hinsichtlich der Frauenerwerbsarbeit blieben jedoch beschränkt, da sie nur als marginales Phänomen in der Montanunion wahrgenommen wurde. Vgl. Boldt: Arbeitsrechtliche Probleme, in: Actes officiels du Congrès International d'Etudes sur la Communauté Européenne du Charbon et de l'Acier, Mailand 1958, S. 16–18; zu den anderen Organisationen Vgl. Klein, Viola: Women Workers - Working Hours and Services, OECD, Paris 1965; Council of Europe: Report on the Political, Social and Civic Position of Women in Europe. G.H.S. Kok, Straßburg 1967. 28 So forderte die niederländische Delegation beim Ministerrat eine Untersuchung der Motive von Frauen mit Familienpflichten, außer Haus berufstätig zu sein. Vgl. Rat der EWG: Aufzeichnung betrifft: Koordinierung der Haltung der Regierungen der Mitgliedstaaten zum Bericht VI (1) des Internationalen Arbeitsamts „Die arbeitende Frau in einer sich wandelnden Welt“, Brüssel 9.10.1963, 1317/63 (SOC 116), in: HAEU BAC006/1977–387, S. 19–30, bes. S. 27. 29 Vgl. zum Verständnis sozialer Probleme als Konstrukte Groenemeyer, Axel: Die Institutionalsierung von Problemdiskursen und die Relevanz der Soziologie sozialer Probleme, in: Soziale Probleme, 18. Jg., 2007, S. 5–26, bes. S. 9–14.
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Erste Annäherungen an das Problem durch Untersuchungen Die Frauenerwerbsarbeit beschäftigte die Kommission bereits Ende der 1950er Jahre, wie der Austausch mit der ILO belegt. Das Thema geriet verstärkt in den Blick, als sich die Kommission mit der Arbeitskräfteentwicklung befasste, um so Prognosen über die Entwicklung des Gemeinsamen Marktes zu erstellen. Die KommissionsbeamtInnen hatten seit 1958/59 beobachtet, dass die Zahl der weiblichen Beschäftigten schneller anstieg als die der Männer und zentral für die Produktivitätssteigerung war. Die Kommission hatte Frauen als Bevölkerungsgruppe entdeckt, die den Arbeitskräftebedarf der stetig wachsenden Wirtschaft stillen konnte und wollte der Entwicklung auf den Grund gehen. Die BeamtInnen versprachen sich davon Hinweise, wie die Frauenerwerbsquote weiter gesteigert werden konnte.30 MitarbeiterInnen der Generaldirektion Soziale Angelegenheiten entwickelten 1965 auf der Basis vorhandener Informationen einen Leitfaden, der als Vorlage für weitere Untersuchungen in den Mitgliedstaaten dienen sollte. In Kooperation mit den Sozialpartnern und Regierungsvertretern sollten weitere Daten erhoben werden, welche die Lebenszyklen von Frauen und ihre Ausbildungs- und Beschäftigungsphasen abbildeten. In den Untersuchungen sollte neben demographischen Aspekten (weibliche Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter, weibliche Erwerbsbevölkerung nach Alter und Familienstand, Heiratsalter) auch die Verteilung der erwerbstätigen Frauen auf einzelne Ausbildungsgänge, Branchen und Berufe erhoben werden. Im Vergleich zu der eingangs beschriebenen Erhebung der deutschen Regierung (Frauenenquete) fällt der starke Wirtschaftsbezug des Leitfadens auf. Themen wie die gesellschaftliche Situation von Frauen oder Gesundheit interessierten die EWG-Kommission zunächst nicht. Die Daten sollten dazu dienen, die Verfügbarkeit und Qualifikation weiblicher Arbeitnehmer zu berechnen, um sie in der Wirtschaftsplanung zu verwenden. Bereits 1951 hatten die ILO-ExpertInnen festgestellt, dass bis 1940 mehrheitlich ledige Frauen beruflich aktiv waren, aber bereits 1949 die Verheirateten die Mehrheit unter den berufstätigen Frauen stellten. Die EWG-BerichterstatterInnen kamen zu ähnlichen Befunden und erklärten dieses Phänomen u.a. durch demographische Entwicklungen wie das sinkende Heiratsalter.31 Wenn die Kommission im Folgenden beschloss, Informationen über „die Frauenarbeit“ zu erheben, so zielte sie vor allem auf verheiratete Arbeitnehmerinnen ab. In den Dokumenten der Kommission heißt es: „In einigen Ländern ist
30 Vgl. Kommission der EWG, Direction Générale des Affaires Sociales: Frauenarbeitsmarkt, V/979/65-D, Januar 1965, in: HAEU BAC006/1977–387, S. 125. 31 Vgl. ILO: Réunion d’experts sur le travail féminin, Genève 11–15 décembre 1951, Rapport I, Tendances de l’emploi des femmes, Genf 1951, S. 18f. Im Jahr 1950 war fast die Hälfte der 18–24-Jährigen, vierzig Prozent der über 35-Jährigen und etwas mehr als ein Drittel der 25bis 34-jährigen Frauen berufstätig. Vgl. Direction Générale des Affaires Sociales: V/979/65D, in: HAEU BAC006/1977–387, S. 123.
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man bereits der Ansicht, daß Frauen mit familiären Verpflichtungen die letzten Arbeitskräftereserven darstellen.“ 32 Und „für die Arbeitsmarktpolitik wäre es wünschenswert, wenn die EWG den quantitativen Umfang der Arbeit der verheirateten Frau und die sich abzeichnenden Tendenzen untersuchen könnte. Wenn die verheiratete Frau tatsächlich die letzte Arbeitskräftereserve ist, dann wird sich eine derartige Untersuchung nicht umgehen lassen.“33
Die Untersuchungen über die Frauenerwerbsarbeit sollten dabei nicht als Vorarbeit für eine konkrete Initiative, d.h. einen Empfehlungs- oder Richtlinienentwurf dienen. Vielmehr versprach sich die Kommission, Erkenntnisse für die Arbeit verschiedenster Abteilungen zu gewinnen, um die weibliche Arbeitskraft für das übergeordnete Ziel der Produktivitätssteiguerng nutzbar zu machen. Jacques Jean Ribas, Direktor für Soziale Sicherheit und Sozialdienste in der GD V, wies darauf hin, dass die Frauenarbeit nicht zwingend als eigenständiger Problemkomplex, sondern als Querschnittthema betrachtet werden sollte. Als „betroffene“ Felder nannte er: „études de secteurs, conjoncture, prévisions à long terme, économie régionale, formation professionnelle, sécurité sociale, problèmes du travail, agriculture …“.34 Im Jahr 1965 erarbeitete die Generaldirektion V einen Bericht über den Frauenarbeitsmarkt, der als erste „Geländeerkundung“ dienen sollte. Der Bericht bildete Trends der Frauenarbeit ab und zeichnete die Entwicklung in den Mitgliedstaaten nach. Eine präzise Zuordnung der Autorschaft lässt sich nicht vornehmen. Der oder die AutorInnen stützten sich – soweit ersichtlich – auf wissenschaftliche Publikationen aus den einzelnen Ländern.35 32 Untersuchung über die Beschäftigung und Befähigung der weiblichen Arbeitskräfte, Entwurf des Schemas, 9577/V/65-D, in: HAEU BAC006/1977–443, S. 230. In Deutschland schien das Arbeitskräftepotential der Frauen bereits erschöpft, lag die Arbeitslosenquote (1962–1964) bei Frauen bei 2,5 Prozent. Daher wurden verstärkt auch weibliche Arbeitskräfte aus dem Ausland angeworben. Von den ausländischen ArbeiterInnen waren in der BRD ein Fünftel Frauen. Nur ein Viertel dieser Frauen stammt aus anderen EWG-Ländern, vor allem aus Italien. Da in allen Ländern eine steigende Frauenerwerbsquote zu verzeichnen war, sollte es immer schwieriger werden, innerhalb der EWG weibliche Arbeitskräfte zu mobilisieren. Vgl. Direction Générale des Affaires Sociales: V/979/65-D, in: HAEU BAC006/1977–387, S. 137. 33 Direction Générale des Affaires Sociales: V/979/65-D, in: HAEU BAC006/1977–387, S. 130; Vgl. allgemein Untersuchung über die Beschäftigung, 9577/V/65-D, in: HAEU BAC006/ 1977–443, S. 230. Das Problem der Doppelbelastung wird klar als Untersuchungsgegenstand benannt. Vgl. Le Conseil: Note de la Présidence, Objet: Suites à donner aux accords intervenus lors de la session du Conseil du 19.12.1966, Bruxelles 23.01.1967, in: HAEK BAC 006/ 1977–222, S. 13. 34 Ribas, Directeur Général a.i. [DG Affaires Sociales], Note à l’attention de Monsieur le Commissaire Levi-Sandri, Objet: L’emploi féminin en Italie, Bruxelles 22.4.1963, in: HAEU BAC006/1977–443, S. 165. Die Lohngleichheit wurde überraschenderweise nicht als betroffenes Feld angeführt. 35 Der Bericht beruhte auf verschiedenen Veröffentlichungen zum Thema, Vgl. u.a. Archibugi, Franco: Recent trends in women’s work in Italy, in: International Labour Review, Bd. 81, 1960, Nr. 4, S.285–318; Federici, Nora: Evolution et caracteriques du travail féminin en Italie, in: Higgins, Benjamin Howard: The economic and social development of Libya: United
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Im Jahr 1967 legten dann Willem Steigenga, Direktor am Institute for Geography and Spatial Planning an der Universität Amsterdam, und Suzanne Steigenga-Kouwe eine Zusammenfassung von Länderberichten vor. Diese nationalen Berichte waren nach den Maßgaben der Kommission entstanden und sollten einheitliche, vergleichbare Daten generieren. Der Steigenga-Kouwe-Bericht sollte später in die Arbeit des Komitees für die mittelfristige Wirtschaftspolitik einfließen. Eine Verwendung des Berichts als Basis für eine Empfehlung oder andere Rechtsmittel schien hingegen nicht vorgesehen bzw. möglich gewesen zu sein.36 Als die EWG-Kommission Ende der 1960er Jahre dann gleichstellungspolitische Bemühungen forcierte und ihre Informationsgrundlage weiter ausbauen wollte, beauftragte sie 1969 Evelyn Sullerot, einen weiteren Bericht zum Thema Frauenerwerbsarbeit zu erarbeiten. Sullerot trat sowohl als Wissenschaftlerin als auch als Aktivistin für Frauenrechte ein. Sie zählte zu den Mitbegründerinnen der französischen Bewegung Maternité heureuse (1956), die sich der Familienplanung und Geburtenkontrolle verschrieb und für ein neues Frauenleitbild jenseits der Mutter- und Hausfrauenrolle eintrat. Zudem hatte sich Sullerot durch ihre 1968 veröffentlichte Studie Histoire et sociologie du travail féminin und durch ihre Arbeit für internationale Organisationen wie die ILO als Expertin für Frauenarbeit empfohlen. Sullerot konnte nun anders als ihre VorgängerInnen auf eine bessere Datenlage zurückgreifen. Das Statistische Amt der Europäischen Gemeinschaften (Eurostat) hatte 1960 damit begonnen, Informationen zur Erwerbstätigkeit von Frauen zu erheben. Diese Erhebung wurde in den Jahren 1968, 1969 und 1970 fortgesetzt, so dass Sullerot die Lage in den Mitgliedstaaten gezielter vergleichen konnte.37 Sullerot wird in der Forschungsliteratur als Exempel für die wachsende Einflussnahme feministisch motivierter Wissenschaftlerinnen auf die Entscheidungsfindung der Kommission angeführt. Ihre Expertise gilt als entscheidender Beitrag für den Durchbruch in der europäischen Gleichbehandlungspolitik Mitte der 1970er Jahre, da er „erstmals das erforderliche Wissen“38 über die Beschäfti-
Nations, Technical Assistance Programme, New York, 1962, S. 43–76; Guelaud-Leridon, Françoise: Le travail des femmes en France, Paris 1964. 36 Vgl. Commentaire sur le projet de schéma de l’étude sur l’emploi et la qualification du travail féminin, in: HAEU BAC 237/1980–455, S.105–108. Anders als von der Kommission erhofft, führte die Studie über die Erwerbstätigkeit der Frauen nicht zu den erhofften Ergebnissen, „da die verfügbaren Informationen unvollständig“ und nur geringfügig vergleichbar waren. Vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften: SEK (70), 1428/2, Brüssel 28.04.1970, Anlage I und VI, in: HAER CM2 1971–1176. o.S. 37 Sullerot stellte ihre Ergebnisse 1970 in dem Bericht „L’emploi des femmes et ses problèmes dans les états membres de la communauté européenne“ der Kommission vor. Im Folgenden wird aus Sullerot, Evelyn: Die Erwerbstätigkeit der Frauen und ihre Probleme in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft, Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Luxemburg 197[2] zitiert. Vgl. zu Sullerots zivilgesellschaftlichem Engagement Bard, Christine: Die Frauen in der französischen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts, Köln u.a. 2008, S. 193–195. 38 Wobbe/Biermann: Von Rom nach Amsterdam, Wiesbaden 2009, S. 88.
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gungssituation und die strukturellen Hindernisse für berufstätige Frauen geliefert habe.39 Sullerots Arbeit wurde schließlich als Grundlage der Gleichbehandlungsspolitik verwendet, da sie sich in einem umfangreichen Kapitel auch der Lohndebatte widmete. Jedoch sollte nicht übersehen werden, dass auch andere AutorInnen maßgeblich an der Konstruktion des Problemdiskurses „Frauenarbeit“ mitwirkten. Auch der interne Bericht (1965) und die Arbeit von Steigenga/Steigenga-Kouwe (1967) beschrieben die Situation erwerbstätiger Frauen, benannten Benachteiligungen und Ursachen und zeigten Lösungen auf. Diese Berichte können als wichtiger Beitrag zur Ausdeutung der Frauenarbeit als soziales Problem und dessen Institutionalisierung verstanden werden. Anhand der Berichte lässt sich nachvollziehen, wie durch wissenschaftliche Expertise die EWG-Agenda beeinflusst wurde und sich ein neues Politikfeld wie die Gleichstellungspolitik entwickeln konnte. Im Folgenden sollen die oben genannten Berichte der EWG mit Berichten der ILO verglichen werden. Auf Seiten der ILO wurden vier Berichte des Expertenkomitees für Frauenarbeit ausgewählt, die zwischen 1951 und 1964 entstanden und die Situation erwerbstätiger Frauen, vor allem die berufliche Qualifikation untersuchten. Dabei fallen zunächst formale und inhaltliche Ähnlichkeiten auf. In den Analysen gingen die AutorInnen der Entwicklung der Frauenerwerbsarbeit und den Ursachen für die steigenden Frauenerwerbsquoten nach. Sie benannten unterschiedliche Faktoren wie die expandierende Wirtschaft, den Zuwachs verheirateter Frauen unter den Erwerbstätigen, demographische Veränderungen, neue Beschäftigungsmöglichkeiten durch das Wachstum des tertiären Sektors, Bildungsreformen und die Umstellung der Berufsausbildung. Es wurde auch darauf verwiesen, dass in Zusammenhang mit den anderen Faktoren ein Einstellungsund Rollenwandel hinsichtlich der Frauenarbeit zum Tragen kam. 3. DIE „FRAU MIT FAMILIENPFLICHTEN“ IM FOKUS In den Frauenarbeitsberichten zeichnete sich eine Zuspitzung der Problembehandlung ab. Im Zentrum des Interesses standen verheiratete Frauen und Faktoren, welche die Erwerbsarbeit dieser Gruppe einschränkten. Trotz quantitativer Unterschiede – in den Niederlanden arbeiteten Mitte der 1960er Jahre lediglich sieben Prozent der verheirateten Frauen, in Deutschland waren es im Vergleich dazu 32 Prozent und in Frankreich gar 35 Prozent – wurde in allen EWG-Ländern die Beschäftigung verheirateter Frauen als soziales Problem wahrgenommen.40 39 Vgl. Hoskyns: Integrating Gender, London/New York 1996, S. 25–26; Wobbe/Biermann: Die Metamorphosen der Gleichheit, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 59, Nr. 4, 2007, S. 575. 40 Vgl. Steigenga/Steigenga-Kouwe: Résumé des Etudes sur l’emploi et la qualification du travail féminin dans le pays de la C.E.E., 8228/V–67-F Orig. N, in: HAEU BAC 026/1969–712, S. 219–220.
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Heute steht uns ein vielfältiges Vokabular zur Verfügung, um die benannten Benachteiligungen zu klassifizieren. Die AutorInnen und ExpertInnen beschrieben die pre-market Diskriminierung, d.h. Benachteiligungen, die vor dem Eintritt ins Berufsleben erfahren wurden (z.B. Ausbildung). Ebenso zeigten sie die Lohndiskriminierung und die geschlechtliche Segregation des Arbeitsmarktes mit der daraus resultierenden Beschäftigungsdiskriminierung auf. Auch die sogenannte postmarket Diskriminierung durch Sozialversicherungs- und Steuersysteme wurde problematisiert. Die ExpertInnen verwiesen zudem auf die unterschiedlichen Diskriminierungsformen, ohne bereits Konzepte der indirekten und direkten Diskriminierung zu verwenden. Die AutorInnen präsentierten verheiratete Frauen, die als „Frauen mit Familienpflichten“ bezeichnet wurden, als Sondergruppe, die sich von Männern und anderen weiblichen Arbeitnehmern unterschied. Im Bericht der Kommission (1965) und von Steigenga/Steigenga-Kouwe (1967) wurde die Differenz an der Mutterschaft festgemacht. Die Anzahl und das Alter der Kinder seien ausschlaggebend für die Aufnahme oder Fortsetzung der Berufstätigkeit gewesen. In den Vorüberlegungen der KommissionsmitarbeiterInnen kam dies klar zum Ausdruck: „Die Kinderzahl der verheirateten Frauen kann Hinweise darüber geben, wann die Frauen mit familiären Verpflichtungen voraussichtlich wieder in das Wirtschaftsleben eintreten.“41
Die AutorInnen verwiesen auf die unterschiedlichen Erwerbsbiographien und die langen familiären Pausen von Frauen. Sie stellten zudem einen direkten Zusammenhang zwischen Berufsunterbrechungen und dem prekären Beschäftigungsstatus von Frauen mit Familienpflichten her. Die Unterbrechungen führten u.a. zum Verlust beruflicher Qualifikationen, so dass nach dem beruflichen Wiedereinstieg oftmals nur gering entlohnte Hilfstätigkeiten offen standen.42 Die Berichte überblendeten durch die Konzentration auf verheiratete Frauen, dass auch andere Beschäftigungsgruppen familiäre Verpflichtungen hatten, so z.B. alleinerziehende, geschiedene oder verwitwete Mütter. Die Erwerbsarbeit dieser Gruppen wurde jedoch als wirtschaftliche Notwendigkeit weitestgehend akzeptiert. Die Arbeit verheirateter Frauen hingegen stellte das Ernährer-Hausfrauenmodell und dessen Institutionalisierung in Frage. Durch die zunehmende Berufstätigkeit verheirateter Frauen verloren Benachteiligungen aufgrund des Fa41 Untersuchung über die Beschäftigung, 9577/V/65-D, in: HAEU BAC006/1977–443, S. 231, vgl. allgemein S. 228–231. 42 Vgl. u.a. Steigenga/Steigenga-Kouwe: 8228/V–67-F Orig. N, in: HAEU BAC 026/1969–712, S. 213–220. Steigenga/Steigenga-Kouwe leiteten die weibliche Erwerbsbiographie aus der Beobachtung ab, dass die Mehrheit der berufstätigen Ehefrauen jünger als 25 oder älter als 40 Jahre war. Sie rekurrierten damit auf das Drei-Phasen-Modell. Die Berufsunterbrechung knüpften sie an die Kinderzahl. Sie erkannten in diesem Zusammenhang hingegen nicht, dass wohlfahrtsstaatliche Leistungen (z.B. Kinderbetreuung) im Zusammenwirken mit Geschlechter- und Familienleitbildern Auswirkungen auf die Berufstätigkeit hatten. Im deutschen Länderbericht, der in den Steigenga-Bericht einfloss, hatte Ursula Niemann auf den Zusammenhang von Kinderbetreuung und Erwerbsquote hingewiesen. Vgl. Niemann, Ursula: Untersuchung über die Beschäftigung und Befähigung der weiblichen Arbeitskräfte, 9577/V/65-D, in: HAEU BAC006/1977–443, S. 244–355, bes. S. 279, 337.
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milienstandes bzw. die soziale Sicherung über den männlichen Familienvorstand an Legitimation. Indem die AutorInnen die Situation verheirateter Frauen auf die besondere Lebenslage (Mutterschaft) zurückführten, überblendeten sie aber, dass Geschlechter- und Familienleitbilder in die sozialstaatliche Ordnung eingeschrieben waren.43 Die Doppelbelastung als Spezifikum der verheirateten Frau Als Charakteristikum der verheirateten Arbeitnehmerinnen wurde in der Frauenarbeitsdebatte die Doppelbelastung ausgemacht. Die AutorInnen gingen davon aus, dass erwerbstätige Ehefrauen eine doppelte Verantwortung für familiäre und berufliche Verpflichtungen trugen, die wiederum als Doppelbelastung gedeutet wurde. Die Doppelbelastung wurde vor allem in der ILO zu einem bestimmenden frauenpolitischen Thema, an dem auch sozialpolitische Standards überprüft wurden. In den 1950er Jahren leiteten die ExpertInnen Forderungen nach sozialpolitischen Maßnahmen aus der Geschlechterdifferenz ab, die sie vor allem in der Mutterschaft manifestiert sahen: „Solutions for the special problems arising from the employment of women must take account therefore of the social and psychological requirements of the family and the need for the maintenance of the essential factors of home life as the basis of a healthy society.“44
Mit der Betonung der sozialen Funktion von Mutterschaft knüpften die ExpertInnen an Forderungen und Deutungen an, die vor dem Zweiten Weltkrieg massiv von der Frauenbewegung vertreten worden waren.45 Zugleich wurde die Erwerbstätigkeit in das Frauenbild integriert und auch die Erwerbsarbeit als gesellschaftlicher Beitrag von Frauen anerkannt. Die ökonomische Teilhabe von Frauen setzte eine Sozialpolitik voraus, welche die Belange berufstätiger (Ehe-)Frauen berücksichtigt: „[…] in the consideration given in every country to the requirements for social measures […] the problems of the married woman (or other women with home responsibilities) at work must play an increasing part. Their needs cannot be considered apart from the needs of other sections of the community but there are certain measures whose development is of particular assistance to the working mother.“46
43 Vgl. Steigenga/Steigenga-Kouwe: 8228/V–67-F Orig. N, in: HAEU BAC 026/1969–712, S. 213–219; Meeting of Experts on Women’s Work, 11.–15.12.1951, S. 2, in: HAILO WN 1002. 44 Meeting of Experts on Women’s Work, 11.–15.12.1951, S. 2, in: HAILO WN 1002. 45 Vgl. Bock: Frauen in der europäischen Geschichte, München 2005, S. 225–230. Schon um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert begründeten Feministinnen viele ihrer Forderungen mit dem gesellschaftlichen Wert der Mütterarbeit. Darüber hinaus stellten sie die Aufteilung bezahlter und unbezahlter Arbeit in Frage und forderten eine Anerkennung weiblicher Leistung durch Mutterschaftszahlungen und -urlaub, später dann durch Beihilfen. 46 Meeting of Experts on Women’s Work, 11.–15.12.1951, S. 8, in: HAILO WN 1002.
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Somit wurden Maßnahmen gerechtfertigt, die eine Entlastung von der reproduktiven Arbeit bedeuten konnten, bspw. der Ausbau von Mutterschutzleistungen und der Kindertagesbetreuung, die Bereitstellung von kostengünstigen bzw. unentgeltlichen Schulmahlzeiten und Freizeitangeboten, moderne technische Haushaltsausstattung, Gemeinschaftsdienste für Waschen, Bügeln, öffentliche Haushaltshilfen für Krankheit und Notfälle. Diese Empfehlungen aus den frühen 1950er Jahren wurden in der ILO bis in die 1960er Jahre hinein diskutiert und schließlich 1965 in Teilen in der Familienpflichten-Empfehlung festgeschrieben (vgl. Kap. IV, 3.1).47 Auch in den EWG-Berichten wurde die Doppelbelastung als zentrales Hindernis für die Erwerbstätigkeit verheirateter Frauen identifiziert. Steigenga/ Steigenga-Kouwe und Sullerot forderten daher wie die ILO-ExpertInnen, die Doppelbelastung zu reduzieren. Sie empfahlen zum einen die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und -zeiten. Des Weiteren sollten die Betreuungsmöglichkeiten, vor allem für Kinder unter drei Jahren ausgebaut werden. Sullerot empfahl der Kommission hinsichtlich der Finanzierung der Kinderbetreuung aktiv zu werden, um dadurch weibliche Familienangehörige, die bislang die Aufgabe übernahmen, in den Arbeitsmarkt zu integrieren.48 Als weitere Maßnahme zur Minderung der Doppelbelastung empfahlen Steigenga/Steigenga-Kouwe und Sullerot die Erweiterung der Mutterschutzbestimmungen in der EWG. Sie forderten von der EWG eine Verlängerung des gesetzlichen Mutterschutzes um einen fakultativen, aber unbezahlten Mutterschaftsurlaub, um den Arbeitsschutz für Frauen zu verbessern und die Gesundheit von Mutter und Kind zu wahren. Sie schienen also keinerlei Kenntnis davon zu haben, dass die Kommission in den 1960er Jahren an einer entsprechenden Empfehlung arbeitete.49 Trotz der Verengung auf das Problem der Doppelbelastung verwiesen die BerichterstatterInnen auch darauf, dass Geschlechterrollen und Familienleitbilder und deren Institutionalisierung im Arbeits- und Steuerrecht, in den Sozialversicherungssystemen und im Bildungssystem Ungleichheiten am Arbeitsmarkt verstärkten. Die AutorInnen wiesen darauf hin, dass Geschlechter- und Familienleitbilder Einfluss auf die Beurteilung von Frauenarbeit nahmen. Auch die geschlechtsspe47 Vgl. Meeting of Experts on Women’s Work, 11.–15.12.1951, S. 8, in: HAILO WN 1002. Die ILO widmete sich in den 1950er Jahren nicht nur der Erwerbsarbeit verheirateter Frauen und Mütter. Auch die Beschäftigungsbedingungen unverheirateter bzw. verwitweter Mütter wurden thematisiert. 48 Vgl. Steigenga/Steigenga-Kouwe: 8228/V–67-F Orig. N, in: HAEU BAC 026/1969–712, S. 247–249; Sullerot: Die Erwerbstätigkeit der Frauen, Luxemburg 197[2], S. 98–99, 105, 204– 206. Sullerot schloss sich damit zeitgenössischen Überlegungen an, die die Produktivität von Hausfrauen und Berufstätigen gegeneinander abwogen. Vgl. dazu Bruntz, François: The PartTime Employment of Women in Industrial Countries, in: International Labour Review, Bd. 5, 1962, Nr. 86, S. 425–442. 49 Vgl. zu den Forderungen in Steigenga/Steigenga-Kouwe: 8228/V–67-F Orig. N, in: HAEU BAC 026/1969–712, S. 269–271; Sullerot: Die Erwerbstätigkeit der Frauen, Luxemburg 197[2], S. 95–97.
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zifische Segregation des Arbeitsmarktes und die strukturellen Bedingungen der Frauenerwerbsarbeit (Thema Strukturwandel) wurden thematisiert. Zudem wurde auf die Intersektionalität verwiesen, d.h. auf die Auswirkungen verschiedener Zuschreibungen wie Geschlecht, Alter und soziale Herkunft auf die Beschäftigungssituation. Davon ausgehend formulierten die AutorInnen Empfehlungen, wie die Beschäftigungssituation (verheirateter) Frauen verbessert und die Erwerbsquoten gesteigert werden könnten. Status der Frauenarbeit Die ExpertInnen der ILO und der EWG problematisierten, dass (verheiratete) Frauen als Arbeitskraftreserve wahrgenommen wurden und ihre Beschäftigung daher hochgradig abhängig von ökonomischen Entwicklungen war. Noch in den 1950er Jahren hatten die ILO-ExpertInnen den Zusammenhang zwischen der Prekarität der Frauenbeschäftigung und deren Bewertung geleugnet. Im darauf folgenden Jahrzehnt wurde das Wechselverhältnis dann ausführlich beschrieben und kritisiert.50 Im Besonderen problematisierten die BerichterstatterInnen der ILO und der EWG die geringe Akzeptanz gegenüber der Erwerbstätigkeit von Ehefrauen und Müttern und machten dafür Rollenzuschreibungen verantwortlich. Die BerichterstatterInnen stellten heraus, dass viele ArbeitnehmerInnen in der Berufstätigkeit von Ehefrauen eine unloyale Konkurrenz für den männlichen Arbeiter und ein Anzeichen für eine „famille déficiente“51 sahen. Die ExpertInnen stellten die Beurteilung weiblicher Arbeitsleistung aufgrund des Geschlechts und des Familienstandes zunehmend in Frage.52 Die BerichterstatterInnen wiesen darauf hin, dass eine Steigerung der Frauenerwerbsquoten und eine Verbesserung der Beschäftigungssituation einen Einstellungswandel gegenüber der Frauenarbeit erforderten. Steigenga/Steigenga-Kouwe und Sullerot bestanden auf der Gleichwertigkeit der Frauen- und Männerarbeit und forderten, durch einen Einstellungswandel das Recht von Frauen auf Er-
50 In den frühen Berichten der ILO unterstrichen die AutorInnen, dass Frauenerwerbsarbeit gesellschaftlich als „partie vitale du marché de l’emploi“ akzeptiert sei und als Rechtsanspruch verstanden werde. Die Aussagen bezogen sich auf die vermeintlich hohen Frauenerwerbsquoten von ca. 30 Prozent in den Industrieländern. Die ILO-ExpertInnen führten die steigende Zahl erwerbstätiger Frauen in vielen europäischen Staaten – damit meinten sie vor allem die osteuropäischen Länder – und in der USA auf eine aktive Politik der „FrauenRekrutierung“ und eine „energische“ Frauenausbildungspolitik zurück, die vor dem Hintergrund eines Arbeitskräftemangels betrieben wurde. Vgl. ILO: Réunion d’experts sur le travail féminin, Rapport I, Genf 1951, S. 2. 51 Steigenga/Steigenga-Kouwe: 8228/V–67-F Orig. N, in: HAEU BAC 026/1969–712, S. 247. 52 Vgl. ILO: Réunion d’experts sur le travail féminin, Rapport I, Genf 1951, S. 2f, 6. Direction Générale des Affaires Sociales: V/979/65-D, in: HAEU BAC006/1977–387, S. 129f.
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werbsarbeit zu stärken: „Du point de vue social, le travail de la femme doit être apprécié de la même manière que celui de l’homme.“53 Dieser Mentalitätswandel sei nicht leicht herbeizuführen, da er die Rollenleitbilder und die geschlechtliche Aufgabenteilung betraf. Steigenga/SteigengaKouwe kritisierten die geschlechtliche Arbeitsteilung und die Vorstellung, dass Frauen allein für das Wohlergehen der Familie verantwortlich seien. Sie waren überzeugt, dass sich die Doppelverdienerehe als Familienmodell durchsetzen werde und forderten deswegen eine partnerschaftliche Erziehung von Jungen und Mädchen hinsichtlich ihrer zukünftigen Rolle als Eltern. In diesem Punkt unterschieden sich die Berichte der EWG z.B. entscheidend von der deutschen Frauenenquete, in der die geschlechtliche Arbeitsteilung gerechtfertigt wurde.54 Auch Sullertos feministische Kritik richtete sich gegen die geschlechtliche Arbeitsteilung, wenn sie für einen „Kampf gegen die Trennung der Geschlechter“55 plädierte. Hinsichtlich der Kinderbetreuung wies sie dezidiert auf die Mitverantwortung der Väter hin und lehnte es ab, dass die Kinderbetreuung aufgrund von Rollenbildern allein Frauen zugewiesen wurde. Anders als bei Steigenga/Steigenga-Kouwe basierte Sullerots Forderung nicht allein auf ökonomischen Überlegungen. Sie verwies darauf, dass die Arbeitsteilung ein kulturelles Konstrukt und nicht „naturbedingt“ war.56 Aus einer dezidiert feministischen Perspektive arbeitete sie die Arbeitsteilung und die Einstellung zur Frauenarbeit als historische Konstrukte in Abhängigkeit von demographischen, wirtschaftlichen und kulturellen Faktoren heraus. Der Historizität der Leitbilder stellte Sullerot die konstitutive Gleichheit der Geschlechter als gesellschaftlichen „Urzustand“ gegenüber. Sie plädierte dafür, Frauen nicht als marginale, von der „Normalität“ Mann abweichende Gruppe oder als Arbeitskraftressource zu betrachten.57 Sullerot plädierte außerdem dafür, den Wert von Mutterschaft gesellschaftlich neu zu definieren und die ambivalenten Rollenerwartungen auszugleichen. Die Gesellschaft schreibe Frauen in erster Linie reproduktive Aufgaben zu. Zugleich wurden eben jene Pflichten in der Arbeitswelt als Makel oder gar als „Schande“58 wahrgenommen. Sullerot forderte daher, Mutterschaft als soziale Funktion zu verstehen und die Gesellschaft im Gesamten dafür in die Verantwortung zu nehmen. Sullerot verwies in ihrer Kritik auf die Dichotomie privat/öffentlich als Ursache für die Doppelbelastung. Erst wenn die Unterscheidung aufgegeben werde und Kindererziehung auch als öffentliche Aufgabe erkannt werde, sei eine Verringerung der Doppelbelastung möglich. Sie zeigte sich überzeugt, dass ein Ausbau und eine Verbesserung der öffentlichen Betreuung einen Effekt auf die Wahrnehmung der Mutterschaft und der Berufstätigkeit von Müttern haben werden. 53 54 55 56 57 58
Steigenga/Steigenga-Kouwe: 8228/V–67-F Orig. N, in: HAEU BAC 026/1969–712, S. 271. Vgl. ebenda, S. 271–272. Sullerot: Die Erwerbstätigkeit der Frauen, Luxemburg 197[2], S. 218. Vgl. ebenda, S. 206. Vgl. ebenda, S. 71–73, 78–79, 213. Ebenda, S. 94.
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Sullerot plädierte damit wie die ILO-ExpertInnen für eine Sozialpolitik, in der die Situation erwerbstätiger Mütter berücksichtigt wird. Im Unterschied zu den früheren Frauenarbeitsberichten rückte Sullerot die Verantwortung für die Betreuungsarbeit aus der privaten Sphäre heraus. Damit brachte sie stärker zur Geltung, dass die Situation berufstätiger Frauen nicht etwa von spezifisch weiblichen Lebenslagen beeinflusst wurde, sondern auch sozialpolitische und arbeitsrechtliche Bestimmungen Ungleichheiten verstärkten.59 Um das Leitbild der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung zu durchbrechen und eine gleiche Teilhabe von Männern und Frauen zu ermöglichen, forderte Sullerot ein verändertes Frauenleitbild in der privaten und öffentlichen Erziehung und Bildung. Sie plädierte für Maßnahmen, die eine Vereinbarkeit von Beruf und Familie ermöglichten, und sah besonders die EWG in der Pflicht, eine Gemeinschaftspolitik zu entwickeln „die es jeder Frau gestattet, die Zeiten ihres Privatlebens zu leben, ihre Aufgaben als Ehefrau und Mutter wahrzunehmen und doch ihr Berufsleben fortzusetzen.“60 Sullerots Appell war ebenso enthusiastisch wie strategisch. Sie verband die Ziele des EWG-Vertrags mit frauenpolitischen Forderungen: „Das aktive, intellektuelle, kulturelle, menschliche und schöpferische Potential der europäischen Frauen ist beträchtlich. Wenn es dieses Potential nutzt und es zum Besten verwendet, könnte Europa der Welt ein noch fehlendes qualitatives Musterbeispiel einer harmonisch in die im Fortschritt befindliche Zivilisation eingegliederte Stellung der Frau bieten.“61
Ähnlich wie die Abgeordneten des EPs übertrug Sullerot das Gleichheitspostulat des EWG-Vertrags – die Garantie auf gleiche Lebens- und Arbeitsbedingungen – auf Frauen. Indem sie auf den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Nutzen der Gleichbehandlung hinwies, rekurrierte sie zum einen auf den internationalen Gleichheitsdiskurs. Zum anderen traf Sullerot das Selbstverständnis der Kommission, die in der EWG einen Vorreiter der Gleichheit und Freiheit sah. Durch eine Politik der Gleichbehandlung konnte die EWG diesem Ziel näher kommen und seine Bedeutung in der Welt stärken. Das ökonomische Ziel, mehr Frauen in Beschäftigung zu bringen, brachte somit das Thema der Geschlechtergleichheit auf die Agenda.62 Arbeitsrecht und Sozialpolitik Die AutorInnen der Frauenarbeits-Berichte stellten zudem heraus, dass sozial- und arbeitsrechtliche Bestimmungen die Erwerbstätigkeit verheirateter Frauen einschränkten und zu Ungleichheiten führten. In einigen Ländern galten beispielsweise noch immer Bestimmungen, die es erlaubten, Beamtinnen im Falle einer 59 60 61 62
Vgl. ebenda, S. 91–92, 95–97. Ebenda, S. 218. Ebenda, S. 218. Vgl. ebenda, S. 215, 218; Wobbe/Biermann: Von Rom nach Amsterdam, Wiesbaden 2009, S. 88–91.
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Heirat zu kündigen (Luxemburg) oder Ehefrauen grundsätzlich von bestimmten Berufen auszuschließen (Niederlande). Durch progressive Steuertarife wurde der Lohn von Ehefrauen stärker belastet als der von Ehemännern. Auch Teilzeitarbeit, die i.d.R. von Frauen ausgeübt wurde, war steuerrechtlich schlechter gestellt als die (männliche) Vollzeitarbeit.63 Auch die ILO-ExpertInnen wiesen in den 1960er Jahren auf den Zusammenhang von Geschlechterordnung und Organisation der sozialen Sicherungssysteme hin. Die AutorInnen stellten beispielsweise geschlechtsspezifische Unterschiede in der Arbeitslosenversicherung heraus. „Pour la main-d’œuvre masculine, les oscillations des besoins de l’économie sont tenues pour un sérieux problème social que les autorités […] s’efforcent d’atténuer par une bonne prévision des besoins et des arrangements compensateurs.“64
Anders als männliche Arbeitnehmer waren Frauen kaum gegen soziale Risiken infolge wirtschaftlicher Schwankungen und Arbeitslosigkeit abgesichert, da sie als konjunkturell verfügbare Arbeitskräfte und Zuverdienerinnen galten.65 All diese Bestimmungen beruhten auf dem Alleinverdienermodell und stützten die Trennung in eine weiblich-private Sphäre der Hausarbeit und eine männlich-öffentliche Sphäre der Erwerbsarbeit. Die BerichterstatterInnen stellten Beschränkungen und Verweigerungen sozialer Ansprüche aufgrund des Geschlechts und des Familienstandes in Frage und forderten eine Reformierung der sozialen Sicherungssysteme und des Steuersystems. Vor allem Sullerot plädierte für eine Gleichstellung durch Gemeinschaftsinitiativen.66 An den ILO-Berichten fällt jedoch auf, dass in den 1960er Jahren auf internationaler Ebene das Verständnis der Geschlechterdiskriminierung bereits weiter entwickelt war. Die ILO-ExpertInnen diskutierten anhand der Rentensysteme die Ungleichbehandlung zwischen Männern und Frauen. Die ExpertInnen kritisierten die Idee, dass Frauen ein Anrecht auf die Rentenansprüche ihres verstorbenen Ehemannes hatten, während dies für Witwer nicht galt. Die ExpertInnen stellten des Weiteren in Frage, ob ein früheres Renteneintrittsalter für Frauen in Anbetracht der Doppelrolle als Mütter und Erwerbstätige gerechtfertigt sei, oder ob dies aufgrund der höheren Lebenserwartung unverhältnismäßig sei. Die Rentendiskussion zeigt, dass die ILO-ExpertInnen punktuell die Benachteiligung von Männern und Frauen aufgrund des Geschlechts erfassten und nach alternativen Kriterien sozialer Ansprüche (z.B. Arbeitsbedingungen) suchten.67 63 Vgl. Steigenga/Steigenga-Kouwe: 8228/V–67-F Orig. N, in: HAEU BAC 026/1969–712, S. 219–220, 243–245, 271f.; Direction Générale des Affaires Sociales: V/979/65-D, in: HAEU BAC006/1977–387, S. 129; Sullerot: Die Erwerbstätigkeit der Frauen, Luxemburg 197[2], S. 120–123, 125–126. 64 ILO: L’orientation et la formation professionnelles des jeunes filles et des femmes, Genf 1964, S. 48, in: HAILO WN 2–14. 65 Vgl. ebenda, S. 48f. 66 Vgl. Direction Génerale des Affaires Sociales: V/979/65-D, in: HAEU BAC006/1977–387, S. 129; Sullerot: Die Erwerbstätigkeit der Frauen, Luxemburg 197[2], S. 120–123, 125–126. 67 Vgl. N.N.: Discrimination in Employment or Occupation on the Basis of Marital Status I, in: International Labour Review, Bd. 85, 1962, Nr. 3, S. 262–282; N.N.: Discrimination in Em-
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Struktureller Wandel und Arbeitsmarktsegregation Die Frauenarbeits-Untersuchungen befassten sich u.a. auch mit der Verteilung von Frauen auf Branchen und Berufe, um möglichst genaue Prognosen über die Entwicklung der Arbeitskräfte erstellen zu können. Die AutorInnen diskutierten, welcher Zusammenhang zwischen Konjunktur, Spezialisierungs- und Rationalisierungsprozessen, Strukturwandel, Einstellung zur Frauenarbeit und Arbeitskräfteverteilung bzw. Frauenerwerbsquote bestand. Die Berichte stellten erhebliche Verschiebungen zwischen den Sektoren und einen Rückgang unqualifizierter Arbeitsplätze für Frauen in der Landwirtschaft und der Industrie infolge der Mechanisierung fest. Zwar absorbierten wachsende Sektoren wie die Elektrotechnik, die Metallurgie, die chemische und pharmazeutische Industrie diese Arbeitskräfte, aber Frauenarbeit blieb dabei meist auf Hilfsarbeiten begrenzt. Die Technisierung verlangte nach einer adäquaten Berufsqualifikation, die nur wenige Frauen vorweisen konnten. Als zentrale Folge des Strukturwandels stellten die EWG-Berichte aus den Jahren 1965 (Kommission) und 1967 (Steigenga-Kouwe) die enormen Zuwachsraten von Frauen im tertiären Sektor und die Entwicklung des Dienstleistungssektors zur „weiblichen Domäne“ heraus.68 Die AutorInnen boten indes unterschiedliche Erklärungen an, welchen Einfluss die Konjunktur und kulturelle Leitbilder auf die Frauenerwerbsquoten nahmen. In den Berichten der Jahre 1965 und 1967 wurde die Entwicklung vor allem auf die Einstellung zur Frauenarbeit zurückgeführt. In den Niederlanden habe eine ablehnende Haltung gegenüber der Frauenarbeit vorgeherrscht, wodurch eine vergleichsweise mäßige Beschäftigungsrate von 12,5 Prozent in der Industrie zu erklären sei. In Frankreich, Deutschland und Italien waren dagegen 25 Prozent der Beschäftigten in der Industrie weiblich, so dass Steingenga/Steigenga-Kouwe auf eine höhere Akzeptanz der Frauenarbeit schlossen.69 Sullerot hingegen bestritt einen Zusammenhang zwischen der Beschäftigungsquote und der Einstellung gegenüber der Frauenarbeit. So stellte sie z.B. heraus, dass in Deutschland viele verheiratete Frauen berufstätig seien, obwohl das Idealbild „Kinder, Küche, Kirche“ noch immer vorherrsche. Auch in der katholischen Bretagne seien mehr Frauen berufstätig als im sozialistischen Südwesten Frankreichs. Folgt man Sullerots Argumentation, nahm vor allem die wirtschaftliche Situation Einfluss auf die Beschäftigungsrate.70 Die AutorInnen des Kommissionsberichts aus dem Jahr 1965 boten auch eine historische Erklärung für die Entwicklung der Frauenerwerbsarbeit an. Die Beamployment or Occupation on the Basis of Marital Status II, in: International Labour Review, Bd. 85, 1962, Nr. 3, S. 368–389. 68 Vgl. Steigenga/Steigenga-Kouwe: 8228/V–67-F Orig. N, in: HAEU BAC 026/1969–712, S. 221–226, 228, 231. Ähnlich ILO: Réunion d’experts sur le travail féminin, Rapport I, Genf 1951, S. 18f. 69 Vgl. Steigenga/Steigenga-Kouwe: 8228/V–67-F Orig. N, in: HAEU BAC 026/1969–712, S. 221. 70 Vgl. Sullerot: Die Erwerbstätigkeit der Frauen, Luxemburg 197[2], S. 27.
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tInnen gingen davon aus, dass der Wandel der Berufsfelder und deren Öffnung vielen Frauen erst eine Erwerbstätigkeit ermöglicht habe. Im 19. Jahrhundert sei das Betätigungsfeld von Frauen noch auf drei Bereiche beschränkt gewesen: den Haushalt, das Fabrikwesen und die Landwirtschaft. Die BeamtInnen hielten es aufgrund der Beschränkungen für unangebracht, diese Tätigkeiten als Berufe zu bezeichnen. Erst mit der Entstehung von Hilfsposten in Industrie und Handel um die Jahrhundertwende und einer ersten Fluchtbewegung von Frauen aus der ungelernten Fabrikarbeit seien Frauenberufe entstanden.71 In dieser Darstellung zeigte sich, dass die KommissionsbeamtInnen anders als in der Mutterschutzdebatte einem verengten Berufs- bzw. Arbeitsbegriff folgten. Die Leistung von Frauen wurde erst als Arbeit anerkannt, wenn sie im öffentlichen Bereich als Lohnarbeit ausgeübt wurde. Tätigkeiten, die im privaten Bereich ausgeübt wurden, z.B. Heimarbeit oder auch Arbeit in Familienbetrieben, wurde nicht als Erwerbsarbeit anerkannt. Die KommissionmitarbeiterInnen folgten damit jenem Konzept von Arbeit, das sich in den nationalen Sozialpolitiken durchgesetzt hatte. Die Frauenarbeits-Berichte verwiesen schließlich auch auf die geschlechtliche Segregation des Arbeitsmarkts als Einflussfaktor auf die Frauenerwerbsbeteiligung. Die Darstellungen bewegten sich dabei zwischen einer unreflektierten Beschreibung der Geschlechtertrennung auf der einen Seite und der kritischen Betrachtung der Segregation als Prozess und Konstrukt auf der anderen Seite. So beschrieben beispielsweise Steigenga/Steigenga-Kouwe, dass Frauen meist für Routinearbeiten, die Präzision, Wiederholung und Fingerfertigkeit verlangten, angestellt wurden. Diese Zuweisung war problematisch, da diese Positionen auf der untersten Hierarchieebene angesiedelt, gering entlohnt und prekär waren. Als Ursache für die geschlechtliche Segregation führten Steigenga/Steigenga-Kouwe Geschlechterstereotype der ArbeitgeberInnen an. Frauen galten als schwache, aber präzise Arbeiterinnen, Männer hingegen als stark und durchsetzungsfähig. Zudem herrschte auf Seiten der ArbeitgeberInnen die Meinung vor, dass die Erwerbstätigkeit zum „normalen“ Lebensentwurf des Mannes gehörte, für Frauen aber eine Ausnahme darstellen sollte. Steigenga/Steigenga-Kouwe dokumentierten damit, wie sich in den 1960er Jahren die Lohnarbeit als Normalarbeitsverhältnis für Männer und Frauen durchsetzte, ohne dass sich dieser Wandel vorerst in der Bewertung der Frauenarbeit niederschlug.72 Während Steigenga/Steigenga-Kouwe die Folgen der Segregation beschrieben, problematisierte Sullerot die Segregation als gesellschaftliches Konstrukt. Sie stellte heraus, dass die Dominanz eines Geschlechts in einem Industriezweig zu einer Klassifizierung als „typisch weibliche“ und „männliche“ Branche führte. Die Segregation werde erst nachträglich durch den Verweis auf vermeintlich geschlechterspezifische Kompetenzen gerechtfertigt. Doch auch diese Kompeten71 Vgl. Direction Générale des Affaires Sociales: V/979/65-D, in: HAEU BAC006/1977–387, S. 128. 72 Vgl. zur Einstellung der ArbeitgeberInnen Steigenga/Steigenga-Kouwe: 8228/V–67-F Orig. N, in: HAEU BAC 026/1969–712, S. 247–249.
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zen, so Sullerot, waren konstruiert und auf die geschlechterspezifische Arbeitsteilung zurückzuführen. Indem die Arbeitsteilung mit einer biologischen Differenz begründet und in geschlechtsspezifischen Lebensentwürfen verankert wurde, konnten auch berufliche Tätigkeiten den Geschlechtern zugewiesen werden. Sullerot konnte somit den Prozess der vertikalen und horizontalen Segregation erklären. Sie belegte, dass der Status der Tätigkeit zu einer nachträglichen Etikettierung führte, die dann wiederum als natürlich akzeptiert wurde und zu Diskriminierungen führte. Einen Ausweg aus diesem Kreislauf konnten die Gleichbewertung männlicher und weiblicher Arbeit und eine Veränderung der geschlechtlichen Arbeitsteilung bieten.73 Sullerots Kritik fügt sich in den internationalen Diskurs über die geschlechtliche Segregation des Arbeitsmarktes ein. Die ILO-ExpertInnen hatten bereits in den 1950er Jahren durch den globalen Blick erkannt, dass die Unterscheidung in „männliche“ und „weibliche“ Tätigkeiten historisch und regional variierte und nicht naturgegeben war. Vielmehr folgte die geschlechtliche Segregation am Arbeitsmarkt unterschiedlichen kulturellen Mustern: „Il n’y a donc pas un principe logique présidant aux divisions du travail entre les sexes bien que cette division soit fréquente."74 Basierend auf dieser Erkenntnis forderten die ExpertInnen dann in den 1960er Jahren verstärkt, die Unterscheidung zwischen Männer- und Frauenarbeit aufzugeben, weil sie zur Marginalisierung von Frauenarbeit beitrage und Ungleichheiten verschärfte.75 3.1 Die ILO und die „Frauen mit Familienpflichten“ Das wachsende Problembewusstsein für die Doppelbelastung der weiblichen Arbeitnehmer fand Mitte der 1960er Jahre Ausdruck in konkreten politischen Entschlüssen der ILO. Auf der 48. und 49. Sitzung der IAK 1964 und 1965 wurde über die Arbeit von Frauen mit Familienpflichten beraten. Grundlage der Diskussion bildete der Bericht der Abteilung für Frauenarbeit- und Jugendarbeit über „Frauen in einer sich wandelnden Welt“.76 73 Sullerots Forderung nach Geschlechtergleichheit deckt sich mit Nancy Frasers Forderungen nach gleicher Achtung und Bekämpfung des Androzentrismus. Vgl. Sullerot: Die Erwerbstätigkeit der Frauen, Luxemburg 197[2], S. 34–36, 38–43; Vgl. aus geschlechtertheoretischer Perspektive Wetterer, Angelika: Arbeitsteilung und Geschlechterkonstruktion. Eine theoriegeschichtliche Rekonstruktion, in: Aulenbacher, Brigitte/Wetterer, Angelika (Hg.): Arbeit. Perspektiven und Diagnosen der Geschlechterforschung, Münster 2009, S. 42, hier S. 46. 74 ILO: L’orientation et la formation, Genf 1964, S. 48, in: HAILO WN 2–14. 75 Vgl. ILO: Réunion d’experts sur le travail féminin, Rapport I, Genf 1951, S. 3, 5; ILO, Governing Body, 163ème session, 16.–19.11.1965, Septième question à l’ordre du jour: Rapport de la Réunion de Conseillers pour les problèmes du travail féminin, (Genève, 20– 28.09.1965), in: HAEU BAC006/1977–387, S. 219–259, hier S. 229, 243f. 76 Vgl. International Labour Conference, 49th session, 1965, Genf 1966, S. 638 (=Appendix VII, Fifth Item on the Agenda: The Employment of Women with Family Responsibilities). Der Bericht wurde in zwei Fassungen erarbeitet und diskutiert.
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In dem Bericht wurde die Situation berufstätiger Ehefrauen untersucht und vor allem ihre Doppelbelastung durch die Berufs- und Familienarbeit thematisiert. Einen besonderen Schwerpunkt bildete dabei die Situation in den postkolonialen Staaten. Bereits seit 1947 wurde innerhalb der ILO auf verschiedenen Verwaltungsebenen immer wieder die Thematik der Doppelbelastung verhandelt und Möglichkeiten diskutiert, die Familienarbeit zu erleichtern. Mit dem Bericht von 1963/64 legte die Abteilung für Frauenarbeit erstmals auch einen Entwurf für einen Rechtsakt vor, der über die bisherigen Forderungen hinausging. Der Empfehlungsentwurf wurde nach Anhörung des Komitees für Frauenarbeit auf der IAK 1965 von den Delegierten angenommen. Die Empfehlung ist in fünf Abschnitte gegliedert. In einer Vorbemerkung werden wie in den ILO-Rechtsakten üblich die Beweggründe zum Beschluss der Empfehlung dargelegt. Darauf folgen die „Allgemeinen Grundsätze“, die das Ziel der Empfehlung benennen. Die Empfehlung sollte nicht nur die Doppelbelastung von Frauen mit Familienpflichten mindern, sondern das Recht verheirateter Frauen auf Arbeit stärken. In den folgenden Abschnitten werden die notwendigen Schritte zur Erreichung dieses Ziels benannt: die Information der Öffentlichkeit, die Einrichtung von Kinderbetreuungsdiensten, Maßnahmen zum beruflichen Wiedereinstieg und zur Berufsbildung und sonstige Bestimmungen z.B. zur Organisation des öffentlichen Verkehrs. Die ILO leistete damit einen wichtigen Beitrag zur Geschlechtergleichheit in einer Zeit, da Frauen aufgrund ihres Familienstandes am Arbeitsmarkt zum Teil systematisch diskriminiert wurden. Die Familienpflichten-Empfehlung steht exemplarisch für ein Umdenken in der internationalen Frauenpolitik. Darüber hinaus bietet die Debatte über die Empfehlung auch Einblicke in die geschlechterpolitischen Positionen der EWG. Da die Mitgliedstaaten der EWG auch in der ILO organisiert waren, versuchten sie im EWG-Ministerrat ihre Positionen in der IAK vorab abzustimmen. Es erschien jedoch schwierig mit gemeinsamer Stimme zu sprechen, da unterschiedliche familienpolitische Traditionen und Leitbilder vertreten wurden.77
77 Vgl. zur Koordinierung: Der Rat der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft: Aufzeichnung, betrifft: Koordinierung der Haltung der Regierungen zum Bericht V(1) des IAA über „die Beschäftigung von Frauen mit Familienpflichten“, Brüssel 3.12.1964, 1574/64 (SOC 147), in: HAEU BAC006/1977–443, S. 185–195; CEE, Le Conseil: Note à l’attention du Groupe des Questions sociales, Bruxelles 5.01.1965, in: HAEU BAC006/1977–443, S. 197–208; Observations du Gouvernement Belge sur le projet de recommandation concernant l’emploi des femmes ayant des responsabilités familiales, in: HAEU BAC006/1977–443, S. 215–219; Abschrift: Betr.: 49. Konferenz der IAO; hier: Stellungnahme zu dem Entwurf einer Empfehlung betr. „Die Beschäftigung von Frauen mit Familienpflichten“, in: HAEU BAC006/1977–443, S. 220–222; Der Rat der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft: Aufzeichnung, betrifft: Koordinierung der Haltung der Regierungen der Mitgliedstaaten zum Bericht V(2) 1965 des IAA über „die Beschäftigung von Frauen mit Familienpflichten“, Brüssel 15.06.1965, 614/65 (SOC 64), in: HAEU BAC006/1977–387, S. 207–215; Der Rat der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft: Aufzeichnung, betrifft: Koordinierung der Haltung der Regierungen der Mitgliedstaaten zum Bericht VI (2) des Internationalen Arbeitsamts über die arbeitende Frau
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Ähnliches zeigte sich in der Diskussion der Familienpflichten-Empfehlung auf der IAK: Die Delegierten privilegierten unterschiedliche Geschlechterleitbilder als Begründungsmuster für die ILO-Politik. Einige Delegierte beharrten auf der Position, dass die Mutterschaft die zentrale Aufgabe von Frauen sei: „It was only right, […], that women should be helped to overcome the problems which hampered their extensive participation in economic life. The measures taken to this end should not be considered as a special privilege, but as a right stemming from their social function of motherhood.“78
Die Zielsetzung des Empfehlungstextes, eine gleichberechtigte Teilhabe am Arbeitsleben zu ermöglichen, wurde von VertreterInnen dieser Position nicht abgelehnt. Es wurde jedoch darauf hingewiesen, dass Frauen zuvorderst im Kontext der Familie verortet werden müssten. Eine Politik der Chancengleichheit sollte daher die unterschiedlichen Geschlechterrollen berücksichtigen.79 Die Familienpflichten-Empfehlung zielte vor allem darauf ab, die Doppelbelastung erwerbstätiger Frauen zu reduzieren. Indem die Doppelbelastung zum Charakteristikum des weiblichen Lebenslaufs und quasi zum Inbegriff der Geschlechterdifferenz erklärt wurde, entzogen sich die Akteure einer Neudefinition der Geschlechterrollen. In der Doppelbelastung wurden die Unterschiede zwischen erwerbstätigen Frauen – vor allem verheirateter Frauen – und den männlichen Normalarbeitnehmern manifestiert: „It should merely be remembered, that while there are problems peculiar to the employment of women (such as remuneration and absenteeism), the reason lies not in the ability or inability of women to do certain work, since intelligence and working ability have nothing to do with the worker’s sex, but rather in the fact that many women find it impossible to combine outside employment with the duties of a wife and mother.“80
Die Gleichstellungs-Maßnahmen sollten daher bei der Erleichterung der Familienarbeit ansetzen.81 Die Empfehlung Nr. 123 verlangte öffentliche Maßnahmen, die es Frauen ermöglichen sollten, „ihre verschiedenen Pflichten im Heim und im Beruf in harmonischer Weise zu erfüllen“82, z.B. die Organisation des öffentlichen Verkehrswesens, die Abstimmung der Arbeitszeit mit den Schulstunden, die Anpassung der Öffnungszeiten und die Einrichtung öffentlicher Haushaltshilfs-
78 79 80 81
82
in einer sich wandelnden Welt, Brüssel 9.06.1964, 779/64 (SOC 67), in: HAEU BAC006/ 1977–387, S. 45–53. International Labour Conference, 49th session, 1965, Genf 1966, S. 639 (=Appendix VII, The Employment of Women with Family Responsibilities). ILO, Governing Body, 163ème session, in: HAEU BAC006/1977–387, S. 234. Bruntz: The Part-Time Employment, in: International Labour Review, Bd. 5, 1962, Nr. 86, S. 429. Bereits seit den späten 1940er Jahren wurde dieser Gedanke Gegenstand zahlreicher Entschließungen. Vgl. Entschließung zur Frauenarbeit (1947), Entschließung über die Beschäftigung von Frauen, die für unmündige Kinder sorgen (1955), Entschließung über Teilzeitbeschäftigung (1955). Vgl. ILO-Empfehlung (Nr. 123) betreffend die Beschäftigung von Frauen mit Familienpflichten, Allgemeiner Grundsatz, https://s3.amazonaws.com/normlex/normlexexotic/DE/DE_ R123.htm, letzter Zugriff, 07.01.2013.
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dienste. In der Beratung dieser Punkte im Rahmen des EWG-Ministerrates stimmten vor allem die italienischen, belgischen und luxemburgischen Delegationen zu. Die deutsche Delegation hingegen lehnte vor allem verlängerte Schulzeiten ab, da sie darin einen Vorstoß in Richtung Ganztagsschule zu erkennen glaubte. Dadurch sah sie das Ideal der innerfamiliären Kinderbetreuung angegriffen, das die deutsche Politik bestimmte.83 Die Verengung des Frauenarbeitsproblems auf die Doppelbelastung wurde auf der IAK 1965 auch deutlich kritisiert. Mehrere Delegierte kritisierten den Empfehlungstext, weil er nahe legte, dass Frauen allein für die Familienarbeit verantwortlich seien. Eine schwedische Gewerkschaftsvertreterin brachte die Gegenposition auf den Punkt: „We [the Swedish Trade Union Organisation, K.R.] strive for a society where men and women will have the same freedom of choice between work and family responsibilities.“84
Die ExpertInnen des Frauenarbeits-Komitees hatten durchaus seit den frühen 1950er Jahren über eine intensivere hauswirtschaftliche Ausbildung von Jungen nachgedacht. Dadurch sollten sie Verständnis für den Umfang der Hausarbeit gewinnen und sich später einer partnerschaftlichen Arbeitsteilung zuwenden. Im Empfehlungsentwurf wurde die Forderung nach einer gleichberechtigten Aufteilung der Familien- und Berufsarbeit jedoch nicht eingebracht; es erschien zu früh, darüber einen Konsens zu erlangen.85 Das Thema Wahlfreiheit führte auch im Ministerrat der EWG zu Kritik an den Zielen der Empfehlung. Die deutsche und französische Delegation waren der Empfehlung gegenüber sehr kritisch eingestellt, weil sie darin die Gefahr sahen, jene Frauen zu diskriminieren, die nicht berufstätig waren. Die Delegierten hatten extreme Vorbehalte gegen einen internationalen Rechtsakt, der die berufliche Integration (verheirateter) Frauen vorantreiben wollte.86 In eine ähnliche Richtung zielte die Kritik der belgischen, luxemburgischen und niederländischen Delegationen und der KommissionsvertreterInnen. Auch sie sahen die Einbindung in den Arbeitsmarkt als Ziel der Empfehlung kritisch und plädierten daher für einen Rechtsakt, der die Wahlfreiheit von Frauen zwischen Beruf und Familie bekräftigen sollte. Im Falle des Verzichts auf eine Berufstätigkeit müssten familienpolitische Maßnahmen vorgesehen werden, die das Familieneinkommen ausgleichen konnten. Damit zeigte sich, dass im Ministerrat, aber auch in der Kommission am Ernährer-Modell festgehalten wurde.87 83 Vgl. Der Rat der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft: (SOC 147), in: HAEU BAC006/ 1977–443, S. 193f. 84 International Labour Conference, 49th session, 1965, Genf 1966, S. 383. 85 Vgl. Meeting of Experts on Women’s Work, 11.–15.12.1951, S. 9, in: HAILO WN 1002. 86 Vgl. Der Rat der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft: (SOC 67), in: HAEU BAC006/ 1977–387, S. 46f. 87 Vgl. Der Rat der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft: (SOC 64), in: HAEU BAC006/ 1977–387, S. 215; Der Rat der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft: (SOC 147), in: HAEU BAC006/1977–443, S. 185–187; Observations du Gouvernement Belge, in: HAEU BAC006/ 1977–443, S. 215.
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Die partnerschaftliche Verantwortung für die Familienarbeit und die Wahlfreiheit zwischen Beruf und Familie wurden schließlich ab Mitte der 1970er Jahre erneut auf internationaler Ebene diskutiert. Im Zuge der UN-Frauendekade (1975– 1985) und unter dem Eindruck der autonomen Frauenbewegung wandelten sich die Positionen in der IAK, so dass im Jahr 1981 ein Übereinkommen über die Chancengleichheit und die Gleichbehandlung männlicher und weiblicher Arbeitnehmer: Arbeitnehmer mit Familienpflichten (Nr. 156) verabschiedet werden konnte.88 Die Spannungen, die in den Diskussionen der IAK und im Ministerrat zu Tage traten, prägten schließlich auch den finalen Text der Empfehlung Nr. 123. Eine zentrale Forderung der Empfehlung bestand darin, der geschlechtsbasierten Diskriminierung am Arbeitsmarkt entgegenzuwirken. Dahinter standen die Erkenntnisse aus der langjährigen Arbeit der ILO-Fachgremien, dass der Wert und Beitrag der Frauenarbeit nur durch einen Einstellungswandel zur Geltung gebracht werden könne.89 Der Einstellungswandel gegenüber der Frauenarbeit hatte die ILOExpertInnen auch in Hinblick auf die Aus- und Weiterbildung beschäftigt. Sie hatten erkannt, dass die positive Wirtschaftslage und der Arbeitskräftemangel eine Chance boten, Frauen nicht mehr nur als vorübergehende Ressource, sondern dauerhaft in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Diese Integration konnte jedoch nur gelingen, wenn Mädchen und Frauen über gleiche Zugangschancen, d.h. über eine gleiche Berufsqualifikation wie Männer verfügten. In der Empfehlung Nr. 123 wurde daher die „Allgemeinbildung, Berufsberatung und berufliche Ausbildung ohne jede Diskriminierung aufgrund des Geschlechts“ zugesichert. Mädchen sollten ermutigt werden, als Basis für ihr späteres Berufsleben eine Berufsausbildung anzustreben.90 Die Einbindung des Bildungsaspekts in die Empfehlung Nr. 123 war letztlich eine konsequente Fortführung der ILO-Bemühungen. Bereits seit den 1950er Jahren wurde Bildung als Garant für Chancengleichheit diskutiert bzw. in verschiedenen Rechtsakten kodifiziert.91 In der Empfehlung Nr. 123 wurden die bereits erarbeiteten Standards nun für die spezifische Arbeitnehmergruppe der Frauen bekräftigt. Die Bildungspolitik bot sich als Feld an, in dem trotz unterschiedlicher Problemlagen in den ILO-Mitgliedstaaten universale Normen gesetzt werden konnten. So fehlte es beispielsweise in den postkolonialen Staaten oftmals an ge88 Vgl. Landau, Eve: From ILO standards to EU law. The Case of Equality between Men and Women at Work, Leiden 2008, S. 168; Lubin/Winslow: Social Justice for Women, Durham 1990, S. 103–105; Berkovitch: From Motherhood to Citizenship, Baltimore 1999, S. 122f. 89 Vgl. ILO, Governing Body, 163ème session, in: HAEU BAC006/1977–387, S. 229. 90 Vgl. ebenda, S. 236. 91 Vgl. Empfehlung Nr. 87 betreffend die Berufsberatung (1949), Empfehlung Nr. 117 über die Berufsausbildung (1962), Empfehlung Nr. 122 betreffend die Beschäftigungspolitik (1964). In den Empfehlungen wurde ebenfalls der gleichberechtigte Zugang zur Berufsausbildung, Berufsberatung, Berufs- und Ausbildungswahl unabhängig von Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Glaubensbekenntnis, politischer Meinung, nationaler Abstammung oder sozialer Herkunft eingefordert.
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regelten Ausbildungssystemen, während in den Industrieländern am Bedarf der Wirtschaft vorbei ausgebildet wurde. Die Kriterien zum Aufbau und der Verbesserung der Bildungssysteme konnten in allen Weltregionen Gültigkeit beanspruchen und eine Antwort auf wirtschaftliche und soziale Probleme liefern.92 Die bereits etablierte Verknüpfung bildungs- und gleichstellungspolitischer Aspekte wurde in der Empfehlung Nr. 123 um die Idee erweitert, die Durchsetzung der Chancengleichheit mit einem Einstellungswandel zu verbinden. Diese Forderung wurde Mitte der 1960er Jahre nicht nur auf Ebene der ILO in einem Übereinkommen festgeschrieben. Auch die UN-Frauenstatuskommission widmete sich um 1965 diesem Aspekt und bereitete eine Antidiskriminierungs-Erklärung vor. In den UN-Debatten wurde ebenfalls betont, dass eine Gleichberechtigung von Mann und Frau den Wandel traditioneller Geschlechterrollen voraussetzte. Die Erklärung wurde schließlich 1967 von der UN-Generalversammlung angenommen. Wenngleich die ILO und die UN den Einstellungswandel zur Voraussetzung der Chancengleichheit erhoben, lässt sich darin kaum mehr als ein symbolischer Akt vermuten. Wie bereits dargelegt wurde, waren die Delegierten auf der IAK nur begrenzt bereit, diesen Wandel selbst zu vollziehen. Zudem sah die Empfehlung keine konkreten Maßnahmen zur Umsetzung vor. Und auch die Antidiskriminierungs-Erklärung blieb in ihrer Wirkung beschränkt, weil die Umsetzung auf freiwilliger Basis erfolgte und nur wenige Staaten Initiativen ergriffen. Erst 1979 wurde diese Prämisse zum verbindlichen Element internationaler Antidiskriminierungskampagnen, als die „UN-Konvention über die Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau“ verabschiedet wurde.93 Die Familienpflichten-Erklärung stellte einen Versuch der internationalen Staatengemeinschaft dar, die ökonomische Gleichstellung verheirateter Frauen zu postulieren. In den Debatten über die Empfehlung trafen dabei verschiedene geschlechterkulturelle Leitbilder und ökonomische Problemlagen aufeinander. Aufgrund des Arbeitskräftebedarfs stimmten vor allem die westlichen Nationen dem Ziel zu, die Arbeitsmarktbeteiligung verheirateter Frauen zu steigern und die Diskriminierung aufgrund des Familienstandes zu unterbinden. Einige Gewerkschaften und postkoloniale Mitgliedstaaten bestanden hingegen darauf, männliche Arbeitnehmer bevorzugt zu behandeln. Aber auch unter jenen Delegierten, die eine Gleichstellung befürworteten, fanden sich unterschiedliche Begründungen für die Geschlechtergleichheit und Leitbilder. Diese Positionen spiegelten sich in der Widersprüchlichkeit der Empfehlung, d.h. in der Anerkennung der Mutterrolle als zentrale weibliche Aufgabe auf der einen Seite und der Forderung nach einem Einstellungswandel auf der anderen Seite wider. Der detaillierte Blick auf die Diskussion des Empfehlungstextes offenbart zudem, dass manche Forderungen nach Geschlechtergleichheit spätere Entwicklungen vorbereiteten. So wurde die Forderung nach einer partnerschaftlichen Famili92 Vgl. ILO: L’orientation et la formation, Genf 1964, S. 1, in: HAILO WN 2–14; ILO, Minutes of the 164th session of the Governing Body, Genf, 28.02–4.03.1966, S. 5–7. 93 Vgl. Fraser: Becoming Human, in: Agosín (Hg.): Women, Gender, and Human Rights, London 2001, S. 45–48.
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enarbeit erst in einem späteren geschlechterpolitischen Umbruch während der UN-Frauendekade (1975–1985) mehrheitsfähig.94 Trotz der divergierenden Interessen und Ansichten gelang es, einen Konsens zu erzielen, der Frauen die Vereinbarkeit des Erwerbs- und Privatlebens ermöglichen und wirtschaftliche Rechte garantieren sollte. Daher ist die Empfehlung als wichtiger Schritt in der internationalen Geschlechterpolitik zu verstehen. Die ILO hatte damit noch vor vielen Mitgliedstaaten auf gesellschaftliche und ökonomische Trends reagiert und Lösungen angeboten. Dadurch wurden z.B. für feministische Bewegungen Referenzpunkte für Forderungen an ihre nationalen Regierungen geschaffen. Auch darf die Wirkung der Empfehlung auf die Arbeit anderer internationaler und regionaler Organisationen wie die EWG nicht unterschätzt werden.95 3.2 Teilzeitarbeit als Lösung der Doppelbelastung? Die Strategie der ILO Betrachtet man die Debatten der ILO in den 1950er und 1960er Jahren, mag es verwundern, dass ein anderer Aspekt, der das Thema Frauenarbeit prägte, keinen Eingang in die Empfehlung Nr. 123 fand: Die Teilzeitarbeit. Bereits seit 1946 wurde die Teilzeitarbeit auf Initiative der westeuropäischen und nordamerikanischen Delegierten innerhalb der ILO als eine Lösung der Doppelbelastung diskutiert. Die Nachfrage nach Teilzeitarbeit stieg in den Industrieländern enorm, sowohl auf der Seite der Unternehmen als auch der Arbeitnehmerinnen. In den USA arbeiteten bereits 1953 16 Prozent der berufstätigen Frauen in Teilzeit, in Kanada 12 Prozent. Teilzeitarbeit wurde in den westlichen Industrienationen vor allem als Maßnahme diskutiert, dem Arbeitskräftebedarf der Wirtschaft nachzukommen, ohne dass Frauen ihre reproduktiven Aufgaben vernachlässigten. Die gesellschaftliche und politische Akzeptanz der Teilzeitarbeit resultierte schließlich auch aus einer veränderten Vorstellung über die Aufgaben von Frauen. Die FrauenarbeitsExpertInnen vertraten zunehmend die Position, dass Hausarbeit eine Vergeudung von Arbeitsressourcen bedeutete. „[…] it is clearly in the interest of economic progress that women should abandon lowproductivity housework and take on outside employment, at any rate on a part-time basis.“96
94 Vgl. Berkovitch: From Motherhood to Citizenship, Baltimore 1999, S. 122f. 95 Die EG brachte in den 1990er Jahren einige Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie auf den Weg, z.B. die Richtlinie 96/34/EG des Rates vom 3. Juni 1996 zu der von UNICE, CEEP und EGB geschlossenen Rahmenvereinbarung über Elternurlaub, ABl. 1996 L 145, S. 4–9. Vgl. zum Wandel der Debatte Donà, Alessia: Using the EU to Promote Gender Equality Policy in a Traditional Context: Reconciliation of Work and Family Life in Italy, in: Lombardo/Forest: The Europeanization of Gender Equality, Basingstoke 2012, S. 99–120, bes. S. 103–105. 96 Bruntz: The Part-Time Employment, in: International Labour Review, Bd. 5, 1962, Nr. 86, S. 430.
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Die Teilzeitarbeit erlaubte es, Frauen in den Produktionsprozess einzubinden und dadurch den Gegenwert haushaltsnaher Tätigkeiten zu erwirtschaften. Zugleich ermöglichte die Teilzeitarbeit die persönliche Betreuung der Kinder durch ihre Mütter bzw. weibliche Verwandte. In einer Teilzeitbeschäftigung konnten Frauen somit ihren beruflichen und privaten Verpflichtungen nachkommen, ohne den Status der Männer im Privaten oder Beruflichen anzugreifen.97 Die Erarbeitung der Familienpflichten-Empfehlung bot eine Gelegenheit, die geschlechtsspezifische Arbeitszeitverteilung in der internationalen Arena zu verhandeln. Dabei trafen unterschiedliche Vorstellungen aufeinander: Die niederländische Regierungsdelegation schlug vor, die Teilzeitarbeit in der Empfehlung zu berücksichtigen. Dieser Vorschlag resultierte aus der Wahrnehmung, dass die niederländische Öffentlichkeit die Vollzeitbeschäftigung verheirateter Frauen nicht akzeptierte. Gegen den Vorschlag formierte sich allerdings bei den EWG-Partnern und in der ILO breiter Widerstand. Vor allem die VertreterInnen jener Länder (Belgien, Luxemburg, Frankreich), in denen die Vollzeiterwerbstätigkeit von Müttern stieg und akzeptiert wurde, wiesen darauf hin, dass die Teilzeitarbeit nicht nur im Kontext der Frauenerwerbsarbeit behandelt werden dürfte. Diese Auseinandersetzung über die ILO-Norm wurde bereits im EWG-Ministerrat geführt und zeigt einmal mehr, dass die Regierungen keineswegs die gleichen Interessen verfolgten. Vor allem die Belgier plädierten dafür, dass sich die ILO schnellstmöglich in einer gesonderten Entschließung mit der Thematik befassen solle.98 Auch die ILO-ExpertInnen sahen eine Ausweitung der Teilzeitarbeit aufgrund der damit verbunden Prekarität kritisch. Die ExpertInnen hatten auf zahlreiche Ungleichbehandlungen von Voll- und Teilzeitkräften hinsichtlich der Lohn- und Urlaubsansprüche, Sozialleistungen, Aufstiegs- und Weiterbildungschancen und der Tätigkeitsprofile hingewiesen.99 Aus ihrer Perspektive schien eine Ausdehnung des Teilzeitangebots die Forderungen nach Chancengleichheit und Gleichbehandlung zu unterminieren. Eine Institutionalisierung der Teilzeitarbeit als geschlechtspezifische Beschäftigungsform, wie es sich beispielsweise in den Niederlanden und der Bundesrepublik Deutschland abzeichnete, lehnten die ILO-ExpertInnen daher ab. Das Expertenkomitee für Frauenarbeit betonte, dass die Förderung der Vollbeschäftigung ungeachtet des Geschlechts Vorrang vor dem Ausbau der Teilzeitarbeit genießen müsse. Ein Ausbau der Teilzeitarbeitsplätze sollte nur mit einer Gleichstellung gegen-
97 Vgl. N.N.: Part-Time Employment for Women with Family Responsibilities, in: International Labour Review Nr. 75, 1957, S. 543–553, bes. S. 545. Vgl. dazu auch Bruntz: The Part-Time Employment, in: International Labour Review, Bd. 5, 1962, Nr. 86, S. 431f. 98 Vgl. Der Rat der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft: (SOC 147), in: HAEU BAC006/ 1977–443, S. 194f.; Le Conseil: Note, Bruxelles 5.01.1965, in: HAEU BAC006/1977–443, S. 198–200; Der Rat der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft: (SOC 64), in: HAEU BAC006/1977–387, S. 212f. 99 Vgl. N.N.: Part-Time Employment, in: International Labour Review Nr. 75, 1957, S. 547– 551.
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über den Vollzeiterwerbstätigen hinsichtlich der Sozialversicherung und dem Entgelt einhergehen.100 Auch andere Akteure innerhalb der ILO forderten, die Teilzeitarbeit nicht als frauenspezifisches Instrument („a specific women's approach to employment“101) zu behandeln und damit einer Stigmatisierung weiblicher Erwerbsarbeit als temporär und laienhaft Vorschub zu leisten. Vor allem weibliche Delegierte und Frauenverbände wie Open Door International und die International Alliance of Women verlangten, Teilzeitarbeit in einer gesonderten Empfehlung geschlechtsneutral zu verhandeln. Ein anderes Motiv bewegte hingegen einige Delegierte der Gewerkschaften und der postkolonialen Staaten, Kritik an der Teilzeitarbeit zu üben. Sie bedienten sich ebenfalls der Gleichheitsrhetorik, zielten aber darauf ab, das Alleinernährermodell zu stützen. Die Gewerkschaften fürchteten die Teilzeitkräfte als Niedriglohnkonkurrenz des männlichen Arbeitnehmers. Und die postkolonialen Staaten betrieben eine Politik, die der Vollbeschäftigung der männlichen Bevölkerung Priorität einräumte. Aus Perspektive der Gewerkschaften und der postkolonialen Mitgliedstaaten sollten (verheiratete) Frauen vom Arbeitsmarkt ferngehalten werden, anstatt sie über die Teilzeitarbeit zu integrieren. Die Position der Industrienationen und der postkolonialen Staaten für oder wider eine Teilzeitregelung gründeten auf ganz ähnlichen Motiven: Beide Argumentationen zielten letztlich auf die Wahrung der geschlechtlichen Arbeitsteilung. Die konträren Positionen zur Teilzeitbeschäftigung ergaben sich vielmehr aus unterschiedlichen wirtschaftlichen Interessen. Eine geschlechterspezifische Teilzeitregelung wurde schließlich mit der Begründung abgewiesen, es handle sich um kein internationales Problem. In der Empfehlung Nr. 123 fand sich dann anstelle einer Teilzeitbestimmung der Vorschlag der Gewerkschaften, die Normalarbeitszeit zu reduzieren und so die Doppelbelastung zu mindern.102 Das Thema Teilzeitarbeit blieb hingegen auf der Agenda der ILO und wurde fortan als geschlechtsunspezifische Arbeitsform diskutiert. Anfang der 1980er Jahre wurden Bestimmungen zur Teilzeitarbeit in Empfehlungen integriert, die auf spezifische (ältere und behinderte) Arbeitnehmergruppen abzielten. Die Teilzeitarbeit wurde in diesen Empfehlungen als Übergangslösung und Abweichung vom Normalarbeitsverhältnis festgeschrieben. Erst 1994 nahm die IAK ein Übereinkommen über die Teilzeitarbeit an, das nicht mehr auf die Teilzeitarbeit als Sonder-Arbeitsform abstellte, sondern die Gleichstellung der Teilzeitkräfte beanspruchte. Im Rahmen der EWG wurde die Teilzeitarbeit erst mit einiger Verzögerung ab Mitte der 1970er Jahre ähnlich prominent behandelt wie in der ILO. Zwar wur100 Vgl. ILO: Réunion d’experts en matière d’emploi des femmes, Genève 5–10.11.1956, Rapport, Genf 1956, S. 15–17. 101 International Labour Conference, 48th session, 1964, Record of Proceedings, Genf 1965, S. 471. 102 Vgl. N.N.: Part-Time Employment, in: International Labour Review Nr. 75, 1957, S. 551f.; ILO: Réunion d’experts, Rapport, Genf 1956, S. 15–17; International Labour Conference, 49th session, 1965, Genf 1966, S. 645f. (=Appendix VII, The Employment of Women with Family Responsibilities). Angedacht wurde eine 35 Stunden Woche.
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de bereits in den Frauenarbeitsberichten der 1960er Jahre das Thema aufgegriffen, aber eine gezielte Auseinandersetzung begann erst gegen 1977. Dabei konnte dann allerdings auf Vorarbeiten der ILO zurückgegriffen werden.103 4. DIE FRAUENARBEITSFRAGE ALS ASPEKT DER BESCHÄFTIGUNGSPOLITIK Die Untersuchungen zum Thema Frauenarbeit müssen im Kontext der sozial- und beschäftigungspolitischen Vorhaben der Kommission betrachtet werden. Zudem schlug sich zu jener Zeit der Glaube an die Planbarkeit sozioökonomischer Prozesse und die Verwissenschaftlichung von Politik im politischen Handeln nieder. Die Kommission intensivierte die Untersuchungen zu einer Zeit, da sie sich verstärkt mit der Planung der Wirtschaftspolitik befasste. Im Juli 1963 legte die Kommission Grundzüge einer mittelfristigen Koordinierung der Wirtschaftspolitik vor. Demnach sollten unabhängige Sachverständige für einen Zeitraum von fünf Jahren Voraussagen über die wirtschaftliche Entwicklung treffen. Anschließend sollte ein Ausschuss von Regierungsvertretern auf Grundlage der Prognosen eine gemeinsame Wirtschaftspolitik erarbeiten. Mit diesem Vorhaben wandte sich die Kommission von liberalen Wirtschaftstheorien ab und sprach sich für eine wirtschaftliche Planung aus. Sie folgte der Überzeugung, dass nur langfristige Maßnahmen und eine Angleichung der nationalen Wirtschaftssysteme auf die umfassenden ökonomischen und damit verbundenen sozialen Veränderungen reagieren und die Vertragsziele realisieren könnten. Da die Gesetzgebungskompetenz im Arbeits- und Sozialrecht aber überwiegend bei den Mitgliedstaaten verblieben war, erschien es der Kommission unerlässlich, Daten über die Wirtschaftsentwicklung in den Mitgliedstaaten zu erheben und zu vergleichen, um eine gemeinschaftliche Politik zu entwerfen (v.a. Landwirtschaft, Verkehr, Energie, Berufsausbildung und Außenhandel).104 Frauen waren nur eine von vielen Arbeitnehmergruppen, über welche die Kommission in Vorbereitung der koordinierten Politik Untersuchungen anfertigen ließ. Lange Zeit favorisierte die Kommission die Berufsbildung und Weiterbildung (männlicher Fachkräfte) als geeignetes Mittel der Arbeitskräftegewinnung.105 103 Vgl. Schreiben von Olive Robinson, School of Management, Bath, an Mrs. M. Janjic, Office for Women Workers’ Questions vom 4. April 1977, in: HAILO WN 2–13. Dr. Olive Robinson fertigte 1977 im Auftrag der EWG eine Studie über Teilzeitarbeit an und bat die ILO um Informationen. Vgl. zu den Debatten über Teilzeitarbeit in der EG Vleuten: The Price of Gender Equality, Aldershot 2007, S. 113–115. 104 Vgl. Krämer, Friedrich-Wilhelm: Die mittelfristige Wirtschaftspolitik der EWG-Kommission, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, Bd. 15, 1964, Nr. 10, S. 589–592; Boldt: Arbeitsrechtliche Probleme, in: Actes officiels du Congrès International d'Etudes sur la Communauté Européenne du Charbon et de l'Acier, Mailand 1958, S. 9–13, 105 Vgl. Untersuchung über die Beschäftigung, 9577/V/65-D, in: HAEU BAC006/1977–443, S. 228–232; Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Generaldirektion Wirt-
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So kam es, dass die Kommission bis ca. 1965 kein klares beschäftigungspolitisches Konzept in Hinblick auf die Arbeitnehmergruppe „Frauen“ entwickelt hatte.106 Erst in den Arbeiten des Comité de politique économique a moyen terme, das 1964 auf Beschluss des Rates eingerichtet worden war, wurde die Steigerung der Frauenerwerbsarbeit als wirtschaftspolitisches Mittel herausgestellt. Dem Komitee, das aus Kommissionsmitgliedern und RegierungsexpertInnen bestand, oblag die Erarbeitung von Leitzielen für das erste mittelfristige Wirtschaftsprogramm. Dabei konnten die Mitglieder des Komitees auf die zuvor von der Kommission in Auftrag gegebenen Berichte, u.a. eben zur Frauenarbeit, zurückgreifen.107 Das Komitee legte schließlich fünf Themenbereiche fest, die besonders geeignet schienen, das Arbeitskräftepotential zu steigern; darunter auch die Frauenerwerbsarbeit. Die Empfehlungen des Komitees flossen in die Entscheidung des Ministerrats ein, der am 11. April 1967 das erste Programm zur mittelfristigen Wirtschaftspolitik annahm. Durch den Beschluss wurde eine kohärente Beschäftigungspolitik auf den Weg gebracht und der frauenpolitische Zugriff der Kommission festgelegt.108 Frauen- bzw. geschlechterpolitische Maßnahmen konnten nach den Entscheidungen des Ministerrats 1966/1967 vor allem über einen beschäftigungspolitischen, nicht aber sozialpolitischen Zugang initiiert werden. Nach der Sitzung der Arbeits- und Sozialminister im Dezember 1966 konnte die Kommission sozialpolitische Initiativen nur noch im Rahmen der Beschäftigungspolitik legitimieren. Das Programm zur mittelfristigen Wirtschaftspolitik schrieb die Zielvereinbarungen der Ratsentscheidung vom Dezember 1966 fort und bekräftigte die Konzeption einer kombinierten Wirtschafts- und Sozialpolitik: „le développement économique et le progrès social doivent être réalisés conjointement.“109 Im Sinne dieses Konzepts wurden die Integration am Arbeitsmarkt und die soziale Integration als Einheit gedacht. Neben den bereits 1966 genannten Maßnahmen zur Steigerung der Frauenerwerbsquoten wurden im mittelfristigen Wirtschaftsprogramm detail-
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schaft und Finanzen, Ausschuss für mittelfristige Wirtschaftspolitik: Beschäftigungsprobleme. Frage der strukturellen Anpassung, V/13.987/65-D, in: HAEU BAC 006/1977–392, S. 293–343, bes. S. 326. Vgl. u.a. EP, Sozialausschuss: Entwurf eines Berichts über die Arbeitsmarktlage in den Ländern der Gemeinschaft im Jahre 1964 und die voraussichtliche Entwicklung im Jahre 1965, PE 13.829 rev., in: HAEU BAC006/1977–392, S. 3–30. Vgl. Direction Generale des Affaires Sociales: Document de Travail à l’attention du Comité des Suppléants (Politique économique a moyen terme), V/2274/65-F., o.D., in: HAEU BAC 006/1977–391, S. 212–214, bes. S. 214. Vgl. ebenda, S. 214; EP, Sozialausschuss: PE 13.829 rev., in: HAEU BAC006/1977–392, S. 3–30; Ribas, Jacques Jean: La Politique Sociale des Communautés Européennes. Paris, 1969. S. 487; Collins: The European Communities, London 1975, Bd. 2, S. 43. In den Nationalstaaten wurde die Frauenarbeit bereits eher in der Beschäftigungspolitik berücksichtigt, z.B. in Frankreich. Im dritten Wirtschaftsplan 1956–61 wurde festgeschrieben, dass die wirtschaftlichen Ziele nur durch eine Steigerung der Frauen- und Migrantenarbeit erreicht werden könnten. Vgl. Duchen: Women’s Rights, London 1994, S. 154f. Ribas: La Politique Sociale, Paris, 1969, S. 491.
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lierte Maßnahmen festgehalten. Unter anderem sollten steuerliche und sozialversicherungsrechtliche Hindernisse für Frauen beseitigt werden. Diese Entscheidung zielte auf die Deinstitutionalisierung der Geschlechterdifferenz. Zugleich wurde gefordert, die Teilzeitarbeit auszubauen und die Einrichtung öffentlicher Kinderbetreuung voranzutreiben. Diese Maßnahmen zielten darauf ab, die Doppelbelastung verheirateter Frauen zu mindern, ohne die Geschlechterordnung zu hinterfragen. Daran zeigt sich, dass Empfehlungen aus den ersten Frauenarbeitsberichten in das mittelfristige Wirtschaftsprogramm eingearbeitet wurden, wobei der kritische Blick auf das Geschlecht und den Familienstatus als Zugangskriterien verloren ging.110 Die Entwicklung der Gleichstellungspolitik aus beschäftigungspolitischen Debatten war nicht nur ein Phänomen der EWG. Auch in der ILO fand sich diese Verschränkung. Die ILO hatte 1964 mit dem Übereinkommen und der Empfehlung über die Beschäftigungspolitik (Nr. 122) die Grundlagen für ein Beschäftigungsprogramm gelegt. Dadurch sollten die bestehenden beschäftigungspolitischen Übereinkommen in einen „umfassenderen Rahmen eines internationalen Programms für die Wirtschaftsexpansion auf der Grundlage der vollen, produktiven und frei gewählten Beschäftigung eingebaut werden.“111 Ziel dieser Politik sollte es sein, die Vollbeschäftigung herbeizuführen, um das Wirtschaftswachstum zu fördern und den Lebensstandard zu heben. Jedem Arbeitnehmer sollte ungeachtet seiner Rasse, Religion, seines Geschlechts und seiner Herkunft die gleiche Chance und der freie Zugang zu Ausbildungs- und Jobmöglichkeiten gewährt werden. Diese Politik knüpfte an die fordistischen und menschenrechtlichen Prinzipien der Erklärung von Philadelphia an. Allerdings wurde die Erhöhung der Beschäftigung nunmehr stärker als eigenständiges Ziel formuliert, das mit anderen sozialen Zielen in Einklang stand und nicht mehr nur der Produktivitätssteigerung dienen sollte. Die beschäftigungspolitischen Programme waren von der Idee der Planbarkeit, des sozialen Aufstiegs und der Umsetzung der Menschenrechte geprägt.112 Mit dem Weltbeschäftigungsprogramm von 1969 wurde diese Zielstellung präzisiert. Die „gesamte[n] Entwicklungsbemühungen [sind] auf die Freiheit und Würde des Menschen auszurichten.“113 Durch die Schaffung vielseitiger Beschäftigungsmöglichkeiten sollte eine Entwicklungsstrategie verfolgt werden, die das Wirtschaftswachstum nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zur Erreichung sozialer Ziele verstand. Die Entscheidungen des Ministerrats aus den Jahren 1966 und 1967 wiesen ebenfalls diese Tendenz der Verbindung sozialer und ökonomischer Ziele auf. In Hinblick auf die Entwicklung der Gleichstellungspolitik können die Beschlüsse 110 Vgl. ebenda, S. 492. 111 ILO-Übereinkommen Nr. 122 über die Beschäftigungspolitik, 1964, http://www.ilo.org/ ilolex/german/docs/convdisp1.htm, letzter Zugriff 21.12.2012. 112 Vgl. ebenda. 113 Internationales Arbeitsamt: Beschäftigungspolitik im zweiten Entwicklungsjahrzehnt. Gemeinsame Zielsetzungen des Verbandes der Vereinten Nationen, Genf 1973, Vorwort, S. vii.
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als Katalysatoren verstanden werden, da Frauen unter beschäftigungspolitischen Prämissen dezidiert als „Begünstigte“ der Gemeinschaftspolitik benannt wurden. Unter welchen Bedingungen wurde das soziale Problem der Frauenarbeit in den Folgejahren behandelt? Und wie wurden die Aufträge aus dem mittelfristigen Wirtschaftsprogramm umgesetzt? ZWISCHENFAZIT In diesem Kapitel wurde gezeigt, aus welchen Motiven das Thema Frauenarbeit in der EWG und ILO auf die Agenda gesetzt und behandelt wurde. Ausgangspunkt waren beschäftigungspolitische Überlegungen, motiviert vom Gedanken an die Planbarkeit ökonomischer und letztlich auch sozialer Entwicklungen. Die Methode der wissenschaflichen Erhebung erwies sich als hilfreiches Mittel, Themen zu identifizieren und Problemdiskurse zu konstruieren. Am Anfang standen beschäftigungspolitische Überlegungen, verheiratete Frauen neben anderen Bevölkerungsgruppen verstärkt als Arbeitskräfte zu gewinnen um so das Wirtschaftswachstum zu sichern und letztlich den Lebensstandard zu heben bzw. soziale Unterschiede auszugleichen. Dabei sollte nicht unterschätzt werden, dass die Arbeitskräftesteigerung und das Wirtschaftswachstum für die Legitimation des Integrationsprojekts besonders wichtig waren (u.a. auch in Abgrenzung zum Ostblock). Aus dem ökonomischen Zugriff entwickelte sich eine Auseinandersetzung über das Geschlecht und den Familienstand als Faktoren sozialer Ungleichheit. Vor allem die Wissensproduktion durch interne und externe ExpertInnen spielte in der Ausdeutung des Gleichheitskonzepts eine wichtige Rolle. Durch Studien, Untersuchungen und ExpertInnenkonsultationen wurden soziale Probleme benannt und institutionalisiert. Im Falle der ILO konnte in den 1950er Jahren ein Wandel des Gleichstellungskonzepts beobachtet werden, da ExpertInnen für Frauenarbeit regelmäßiger konsultiert wurden und einen anderen Status in der ILO erhielten. Das Bestreben, vor allem die Berufstätigkeit verheirateter Frauen zu fördern, kollidierte allerdings mit tradierten Geschlechterleitbildern und dem Familienleitbild der Ernährerehe. Daraus erklärt sich die besondere Verengung der Debatte auf verheiratete Frauen und Mütter, die sogenannten Frauen mit Familienpflichten und die „Doppelbelastung“. An der Rede von der Doppelbelastung und den angedachten Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie kann dann auch die Ambivalenz des Gleichheitskonzepts nachvollzogen werden. Am Beispiel der Familienpflichtendebatte (ILO) und der Entstehung des mittelfristigen Wirtschaftsprogramms (EWG) konnte gezeigt werden, wie die Problemdiagnosen unter Beteiligung der ExpertInnen in internationale Standards überführt wurden. Die ILO-ExpertInnen vertraten seit den 1950er Jahren ein Leitbild, das Frauen nicht nur in der Haushalts- und Familienarbeit verortete, sondern auch in der Erwerbsarbeit. Allerdings waren nach wie vor Positionen stark, die in der Reproduktionsarbeit und vor allem in der Mutterschaft den zentralen Wirkungskreis von verheirateten Frauen sahen. Die Diskussion über die Familienpflichten-
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Erklärung auf der Ebene der EWG und der IAK zeigt, wie heftig um das Leitbild der Ernährerehe und dessen Aktualisierung gerungen wurde. Internationale Normen wie die Familienpflichten-Empfehlung stellten zwar die Bedürfnisse von Frauen in Rechnung aber diese Bedürfnisse wurden aus der Geschlechterdifferenz und im Besonderen aus der Mutterschaft abgeleitet. Die Rede von der Doppelbelastung erlaubte es, diese Ambivalenz aufzulösen: denn zum einen konnten Maßnahmen empfohlen werden, die der Erwerbsintegration dienten und eine sozialrechtliche Gleichstellung herbeiführten. Zum anderen musste die Verantwortung für die Reproduktionsarbeit zwischen den Geschlechtern nicht neu verhandelt werden. In der EWG ließ sich an den Beratungen des mittelfristigen Wirtschaftsprogramms ähnliches beobachten. Allerdings muss bedacht werden, dass in den ExpertInnenberichten die Umverteilung der Arbeitsbelastung sehr wohl eingefordert wurde und dieses Konzept von Geschlechtergleichheit auf der Agenda der EWG und der ILO eingeführt worden war. Der Wandel der Geschlechter- und Familienleitbilder und die Ambivalenz der Gleichheitskonzepte schlugen sich auch in den Diskussionen über die Teilzeitarbeit nieder. Während manche AkteurInnen die Teilzeitarbeit als Möglichkeit sahen, die aktualisierten Leitbilder zu praktizieren, lehnten andere die Teilzeitarbeit ab. In dieser Diskussion konnten sich das Gleichheitskonzept der ILO-ExpertInnen und Frauenverbände durchsetzen, die vor einer Marginalisierung der Frauenarbeit durch Teilzeitarbeit als geschlechtsspezifische Arbeitsform warnten. Die Marginalisierung von Frauenarbeit und die Umverteilung der Arbeitsbelastung waren sowohl in den ExpertInnendiskursen der EWG als auch der ILO wichtige Aspekte. In den Berichten wurde nicht nur auf die strukturellen Ursachen für die geringe Erwerbsbeteiligung verheirateter Frauen hingewiesen, sondern auch die gesellschaftliche Tiefenstruktur problematisiert. Die ExpertInnen kritisierten, dass Frauenarbeit oftmals nur als Reserve betrachtet wurde und die Arbeitsleistung aufgrund des Geschlechts und Familienstandes abgewertet wurde. So wurden Geschlechterleitbilder von den ExpertInnen dafür verantwortlich gemacht, dass Frauen schlechter ausgebildet waren als Männer oder Tätigkeiten unter ihrer eigentlichen Qualifikation ausübten. Eine zentrale Forderung war daher der Einstellungswandel als Voraussetzung für die Geschlechtergleichheit. Damit wurde Gleichheit nicht nur als Angleichung von Frauen an die Figur des männlichen Normalarbeiters begriffen, sondern in Frasers Sinne auf die Umverteilung der Arbeitsleistung und Anerkennung zwischen Männern und Frauen bezogen. Die ExpertInnen konnten ihre Forderungen nach Geschlechtergleichheit unterschiedlich begründen. Steigenga/Steigenga-Kouwe bezogen sich beispielsweise auf die Geschlechterdifferenz, während Sullerot egalitätsfeministische Argumente starkt machte. In den internationalen Normen und Beschäftigungsprogrammen der ILO und EWG wurde Gleichheit zunächst vor allem auf den Arbeitsmarkt bezogen. Das Gleichheitskonzept der Expertinnen setzte sich zunächst nicht durch, wurde von ihnen aber beharrlich weiter diskutiert. Die Ratifikation der CEDAW und des Übereinkommens zur Teilzeitarbeit zeigen, dass die Wissensproduktion und die ExpertInnendiskurse in einer langen Perspektive in internationale Standards über-
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tragen wurden. Selbst wenn diese Normen kaum mit Sanktionsmöglichkeiten einhergingen und die Umsetzung daher problematisch war, sollte ihre symbolische Kraft nicht unterschätzt werden. Wie schon eingangs für das Menschenrechtskonzept dargelegt wurde, können internationale Normen z.B. für zivilgesellschaftliche Akteure als Referenzpunkt dienen. Blickt man noch einmal zurück auf den Ausgangspunkt der Untersuchungen, wird der Wandel des Gleichheitskonzepts und der Geschlechterleitbilder in der EWG besonders deutlich. Auch die Kommission beurteilte Frauenarbeit Anfang der 1960er Jahre als sie die Studien in Auftrag gab, als Reservearbeit. Im Laufe des Jahrzehnts zeigte sich jedoch, dass die Erwerbsintegration nur gelingen konnte, wenn auch im Bereich des Gehalts, der Bildung und der sozialen Sicherung eine Gleichstellung erfolgte und mit einer Umverteilung der Arbeitsbelastung und -bewertung einherging.
V. GESCHLECHTERGLEICHHEIT IM KONTEXT DES GEMEINSAMEN MARKTES Das mittelfristige Aktionsprogramm und die Expertisen über die Beschäftigungssituation von Frauen können als wichtiger Beitrag zur Entwicklung der Gleichbehandlungspolitik in den 1970er Jahren verstanden werden. Ab 1975 bis in die 1980er Jahre konnte die Kommission fünf gleichstellungspolitische Richtlinien und zwei Aktionsprogramme zur Chancengleichheit erfolgreich im Ministerrat einbringen. 1. „GLEICHER LOHN FÜR GLEICHE ARBEIT“: DIE ERWEITERUNG DES LOHNGLEICHHEITSPRINZIPS 1 Zunächst war die Kommission bemüht, den Anspruch auf Lohngleichheit (Art. 119 EWGV) durchzusetzen. Denn obwohl die Vollendung des Binnenmarkts an den Abbau der Lohndifferenzen gebunden war, implementierten die Mitgliedstaaten Art. 119 sehr schleppend.2 Die Kommission versuchte daher 1961, als das Ende der ersten Phase zur Schaffung des Gemeinsamen Marktes näher rückte, auf die Beseitigung der Lohndifferenzen hinzuwirken. Unter Druck der französischen Regierung wurde in der Sitzung des Ministerrats vom 30. Dezember 1961 ein Zeitplan zur Aufhebung der Lohnunterschiede beschlossen. Demnach sollte der Prozess zum Jahresende 1964 durch die Anwendung angemessener Mittel abgeschlossen sein. Die Resolution des Ministerrats von 1961 blieb allerdings symbolisch; denn sie ermöglichte den Übergang in die zweite Phase des Binnenmarktprojekts, ohne dass nennenswerte Fortschritte zum Abbau von Lohnungleichheiten gemacht wurden. Die Kommission beanstandete 1964, gestützt auf Materialien einer 1960 einberufenen Art. 119-Expertengruppe, die mangelhafte Umsetzung der Lohngleichheit. Allerdings gelang es nun aufgrund der beschriebenen institutionellen Krise nicht mehr, eine weitere Resolution des Ministerrats zu erwirken. Die Umsetzung des Lohngleichheitsprinzips schien zunächst in weite Ferne zu rücken, als selbst Befürworter wie Frankreich weniger Engagement zeig-
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Die Kapitel V.1, V.4, V.5 beruhen in Auszügen auf meiner Magisterarbeit. Vgl. Reichel, Kristin: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Die Gleichstellungspolitik in der europäischen Staatengemeinschaft als Resultat von Aushandlungsprozessen zwischen supranationalen, nationalen und zivilgesellschaftlichen Akteuren. Unveröffentlichte Magisterarbeit, vorlegt an der Universität Erfurt, 2008, S. 30–55. Vgl. zur Entstehung Art. 119: Hoskyns: Integrating Gender, London/New York 1996, S. 54– 60; Wobbe/Biermann: Die Metamorphosen der Gleichheit, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 59, Nr. 4, 2007, S. 570.
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ten, da sich Sorgen um die nationale Wettbewerbsfähigkeit als unbegründet erwiesen hatten.3 Impulse zur Umsetzung der Lohngleichheit kamen dann Mitte der 1960er Jahre vor allem von gesellschaftlicher Seite. Besondere Wirkung entfaltete der Streik belgischer ArbeiterInnen in Herstal 1966, der sich an ungleichen Lohnzahlungen entzündet hatte. Die streikenden Männer und Frauen beriefen sich explizit auf Art. 119 EWGV, zu dessen Umsetzung sich die Regierung verpflichtet hatte. Erst das Versprechen, die Lohnstufen anzugleichen, konnte den Streik beenden. Das Ereignis in Herstal belegte das enorme Mobilisierungspotential des Themas Lohndifferenzen und wurde nicht nur von der Presse, sondern auch von den europäischen Institutionen wahrgenommen.4 Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre kam es dann auch zu öffentlichkeitswirksamen gerichtlichen Auseinandersetzungen um Art. 119 vor dem EuGH. Die belgische Flugbegleiterin Gabrielle Defrenne klagte gegen die staatliche Fluglinie Sabena, weil diese weibliche Angestellte ab dem 40. Lebensjahr nicht mehr in der Luft einsetzen wollte. Mit dieser „Zwangspensionierung“ ging allerdings kein Anspruch auf eine Altersrente einher, die der Rente der männlichen Kollegen, die bis 55 arbeiten durften, entsprochen hätte. Als diese Ungleichheiten 1969 verschärft wurden, regte sich unter den Stewardessen zunehmend Widerstand. Die Anwältin Eliane Vogel-Polsky hatte, angeregt vom Herstal-Streik, bereits nach einem Präzedenzfall gesucht, um Art. 119 vor einem nationalen Gericht zur Anwendung zu bringen und fand in Defrenne eine „geeignete“ Mandantin. Parallel zur Verhandlung des Falls vor dem belgischen Arbeitsgericht (1969) strengten Defrennes Anwältinnen unter Berufung auf Art. 119 eine Klage gegen den belgischen Staat an. Die Sache Defrenne-Sabena wurde 1970 an den EuGH überstellt, wo in drei Prozessen darüber verhandelt werden sollte. Defrenne I bezog sich auf die Ungleichbehandlung im Bereich der sozialen Sicherheit, Defrenne II auf die Lohndiskriminierung und Defrenne III auf die finanziellen Auswirkungen geschlechtsspezifischer Rentenalter. Im ersten Defrenne-Fall 1971 berief sich Vogel-Polsky darauf, dass gemäß Art. 119 kein geschlechtspezifisches Entgelt gezahlt werden dürfe und die Sabena-Praxis der Pensionsansprüche dagegen verstoße. Die Richter des EuGH gestanden zwar ein, dass die belgische Gesetzgebung gegenüber den Frauen zeitlich überholt sei und eine Diskriminierung vorlag, sie ließen die Bezüge aus der Pensionskasse aber nicht als Entgelt im Sinne des Art. 119 gelten.5 Die Kommissionsberichte, der Herstal-Streik und die Defrenne-Klagen unterstrichen die unzureichende Umsetzung des Art. 119 in den Nationalstaaten und 3
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Vgl. European Economic Community, Commission: The first stage of the Common Market. Report on the Execution of the Treaty (January 1958-January 1962), Brüssel 1962, S. 75ff.; Hoskyns: Integrating Gender, London/New York 1996, S. 52, 60ff.; Brunn: Die Europäische Einigung, Bonn 2006, S. 144ff., 162ff. Vgl. Hoskyns: Integrating Gender, London/New York 1996, S. 65ff. Vgl. dazu Vogel-Polsky, Eliane: L’article 119 du Traité du Rome - peut-il être considéré comme self-executing?, in: Journal des Tribunaux (Bruxelles) 15.04.1967; Hoskyns: Integrating Gender, London/New York 1996, S. 68ff.
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die Notwendigkeit ergänzender Maßnahmen. In der Kommission bzw. in der Generaldirektion V wurden diese Entwicklungen von einigen MitarbeiterInnen wie Jean Boudard verfolgt. Als die Mitgliedstaaten in Den Haag (1969) und Paris (1972) eine erhöhte Bereitschaft zu einer gemeinschaftlichen Sozialpolitik zeigten, erschien den BeamtInnen die Zeit günstig, auf eine Umsetzung des Art. 119 und eine Erweiterung der Gleichstellungspolitik zu drängen.6 Nachdem die Kommission in anderen Feldern das Scheitern umfassender Initiativen hinnehmen musste, wählten die BeamtInnen trotz des günstigen Rahmens eine „Strategie der kleinen Schritte“7. Zunächst wurde 1973 ein Instrument zur Durchsetzung der Lohngleichheit angekündigt. Die Richtlinie zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen (75/117/EWG) wurde vom Ministerrat ohne größeren Widerstand angenommen. Eine Neuerung durch die Richtlinie war die Erweiterung des Konzepts „Entgeltgleichheit“ entsprechend internationaler Standards um die Dimension der gleichwertigen Arbeit. Insofern stellte die Richtlinie mehr als eine bloße Ergänzung des Art. 119 dar. Die Richtlinie sah vor, Diskriminierungen aus den Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten und aus den Tarif- und Lohnverträgen zu beseitigen und die Entgeltgleichheit vor nationalen Gerichten einklagbar zu machen. Die Bewertung der Arbeitsleistung (Einstufung in Lohntabellen) sollte durch die Richtlinie nur noch nach geschlechtsunabhängigen Kriterien erfolgen.8 Danach folgten bis Mitte der 1980er Jahre vier weitere gleichstellungspolitische Richtlinien: die Gleichbehandlungs-Richtlinie (76/207), die Richtlinie zur sozialen Sicherheit (79/7), die Richtlinie über die betrieblichen Systeme der sozialen Sicherheit (86/378) und die Richtlinie über selbständige Erwerbstätige und Mutterschutz (86/613). Im Folgenden soll auf den Entstehungskontext der beiden erstgenannten Richtlinien eingegangen werden.9
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Die Bedeutung einzelner BeamtInnen und Frauenrechtlerinnen in der Diskussion der EntgeltRichtlinie wurde von Hoskyns untersucht. Vgl. Hoskyns: Integrating Gender, London/New York 1996, bes. S. 85–87. Fuhrmann, Nora: Geschlechterpolitik im Prozess der europäischen Integration, Wiesbaden 2005, S. 160. Vgl. Richtlinie 75/117/EWG des Rates vom 10. Februar 1975 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen, ABL 1975 L 45, S. 19–20. S. 19–20. Im Ministerrat wurde schließlich auf britischen Widerstand der Richtlinienvorschlag leicht modifiziert. Entgeltgleichheit sollte für gleiche Arbeit oder bei „einer Arbeit, die als gleichwertig anerkannt wird“ gelten. Aufgrund dieser Formulierung konnte Großbritannien eine Änderung seines Gesetzes zur Lohngleichheit umgehen. Vgl. dazu: Hoskyns: Integrating Gender, London/New York 1996, S. 86ff. Vgl. zum Entstehungskontext der anderen Richtlinien u.a. Lewis, Jane/Ostner, Ilona: Gender and the Evolution of European Social Policies, Bremen 1994, S. 34f.; Klein: Gleichstellungspolitik, Schwalbach 2006, S. 79f.; Vleuten: The Price of Gender Equality, Aldershot 2007, S. 69–106.
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2. CHANCEN(UN)GLEICHHEIT: BERUFLICHE BILDUNG UND GESCHLECHT Geschlechtsspezifische Ungleichheiten wurden in der EWG in den 1960er Jahren nicht nur in den Debatten über Entlohnung und Arbeitsbedingungen thematisiert, sondern auch im Kontext der Berufsberatung und -bildung. Das Thema Bildung war in den EWG-Mitgliedstaaten verstärkt seit Ende der 1950er Jahre angesichts des Wirtschaftswachstums und des steigenden Bedarfs an qualifizierten Arbeitskräften zum Gegenstand politischer Auseinandersetzungen geworden. Die Verbesserung der allgemeinen und beruflichen Bildung wurde wie die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte als Möglichkeit diskutiert, dem Arbeitskräftemangel zu begegnen. Auch in der Bildungspolitik wurde auf die Planbarkeit und Verwissenschaftlichung gesetzt. Sowohl auf nationaler, europäischer als auch internationaler Ebene wurde eine Politik der Bildungsplanung betrieben, die auf Prognosen über den gesellschaftlichen Bedarf an Bildung und auf Schätzungen über den voraussichtlichen Arbeitskräftebedarf der Wirtschaft basierte.10 Der nationale Planungsbedarf wurde vor allem erst durch den Vergleich der Bildungsstandards durch internationale Organisationen, allen voran die OECD, offenbar. Die „Bildungsfrage“ war ein höchst internationalisiertes Feld, in dem sich die UN, OECD, ILO und die EWG bewegten. Durch einen Vergleich der ILO und der EWG soll gezeigt werden, welche Motive und Zielstellungen in der Auseinandersetzung mit der Thematik zum Tragen kamen.11 2.1 Der bildungspolitische Zugriff der ILO Wie bereits in der Darstellung der Familienpflichten-Erklärung erwähnt wurde, galt die Berufsberatung und -ausbildung schon seit den 1950er Jahren als dringliches Handlungsfeld im Bereich der Frauenpolitik. Die ILO-ExpertInnen sahen ihre Arbeit im Kontext der Bemühungen der UN-Organisationen und anderer internationaler Organisationen. Vor allem die UNESCO und die Frauenstatuskommission der UNO beschäftigten sich intensiv mit der Ausbildungssituation von Mädchen und Frauen. Auch die Bemühungen der OECD und deren Auswirkungen auf die Mitgliedstaaten wurden von der ILO rezipiert und anerkannt.12 Die ILO-MitarbeiterInnen hatten festgestellt, dass die z.T. prekären Beschäftigungsbedingungen von Frauen auf die unzureichende Qualifikation zurückzuführen waren. Durch eine verbesserte Berufsbildung sollte der Status weiblicher
10 Vgl. Rudloff, Wilfried: Bildungsplanung in den Jahren des Bildungsbooms, in: Frese/Paulus/Teppe (Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch, Paderborn 2003, S. 259–281, hier S. 270. 11 Vgl. ebenda, S. 269f. 12 Vgl. ILO: L’orientation et la formation, Genf 1964, S. 48, in: HAILO WN 2–14.
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Arbeitnehmer aufgewertet, die Erwerbssituation verbessert und die Chancengleichheit garantiert werden.13 Die Thematik wurde aber nicht nur in frauenbezogenen Debatten der ILOFachgremien diskutiert. Auch in der allgemeinen Berufsbildungs- bzw. Beschäftigungspolitik wurde das Geschlecht als Zugangskriterium thematisiert. Ab Mitte der 1940er Jahre war zunächst die Rechtsgleichheit in Hinblick auf den Berufszugang und die Beratung in bildungspolitischen Übereinkommen und Empfehlungen eingefordert worden.14 Spätestens seit den 1960er Jahren wurde die Berufsbildungspolitik als ein Beitrag zu mehr Chancengleichheit bewertet und die Geschlechtergleichheit dezidiert in dieses Projekt einbezogen.15 In den bildungspolitischen Empfehlungen der 1960er Jahre wurde im Duktus der Philadelphia-Erklärung die freie Berufs- und Ausbildungswahl eines jeden Arbeitnehmers unabhängig von der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, des Glaubens, der politischen Meinung, der sozialen Herkunft und der nationalen Abstammung wiederholt bekräftigt. Daher galt die Bildungspolitik den ILO-MitarbeiterInnen als elementarer Bestandteil einer Sozialpolitik für Frauen.16 Nachdem die rechtliche Gleichheit formal gewährt wurde, befassten sich die Frauenarbeits-Gremien der ILO ab den 1950er Jahren intensiver mit Geschlechterstereotypen als Ursachen des Qualifikationsunterschieds. Die ExpertInnen hatten aus Umfragen geschlussfolgert, dass der gängige Blick auf die Frauenarbeit als wirtschaftlich unrentable Arbeit zu einer Diskriminierung von Frauen beim Zugang zur Ausbildung führte. „Ces attitudes compromettent à favoriser les discriminations dans leur emploi considéré comme peu rentable sur le plan économique et injustifié du point de vue social.“17 Sowohl die Mädchen selbst, als auch ihre Familien und potentiellen Arbeitgeber privilegierten einen Lebensentwurf, der in der Erwerbsarbeit für Frauen ledig13 Vgl. Schreiben von Fairchild an Rens, in: HAILO DADG 13–109/2, o.D., o.S. 14 Die Empfehlung Nr. 71 betreffend die Regelung des Arbeitsmarktes (1944) legte fest, dass Männer und Frauen gleichberechtigt und entsprechend ihrer persönlichen Fähigkeiten und Berufserfahrung Zugang zu einem Beruf haben sollten. Es ist fraglich, ob für diese Empfehlung tatsächlich eine gleichstellungspolitische Zielsetzung tragend war, oder ob es nicht eher um eine nachträgliche Anerkennung der Arbeitsleistung von Frauen in den Kriegsjahren ging. Auch in Empfehlung Nr. 87 betreffend die Berufsberatung (1949) wurde im Sinne der Chancengleichheit der gleichberechtigte Zugang zur Berufsberatung für beide Geschlechter gefordert. Die freie Ausbildungs- und Berufswahl wurde dann auf die verschiedensten Sektoren ausgedehnt, z.B. durch die Empfehlung Nr. 101 über Berufsausbildung in der Landwirtschaft (1956). Vgl. dazu auch ILO: Réunion d’experts sur le travail féminin, Genève 11–15 décembre 1951, Rapport II, Problèmes relatifs à la formation professionnelle des jeunes filles et des femmes, Genf 1951, S. 1–3. 15 Vgl. Monthly Information Report to the Director-General submitted by the Women’s and Young Workers’ Division, October-December 1955, Field of Activity: Women, Young Workers and Vocational Guidance, in: HAILO DADG 13–109–1, o.D., o.S. 16 Vgl. ILO-Übereinkommen Nr. 122 über die Beschäftigungspolitik, 1964; ILO-Übereinkommen Nr. 117 über die grundlegenden Ziele und Normen der Sozialpolitik, 1962; ILO: L’orientation et la formation, Genf 1964, S. 161, 164, 166–168, in: HAILO WN 2–14. 17 ILO: L’orientation et la formation, Genf 1964, S. 1, in: HAILO WN 2–14.
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lich eine Übergangslösung zwischen der Schulbildung und Eheschließung sah. Die ILO-Erhebungen zeigten, dass Familien- und Geschlechterleibilder die Bildungschancen von Frauen und Mädchen erheblich beeinflussten. Aufgrund der Privilegierung der Ernährer-Hausfrauenehe wurde eine kosten- und zeitintensive Ausbildung meist als unnötige Investition abgelehnt.18 Die ILO-ExpertInnen wiesen auch darauf hin, dass die Geschlechterleitbilder Einfluss auf wohlfahrtsstaatliche Leistungen, die Berufsberatung und die Bildungssysteme nahmen und dadurch die Bildungschancen von Frauen minimierten. So führten die ExpertInnen an, dass Stipendien bzw. öffentliche Fördergelder seltener Frauen zugesprochen wurden. Auch die Bildungsinhalte orientierten sich an den Geschlechterrollen. In den meisten Bildungssystemen sei es üblich gewesen, Jungen durch eine Einführung in technische und handwerkliche Arbeiten systematisch auf das Arbeitsleben vorzubereiten, während Mädchen maximal für die Haus- und Familienarbeit ausgebildet wurden.19 Basierend auf ihren Beobachtungen forderten die ExpertInnen schon in den 1950er Jahren, die Chancengleichheit weiter zu fassen und auf die Mittel und Inhalte der Berufsbildung auszudehnen. Dadurch sollte Mädchen und Frauen ein größeres Berufsspektrum eröffnet werden, so dass sie schließlich dauerhaft in den Arbeitsmarkt integriert werden könnten.20 Die ExpertInnen verfolgten damit in den 1950er Jahren zwei Ziele: Frauen sollten vom ökonomischen Wandel profitieren und in krisensichere Arbeitsplätze vermittelt werden. Die Rechtsgleichheit und Chancengleichheit in der Bildung galten als Bedingungen für die ökonomische Gleichheit und soziale Gerechtigkeit und sollten positiv auf andere Bereiche (z.B. Lohngleichheit) ausstrahlen. Zugleich sollte die Gleichstellung der Produktivitätssteigerung dienen.21 In den 1960er Jahren wurde die Forderung nach Geschlechtergleichheit dann in einen neuen Begründungszusammenhang gestellt. Die ExpertInnen verwiesen wie in anderen geschlechterpolitischen Diskussionen auf das Konzept des „weiblichen Beitrags“.22 „A un degré plus au moins prononcé, on peut constater dans l’ensemble du monde une évolution des attitudes sociales à l’égard du travail des femmes. La participation de celles-ci à l’activité économique et sociale est tenue de plus en plus non seulement comme un fait normal, mais comme un facteur indispensable à la prospérité générale, tandis que l’intention du
18 Vgl. ILO: Réunion d’experts sur le travail féminin, Rapport II, Genf 1951, S. 5–7, 9; ILO: Réunion d’experts, Rapport, Genf 1956, S. 12; ILO: L’orientation et la formation, Genf 1964, S. 49, 51, in: HAILO WN 2–14. 19 Vgl. ILO: Réunion d’experts sur le travail féminin, Rapport II, Genf 1951, S. 5–7, 9. 20 Vgl. ebenda, S. 11, 31 und Meeting of Experts on Women’s Work, 11.–15.12.1951, S. 10, in: HAILO WN 1002; ILO: Réunion d’experts, Rapport, Genf 1956, S. 22f. 21 Vgl. ILO, Governing Body, 163ème session, in: HAEU BAC006/1977–387, S. 228; ILO: Réunion d’experts, Rapport, Genf 1956, S. 2, 21; ILO: Réunion d’experts sur le travail féminin, Rapport II, Genf 1951, S. 24f.; ILO: L’orientation et la formation, Genf 1964, S. 166, in: HAILO WN 2–14; Meeting of Experts on Women’s Work, 11.–15.12.1951, S. 10f., in: HAILO WN 1002. 22 Vgl. ILO: L’orientation et la formation, Genf 1964, S. 1, in: HAILO WN 2–14.
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même la volonté d’offrir aux femmes des chances égales dans la vie professionnelle s’affirme plus nettement.“23
Die Betonung des „weiblichen“ Beitrags und der Notwendigkeit einer soliden Berufsbildung lässt sich mit den spezifischen Schwerpunkten der ILO in der technischen Zusammenarbeit erklären. Wie andere internationale Organisationen sah die ILO in der gestärkten Position von Frauen einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung postkolonialer Gesellschaften: „Action to raise the economic and social status of women in the developing countries is, […], a key factor in the development process.“24 In den 1960er Jahren entdeckten die ILO-ExpertInnen auch die Berufsberatung als Baustein einer erfolgreichen Politik der Chancengleichheit. Die ILOExpertInnen kritisierten, dass die Berufsberatung auf einen segregierten Arbeitsmarkt ausgerichtet war und dem Leitbild der geschlechtlichen Arbeitsteilung folgte. Berufsempfehlungen seien nicht auf der Grundlage individueller Fähigkeiten, sondern anhand geschlechterstereotyper Zuschreibungen ausgesprochen wurden.25 Die ExpertInnen wiesen darauf hin, dass sich die berufliche Eignung von Frauen nicht grundsätzlich von denen der Männer unterscheide und daher weder spezifische Methoden der Berufsberatung noch der -ausbildung erforderlich seien. Als Gegenmodell zu einer geschlechtsspezifischen Berufsberatung und Ausbildung präsentierten die ExpertInnen eine geschlechtsunabhängige individuelle Eignungsfeststellung, welche die persönlichen Fähigkeiten und Neigungen berücksichtigen sollte.26 Die ExpertInnen stellten nicht nur das Geschlecht, sondern auch das Alter als Zugangsbeschränkung in Frage. Seit den frühen 1950er Jahren plädierten die ExpertInnen dafür, geschlechts- und altersbasierte Diskriminierungen beim Zugang zur Berufsberatung und zu Aus- und Weiterbildungsgängen zu unterbinden, um somit ältere Frauen besser und dauerhafter in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Zunächst lehnten die ILO-ExpertInnen das Alter als Zugangskriterium nicht grundsätzlich ab. Sie schlugen gar vor, ältere Arbeitnehmerinnen in puncto Berufsberatung und -finanzierung gegenüber jüngeren besser zu stellen. Dieser Ansatz war ökonomisch motiviert: Eine Investition in ältere Arbeitnehmerinnen erschien lohnender, weil diese nach der Familienphase eine kontinuierliche Berufslaufbahn anstrebten und dem Arbeitsmarkt ununterbrochen zur Verfügung stehen konnten. In den 1960er Jahren wurde diese Zielstellung aufgegeben und die Wei-
23 Ebenda, S. 155, Vgl. allgemein ILO, Governing Body, 163ème session, in: HAEU BAC006/ 1977–387, S. 219–259. 24 Schreiben von Jef Rens, Deputy Director-General, an Director of the ILO East African Field Office, Dar-es-Salaam, 6.3.63, in HAILO WN 2–10, o.S. 25 Vgl. ILO: Réunion d’experts sur le travail féminin, Rapport II, Genf 1951, S. 7; ILO: L’orientation et la formation, Genf 1964, S. 24f., 69, 75f., in: HAILO WN 2–14. 26 Vgl. ILO: Réunion d’experts sur le travail féminin, Rapport II, Genf 1951, S. 23f.; ILO: L’orientation et la formation, Genf 1964, S. 144, in: HAILO WN 2–14.
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terbildung wurde als Mittel gegen die strukturelle Arbeitslosigkeit und zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie bewertet.27 Nachdem einige Überlegungen der FrauenarbeitsexpertInnen in die Familienpflichtenempfehlung übernommen wurden, forderten sie im Jahr 1966, die internationalen Bildungsstandards zu überdenken. Die ExpertInnen mahnten vor allem eine Überarbeitung der Empfehlung Nr. 117 betreffend die berufliche Ausbildung aus dem Jahr 1962 an. Die Delegierten der IAK und der Verwaltungsrat hielten die bestehenden Standards allerdings für ausreichend. Erst 1975 wurde mit der Empfehlung betreffend die Berufsberatung und die Berufsbildung im Rahmen der Erschließung des Arbeitskräftepotentials (Nr. 150) die Bedeutung der Berufsbildung- und Beratung für die Chancengleichheit in einem neuen Rechtsakt nachhaltig betont.28 2.2 Die Bildungspolitik der EWG – Leerstelle Geschlecht? In der EWG bot sich zunächst im Kontext der Freizügigkeits- und Beschäftigungspolitik die Möglichkeit über die Berufsbildung zu diskutieren. Für die Steigerung der Produktivität im Gemeinsamen Markt erschien die Arbeitsmigration unerlässlich. Daher beschäftigten sich die BeamtInnen auch mit der Frage, wie die Mobilität durch die Anerkennung und Angleichung der Berufsausbildung gesteigert werden konnte. Die Kommission war durch Art. 118 EWGV berechtigt, eine enge Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten im Bereich der Aus- und Weiterbildung zu fördern. Die Kommission verband in der Bildungspolitik ökonomische Ziele (Mobilität und Produktivität) mit dem Versprechen auf den sozialen Fortschritt. Gemeinschaftliche Standards sollten die Chancengleichheit zwischen den ArbeitnehmerInnen gewährleisten und die Voraussetzungen für die Mobilität im europäischen Arbeitsmarkt schaffen. Zugleich ging die Kommission davon aus, dass durch Arbeitsmarkt- und Bevölkerungsprognosen der wirtschaftliche Bedarf und die Berufsinteressen des Einzelnen in Einklang gebracht werden könnten. Die Kommission strengte dann ab 1960 Untersuchungen über die Berufsfelder und Vergleiche nationaler Bildungs- und Beratungssysteme an und bemühte sich um die gegenseitige Anerkennung der Bildungsabschlüsse.29 Die Berufsbildung sollte entscheidend zur qualitativen Steigerung des Arbeitskräfteangebots beitragen. Zunächst wurden die bildungspolitischen Maßnahmen vor allem
27 Vgl. ILO: L’orientation et la formation, Genf 1964, S. 120–123, in: HAILO WN 2–14; ILO: Réunion d’experts, Rapport, Genf 1956, S. 7f.; ILO, Governing Body, 163ème session, in: HAEU BAC006/1977–387, S. 239–241. 28 Vgl. Minutes of the 164th session of the Governing Body, Genf, 28.02–4.03.1966, S. 5ff.; ILO-Empfehlung Nr. 150 betreffend die Berufsberatung und die Berufsbildung im Rahmen der Erschließung des Arbeitskräftepotentials, 1975. 29 Vgl. Hantrais: Social Policy, London u.a. 1995, S. 38
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auf männliche Beschäftigte bezogen: „[…] il faut encore qu’existent des hommes qualifiés, aptes à occuper ces emplois.“30 Die Kommission widmete ihre Aufmerksamkeit vor allem der Berufsberatung von Berufswechslern, Wiedereinsteigern und Arbeitssuchenden.31 Mitte der 1960er Jahre wurden dann weitere Gruppen in den Blick genommen, die bisher am Arbeitsmarkt eine eher marginale Rolle gespielt hatten, so z.B. körperlich Behinderte, Arbeitslose, Ausländer oder Unfallgeschädigte.32 Frauen wurden hingegen nicht als Zielgruppe einer intensivierten Berufsberatung in den Blick genommen, obwohl diese sehr wohl einen Großteil der WiedereinsteigerInnen stellten oder ihren Beruf aufgrund des Strukturwandels wechseln mussten. Ursprünglich waren Frauen als Untersuchungsgruppe sogar ausdrücklich benannt worden. Da die Bildungspolitik jedoch vor allem im Kontext der Freizügigkeit betrachtet wurde und der ideale Arbeitsmigrant jung und männlich war, wurde die Situation weiblicher Arbeitnehmer weitestgehend ignoriert.33 Im Jahr 1963 verabschiedete der Ministerrat nach Vorarbeiten der Kommission die Allgemeinen Grundsätze für eine gemeinsame Politik der Berufsausbildung.34 Der Beschluss bildete die rechtliche Grundlage für weitere Initiativen der Kommission hinsichtlich einer gemeinsamen Berufsbildungspolitik. In diesem Beschluss wurden zwei Konzepte miteinander verbunden: zum einen wurde das Recht auf Berufsbildung und die freie Ausbildungswahl bekräftigt. Zudem wurde Bildung als Selbstbildung konzipiert, indem der Anspruch festgehalten wurde, dass die Berufsausbildung eine Entwicklung der Persönlichkeit ermöglichen sollte. Als weiterer Grundsatz wurde ein Anspruch auf Umschulung und Weiterbildung während des gesamten Berufslebens festgehalten. Dadurch sollte unter Berücksichtigung der persönlichen Eignung und Neigung die Möglichkeit zum sozialen Aufstieg gegeben werden.35 Diese auf die Individuen zielenden Prinzipien wurden mit ökonomischen Zielsetzungen verbunden. Das Recht auf Ausbildung sollte zur Steigerung des Arbeitskräftepotentials beitragen. Und auch die Persönlichkeitsentwicklung im Rah30 Ribas, Jacques Jean: Etudes, La politique sociale de la Communauté Economique Européenne et quelques-uns de ses aspects familiaux. Exposé présenté à la réunion tenue à Bruxelles le 23 février, in: Familles dans le monde, Bd. 13, 1960, Nr. 2/3, S. 91–105, hier S. 94. 31 Vgl. Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Generaldirektion Soziale Angelegenheiten: Berufsberatung und Arbeitsvermittlung in der Gemeinschaft, Entwurf, September 1962, V/1399/1/62-D, in: HAEU BAC 006/1977–575, S. 112–115,120, 131. 32 Vgl. Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft: Entwurf, Empfehlung der Kommission an die Mitgliedstaaten über den Ausbau der Berufsberatung, V/KOM (65)313, Brüssel, 28.07.1965, in: HAEU BAC 006/1977–575, S. 90. 33 Vgl. Ribas, Jacques Jean: Etudes, in: Familles dans le monde, Bd. 13, 1960, Nr. 2/3, S. 94– 96. Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Generaldirektion Soziale Angelegenheiten: V/1399/1/62-D, in: HAEU BAC 006/1977–575, S. 162f. 34 Beschluss des Rates vom 2. April 1963 über die Aufstellung allgemeiner Grundsätze für die Durchführung einer gemeinsamen Politik der Berufsausbildung (63/266/EWG), http://eurlex.europa.eu/Notice.do?val=3360%3Acs&lang=de&list=3360%3Acs%2C&pos=1&page=1 &nbl=1&pgs=10&hwords=&checktexte=checkbox&visu=, letzter Zugriff 02.01.2013. 35 Vgl. ebenda.
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men der Berufsausbildung sollte sich an den Anforderungen des Marktes orientieren. Der Gemeinschaft wurde die Aufgabe zugewiesen, den quantitativen und qualitativen Bedarf an Arbeitskräften zu ermitteln. Die (potentiellen) Arbeitskräfte sollten dann durch eine umfassende individuelle Berufsberatung vor und während des Erwerbslebens in die entsprechenden Branchen vermittelt werden. So zielten die gemeinsamen Prinzipien letztlich darauf ab, durch die „Anpassung der beruflichen Fähigkeiten der Arbeitskräfte an den jeweiligen Stand der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung und der Entwicklung der technischen Produktionsbedingungen“36
den Beschäftigungsstand zu sichern und die Mobilität zu steigern. Mit dem Beschluss waren die Umrisse einer gemeinschaftlichen Berufsbildungspolitik vorgezeichnet. Anstelle eines europäischen Bildungssystems sollte eine Kooperation der Mitgliedstaaten gefördert werden, um wirtschaftliche und soziale Ziele zu erreichen. Durch die bedarfsgenaue Berufsausbildung der zukünftigen Arbeitnehmer sollte das Wirtschaftswachstum gesichert werden. Mit der Berufsberatung und Weiterbildung bereits aktiver Arbeitnehmer sollte ein Beitrag zur beruflichen und sozialen Mobilität geleistet werden. Somit konzipierte auch die EWG die Berufsbildung als Beitrag zu einer Politik der Chancengleichheit und des sozialen Aufstiegs.37 Die Grundsätze für eine gemeinsame Politik der Berufsausbildung orientierten sich auffallend eng an den Maßstäben internationaler (ILO) und europäischer Organisationen (OECD).38 Bei der Erarbeitung des Programms hatte die EWG tatsächlich auf die Unterstützung der ILO zurückgegriffen. Im Rahmen des Kooperationsabkommens bzw. des ständigen Kontaktausschusses war die Berufsbildung eines der wenigen Arbeitsfelder, in dem sich die EWG um eine Zusammenarbeit bemühte. Sie nutzte statistisches Material der ILO (auch hinsichtlich der Berufsbildung von Frauen), Untersuchungen und die Expertise der Fachabteilungen. Allerdings musste die ILO eingestehen, dass sie der Berufsbildung in den postkolonialen Mitgliedstaaten alle Aufmerksamkeit widmete und die Vorhaben 36 Ebenda. 37 Vgl. Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft: V/KOM (65)313, in: HAEU BAC 006/1977–575, S. 90; Collins: The European Communities, London 1975, Bd. 2, S. 48, 52. Die Prinzipien der Berufsberatung wurden dann 1966 in einer Empfehlung bekräftigt. Vgl. dazu Empfehlung der Kommission vom 18. Juli 1966 an die Mitgliedstaaten über den Ausbau der Berufsberatung (66/484/EWG), http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUri Serv.do?uri=CELEX:31966H0484:DE:HTML, letzter Zugriff 02.01.2013. 38 Vorbilder waren die ILO-Empfehlung Nr. 87 betreffend die Berufsberatung (1949), vor allem die Europäische Sozialcharta (1961), die Empfehlung Nr. 56 der Internationalen Konferenz für Erziehung und Unterricht (1963), die Empfehlung des Rates der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung über die Arbeitsmarktpolitik als Instrument des wirtschaftlichen Wachstums (1964) und die ILO-Empfehlung Nr. 122 über die Beschäftigungspolitik (1964). Vgl. Commission, Direction générale des affaires sociales: Proposition concernant l’établissement des principes généraux pour la mise en œuvre d’une politique commune de formation professionnelle, (Communication de M. Levi Sandri), V/COM(61) 101 rev.2, Brüssel 12.09.1961, in: HAEU BAC026 1969–140, S. 92.
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in Westeuropa daher nur noch unzureichend begleiten konnte. Zudem räumten die ILO-MitarbeiterInnen ein, dass die EWG in Form der Richtlinien über das stärkere Mittel der Normsetzung verfügte.39 Die Bedeutung der ILO schien sich alsbald auf die Rolle eines Informationsdienstes zu beschränken und sie war nicht direkt in die Normsetzung involviert. Im Bereich der Bildungspolitik kam es daher zu einer Ko-Existenz bzw. zu Überschneidungen europäischer und internationaler Bemühungen.40 Ein entscheidender Unterschied zwischen ILO- und EWG-Norm lässt sich in Hinblick auf die Berücksichtigung der Geschlechterproblematik feststellen. Während in der ILO die Berufsbildungspolitik als wichtiger Beitrag zur Geschlechtergleichheit konzipiert wurde, blieb dieser Aspekt in den EWG-Entscheidungen ausgespart. In den Diskussionen über die Allgemeinen Grundsätze für eine gemeinsame Politik der Berufsausbildung waren zwar von Seiten des Wirtschaftsund Sozialausschuss (WSA) geschlechtsspezifische und regionale Ungleichheiten aufgezeigt worden, aber Kommission und Ministerrat ließen diese unberücksichtigt.41 Erst ab 1971 beschäftigten sich die bildungspolitischen Fachgremien (Comité Consultatif pour la formation professionnelle) der EWG mit den Bildungschancen von Mädchen und Frauen.42 Allerdings wurde auch in den bildungspolitischen 39 Vgl. Minute Sheet von Quednau an Lemoine vom 08.03.1965: Concerne 3eme réunion du Comité permanent du contact BIT/CEE (11.3.65), Relations en matière de formation professionnelle, in: HAILO DADG 8–11 J.3, o.S.; Troisième Réunion du Comité permanent de contact (Genève 11 mars 1965) S. 15f. in: HAILO IGO051–2–1; Schreiben von Neirinck an Rens, Principal Directeur Général adjoint, vom 15.03.1965, in: HAILO IGO051–2–1, o.S. 40 Überschneidungen gab es beispielsweise bei der Finanzierung internationaler Berufsbildungseinrichtungen. Die ILO führte seit 1965 ein internationales Zentrum für Berufsbildung (CIRF), dass u.a. durch die EWG-Staaten mitfinanziert wurde. Ebenfalls 1965 wurden Pläne der Kommission bekannt, ein ähnliches Zentrum im Rahmen der EWG einrichten zu wollen. Auf Seiten der ILO wuchs dadurch die Verunsicherung, inwiefern sich die Sechs weiterhin an den internationalen Verpflichtungen beteiligen würden. Vgl. Minute Sheet von Lyman an Lemoine vom 08.03.1965, in: HAILO DADG 8–11 J.3, o.S.; Schreiben von Levi-Sandri an Morse vom 17.02.1970, CEE: Direction du Fonds Social et de la Formation Professionnelle: (Projet) Règlement Intérieur du Comité Consultatif pour la formation professionnelle, in: HAILO IGO 051–8–100, o.S.; Minute Sheet von Baechtold an Lemoine vom 20.02.1970, in: HAILO IGO 051–8–100, o.S.; Bericht von H. Vandries, représentant de l’OIT, accompagné de M. Fafchamps: Commission des Communautés Européennes, Comité Consultatif pour la Formation Professionnelle (session du 5 mars 1970), in: HAILO IGO 051–8–100, o.D., o.S. Ab ca. 1970 kam es zu einer engeren Zusammenarbeit im Bereich der Bildungspolitik. Die ILO-Mitarbeiter selbst sahen sich in der Rolle des Beobachters. Sie wollten der Kommission Auskunft über Praktiken und Methoden der Berufsbildung geben. Über eine Beteiligung in der Normsetzung wurde zu dieser Zeit nicht (mehr) gesprochen. 41 Vgl. Le Conseil: Note d’Information sur les travaux du Comité Économique et Social. Objet: 22ème réunion de la section spécialisée pour l’agriculture, proposition de la Commission de la C.E.E. concernant l’établissement des principes généraux pour la mise en œuvre d’une politique commune de formation professionnelle, Bruxelles, le 24 janvier 1962, 77/62 (SOC 7)/(CES 8), in: HAEU BAC 26/1969–141 S. 110. 42 Dabei wurde vor allem den Bericht von Evelyn Sullerot genutzt. Vgl. Comité consultatif pour la formation professionnelle, Session du 4 juin 1971, Projet d’ordre du jour, Bruxelles,
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Rechtsakten43 der 1970er Jahre die Chancengleichheit für Männer und Frauen ausgespart. Obwohl die gemeinschaftliche Bildungspolitik zu dieser Zeit dezidiert als Politik der Chancengleichheit forciert wurde, blieben Frauen von diesem Gleichheitsversprechen ausgeschlossen. 3. VON DER LOHNGLEICHHEIT ZUR GLEICHBEHANDLUNG Das Gleichheitsversprechen sollte schließlich nicht in bildungspolitischen Rechtsakten auf Frauen ausgeweitet werden. Stattdessen wurde die Chancengleichheit für Männer und Frauen beim Zugang zu Arbeit, Ausbildung und beruflichen Aufstieg in dem neuen Politikfeld der Gleichbehandlungspolitik bzw. in der Gleichbehandlungs-Richtlinie (1976) festgeschrieben.44 Entscheidend für die Ausweitung erwiesen sich frühere Entscheidungen und die sozialpolitische Aufbruchstimmung zu Beginn der 1970er Jahre. Im mittelfristigen Wirtschaftsprogramm waren die Einbindung von Frauen in den Arbeitsmarkt, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und die Gleichbehandlung in den Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen bereits als dringliche Aktionsfelder der Gemeinschaft definiert worden. Die Kommission (bzw. GD V) konnte daran anknüpfen und bekräftigte in ihrem Vorschlag für das Erste Soziale Aktionsprogramm (1974) diesen Weg. Sie setzte die Schwerpunkte auf die Integration benachteiligter Gruppen in den Arbeitsmarkt, die Verbesserung der Beschäftigungsbedingungen und die Partizipation. Angesichts der Bereitschaft der meisten Mitgliedstaaten, die Sozialpolitik auf der Gemeinschaftsebene voranzutreiben, bot sich die Gelegenheit, weitere Initiativen anzugehen, um Frauen in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Dieser Weg sollte über die Ausdehnung des Gleichbehandlungskonzepts führen. Zur Vorbereitung der Gleichbehandlungsrichtlinie wurde von der Kommission eine ExpertInnengruppe (Ad-Hoc-Komitee) einberufen. Die Besetzung des Gremiums wurde maßgeblich von feministischen BeamtInnen innerhalb der Generaldirektion Soziales beeinflusst, vor allem von der Französin Jacqueline Nonon. Nonon war u.a. mit einem Netzwerk französischer Staatsfeministinnen vernetzt, das als regierungsinterne pressure group fungierte. Die Frauen stammten aus dem Umfeld des „reasonable feminism“ der 1950/60er Jahre. Sie waren Expertinnen der Frauenarbeit und wollten mit ihren Beiträgen die Situation von Frauen verändern, ohne aber dabei das politische oder wirtschaftliche System radikal zu reformieren. Nonon hatte u.a. ihre Kontakte nach Frankreich genutzt, um 29.04.1971, in HAILO IGO 051–8–1000, o.S.; Commission des Communautés Européennes, Direction General des Affaires Sociales, Direction de la Main-d’oeuvre: La formation professionnelle des femmes, Bruxelles, 29.04.1971, in HAILO IGO 051–8–1000, o.S. 43 Vgl. Entschließung der im Rat vereinigten Minister für Bildungswesen vom 6. Juni 1974 über die Zusammenarbeit im Bereich des Bildungswesens, ABl C 98 vom 20.8.1974, S. 2; Entschließung des Rates und der im Rat vereinigten Minister für Bildungswesen vom 09.02.1976 mit einem Aktionsprogramm im Bildungsbereich, ABl C 38 vom 19.02.1976, S. 1–5. 44 Vgl. Hantrais: Social Policy, London u.a. 1995, S. 39.
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auch auf europäischer Ebene ein europäisches „femokratisches“ Netzwerk aufzubauen, zu dem auch Evelyn Sullerot, Eliane Vogel-Polsky und Yvonne de Wergifosse gehören sollten. Das Netzwerk konnte zum einen Einfluss auf die Institutionalisierung der Frauenarbeitsfrage innerhalb der Kommission nehmen. Zum anderen eröffnete sich für die Frauenrechtlerinnen durch die Hinwendung zur europäischen Ebene die Möglichkeit, auf die Politik der Mitgliedstaaten einzuwirken. Das Netzwerk konnte schließlich auch für die Besetzung des Ad-HocKommitees und für die Beratungen innerhalb der Gruppe aktiviert werden. Auch wenn die Mitglieder der Gruppe aus unterschiedlichsten Kontexten stammten und durch verschiedene Politik- und Verwaltungsstile geprägt waren, entwickelten sie schnell ein Selbstverständnis, das den Gemeinschaftsinteressen verpflichtet war. Damit bestätigte sich, was eingangs mit Bezug auf die Komitologie-Forschung angedeutet wurde.Vor allem die Delegierten aus den Beitrittstaaten von 1973 (Großbritannien, Irland, Dänemark) brachten in die Gruppe den Willen ein, die sozialpolitische Ausgestaltung der Gemeinschaft voranzutreiben. Schließlich muss auch herausgehoben werden, dass sich die Gruppe in hohem Maße auf wissenschaftliche Expertisen stützte. Daran zeigt sich die Bedeutung der Verwissenschaftlichung für den Politikprozess auf europäischer Ebene.45 Das Komitee legte ein Memorandum vor, in dem der Zugang von Frauen zum Arbeitsmarkt mit der Gleichbehandlung verbunden wurde. Das Memorandum wies auf die strukturellen Bedingungen der Frauenerwerbsarbeit und der Diskri45 Vgl. zum Begriff Staatsfeministinnen bei Sauer, Birgit: Engendering Democracy: Staatsfeminismus im Zeitalter der Restrukturierung von Staatlichkeit, in: Pickel, Gert/Pickel, Susanne (Hg.): Demokratisierungsprozesse im Internationalen Vergleich. Neue Erkenntnisse und Perspektiven, Wiesbaden 2006, S. 251–266. Nonon stand vor allem mit dem feministischen Netzwerk um das staatlich geförderte Comité d’Ètudes et de Liaison des Problèmes du Travail Féminin (CETF) in Frankreich in Verbindung. Das CETF folgte dem Modell des USamerikanischen Women’s Bureau und war dem Sozialministerium angeschlossen. 1971 wurde es in Comité du Travail Féminin (CTF) umbenannt. Amy Mazur bezeichnete diese Gruppe wegen ihrer Einbindung in die Politik als Staatsfeministinnen. Vgl.: Mazur, Amy: Gender Bias and the State: Symbolic Reform at Work in Fifth Republic France, Pittsburg 1995, S. 43–46, 85, 87f. Die Femokratinnen übten auch Einfluss auf die späteren autonomen und radikalen Frauengruppen aus, die die Rezeption der soziologischen Studien um marxistische Theorie erweitern sollten. D.h. auch wenn die Studien der EWG und der internationalen Organisationen bis zu Beginn der 1970er Jahre nicht die Themen aufnahmen, die in der autonomen Frauenbewegung tragend werden sollten, so sensibilisierten sie für die Ungleichbehandlung. Vgl. dazu: Picq, Françoise: Libération des femmes: les années mouvement, Paris 1993, S. 26ff; Hoskyns: Integrating Gender, London/New York 1996, S. 27ff.; Gardey, Deplhine/Laufer, Jacqueline: Yvette Roudy, „Les femmes sont une force“, in: Travail, Genre et Sociétés, Nr. 7, 2002, S. 23. Bereits in den 1960er Jahren drängten Feminstinnen/ Femokratinnen auf die Institutionalisierung der Frauenarbeitsfrage und Gleichstellungspolitik in der EG. Vgl. Schreiben von Wergifosse an Deshormes vom 15.02.1966, Service commun d’information et de presse des Communautés Européennnes, N./Ref.: 30/Conc.Entr.C.F.I./ Div., in: HAEU ME1667, o.S. Wergifosse bezog sich auf Vereinbarungen über die Einrichtung einer „Commission pour l’étude des problèmes féminins“ zwischen dem Presse- und Informationsdienst und der Internationalen Frauenkommission der Europäischen Bewegung, die auf einem Seminar in Rom (12–15.10. 1966) getroffen worden waren.
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minierung hin und forderte die Gemeinschaft auf, hinsichtlich der Ausbildung, des Berufszugangs, der Kinderbetreuung, der Alterssicherung und des Sozialversicherungssystems aktiv zu werden, um die Geschlechtergleichheit zu verwirklichen. Das Memorandum zeigte aber nicht nur strukturelle Ursachen der Ungleichbehandlung auf, sondern es verwies auch auf Einstellungen und Praktiken der ArbeitgeberInnen und der Gesellschaft im Allgemeinen gegenüber weiblichen Arbeitskräften. Die Gruppe stellte heraus, dass Frauen ein wachsendes Bewusstsein für die Ungleichbehandlung und für die Stigmatisierung weiblicher Erwerbstätigkeit entwickelt haben: „[…] women today are no longer content to provide a pool of casual labor.“46 Auch die zunehmenden Protestaktionen hätten gezeigt, dass eine Politik gefordert würde, die über die Entgeltgleichheit hinausreiche. Die Geringschätzung und Vorurteile gegenüber der weiblichen Erwerbstätigkeit sollten durch aktive Maßnahmen und „[…] the effective recognition of the social function of maternity […]“47 abgebaut werden. Die Gleichbehandlung wurde somit zur Voraussetzung der Erwerbsintegration erklärt. Dieses Gleichheitskonzept rekurrierte wiederum auf die Geschlechterdifferenz und die soziale Bedeutung von Mutterschaft. Durch den differenztheoretischen Zugriff konnte die Gleichbehandlung unmittelbar mit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie verknüpft werden: „Equality of treatment between men and women […] is dependent on the progress which can be made towards ‚reconciling the family responsibilities of those concerned with their professional aspirations’.“48
Das Ad-Hoc-Komitee wies darauf hin, dass die Gleichbehandlung einen langfristigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Nutzen bringe, da gleichberechtigte Arbeitnehmerinnen zur Steigerung des Bruttosozialprodukts, der Steuereinnahmen und der sozialen Sicherung beitragen. Diese Argumentation war dem Sullerot-Bericht entliehen und ähnelte dem Hinweis auf den „weiblichen Beitrag“, der in der Frauen- und Entwicklungspolitik der ILO und der Vereinten Nationen bemüht wurde. Die EG sollte durch die Bereitstellung von Mitteln aus dem ESF Maßnahmen unterstützen, die zu besseren Bildungs-, Arbeits- und Aufstiegschancen von Frauen beitragen konnten. Die Rolle der Kommission wurde vor allem im Abbau der Vorurteile gegenüber der Frauenbeschäftigung durch eine aktive Informationspolitik gesehen.49 In der Forschungsliteratur wird darauf hingewiesen, dass das Ad-HocKomitee für die Erarbeitung des Memorandums auf die Erkenntnisse des SullerotBerichts zurückgriff. Unberücksichtigt blieb bislang, dass geschlechtsspezifische Ungleichheiten in den beruflichen Bildungssystemen bereits seit den frühen
46 Commission of the European Communities: Communication to the Council concerning Equality of Treatment Between Men and Women Workers (Access to Employment, to Vocational Training, to Promotion, and as Regards Working Conditions), 12.02.1975, COM (75) 36 final, S. 4. 47 Ebenda, S. 6. 48 Ebenda, S. 1. 49 Vgl. ebenda. S. 24f., 31f.
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1960er Jahren problematisiert wurden und somit auch andere Vorarbeiten in das Memorandum einflossen. 3.1 Die Berufsbildung als Aspekt der Frauenarbeitsfrage Schon im Bericht über die soziale Lage in der Gemeinschaft von 1959 wurde der Ausbildungssituation von Frauen Beachtung geschenkt. Systematische Untersuchungen über das Qualifikationsniveau von Frauen setzten dann ab 1963 mit den Frauenarbeitsberichten ein. Die Frauenarbeitsberichte deckten den Zusammenhang zwischen (geschlechtsspezifischer) Berufsbildung und Beschäftigungsstatus auf. Die AutorInnen wiesen einstimmig darauf hin, dass die Ausbildung in „sogenannten typischen Frauenberufen“50 reduziert werden müsste, weil dadurch die Wahrscheinlichkeit stieg, nur eine prekäre Beschäftigung zu erhalten. Die AutorInnen forderten wie die ILO-ExpertInnen eine Umgestaltung der Ausbildungsgänge und eine stärkere Berücksichtigung technischer Fächer in der Ausbildung von Mädchen. Die Forderungen nach Chancengleichheit im Bildungssystem wurden vor allem mit der Rentabilität und den Opportunitätskosten begründet. Zum einen konnte durch eine verbesserte Berufsbildung und -beratung der Bedarf der Wirtschaft an qualifizierten Kräften gedeckt werden. Zum anderen bedeutet ein höheres Bildungsniveau eine höhere Arbeitsmarktbeteiligung, kürzere Arbeitsunterbrechungen und höhere Steuer- und Sozialbeiträge. Dieses Begründungsmuster hatte sich bereits im internationalen Diskurs etabliert und wurde später auch im Memorandum der Ad-Hoc-Gruppe aufgegriffen.51 Als Ursache für das Qualifikationsproblem verwiesen die BerichterstatterInnen wie die ILO-ExpertInnen auf Geschlechter- und Familienleitbilder. Die AutorInnen kritisierten, dass Frauen aufgrund von Geschlechterstereotypen und diskriminierenden Praktiken nicht von besseren Ausbildungschancen profitieren konnten: „Die Bildungswilligkeit der jungen Mädchen wird nicht nur von den immer noch bestehenden Vorurteilen insbesondere der Eltern, sondern auch von dem sehr realen Mangel an Aufstiegschancen beeinflusst, der meist ebenfalls auf Vorurteilen und keineswegs auf der fehlenden Eignung der Frauen beruht, aber auch durch Mängel der Ausbildung erschwert wird.“52
Die BerichterstatterInnen zeigten damit, in welchem Maße Vorstellungen über Mutterschaft, Familie, Ehe und Arbeit Einfluss auf die Bildungschancen nahmen. Wie die ILO-ExpertInnen thematisierten auch die BerichterstatterInnen der EWG neben dem Geschlecht das Alter als Zugangsbeschränkung. Viele der verheirateten Frauen, die in den 1960er Jahren erstmals oder nach der Familienpause auf den Arbeitsmarkt drängten, waren älter als 40 Jahre und hatten keine umfassende Berufsausbildung erhalten. Angesichts des strukturellen Wandels prognos50 Niemann: 9577/V/65-D, in: HAEU BAC006/1977–443, S. 350. 51 Vgl. Sullerot: Die Erwerbstätigkeit der Frauen, Luxemburg 197[2], S. 189–193, 206; ILO, Governing Body, 163ème session, in: HAEU BAC006/1977–387, S. 233f. 52 Niemann: 9577/V/65-D, in: BAC006/1977–443, S. 339.
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tizierten die AutorInnen bis ca. 1970 einen Rückgang unqualifizierter Stellen, die mehrheitlich von Frauen besetzt waren. Aus der Perspektive der AutorInnen konnten nur umfassende Weiterbildungsmaßnahmen die beruflichen Perspektiven dieser Arbeitnehmergruppe verbessern. Die AutorInnen plädierten daher für Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen und eine allgemein qualifizierende Berufsausbildung, die der wirtschaftlichen Entwicklung angepasst werden müsste. Vor allem in Italien und den Niederlanden müsste ein Berufsbildungssystem für Frauen aufgebaut werden, dass nicht nur auf traditionelle Frauenberufe (in der Textil- und Bekleidungsindustrie) ausgerichtet war.53 Älteren Arbeitnehmerinnen sollten unentgeltliche Weiterbildungsmaßnahmen ermöglicht werden. Wo solche Angebote bereits bestanden, sollte besser darüber informiert werden. Die Maßnahmen für ältere Arbeitnehmerinnen sollten auch die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ermöglichen. Zu diesem Zweck schlug beispielsweise Sullerot den Ausbau von Teilzeitarbeitsplätzen vor. Andererseits warnte sie wegen der geringen sozialen Absicherung der Teilzeitarbeitsplätze auch vor der Gefahr einer weiteren Prekarisierung.54 Indem die BerichterstatterInnen Benachteiligungen aufgrund des Alters und Geschlechts problematisierten, thematisierten sie implizit die Intersektionalität, d.h. das Zusammenspiel verschiedener Merkmale bzw. Diskriminierungsformen wie Alter, Geschlecht und sozialer Herkunft am Arbeitsmarkt. Die AutorInnen stellten heraus, dass Weiterbildungsmaßnahmen, Einstellungs- und Beförderungskriterien am Leitbild des männlichen Normalarbeitnehmers ausgerichtet waren. Vor allem Berufsrückkehrerinnen erlitten durch ein Zusammenspiel von Faktoren Benachteiligungen. Die BerichterstatterInnen forderten deshalb den Abbau von Vorurteilen gegenüber der Leistungsfähigkeit älterer Menschen und/oder Frauen als Voraussetzung für eine gelungene Integration der Berufsrückkehrerinnen.55 In den Berichten wurde auch der Zusammenhang klassen- und geschlechterspezifischer Normen thematisiert. Steigenga/Steigenga-Kouwe hatten festgestellt, dass das Bildungsniveau junger Frauen mehr als bei den Männern vom Bildungsstand des Vaters abhing. Auch Sullerot wies auf die Bedeutung der sozialen Herkunft in der Ausbildungswahl hin. Während in den 1960er Jahren durch die Bildungsoffensive viele Arbeitersöhne sozial aufsteigen konnten, blieben viele Töchter von diesem Phänomen ausgeschlossen.56
53 Vgl. Direction Générale des Affaires Sociales: V/979/65-D, in: HAEU BAC006/1977–387, S. 124, 130; Niemann: 9577/V/65-D, in: HAEU BAC006/1977–443, S. 348- 351; Steigenga/Steigenga-Kouwe: 8228/V–67-F Orig. N, in: HAEU BAC 026/1969–712, S. 269–271, Sullerot: Die Erwerbstätigkeit der Frauen, Luxemburg 197[2], S. 133–137, 141. 54 Vgl. Sullerot: Die Erwerbstätigkeit der Frauen, Luxemburg 197[2], S. 198–203, 207–211. Sullerot verwies auf Hallaire, Jean: L’emploi a temps partiel, OECD, Paris 1968. 55 Vgl. Niemann: 9577/V/65-D, in: HAEU BAC006/1977–443, S. 345f. 56 Vgl. Steigenga/Steigenga-Kouwe: 8228/V–67-F Orig. N, in: HAEU BAC 026/1969–712, S. 235, 238–242, 250–260; Sullerot: Die Erwerbstätigkeit der Frauen, Luxemburg 197[2], S. 196.
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Auf der Ebene der EWG wurde damit ebenso wie in der ILO darauf hingewiesen, dass die formale Gleichberechtigung im Bildungssystem nicht eingelöst wurde. Zwar hatten Mädchen und Frauen Zugang zu beruflicher Aus- und Weiterbildung, aber oftmals blieb ihnen die Gleichheit durch indirekte Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, des Alters oder der sozialen Herkunft verwehrt.57 Obwohl durch die Frauenarbeitsberichte Informationen vorlagen, die darauf verwiesen, dass Frauen nicht die gleichen Bildungschancen wie Männer genossen, gelang es bis in die 1970er Jahre nicht, diese Erkenntnisse in die Bildungspolitik einzubeziehen. Eine Ursache dafür ist in der Differenzierung und Komplexität des Entscheidungsverfahrens zu sehen. Durch die Aufgliederung der Kommission in Generaldirektionen und deren Unterabteilungen sowie diverse Ad-hoc und ExpertInnengruppen, konnten die BeamtInnen kaum einen Überblick über die Gesamtheit der Gemeinschaftsaktivitäten gewinnen. Die Abteilungen und Gremien, die sich mit Fragen der Berufsbildung befassten, hatten daher möglicherweise gar keine Kenntnis von den Frauenarbeitsberichten genommen.58 Die Ergebnisse der Frauenarbeitsberichte hinsichtlich des Qualifikationsproblems wurden schließlich vom Komitee zur Koordinierung der mittelfristigen Wirtschaftspolitik auf die EWG-Agenda gesetzt. An der Schnittstelle des Komitees konnten Themen miteinander verschränkt werden, die bis dahin und wohl auch danach von verschiedenen Kommissionsdiensten getrennt behandelt wurden.59 3.2 Chancenungleichheit als Thema der Zivilgesellschaft Hinweise über geschlechtsspezifische Benachteiligungen in der Berufsbildung lagen der Kommission nicht nur durch die Frauenarbeitsberichte vor. Bereits in den frühen 1960er Jahren unterhielt die Kommission, vor allem der Presse- und Informationsdienst, Verbindungen zu nationalen und transnationalen Frauenverbänden. Diese Kontakte wurden in der Forschung bislang kaum beachtet, u.a. weil die 1950er und 1960er Jahre bis zum „plötzlichen“60 Auftreten der neuen Frauenbewegung als eine Phase wahrgenommen wurden, in der die Frauenbewegung quasi inaktiv gewesen sei. Dabei wurde übersehen, dass in vielen Ländern nach dem Zweiten Weltkrieg ältere Frauenverbände ihre Aktivitäten fortsetzten oder neue Verbände gegründet wurden. Die Aktivistinnen schlossen nicht nur an alte Themen und Forderungen an, sondern nahmen auch einiges vorweg, was später prominent von der neuen Frauenbewegung problematisiert werden sollte. In der Forschung wurde bislang auch ignoriert, dass Frauenverbände bereits vor den 1970er Jahren Versuche unternahmen, sich auf (west-)europäischer Ebene zu57 Vgl. ILO: Réunion d’experts, Rapport, Genf 1956, S. 7f., 18f.; ILO, Governing Body, 163ème session, in: HAEU BAC006/1977–387, S. 240f. 58 Vgl. Knudsen/Rasmussen: A European Political System, in: Journal of European Integration History, Bd. 14, Nr. 1, 2004, S. 60–62. 59 Vgl. Ribas: La Politique Sociale, Paris, 1969, S. 487. 60 Bock: Frauen in der europäischen Geschichte, München 2005, S. 317.
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sammenzuschließen und die Politik der supranationalen Gremien zu begleiten. Bereits in den 1960er Jahren entwickelte sich so ein femokratisches Netzwerk, das Hinweise auf geschlechtsspezifische Problemlagen an KommissionsbeamtInnen wie Jacquelin Nonon herantrug. Der Diskurs der Frauenverbände wirkte schließlich auch in der Vorbereitung der Gleichbehandlungsrichtlinie durch die Ad-HocGruppe nach.61 Die Organisation von Frauenverbänden auf europäischer Ebene Mehr als in der Forschung bislang angenommen, verfolgten Frauenverbände innerhalb und außerhalb der EWG-Gründungsstaaten den Integrationsprozess bereits in den 1960er Jahren und versuchten diesen aktiv zu begleiten. Im Jahr 1961 beschlossen Gesandte des Internationalen Frauenrats (IFR) eine europäische Untergruppe zu gründen, das European Centre for the International Council of Women. Die Themen des IFR hatten sich in den 1960er aufgrund der Spaltung Europas und der erweiterten Mitgliederstruktur (Verbände aus postkolonialen Staaten) gewandelt. Die europäischen Delegierten fühlten sich aber durch spezifische Problemlagen miteinander verbunden und suchten dafür auch einen organisatorischen Ausdruck. Das European Centre versuchte in diesem Sinne, die Anliegen europäischer Frauen bei den Regionalorganisationen vorzutragen.62 Aber auch nationale Frauenverbände nahmen die Auswirkungen des Einigungsprozesses wahr und versuchten ihre Basis darüber zu informieren, so die französische Union féminine civique et sociale und La fédération nationale des femmes. Auf Studientagen, in Mitgliederpublikationen, regionalen Treffen und Studienreihen wurden Informationen über die Folgen der Integration vermittelt und europäische Fragen wie die Direktwahlen des EP diskutiert. Vor allem die Union féminine civique et sociale hielt dabei engen Kontakt zu MitarbeiterInnen des Informations- und Pressedienstes der Kommission.63 61 Vgl. Schreiben von Yvonne de Wergifosse an die Ligue Européenne de Coopération économique vom 21.06.1961: Constitution d’une commission féminine au conseil belge du mouvement européen, S. 3–9, in : HAEU ME 1663. 62 Vgl. Schreiben von Charlotte von Herberg, Vizepräsidentin der Europa-Union Deutschland an Yvonne de Wergifosse vom 16.05.1963, in: HAEU ME 1755, o.S. 63 Die Union wurde bereits 1925 von Frauen aus dem katholischen Milieu gegründet und hatte in Frankreich eine große Mitgliederbasis. Die Aktivistinnen der Union verstanden sich in den 1950er/60er Jahren als Frauenrechtsaktivistinnen in der Tradition der FrauenwahlrechtsAktivistinnen. Duchen wies darauf hin, dass die Vorsitzenden der Organisationen national und international gut vernetzt waren. Vgl. Duchen: Women’s Rights, London 1994, S. 164– 170; Nicolas, Geneviève: La fédération nationale des femmes et l’Europe, in: Informations féminines européennes, Organe du comité d’action féminine européenne, Nr. 2, 1960, S. 26– 28, bes. 26 f.; Bousquet, Martinet du (Président de l’U.F.C.S.): L’Union féminine Civique et Sociale et l’Europe, in: Informations féminines européennes, Organe du comité d’action féminine européenne, Nr. 2, 1960, S. 30, in: HAEU ME 1663, o.S.; Bureau d’information des Communautés Européennes, Rapport d’Activité du Bureau de Paris, Mai 1965, in: HAEK CEAB2 1965–2911, S. 109.
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Auch im Rahmen der Europäischen Bewegung waren in den frühen 1960er Jahren Bemühungen zu einem supranationalen Zusammenschluss der Frauenorganisationen zu beobachten. Die Europäische Bewegung International war 1948 ausgehend von einer britischen Initiative als europaweiter Zusammenschluss gegründet worden. Die Bewegung konstituierte sich aus transnationalen proeuropäischen Verbänden (z.B. Union Europäischer Föderalisten, Internationale Parlamentarische Sektion) und den nationalen Räten der Europäischen Bewegung. Die nationalen Räte sollten die Aktivitäten der Mitgliedsverbände koordinieren und zwischen der internationalen und nationalen Ebene vermitteln. Die Europäische Bewegung war einer der ersten zivilgesellschaftlichen Versuche nach dem Zweiten Weltkrieg, die Einigung Europas voranzutreiben und pro-europäische Kräfte organisatorisch zu bündeln. Zwar existierte mit der Europäischen Bewegung International ein Zusammenschluss der nationalen Dachverbände, aber meist wird der Begriff allgemein für „ein frühes Beispiel transnationaler sozialer Bewegungen“64 verwendet. Die Geschichte der Europäischen Bewegung ist bis heute nur schwach erforscht. Die meisten Arbeiten gehen auf das Wirken der Bewegung in den 1950er Jahren ein, als sie versuchte, Einfluss auf die nationalen Regierungen zu nehmen und die Integration in Form des Europarats voranzubringen. Ab Mitte der 1950er Jahre verlor die Bewegung an Kraft, was auf die verschiedenen Europa-Konzeptionen der Mitgliedsverbände und den Verlauf des Integrationsprozesses zurückzuführen ist. Die Zukunft der europäischen Integration wurde durch die Verhandlungen über die EGKS, EWG und EURATOM zunehmend von PolitikerInnen und Diplomaten abseits der Öffentlichkeit diskutiert. Ende der 1950er Jahre war die Europäische Bewegung öffentlich kaum noch sichtbar und die Tätigkeiten beschränkten sich auf die Vermittlung der Europapolitik in den Nationalstaaten. Die ersten Erfolge der EWG entfalteten dann jedoch eine gewisse Dynamik in Hinblick auf die Europäische Bewegung. Ausgehend vom deutschen und britischen Rat wurde in den späten 1960er Jahren das Profil geschärft und die Bewegung „wiederbelebt“. Kaum erforscht ist bislang, wie die Bewegung bzw. ihre Mitgliederverbände in den 1960er Jahren in den Entscheidungsprozess der EWG/EG einbezogen waren.65 Am Beispiel der Frauenverbände kann die Kooperation zwischen den AkteurInnen der EWG und der Europäischen Bewegung partiell nachvollzogen werden. 64 Kaelble: Sozialgeschichte Europas, Bonn 2007, S. 303. 65 Vgl. nach wie vor grundlegend Lipgens, Walter: Die Anfänge der europäischen Einigungspolitik, Bd. 1, Stuttgart 1977. Lipgens Vorhaben, die Geschichte der Europäischen Bewegung in allen Ländern aufzuarbeiten, blieb unvollendet. Erste Aufarbeitung der Geschichte der Europäischen Bewegung Deutschland: Mittag, Jürgen: Vom Honoratiorenkreis zum Europanetzwerk, in: Europäische Bewegung Deutschland (Hg.): Festschrift „60 Jahre Europäische Bewegung Deutschland“, Berlin 2009, S. 12–28, http://www.europaeische-bewegung.de/ index.php?id=8548, letzter Zugriff, 16.10.2012. Vgl. zu neueren Forschungsvorhaben auch Neißkenwirth, Frederike: Vordenker für ein geeintes Europa: Die Europäische Bewegung und ihre Erben (1945–1957), in: Jahrbuch des Zentrums für Niederlande-Studien, Münster 2008, S. 212–214.
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Die Interessen der assoziierten Frauenorganisationen waren in der Bewegung bereits in nationalen Frauenkommissionen organisiert. Vor allem auf Bestreben der Französinnen und Belgierinnen sollten die Aktivitäten der nationalen Frauenkommissionen durch eine Internationale Frauenkommission auf Ebene des Internationalen Rats der Europäischen Bewegung koordiniert werden.66 Im März 1961 wurde in Paris die Internationale Frauenkommission der Europäischen Bewegung gegründet; durchaus unter öffentlicher Aufmerksamkeit und Anerkennung.67 Auffällig sind die personellen Überschneidungen zwischen den organisierten Fraueninteressen in der Europäischen Bewegung und den EWGInstitutionen. Die langjährige Europaabgeordnete Astrid Lulling war beispielsweise ab Mai 1965 Vizepräsidentin der luxemburgischen Frauenkommission der Europäischen Bewegung.68 Giuseppe Petrilli, der unter Hallstein bis 1961 Kommissar für Soziale Angelegenheiten war, wurde 1966 Gründungspräsident der italienischen Frauenkommission.69 Während der Dachverband der Europäischen Bewegung auf ein föderales Europa hinwirken wollte und im Europarat die wichtigste Regionalorganisation sah, erkannten die Gründerinnen der Internationalen Frauenkommission früh das Potential der EWG. Sie wollten die Maßnahmen des Gemeinsamen Marktes aus einer weiblichen Perspektive begleiten und Einfluss auf die Beratungen und Entscheidungen in den EWG-Gremien nehmen (z.B. über MitarbeiterInnen in den Institutionen). Frauen sollten dabei in der Vielfalt ihrer Rollen als Hausfrauen, Erwerbstätige, Selbständige und Verbraucherinnen vertreten werden. Die Internationael Frauenkommission erfasste Frauen damit in der Vielzahl sozialer Interaktionen. Dieses Frauenbild unterschied sich erheblich von den eindimensionalen Rollenangeboten der Hausfrau und Mutter bzw. der modernen Hausfrau.70 Die Initiatorinnen der Internationalen Frauenkommission forderten, dass das Versprechen der EWG hinsichtlich eines besseren Lebensstandards auch für Frauen gelten müsse. Das Integrationsprojekt wurde somit schon frühzeitig mit der Geschlechtergleichheit verbunden. Sie wiesen darauf hin, dass die Integration in Hinblick auf die Lohngleichheit, die Freizügigkeits- und Wohnungspolitik, das Niederlassungsrecht, die soziale Sicherung, die Berufsbildung, die Zollunion und 66 In den Dokumenten werden verschiedene Bezeichnungen für das Gremium verwendet. Die Vorbereitungen liefen über das Comité d’Action Féminine Européenne (C.A.F.E.) oder auch Comité International d’Action Européenne. Die Bezeichnung wurde teilweise für die 1961 gegründete Commission féminine internationale du mouvement européen fortgeführt. Vgl. Bericht von Yvonne Wergifosse vom 14.03.1962, Réunion de la commission féminine du mouvement européen, Paris 12 mars 1962, in: HAEU ME 1663, S. 1, 5. 67 Vgl. Zeitungsausschnitt, ohne Titel, „Le […] National“, Nr. 259, 1961, in: HAEU ME 1627, o.S. 68 Vgl. Schreiben von Hack-Thomé und Calteux (Conseil Luxembourgeois du mouvement européen) an Mme Wergifosse, Présidente du Bureau international de la Commission Féminine du mouvement européen, vom 02.06.1965, in: HAEU ME1666, o.S. 69 Vgl. Schreiben von Secrétariat international du mouvement européen an Mme Wergifosse, Présidente de la Commission Féminine vom 03.01.1966, in: HAEU ME 1667, o.S. 70 Vgl. Zeitungsausschnitt, ohne Titel, [vermutlich von 1959 oder 1960], in: HAEU ME 1627, o.S.
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das Ehe- und Familienrecht Auswirkungen auf die Lebenswelt von Frauen haben werde.71 Als Teil der Europäischen Bewegung sollte die Hauptaufgabe der Frauenkommission darin bestehen, im Milieu der Frauenverbände Interesse für die europäische Idee zu wecken: „Le désir d’exercer une influence d’esprit européen dans les milieux qui se consacrent a l’action féminine en général […]“.72 Auf dem Veranstaltungsprogramm der nationalen und der internationalen Frauenkommissionen standen daher frauenpolitische Themen, die Europabildung und die Information über den Integrationsprozess.73 Um die „Einmischung“ in die europäische Politik zu rechtfertigen, rekurrierten die Aktivistinnen auf die Geschlechterdifferenz. Sie gingen davon aus, dass Frauen als Ehefrauen und Mütter besonders geeignet seien, die Völkerverständigung zu fördern, indem sie auf die Erziehung der Kinder und Jugend im europäischen Geist hinwirkten. Mit dem Hinweis auf die besondere Eignung von Frauen für die Erziehungsarbeit knüpften sie an Differenzvorstellungen der bürgerlichen Frauenbewegung an.74 Im Verlauf der 1960er Jahre trat die Internationale Frauenkommission abhängig vom persönlichen Engagement der Aktivistinnen und der nationalen Frauenkommissionen mehr oder weniger stark in Erscheinung. Mitte der 1960er Jahre (ca. 1965/1967) kam es zu Führungsproblemen innerhalb der britischen, niederländischen und französischen Sektionen, die teilweise zur Auflösung der nationalen Kommissionen führten. Bei den Aktivistinnen galt das Projekt der Internationalen Frauenkommission alsbald als enttäuschend oder gar gescheitert.75 Wenngleich die Arbeit der Internationalen Frauenkommission nicht konstant war und seitens der Frauenverbände als Misserfolg wahrgenommen wurde, so muss doch berücksichtigt werden, dass in diesem Rahmen auf europäischer Ebene ein Forum für die Anliegen von Frauen geschaffen wurde. Lange bevor feministische Lobbyverbände in den 1980er Jahren Einfluss auf die Politik der Gemeinschaft nehmen wollten, wurden bereits Versuche unternommen, die Agenda der 71 Vgl. Schreiben von Yvonne de Wergifosse an die Ligue Européenne de Coopération économique vom 21.06.1961, S. 5–9, in : HAEU ME 1663. 72 Vgl. Proposition de constitution d’une commission féminine du mouvement européen, in: HAEU ME 1663, o.D., o.S. 73 Vgl. Schreiben von Herberg an Wergifosse vom 12.09.1967, S. 2, in: HAEU ME 1635. 74 Vgl. Marcelle Lazard: „Si toutes les femmes d’Europe étaient unies…elles contribueraient au bien-être, au progrès et à la paix“, Rencontre internationale du comité d’action féminine européenne (C.A.F.E.), Paris les 23. 24. 25. Mars 1961, in HAEU ME 1627, o.S. 75 Vgl. Schriftwechsel zwischen Marcelle Lazard (Présidente de la Commission Féminine du Mouvement Européen) und Wergifosse vom 30.12. 1966 und 9.01.1967, in: HAEU ME 1667, o.S.; Schreiben von Wergifosse, Présidente (Commission Féminine Internationale) an Madame Rohling van Spanje, Présidente de la Commission féminine néerlandaise de Mouvement Européen vom 26.02.1965, N./Ref. : 7/C.F.I. Com, in: HAEU ME 1666, o.S.; Schreiben von Wergifosse an Molenaar, Président du Conseil néerlandais du Mouvement Européen, vom 10.03.1967, in: HAEU ME 1668, o.S.; Schreiben von Marcelle Lazard an Robert van Schendel, Secrétaire général international du Mouvement Européen vom 11.03.1969, in: HAUE ME 1670, o.S.
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EWG mitzugestalten. In sporadischen Konferenzen und Seminaren wurden so unterschiedliche Themen wie die Lohngleichheit, die Berufsbildung oder die sozialen Probleme der Freizügigkeit diskutiert. Große Resonanz fand beispielsweise das vom Britischen Rat der Europäischen Bewegung organisierte internationale Treffen „Women in the new Europe“ (Mai 1962). Auf der Veranstaltung kamen über 400 weibliche Delegierte zusammen, darunter auch Regierungsvertreterinnen und Ministerinnen. Die Aktivistinnen befassten sich u.a. mit der Frauenarbeit in der EWG, der Lohn- und Chancengleichheit und dem Beitrag von Frauen zur europäischen Integration.76 Im Jahr 1966 wurde eine Konferenz zum Thema „Die Frau im öffentlichen Leben“ abgehalten, auf der für mehr Partizipation im gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Leben plädiert und Führungspositionen für Frauen eingefordert wurden.77 Die Kommission (Presse- und Informationsdienst) unterstütze diese Treffen ab 1962 materiell durch die Übernahme der Reise- und Verpflegungskosten, die Bereitstellung der Tagungsräume und Übersetzungstechnik. Auch ideell wurde die Arbeit unterstützt, indem Personal für Redebeiträge entsandt wurde. Jacqueline Nonon aus der Generaldirektion für Soziale Angelegenheiten sprach beispielsweise 1967 auf einer Veranstaltung über die Strukturen und Perspektiven der Frauenerwerbsarbeit. MitarbeiterInnen der Kommission konnten den Aktivistinnen somit aus erster Hand Informationen über die Agenda der Gemeinschaft und Arbeitsmaterialien weitergeben. Die Kommission erhielt über die geförderten Veranstaltungen und die persönlichen Kontakte wiederum Einblick in die Debatten und Themen der Frauenverbände, u.a. im Bereich der Berufsbildung.78
76 Vgl. Bericht von Yvonne Wergifosse vom 14.03.1962, Réunion de la commission féminine du mouvement européen, Paris, in: HAEU ME 1663, S. 1, 5; Vgl. Draft Programme for a Conference of European Women on The Unity of Europe, Organised by the United Kingdom Council of the European Movement at Church House, Westminster, Saturday, May 5th, 1962, in: HAEU ME 1664, o.S. 77 Vgl. Schreiben von Emilienne Brunfaut an Yvonne de Wergifosse vom 07.11.1966, Séminaire Internationale sur la participation de la femme à la vie publique, Annexe: Texte de Conclusion, S. 4, in: HAEU ME-001628. 78 So wurden Berichte über die Umsetzung des Art. 119 und über die Frauenerwerbsarbeit weitergeleitet. Vgl. Schreiben von Rabier, Communautés Européennes, Service Commun de Presse et d’Information, an Yvonne Wergifosse, Présidente de la Commission Féminine du Mouvement International Européen vom 09.10.1967, in: HAEU ME 1635, o.S.; Communautés Européennes, Service de Presse et d’Information: Programme des Journées d’Information organisées pour la Commission Féminine Internationale du Mouvement Européen Bruxelles, les 4 et 5 décembre 1967, in: HAEU ME 1635, o.S.; Schreiben von Yvonne de Wergifosse an Charlotte von der Herberg, vom 21.09.1967, in: HAEU ME 1635, o. S.
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Die EWG als Forum für nationale Forderungen in den 1960er Jahren Wie bereits erwähnt wurde, lag der Schwerpunkt der Europäischen Bewegung in der Propagierung der europäischen Einheit auf nationaler Ebene – auch gegenüber politischen Entscheidungsträgern. Die Beeinflussung der nationalen Agenden motivierte auch die internationalen und nationalen Frauenkommissionen der Europäischen Bewegung. Die Aktivistinnen warben für die Integration und nutzten die EWG gewissermaßen als Forum, über das sie integrations- und frauenpolitische Forderungen an die Nationalstaaten vermitteln konnten. Der Rückgriff auf diese Strategie kann u.a. mit den Möglichkeiten und Grenzen politischer Einflussnahme in den Nationalstaaten erklärt werden. In Frankreich waren aufgrund der republikanischen Tradition in den 1960er Jahren nur wenige Frauen parteipolitisch organisiert und in den meisten Parteien von Führungspositionen gänzlich ausgeschlossen. Daher war es auch kaum möglich, Frauenrechte in politischen Gremien einzufordern. Zudem dominierten die Krise des politischen Systems und der Algerienkrieg lange Zeit die politische Agenda. Gut belegt ist diese Strategie auch für die belgische Sektion der Internationalen Frauenkommission der Europäischen Bewegung. Die belgische Sektion unter ihrer Präsidentin Yvonne de Wergifosse nutzte die europäische Dachorganisation als Forum, um über den Umweg der EWG, Forderungen an die belgische Bildungspolitik zu formulieren.79 Die Aktivistinnen griffen auf eine Strategie zurück, die bereits von der ersten Frauenbewegung des ausgehenden 19. Jahrhunderts erprobt worden war. Zu jener Zeit internationalisierte sich die Frauenbewegung durch die Gründung zahlreicher Verbände und Veranstaltungen/Kongresse. Die internationale Ebene bot eine Aktionsfläche, die Frauen in den Nationalstaaten oftmals verwehrt geblieben war. Nach der Gründung internationaler Organisationen wie dem Völkerbund und der ILO wurde dann versucht, auch über diese Einfluss auf die nationale Politik zu nehmen. Auch wenn sich die Situation in den Nationalstaaten in Hinblick auf die politische Mitbestimmung nach dem Zweiten Weltkrieg verbessert hatte, wurde diese Taktik gegenüber der UN und – wie sich zeigt – auch gegenüber der EWG weiter angewandt. Zum einen wurde versucht, auf den Entscheidungsprozess und die Normgebung der Organisationen Einfluss zu nehmen. Zum anderen wurde auf bereits bestehende internationale Normen (UN, ILO, UNESCO) und Kompetenzen rekurriert und deren Umsetzung im nationalen Kontext eingefordert.80 79 Christine Bard stellte heraus, dass Frauen in Frankreich politisch unterrepräsentiert waren, weil politische Macht Männern zugedacht wurde. Vgl. Bard: Die Frauen in der französischen Gesellschaft, Köln u.a. 2008, S. 186- 191. Im Besonderen der Universalismus französischer Prägung erwies sich als folgenreiches Konzept für die politische Repräsentation. Das Universalismuskonzept überdeckte durch den Anspruch, die Interessen der Gemeinschaft zu vertreten gesellschaftliche Differenzen, u.a. geschlechtsspezifische. Dieses Konzept wurde in der Menschenrechtserklärung festgeschrieben und ging auf eine Interpretation der Rousseauschen Vertragstheorie zurück, wonach Frauen und Männer unterschiedliche gesellschaftliche Rollen ausübten. Vgl. auch Hergenhan: Sprache, Macht, Geschlecht, Sulzbach 2012, S. 49, 51. 80 Vgl. Berkovitch: From Motherhood to Citizenship, Baltimore 1999; Stienstra: Women's Movements, Basingstoke 1994; Zimmermann, Susan: Frauenbewegungen, Transfer und Trans-
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Am Beispiel der Frauenverbände zeigt sich konkret, wie internationale Normen als symbolische Referenz aufgegriffen werden konnten. Die belgische Sektion der Internationalen Frauenkommission der Europäischen Bewegung bezog sich beispielsweise auf die Erklärung des ECOSOC über die wirtschaftlichen Rechte der Frau und der Zugang der Frau zum wirtschaftlichen Leben (1965)81 und auf die langjährigen Bemühungen der ILO, um ihre Forderung nach Bildungsgerechtigkeit gegenüber der nationalen Regierung zu legitimierten: „L’attitude prise par l’Organisation Internationale du Travail nous apporte à la fois un soutien et renforce notre conviction qu’au seuil d’une révolution scientifique bouleversant profondément les techniques, au seuil d’une période de grandes transformations économiques et sociales, la femme devrait pouvoir devenir réellement un citoyen ‘à part entière’ et partager toutes les responsabilités dans la vie des nations et du monde.“82
Die Aktivistinnen nutzten den Kontakt zur EWG-Kommission aber auch, um geschlechterpolitische Defizite der Gemeinschaftsspolitik aufzuzeigen und die Agenda zu beeinflussen. Mitglieder der belgischen Sektion verfolgten beispielsweise die bildungspolitischen Debatten der EWG. In der Entscheidung des Ministerrats von 1963 über die Grundzüge einer gemeinschaftlichen Berufsbildungspolitik erkannten sie Ansatzpunkte zur Verbesserung der Ausbildungssituation von Frauen, obwohl darin keine geschlechtsspezifischen Bestimmungen enthalten waren.83 So legten sie z.B. die Bestimmungen über die Weiterbildung und den beruflichen Aufstieg als Instrument der Frauenförderung aus. Auch der Grundsatz über Sonderprobleme konnte auf weibliche Arbeitnehmer bezogen werden: „Bei der Anwendung der allgemeinen Grundsätze der gemeinsamen Politik der Berufsausbildung sind die Sonderprobleme bestimmter Tätigkeitsbereiche oder Personengruppen besonders zu berücksichtigen; zu diesem Zweck können besondere Maßnahmen eingeleitet werden.“84
In ihrer Interpretation der Bildungsgrundsätze konnten die Aktivistinnen Probleme des Gemeinsamen Marktes – Arbeitskräfte- und Fachkräftemangel – mit den Problemen erwerbstätiger Frauen verbinden. Sie wussten um die Auseinandersetzung der Kommission mit dem Thema Frauenerwerbsarbeit und wiesen darauf
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Nationalität. Feministisches Denken und Streben im globalen und zentralosteuropäischen Kontext des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, in: Kaelble, Harmut/Kirsch, Martin/SchmidtGernig, Alexander (Hg.): Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert, Franfurt a.M. 2002, S. 263–302. bes. S. 263–284. Darin bekräftigte der ECOSOC das Recht auf Arbeit als Voraussetzung für die Geschlechtergleichheit. Das Recht auf Arbeit werde jedoch nur dann für Frauen möglich, wenn auch der freie Zugang zur Berufs- und Hochschulbildung ermöglicht sei. Der ECOSOC forderte daher die UN-Mitgliedstaaten auf, unter Berücksichtigung des ILO-Übereinkommens Nr. 111 (1958) und der Empfehlung Nr. 117 (1962) eine freie Bildung zu ermöglichen. Vgl. Nations Unies, Conseil Economique et Social, 39ème session, 16.07.1965. Droits Economiques de la femme et accès de la femme a la vie économique, in: HAEU ME 1648, o.S. Journée d’information sur le problème de la formation professionnelle des jeunes filles et des femmes, Bruxelles, 30 novembre 1965, Note, in: HAEU ME 1648, S. 36. Vgl. ebenda, S. 36f. Beschluss des Rates vom 2. April 1963, (63/266/EWG).
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hin, dass nur durch eine ausreichende Qualifizierung das Potential von Frauen genutzt werden könne. Damit unterstrich die Frauenkommission, dass die EWG in der Erfüllung eines zentralen Vertragsziels (Wirtschaftswachstum) auf Frauen angewiesen sei. Während die Kommission in den frühen 1960er Jahren vor allem in der Arbeitsmigration das Mittel zur Produktivitätssteigerung sah, plädierten die Aktivistinnen dafür, die soziale Mobilität durch Bildung zu fördern. Konkret wurde die Verwendung des ESF als Förderinstrument für die Berufsbildung und Umschulung von Frauen angedacht. Die Forderung nach der Chancengleichheit im Zugang zur Ausbildung im Rahmen des ESF eilte ihrer Zeit weit voraus und sollte in der Vorbereitung der Gleichbehandlungsrichtlinie erneut aufgeworfen werden.85 Die Forderungen nach einem freien und gleichen Zugang zur Berufsbildung wurden im Dezember 1965 auf einem Informationstag über die Berufsausbildung von Mädchen und Frauen wiederholt, den die belgische Frauenkommission unter Mithilfe und Teilnahme der EWG-Kommission organisiert hatte.86 Die Sprecherinnen der Frauenkommission richteten sich primär an die belgische Regierung und wiesen darauf hin, dass Frauen- und Familienleitbilder zu einer ablehnenden Position gegenüber der Ausbildung und einer kontinuierlichen Erwerbsbiographie beitrugen. Die Aktivistinnen plädierten für eine Ausweitung des Bildungsangebots, eine freie Berufs- bzw. Ausbildungswahl und einen Wandel der sozialen Einstellungen hinsichtlich der Frauenrolle.87 Die Frauenkommission verlieh ihrem Appell jedoch Nachdruck, indem sie Belgien als Mitgliedstaat der EWG und der ILO ansprach. Die Sprecherinnen rekurrierten auf die Politik der ILO im Bereich der Chancengleichheit. Sie forderten die belgische Regierung auf, ihre Bildungspolitik mit der EWG-Kommission zu koordinieren. Nur durch eine gemeinsame Bildungspolitik könnten die wirtschaftlichen und sozialen Anforderungen eines vereinten Europas gemeistert werden. Die Frauenkommission wies darauf hin, dass Frauen in der Entwicklung der Gemeinschaft eine zunehmend wichtige Rolle spielten. Mit dem Prinzip der Lohngleichheit (Art. 119 EWGV) hatte die Gemeinschaft bereits einen ersten Schritt zur Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Situation von Frauen unternommen. Die Akteurinnen unterstrichen, dass die Verwirklichung dieser Ziele nur durch eine verbesserte und ausgeweitete Ausbildung von Frauen voran85 Vgl. Wergifosse, Yvonne de: Les femmes et le marché commun – aspects production/travail. Résumé du rapport fait à la Rencontre Féminins Européens le 21 mars 1961 à Paris, in: HAEU ME 1627 S. 3; ähnlich dazu: Journée d’information, 30 novembre 1965, Note, in: HAEU ME 1648, S. 2–4. 86 Vgl. Schreiben von Wergifosse an Robert van Schendel, Secrétaire Général du Mouvement Européen International, vom 18.11.1965, in: HAEU ME 1648, o.S.; Mouvement Européen, Conseil Belge, Journée d’Information sur le formation professionnelle des femmes et des jeunes filles, Conclusions, in: HAEU ME 1648, o.S. An dem Informationstag nahm ein Vertreter der GD V teil, der einen Überblick über die Aktivitäten der Gemeinschaft im Bereich der Bildungspolitik gab. 87 Journée d’Information, 30 novembre 1965, Note, in: HAEU ME 1648, S. 38–44; Mouvement Européen, Conclusions, in: HAEU ME 1648, o.S.
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kommen könne. Sie bezogen sich damit auf ein Konzept, dass im internationalen Diskurs durch die ILO bereits etabliert war. In der ILO-Empfehlung Nr. 90 zur Lohngleichheit (1951) wurde auf den Zusammenhang zwischen Bildungsgerechtigkeit und Lohngleichheit hingewiesen: „Um die Anwendung des Grundsatzes der Gleichheit des Entgelts männlicher und weiblicher Arbeitskräfte für gleichwertige Arbeit zu erleichtern, sollte […] eine Steigerung der Leistungsfähigkeit der weiblichen Arbeitskräfte angestrebt werden, insbesondere durch a) Gewährung gleicher oder gleichwertiger Möglichkeiten für Arbeitnehmer beider Geschlechter auf den Gebieten der Berufsberatung, der Arbeitsberatung, der beruflichen Ausbildung und der Arbeitsvermittlung[…]“88
Die Aktivistinnen sprachen nicht etwa den Ministerrat, sondern dezidiert die Kommission als kompetenten und innovativen Akteur im internationalen System an: „der Weg nach Europa [geht] nur über die Kommission in Brüssel.“89 Die Kommisson erschien als geeignete Kooperationspartnerin, da sie die Zusammenarbeit mit VertreterInnen der Zivilgemeinschaft explizit bekundet hatte. Die Aktivistinnen schlossen daraus selbstbewusst: „Nous pouvons aider la C.E.E. dans sa mission, et la C.E.E. peut nous aider dans la notre; nous avons le devoir de collaborer, […] à l’unification de l’Europe.“90
Die Kommission konnte den Kontakt nutzen, um Informationen zu gewinnen und ihre Initiativen gegenüber den intergouvernementalen Institutionen im EWGSystem zu behaupten. Der Kontakt der Kommission zur zivilgesellschaftlichen Ebene stellte damit ein wichtiges Instrument dar, inner- und außersystemische Anerkennung zu erhalten. Nicht zuletzt konnte sich die Kommission über die Kooperation mit den Frauenverbänden in der Bevölkerung die Unterstützung für den Gemeinsamen Markt sichern, die ab den späten 1960er Jahren immer wichtiger werden sollte. Es wurde bereits angedeutet, dass die Frauenverbände auch eine wichtige Schnittstelle im Wissenstransfer zwischen der internationalen, supranationalen und nationalen Ebene waren. Bereits 1960 organisierte das Comité de Liaison des Associations féminines françaises einen Studientag zum Thema „Die Berufsbildung von Frauen in den Ländern des Gemeinsamen Marktes“. Auf der Veranstaltung sprach die ILO-Expertin und Aktivistin Marguerite Thibert über die europäische Integration und trat mit konkreten Forderungen an die EWG heran. In Anlehnung an die frauenpolitische Rhetorik der ILO forderte auch Thibert bildungspolitische Maßnahmen, um den sozialen Aufstieg von Frauen zu fördern und den weiblichen Beitrag anzuerkennen. Sie forderte die Umgestaltung der Bildungspläne und einen Einstellungswandel hinsichtlich der Ausbildung von Mädchen und Frauen. Der Kommission empfahl sie, gemeinsame Studien über die Berufsbera88 Empfehlung Nr. 90 betreffend die Gleichheit des Entgelts männlicher und weiblicher Arbeitskräfte für gleichwertige Arbeit, Abschnitt 6, (1951), http://www.ilo.org/ilolex/german/docs/recdisp1.htm, letzter Zugriff, 03.01.2013. 89 Schreiben von Herberg an Wergifosse vom 12.09.1967, S. 2, in: HAEU ME 1635. 90 Wergifosse: Les femmes et le marché commun, in: HAEU ME 1627 S. 3, allgemein S.14.
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tung von Mädchen in den EWG-Mitgliedstaaten anzufertigen. Die Forderung zeugt einmal mehr von dem Vertrauen in die wissenschaftliche Begleitung und Planbarkeit politischer Prozesse, das sich als geradezu charakteristisch für die internationale und supranationale Politik erweisen sollte.91 Thibert wies zudem darauf hin, dass Frauen in besonderer Weise vom Integrationsprozess betroffen seien. Aufgrund der Freizügigkeitsbestimmungen kam es vor allem für Frauen zu familiären und beruflichen Problemen. Viele der Binnenmigranten waren Familienväter, die meist allein in die Fremde gingen oder ihre Familien nachholten. Die Familienmigration führte dann oft zur Berufsaufgabe der Ehefrauen, weil ihr alter Beruf im Gastland nicht nachgefragt war. Thibert wies darauf hin, dass die Erwerbssituation dieser Frauen von den EWGInstitutionen berücksichtigt werden müsse, indem z.B. Mittel des Europäischen Sozialfonds für die Umschulung von Männern und Frauen freigegeben werden. Um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen, hob Thibert hervor, dass das Komitee für Frauenarbeit in der ILO dem Thema hohe Priorität einräumte. Tatsächlich sollte sich später auch die EWG-Kommission mit den sozialen und familiären Folgen der Migration beschäftigen. Der Rolle der Migrantinnen als Arbeitnehmerinnen wurde dabei aber nur wenig Beachtung geschenkt (vgl. Kap. VI). In Thiberts Beitrag fällt besonders auf, dass sie die ILO zwar als moralische Referenz präsentierte, aber nicht deren Führungsanspruch für die Gleichstellungspolitik behauptete. Sie erkannte stattdessen das Potential der EWG bzw. der Kommission, zur Gleichbehandlung und Chancengleichheit beizutragen. Diese Einschätzung war sicher auch von der Selbstdarstellung der Kommission und ihrem Gestaltungsanspruch geprägt.92 Die Zusammenarbeit mit Frauenverbänden in den 1970er Jahren Die Kontakte zwischen den nationalen und transnationalen Frauenverbänden, KommissionsmitarbeiterInnen und feministischen Soziologinnen verstetigten sich in den 1960er Jahren zu einem Netzwerk. Eine wichtige Rolle übernahm dabei der Presse- und Informationsdienst, der das geschlechterpolitische Engagement der Kommission forcierte. Das Bemühen des Informationsdienstes kann u.a. durch kommissionsinterne Prozesse erklärt werden. Die MitarbeiterInnen des Dienstes waren im Institutionengefüge zunächst isoliert und die Aufgaben der Unterabteilungen waren sehr großzügig formuliert. Daraus ergab sich die Chance, neue Themen ohne größeren Widerstand des Kommissionspräsidenten zu besetzen. Unter der Rubrik „Erwachsenenbildung“ gelang es den MitarbeiterInnen beispielsweise, frauenpolitische Themen in das Arbeitsprogramm aufzunehmen. Es war vor allem diese Abteilung 91 Vgl. Schreiben von Marguerite Thibert an Elizabeth Johnstone, Chef de l’Office de Coordination pour les questions de travail des Femmes et des Jeunes gens, vom 14.02.1960, S. 6, in: HAILO WN 2010. 92 Vgl. ebenda, S. 4–9.
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„Erwachsenenbildung“, die Veranstaltungen der Internationalen Frauenkommission der Europäischen Bewegung oder des European Centre for the International Council of Women organisieren sollte. Im Rahmen der Veranstaltungen konnten die MitarbeiterInnen des Informationsdienstes Kontakte zum feministischen Milieu ausbauen. Der Informationsdienst fungierte als Anlaufstelle für Feministinnen, vermittelte Kontakte und begleitete Veranstaltungen und Projekte. Fausta Deshormes, die ab 1977 für den Fraueninformationsdienst arbeitete, bestätigte, dass bereits ab 1962 eine enge Zusammenarbeit des Informationsdienstes mit der belgischen Gewerkschafterin und Feministin Emilienne Brunfaut und der Präsidentin der belgischen Sektion der Internationalen Frauenkommission Yvonne de Wergifosse entstand. Eliane Vogel-Polsky erinnerte sich, dass sie über die gemeinsame Bekanntschaft zu Jacqueline Nonon ca. 1962 Huguette Defosse kennen lernte. Defosse war zu jener Zeit Vorsitzende der Internationalen Vereinigung der Frauen- und Familienpresse und Herausgeberin der populären belgischen und französischen Frauenzeitschrift Femmes d’Aujourd’hui. Als sich die JournalistInnen der Frauen- und Familienpresse 1968 in Madrid und Barcelona versammelten, waren auch VertreterInnen des femokratischen Netzwerks (Sullerot, Nonon, Vogel-Polsky) zugegen. Die Konferenz bildete den Ausgangspunkt für Evelyn Sullerots Untersuchung im Auftrag der Generaldirektion Soziales (bzw. Nonon). Zur gleichen Zeit publizierten auflagenstarke europäische Frauenzeitschriften ähnliche Umfragen.93 Von Seiten des Presse- und Informationsdienstes wurde die Vernetzung mit zivilgesellschaftlichen AkteurInnen als Möglichkeit betrachtet, seine Sichtbarkeit zu steigern und Kompetenzen auszuweiten. Denn innerhalb der Brüsseler Bürokratie (bei anderen Generaldirektionen und Ministerrat) hatte das Amt keinen geschätzten Stand. Die institutionellen Besonderheiten öffneten somit ein Fenster für die Geschlechterpolitik. Zugleich scheint durch die interne Konkurrenz und Unwissenheit der Kommissions-Dienste erklärbar, warum einige Anregungen nicht umgesetzt werden konnten. Fausta Deshormes erinnerte sich, dass die frauenpolitischen Aktivitäten und konkret ihre Arbeit für den Fraueninformationsdienst von den Kollegen kaum wertgeschätzt wurden. Andererseits waren es aber gerade die Initiativen und die Beziehungen des Informationsamts zum femokratischen Netzwerk, aus denen die europäische Gleichstellungspolitik erwuchs.94 In den 1970er Jahren wandelte sich die Motivation und Strategie der Frauenverbände gegenüber der EWG bzw. der Kommission. Anstatt die EWG in erster Linie als Türöffner zur nationalen Politik zu betrachten, versuchten die Aktivistinnen in den 1970er Jahren verstärkt, frauenpolitischen Leerstellen aufzuzeigen und Einfluss auf die Gemeinschaftspolitik zu nehmen. Im September 1972 fand 93 Vgl. Dumoulin, Michel/Cailleau, Julie: Entretien avec Fausta Deshormes, 02.02.2004, Conshist.com, Histoire interne de la Commission européenne 1958–1973, S. 28–30, http://www.eui.eu/HAEU/OralHistory/pdf/INT726.pdf, letzter Zugriff, 20.12.2012 ; Gubin, Eliane: Eliane Vogel-Polsky. A woman of Conviction, Brüssel 2008, S. 44f, http://igvmiefh.belgium.be/nl/binaries/13%20-%20Vogel-Polsky_EN_tcm336–39800.pdf, letzter Zugriff 19.09.2013. 94 Vgl. Dumoulin/Cailleau: Entretien, Conshist.com, S. 25.
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mit Unterstützung des Presse- und Informationsdienstes der Kommission, vertreten durch Fausta Deshormes, ein weiterer Studientag der Internationalen Frauenkommission der Europäischen Bewegung statt. Bei diesem Treffen kamen Verfechterinnen der Gleichstellung aus dem europäischen und internationalen Kontext zusammen: u.a. Yvonne de Wergifosse, Fausta Deshormes, Jacqueline Nonon, Eliane Vogel-Polsky und Marguerite Thibert. Auf dem Studientag versammelten sich sowohl Delegierte der nationalen Frauenkommissionen der Europäischen Bewegung aus den EWG-Staaten als auch aus anderen europäischen Ländern.95 Auf dem Treffen wurden die jüngsten Bestrebungen der EWG-Kommission diskutiert, Frauen (vor allem Mütter) besser in das Arbeitsleben zu integrieren. Anders als in den 1960er Jahren verwiesen die Aktivistinnen nun nicht mehr nur auf Faktoren, die eine Arbeitsmarktintegration von Frauen erschwerten. Nun stand vielmehr zur Debatte, wie der Status von Frauen auf dem Arbeitsmarkt verbessert werden könnte. Die Delegierten wiesen darauf hin, dass die steigenden Frauenerwerbsquoten allein kein politischer Erfolg seien, weil Frauen weiterhin schlechtere Zugangschancen zu Arbeit und Ausbildung und eine geringere Bezahlung in Kauf nehmen mussten.96 Die Delegierten erweiterten die Forderung nach einer beruflichen Integration von Frauen um Aspekte, die im Zuge der zweiten Frauenbewegung thematisiert wurden, z.B. das Recht auf persönliche Entfaltung, die Gleichberechtigung und die Emanzipation. Die Delegierten übten auch dezidiert Kritik am Drei-PhasenModell, das bislang in den Debatten über die Frauenarbeit als Königsweg zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie präsentiert worden war. Auch daran zeigte sich der Einfluss der Debatten der Zweiten Frauenbewegung, die in der geschlechtlichen Arbeitsteilung die Ursache für die Diskriminierungserfahrungen ausmachte. Auf der Konferenz hieß es: „Die traditionelle Arbeitsteilung und die Konsequenzen, die sich bisher aus den Geschlechterrollen ergeben haben, bestehen weiter.“97 Die Delegierten kritisierten daher auch, dass Maßnahmen der Weiterbildung, Kinderbetreuung und Berufsinformation den Konflikt der Doppelbelastung nicht beseitigen würden, so lange die Einstellung zur weiblichen Berufstätigkeit unverändert bliebe. Sie forderten daher nachdrücklich einen Einstellungs- und Rollenwandel zum „Abbau der traditionellen Arbeitsteilung“98, um die Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Diese Forderung fand sich auch schon früher auf Seiten der Frauenverbände und der EWG-ExpertInnen, wurden 95 Vgl. Commission des Communautés Européennes, Direction Générale Presse et Information: Colloque de la Commission Féminine du Mouvement Européen, Bruxelles 25 et 26 septembre 1972, „L’intégration et la réintégration des femmes dans la vie économique au sein de la Communauté européenne élargie“, in: HAEU ME 1653, o.S. 96 Vgl. Mouvement Européen, Association Internationale, Rencontre Féminine Internationale du Mouvement Européen, Bruxelles 26 et 27 juin 1972, in: HAEU ME 1653, o.S. 97 Dömer, Vera: Problem der Wiedereingliederung der Frau in das Erwerbsleben, S. 25, in: HAEU ME 1653. 98 Ebenda, S. 25, allgemein S.12–25.
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aber vor allem als Mittel der Arbeitsmarktintegration präsentiert. Die wirtschaftliche Teilhabe wurde aber nun von den Aktivistinnen klarer als Zwischenschritt hin zur Emanzipation von Frauen konzipiert. Die Delegierten beharrten darauf, dass Frauen nicht als Sondergruppe stigmatisiert werden dürften. Vielmehr gehe es im Sinne der Chancengleichheit darum, allgemeine Arbeitsbedingungen und -strukturen so zu verändern, dass Männer wie Frauen davon profitierten. Die Argumente für die Chancengleichheit rekurrierten nun stärker auf universalistische Prinzipien und weniger auf die Differenz der Geschlechter. Die Aktivistinnen interpretierten die Gleichberechtigung von Mann und Frau als Menschenrecht und verwiesen auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte.99 Am Beispiel dieses Studientages zeigt sich, dass die Foren der Frauenverbände als Ort des Wissenstransfers fungierten. Manche Delegierte, wie die Norwegerin Vaernoe, waren beispielsweise in den Gremien der ILO aktiv gewesen. Vaernoe hatte im Kontext der Familienpflichten-Debatte ein partnerschaftliches Ehemodell verteidigt. Sie plädierte für eine Politik, die es Männern und Frauen frei stellte, die Aufteilung der Berufs- und Familienarbeit selbst zu bestimmen. Dieses Konzept wurde von der internationalen nun auf die europäische Ebene übertragen und Vaernoe forderte von den Mitgliedstaaten eine 6-monatige Elternzeit, die es beiden Partner ermöglichen sollte, sich um den Nachwuchs zu kümmern. Daran zeigt sich, dass die Aktivistinnen die Umverteilung der Arbeitsbelastung auf beide Geschlechter und die Fürsorgearbeit bezogen. Zugleich stellten sie die Ableitung sozialer Rechte aus der Erwerbsarbeit in Frage. Sie plädierten stattdessen für eine Anerkennung der Betreuungsarbeit und deren soziale Absicherung als Voraussetzung für die Geschlechtergleichheit. Diese Forderung fand auf der Ebene der EWG aber zunächst ebenso wenig Rückhalt wie in der ILO. Auf dem Treffen zeigte sich auch, dass das Thema Frauenarbeit durchaus eine hohe integrationspolitische Bedeutung hatte. Die norwegische Delegierte wies darauf hin, dass ein EWG-Beitritt von ihren Landsleuten als gleichstellungspolitischer Rückschritt bewertet wurde. In den Abstimmungen seien die Ergebnisse des Sullerot-Berichts als Argument gegen den Beitritt verwendet wurden.100 Die Delegierten forderten seitens der EG eine konzertierte Politik hinsichtlich der Chancengleichheit beim Zugang zur Beschäftigung, zu Weiterbildungen und dem beruflichen Aufstieg. Die Kommission wurde gebeten, ein Gemeinschaftsinstrument und eine Politik auf den Weg zu bringen, die es Frauen ermöglichen sollte, sich als „citoyen [sic!] à part entière dans tous les domaines de la collectivité“101 zu integrieren und einen gehaltvollen Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung und zum sozialen Fortschritt zu leisten. Auch wurden Lösungen erwünscht, die es Müttern und Vätern ermöglichten, ihre beruflichen und familiären Ver99 Vgl. Commission Féminine Internationale du Mouvement Européen, Projet de Conclusion, [1972], in: HAEU ME 1653, o.S.; Résume du Rapport de synthèse de Vogel-Polsky, Professeur à l’U.L.B., o.D., S. 63f., 67f., 73, in: HAEU ME 1653. 100 Vgl. Grethe Vaernoe, Editor of Press Service Norwegian National Council of Women, o.D., S. 57f., 60, in: HAEU ME 1653. 101 Communication de Mme Emilienne Brunfaut: Intégration et réintégration des femmes dans l’économie, Belgique, o.D., S. 40, in: HAEU ME 1653.
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pflichtungen in Einklang zu bringen. Zudem wurde die Einrichtung einer Frauenarbeits-Kommission auf europäischer Ebene verlangt, die einen Entwurf für ein gleichstellungspolitisches Instrument erarbeiten sollte.102 Ein anderer Aspekt, der von den Aktivistinnen angesprochen wurde, betraf die Freizügigkeit. Die Aktivistinnen wiesen 1972 nochmals auf Probleme hin, die schon Marguerite Thibert ein Jahrzehnt vorher thematisiert hatte, ohne dass die EWG seitdem Position bezogen hatte. Die Aktivistinnen forderten, dass die Freizügigkeitsbestimmungen auch Frauen als nachziehende Familienangehörige erfassen müssten. Frauen verloren durch den Familiennachzug ihre Erwerbstätigkeit, konnten aber nicht von den EWG-Anpassungshilfen profitieren und waren demnach ihren Vätern bzw. Ehemännern nicht gleichgestellt. Daher forderten die Feministinnen von der Kommission, auf die familiären und sozialen Probleme der Freizügigkeit zu reagieren.103 Das Engagement der Frauenverbände konnte von der Kommission gegenüber dem Ministerrat als Legitimation für die Weiterentwicklung der Gleichstellungspolitik herangezogen werden. Konkret fanden die Forderungen bei der Erarbeitung der Gleichbehandlungsrichtlinie in der Ad-Hoc-Gruppe Gehör. Aber nicht alle Punkte wurden von der Kommission in den Richtlinienentwurf übernommen.104 4. GLEICHBEHANDLUNG HINSICHTLICH DER BERUFSBILDUNG (RICHTLINIE 1976) Es zeigt sich, dass die Präsenz und die Forderungen des feministischen Netzwerks nicht unerheblich zur Entwicklung der Gleichbehandlungspolitik beitrugen. Als das Ad-hoc-Komitee Forderungen aus dem Netzwerk in sein Memorandum aufnahm, wurden Konzepte der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von der informellen Ebene in den Entscheidungsprozess überführt. Das Memorandum griff den Ansatz auf, Frauen in der Ganzheit ihrer sozialen Rollen zu beurteilen und ging damit über den reinen Bezug auf die Erwerbstätigkeit hinaus. In diesem Sinne wurde auch die Aufgabenverteilung innerhalb der Familie und Ansätze einer gleichberechtigten Partnerschaft thematisiert sowie Lösungen vorgeschlagen, die eine Wahlfreiheit über die Betreuungsformen von Kindern und pflegebedürftigen Angehörigen ermöglichen sollten. Beispielsweise sollten die Arbeitszeiten flexibilisiert, das Betreuungsangebot, die finanzielle Unterstützung und das Angebot an Teilzeitstellen für Frauen und Männer ausgedehnt werden. Der Ansatz der partnerschaftlichen Familie zeigte sich auch in der Kritik an den Systemen der sozialen Sicherheit, die ein Familienmodell förderten, das Männern als Familien102 Vgl. Commission Féminine Internationale du Mouvement Européen, Bruxelles 25–26 septembre 1972, Résolutions, o.S., in: HAEU ME 1653. 103 Vgl. Communication de la Délégation Française, o.D., S. 51, in: HAEU ME 1653. 104 Vgl. Résume du Rapport de synthèse de Vogel-Polsky, o.D., S. 63f., 67f., 73, in: HAEU ME 1653.
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vorstand spezifische Sozialleistungen zusprach. Daher empfahl die Ad-HocGruppe den Mitgliedstaaten „to eliminate that deriving from the orientation of their social security systems exclusively towards the man as the breadwinner and the head of the household.“105 Die Kommission übernahm in ihren Richtlinienvorschlag nur einen Bruchteil der Anregungen des Memorandums, behielt aber immerhin die Definition von „Gleichbehandlung“ bei: „Unter Gleichbehandlung im Sinne dieser Richtlinie ist zu verstehen: Beseitigung aller auf dem Geschlecht, dem Ehe- oder Familienstand beruhenden Benachteiligungen und Erlaß der erforderlichen Maßnahmen, um den Frauen gleiche Chancen hinsichtlich der Beschäftigung, der beruflichen Bildung und des beruflichen Aufstiegs sowie der Arbeitsbedingungen zu gewährleisten.“106
Den innovativen Part des Memorandums, der von positiven Aktionen und der Ausdehnung der Familienpolitik (Vereinbarkeit) handelte, übernahm die Kommission jedoch ebenso wenig wie den Hinweis auf die strukturellen Ursachen der Geschlechterungleichheit. Der Richtlinienentwurf basierte somit auf einem formalen Ansatz von Gleichbehandlung, der darauf abzielte, dass Individuen die Möglichkeit erhielten, sich in einen freien Markt einzubringen. Das Gleichheitskonzept blieb auf den Erwerbskontext beschränkt und wurde in Form des adultworker-models bekräftigt. Die Reduzierungen waren der Sorge geschuldet, der Ministerrat könnte weitergehende Vorschläge nicht akzeptieren. Der Reform- und Integrationswille der Mitgliedstaaten war inzwischen aufgrund der Rezession abgeflacht und die Ausdehnung der sozialpolitischen Kompetenzen der Gemeinschaft fand schon wieder weniger Fürsprecher. Die Kommission wollte durch einen zu „innovativen“ Vorstoß mit der Gleichbehandlungsrichtlinie nicht die Missgunst der Regierungen wecken und die Erweiterung ihrer Kompetenzen bzw. der institutionellen Profilierung gefährden. Daher verblieb die Kommission bei ihrer Strategie der kleinen Schritte und forderte nicht die Umsetzung aller im Memorandum gemachten Vorschläge in einer Richtlinie.107 Interessanterweise reichten die Überlegungen zur Gleichbehandlung auch in anderen EG-Organen schon weiter. Der Wirtschafts- und Sozialausschuss übte in seiner Stellungnahme zum Richtlinienvorschlag eine scharfe Kritik an der Kommission. Zwar erkannte er den innovativen Charakter des Vorschlags an, der darin bestand, Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt zu schaffen, kritisierte aber die Begrenztheit der Maßnahmen. Die Ausschussmitglieder vermissten die Bezugnahme auf das Recht auf Arbeit als Menschenrecht und schlugen eine Neufassung 105 Ebenda. S. 30. 106 Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur beruflichen Bildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in bezug auf die Arbeitsbedingungen, ABl 1975 C 124, S. 3. 107 Vgl. dazu COM (75) 36 final; Karama: Struktur und Wandel, Bonn 2001, S. 141ff.; Brunn: Die Europäische Einigung, Bonn 2006, S. 179ff., 195ff.; Judt: Die Geschichte Europas, Bonn 2006, S. 601f.
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des ersten Artikels der Richtlinie vor: „Diese Richtlinie wird erlassen in Übereinstimmung mit der Charta der Menschenrechte, die das Recht auf Arbeit festlegt […].“108 Der WSA hinterfragte auch die Einstellung der Kommission zur Gleichbehandlung: „Wenn die Kommission z.B. davon spricht, daß eine verheiratete Frau ‚vor allem’ Hausfrauen- und Mutterpflichten hat, wird damit die gleichberechtigte Wahlfreiheit der Frau in Frage gestellt, […].“109
Der Ausschuss schloss sich der Ad-Hoc-Gruppe unter Hinweis auf die Erklärung des Ministerrats zum Sozialen Aktionsprogramm von 1974 an: „Nach Auffassung des Ausschusses kann die Bemühung um Abschaffung von Diskriminierungen in Beschäftigung und Beruf nur dann endgültige Erfolge erzielen, wenn die herkömmliche Verteilung von Familienpflichten und die Auffassung über die Rolle des Mannes und der Frau sich ändern.“110
Der Ausschuss bedauerte zudem, dass die Kommission die strukturellen Ursachen der Diskriminierung von Frauen nicht umfassend thematisierte. In Bezug auf die Systeme der sozialen Sicherheit schlug der WSA eine weitere Maßnahme vor, indem er forderte, Erziehungszeiten als Versicherungszeiten anzuerkennen und somit „die persönliche Arbeitsleistung der Frau sowohl im Beruf als auch in der Familie angemessen zu honorieren.“111 Ein weiterer Punkt der Gleichbehandlung in sozialen Sicherungssystemen, den der WSA aufwarf, betraf die Lage der selbständigen Frauen, deren Brisanz die Kommission unterschätzt habe. So kritisierte der Ausschuss dann auch, dass viele gute Überlegungen des Memorandums, wie z.B. der verpflichtende Charakter aktiver Maßnahmen, nicht in den Richtlinienentwurf übernommen wurden. Der WSA erhoffte, dass in den folgenden Jahren jene übergangenen Punkte wieder aufgegriffen würden und schlug Aktionsfelder vor, die bereits von internationalen, staatlichen oder zivilgesellschaftlichen AkteurInnen angesprochen worden waren. Aus den Diskussionen und Papieren der ILO, der UN und des Europarats wurden die Forderung nach der Anerkennung des Rechts auf Arbeit, einem nichtdiskriminierenden Arbeitsmarkt und der Harmonisierung der Mutterschutzgesetze übernommen. Die Kritik zeigt, in welchem Maße sich innerhalb des WSA das 108 Stellungnahme zu der Mitteilung der Kommission an den Rat über die Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Arbeitsleben (Zugang zur Beschäftigung, zur beruflichen Bildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in bezug auf die Arbeitsbedingungen). (Stellungnahme des WSA), ABl 1975 C 286, S. 19. In der Sozialcharta des Europarates (1961) wurde ein Grundrecht auf Arbeit, gerechte, sichere und gesunde Arbeitsbedingungen, ein gerechtes Arbeitsentgelt, das Recht der Arbeitnehmerinnen auf Schutz, das Recht auf Berufsberatung und auf berufliche Ausbildung, soziale Sicherheit, das Recht auf Familienschutz, das Recht der Mütter und Kinder auf Schutz festgeschrieben. Vgl. dazu auch Hantrais: Social Policy, London u.a. 1995, S. 4ff. 109 Stellungnahme, ABl 1975 C 268, S. 18. 110 Ebenda, S. 10. 111 Ebenda, S. 17.
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Gespür für geschlechtsspezifische Ungleichheiten geändert hatte. Sicher kam dabei auch zum Tragen, dass sich die Politik der Gewerkschaften, die im WSA vertreten waren, unter dem Eindruck der Zweiten Frauenbewegung gewandelt hatte. Deutlich wird dieser Bezug an dem Hinweis des WSA, den Begriff des Familienvorstands zu überdenken oder Möglichkeiten der Familienplanung einzuräumen.112 Die Kritik der beratenden Gremien wurde von der Kommission ignoriert und der abgeschwächte Richtlinienentwurf konnte vom Ministerrat ohne größere Blockade angenommen werden. Auch unter den nationalen RegierungsvertreterInnen herrschte trotz „Eurosklerose“ der Grundkonsens, schnellstmöglich weitere Rechtsakte in Bezug auf die Gleichbehandlung zu ratifizieren. Eine ausschlaggebende Rolle schien dabei das Internationale Jahr der Frau der UN zu spielen. Die EG bzw. die Kommission kam um gleichstellungspolitisceh Maßnahmen nicht umhin, wenn sie sich auf internationaler Bühne als Garant einer gerechten und demokratischen Gesellschaftsordnung präsentieren wollte: „It is particularly important that 1975, being International Woman’s Year, should be a year of substantial progress within the Community.“113 Diesen günstigen Moment nutzten denn auch die FemokratInnen der Kommission aus, die zuvor nicht damit gerechnet hatten, dass die europäischen Institutionen Richtlinien unterstützen würden, die allein auf die Rechte von Frauen abzielten.114 Allerdings weckten bei der Verhandlung der Richtlinie im Rat jene Punkte den Widerstand der Minister, die eine Anpassung der nationalen Gesetzgebung und einen europäischen Eingriff in die nationalen Sozialpolitiken bzw. eine Ausdehnung der Gemeinschaftskompetenzen auf die Sozialpolitik im Allgemeinen bedeutet hätten. Die Pläne zur sozialen Sicherung wurden daher unter Hinweis auf die hohen Kosten aus der Richtlinie gestrichen. Die „Entschärfung“ der Richtlinie gelang vor allem auch durch die Formulierung von Ausnahmeregelungen. So konnten beispielsweise Schutzbestimmungen und der Zugang zu bestimmten Tätigkeiten vom Geschlecht abhängig gemacht werden, wenn die Staaten es für erwiesen betrachteten, dass das Geschlecht für bestimmte Berufe eine unabdingbare Voraussetzung darstellte. Der Aspekt der angemessenen Maßnahmen zur Förderung der Gleichbehandlung wurde vom Rat abgeschwächt, indem eine negative Formulierung gefunden wurde: „Diese Richtlinie steht nicht den Maßnahmen zur Förderung der Chancengleichheit für Männer und Frauen, insbesondere durch Beseitigung der tatsächlich bestehenden Ungleichheiten, […], entgegen.“115
112 Vgl. ebenda, S. 8–19. 113 COM (75) 36 final, S. 36. 114 Vgl. Mazur: Gender Bias, Pittsburg 1995, S. 125. Das internationale Jahr der Frau 1975 eröffnete den Femokratinnen in der EG einen diskursiven Raum, ihre Forderungen vorzutragen. 115 Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 09.02.1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur
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Eine unterschiedliche Behandlung der Geschlechter wurde also damit gerechtfertigt, dass dadurch Nachteile ausgeglichen werden konnten.116 Das Gleichbehandlungskonzept, wie es in der Richtlinie manifest wurde, blieb nach wie vor an den Erwerbszusammenhang gebunden und die innovativsten Vorschläge der Ad-Hoc-Gruppe und des WSA, vor allem zur Familienpolitik, waren dem Ministerrat erst gar nicht von der Kommission vorgelegt wurden. Trotz aller Verkürzungen der Grundlage des Richtlinienvorschlags wies die Gleichbehandlungsrichtlinie noch wesentliche Neuerungen auf. So wurde erstmals das Konzept der direkten und indirekten Diskriminierung unter Hinweis auf Benachteiligungen durch den Familienstand in einem Rechtsakt niedergelegt: „Der Grundsatz der Gleichbehandlung im Sinne der nachstehenden Bestimmungen beinhaltet, daß keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung auf Grund des Geschlechts – insbesondere unter Bezugnahme auf den Ehe- oder Familienstand – erfolgen darf.“117
Damit wurden in die Richtlinie Anregungen aus dem zweiten Defrenne-Urteil von 1976 eingebunden. Das EuGH hatte durch sein Urteil im April 1976 für Art. 119 das Vorabentscheidungsverfahren etabliert. Die Lohngleichheit konnte damit vor nationalen Gerichten als verbindliches, individuelles Recht bei Diskriminierung durch öffentliche und private Arbeitgeber eingeklagt werden.118 Die Richter hatten in ihrem Urteil auch den Unterschied zwischen direkter und indirekter Diskriminierung119 herausgestellt, die Gültigkeit des Art. 119 aber nur für erstere anerkannt. Deswegen empfahlen sie die Ausarbeitung nationaler oder gemeinschaftlicher Maßnahmen zur Bekämpfung der indirekten (mittelbaren) Diskriminierung, um der Zielsetzung des Art. 119 gerecht zu werden. Im zweiten Defrenne-Urteil brachten die Richter die Position zum Ausdruck, dass die europäische Integration neben wirtschaftlichen auch sozialen Zielsetzungen folge, und dass diese durch gemeinschaftliche Aktionen verwirklicht werden müssten. Damit bekräftige das EuGH die sozialpolitische Ausrichtung, die sich seit Mitte der 1960er Jahre abgezeichnet hatte.120
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Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in bezug auf die Arbeitsbedingungen, ABl 1976 L 39, S. 41. Vgl. ebenda, S. 40–42. Ebenda, S. 41. Vgl. Kodré, Petra: Gleichbehandlungspolitik zwischen europäischer und nationalstaatlicher Regelung: Verflechtungen im europäischen Mehrebenen- System. ZeS-Arbeitspapier Nr.16/ 1997, Bremen 1997, S.9ff.; Hoskyns: Integrating Gender, London/New York 1996, S. 99ff.; Wobbe/Biermann: Die Metamorphosen der Gleichheit, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 59, Nr. 4, 2007, S. 576. Indirekte oder mittelbare Diskriminierung liegt vor, wenn eine geschlechtsneutrale Regelung ein Geschlecht besonders benachteiligt, ohne dass dafür sachliche Kriterien ausschlaggebend sind, sondern vielmehr Geschlechterstereotypen zu Grunde liegen. Vgl. dazu Berghahn: Supranationaler Reformimpuls, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage. Bd. 33–34, 2002, S. 31. Vgl. Wobbe/Biermann: Die Metamorphosen der Gleichheit, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 59, Nr. 4, 2007, S. 576f.; Commission of the European Communities: Report of the Commission to the Council on the application as at 12.02.1978
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V. Geschlechtergleichheit im Kontext des Gemeinsamen Marktes
Die institutionelle Erweiterung der Gleichbehandlungspolitik Die Gleichbehandlungsrichtlinie war eine von drei Initiativen, die durch das Memorandum vorbereitet und 1975 auf den Weg gebracht wurden. Zusätzlich sollten die Einsatzmöglichkeiten des ESF weiterentwickelt und eine Informationskampagne angestrengt werden, um die Einstellung gegenüber der Frauenarbeit zu verändern und über die Rechte der Frau zu informieren. Damit reagierte die Kommission schließlich auf die Forderungen der Frauenverbände und der Frauenarbeitsberichte. Ab Mitte der 1970er Jahre wurde die Geschlechterpolitik durch den Ausbau kommissionsinterner Strukturen weiter institutionalisiert. Durch die Einrichtung eines Fraueninformationsdienstes im Jahr 1977 in der Generaldirektion X für Information konnte die Zusammenarbeit mit den Frauenverbänden und auch mit der autonomen Frauenbewegung verfestigt werden. Über den Fraueninformationsdienst erhielt die Kommission besseren Zugang zu feministischen Analysen, die als Grundlage für die Weiterentwicklung der europäischen Gleichbehandlungspolitik und als Legitimation gegenüber dem Ministerrat dienen konnten.121 Infolge der Gleichbehandlungsrichtlinie von 1976 wurde in der Generaldirektion Soziales das Referat für Chancengleichheit unter Vorsitz Nonons eingerichtet, um die Implementierung der Gemeinschaftspolitik zu überwachen. Obwohl das Referat in der untersten Hierarchie der Kommission angesiedelt war, avancierte es bald zum Ideengeber und Berater der Gemeinschaftsorgane im Bereich der Geschlechterpolitik, d.h. es stellte die „feministische Fachöffentlichkeit“122 innerhalb der Kommission. Das Referat war federführend bei der Erarbeitung der Aktionsprogramms- und Richtlinienvorschläge der Kommission und trat dabei allzu oft mit innovativen Ideen in Erscheinung, die weit über das Maß des Akzeptablen im Ministerrat hinausreichten. Die Vorstöße des Referats resultierten aus der engen Zusammenarbeit mit dem ExpertInnen-Netzwerk.123 Auch auf Seiten der autonomen Frauenbewegung entwickelten sich feste Strukturen der Zusammenarbeit mit der Kommission. Es entstanden weitere Organisationen, bis hin zum organisierten feministischen Lobbyismus (European on the principle of equal pay for men and women (Art. 119 of the EEC treaty and Council Directive 75/117/EEC of 10.02.1975), COM (78) 711 final, Brussels 16.01.1979, S. 128ff. 121 Vgl. Schmidt: Zum Wechselverhältnis zwischen europäischer Frauenpolitik und europäischen Frauenorganisationen, in: Lenz, Ilse/Mae, Michiko/Klose, Karin (Hg.): Frauenbewegungen weltweit. Aufbrüche – Kontinuitäten – Veränderungen, Opladen 2000, S. 199–231, hier S. 204; Stienstra: Women's Movements, Basingstoke 1994, S. 103; Wobbe/Biermann: Von Rom nach Amsterdam, Wiesbaden 2009, S. 111; Vgl. auch Entschließung mit der Stellungnahme des Europäischen Parlaments zu dem Vorschlag der Europäischen Kommission der Europäischen Gemeinschaften an den Rat für eine Richtlinie über die Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Arbeitsleben (Zugang zur Beschäftigung, zur beruflichen Bildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in bezug auf die Arbeitsbedingungen), ABl 1975 C 111, S. 4. 122 Fuhrmann: Geschlechterpolitik, Wiesbaden 2005, S. 234. 123 Vgl. ebenda. S. 226ff. und Schmidt: Zum Wechselverhältnis zwischen europäischer Frauenpolitik und europäischen Frauenorganisationen, in: Lenz/Mae/Klose (Hg.): Frauenbewegungen weltweit, Opladen 2000, S. 202.
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Network of Women), die sich dezidiert mit der EWG und den Auswirkungen ihrer Politik befassten. Die Verbände boten den Bedürfnissen von Frauen ein europäisches und nationales Forum und steigerten zugleich das Bewusstsein für den europäischen Beitrag zur Gleichstellung: „Its great achievement was to represent the EC as an exciting political arena.“124 5. GLEICHBEHANDLUNG IN SYSTEMEN DER SOZIALEN SICHERHEIT (RICHTLINIE 1979) Nachdem die Gleichbehandlungsrichtlinie 1976 angenommen wurde, bemühte sich die Kommission wie angekündigt, die ausstehenden Aspekte des Richtlinienvorschlags in weiteren Rechtsakten umzusetzen. Das nächste Projekt galt der Gleichbehandlung in den Systemen der sozialen Sicherheit, denn inzwischen wurde nicht nur in den Kommissionsberichten auf die Ungleichbehandlung in den Sozialversicherungssystemen verwiesen. Das dritte Urteil im Fall Defrenne vs. Sabena 1978 hatte erneut die Vielfältigkeit direkter und indirekter Diskriminierung verdeutlicht und gezeigt, dass die Definition der Entgeltgleichheit in Art. 119 EWGV nicht alle Gratifikationsformen erfasste. Und auch auf nationaler Ebene kam einiges in Bewegung, als beispielsweise das deutsche Bundesverfassungsgericht 1975 die Ungleichheiten der Pensionsansprüche kritisierte und die Regierung zu Nachbesserungen ermahnte. Das Gericht verwies darauf, dass soziale Leistungen – und vor allem Pensionsansprüche – an die Erwerbsarbeit gebunden waren und die Ansprüche nicht erwerbstätiger Personen vom berufstätigen Partner abgeleitet wurden. Diese Praxis wurde zunehmend als anachronistisch und als Persistenz eines Abhängigkeitsverhältnisses wahrgenommen. Eine Veränderung der Sicherungssysteme bzw. die Ableitung sozialer Rechte aus unbezahlten Tätigkeiten (Kindererziehung, Hausarbeit, Pflege von Angehörigen) wäre einem Bruch mit dem Ernährermodell und eine Neubewertung von Arbeit gleichgekommen. Die nationalen Regierungen verweigerten sich im Ministerrat etwaigen Änderungen unter Hinweis auf die zu erwartenden finanziellen Belastungen.125 124 Vgl. Hoskyns: Integrating Gender, London/New York 1996, S. 130. Im Jahr 1971 wurde in Brüssel die Women’s Organization for Equality (WOE) als Kooperation französischer, belgischer und britischer Frauengruppen gegründet. 1978 bildete sich dann eine Untergruppe, die Women’s European Action Group (WEAG). Auf Initiative der WEAG entstand 1980 das Centre for Research on European Women (CREW), das Feministinnen in den Nationalstaaten über europäische und nationale Gleichstellungspolitik informieren und gemeinsame Kampagnen der Frauengruppen auf europäischer Ebene initiieren wollte. In den 1980er Jahren evaluierten feministische Netzwerke die Umsetzung und Auswirkungen der europäischen Gleichstellungspolitik in den Nationalstaaten und verfassten Stellungnahmen für die zukünftige Kommissionsarbeit. Am Ende dieser Entwicklung entstand die Europäische Frauenlobby (1990). Vgl. Schmidt: Zum Wechselverhältnis zwischen europäischer Frauenpolitik und europäischen Frauenorganisationen, in: Lenz/Mae/Klose (Hg.): Frauenbewegungen weltweit, Opladen 2000, S. 204; Fuhrmann: Geschlechterpolitik, Wiesbaden 2005, S. 152. 125 Vgl. Urteil des Gerichtshofes vom 15. Juni 1978. Gabrielle Defrenne gegen Société anonyme belge de navigation aérienne Sabena. Ersuchen um Vorabentscheidung: Cour de cassation -
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Der neue Richtlinienvorschlag zur Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit forderte die nationalen Regierungen dazu auf, alle geschlechtsspezifischen Ungleichheiten in den gesetzlichen und betrieblichen Systemen zur Absicherung von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Erwerbsunfähigkeit oder Verrentung zu beseitigen. Die Höhe und Form der Leistungen sowie die Voraussetzungen, Beitragsbedingungen und die Dauer sollten geschlechtsunabhängig angelegt werden. Jene Bereiche der sozialen Sicherung, die elementar für die Situation vieler Frauen waren – wie das Rentenzugangsalter und die Leistungen an Hinterbliebene – wurden aber immer noch aus der Richtlinie ausgeklammert. Der neue Vorschlag blieb also ebenfalls an die Erwerbsarbeit gebunden.126 Der Richtlinienvorschlag zur Gleichbehandlung in Systemen der sozialen Sicherheit versäumte also ebenso wie die Richtlinie von 1976, die strukturellen Ursachen für die Ungleichbehandlung zu beheben. Diese Unterlassung ist möglicherweise auf den Aushandlungsprozess zurückzuführen. Anders als bei den vorhergehenden Richtlinien waren diesmal keine ExpertInnen der Frauenarbeit beteiligt. Stattdessen bestimmten in der Kommission SpezialistInnen der Sozialpolitik, die bisher mit der Thematik der Freizügigkeit befasst waren, den Entstehungsprozess der Richtlinie. Immerhin bekundeten nun aber als Ausgleich zu den fehlenden ExpertInnen-Stimmen Aktivistinnen der autonomen Frauenbewegung ihre Position zum Richtlinienentwurf, da sich die Thematik der Abhängigkeit mit ihrer Agenda überschnitt. Aus der autonomen Frauenbewegung kam vor allem die Forderung nach der Individualisierung der Ansprüche, um das verbreitete Alleinernährermodell aufzubrechen, was aber wegen der Kostspieligkeit von den KommissionsbeamtInnen zurückgewiesen wurde.127 Der Wirtschafts- und Sozialausschuss unterstrich ebenfalls, dass eine Gleichbehandlung nur erreicht werden würde, wenn die Regelungen zum Mutterschutz und zur Anrechnung von Versicherungsjahren überarbeitet und harmonisiert werden würden. Der Ausschuss wies erneut darauf hin, dass durch die Doppelbelastung von Frauen Ungleichheiten entstehen und dass die Sozialsysteme diese noch förderten. Der WSA forderte erneut eine Anerkennung der unbezahlten Arbeit und Belgien. Gleichheit zwischen männlichen und weiblichen Arbeitnehmern in bezug auf die Beschäftigungsbedingungen. Rechtssache 149/77, Sammlung der Rechtsprechung 1978, Seite 01365, http://eur-lex.europa.eu/Notice.do?val=67128:cs&lang=de&list=67128:cs,67060: cs, 53615:cs,53568:cs,23864:cs,23833:cs,&pos=1&page=1&nbl=6&pgs=10&hwords=defrenne~ &checktexte=checkbox&visu=#texte, letzter Zugriff, 20.11.2012; Vgl. auch Hoskyns: Integrating Gender, London/New York 1996, S. 107ff. 126 Vgl. Lewis/Ostner: Geschlechterpolitik, in: Leibfried/Pierson (Hg.): Standort Europa, Frankfurt a.M. 1998, S. 209f.; Vorschlag für eine Richtlinie zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit, ABl 1977 C 34, S. 3–4. 127 Vgl. Entschließung mit der Stellungnahme des Europäischen Parlaments zu dem Vorschlag der Kommission der Europäischen Gemeinschaften an den Rat für eine Richtlinie zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit, ABl 1977 C 299, S. 14; Hoskyns: Integrating Gender, London/New York 1996, S. 109f.
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prognostizierte gute Chancen zur Realisierung einer entsprechenden Gemeinschaftspolitik: „Die Kommission [hätte] hier die Möglichkeit, auf einem Gebiet rechtssetzend tätig zu werden, auf dem noch nicht viele nationale Regelungen vorhanden sind, so daß eine nachfolgende Harmonisierung unnötig würde.“128
Weder die Einwände der autonomen Frauenbewegung noch des WSA oder des Parlaments konnten aber eine Erweiterung der Richtlinie bewirken, so dass die entscheidenden „Mängel“ der Sicherungssysteme erhalten blieben und das Gleichbehandlungskonzept nur unwesentlich erweitert wurde. Immerhin konnte mit der Richtlinie die Definition von Entgelt noch einmal im Sinne der ILO-Konvention Nr. 100 ausgedehnt werden, da nun auch zusätzliche direkte und indirekte Vergütungen als Entgelt galten.129 Wenngleich die 1970er Jahre in der Integrationsgeschichte oftmals als Phase der Stagnation beschrieben werden, so wurden im Bereich der Gleichstellungspolitik wesentliche Fortschritte gemacht. Neben den Richtlinien und Urteilen des EuGH sind vor allem die institutionelle Entwicklung und die Stärkung des supranationalen Prinzips hervorzuheben. Die Kommission konnte ihre Kooperation mit Frauenverbänden, autonomen Frauengruppen und mit den Verwaltungen der Mitgliedstaaten ausbauen. 1981 wurde im Referat für Chancengleichheit im Rahmen des Ersten Aktionsprogrammes für Chancengleichheit ein Beratender Ausschuss für Chancengleichheit als zweimal jährlich tagender ExpertInnenausschuss eingerichtet, der die europäischen Maßnahmen mit den nationalen Verwaltungen und Ministerien koordinieren sollte. Die Mitgliedstaaten entsandten vorzugsweise MitarbeiterInnen aus staatlichen oder regierungsnahen Einrichtungen. Auch zu den Unter- und ExpertInnenausschüssen des Ministerrats knüpften die Gemeinschaftsinstitutionen engere Bande. Somit verschmolz die supranationale und intergouvernementale bzw. nationale Ebene zu einem auf die Gemeinschaftsinteressen ausgerichteten Politikverständnis.130
128 Stellungnahme zu dem Vorschlag für eine Richtlinie zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit. (Stellungnahme WSA), ABl 1977 C 180, S. 38. Die Stellungnahme des Parlamentes stimmt in diesem Punkt mit der des WSA überein. Vgl. Stellungnahme, ABl 1977 C 299, S. 14. 129 Vgl. Lewis/Ostner: Gender and the Evolution, Bremen 1994, S. 31f. und Hoskyns: Integrating Gender, London/New York 1996, S. 90ff. 130 Das Entscheidungsgefüge wurde auch stark durch die Einführung der Direktwahlen zum Europäischen Parlament 1979 verändert. Dies drückte sich vor allem im steigenden Selbstbewusstsein und Tatendrang der Abgeordneten aus; auch in Hinblick auf die Gleichstellungspolitik. Vgl. zur Debatte um die Direktwahl Brunn: Die Europäische Einigung, Bonn 2006, S. 207ff. Vgl. zur Stellung der Geschlechterpolitik im Parlament Henig, Ruth/Henig, Simon: Women and political power. Europe since 1945, London 2001, S. 87ff.; Fuhrmann: Geschlechterpolitik, Wiesbaden 2005, S. 157–161.
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6. ZUR FUNKTION VON EXPERTINNENWISSEN IN DER ENTWICKLUNG DER GLEICHBEHANDLUNGSPOLITIK Die Thematisierung des Geschlechts als Kategorie sozialer Ungleichheit muss vor dem spezifischen institutionellen Kontext betrachtet werden. Das institutionelle Gefüge bzw. die organisatorischen Eigenheiten bildeten den Rahmen, in dem soziale Wirklichkeiten als Probleme gedeutet und selektiv in den Entscheidungsprozess überführt wurden. In der ILO existierten in den 1960er Jahren anders als in der EWG eine Fachabteilung und diverse ExpertInnengruppen, die sowohl für andere Gremien innerhalb der Organisation als auch für Frauenorganisationen als Ansprechpartner zum Thema Frauenarbeit zur Verfügung standen. Es sei an dieser Stelle nochmals auf die Erklärung von Philadelphia verwiesen, in der die Chancengleichheit als Ziel der ILO definiert wurde. Die FrauenarbeitsexpertInnen der ILO konnten sich auf diesen Ansatz beziehen und Benachteiligungen aufgrund des Geschlechts thematisieren. Dem Selbstverständnis der ILO folgend, sollten Arbeitnehmer beiderlei Geschlechts von der Normsetzung der Organisation profitieren. Institutionell wurde dieser Anspruch 1959 umgesetzt, als die Abteilung für Frauen- und Jugendarbeit als Koordinationsstelle reorganisiert wurde. Damit waren die Voraussetzungen gegeben, z.B. in bildungspolitischen Debatten geschlechtsspezifische Ungleichheiten mitzudenken. Auch die EWG wurde als Antidiskriminierungs- und Fortschrittsprojekt konzipiert. Der Aufbau eines Gemeinsamen Marktes setzte gleiche Wettbewerbsbedingungen voraus, so dass auch Arbeitsbedingungen, die Sozialversicherungssysteme oder die Berufsqualifikation in das Interesse der EWG-Institutionen rückten. Geschlechtsspezifische Ungleichheiten konnten zunächst nur als Wettbewerbsfaktoren erfasst werden (Lohngleichheit, Mutterschutz). In anderen Kontexten blieb das Gleichheitsgebot auf männliche Arbeitnehmer beschränkt, wie sich am Beispiel der Bildungspolitik zeigte. Da die berufliche Bildung und die Berufsberatung im Kontext der Freizügigkeit auf die EWG-Agenda gerieten, sollte eine Angleichung der Bildungsstandards in erster Linie die Voraussetzung für die geographische Mobilität der ArbeitnehmerInnen schaffen. In der Freizügigkeitspolitik wurden allerdings männliche Arbeitnehmer und Familienväter als Idealtyp des Arbeitsmigranten konstruiert (vgl. Kap. VI). Das Programm der Chancengleichheit, das in der supranationalen Bildungsdebatte entwickelt wurde, blieb daher auf den männlichen Normalarbeitnehmer beschränkt.131 Dabei lagen der Kommission bereits in den 1960er Jahren Hinweise vor, dass Frauen und Männer keinen gleichen Zugang zu beruflicher Bildung hatten und Frauen folglich nicht in gleichem Maße vom sozialen Aufstieg und Fortschritt profitieren konnten. Diese Aspekte 131 Chancengleichheit wurde in den 1970er Jahren in Bildungsstandards als Ziel formuliert, ohne dass die Geschlechtergleichheit explizit erwähnt wurde. Vgl. Entschließung der im Rat vereinigten Minister für Bildungswesen vom 6.06.1974 über die Zusammenarbeit im Bereich des Bildungswesens, in ABl 1974 C 98, S. 2; Entschließung des Rates und der im Rat vereinigten Minister für Bildungswesen vom 9.02.1976 über ein Aktionsprogramm im Bildungsbereich, ABl 1976 C 38, S. 1–5.
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wurden jedoch nicht in den Aushandlungsprozess der gemeinschaftlichen Bildungsstandards übernommen, weil sie in anderen Kontexten eingebracht worden waren. Auch fehlte in der EWG zu diesem Zeitpunkt eine Fachabteilung, die ähnlich wie in der ILO gleichstellungspolitische Konzepte zwischen verschiedenen Direktionen erfolgreich vermitteln konnte. Das Bewusstsein für geschlechtsbasierte Diskriminierung in der Berufsbildung wurde in den 1970er Jahren über den neuen Pfad der Gleichbehandlungspolitik verankert. Erst dann wurde auch in der Bildungspolitik die Situation von Mädchen und Frauen berücksichtigt.132 Eine wichtige Etappe in der Erweiterung des Antidiskriminierungsprojekts markierte die wirtschaftspolitische Wende der Kommission, die sich ab ca. 1963 mit der Steuerung ökonomischer und sozialer Entwicklungen befasste. In Vorbereitung des ersten mittelfristigen Wirtschaftsprogramms sammelten die Kommission bzw. externe ExpertInnen zahlreiche Informationen über Arbeitnehmerinnen. Die damit verbundene Wissensproduktion schien zweierlei Aufgaben zu erfüllen: zum einen benötigte die Kommission vergleichbare Daten nach einheitlichen Kriterien aus den Mitgliedstaaten als Basis für ihre Entscheidungen. Daher wurde in der Vorbereitung des mittelfristigen Wirtschaftsprogramms auch nicht nur auf Studien der Mitgliedstaaten, der ILO, OECD oder UN zurückgegriffen. Gleichwohl kam der Wissensproduktion auch eine symbolische Bedeutung zu. Die Kommission nutzte die Untersuchungsprogramme und den Kontakt zu ExpertInnen, um ihre Politikpräferenzen zu legitimieren. Es muss bedacht werden, dass die Kommission keine demokratisch legitimierte Institution war und ist. Als technokratische Institution wurde sie vor allem an ihren Debatten („talks“) und Entscheidungen („decisions“) gemessen, weniger an der Umsetzung und den Auswirkungen der Entscheidungen. Zudem agierte die Kommission in einem instabilen organisatorischen Feld. Ihre Kompetenzen und ihr Status boten in den 1960er Jahren mehrfach Anlass für Auseinandersetzungen. Durch die Ausdehnung des Forschungsprogramms und den Bezug auf das ExpertInnenwissen konnte die Kommission ihre Entscheidungen rational begründen und sich als Akteur mit vergleichender Perspektive präsentieren. Die umfassenden Studien und die Beiträge externer ExpertInnen leisteten somit einen wichtigen Beitrag in der Identifikation von Politikfeldern, die einer gemeinschaftlichen Koordinierung bedurften. Zugleich legitimierten sie z.B. gegenüber dem Ministerrat die Initiativen der Kommission. Die Kommission gewann für ihre Initiativen Zeit, Plausibilität und Legitimation:
132 Vgl. Collins: The European Communities, London 1975, Bd. 2, S. 44f.; Commission des Communautés Européennes, Direction General des Affaires Sociales, Direction de la Maind’œuvre: Conclusions que le Conseil a tirées de sa discussion sur les problèmes de la formation professionnelle des adultes comme moyen d’une politique active de l’emploi, 132eme session du Conseil tenue le 26 novembre 1970, in: HAILO IGO 051–8–1000, o.S.; Commission des Communautés Européennes, Bruxelles 29.04.1971, in: HAILO IGO 051–8–1000, o.S.
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V. Geschlechtergleichheit im Kontext des Gemeinsamen Marktes „Organizations facing opposition to their policy preferences from other agencies or organised interests may find it expedient to draw on additional resources to lend credibility to their views.“133
Dieser Modus wurde nicht erst von IntegrationshistorikerInnen und PolitikwissenschaftlerInnen erkannt. Es sei daran erinnert, dass einige Regierungen Mitte der 1960er Jahre massiv gegen die Ausdehnung des Untersuchungsprogramms durch die Kommission protestierten, weil sie darin einen ersten Schritt zur Kompetenzerweiterung sahen. Die symbolische Nutzung von ExpertInnenwissen verschaffte aber nicht nur der Kommission gegenüber intergouvernementalen Gremien Legitimität. Auch MitarbeiterInnen untergeordneter Abteilungen innerhalb der Kommission griffen darauf zurück, um ihre Initiativen voranzubringen (Bsp. Presseund Informationsdienst).134 Der Hinweis auf die symbolische Funktion der ersten Frauenarbeitsberichte bietet eine weitere Erklärung dafür, dass die Ergebnisse kaum in Debatten der Kommission überführt wurden. Erst im Rahmen des mittelfristigen Wirtschaftsprogramms wurden einige Erkenntnisse der Berichte auf die EWG-Agenda übernommen, so dass eine gewisse Pfadabhängigkeit entstand. Die Gemeinschaft hatte sich damit zur dauerhaften Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt, u.a. durch die Verminderung der Doppelbelastung, bekannt. Auf diese Entscheidung konnte sich die Kommission in weiteren Initiativen berufen.135 Als die Kommission ab Mitte der 1960er Jahre eine Position zum Thema Frauenarbeit entwickelte, kam den Untersuchungen und dem ExpertInnenwissen nicht mehr nur eine symbolische, sondern eine instrumentelle Funktion zu. Deshalb wurden die Ergebnisse des Sullerotberichts in den 1970er Jahren selektiv als Grundlage der Gleichbehandlungspolitik bzw. der Gleichbehandlungsrichtlinien herangezogen. Die Offenheit des Integrationsprojekts spielte beim Agendasetting eine wichtige Rolle. Die Verwaltungspraxis, die politischen Präferenzen und der Entscheidungsprozess waren zwar durch den Gründungsvertrag gerahmt, aber nicht statisch. Diese Offenheit spiegelte sich auch in der Einbeziehung von InteressenvertreterInnen und ExpertInnen sowie im Aufbau und der Besetzung von Abteilungen und Gremien wider. Offenheit bestand auch hinsichtlich der Ausdeutung der sozialen Dimension des Integrationsprojekts. Zwischen 1969 und 1974 profi133 Boswell: The European Commission’s Use of Research, S. 5, http://aei.pitt.edu/7709/1/boswell-c-09c.pdf. 134 Boswell zeigt am Beispiel der Migrationspolitik, dass die wissenschaftlichen Auftragsarbeiten anfangs dazu dienten, der Kommission Legitimität zu verschaffen. Vgl. Boswell: The European Commission’s Use of Research, S. 12f., http://aei.pitt.edu/7709/1/boswell-c09c.pdf.; Cram: Policy-making in the European Union, London 1997, S. 38. 135 Vgl. zur Arbeitsweise der Kommission und der Konsultation von RegierungsexpertInnen, WissenschaftlerInnen und Nichtregierungsorganisationen Cassese, Sabino/Cananea, Giacinto della: The Commission of the European Economic Community: The Administrative Ramifications of its Political Development, in: Heyen, Erk Volkmar (Hg.): Die Anfänge der Verwaltung der Europäischen Gemeinschaft, Jahrbuch für Europäische Verwaltungsgeschichte, Bd. 4, 1992, S. 75–86.
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tierte die Kommission von einem besonderen politischen Klima, das es ihr ermöglichte, sozialpolitische Präferenzen umzusetzen und z.B. Fachgremien einzurichten. Angesichts der sozialen Herausforderungen und der Belastungen des Wohlfahrtsstaates sowie der Regierungswechsel in Frankreich und der BRD wurde die Notwendigkeit einer gemeinschaftlichen sozialpolitischen Koordinierung auf der Seite der Regierungen erkannt. Diese Wende ist aber nicht allein durch die Entscheidungen der Regierungschefs bzw. durch nationale Entwicklungen zu erklären. Es erscheint vielmehr so, dass die rege Wissensproduktion durch die Kommission und in ihrem Umfeld in einem günstigen Moment eine Ausdehnung der gemeinschaftlichen Sozialpolitik rechtfertigen konnte. Ausgehend vom Haager und Pariser Gipfel setzte die Kommission (GD V) im Ersten Sozialen Aktionsprogramm auf die Arbeitsmarktintegration benachteiligter Gruppen. Dadurch konnte sie weitere Maßnahmen legitimieren, die auf eine wirtschaftliche Partizipation von Frauen hinwirken sollten.136 ZWISCHENFAZIT Der bisherige Forschungsstand legte nahe, dass Benachteiligungen aufgrund des Geschlechts in der EG – abgesehen von der Lohnfrage – erst in Vorbereitung auf die Gleichbehandlungsrichtlinie Mitte der 1970er Jahre thematisiert wurden. Die Analyse der Debatten über die Frauenarbeit (Kap. IV) und die Berufsbildungspolitik (Kap. V) zeichnen jedoch ein anderes Bild. Der Kommission lagen bereits seit den frühen 1960er Jahren Informationen vor, die auf die verschiedensten Faktoren hinwiesen, die eine gleichberechtigte Teilhabe am Erwerbsleben behinderten. Das Geschlecht, der Familienstand, das Alter und die soziale Herkunft wurden als solche Faktoren benannt und in ihrer Wechselwirkung beschrieben. Die ExpertInnen schärften den Blick für die strukturellen und geschlechterkulturellen Ursachen der Benachteiligung. Die Agenda bzw. der Problemdiskurs wurde sowohl auf internationaler als auch auf europäischer Ebene entscheidend von ExpertInnen der Frauenarbeit und von Aktivistinnen der Frauenverbände mitbestimmt. Sowohl auf der Ebene der ILO als auch auf der Ebene der EWG war der Bildungsdiskurs eng mit den beschäftigungspolitischen Programmen verbunden. Die ExpertInnen erklärten die Chancengleichheit und Gleichbehandlung in der Bildung zur Voraussetzung für die Steigerung des Beschäftigungsniveaus und des Wirtschaftswachstums. Zugleich wurde damit das Gleichheits- und Fortschrittsversprechen auf Frauen übertragen. Sowohl in den Debatten im Rahmen der ILO als auch der EWG wurde
136 Die Einrichtung von Expertengremien half, Debatten zu normalisieren bzw. auch bei Mitgliedstaaten Verständnis für die Notwendigkeit gemeinschaftlicher Initiativen zu schaffen. Vgl. Boswell: The European Commission’s Use of Research, S. 22, http://aei.pitt.edu/ 7709/1/boswell-c-09c.pdf; Vgl. auch Hoskyns: Integrating Gender, London/New York 1996, S. 78–83.
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bekräftigt, dass Frauen nur vom sozialen Fortschritt profitieren könnten, wenn sie den gleichen Zugang zur beruflichen Bildung haben wie Männer. Bereits in den frühen 1960er Jahren forderten VertreterInnen der Frauenverbände und international anerkannte Aktivistinnen wie Thibert die Kommisson auf, Frauen in das Fortschritts- und Gleichheitsprojekt der EWG einzubeziehen. Sie wiesen im Besonderen auf die Probleme von Frauen im Migrationsprozess und die Reproduktion sozialrechtlicher Abhängigkeiten durch das europäische Recht hin. Auch die AutorInnen der Frauenarbeitsberichte formulierten die Geschlechtergleichheit als ein Konzept, das zum wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt beitragen sollte. In der gemeinschaftlichen Bildungspolitik wurde diese Forderung aus den bereits genannten institutionellen Gründen nicht berücksichtigt. Die Kommission und der Ministerrat bezogen das Gleichheits- und Fortschrittsversprechen zunächst nicht auf Frauen, da die Bildungspolitik konzeptionell auf die Freizügigkeitspolitik ausgerichtet war. Die Argumentation der ExpertInnen gewann jedoch in der Vorbereitung der Gleichbehandlungsrichtlinie Gewicht und wurde vom Ad-Hoc-Komitee übernommen. An den ExpertInnendiskursen lässt sich aber nicht nur die Institutionalisierung von Problemdiskursen nachzeichnen, sondern auch der Wandel des Gleichheitskonzepts. In den Bildungsdebatten zeigte sich, dass die ExpertInnen der ILO und der EWG Gleichheit nicht mehr nur als Rechtsgleichheit sondern als Chancengleichheit verstanden. Sie wiesen darauf hin, dass Benachteiligungen am Arbeitsmarkt durch Rollenbilder reproduziert wurden und Chancengleichheit nur durch einen Einstellungswandel, sowie durch den Umbau der Sozialsysteme verwirklicht werden könne. Auch in anderen Debatten, z.B. über das Rentenalter, stellten die ILO-ExpertInnen das Geschlecht als Kriterium für soziale Ansprüche zunehmend in Frage. Zudem kritisierten sie das Modell des männlichen Normalarbeitnehmers bzw. androzentrische Arbeitsstrukturen. Die ExpertInnen der EWG und der ILO entwickelten ein Konzept von Geschlechtergleichheit, das dem Modell von Nancy Fraser sehr nahe kommt. In Frasers Worten gesprochen, zielten die ExpertInnen auf eine Umverteilung der Anerkennung und der Entlohnung sowie auf die Wertschätzung weiblicher Arbeitsleistung (Kampf gegen Marginalisierung). Zugleich konnte damit der Prekarisierung bzw. Ausbeutung von Arbeitnehmerinnen entgegengewirkt werden. Die ExpertInnendiskurse zeigten zudem auch veränderte Begründungsmuster für die Geschlechtergleichheit. In der Auswertung der ILO-Diskussion wurde deutlich, dass das Gleichheitskonzept in den 1960er Jahren weniger differenz- und dafür stärker egalitätsfeministisch begründet wurde. Die FrauenarbeitsexpertInnen verwiesen auf die Gleichwertigkeit männlicher und weiblicher Arbeitsleistung und forderten geschlechtsneutrale Bewertungskriterien. Auch im ExpertInnendiskurs auf der Ebene der EWG lässt sich eine Verschiebung in den Begrüdungsmustern konstatieren, die allerdings erst zur Wende von den 1960er zu den 1970er Jahren sichtbar wurde. In den 1960er Jahren forderten die ExpertInnen und AktivistInnen eine Gleichstellung am Arbeitsmarkt unter Hinweis auf die Geschlechterdifferenz und einen spezifisch-weiblichen Beitrag. In Sullerots Bericht und auf dem Informationstag der Internationalen Frau-
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enkommission 1972 wurde hingegen gefordert, Frauen als gleichwertig anzuerkennen und nicht als Sondergruppe am Arbeitsmarkt zu marginalisieren. Die egalitätsfeministische Argumentation wurde durch den Hinweis auf die Menschenrechte und den Status von Frauen als Bürgerinnen untermauert. Die Verschiebungen zwischen differenz- und egalitätsfeministischen Begründungen verliefen allerdings nicht linear. Vielmehr zeichnete sich ab, dass die AkteurInnen gleichzeitig und kontextabhängig darauf zurückgreifen konnten. Veränderungen des Gleichheitskonzepts zeigten sich auch daran, dass die Erwerbsintegration von Frauen nicht mehr als oberste Priorität akzeptiert wurde. Damit wandten sich die ExpertInnen und AktivistInnen zugleich von einem Konzept ab, das versuchte, Gleichheit durch den Abbau der Doppelbelastung herbeizuführen. Stattdessen forderten sie die Verantwortung beider Ehepartner für die Familien- und Hausarbeit ein und verwiesen auf die Emanzipation und Unabhängigkeit als Ziel. Auch wenn das Konzept von Geschlechtergleichheit damit auf den privaten Bereich erweitert wurde, blieben wichtige Aspekte wie die sexuelle Selbstbestimmung und Familienplanung weiterhin aus den EWG-Debatten ausgespart, obwohl sie Ende der 1960er Jahre von der Zweiten Frauenbewegung ins öffentliche Bewusstsein getragen wurden.137 Es wurde bereits darauf eingegangen, welche Bedeutung der Wissensproduktion für die Institutionalisierung von Problemdiskursen und die Entscheidungsfindung zukommen konnte. Aber selbst wenn die Gremien im politischen Prozess auf die Empfehlungen der ExpertInnen rekurrierten, war es keineswegs üblich, dass sie auch die Gleichheitskonzepte und die Begründungen übernahmen. Wie schon im Falle der Familienpflichtenerklärung gezeigt wurde, gelang es den ILOExpertInnen nur allmählich, ihr Gleichheitskonzept in den politischen Entscheidungsprozess zu übertragen. Zwar bestand zwischen den ExpertInnen und den Entscheidungsträgern ein Konsens über das was (Erwerbsintegration von Frauen); über die Maßnahmen zum Abbau der geschlechtsspezifischen Diskriminierung – das wie – bestand jedoch Uneinigkeit. Vor allem der Einstellungswandel, auf den die ExpertInnen beharrten und der eine Abkehr vom Ernährermodell erforderte, wurde in den internationalen Standards nur zögerlich unterstützt. Dieses Zögern zeigte sich auch im Bereich der Berufsbildung. Auch im Fall der EWG wurden die Argumente der ExpertInnen durch das femokratische Netzwerk in den politischen Prozess überführt, ohne dass das Gleichheitskonzept unmittelbar von den Entscheidungsträgern übernommen wurde. Die Ad-Hoc-Gruppe zielte in ihrem Menorandum auf eine Umverteilung der Erwerbs- und Betreuungsarbeit zwischen Männern und Frauen ab. An die Stelle eines patriarchalen Familienkonzepts – wie es im Familienrecht und im Sozialversicherungssystem verankert war – sollte ein partnerschaftliches Ehemodell treten. Gleichheit wurde damit nicht nur als Gleichbehandlung und Chancengleichheit am Arbeitsmarkt begriffen, sondern auch auf den privaten Bereich der Familie ausgedehnt. Auch das Parlament, der WSA und EuGH fielen durch ein verändertes Gleichheitskonzept auf. Gravierend war der Wandel im Falle des WSA, der in 137 Vgl. Hoskyns: Integrating Gender, London/New York 1996, S. 83f.
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V. Geschlechtergleichheit im Kontext des Gemeinsamen Marktes
der Mutterschutzdebatte noch als Verfechter der Haupternährer-Ehe auftrat. In den 1970er Jahren formulierten die Mitglieder ein verändertes Leitbild und betrachteten Frauen nicht mehr nur als Hausfrauen und Mütter, sondern als gleichwertige Partnerinnen. Zudem forderte der WSA den Wert der Betreuungs- und Pflegearbeit durch sozialrechtliche Reformen anzuerkennen. Das Gleichheitskonzept der Kommission, wie es im Entwurf der Gleichbehandlungsrichtlinie festgeschrieben wurde, blieb allerdings auf den Arbeitsmarkt bezogen. Die Kommission kam den Forderungen des femokratischen Netzwerks, des Ad-Hoc-Komittees und der anderen Organe nicht entgegen, das Gleichheitskonzept auf den privaten Bereich zu erweitern. Diese mangelnde Bereitschaft zeigte sich dann auch an der Richtlinie zur Gleichbehandlung in Systemen der sozialen Sicherheit. Obwohl der Kommission ausreichend Informationen vorlagen, war sie nicht bereit, das Gleichheitskonzept vom Erwerbsbezug zu lösen. Die Vorschläge, unbezahlte Arbeit in die Versicherungszeiten zu integrieren und Männer in die Familienarbeit einzubeziehen, blieben von der Kommission unberücksichtigt. Die Kommission ging davon aus, dass Frauen die Hauptverantwortung für die Reproduktionsarbeit trugen. Männer, bzw. Ehemänner wurden vor allem als Erwerbstätige erfasst, die aufgrund ihrer beruflichen Verpflichtungen nicht die Verantwortung für die Haus- und Familienarbeit übernehmen konnten. Die Kommission bezog die Geschlechtergleichheit weder auf die Anerkennung der care-Arbeit noch auf innerfamiliäre (Un-)Abhängigkeiten. Das Gleichheitskonzept der Kommission beruhte damit auch in den 1970er Jahren auf der Geschlechterdifferenz und essentialistischen Geschlechterkonzeptionen. Das Beharren der Kommission und z.T. auch der ILO-Fachabteilungen auf Differenzvorstellungen kann damit erklärt werden, dass die Gremien Gleichbehandlungsinitiativen gegenüber den Entscheidungsträgern (Mitgliedstaaten) plausibilisieren mussten. Am Aushandlungsprozess der Familienpflichtenempfehlung und der Gleichbehandlungsrichtlinie wurde gezeigt, dass die Mitgliedstaaten einem Umbau des Sozialstaates und der Privilegierung eines Doppelverdienermodells oder gar eines Individualmodells kritisch gegenüber standen. Vor allem für die Kommission stand dabei viel auf dem Spiel, weil der Erfolg oder auch der Misserfolg ihrer Richtlinienvorschläge auf ihre sozialpolitischen Konzepte und Kompetenzen zurückwirkte. Der Rückgriff auf die Geschlechterdifferenz kann daher als Legitimationsstrategie betrachtet werden.138
138 Vgl. Biermann, Ingrid: Von Differenz zu Gleichheit. Frauenbewegung und Inklusionspolitiken im 19. und 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009. Biermann betrachtet Gleichheits- und Differenzvorstellungen als Mobilisierungs- und Legitimationsstrategien.
VI. FAMILIEN- UND GESCHLECHTERLEITBILDER IN DER ARBEITNEHMERFREIZÜGIGKEIT-POLITIK In den vorangehenden Kapiteln wurde vor allem auf jene Debatten und Initiativen eingegangen, welche die Arbeitssituation von Frauen zum Gegenstand hatten. Nimmt man die Selbstdarstellung der Kommission ernst, dass Frauen stets direkt oder indirekt von der Gesamtheit sozialpolitischer Entscheidungen profitierten, so sollte auch danach gefragt werden, welche Geschlechterleitbilder in der „allgemeinen“ Sozialpolitik zum Tragen kamen.1 War es unter den Bedingungen des Gemeinsamen Marktes möglich, geschlechtsspezifische soziale Risiken zu erfassen? Mit den Bemühungen um die Mutterschutzrichtlinie wurde bereits ein Vorstoß der Kommission präsentiert, spezifisch Risiken weiblicher Arbeitnehmer zu harmonisieren. Aber wie wurden andere Härten, beispielsweise der Einkommensverlust im Falle des Todes des Ehepartners, erfasst? Wurde auf EWG-Ebene ebenfalls versucht, diese Risiken abzusichern bzw. die nationalen Vorschriften anzugleichen? Es stellt sich auch die Frage, wie der Zugang zu Sozialleistungen auf EWGEbene konzipiert wurde. Aus der Anspruchsberechtigung (entitlement) lassen sich Rückschlüsse auf das Familienleitbild und Konzepte interfamiliärer Abhängigkeiten ziehen. Zudem können daran Vorstellungen über Geschlechterrollen und die Stellung des Individuums in seinem familiären und wirtschaftlichen Umfeld abgelesen werden. Oder anders gewendet: Familienleitbilder sind ausschlaggebend dafür, ob wohlfahrtsstaatliche Zuwendungen an das Kollektiv (Familie) oder das Individuum gerichtet werden. Wird die Familie als Einheit betrachtet, interagiert der Staat meist mit einem Familienvorstand und geht dabei von spezifischen Formen der Ressourcenverteilungen innerhalb der Familie aus. Damit werden Abhängigkeiten innerhalb des Kollektivs geschaffen oder verstärkt. Zugleich können spezifische Familienformen privilegiert werden (Ehe vs. Alleinerziehende, Familien mit Kindern). Wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen basieren folglich auf Familien- und Geschlechterleitbildern und beeinflussen wiederum das Geschlechterverhältnis in Familien, aber auch am Arbeitsmarkt.2
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Im Jahr 1972 behauptete der Generaldirektor für Soziales: „[…]les différents volets de la politique sociale concernent tous la [sic] femme directement ou indirectement. Il ne faut donc pas séparer le problème de l’émancipation de la femme du développement de la société toute entière ; il faut éviter de créer un ghetto féminin.“ Résumé de l’exposé de M. Raymond Rifflet, 25.09.1972, S. 4, in: HAUE ME 1653. Vgl. Daly: The Gender Division, Cambridge 2000, S. 65–67.
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VI. Familien- und Geschlechterleitbilder in der Arbeitnehmerfreizügigkeit-Politik
1. DIE POLITIK DER EWG FÜR WANDERARBEITNEHMER In der Politik der Gemeinschaft hatte das Thema der Wanderarbeit einen besonderen Stellenwert. Der Freizügigkeit wurde eine zentrale Bedeutung für die Entwicklung des Gemeinsamen Marktes und die Produktivitätssteigerung beigemessen. Die Mobilität der ArbeitnehmerInnen stellte erhebliche soziale und sozialpolitische Herausforderungen, vor allem wenn die Migranten ohne ihre Familien in einen anderen Mitgliedstaat kamen. Die EWG versuchte durch verschiedene Maßnahmen auf die Lebenssituation der Migrantenfamilien Einfluss zu nehmen. Die bedeutendste Aufgabe war es aber zunächst, einen Ausgleich bzw. eine Angleichung der nationalen Systeme der sozialen Sicherung und der erworbenen Ansprüche herbeizuführen, um die Migration zu ermöglichen und gleiche Arbeitsbedingungen zu schaffen. Daher sollen im Folgenden die Harmonisierungsversuche im Bereich der sozialen Sicherheit analysiert werden.3 1.1 Die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer Die Annäherung der unterschiedlichen Sozialsysteme in Europa beschäftigte nicht nur die EWG. Bereits auf Bestreben des Europarates4 und der EGKS wurden mit Unterstützung der ILO Sozialversicherungsabkommen erarbeitet, welche die Lücken der bilateralen Vereinbarungen schließen sollten. Während die Bemühungen des Europarates binnen weniger Jahre zum Erfolg führten, erstreckten sich die Verhandlungen der EGKS auf mehrere Jahre. Die Redaktion eines Textes erwies sich aufgrund der national unterschiedlichen Gesetzeslage und der verschiedenen Leitprinzipien der Sicherungssysteme als äußerst schwierig. Frankreichs Tradition der sozialen Sicherung basierte z.B. auf dem Territorialitätsprinzip, wonach der Versicherungsnehmer und seine Angehörigen soziale Leistungen nur in Anspruch nehmen konnten, wenn sie im Staatsgebiet ihren Wohnsitz hatten. Angehörige, die im Heimatland zurückblieben, waren demnach von Sozialleistungen ausgeschlossen. Dem entgegen stand das Prinzip des persönlichen Leistungsanspruchs, das Sozialleistungen nicht an den Wohnort band (z.B. Italien). Die Hohe Behörde und die ILO, die maßgeblich die Ausarbeitung des Abkommens übernommen hatte, waren jedoch nicht in der Lage, offene Fragen z.B. über das Leitprinzip oder die Einrichtung eines Ausgleichsfonds zügig zu klären. Ein wesentlicher Grund für die Verzögerungen waren Unstimmigkeiten über technische Fragen der Zusammenarbeit und gegenseitiges Misstrauen. Vor allem die ILO fürchtete, von der EGKS aus dem Themenbereich soziale Sicherung in Europa verdrängt zu 3
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Vgl. zur sozialen Sicherheit der Wanderarbeitnehmer: Eichenhofer: Internationale Sozialpolitik, in: Hockerts (Hg.): Geschichte der Sozialpolitik, Baden-Baden 2006, S. 919–922. Eichenhofer weist darauf hin, dass der EuGH eine wichtige Rolle in der Erweiterung und Vereinheitlichung der supranationalen Norm spielte. Darauf kann hier leider nicht näher eingegangen werden. Auch die Entwicklung des ESF muss außen vor bleiben. Vgl. zu den vorläufigen Europäischen Abkommen über soziale Sicherheit des Europarates: Guinand: Die Internationale Arbeitsorganisation, Bern 2003, S. 228–238.
VI. Familien- und Geschlechterleitbilder in der Arbeitnehmerfreizügigkeit-Politik
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werden. Die Befürchtungen erwiesen sich durchaus als begründet. Erst nach langjährigen Vorarbeiten gelang der Durchbruch durch das Eingreifen des Ministerrats. Zugleich wurde damit die Rolle der ILO zurückgedrängt.5 Im Dezember 1957 wurde das Europäische Abkommen über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer schließlich von den EGKS-Mitgliedstaaten unterzeichnet. Allerdings trat es nie in Kraft, da mit Gründung der EWG beschlossen wurde, das Abkommen in zwei Verordnungen umzuwandeln. Damit wurde die internationale Norm in supranationales Koordinierungsrecht umgewandelt. Die ILO war das Abkommen als gesamt- bzw. westeuropäisches Vorhaben angegangen, das perspektivisch anderen Staaten als den Sechs offen gestanden hätte. Die 1958 unterzeichnete Verordnung Nr. 3 des Rates über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer und die Verordnung Nr. 4 des Rates zur Durchführung und Ergänzung der Verordnung Nr. 3 galt nur für die Mitgliedstaaten der EWG, übernahm aber bis auf wenige Veränderungen den Abkommenstext.6 Wie bereits im Abkommen für soziale Sicherheit vorgesehen, wurde auf Grundlage der Verordnung eine Verwaltungskommission7 eingerichtet. Sie sollte Interpretationsprobleme und Konflikte sowohl zwischen den Mitgliedstaaten untereinander als auch zwischen den Staaten und den Gemeinschaftsorganen klären. Die Verwaltungskommission hatte den „Status eines regelmäßigen Organs“8, traf sich aber nur in unregelmäßigen Abständen. Wenngleich in diesem Gremium die EWG-Kommission umfassendere Befugnisse als die ILO-VertreterInnen hielt, konnte letztere bei der Umsetzung der Verordnungen in die Praxis als ExpertInnenorganisation eine wichtige Position einnehmen. Meist waren es die ILOMitarbeiterInnen, die im Auftrag der Verwaltungskommission Vorlagen für Änderungen der Verordnung Nr. 3 erarbeiteten und auf diesem Weg ihre Vorstellungen in EWG-Bestimmungen einbringen konnten.9 5
6
7 8 9
Vgl. ebenda, S. 244–257 und Dobbernack, Wilhelm: Auslandschronik, Soziale Sicherung, 3. Folge 1954, in: Sozialer Fortschritt, Bd. 4, 1954, Nr. 8/9, S. 204f. In einem vertraulichen Bericht vermuteten Mitarbeiter der EKGS, dass die ILO in den Bemühungen der Hohen Behörde eine Konkurrenz sähe. Die Mitarbeiter nahmen sehr wohl war, dass die ILO von diesem wichtigen Schritt nicht ausgeschlossen werden wollte. Vgl. dazu auch: Evolution des relations entre la Haute Autorité et le Bureau International du Travail. Renseignements fournis par la Division des Problèmes du Travail, Luxembourg 1 avril 1957, in: HAEU CEAB05-000635, S. 20f. Vgl. Minute Sheet von Blanchard vom 01.05.1959, o.S., in: HAILO IGO 05–1009 J.1; Guinand: Die Internationale Arbeitsorganisation, Bern 2003, S. 259–263. Die Verordnung Nr. 3 wurde 1972 durch Verordnung Nr. 1408/71 und Verordnung Nr. 4 durch Verordnung Nr. 574/72 ersetzt. Vgl. Krüsselberg, Hans-Günter: Ethik, Vermögen und Familie: Quellen des Wohlstandes in einer menschenwürdigen Ordnung, Stuttgart 1997, S. 286f. Zusammensetzung: je ein Regierungsvertreter, ein Beobachter der Hohen Behörde/Kommission und der ILO. Guinand: Die Internationale Arbeitsorganisation, Bern 2003, S. 263. Vgl. Rapport de mission von Zelenka vom 06.04.1962, 32ème session de la commission administrative de la Communauté économique européenne pour la sécurité sociale de travailleurs migrants, in: HAILO SI 12–4–1–1 J.1, o.S.; Rapport de mission von Perrin vom 02.11.1962, Réunion d’un groupe de travail pour la simplification de l’article 42 du Règlement n°3 et des articles 69 et 71 du Règlement n°4, in: HAILO SI 12–4–1–1 J.1, o.S.; Guinand: Die Interna-
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Gegenüber den bis dahin üblichen bi- oder multilateralen Abkommen zur sozialen Sicherung umfassten die Verordnungen Nr. 3 und 4 alle international üblichen Bereiche der sozialen Sicherung: Krankheit, Mutterschaft, Invalidität, Alter, Hinterbliebenenversorgung, Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten, Arbeitslosigkeit, Sterbegeld und schließlich Familienleistungen. Durch den weit gefassten Begriff der sozialen Sicherheit wurden in den Verordnungen geschlechtsspezifische Risiken abgesichert. Ein weiteres Novum war die Absicherung nicht erwerbstätiger Personen durch die Verordnungen. Die Ansprüche in allen genannten Versicherungsbereichen wurden nicht allein ArbeitnehmerInnen gewährt, sondern galten auch für die Angehörigen der WanderarbeitnehmerInnen. Der Anspruch auf soziale Sicherung wurde damit über den Arbeitnehmerstatus des Familienoberhauptes erworben. Als erste europäische Rechtsnormen stellten die Verordnungen nun auch „die Frage einer Harmonisierung der nationalen Gesetzgebung auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit.“10 Denn infolge der Verordnungen mussten die Nationalstaaten teilweise von grundlegenden Ideen wie dem Territorialitätsprinzip abweichen. Die Verordnungen leisteten einen wichtigen Beitrag zur Gleichstellung von Migranten und Inländern im Sinne des Art. 51 EWGV. Auch die Staatsbürgerschaft als Kriterium für den Anspruch auf Sozialleistungen wurde durch das Gemeinschaftsrecht in Frage gestellt.11 Ein zentrales Problem der Arbeitnehmerfreizügigkeit, das durch die Verordnungen Nr. 3 und 4 reguliert wurde, betraf die Harmonisierung der Familienbeihilfen. In den Mitgliedstaaten wurden die Beihilfen als Sach- und Geldleistungen gewährt und konnten sowohl periodische kinderspezifische Leistungen als auch einmalige Leistungen bei Geburt, Umzug, Urlaub oder Schwangerschaft umfassen. In allen Mitgliedstaaten waren die Familienbeihilfen an die Ausübung einer Erwerbsarbeit gebunden und basierten auf der Annahme, dass ein Haupt- bzw. Alleinernährer den Familienunterhalt erwirtschaftete. Außer in Belgien wurden die Beihilfen daher in allen EWG-Staaten an Väter ausgezahlt.12
tionale Arbeitsorganisation, Bern 2003, S. 257, 262f. Guinand neigt zu der These, die ILO habe an Einfluss auf die EWG-Sozialpolitik verloren. Über die Verwaltungskommission habe sie lediglich Einblicke erhalten. Angesichts der zentralen Vorarbeiten der ILO für die Verwaltungskommission sollte über den Einfluss der Genfer Organisation jedoch differenzierter geurteilt werden. 10 Guinand: Die Internationale Arbeitsorganisation, Bern 2003, S. 264. 11 Levi Sandri erkannte in der Gleichstellung der ArbeitnehmerInnen hinsichtlich der Arbeitsbedingungen retrospektiv einen ersten Schritt zu einer europäischen Bürgerschaft in allen Bereichen des privaten und öffentlichen Rechts. Vgl. Incidences de la politique économique et sociale européenne sur la vie des familles. Discours prononcé par Monsieur le Professeur Lionello Levi-Sandri à la Rencontre européenne des Mouvements familiaux, Bruxelles 19. mai 1963, 5835/X/63-F, in: HAEU BAC 007/1967–1, S. 246; Vgl. auch: Heise: Sozialpolitik in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Göttingen 1966, S. 123–134. 12 Vgl. Europäische Konferenz über die soziale Sicherheit, Bericht, Thema 3: Möglichkeiten der Harmonisierung der Leistung der sozialen Sicherheit, in: HAEU CEAB 11–5264, S. 10f., 42, 53, 56, 59.
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In den meisten EWG-Staaten umfassten Familienbeihilfen Unterhaltsleistungen für die Kinder des Empfängers. Darüber hinaus konnten die Beihilfen aber auch für andere Familienmitglieder gewährt werden, wenn der Arbeitnehmer für deren Unterhalt aufkam. In Italien und in Frankreich wurden dem Arbeitnehmer bspw. zusätzliche Beihilfen gezahlt, wenn das Einkommen der Ehefrau eine bestimmte Grenze nicht überstieg. Ebenso konnte das Familienoberhaupt in Italien Beihilfen für seine Eltern empfangen, wenn sie älter als 60 (Männer) bzw. 55 Jahre (Frauen) waren und nicht über ein ausreichendes Einkommen verfügten.13 All diese Unterschiede erschwerten eine Angleichung der Familienbeihilfen. Selbst innerhalb der Mitgliedstaaten existierten mitunter verschiedene (berufsgruppenspezifische) Versicherungssysteme. In einigen Mitgliedstaaten wurden bestimmte ArbeitnehmerInnengruppen sogar vom Bezug der Familienbeihilfen ausgeschlossen. Darunter fielen vornehmlich „frauenspezifische“ Berufe wie Hausgehilfen und sonstiges Dienstpersonal, HeimarbeiterInnen und mithelfende Familienangehörige.14 Auch bei der Angleichung der Familienbeihilfen stellte sich die Frage, nach welchem Prinzip die Ansprüche anerkannt werden sollten: nach dem Territorialitätsprinzip oder nach dem Leistungsprinzip? Zudem musste geklärt werden, nach welchen Vorgaben die Beihilfen berechnet werden sollten, wenn die Angehörigen in einem anderem Mitgliedstaat lebten als das Familienoberhaupt. In der Verordnung Nr. 3 wurde vorgesehen, dass Familienbeihilfen nach den Vorschriften des Arbeitslandes gewährt werden sollten. Jedoch wurde die Höhe der Beihilfen auf den Betrag begrenzt, der im Herkunftsland maximal gezahlt wurde. Durch diese Regelung erhielten die Wanderarbeitnehmer die gleichen Leistungen wie die Staatsbürger ihres Arbeitslandes. Zugleich wurde damit aber vermieden, dass sie mehr Unterstützung erhielten als dem Lebenshaltungsniveau ihrer Heimat angemessen war.15 In den Folgejahren zeigte sich jedoch, dass die Durchführung der Verordnungen vor allem in Hinblick auf die Familienbeihilfen problematisch war. Daher wurden die Verordnungen durch die Verwaltungskommission unter Mithilfe der ILO-ExpertInnen mehrfach geändert.16 Zusätzlich wurden in den 1960er Jahren 13 Vgl. ebenda, S. 50. In der Zwischenkriegszeit kämpfte auch die Frauenbewegung für Beihilfen, die vor allem als „Mütterlohn“ gedacht waren, dann aber in den meisten Staaten als familien- und kinderzentrierte Beihilfen etabliert wurden. Damit wurde meist die Belastung zwischen kinderlosen Männern und Vätern umverteilt und statt der Mutterschaft die Vaterschaft aufgewertet. Vgl. dazu Bock: Frauen in der europäischen Geschichte, München 2005, S. 248– 258. 14 Vgl. Europäische Konferenz über die soziale Sicherheit, in: HAEU CEAB 11–5264, S. 56; Verwaltungskommission der EWG für die Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer: Betrifft: Arbeitnehmergruppen, die keinen Anspruch auf Familienbeihilfen haben. Italienische Aufzeichnung vom 5.04.1962, 3283/V/62-D, in: HAEU BAC006/1977–365, S. 268. 15 Der Bezug von Familienbeihilfen war in keinem der Mitgliedstaaten an die Staatsangehörigkeit gebunden, sondern an die Erwerbstätigkeit und/oder den Wohnsitz. Vgl. Europäische Konferenz über die soziale Sicherheit, in: HAEU CEAB 11–5264, S. 72. 16 Vgl. Verwaltungskommission der EWG für die Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer: Betr. Durchführung von Art. 40 (1) der Verordnung Nr. 3. Aufzeichnung des IAA vom 26.
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weitere Verordnungen über die Freizügigkeit erlassen. Ab 1963 wurde eine grundlegende Überarbeitung der Verordnungen Nr. 3 und 4 in Angriff genommen, um die nationalen Vorschriften besser zu koordinieren. Die Verordnung Nr. 1408/ 71 des Rates vom 14.06.1971 löste schließlich die Verordnungen Nr. 3 und 4 ab.17 Die Koordinierung der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit wurde auch durch den Widerstand der Mitgliedstaaten erschwert, die einer Übertragung sozialpolitischer Kompetenzen auf die supranationale Ebene kritisch gegenüber standen. Die supranationalen Bemühungen wurden allerdings in den 1960er Jahren durch mehrere Urteile des EuGH gestärkt, in denen der Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor nationalem Recht bekräftigt wurde.18 Tragende Leitbilder der Freizügigkeitspolitik Wie bereits ausgeführt wurde, garantierten die Verordnungen Nr. 3 und 4 auch die soziale Sicherheit nicht erwerbstätiger Personen. Familienangehörigen wurden auf der Grundlage ihrer Beziehung zu einem (männlichen) Arbeitnehmer Rechte zugesprochen.19 Problematisch erwiesen sich allerdings die unterschiedlichen nationalen Definitionen des Berechtigungskreises, d.h. der Angehörigen. Die Verordnung Nr. 3 bezeichnete als Familienangehörige: „Personen, die in den Rechtsvorschriften des Staates ihres Wohnorts als solche bestimmt oder anerkannt oder als Haushaltsangehörige bezeichnet sind; werden jedoch nach diesen Rechtsvorschriften nur die Personen als Familienangehörige oder Haushaltsangehörige angesehen, die mit dem Arbeitnehmer in häuslicher Gemeinschaft leben, so gilt in den Fällen, in denen
Juli 1960, V/4319/60-D, in: HAEU BAC 006/1977–364, S. 76f.; Verwaltungskommission der EWG für die Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer: Betrifft: Vereinfachung des Art. 42 der Verordnung Nr. 3 betreffend die Familienbeihilfen für Waisen und für Kinder von Rentenempfängern (Französischer Antrag im Ministerrat vom Dezember 1961). Aufzeichnung des IAA vom 14. 02. 1962, V/1100/62-D, in: HAEU BAC006/1977–365, S. 58–61; Verwaltungskommission der EWG für die Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer: Betrifft: Gewährung der Familienbeihilfen (des Kindergeldes) für Familien, die dem entsandten Arbeitnehmer in sein Beschäftigungsland begleiten (Französischer Antrag im Ministerrat vom Dezember 1961). Aufzeichnung des IAA vom 14. 02. 1962, V/1101/62-D, in: HAEU BAC006/1977–365, S. 56. 17 Vgl. Verordnung Nr. 15/61 über die ersten Maßnahmen zur Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft vom 16. August 1961; Verordnung Nr. 38/64 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft vom 25. März 1964, Vgl. zu den Änderungen Pompe, Peter: Leistungen der sozialen Sicherheit bei Alter und Invalidität für Wanderarbeitnehmer nach Europäischem Gemeinschaftsrecht, Köln, 1986, S. 43–47; Vgl. allgemein Köhler: Internationale Sozialpolitik, in: Ruck/Boldorf (Hg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland, Baden-Baden 2007, S. 828–831. 18 Vgl. Köhler: Internationale Sozialpolitik, in: Ruck/Boldorf (Hg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland, Baden-Baden 2007, S. 832f. 19 Vgl. Ribas, Jacques Jean: Etudes, in: Familles dans le monde, Bd. 13, 1960, Nr. 2/3, S. 93f.
VI. Familien- und Geschlechterleitbilder in der Arbeitnehmerfreizügigkeit-Politik
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diese Verordnung anwendbar ist, diese Voraussetzung als erfüllt, wenn der Unterhalt dieser Personen überwiegend von dem betreffenden Arbeitnehmer bestritten wird;[…]“.20
Damit wurde im Gemeinschaftsrecht das Familienverhältnis über die Abhängigkeit bzw. das Unterhaltsprinzip bestimmt. Die Abhängigkeit wurde nicht nur über das Geschlecht, sondern auch über das Alter und die finanzielle Selbständigkeit der Angehörigen definiert. Zugleich wurde es unter Berufung auf europäisches Recht möglich, nationale Bestimmungen teilweise zu übergehen. Der Familienbegriff bzw. der Kreis der Angehörigen blieb in der Verwaltungskommission ein oft diskutiertes Thema.21 Als die Kommission 1964 die Freizügigkeit nach der Übergangsphase neu regelte, wurde schließlich auch die Definition der Familienangehörigen erweitert. Anstatt des Ehepartners und der unterhaltspflichtigen Kinder wurden nun auch Verwandte aufsteigender und absteigender Linie des Arbeitnehmers oder seines Ehegatten als Angehörige anerkannt, wenn der Arbeitnehmer maßgeblich für deren Unterhalt aufkam. Damit wurde das Unterhaltsprinzip nochmals bekräftigt.22 Die EWG-Rechtsvorschriften basierten zudem auf präzisen Vorstellungen über die Organisation und den Wert von Familie. Die Freizügigkeitspolitik gründete auf der Annahme, dass das Leben in einer Familie und das Zusammenleben aller Familienmitglieder „sittlich“23 geboten sei. Diese Norm sollte durch das Recht der Familie auf einen gemeinsamen Lebensmittelpunkt erhalten werden. Die Verordnung Nr. 3 (Art. 13) sah daher ausdrücklich die Familienzusammenführungen als soziales Prinzip vor. Bereits an anderer Stelle hatte die Kommission die Bedeutung der Familie als moralische Stütze, als „Lebenskreis“, in dem sich „der Mensch bildet und entfaltet“ unterstrichen. Die Familie galt als Bereich der psychischen und ökonomischen Absicherung: „[…] in der Welt, in der wir leben, [stellt] die materielle und seelische Geborgenheit in der Familie einen Sicherheitsfaktor“24 dar. Die Kommission leitete die Aufgabe, zum Erhalt der familialen Einheit (unité familiale) beizutragen, aus dem Gründungsvertrag der EWG (Art. 48 und 49) ab, obwohl das Recht auf Familienzusammenführung darin nicht explizit genannt 20 Verordnung Nr. 3 über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer, ABl. 1958 Nr. 30, 561–596, hier S. 563. 21 Vgl. Jonker, Rapport de mission vom 11.03.1960, S. 3, in: HAILO IGO 051–14 J.1. 22 Vgl. EWG, Sprecher der Kommission: Informatorische Aufzeichnung; die Verordnung und die Richtlinie über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer für einen zweiten Abschnitt, Brüssel April 1964, PP 3942/64-D, in: HAEU CEAB02-003320, S. 72–76. 23 Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Generaldirektion Soziale Angelegenheiten: Vorschlag für eine Verordnung Nr…/64 des Rats vom… zur Aufhebung der in der Verordnung Nr. 3 festgelegten Sechsjahresfrist für den Anspruch auf Sachleistungen im Falle der Krankheit und der Mutterschaft und auf Familienbeihilfen für die Familienangehörigen, die nicht im selben Land wie der Arbeitnehmer wohnen. Mitteilung von Herrn Levi-Sandri, 5564/I/V/64-D, [ca. Juli 1964], in: HAEU BAC 006/1977–368, S. 260. 24 Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Generaldirektion Soziale Angelegenheiten, Direktion Soziale Sicherheit und Sozialdienste, Abteilung Sozialdienste: Bericht über die Tagung der Sachverständigen für Familienfragen, Brüssel 22./23.02.1960, V/2903/60-D, in: HAEU BAC 008/1969–19, S. 391.
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wurde. Sie begründete diese Interpretation mit der Auffassung, dass es nicht im Sinne des Vertrages sein könne, die Diskriminierung für ArbeitnehmerInnen abzuschaffen, während sie für deren Familien bestehen bleibe.25 Diese weitreichende Vertragsauslegung gründete auf der Vorstellung, dass Familien als bürgerliche Kleinfamilie organisiert waren, nach dem Hauptverdienermodell lebten und dass ein Familienvorstand abhängige Angehörige versorgte.26 Wenngleich in den Rechtstexten die geschlechtsneutrale Formulierung „Arbeitnehmer“ gewählt wurde, zeigte sich in den Arbeitsunterlagen der EWG und der ILO auch sprachlich der Bezug zum Hauptverdienermodell. Die Bezeichnungen Arbeitnehmer und Familienvorstand („chef de famille“27) wurden gleichgesetzt. Die interfamiliäre Position des männlichen Arbeitnehmers sollte sich schließlich auch in den Regularien zur Bemessung und Auszahlung der Familienbeihilfen widerspiegeln. Wie im nationalen und internationalen Recht üblich, wurde die Zuständigkeit für die Sozialleistungen über den Arbeitsort des Familienvorstands bestimmt. Auch von zivilgesellschaftlicher Seite, insbesondere von Familienverbänden, war die EWG-Kommission aufgefordert worden, ihre Sozialpolitik auf dem Ernährermodell und dem Unterhaltsprinzip zu begründen.28 In der Praxis folgten jedoch einige Schwierigkeiten aus der Orientierung am Haupternährermodell und Unterhaltsprinzip. So mancher Wanderarbeitnehmer – vor allem in den Niederlanden und der Bundesrepublik – leitete die Beihilfen nicht an seine Familie weiter und das Geld fehlte dort, wo es helfen sollte. Im Jahr 1964 geriet das Problem auf Initiative der italienischen Delegation auf die Tagesordnung der Verwaltungskommission. Es wurde geprüft, ob die Beihilfen nicht auch an jene Personen (meist die Mütter) gezahlt werden könnten, die für die im Ausland lebenden Kinder sorgten. Die Eigenheiten des grenzüberschreitenden
25 Vgl. Commission CEE, Direction Générale des Affaires Sociales, Direction de la Maind’œuvre, Division de la Libre Circulation: Avant-projet de Règlement sur la libre circulation des travailleurs dans la communauté (Art. 48 et 49 du Traité), 923/59-F, S. 15, in: HAILO IGO 051–14 J.1. 26 Vgl. Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft: 5564/I/V/64-D, [ca. Juli 1964], in: HAEU BAC 006/1977–368, S. 255–262. 27 Commission CEE: 923/59-F, S. 15, in: HAILO IGO 051–14 J.1. 28 Das Unterhaltsprinzip war sowohl im ILO-Übereinkommen Nr. 102 über Mindestnormen der Sozialen Sicherheit (1952) und in der UN-Konvention über die Verpflichtung des Familienvorstandes, einen Unterhaltsbeitrag für seine Familie im Herkunftsland zu zahlen (1956), sowie im Europäischen Abkommen über die Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer verankert worden. Vgl. Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, V/2903/60-D, in: HAEU BAC 008/1969–19, S. 428; Capuano, Christophe: Réseaux familialistes, Bureau international du Travail et construction des politiques familiales en Europe occidentale de la fin des années 1920 aux années 1950. Colloque „Politiques sociales transnationales. Réseaux réformateurs et Organisation internationale du Travail (1900–1980)“, Université de Genève, 7– 9 mai 2009, http://www.unige.ch/ieug/recherche/colloques/ILO/CAPUANO.pdf, letzter Zugriff, 03.01.2013.
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europäischen Wirtschaftsraums stellten die etablierten (nationalen) Normen in Frage.29 Die Verwaltungskommission war auch in anderen Fällen damit konfrontiert, dass in den nationalen Systemen Vorstellungen von Geschlechterrollen und Familienbildern spezifischen Ausdruck fanden. So sahen Belgien und Frankreich eine Verlängerung des Kindergeldanspruchs vor, falls Frauen bis zum 21. Lebensjahr im Haushalt der Eltern lebten und die erzieherischen und haushälterischen Aufgaben der Mutter übernahmen, weil diese „ihrer normalen Haushaltstätigkeit“30 nicht nachkommen konnte.31 Die Verwaltungskommission stützte das Geschlechterverhältnis, indem sie Ausnahmeregeln schuf. In diesen Fällen sollten nicht die Vorschriften des Arbeitsortes zur Anwendung kommen, sondern die französische bzw. belgische Regelung. Eine gemeinschaftliche Norm wurde von der Verwaltungskommission nicht diskutiert. Es war jedoch auch durchaus möglich, dass spezifische Problemlagen des Gemeinsamen Marktes auf die nationalen Wohlfahrtssysteme zurückwirkten. Wurden ArbeitnehmerInnen vorübergehend in ein anderes Land abgeordnet und folgte die Familie bzw. lebte diese in einem dritten Mitgliedstaat, konnten keine Familienbeihilfen bezogen werden. Das Problem entstand, da die Familienbeihilfen an das Territorialitätsprinzip gebunden waren. Bei einer vorübergehenden Versetzung von ArbeitnehmerInnen leiteten sich die Ansprüche weiterhin nach den Bestimmungen des Herkunftslandes ab, in dem die ArbeitnehmerInnen bzw. die Familien aber keinen Wohnsitz vorweisen konnten. Eine Änderung der Verordnung Nr. 3 (Art. 40) und Nr. 4 (Art. 68) 1963 sollte das Dilemma lösen. Durch die Überarbeitung wurde das Wohnsitzprinzip aufgehoben und die Bemessung der Beihilfen sollte nach den Vorschriften des Heimatlandes erfolgen, so als seien die Unterhaltsberechtigten im Ursprungsland geblieben.32 Ein weiteres Problem stellte sich, wenn Kinder von WanderarbeitnehmerInnen eine Ausbildung in einem anderen Land der EWG aufnahmen. Unklar war zunächst, nach welchen Vorschriften sie weiterhin kindergeldberechtigt waren, da 29 Vgl. Verwaltungskommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft für die Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer: Betrifft: Zahlung des Kindergeldes in das Wohnland der Kinder. Aufzeichnung des Sekretariats vom 08.02.1964, 1591/V/64-D, in: HAEU BAC 006/ 1977–368, S. 86f. 30 Verwaltungskommission der EWG für die Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer: Bericht der Arbeitsgruppe der Sachverständigen für Familienbeihilfen, [9.2.1960], in: HAEU BAC 006/1977–363, S. 133. 31 Vgl. ebenda, S. 124, 133f.; Verwaltungskommission der EWG für die Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer: Angaben über die Familienbeihilfen (Art. 68 Abs. (2) und Artikel 71 Abs. (3) der Verordnung Nr. 4), Stichtag 15. Dezember 1962, 113/V/63-D, in: HAEU BAC006/1977–366, S. 294f., 297, 306. 32 Vgl. Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Generaldirektion Soziale Angelegenheiten: Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Ergänzung der Artikel 40 der Verordnung Nr. 3 und 68 der Verordnung Nr. 4 des Rates über die Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer, (Mitteilung von Herrn Levi-Sandri), Brüssel 13.12.1962, V/COM (62) 365, in: HAEU BAC006/1977–366, S. 163, 165.
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jedes Land andere Altersgrenzen vorsah. Auch solche Fälle sollten durch eine Änderung der Verordnung Nr. 3 (Art. 20 (1) und 40 (1)) reguliert werden. Die Verordnung wurde auf Familien ausgeweitet, deren Kinder (bzw. Mütter) ihren Wohnsitz in einem dritten Mitgliedstaat der EWG wählten. In diesen Fällen sollte der Anspruch auf Krankenversicherung, Mutterschutz und Familienbeihilfen erhalten bleiben. Durch die Überarbeitung wurde die Gleichstellung der Zugewanderten und Einheimischen hinsichtlich der Sozialversicherungsansprüche weiter vorangetrieben. Es sollte erreicht werden, dass alle ArbeitnehmerInnen, die unter ein nationales Sozialversicherungsregime fielen, gleiche Ansprüche hatten. Schließlich konnten damit aber auch die EWG-Standards für WanderarbeitnehmerInnen auf jene Staatsangehörige ausgeweitet werden, die in ihrem Nationalstaat arbeiteten, aber deren Angehörige andernorts lebten. Die Bemühungen der Kommission zur Angleichung der Familienbeihilfen zielten somit vor allem darauf ab, Unterschiede zwischen den Nationalstaaten auszugleichen. Dabei wurde zunächst außer Acht gelassen, dass Frauen und Männer unterschiedlichen Zugang zu sozialen Ansprüchen hatten. Im Gegenteil, die Gemeinschaftsnormen bekräftigten die geschlechtsspezifischen Ungleichheiten in den sozialen Sicherungssystemen.33 1.2 Koordinierung der Sozialdienste für Wanderarbeitnehmer Durch die Freizügigkeit gerieten nicht nur Probleme der sozialen Sicherung auf die EWG-Agenda. Als Wettbewerbsfaktoren und Hindernisse für die Arbeitsmigration wurden auch Unterschiede in der Ausbildung, der Beschäftigungskultur, der Entlohnung und den Arbeitsbedingungen virulent. Aus sozialpolitischer Sicht wurden vor allem Familienfragen wie die Familienzusammenführung, der Schulbesuch, die Unterbringung und Beschäftigungschancen für Familienangehörige zum Gemeinschaftsproblem: „On conçoit aisément les multiples problèmes humaines et familiaux que posent et que poseront, […], ces déplacements de travailleurs. La Commission européenne en a pleinement conscience, et a pris des dispositions en vue de favoriser l’admission, […], de la famille du travailleur, de faciliter notamment l’emploi des femmes et des enfants, l’accès au logement, etc.“34
Bereits 1959 erarbeitete die EWG-Kommission gemeinsam mit externen ExpertInnen die Grundlinien eines Berichts über die Lage der Sozialdienste für die WanderarbeitnehmerInnen. Die Auswertung des Berichts sowie die Ableitung von
33 Vgl. Ministère du Travail, Direction Générale de la Sécurité Sociale: Circulaire N°156 du 28 décembre 1962 relative à l’application des articles 20 (1) et 40 (1) du règlement n°3 de la Communauté économique européenne concernant la sécurité sociale des travailleurs migrants, Paris 28.12.1962, 4294/V/63-F, in: HAEU BAC 021/1966–54, S. 103–107. 34 Discours prononcé par Monsieur le Professeur Lionello Levi-Sandri, 5835/X/63-F, in: HAEU BAC 007/1967–1, S. 245. Vgl. allgemein Collins: The European Communities, London 1975, Bd. 2, S. 100–102.
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Folgemaßnahmen erfolgten über die Sozialkommission für Soziale Sicherheit und die Direktion Sozialdienste innerhalb der GD Soziale Angelegenheiten.35 Die nationalen Berichte beschrieben eindrücklich die soziale Situation der WanderarbeitnehmerInnen. In der Regel reisten die Migranten allein ohne ihre Familien in das Gastland ein. Ihre Angehörigen konnten sie erst nachkommen lassen, wenn sie die entsprechenden Voraussetzungen erfüllten, z.B. wenn sie eine adäquate Wohnung gefunden hatten. Die migrationsbedingte Trennung der Familien wurde in den Berichten durchweg als „Familientragödie“ beschrieben, als psychologische und materielle Belastung. Die Arbeitsmigranten vereinsamten und gerieten mit der neuen Umgebung in Konflikt. Als besonders schwerwiegend wurden jene Probleme herausgestellt, die das bürgerliche Familienideal bedrohten: Dazu zählten Jugendkriminalität, „ledige Mütter“, „verlassene Familien“36, sexuelle Beziehungen zwischen (männlichen) Migranten und der (weiblichen) lokalen Bevölkerung, Ehebruch37, Scheidungen und unehelich geborene Kinder. Der italienische Bericht ging gar soweit, derlei Phänomene als Fälle „sozialer Anormalität“ 38 zu bezeichnen.39 Die Arbeitsmigration und die damit verbundenen Probleme wurden vornehmlich als Phänomen männlicher Arbeitnehmer erfasst. Wenn die Situation von Arbeitsmigrantinnen thematisiert wurde, dann handelte es sich meist um junge ledige Frauen. Während die männlichen Wanderarbeitnehmer (implizit) als Gefahr für die Sexual- und Familienmoral der Gastländer beschrieben wurden, galten die ausländischen ledigen Arbeitnehmerinnen als besonders schutzbedürftig. In den Länderberichten wurde z.B. auf besondere Gefahren hingewiesen, die den jungen Frauen in der Fremde drohten, ohne dass diese näher bestimmt wurden. Die Ausreise alleinstehender Mädchen und Frauen wurde nicht nur als Risiko für die Einzelne gedeutet, sondern auch als besondere Gefahr für das Familienleben. Im 35 Vgl. Ribas, Jacques Jean: Etudes, in: Familles dans le monde, Bd. 13, 1960, Nr. 2/3, S. 104; (Communication de M. Petrilli, Services Social des Travailleurs Migrants, ohne Empfänger und Datum, in: HAEU BAC006/1977–463, S. 57f.; Zusammenfassender Bericht über die soziale Lage und die soziale Betreuung der ausländischen Arbeiter in den sechs Ländern der Gemeinschaft, V/5664/60-D, in: HAEU BAC 006/1977–462, S. 29f. 36 Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Generaldirektion Soziale Angelegenheiten: Folgemassnahmen zur „Empfehlung hinsichtlich der Tätigkeit der Sozialdienste für innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandernde Arbeitnehmer“, 15157/V/67-D, in: HAEU BAC006/1970–470, S. 331. 37 Das Problem wurde vor allem im niederländischen Bericht beschrieben. Vgl. La Situation actuelle du service social des travailleurs migrants. Monographie néerlandaise, V/2141/60-F, in: HAEU BAC006/1977–461, S. 92–154, bes. S. 146. 38 Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Generaldirektion Soziale Angelegenheiten: 15157/V/67-D, in: HAEU BAC006/1970–470, S. 331. 39 Vgl. Zusammenfassender Bericht, V/5664/60-D, in: HAEU BAC 006/1977–462, S. 35–38, 49. Vgl zur Situation der Gastarbeiter in Deutschland: Herbert, Ulrich/Hunn, Karin: Beschäftigung, soziale Sicherung und soziale Integration von Ausländern, in: Hockerts (Hg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland, Baden-Baden 2006, S. 783–810. In dem Beitrag geht es allgemein um Gastarbeiter und es findet sich nur wenig über die Situation der EWGArbeiterInnen.
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Kontext der Arbeitsmigration verbanden sich somit nationalistische und geschlechterstereotype Vorstellungen.40 Weitaus häufiger als in der Rolle der Arbeitnehmerin wurden Migrantinnen in den Berichten in ihrer häuslich-pflegerischen Funktion als „Familienmütter“41 betrachtet. Damit verbanden sich zwei Aspekte. Zum einen wurde die soziale Rolle von Frauen in Migrationsfragen betont: „Man hat erkannt, dass die Frau in den Wanderungsbewegungen eine ‚Schlüsselstellung‘ innerhalb der Familie einnimmt [...].“42 Frauen seien die emotionale Stütze der Familie und aufgrund ihrer pflegerisch-erzieherischen Kompetenzen besonders sensibel für die sozialen Folgen der Migration (Sprache, Wohnsituation, Ernährung, ärztliche Betreuung, Vereinsamung).43 Auf der anderen Seite wurden Frauen als die „Verliererinnen“ der Freizügigkeit präsentiert, d.h. als Personengruppe, die besonders mit der Situation zu kämpfen habe. Die Migration habe für viele Ehefrauen eine Entfremdung von ihrer Familie bedeutet. Der Ehemann konnte sich bereits länger in der neuen Umgebung einleben und die Kinder integrierten sich nach der Ankunft im Gastland durch den Schulbesuch. Da sie zudem einen höheren Bildungsgrad als ihre Eltern erlangten, folgte auf die Entfremdung auch ein Autoritätsverlust. Die Isolation nach innen werde durch die Isolation von außen verstärkt, da sich die Ehefrauen selten in eine Arbeitsumgebung integrierten. Die Bewertung der sozialen Situation (geringe Erwerbsintegration) verschwimmt hier allerdings mit der normativen Erwartung, dass die Berufstätigkeit kein angemessener Wirkungskreis für Ehefrauen sei.44 Migrantinnen wurden demnach in den Debatten der Kommission vor allem im Kontext der Familienmigration als Mütter und Ehefrauen betrachtet. In den Berichten wurde sich nicht darum bemüht, den Umfang und die sozialen Probleme der weiblichen Arbeitsmigration zu beschreiben. Bezeichnend dafür ist, dass die EWG in ihren Statistiken die WanderarbeiterInnen nicht nach Geschlecht erfasste. Dabei war der Frauenanteil unter den Arbeitsmigranten gar nicht so gering. Vereinzelt lässt sich das Verhältnis illustrieren: Von den knapp 400.000 ArbeitnehmerInnen aus EWG-Staaten, die im Jahr 1964 in der BRD gemeldet waren, waren fast 62.000 Frauen.45 Von den 31.000 in Luxemburg (1966) gemeldeten ausländischen ArbeitnehmerInnen (EWG und anderes Ausland) waren ca. 6000 weiblich. 40 Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Generaldirektion Soziale Angelegenheiten, Direktion Soziale Sicherheit und Sozialdienste, Abteilung Sozialdienste: Folgemassnahmen zur Empfehlung der Kommission an die Mitgliedstaaten hinsichtlich der Tätigkeit der Sozialdienste für innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandernde Arbeitnehmer, 6936/1/V/64-D, in: HAEU BAC006/1977–468, S. 26, 80; Zusammenfassender Bericht, V/5664/60-D, in: HAEU BAC 006/1977–462, S. 48. 41 Zusammenfassender Bericht, V/5664/60-D, in: HAEU BAC 006/1977–462, S. 50. 42 Ebenda, S. 40. 43 Vgl. ebenda. S. 48. 44 Vgl. ebenda, S. 50. 45 Vgl. Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft: Folgemassnahmen, 6936/ 1/V/64-D, in: HAEU BAC006/1977–468, S. 31.
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Hinzu kamen noch ca. 40.000 Familienangehörige.46 In den Niederlanden waren zwischen 1963 und 1965 zwischen 11 und 17 Prozent der ausländischen ArbeitnehmerInnen Frauen. Die Migrantinnen kamen meist in frauenspezifischen Branchen in der Textilindustrie, Bürokommunikation, Hausarbeit, Krankenpflege und im Hotel- und Gaststättengewerbe in Beschäftigung.47 Die Daten geben leider keinen Aufschluss über den Familienstatus der Migrantinnen. Viele unter ihnen waren sicher nachziehende Familienangehörige, die aufgrund des EWG-Rechts eine Arbeit aufnehmen konnten. Es ist aber auch vorstellbar, dass einige der Migrantinnen verheiratet waren und ihre Familie im Heimatland zurückließen. Dieses Phänomen war unter „Gastarbeiterinnen“ aus Nicht-EWG-Staaten weiter verbreitet, wie die Migration aus diesen Ländern allgemein umfangreicher war. Es verwundert jedoch, dass Migrantinnen in der Wahrnehmung der Kommission hauptsächlich ledige Arbeitnehmerinnen oder Familienmütter waren und die Probleme verheirateter, erwerbstätiger Migrantinnen im Dunkeln blieben. In den Mitgliedstaaten hingegen (z.B. BRD) provozierte die Arbeitsmigration verheirateter Frauen zu jener Zeit heftige Konflikte zwischen den Betrieben, den Vermitllungsstellen und den Arbeitnehmerinnen.48 Eine Ursache für das Schweigen über verheiratete Migrantinnen als Arbeitnehmerinnen kann darin gesehen werden, dass sich die Diskussion auf europäischer Ebene eng an nationalen Bewertungsmustern orientierte bzw. durch Akteure aus den Mitgliedstaaten geprägt war. Monika Mattes hat für die Bundesrepublik herausgearbeitet, dass die Erwerbsorientierung von Gastarbeiterinnen in den 1960er Jahren öffentlich nicht thematisiert wurde, weil dadurch das Frauen- und Familienleitbild herausgefordert worden wäre. Zwar wurde in den 1960er Jahren die Erwerbsarbeit verheirateter Frauen zunehmend akzeptiert, aber die zentrale Aufgabe von Ehefrauen sollte weiterhin die Familienarbeit sein. Verheiratete Migrantinnen, die oftmals stärker in die Erwerbsarbeit als in die care-Arbeit eingebunden waren, forderten dieses Leitbild heraus. Wie bereits gezeigt wurde, beharrten auch die KommissionsmitarbeiterInnen auf der Arbeitsteilung und dem Ernährermodell. Eine Auseinandersetzung mit der Situation der Arbeitsmigrantinnen hätte wohl auch zu einer Auseinandersetzung mit Geschlechterrollen und Familienleitbildern geführt, was von den KommissionsbeamtInnen aber nicht gewollt erschien.49
46 Vgl. Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Generaldirektion Soziale Angelegenheiten: 15157/V/67-D, in: HAEU BAC006/1970–470, S. 288f. 47 Vgl. Commission CEE, Direction générale des affaires sociales, Direction de la maind’œuvre, Division libre circulation: La libre circulation de la main-d’œuvre et les marchés du travail dans la CEE – 1966. Rapport établi en application des dispositions des articles 29 et 36 du règlement n°38/64 relatif à la libre circulation des travailleurs, Février 1966, in: HAEU CEAB 02–3320, S. 338, 362–364. 48 Vgl. Mattes, Monika: Gastarbeiterinnen in der Bundesrepublik. Anwerbepolitik, Migration und Geschlecht in den 50er bis 70er Jahren. Frankfurt/New York, 2005, S. 127–136. 49 Mattes kommt zu dem Schluss, dass Migrantinnen in der BRD Anfang der 1960er Jahre als ledige, gefährdete Gastarbeiterinnen thematisiert wurden und danach „jegliches Deutungsmo-
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Die BerichterstatterInnen stellten schließlich fest, dass in den Mitgliedstaaten eine bessere Eingliederung der MigrantInnen gewünscht werde und die Sozialdienste einen wesentlichen Beitrag dazu leisten konnten. Die EWG sahen sie in der Rolle, den nationalen Regierungen Impulse für die Weiterentwicklung und Zusammenarbeit der Sozialdienste für Wanderarbeitnehmer zu geben.50 Im Vordergrund sollte eine Politik stehen, die die Wahrung des bürgerlichen Familienideals ermöglichte: „Haupterfordernis [sei die] Einwanderung geschlossener Familien, da nur sie allein eine normale Lebensführung der ausländischen Arbeiter ermöglicht.“51 Auch der Erfolg der Integration wurde an den Familiennachzug gebunden.52 Die beschriebenen Geschlechterstereotype spiegelten sich auch in den Empfehlungen der BerichterstatterInnen wider. Um die Unzufriedenheit alleinreisender Männer zu reduzieren, sollten mehr Freizeiteinrichtungen geschaffen werden. Für alleinreisende Frauen sollten Wohnheime für ihren Schutz eingerichtet werden. Auch die Maßnahmen zur Integration basierten auf den beschriebenen Geschlechterleitbildern. In Frankreich organisierten Frauenverbände Veranstaltungen für Ehefrauen von Migranten, um sie als innerfamiliäre Multiplikatoren zu erreichen. In Belgien sollte die Integration von Migrantinnen über ihre Mutterrolle gelingen und die Mütterberatung für Ausländerinnen ausgebaut werden: „[…], denn alle [Belgierinnen und Migrantinnen] verbindet das gleiche Interesse, nämlich für ihr Kind […].“53 Die Berichte über die soziale Lage der Wanderarbeitnehmer zeigen einmal mehr, welche Bedeutung der Informationssammlung und Wissensproduktion in der Gemeinschaftspolitik zukam. Die AutorInnen konstruierten die Wanderarbeit als soziales Problem und ließen implizit normative Leitbilder von Familie und Geschlechterrollen einfließen. Die Berichte spiegelten vornehmlich die Sexualund Familienmoral aus nationaler Perspektive wider und bildeten die Grundlage für die Gemeinschaftspolitik. Denn es waren die aus nationaler Sicht beschriebenen sozialen Folgen der Arbeitsmigration, welche die Kommission durch Gemeinschaftsmaßnahmen abzufangen versuchte. Dabei bestätigte sie auch die Leitbilder, wie sie in den Berichten präsentiert wurden.54 Im Jahr 1962 legte die Kommission eine Empfehlung zur Arbeit der Sozialdienste für Wanderarbeitnehmer vor. Darin sah sie einen Beitrag zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen nach Art. 117 und 118 EWGV. Die
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dell“ hinter Themen wie Familiennachzug verschwand. Mattes: Gastarbeiterinnen, Frankfurt/New York 2005, S. 220, 223, 240, 242. Vgl. Zusammenfassender Bericht, V/5664/60-D, in: HAEU BAC 006/1977–462, S. 78–80. Ebenda, S. 73. Vgl. ebenda, S. 35–38, 49; Monographie néerlandaise, V/2141/60-F, in: HAEU BAC006/ 1977–461, S. 145. Bericht, V/5664/60-D, in: HAEU BAC 006/1977–462, S. 58 und allgemein S. 63. Vgl. Empfehlung der Kommission an die Mitgliedstaaten hinsichtlich der Tätigkeit der Sozialdienste für innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandernde Arbeitnehmer, Brüssel 23. Juli 1962, ABl 1962 Nr. 75, S. 2118–2122, http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do? uri=CELEX:31962H0816:DE:HTML, letzter Zugriff 03.01.2013.
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Empfehlung orientierte sich an europäischen und internationalen Standards, vor allem an der ILO-Konvention Nr. 97 und der ILO-Empfehlung Nr. 86. Eine weitere Referenz bildete die Europäische Sozialcharta, die bereits das Recht der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen auf Schutz und Betreuung bekräftigt hatte.55 Die Kommission empfahl den Regierungen 1.) den Ausreisewilligen und ihren Familien vor der Abreise die Konsultation einer SozialarbeiterIn zu ermöglichen, 2.) Familienzusammenführungen zu unterstützen (Sprache, Auskünfte über Sozialversicherung), 3.) im Gastland eine Beratung in der Muttersprache zu ermöglichen und Anpassungshilfen zu gewähren (Sprache, Kultur, Freizeit), 4) die Zusammenarbeit der Sozialdienste, auch bilateral, zu fördern, 5.) gemeinsame Ausbildungsstandards für Fachkräfte der Sozialdienste zu erarbeiten und schließlich 6.) den Austausch relevanter Informationen zu fördern.56 Wenngleich die Empfehlung auf die Lebenssituation von Familien abzielte, blieb offen, welcher Personenkreis damit gemeint war oder wie das Zusammenleben organisiert sein musste, um als Familie zu gelten. Es ist anzunehmen, dass jene Definition zu Grunde gelegt wurde, wie sie in anderen Rechtsakten festgehalten worden war (Vgl. Verordnung Nr. 3). Auch in der Begründung verwies die Kommission auf offenbar allgemein akzeptierte Normen. Die Kommission wolle durch die Empfehlung die Funktion der Familie stärken, sofern diese durch die Wanderarbeit beeinträchtigt werde. Sie betrachtete die Einheit der Familie als einen fundamentalen Wert: „Der Schutz der Familie, die Achtung ihrer wesentlichen Werte und vor allem ihrer Einheit, die Förderung ihres Wohlergehens und ihrer Entfaltung sind u.a. wichtige Ziele dieser Empfehlung.“57
Die Funktion und die Werte der Familie wurden an dieser Stelle nicht genauer definiert. Die Empfehlung kann jedoch als Beitrag verstanden werden, das Lebensmodell der bürgerlichen Kleinfamilie gegenüber alternativen Modellen (Doppelverdienerehe, Ein-Eltern-Familien) zu stärken. Dadurch wurde über die europäische Ebene das Geschlechterarrangement entgegen den soziokulturellen Entwicklungen in den Mitgliedstaaten bekräftigt. Wie auch andere sozialpolitische 55 Vgl. ebenda, S. 2118- 2122. 56 Vgl. Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Generaldirektion Soziale Angelegenheiten, Direktion für Soziale Sicherheit und Sozialdienste, Abteilung Sozialdienste: Vorentwurf für eine Beratung der Mitgliedstaaten in Angelegenheiten der Sozialhilfsorganisation für die Arbeitnehmer, die im Rahmen der Gemeinschaft den Arbeitsplatz wechseln, V/1657/61-D, in: HAEU BAC006/1977–463, S. 15–17; Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft: Entwurf einer an die Mitgliedstaaten gerichteten Stellungnahme zu der Tätigkeit der Sozialhilfeeinrichtungen für Arbeitnehmer, die innerhalb der Gemeinschaft zuund abwandern, (Mitteilung der Kommission), V/KOM (61) 113 endg., Brüssel 23.10.1961, in: HAEU BAC006/1977–463, S. 157–162. 57 Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft: Folgemassnahmen, 6936/1/V/64-D, in: HAEU BAC006/1977–468, S. 17; Vgl. allgemein Commission CEE, Direction Générale des Affaires Sociales: Communications: „Cycle d’étude européen sur l’assistance sociale aux migrants“, Madrid du 2 au 10 avril 1964, V/3913/64-F, in: HAEU BAC006/1977–466 S. 14.
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Initiativen basierte die Empfehlung auf dem Haupternährer-Modell und trug zu dessen Institutionalisierung im Gemeinschaftsrecht bei. Wie die nationalen Berichte erfasste auch die Empfehlung Frauen vornehmlich in der Mutterrolle und nicht als Arbeitnehmerinnen. Dies zeigte sich u.a. daran, dass keine Maßnahmen zur Integration der Migrantinnen in den Arbeitsmarkt (z.B. Kinderbetreuung) vorgesehen wurden.58 Zudem wurde eine doppelte Abhängigkeit konstruiert. Weibliche Familienangehörige wurden nicht nur als Abhängige des Haupternährers gesehen, sondern auch als Empfängerinnen staatlicher Hilfsmaßnahmen: „den von den Familienvätern getrennten Familien [ist]: a) dabei zu helfen, sich auf die Zusammenführung der Familie vorzubereiten, und zwar sowohl in psychologischer wie in sprachlicher Hinsicht (wobei für Mutter und Kinder, vor allem wenn es sich um Jugendliche handelt, besondere psychologische Probleme auftauchen); b) bei längerer Trennung die für die Wahrung des Familienzusammenhalts unerläßliche [sic!] Hilfe zu leisten, die Zusammenführung zu unterstützen und über die Sozialgesetzgebung und ihre Möglichkeiten Aufklärung zu geben.“59
Für die Umsetzung der Empfehlung zeichneten die Nationalstaaten verantwortlich und auch diese konzentrierten Maßnahmen für Frauen auf die Mutterrolle, insofern überhaupt frauenspezifische Hilfen angeboten wurden. In Frankreich wurden zur Umsetzung der Empfehlung z.B. Sprachkurse, Haushalts- und Säuglingspflegekurse für die Ehefrauen der Wanderarbeitnehmer angeboten. In Belgien zielten die Maßnahmen für Angehörige der Wanderarbeitnehmer ebenfalls auf die häuslich-fürsorglichen Kompetenzen. Dort wurden Entbindungsheime und Kinderkrippen errichtet, die Mütterberatung ausgebaut und Haushaltsschulen für Frauen und Töchter eröffnet. Die Beratungsangebote für Ehefrauen konzentrierten sich auf „weibliche Kernaufgaben“ wie Pflege, Haushalt und Ernährung.60 Der Blick nach Luxemburg zeigte hingegen, dass die Rolle von Frauen im Migrationsprozess auch von der Beschäftigungslage in den Mitgliedstaaten abhing. Dort wurden Ehefrauen von Wanderarbeitnehmern beispielsweise auch als potentielle Arbeitnehmerinnen betrachtet. Sie sollten in der Aufnahme einer Halbtagsbeschäftigung unterstützt werden, um so als Zuverdienerinnen die finanziellen Herausforderungen der Migration bestreiten zu können.61 Der geschlechterstereotype Blick auf Ehefrauen von Wanderarbeitnehmern blieb in der nationalen Arbeit der Sozialdienste bestehen. Die Umsetzung der Empfehlung orientierte sich auch in den Folgejahren an der Mutterrolle. Die größte Herausforderung sahen die Sozialdienste in der Zunahme binationaler Eheschließungen und den unehelichen Geburten von Kindern ausländischer Väter. Daraus sahen sie Konsequenzen für das Ehe- und Familienrecht erwachsen. Die 58 Vgl. Empfehlung der Kommission an die Mitgliedstaaten, Brüssel 23. Juli 1962, ABl 1962 Nr. 75, S. 2118- 2122, http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX: 31962H0816:DE:HTML, letzter Zugriff 03.01.2013. 59 Ebenda. 60 Vgl. Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft: Folgemassnahmen, 6936/1/ V/64-D, in: HAEU BAC006/1977–468, S. 26, 49, 62. 61 Vgl. ebenda, S. 102, 106.
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KommissionsmitarbeiterInnen hingegen fragten ab Mitte der 1960er Jahre in Hinblick auf die Arbeit der Sozialdienste zunehmend nach der Situation der Migrantinnen als Arbeitnehmerinnen. Möglicherweise rührte das Interesse aus den laufenden Arbeiten der anderen Kommissionsdienste zum Thema Frauenerwerbsarbeit. Jedoch lassen sich zu diesem Zeitpunkt keine Initiativen der Kommission feststellen, die Themen Frauenarbeit und Migration programmatisch zu verbinden.62 2. SOZIALPOLITIK ALS FAMILIENPOLITIK? Die Politik in Hinblick auf die Wanderarbeitnehmer kann durchaus auch als Politik mit familienpolitischem Gehalt betrachtet werden. Für die Anfangsphase der EWG scheint es auf den ersten Blick nicht möglich von einer genuinen Familienpolitik zu sprechen, da der EWGV keinerlei Kompetenzen vorsah. Zudem sollte nicht vergessen werden, dass es sich um ein Politikfeld handelte, dessen Institutionalisierung selbst in den Mitgliedstaaten noch nicht abgeschlossen war. Versteht man Familienpolitik allerdings als „[…] die Gesamtheit von Maßnahmen, Aktivitäten und Entwicklungen, die geeignet sind, familiale Leistungen zu schützen, zu stärken und gesellschaftlich angemessen zu bewerten. [Und] der Besonderheit familialer Leistungspotentiale, Probleme und Bedürfnisse in modernen Industriegesellschaften Rechnung [zu]tragen“63,
so können Ansätze einer solchen Politik auch auf Gemeinschaftsebene nachgezeichnet werden. Entgegen der Darstellung in der Forschungsliteratur erwuchs das familienpolitische Interesse der Kommission nicht erst in den 1980er Jahren auf Druck des Europäischen Parlaments. Familienprobleme wurden bereits in den 1960er Jahren auf die EWG-Agenda gesetzt. Die Kommission war bemüht, die Lebensumstände von Familien zu erfassen und zu verbessern. Ein Großteil dieser Anstrengungen umfasste die Angleichung der Familienbeihilfen wie sie bereits beschrieben wurde.64 Zwei Ursachen scheinen zentral, um das familienpolitische Engagement der Kommission in den frühen 1960er Jahren zu erklären. Familienfragen wurden in den 1950er Jahren in den Nationalstaaten zunehmend in politischen Entscheidungen berücksichtigt. Symbolisch für diese Entwicklung steht die Institutionalisie62 Vgl. Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Generaldirektion Soziale Angelegenheiten: 15157/V/67-D, in: HAEU BAC006/1970–470, S. 271–273, 322. 63 Krüsselberg: Ethik, Vermögen und Familie, Stuttgart 1997, S. 276. 64 Vgl. als Beispiel für eine solche Darstellung Dienel, Christiane: Eltern, Kinder und Erwerbsarbeit: Die EU als familienpolitischer Akteur, in: Leitner/Ostner/Schratzenstaller (Hg.): Wohlfahrtsstaat und Geschlechterverhältnisse, Wiesbaden 2004, S. 285–307, bes. S. 286– 291. Dienel konstatiert, dass die Familie als Politikfeld vom Ministerrat bis Ende der 1990er Jahre ignoriert worden sei. Erst die Charta der Grundrechte der Europäischen Union aus dem Jahr 2000 habe familienpolitische Fortschritte gebracht. Vgl. auch Hantrais: Social Policy, London u.a. 1995, S. 79–81; Gerlach, Irene: Familienpolitik, Wiesbaden 22010. S. 261f., 359–362.
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rung des Bereichs in Form von Regierungsbehörden in allen EWG-Mitgliedstaaten außer Italien. Ein zentrales Thema dieser Jahre waren wirtschaftliche und soziale Maßnahmen zum Ausgleich der Familienlasten. Damit traten bevölkerungspolitische Ziele in der Familienpolitik hinter die unterstützenden Gedanken und Motive wie Generationenausgleich und „ausgleichende Gerechtigkeit“ zurück.65 Die EWG-Mitgliedstaaten bekundeten ab den späten 1950er Jahren zunehmend Interesse, sich über familienpolitische Entwicklungen auszutauschen. Gelegenheit dafür bot z.B. die Familienministerkonferenz in Wien im September 1959, die gewissermaßen den offiziellen Startpunkt für die familienpolitischen Initiativen der EWG setzen sollte. Die Minister beschlossen einen regelmäßigen Austausch über Familienfragen und Beratungen über eine Angleichung der Familiengesetzgebung. Als Familienpolitik wurden solche Initiativen definiert, „welche die materiellen und die moralischen Interessen der Familien zu wahren und zu begünstigen geeignet sind.“66 Der Kommission wurde nach EWGV Art. 118 die Aufgabe zugesprochen, den Informationsaustausch zu organisieren und die Entwicklung der Gesetzgebung zu begleiten bzw. zu fördern. Das Engagement der Kommission kann folglich auf den direkten Wunsch der RegierungsvertreterInnen zurückgeführt werden. Aber auch von zivilgesellschaftlicher Seite erfuhr die Kommission Unterstützung und Anregung.67 2.1 Die Zusammenarbeit mit Familienverbänden Bereits in der Zwischenkriegszeit hatten gut organisierte Familienverbände versucht, Einfluss auf die nationale und internationale Politik auszuüben. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden diese Bestrebungen fortgesetzt, maßgeblich durch die 1948 gegründete Union Internationale des Organismes Familiaux (UIOF). Standen zunächst noch die Lebenssituation kinderreicher Familien und pronatalistische Bestrebungen im Vordergrund, verschob sich das Tätigkeitsfeld der UIOF zunehmend zu Themen wie den allgemeinen Lebensbedingungen von Familien, Familienbudget, Bildung und Wohnen. Aufgrund der Themenvielfalt gelang es, eine breite Basis von Mitgliedsverbänden in der UIOF zusammenzufassen, z.B. Familienverbände, SozialexpertInnen, nationale Verwaltungsgremien, Frauenorganisationen und sogar EugenikerInnen. Im Jahr 1960 waren bereits 220 Organisationen aus 40 Ländern unter dem Dach der UIOF vereinigt, so dass selbstbewusst behauptet wurde, der Verband vertrete als einzige Organisation „sämtliche Familieninteressen unmittelbar auf Weltebene“.68 65 Vgl. Kommission: Anlage zum Dritten Gesamtbericht, [Brüssel] 1960, S. 268. 66 Ebenda, S. 269. 67 Vgl. Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, V/2903/60-D, in: HAEU BAC 008/1969–19, S. 392. 68 Ebenda, S. 414.
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Diese Selbsteinschätzung wurde wohl auch durch die Wertschätzung seitens internationaler Regierungsorganisationen gestärkt. Aufgrund ihres umfangreichen ExpertInnenwissens erhielt die UIOF z.B. beim Wirtschafts- und Sozialrat der UNO bereits 1948 den konsultativen Status (Kategorie B). Später folgte der Beobachterstatus bei der UNESCO, ILO, FAO, UNICEF und dem Europarat. Die Zusammenarbeit mit der ILO ergab sich beispielsweise aus dem gemeinsamen Interesse am Lebensstandard von Familien. Die ILO war seit den frühen 1950er Jahren bestrebt, dieses Thema zu besetzen und internationale Standards der Familienpolitik zu etablieren. Die UIOF ergänzte die ILO-Bemühungen durch eigenständige Untersuchungen und Konferenzen, die einen anderen Schwerpunkt als die „technokratischen“ Untersuchungen der ILO setzten, z.B. auf Bildung und Freizeit.69 Im Laufe der 1950er Jahre richtete die UIOF ihren Fokus dann stärker auf das Lebensniveau der europäischen Familien und bemühte sich um einen Ausbau und die Vereinheitlichung der Familienbeihilfen in Europa.70 Um dieses Ziel zu erreichen, wandten sich UIOF-Mitglieder auch an den neuen europäischen Akteur, die EWG. Die EWG-Institutionen nahmen ihrerseits die Kontaktaufnahme wohlwollend an. Bereits ab 1958 lässt sich eine Zusammenarbeit nationaler Familienpolitiker, der EWG-Kommission und der UIOF sowie ihrer assoziierten Organisationen beobachten. Die Konferenz der Minister für Familienfragen (für Italien erschien der Minister für Arbeit und Sozialfürsorge) am 10. Oktober 1959 in Wien fand beispielsweise unmittelbar im Anschluss an einen UIOF-Kongress statt.71 Der Kongreß in Wien bot vor allem die Gelegenheit, Kontakt zu KommissionsvertreterInnen aufzunehmen bzw. zu vertiefen. Nachdem VertreterInnen der Kommission nachdrücklich ihr Interesse an einer Zusammenarbeit mit den Familienverbänden bekundet hatten, kamen verschiedene Treffen zwischen MitarbeiterInnen der DG V und VertreterInnen der Familienorganisationen zu Stande, u.a. zum Thema Familienbeihilfen.72 69 Vgl. Capuano: Réseaux familialistes, Université de Genève, 7–9 mai 2009, http:// www.unige.ch/ieug/recherche/colloques/ILO/CAPUANO.pdf, letzter Zugriff, 03.01.2013. Innerhalb der ILO versuchte auch die Abteilung für Frauenarbeit die FamilienbudgetErhebungen mitzugestalten. Es wurde angemerkt, dass der Beitrag von Frauen als Erwerbstätige und Hausfrauen zum Familienbudget berücksichtigt werden müsse. Vgl. Schreiben von Figueroa an Myers vom 17.05.1955: Women’s and young workers Division’s Comments on Family Living Studies, in: HAILO DADG 13–109 J.2, o.S. 70 Institutionell fand diese Schwerpunktsetzung ihren Ausdruck 1958 in der Konstituierung eines Europäischen Aktionsausschusses anlässlich der europäischen Familienministerkonferenz. 1979 entstand daraus die Confederation of Family Organizations in the European Community (COFACE) als eigenständige Organisation. Vgl. Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, V/2903/60-D, in: HAEU BAC 008/1969–19, S. 414. 71 Vgl. Schreiben von J. van der Meulen, Représentation permanente de la Belgique auprès des Communautés européennes an Monsieur Calmes, Secrétaire générale des Conseils des ministres des Communautés Européennes, vom 16.10.1959, in: HAEU CM2/1959–45, o.S. 72 Die Kommission und die UIOF waren bereits in Hinblick auf die Wohnungssituation in der EWG in Kontakt gekommen. Beiderseits wurden Arbeitspapiere und Dokumentationen ausgetauscht und die UIOF hatte der Kommission eine Vertiefung der Zusammenarbeit
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Die Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den Familienverbänden wurde in der Folgezeit noch intensiviert. In familienpolitischen Debatten schien der Beitrag zivilgesellschaftlicher AkteurInnen einen hohen Stellenwert zu genießen. Deutlich wurde das beispielsweise an einem für Januar 1960 von der Abteilung Soziale Dienste der GD für Soziale Angelegenheiten geplanten Treffen zum Thema Familienfragen. Dazu sollten neben VertreterInnen der Fachministerien auch Familienverbände und Gewerkschaften eingeladen werden. Bereits personell zeigte sich dabei eine starke Einbindung von NichtregierungsexpertInnen: Von 24 eingeladenen ExpertInnen kamen 16 für NGOs.73 Auch inhaltlich wurden die VertreterInnen der Familienorganisationen gleichberechtigt eingebunden. Die Tagung sollte dem Gedankenaustausch über die Entwicklungen der nationalen Familienpolitiken und über die Ziele der EWG auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit, der Familienbeihilfen, der Berufsbildung, der Freizügigkeit und der Wohnungsfragen dienen. Die TeilnehmerInnen sollten dann einen Arbeitsplan für die Kommission erstellen, in welchen familienpolitischen Themen der Informationsaustausch und die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten besonders gefördert werden sollte. Auch auf dieser Tagung galt das besondere Interesse den Familienbeihilfen und Maßnahmen zur Entlastung von Familien.74 Auf der Veranstaltung wurden auch Möglichkeiten erörtert, wie die Familienverbände Einfluss auf die EWG-Politik nehmen könnten, da die EWG – anders als die UN-Organisationen – keinen Beobachterstatus vorsah. Stattdessen bestand die Möglichkeit, über die Versammlung bzw. den Wirtschafts- und Sozialausschuss oder über die Nationalregierungen auf die Entscheidungen einzuwirken. Die Kommission zeigte noch eine weitere „einfach[e]“ aber „durchaus erfolgversprechend[e]“75 Möglichkeit auf: die persönliche Kontaktaufnahme zu den Dienststellen der Kommission. Die Kontakte in die EWG-Kommission sollten über die Geangeboten Vgl. Schreiben des Präsidenten der Association Allemande de la Famille an Guy de Muynck, DG des Affaires Sociales CEE, vom 28.09.1959, in: HAEU BAC 008/1969–19, S. 3f.; Vgl. auch das Antwortschreiben von Guy de Muynck an den Präsidenten des Deutschen Familienverbandes Herrn Umstaeter, Vizepräsident der U.I.O.F, vom 27.10.1959, in: HAEU BAC 008/1969–19, S. 8. Aus den Schreiben geht hervor, dass Umstaeter Mitglied des Wirtschafts- und Sozialaussschusses der EWG/EURATOM war. Umstaeter bat um ein Treffen mit Carlo Ramacciotti (Abteilungsleiter) und Geneviève Sauvage. Sauvage war in der Abteilung Sozialdienste verantwortlich für das Arbeitsfeld Familienfragen. Außerdem kam es am 19.10.1959 zu einem Treffen zwischen Ribas und Xavier Ryckmans.Vgl. Schreiben von Ribas an Ryckmans vom 10.10.1959, in: HAEU BAC 008/1969–19, S. 6; Schreiben von Mlle Sauvage an Robert Boudet, Directeur des Services de l’U.I.O.F., vom 15.10.1959, in: HAEU BAC 008/1969–19, S. 7. 73 Vgl. Lambert, Directeur: Note pour Monsieur Petrilli, Président de Groupe des Affaires Sociales, 06.01.1960, in: HAEU BAC 008/1969–19. S. 87f. 74 Vgl. Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Generaldirektion für Soziale Angelegenheiten, Direktion für Soziale Sicherheit und Sozialdienste, Abteilung Sozialdienste: Tagesordnung: Tagung über Familienfragen am 25./26.01.1960, V/5385/59-D, in: HAEU BAC 008/1969–19, S. 83f. 75 Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, V/2903/60-D, in: HAEU BAC 008/1969–19, S. 418.
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neraldirektion für Soziale Angelegenheiten erfolgen. An dieser Stelle könnte zwischen den Sachverständigen der UIOF und VertreterInnen anderer Direktionen vermittelt werden, wenn deren Arbeitsgebiete Berührungspunkte mit der UIOF aufwiesen. Damit wurden „inoffizielle“ Wege der Zusammenarbeit beschritten mit dem klaren Ziel der Einflussnahme.76 Belege zeigen, dass es nicht nur bei den Kooperationsversprechen blieb und VertreterInnen der Familienorganisationen offensiv versuchten, über bestehende Kontakte Fühlung zu höherrangigen BeamtInnen aufzunehmen und ihre Anliegen vorzutragen. So versuchte bereits 1960 der Präsident der französischen Union Nationale des Associations Familiales (UNAF), Levi Sandris Kabinettschef Lamberto Lambert in Sachen Berufsbildung zu sprechen.77 Es lässt sich vermuten, dass die Kommission die Zusammenarbeit forcierte, weil die Expertise der Interessenverbände für einen zentralen Politikbereich unersätzlich war. Die KommissionsbeamtInnen wiesen explizit darauf hin, wie wichtig die Zuarbeit und das ExpertInnenwissen der Familienverbände und Gewerkschaften für sie war. Die Expertise der Familienverbände konnte möglicherweise auch einen Ersatz für das Wissen der ILO-ExpertInnen liefern, die zunehmend aus der sozialpolitischen Arbeit der EWG herausgehalten werden sollten. Über die Familienverbände konnte die Kommission Kenntnisse über die sozialen Problemlagen und Anliegen der Bevölkerung und ihrer InteressenvertreterInnen erhalten: „[…] elle [La Commission] a des contacts suivis avec les grandes organisations internationales, gouvernementales et non-gouvernementales. […] c’est par ces moyens, […], que la Commission restera à l’écoute des besoins des différentes catégories de la vie économique et sociale.“78
Die Kommission versprach sich aus der Kooperation mit zivilgesellschaftlichen AkteurInnen auch eine gestärkte Position im EWG-Gefüge. Als die Gemeinschaft im Jahr 1963 infolge der gescheiterten Beitrittsverhandlungen mit Großbritannien eine institutionelle Krise durchlief, bekräftigte die Kommission die Bedeutung der Zusammenarbeit nachdrücklich. Im Laufe der Beitrittsverhandlungen hatten sich erhebliche Divergenzen zwischen den Mitgliedstaaten über die Konzeption der EWG gezeigt. Der Konflikt verunsicherte die Kommission wiederum hinsichtlich der Zukunft einiger ihrer Initiativen und des Integrationsprozesses. Die KommissionsvertreterInnen hofften daher, dass die Institutionen bald zu ihrer normalen Arbeitsweise zurückfinden und durch eine Festsetzung der politischen Ziele der Integration Planungssicherheit gegeben werden könnte. In dieser heiklen Situation besann sich die Kommission auf die verfügbare Unterstützung. Levi-Sandri betonte bspw., dass eine Demokratisierung der EWG (Stärkung des EP) und die Einbeziehung der Bevölkerung langfristig helfen könnten, die Kommissionsarbeit abzu76 Vgl. ebenda, S. 441. 77 Vgl. Mlle Sauvage, Note à l’attention de M. Ribas, Objet: Viste, le 25 janvier 1960 de M. Guibourge, President de l’U.N.A.F. à Monsieur Lambert, pour les question d’orientation professionnelle, 22.01.1960, in: HAEU BAC 008/1969–19, S. 137. 78 Ribas, Jacques Jean: Etudes, in: Familles dans le monde, Bd. 13, 1960, Nr. 2/3, S. 91–93, hier S. 105.
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sichern. Die Bemühungen der Familienverbände galten ihm als besonders wichtiger Beitrag zum Gelingen der Integration. Einerseits, weil die Familienorganisationen über notwendiges Wissen und Expertise verfügten, sich auf europäischer Ebene zu vernetzen und Forderungen an die Politik heranzutragen. Andererseits leisteten die Familienverbände einen Beitrag zur Integration, weil sie dem Integrationsprojekt in den kleinsten gesellschaftlichen Einheiten „cette cellule fondamentale et essentielle de la société que constitue la famille“ Rückhalt boten.79 Die Familienverbände hatten andererseits ein besonderes Interesse an der Zusammenarbeit mit den EWG-Organen, weil sie im EWGV eine familienpolitische Lücke sahen. Auf dem 1960 von der Kommission organisierten ExpertInnentreffen konnten sie ihre Kritik und Forderungen vortragen.80 Der Gründungsvertrag stellte ihrer Ansicht nach auf ökonomische Aspekte ab und war sozialrechtlich auf das Individuum ausgelegt. Die sozialpolitischen Bestimmungen erfassten daher nur den Einzelnen in seiner Funktion als Arbeitnehmer, als „homo oeconomicus“ losgelöst von seiner sozialen und familiären Bindung. Daher wurden Familien vor allem in ihrer Rolle als Verbraucher nicht bedacht. Es stehe aber zu befürchten, dass der Gemeinsame Markt den VerbraucherInnen nicht automatisch Nutzen bringen werde. Die VertreterInnen der Familienverbände kritisieren außerdem, dass die Familiensituation der WanderarbeitnehmerInnen im EWGV nicht berücksichtigt werde und dringliche Probleme des Familiennachzugs nicht bedacht wurden. Sie baten die Kommission daher, auch hinsichtlich des Zugangs zu Bildung und Wohnraum Gleichheit zwischen Inund Ausländern zu schaffen. Auch die Arbeitsbelastung von Hausfrauen versuchten die Familienverbände auf die Kommissions-Agenda zu setzen. „[…] die Unterstützung der Hausfrauen und Mütter [stellt] eines der wichtigsten Familienprobleme“81 dar. Auf die Ursachen dieses „Familienproblems“ wurde nicht weiter eingegangen, wohl aber auf Lösungsvorschläge. So sollten staatliche und privat organisierte Haushaltshilfen ausgebaut werden.82 Wenngleich anhand der Quellen keine direkte Einflussnahme der Familienverbände nachgewiesen werden kann, so fällt doch auf, dass sich die Kommission vieler Kernthemen der UIOF annahm, insofern es der EWGV zuließ. Zudem ist nicht auszuschließen, dass die KommissionsmitarbeiterInnen in den informellen und daher kaum dokumentierten Kontakten zu VertreterInnen der Familienverbände ihre familienpolitischen Konzepte entwickelten.
79 Discours prononcé par Monsieur le Professeur Lionello Levi-Sandri, 5835/X/63-F, in: HAEU BAC 007/1967–1, S. 255; Vgl. auch Läufer, Dirk: Krisen in den europäischen und atlantischen Organisationen. 1974, S. 163–193. Läufer stellte heraus, dass die EWG-Organe aus der Krise gestärkt hervor gingen, da sie im Krisenmanagement eine vermittelnde Rolle übernommen hatten. So konnte auch die Kommission ihre Position festigen. 80 Vgl. J. Gilles: L’Europe sera-t-elle familiale?, in: Le Ligueur. L’hebdomadaire de la famille, 18.03.1960, Nr. 12, in: HAEU BAC 008/1969–19. S. 261f. 81 Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, V/2903/60-D, in: HAEU BAC 008/1969–19, S. 406. 82 Ebenda, S. 408- 414, 428f.
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2.2 Familienpolitische Vorstellungen der Kommission Die Kommission entwickelte ein familienpolitisches Konzept, dass dem der UIOF auffallend ähnlich war. Die Familie sei in erster Linie eine Wirtschafts- und Verbrauchseinheit, die in ihrer Konsumentenrolle politisch gestärkt werden und Gegenstand der gemeinschaftlichen Sozialpolitik sein müsse: „Das Interesse der Kommission an diesen Fragen liegt darin begründet, dass eine moderne und realistische Sozial- und Wirtschaftspolitik das soziologische, soziale und wirtschaftliche Phänomen der Familie und ihrer besonderen Lebensbedingungen nicht übergehen kann.“83
Die Kommission sah eine wichtige Aufgabe darin, die (finanziellen) Belastungen der Familien zu reduzieren und somit auf eine Steigerung des Lebensniveaus hinzuwirken. Nur indem die Familienlasten begrenzt blieben, könne die Familie ausreichend am Wirtschaftsleben (durch Konsum) teilhaben und zum Wirtschaftswachstum beitragen. Personen, die familiäre Verantwortung übernahmen, durften z.B. durch höhere finanzielle Belastungen nicht in eine sozial schlechtere Lage geraten. Damit wurde das Gleichheits- und Fortschrittsversprechen des EWGVs auf eine weitere Bevölkerungsgruppe ausgedehnt.84 Familieninteressen sollten und konnten nicht in einem eigenständigen Politikfeld behandelt werden. Stattdessen sollten sie in jenen Politikbereichen berücksichtigt werden, die eine Auswirkung auf das Lebenshaltungsniveau hatten. Dazu zählten beispielsweise die Lohnpolitik, der Verbraucherschutz, die Steuerpolitik, der Wohnungsbau und die soziale Sicherheit. Auch die Agrarpolitik wies eine familienpolitische Dimension auf. Die Kommission versuchte, durch die Gemeinschaftspolitik die Folgen des Strukturumbruchs in ländlichen Regionen zu minimieren und auf die Lebensbedingungen der ländlichen Familien einzuwirken. Bevölkerungspolitische Interessen, die in den familienpolitischen Konzepten der Mitgliedstaaten noch immer eine Rolle spielen mochten, spiegelten sich in der Konzeption kaum wider.85 Beschäftigungspolitik als Familienpolitik Neben der Freizügigkeitspolitik nahm in der Vorstellung der Kommission auch die allgemeine Beschäftigungspolitik Einfluss auf die Lebenssituation von Familien. Die Steigerung der Erwerbsquoten müsse indirekt auch die Einkommenssituation und Lebensbedingungen von Familien verbessern. Regionalpolitische Maßnahmen zur Beseitigung der strukturellen Arbeitslosigkeit und eine gemeinschaftliche Berufsberatungs- und Ausbildungspolitik zur Vorbeugung der „technologischen“ Arbeitslosigkeit wurden daher als familienpolitische Momente präsentiert.
83 Ebenda, S. 390. 84 Vgl. ebenda, Einführung. 85 Vgl. Discours prononcé par Monsieur le Professeur Lionello Levi-Sandri, 5835/X/63-F, in: HAEU BAC 007/1967–1, S. 250f.
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Auch der Beschäftigungspolitik – in ihrer familienpolitischen Dimension – lag das Breadwinner-Modell zu Grunde. Die Kommission ging davon aus, dass das Lebensniveau von Familien entscheidend von der Position des Familienoberhaupts am Arbeitsmarkt beeinflusst wurde. Die Wirkmächtigkeit dieses Familienbildes spiegelte sich auch in den Arbeitsmaterialien der Kommission wider. So gab sie beispielsweise Statistiken in Auftrag, die Aufschluss über die aktive Bevölkerung in der EWG geben sollten und über die Personen, die von diesen abhängig waren („révéler les personnes à la charge du chef de famille“). Im Zusammenhang mit ihrem Interesse an Familienfragen verlangte die Kommission aber auch schon 1960 nach Informationen über die Erwerbstätigkeit von Frauen, um die Entwicklung der Frauenerwerbsquote in den Beschäftigungsprognosen berücksichtigen zu können.86 Berufsbildung und Europäischer Sozialfonds (ESF) Als zentraler Politikbereich, der Auswirkungen auf die Lebensbedingungen von Familien hatte, wurde im Kontext der Freizügigkeit die Schul- und Berufsbildung und die Berufsberatung von der Kommission erfasst.87 Der Zusammenhang zwischen bildungs-, sozial- und familienpolitischen Maßnahmen wurde durch die 1961 erlassene Verordnung Nr. 15 bekräftigt. Darin wurde festgehalten, dass die Themen Freizügigkeit, Beschäftigung und Berufsausbildung nicht mehr getrennt voneinander behandelt werden sollten und stattdessen in ihrer „wechselseitigen Abhängigkeit“ geprüft werden müssten.88 Die Wechselseitigkeit der Politikbereiche wurde dann beispielsweise auch in der Empfehlung hinsichtlich der Sozialdienste herausgestellt: „Gleichzeitig stellte sich heraus, daß [sic!]geeignete Maßnahmen und Methoden einer Sozialpolitik, die vor allem die Berufsausbildung und die Wohnungsbeschaffung berücksichtigt, viel dazu beitragen konnten, den in ein fremdes Land kommenden Arbeitnehmern und ihren Familien möglichst günstige Lebens- und Arbeitsbedingungen zu sichern.“89
Bereits 1960 bekräftigte die EWG-Kommission, dass auch der Europäische Sozialfonds als Mittel der Familienpolitik eingesetzt werden könnte.90
86 Vgl. Ribas, Jacques Jean: Etudes, in: Familles dans le monde, Bd. 13, 1960, Nr. 2/3, S. 91– 93. 87 Vgl. ebenda, S. 91f., 99; Kommission: Anlage zum Dritten Gesamtbericht, [Brüssel] 1960, S. 268; Discours prononcé par Monsieur le Professeur Lionello Levi-Sandri, 5835/X/63-F, in: HAEU BAC 007/1967–1, S. 247. 88 Vgl. Verordnung Nr. 15 über die ersten Maßnahmen zur Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft, ABl 1961 Nr. 57, S. 1073–1084, hier S. 1074. 89 Empfehlung der Kommission an die Mitgliedstaaten, Brüssel 23. Juli 1962, ABl 1962 Nr. 75, S. 2118–2122, http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:31962H0 816:DE:HTML, letzter Zugriff 03.01.2013. 90 Vgl. Ribas, Jacques Jean: Etudes, in: Familles dans le monde, Bd. 13, 1960, Nr. 2/3, S. 91f., 99.
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Der ESF wurde zunächst als Art Ausgleichsfonds eingerichtet. Die Kommission konnte über die Vergabe der Mittel jedoch nicht selbst entscheiden. Stattdessen konnten die Mitgliedstaaten eine teilweise Kostenerstattung jener Maßnahmen beantragen, durch welche die europäische Beschäftigungsstrategie umgesetzt werden sollte. In der ersten Phase des ESF (1961–1972) standen die Aus- bzw. Weiterbildung arbeitsloser ArbeitnehmerInnen und Anpassungsbeihilfen im Vordergrund. Der Fonds konnte in jenen Fällen beansprucht werden, da ArbeitnehmerInnen infolge des Strukturwandels ihren Arbeitsplatz wechseln mussten. Als Empfänger der Mittel wurden vor allem männliche Arbeitnehmer konzipiert. Die Kommission hatte angedacht, dass die Anpassungsbeihilfen aus den Mitteln des ESF aufgestockt werden konnten, wenn der Arbeitnehmer Angehörige zu unterhalten hatte („personnes à sa charge“). In Form des ESF bestand damit ein Gemeinschaftsinstrument, durch welches das nationale Modell des Versorgerstaates und das Ernährermodell auf europäischer Ebene stabilisiert wurden. Die Gemeinschaftsmittel konnten wie im nationalen Wohlfahrtsstaat in Fällen sozialer Notlagen eingesetzt werden und Versorgungslücken füllen, wenn der Arbeitnehmer selbst nicht in der Lage war, für den Unterhalt seiner Familie aufzukommen.91 ZWISCHENFAZIT Mit dem Aufbau des Gemeinsamen Marktes erwuchsen soziale Problemlagen, auf die das Gemeinschaftsrecht reagieren musste. Die Kommission konzipierte die Freizügigkeitspolitik im Laufe der 1960er Jahre als Teil der Beschäftigungs- und Sozialpolitik. Die Arbeitsmigration wurde als wichtiger Faktor für das Binnenmarktprojekt verstanden, da sie zum Wirtschaftswachstum und der Produktivitätssteigerung beitragen konnte. Zugleich sollten ArbeitnehmerInnen durch die Migration ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen verbessern können und vom Integrationsprojekt profitieren. Tatsächlich waren viele ArbeitsmigrantInnen jedoch mit einer Verschlechterung ihrer Lebenslage konfrontiert, da sie beispielsweise unter schlechteren Bedingungen wohnten und arbeiteten als die StaatsbürgerInnen im Aufnahmeland. Die Alltagserfahrung widersprach damit dem Gleichheits- und Fortschrittsversprechen der EWG. Anhand der Freizügigkeitspolitik kann nachvollzogen werden, wie dieses Versprechen in den Gemeinschaftsinitiativen konzipiert wurde.92 Durch die Freizügigkeitspolitik, insbesondere durch die Angleichung der Sozialversicherungsbestimmungen, wurde das Territorialitätsprinzip aufgelöst und das Gleichheitsversprechen nicht mehr allein an die Staatsbürgerschaft, sondern 91 Vgl. ebenda, S. 96–98; Vgl. allgemein zur Entwicklung des ESF Brine, Jacqueline: The European Social Fund and the EU, London 2002; Mechi: Stabilisation sociale, in: Preda/Pasquinucci (Hg.): The Road Europe travelled along, Brüssel u.a. 2010, S. 353–366. 92 Die Grundlagen einer Freizügigkeitspolitik als Maßgabe für die Kommission wurden 1965 vom Beratenden Ausschuss für Freizügigkeit der Arbeitnehmer und Beschäftigten aufgestellt. Vgl. Mitteilung an die Presse vom 26.02.1965, Grundlagen einer Politik der Freizügigkeit der Arbeitnehmer in der Gemeinschaft, IP(65)38, in: HAEU CEAB02-003320, S. 246.
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an den Arbeitnehmerstatus im Binnenmarkt gekoppelt. Zudem wurde das Gleichheitskonzept durch die Beschäftigungs- und Freizügigkeitspolitik auf Familien erweitert. Gemeinschaftsinitiativen im Bereich der sozialen Sicherheit, der Sozialdienste, des ESF zielten explizit auf die Verbesserung der Lebenssituation von Familien ab und können daher als familienpolitische Maßnahmen verstanden werden. Dabei wurde in der Analyse der Freizügigkeitspolitik deutlich, dass die Gemeinschaftsinitiativen von nationalen und internationalen Standards und Leitbildern geprägt waren. Zum einen ist dieser Transfer darauf zurückzuführen, dass die EWG-Institutionen kein genuin europäisches (gemeinschaftliches) Sozialversicherungssystem aufbauen wollten, sondern die Koordinierung bestehender nationaler Systeme anstrebte. Zum anderen zeigte sich der Einfluss internationaler und nationaler ExpertInnen der ILO aber auch der Familienverbände. Auch für das Themenfeld der Arbeitsmigration zeigt sich, dass die Kommission auf die Expertise externer ExpertInnen angewiesen war, um die sozialen Gegebenheiten zu erfassen. Wie schon am Beispiel der Frauenarbeit ausführlich erörtert wurde, beeinflussten ExpertInnen auch den Problemdiskurs im Bereich der Freizügigkeit normativ. Ihr Einfluss wirkte hier umso mehr, da der Politikbereich als dringliches Handlungsfeld der Gemeinschaft galt und Lösungen herbeigeführt werden mussten. In den nationalen Berichten über die soziale Lage und die Hilfsdienste für Wanderarbeitnehmer wurde das Bild des mobilen männlichen, tendenziell delinquenten Migranten gezeichnet. Migrantinnen wurden hingegen als schutzbedürftig dargestellt oder nur in der Rolle als Ehefrauen und Mütter erfasst. Die geschlechterstereotypen Beschreibungen rekurrierten dabei auf normative Annahmen zu Familie und Geschlecht. Die BerichterstatterInnen gingen von der geschlechtlichen Arbeitsteilung in Familie und Beruf als gesellschaftliche Norm aus. Frauen wurde die Verantwortung für die Reproduktionsarbeit zugesprochen und Männern die Rolle als Familienernährer. Als Familienideal wurde die Ernährer-Hausfrauenehe bekräftigt. Dieses Leitbild geriet allerdings durch die Migration in Schieflage: allein reisende Männer verfügten nicht über den familiären Rückzugsraum, in dem Frauen für die Regeneration der männlichen Arbeitskraft sorgten und ihre Ehemänner zugleich „zivilisierten“. Zudem wurde die Rolle des Familienvorstandes und Ernährers in Frage gestellt, wenn Frauen entweder allein für eine Arbeitsstelle in ein anderes Land reisten oder in der Heimat mit den Kindern zurückblieben und die Ehemänner ihrer finanziellen Verantwortung nicht nachkamen. Die Kommission übernahm das Breadwinner-Modell und die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung als Leitbild in die Arbeitnehmerfreizügigkeit-Politik. Auch die Gemeinschaftsinitiativen (bes. Verordnungen Nr. 3 und 4) basierten auf einem Konzept von Familie als schutzbedürftige ökonomische und psychologische Einheit und bekräftigten das Abhängigkeits- und Unterhaltsprinzip. Die Abhängigkeit wurde über das Geschlecht, das Alter und das Einkommen definiert, so dass Ansprüche auf Sozialleistungen nicht nur dem Individuum (männlichen Arbeitnehmer) zugestanden wurden, sondern auch über das Kollektiv „Familie“ abgeleitet werden konnten. Die supranationalen Bestimmungen zur Angleichung der sozia-
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len Sicherungssysteme reproduzierten somit geschlechtsspezifische Ungleichheiten. Andererseits wurde über das kollektivistische Prinzip bzw. das Unterhaltsprinzip der Grundsatz der „familienzentrierten distributiven Gerechtigkeit“93 in das Gemeinschaftsrecht eingeschrieben. Da die Kommission ArbeitnehmerInnen eben nicht nur als Individuen betrachtete, sondern in ihrer familiären Umwelt, erweiterte sie das Gleichheits- und Fortschrittsversprechen auf Familien: „[…] il est désormais acquis que le travailleur ne peut être considère comme un individu isolé, mais qu’il faut tenir compte de sa situation familiale.“94 Dadurch war die Voraussetzung gegeben, nicht nur auf die Gleichstellung der ArbeitnehmerInnen, sondern auch auf die Gleichstellung von nicht erwerbstätigen Personen in der EWG hinzuwirken, aber eben nur über ihre Abhängigkeitsbeziehung. Als abhängige Familienangehörige konnten Frauen vom Gemeinschaftsrecht und der Absicherung geschlechtsspezifischer Risiken profitieren. Zudem wurde das Konzept des Versorgerstaates übernommen, das Frauen in eine doppelte Abhängigkeit versetzte. Als Angehörige waren sie auf den Unterhalt des Ehemannes angewiesen und als Empfängerinnen von Sozialleistungen gerieten sie in Abhängigkeit vom Wohlfahrtsstaat bzw. von Gemeinschaftsmitteln (ESF). Damit stabilisierte das EWG-Recht die geschlechtsspezifische Organisation der nationalen Wohlfahrtssysteme. Zugleich wurde in den Debatten auf supranationaler Ebene das Ideal des männlichen Wanderarbeiters konstruiert, so dass sich die Freizügigkeitspolitik in erster Linie an männliche Arbeitnehmer richtete. Ein Zugriff auf die sozialen Probleme von Migrantinnen erfolgte vor allem im Familienkontext. Zugleich zeigte die supranationale Debatte jedoch, dass durch den Gleichheitsgrundsatz und die Spezifik des Gemeinsamen Marktes nationale Prinzipien durch europäische Normen überformt werden konnten. Das Konzept des Familienvorstandes in den Sozialversicherungssystemen wurde beispielsweise herausgefordert, weil Familienväter der (finanziellen) Verantwortung für ihre Familien aus dem EWG-Ausland nicht mehr nachkamen und die Ehefrauen in der Heimat die Aufgaben des Breadwinners übernahmen. Die Ambivalenz wird auch an dem veränderten Blick der Kommission auf Migrantinnen deutlich. Ab ca. 1965 rückten die BeamtInnen davon ab, Migrantinnen in erster Linie als Mütter und Ehefrauen zu betrachten. Im Sinne der beschäftigungspolitischen Ziele wurden die betroffenen Frauen zunehmend als Arbeitnehmerinnen mit individuellen Leistungsansprüchen erfasst.
93 Bock: Frauen in der europäischen Geschichte, München 2005, S. 252. 94 Discours prononcé par Monsieur le Professeur Lionello Levi-Sandri, 5835/X/63-F, in: HAEU BAC 007/1967–1, S. 244.
SCHLUSSBETRACHTUNG Bereits in den 1960er Jahren begann auf der Ebene der EWG die Thematisierung des Geschlechts als Kategorie sozialer Ungleichheit. Der Erkenntnisprozess regte zur Entwicklung der Gleichbehandlungspolitik an und war eng mit soziökonomischen Veränderungen, dem Wandel sozialpolitischer Leitbilder, der institutionellen Entwicklung und dem Ringen um sozialpolitische Kompetenzen innerhalb der EWG verbunden. Geschlecht und Ungleichheiten. Die „Entdeckung“ des Geschlechts als Kategorie sozialer Ungleichheit wurde durch sozioökonomische Veränderungen und einen Wandel des sozialpolitischen Leitbildes „möglich“. Infolge des wirtschaftlichen Booms und der strukturellen Umbrüche veränderte sich das Frauenleitbild seit den 1950er Jahren. Zwar war Mitte des 20. Jahrhunderts die bürgerliche Kleinfamilie mit einem männlichen Alleinernährer und einer nicht berufstätigen Ehefrau/Mutter das bestimmende Familienleitbild, jedoch war es nicht die dominierende Lebensform. Die Erwerbsarbeit von Frauen, auch von Ehefrauen, war durchaus verbreitet. Infolge des wirtschaftlichen Booms stieg die Beschäftigungsquote verheirateter Frauen gar an.1 Infolge von Individualisierungsprozessen und der Institutionalisierung der Erwerbsarbeit verlor die Ehe seit den 1960er Jahren als (einzige) Statusgarantie und lebenslange ökonomische Absicherung für Frauen an Bedeutung. Auch das Nur-Hausfrauen-Dasein und die Betreuungsarbeit verloren durch eine Umdeutung des Frauenleitbildes an Wertschätzung. Die partielle Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt wurde sukzessive akzeptiert, solange sie ein Zuverdienst blieb und Ehefrauen ihren häuslichen Pflichten nachkamen. Zugleich gewannen die selbständige Lebensplanung und -führung an Wert.2 In den 1960er Jahren war auch ein Wandel des sozialpolitischen Leitbildes zu beobachten. Die Ideale der Gleichheit und sozialen Gerechtigkeit wurden in den 1960er Jahren sowohl für nationale Regierungen als auch für supranationale und internationale Organisationen zu einem bestimmenden Motiv. In der Untersuchung wurde vor allem der Beitrag der ILO an der Formulierung und Verbreitung 1
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Mit Harmut Kaelble kann behauptet werden, dass das enorme Wirtschaftswachstum die Voraussetzung für den radikalen Wandel der Familienstrukturen bildete. Vgl. Kaelble: Boom und gesellschaftlicher Wandel, in: Ders. (Hg.): Der Boom 1948–1973, Opladen 1992, S. 242; Ruhl: Verordnete Unterordnung, München 1994, S. 24–35. Diese Prozesse setzten in den 1960er Jahren ein und wurden durch die Zweite Frauenbewegung vor allem in den 1970er Jahren vorangetrieben. Vgl. Lefaucheur: Mutterschaft, in: Thébaud (Hg): Geschichte der Frauen, Frankfurt/Wien 1995, S. 475f., Pfau-Effinger: Kultur und Frauenerwerbstätigkeit, Opladen 2000, S. 120–123.
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Schlussbetrachtung
des Leitbildes (Chancengleichheit) herausgestellt. Aufgabe des Gemeinwesens bzw. des Wohlfahrtsstaates sollte es nicht mehr nur sein, durch sozialpolitische Transfers materielle Gleichheit herzustellen. Vielmehr sollte die Pluralisierung der Lebenschancen von einer Pluralisierung der Partizipations- und Zugangschancen begleitet werden. Die Chancengleichheit wurde als Voraussetzung des sozialen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritts konzipiert. Infolge dieses Wandels wurden die Bedingungen und Begründungen sozialer Ungleichheiten erklärungsbedürftig.3 Auch für das europäische Integrationsprojekt gewann das Leitbild der Gleichheit an Relevanz und wurde im Kontext des Gemeinsamen Marktes als Gleichbehandlungsgebot formuliert. Ungleichheiten zwischen den MarktteilnehmerInnen bzw. ArbeitnehmerInnen sollten beseitigt werden. Dadurch gerieten Faktoren in den Blick, die unterschiedliche Arbeits- und Lebensbedingungen verursachten bzw. eine Benachteiligung von ArbeitnehmerInnen aufgrund ihrer nationalen Herkunft bedeuteten. Ungleichheiten zwischen ausländischen und einheimischen ArbeitnehmerInnen standen schon auf der Agenda der EGKS und wurden auch von der EWG behandelt. Eines der umfassendsten sozialpolitischen Arbeitsfelder betraf die Angleichung der sozialen Sicherungssysteme; darunter fiel auch der Mutterschutz. In Hinblick auf den Mutterschutz identifizierten die Kommissionsdienste erhebliche Unterschiede, sowohl zwischen den Mitgliedstaaten als auch zwischen einzelnen Berufsständen, so dass die Arbeitnehmerinnen unterschiedlich gegen ökonomische Risiken gesichert waren und unterschiedliche Ansprüche in Hinblick auf die Schutzfristen und Gesundheitsversorgung hatten. In der Mutterschutzinitiative wurden Frauen in erster Linie über ihre Rolle als Arbeitnehmerinnen erfasst und das Gleichbehandlungsgebot auf diese Personengruppe erweitert. Ziel war es, erwerbstätige Mütter in der Gemeinschaft ungeachtet ihrer Staatsbürgerschaft und Berufszugehörigkeit gleich zu behandeln. Auch wenn die Kommission in Hinblick auf die Mutterschutzinitiative nicht das Ziel der Geschlechtergleichheit formulierte, können die vorgesehenen Maßnahmen durchaus in diesem Sinne verstanden werden. In der Empfehlung wurden unterstützende Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie angedacht, die eine gleichberechtigte Teilhabe von Frauen ermöglichen sollten. Zudem fielen Regelungen auf, die eine Veränderung der männlich geprägten Arbeitswelt forderten. So sollte die Arbeitsumgebung den Bedürfnissen von Frauen mit Kindern entsprechend umgestaltet werden. Die Anerkennung der Bedürfnisse von Frauen in der Arbeitswelt kann nach Fraser als Schritt hin zur Geschlechtergleichheit gesehen werden. Die Mutterschutzempfehlung hätte schließlich durch die Lohnersatzzahlungen auch einen Beitrag zur ökonomischen Unabhängigkeit von Frauen bedeutet, wobei die Ansprüche auf die 3
Vgl. Hahn, Silke: Zwischen Re-education und Zweiter Bildungsreform. Die Sprache der Bildungspolitik in der öffentlichen Diskussion, in: Stötzel, Georg/Wengeler, Martin (Hg.): Kontroverse Begriffe: Geschichte des öffentlichen Sprachgebrauchs in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin/New York 1994. S. 163–210. bes. S. 180–185; Williams, Bernard: Der Gleichheitsgedanke, in: Honneth (Hg.): Pathologien, S. 303–329, hier S. 317.
Schlussbetrachtung
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Ersatzleistungen aus eigener Arbeit und nicht aus der Arbeit des Ehemanns abgeleitet worden wären. Frasers Gleichheitskonzept folgend wären damit das Armutsrisiko und die Ausbeutung von Frauen partiell bekämpft worden. Globaler Gleichheitsdiskurs. Aufgrund des Gleichbehandlungsgebots und vor dem Hintergrund einer wachsenden Wirtschaft, die auf zusätzliche Arbeitskraftressourcen angewiesen war, wurde die Frage virulent, inwiefern bestimmte Personengruppen weiterhin von gleichen Zugangschancen zum Arbeitsmarkt, zur Berufsbildung und zur sozialen Sicherung ausgeschlossen bleiben konnten. Es wurde erkannt, dass Ungleichheiten nicht nur aus eigenen Entscheidungen resultieren konnten, sondern dass auch gesellschaftliche Zuschreibungen aufgrund des Geschlechts, des Alters oder der Herkunft die Wahrnehmung von Chancen beeinflussten. In der frühen Phase der Integration öffneten die Prinzipien der Gleichheit und Universalität tatsächlich den Blick für geschlechtsspezifische Ungleichheiten.4 Der Erkenntnisprozess war eng mit den institutionellen Rahmenbedingungen verbunden, wie sich im Vergleich der EWG- und ILO-Debatten zeigte. In der ILO wurde aufgrund der institutionellen Verankerung der Frauenarbeitsfrage seit den 1930er Jahren (ExpertInnengremien, Fachabteilung) die Geschlechterfrage früh mit dem Gleichheitsdiskurs verbunden. Nach dem Zweiten Weltkrieg forcierten die ILO-ExpertInnen die Geschlechtergleichheit. Sie plädierten für eine Gleichbehandlung von Männern und Frauen am Arbeitsmarkt und forderten ein Recht auf wirtschaftliche Partizipation und Unabhängigkeit als Voraussetzung für die soziale Teilhabe ein. Die Diskriminierung am Arbeitsplatz aufgrund des Geschlechts wurde ausgehend von der UN als Verletzung der Menschenrechte konzipiert (Vgl. ECOSOC-Resolution, 1948). Wenngleich die Erwerbsarbeit in das Frauenleitbild integriert wurde, forderten die ExpertInnen zunächst keine Veränderung hinsichtlich der Rollenverteilung. Forderungen nach Geschlechtergleichheit bedienten sich einer Sprache der Differenz. Frauen wurden weiterhin in der alleinigen Verantwortung für die Reproduktionsarbeit gesehen. Die ExpertInnen betonten die Geschlechterdifferenz gar, um den Zugang von Frauen zur Erwerbsarbeit zu begründen. Die Anerkennung der Differenz und eines spezifisch weiblichen Beitrags sollte die Grundlage für die Erwerbsintegration von Frauen bilden. Die Geschlechtergleichheit sollte durch die Lohngleichheit, die Gleichbehandlung in der sozialen Sicherung, Erleichterungen hinsichtlich der Doppelbelastung und gleiche Zugangschancen hergestellt werden. An dieser Agenda konnte sich später auch die EWG-Kommission orientieren. Der Zugriff der EWG-Kommission auf die Thematik Frauenarbeit und (Un-) Gleichbehandlung am Arbeitsmarkt unterschied sich auf den ersten Blick vom Zugriff der ILO. Die Kommission griff zunächst die (nationalen) Diskurse auf, die Ehefrauen als letzte Arbeitskraftressource präsentierten und fragte aus ökonomischen Motiven, wie die Erwerbsbeteiligung verheirateter Frauen weiter gesteigert 4
Vgl. Schramme, Thomas: Verteilungsgerechtigkeit ohne Verteilungsgleichheit, in: Analyse und Kritik 21(1999), S. 171–191, bes. S. 174.
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Schlussbetrachtung
werden könne. Die Kommission zielte auf die Nutzbarmachung von Humanressourcen, die Produktivitätssteigerung und das Wachstum des Gemeinsamen Marktes. Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass auch ILO-ExpertInnen die Frauenerwerbsarbeit im Kontext von Beschäftigungsprogrammen diskutierten. Die ökonomische Verwertbarkeit der weiblichen Arbeitskraft wurde ab ca. Mitte der 1960er Jahre zum erklärten Ziel der EWG-Kommission. Dies zeigte sich auch am Wandel der Mutterschutzdebatte, die ab ca. 1965 nicht mehr nur unter dem Aspekt der sozialen Sicherung, sondern der Frauenbeschäftigungspolitik geführt wurde. Dadurch wurde die Debatte einerseits verengt und ungleiche Zugangschancen zu anderen gesellschaftlichen Teilbereichen (Politik, Kultur) sowie ungleiche Machtverhältnisse innerhalb der Familien und Fragen der sexuellen Selbstbestimmung blieben außen vor. Andererseits lag in der „Ökonomisierung der Geschlechterfrage“5 die Möglichkeit, die Entwicklungsziele des Gemeinsamen Marktes mit dem Recht auf Erwerbsarbeit und Forderungen nach Gleichbehandlung zu verbinden. Damit zeichnete sich bereits in der frühen Phase der Integration ein Konzept ab, einen jeden Erwachsenen als (potentielle) ArbeitnehmerIn zu betrachten und Geschlechtergleichheit durch die Erwerbsintegration von Frauen zu fördern. Das Adult-Worker-Modell vermag jedoch nicht, einen Abbau des Androzentrismus und eine Umverteilung der Arbeitsbelastung zwischen Männern und Frauen im Sinne der Geschlechtergleichheit zu leisten.6 Deutungsmuster und Leitbilder. Die Ökonomisierung der Geschlechterfrage erlaubte es, Benachteiligungen am Arbeitsmarkt aufgrund des Geschlechts zu thematisieren. Die Kommission gab vergleichende Untersuchungen in Auftrag, die jene Mechanismen offenbarten, die eine Erwerbsintegration von Frauen erschwerten. In den sozialwissenschaftlichen Expertisen wurde Frauenarbeit als soziales Problem konstruiert und Lösungsvorschläge unterbreitet, die z.T. auf die Gleichbehandlung der Geschlechter abzielten. Aber nicht nur in den Frauenarbeitsberichten, auch durch Frauenverbände wurden zahlreiche Diskriminierungen am Arbeitsmarkt aufgrund des Geschlechts aufgezeigt. Als Kern des Frauenarbeits-Problems wurde in den Berichten und Debatten die Doppelbelastung verheirateter Arbeitnehmerinnen dargestellt. Unabhängig von den unterschiedlichen Erwerbsquoten wurde die Beschäftigung verheirateter Arbeitnehmerinnen in allen Mitgliedstaaten als soziales Problem wahrgenommen. Es konnte gezeigt werden, dass die Thematisierung der Vereinbarkeitsproblematik in der EWG/EU bis in die 1960er Jahre zurück reichte und nicht erst in den 1980er Jahren begann. Die ILO- und EWG-ExpertInnen wirkten durch ihre Bei-
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Böllert: Sozialpolitik als Geschlechterpolitik, in: Böllert/Heite (Hg.): Sozialpolitik als Geschlechterpolitik, Wiesbaden 2011, S. 18. Vgl. zum Adult-Worker-Modell Stiegler, Barbara: Vorsorgender Sozialstaat aus Geschlechterperspektiv, in: Böllert/Heite (Hg.): Sozialpolitik als Geschlechterpolitik, Wiesbaden 2011, S. 33–60, hier S. 48; vgl. dazu auch bei Fraser das Modell der allgemeinen Erwerbstätigkeit: Fraser: Die Gleichheit der Geschlechter, in: Honneth (Hg.): Pathologien des Sozialen, Frankfurt a.M. 1994, S. 354, 370.
Schlussbetrachtung
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träge daran mit, dass die Vereinbarkeitsproblematik als Charakteristikum der erwerbstätigen Frau festgeschrieben wurde.7 Diese Festschreibung war eng mit der Essentialisierung von Mutterschaft verbunden. Die Mutterschaft wurde als Gemeinsamkeit aller Frauen und als das Geschlechtsmerkmal herausgestellt. Sowohl in den Debatten der FrauenarbeitsexpertInnen der ILO als auch der EWG wurde die Sprache der Differenz genutzt, um Forderungen nach spezifischen sozialpolitischen Maßnahmen und Sonderrechten für weibliche Arbeitnehmer zu formulieren: „Wherever economic development, circumstances and social attitudes and costums permit, maximum advantage can be obtained by dealing with employment of men and women without distinction based on sex. Where special considerations for women’s problems are required, these should be designed to promote equality of treatment for men and women in practice.”8
Diese Idee schlug sich u.a. in der Mutterschutzdebatte der EWG, aber auch im Familienpflichten-Übereinkommen der ILO nieder. Eine Politik der Chancengleichheit sollte die unterschiedlichen Geschlechterrollen berücksichtigen und Möglichkeiten zu einem selbst bestimmten Leben in ökonomischer Unabhängigkeit schaffen. Die Gleichstellungsmaßnahmen sollten daher bei der Erleichterung der Familienarbeit ansetzen, ohne dass die geschlechtliche Arbeitsteilung oder die Rollenverteilung thematisiert werden mussten. Beim Übergang von den Debatten in den Entscheidungsprozess zeigte sich, dass in Hinblick auf die Geschlechtergleichheit ein erheblicher Unterschied zwischen den Überlegungen der ExpertInnen und den Positionen der Entscheidungsträger bestand. Je weniger Einfluss die AkteurInnen auf den Entscheidungsprozess hatten, desto „freier“ waren sie in der Formulierung ihrer Forderungen, wie sich bspw. in der Stellungnahme des EPs zur Mutterschutzempfehlung zeigte. Aufgrund der unvollständigen Überlieferung von Sitzungsprotokollen war es nicht möglich, die konkreten Positionen einzelner RegierungsvertreterInnen, der Kommissare oder der KommissionsmitarbeiterInnen nachzuvollziehen. Allerdings kann der Beitrag des Parlaments ein Anreiz sein für weitere Untersuchungen über die Entwicklung des Gleichheitskonzeptes dieses Organs bzw. seiner VertreterInnen.9 Auch am Beispiel der ILO konnte gezeigt werden, dass die FrauenarbeitexpertInnen eine veränderte Vorstellung der Geschlechterrollen entwickelten. Während die ILO-ExpertInnen Veränderungen der Aufgabenverteilung, einen Wandel der Rollenbilder und die Anerkennung der weiblichen Arbeitsleistung forderten, 7
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Vgl. Donà: Using the EU, in: Lombardo/Forest: The Europeanization of Gender Equality, Basingstoke 2012, S. 103–105; Lindner: Rationalisierungsdiskurse, in: Frese/Paulus/Teppe (Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch, Paderborn 2003, S. 106. Meeting of Experts on Women’s Work, 11.–15.12.1951, S. 3, in: HAILO WN 1002. Vgl. allgemein zur Entwicklung des EPs und seiner Rolle im Integrationsprozess: Guerrieri, Sandro: The Evolution of the European Parliament’s Role before the Direct Elections (1952– 1979), in: Lombardo/Forest: The Europeanization of Gender Equality, Basingstoke 2012, S. 203–214.
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Schlussbetrachtung
standen die nationalen Entscheidungsträger diesem Wandel skeptisch gegenüber. Zwar wurde in der Familienpflichten-Empfehlung ein Einstellungswandel gegenüber den Geschlechterrollen als Voraussetzung der Geschlechtergleichheit festgeschrieben, aber Maßnahmen zur Umverteilung der Betreuungsarbeit waren nicht durchsetzbar. Der Transfer des Gleichheitsideals in politische Entscheidungen scheiterte an der Beharrlichkeit der Regierungs- und GewerkschaftsvertreterInnen und deren kulturellen Leitbildern. Seitens der Entscheidungsträger (IAK, Ministerrat) schienen Forderungen nach einem Wandel der Leitbilder nur insofern berechtigt, wie sie die Nutzbarmachung zusätzlicher weiblicher Arbeitskräfte ermöglichten. Dies zeigte sich auf der Ebene der ILO bspw. auch in der Debatte zur Teilzeitarbeit. Von den RegierungsvertreterInnen wurde die Teilzeitarbeit als geschlechtsspezifisches Normalarbeitsverhältnis privilegiert, weil damit die soziale und wirtschaftliche Integration von Frauen vorangetrieben werden konnte, ohne dass die Geschlechterordnung in Frage gestellt werden musste. In dieser Auseinandersetzung konnten sich allerdings die ExpertInnen durchsetzen, die sich gegen eine geschlechtsspezifische Arbeitszeitteilung wandten, weil sie darin die Quelle für soziale Ungleichheiten erkannten. Es konnte gezeigt werden, dass sich die EG-Gleichbehandlungspolitik nicht nur im Kontext der Lohngleichheit, sondern auch infolge der Frauenerwerbsarbeit-Debatten entwickelte. Da die Frauenarbeitsfrage in den 1960er Jahren aber nicht institutionell verankert war, blieben die Überlegungen zur Geschlechtergleichheit in anderen Politikfeldern unberücksichtigt. Am Beispiel der Freizügigkeits- und Bildungsdebatte konnte gezeigt werden, dass supranationale Normen auf dem Ernährermodell basierten. Die Angleichung der sozialen Sicherungssysteme im Kontext der Freizügigkeitspolitik und die damit verbundenen Diskussionen über die Familienbeihilfen und die Arbeit der Sozialdienste stützten sich auf das Leitbild des Ernährermodells. In den Verordnungen Nr. 3 und 4 wurden ausdrücklich die Bedeutung der Familie für die soziale Absicherung bekräftigt und das patriarchalische Ehemodell übernommen, in dem der Ehemann der Familienvorstand und Allein- bzw. Hauptverdiener war. Somit wurde das Ideal des flexiblen männlichen Arbeitsmigranten als Familienoberhaupt und -ernährer in den EWG-Verordnungen festgeschrieben. Durch die Verankerung des geschlechtsspezifischen Zugangs zu sozialen Ansprüchen (Familienprinzip) wurden Ungleichheiten reproduziert und der Androzentrismus bekräftigt. Daraus ergaben sich zwei Konsequenzen: Zum einen konnte die Kommission das Gleichbehandlungsgebot auf Familien erweitern und Fragen des gleichen Zugangs zum Arbeitsmarkt, zur Bildung und zu Wohnungsangeboten für MigrantInnen und ihre Angehörigen als Themen der Gemeinschaft behandeln. Zum anderen wurden Geschlechterstereotypen in den Debatten über die Probleme der WanderarbeitnehmerInnen (re-)produziert. In der Figur der Migrantin wurde der Geschlechterunterschied gewissermaßen verdoppelt. Während Männer als der aktive, erwerbstätige Part konstruiert wurden, der sich über die Arbeit in die Gesellschaft des Gastlandes integrierte, wurden Frauen vornehmlich in ihrer familiären Rolle als isolierte Fremde wahrgenommen. Wenn Migrantinnen als Arbeitnehmerinnen erfasst wurden, dann nur als ledige, schutzbedürftige, junge Frauen.
Schlussbetrachtung
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Die „geschlechtsspezifische Nachfragestruktur“10 des Arbeitsmarktes und die z.T. prekäre Beschäftigungssituation ausländischer weiblicher Arbeitskräfte wurden in den supranationalen Gremien nicht wahrgenommen. Während in den 1960er Jahren durch die Expertise der FrauenarbeitsexpertInnen in der Kommission ein Bewusstsein für das Zusammenwirken der Kategorien Geschlecht, Alter und Klasse als Dimensionen sozialer Ungleichheit entwickelt wurde, blieb die Ethnie als solche Kategorie unberücksichtigt. Zwar thematisierten die Frauenarbeitsberichte die geschlechtsspezifische Segregation des Arbeitsmarkts, aber die ethnische Segregation (ausländische Frauen in Industrie und Niedriglohnsektor) wurde nicht problematisiert, weder in den Frauenarbeits- noch in den Freizügigkeitsdebatten. Die Gleichgültigkeit gegenüber diesem Aspekt der Arbeitsmigration und Frauenerwerbsarbeit kann mit dem spezifischen Schwerpunktsetzungen in den beiden Politikbereichen erklärt werden. In der Frauenarbeitsdebatte wurde die Untersuchung auf verheiratete Frauen und deren Doppelbelastung verengt. Da im öffentlichen (nationalen) Diskurs Arbeitnehmerinnen ausländischer Herkunft nur als ledige Frauen, nicht aber als Ehefrauen wahrgenommen wurden, blieb die Situation verheirateter berufstätiger Migrantinnen im Dunkeln. In der Freizügigkeitsdebatte wiederum zählten verheiratete Migrantinnen nicht als Arbeitnehmerinnen. Daher blieben beide Politikbereiche gegenüber den Problemen dieser Gruppe indifferent. Auch Hinweise von Frauen- und Familienverbänden zur Situation der Migrantinnen blieben unberücksichtigt, ebenso wie nationale Debatten. Geschlechtsspezifische Probleme der Arbeitsmigration und Fragen der sozialen Sicherung hatten im nationalen Kontext zu Diskussionen über die Belastung der nationalen Sozialsysteme durch das Gleichbehandlungsgebot für in- und ausländische Arbeitskräfte geführt.11 Durch die Betrachtung unterschiedlicher Politikfelder konnte gezeigt werden, dass die Interpretation des Gleichheitsideals kontextabhängig war. In bildungspo10 Mattes, Monika: Migration und Geschlecht in der Bundesrepublik Deutschland. Ein historischer Rückblick auf die "Gastarbeiterinnen" der 1960/70er Jahre, http://www.zeitgeschichteonline.de/zol-migration–2010, letzter Zugriff, 12.12.2012. 11 Die Europa-Union Deutschland veranstaltete 1963 eine Tagung „Soziale Sicherheit innerhalb der EWG“, auf der vor allem Frauen auf die sozialpolitische Reichweite der Integration hingewiesen werden sollten. Vgl. „Soziale Sicherheit innerhalb der EWG“, eine Vortragsreihe mit Diskussion, 6.–9. Mai 1963 im Haus Lerbach bei Bergisch-Gladbach, Programm, in: HAEU ME 1755 o.S. Auch die C.A.F.E. diskutierte die Arbeitsmigration und deren Auswirkungen für Frauen, vgl. Marcelle Lazard, Rencontre internationale du comité d’action féminine européenne (C.A.F.E.), Paris les 23. 24. 25. Mars 1961, in: HAEU ME 1627, o.S. Auch die Commission Féminine du Mouvement Européen befasste sich auf der Tagung „Les travailleurs et leur famille dans le cadre de la libre circulation en Europe“ im Mai 1969 in Tarente (It) mit der Wanderarbeit, vgl. Minute Sheet von Jeanne Rousseau vom 2.4.1969, in: HAILO NGO 587 J.1, o.S. Der Diskussionsstand wurde von der Kommission und MEPs mit Interesse verfolgt. Vgl. dazu Schreiben von Henze, Directeur de la Main-d’oeuvre, Direction Générale des Affaires sociales an Mme Wergifosse, Présidente de la Commission féminine internationale du Mouvement européen vom 24.04.1969, in: HAEU ME 1630, o.S.; Schreiben von Yvonne de Wergifosse an Astrid Lulling, Membre du Parlement Européen, vom 06.05.1969, in: HAEU ME 1631, o.S.
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Schlussbetrachtung
litischen Initiativen strebte die Kommission eine Angleichung der Ausbildungsstandards an, um so die Chancengleichheit zwischen den potentiellen ArbeitnehmerInnen im Gemeinsamen Markt zu fördern. Dadurch sollte die soziale, berufliche und geographische Mobilität verbessert und die ökonomische Entwicklung stimuliert werden. Bildung gewann in den entstehenden Dienstleistungsgesellschaften zunehmend als Kapital der ArbeitnehmerInnen an Bedeutung. Zudem erschien eine solide Ausbildung und Weiterbildung als geeignete Möglichkeit, die Chancengleichheit, den sozialen Aufstieg und die Teilhabe an der Wohlstandsentwicklung unabhängig von der sozialen Herkunft zu gewähren. Damit verband sich das Versprechen, dass der soziale Status nicht mehr an den Familienkontext, sondern an das Individual- und Leistungsprinzip gekoppelt sei. Durch die Institutionalisierung der Erwerbsarbeit wurde die gesellschaftliche Integration zugleich enger an die ökonomische Partizipation gebunden. Die Partizipation am Erwerbsprozess versprach somit nicht nur ökonomische Unabhängigkeit, sondern auch soziale Integration.12 Die Kommission interpretierte das Konzept der Chancengleichheit in Hinblick auf die Bildung vor allem als die Gleichheit männlicher Arbeitnehmer. Obwohl in den ExpertInnen-Berichten und vor allem seitens der Frauenverbände auf die Ungleichbehandlung von Mädchen und Frauen in den Bildungssystemen hingewiesen wurde und die Bildungsfrage als zentraler Schritt zur Erwerbsintegration von Frauen herausgestellt wurde, ließ die Kommission diese Hinweise in der Bildungspolitik bis in die 1970er Jahre außer acht. Die Überblendung der Geschlechterfrage als Teil der Bildungsfrage resultierte auch aus der engen Verknüpfung des Politikbereichs mit der Freizügigkeit. Gemeinsame Bildungsstandards wurden als wichtiger Beitrag zur geographischen Mobilität und als Voraussetzung für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer formuliert. Dabei kam in der Bildungspolitik eben jenes Leitbild des männlichen, mobilen Arbeitnehmers zum Tragen, wie es in der Freizügigkeitspolitik festgeschrieben wurde. Am Beispiel der Bildungspolitik zeigte sich wiederum auch, dass die Interpretation des Gleichheitsideals als Geschlechtergleichheit eng an den institutionellen Aufbau gebunden war. Da in der ILO die Frauenarbeitsfrage bereits institutionalisiert war und ein Austausch zwischen den Fachabteilungen stattfand, wurde in der ILO die Bildungsfrage mit der Gleichstellung der Geschlechter verknüpft. Die ExpertInnen wiesen darauf hin, dass durch eine verbesserte Berufsbildung der Status weiblicher Arbeitnehmer aufgewertet, die Erwerbssituation verbessert und die Chancengleichheit garantiert werden könnten. Neben der Kategorie der Klasse wurden auch das Geschlecht und das Alter als Kategorien erfasst, welche die soziale und berufliche Mobilität erschwerten. Die Bildungspolitik galt den ILO-ExpertInnen als elementarer Bestandteil einer Sozialpolitik für Frauen und als Voraussetzung für ökonomische Gleichheit und soziale Gerechtigkeit. Die ExpertInnen forderten, in der Berufsberatung 12 Vgl. Berger/Schmidt: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Welche Gleichheit, welche Ungleichheit?, Wiesbaden 2004, S. 8–16.
Schlussbetrachtung
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und der Berufsbildung statt des Geschlechts die individuellen Eigenschaften der BewerberInnen zu berücksichtigen und somit der Marginalisierung und Abwertung weiblicher Arbeitsleistung entgegenzuwirken. Der Diskurs der ILO wurde über einen europäischen Zusammenschluss nationaler Frauenverbände an die Kommission vermittelt. In Anknüpfung an frühere Forderungen der Frauenbewegung wiesen die Aktivistinnen darauf hin, dass die Berufsbildung einen wichtigen Beitrag zur ökonomischen Unabhängigkeit von Frauen leisten könne. Den Anspruch auf eine freie und gleiche Berufsbildung verbanden die Aktivistinnen mit den Zielen des Gemeinsamen Marktes. Auch hier ebnete wiederum die Ökonomisierung der Geschlechterfrage den Pfad für die spätere Gleichbehandlungspolitik. Wie ist nun die Auswirkung des Gleichheitsdiskurses auf die sozialpolitischen Debatten zu bewerten? Wurde Gleichheit auch als Geschlechtergleichheit konzipiert? Welche Rollenmodelle und Geschlechterleitbilder lagen den Entscheidungen zugrunde? Anstatt eines konsistenten Geschlechterleitbilds oder Gleichheitsideals konnten je nach Politikfeld Divergenzen festgestellt werden. So wie der Integrationsprozess in unterschiedlichen Politikfeldern unterschiedlich verlief, so wurde auch das Antidiskriminierungsprojekt nicht synchron vorangetrieben. Während in der Freizügigkeits- und Bildungspolitik das Leitbild des männlichen mobilen Normalarbeiters reproduziert wurde, stellten die Erkenntnisse aus der Frauenarbeitsdebatte das Ernährermodell zunehmend in Frage und die spätere Gleichbehandlungspolitik sollte auf dessen Deinstitutionalisierung hinwirken. In der Freizügigkeitsdebatte zeigte sich, dass das Ernährer-Hausfrauenmodell auch in der Gemeinschaftspolitik als normative Grundlage sozialpolitischer Regulierung wirkte und sogar bekräftigt wurde. Damit wurde auch im Gemeinschaftsrecht die soziale Sicherung von innerfamiliären Abhängigkeiten abgeleitet und Ungleichheiten aufgrund des Geschlechts (re-)produziert. Die Debatten im Kontext der Freizügigkeits- und Bildungspolitik zeigten, dass die Geschlechterdifferenz bis ca. Mitte der 1960er Jahre ein fester Bezugspunkt supranationaler Normen blieb. Die Kommission tendierte dazu, Ehefrauen als Reservekraft für eine expandierende Wirtschaft zu betrachten, die in Krisenzeiten wieder in den Familienbereich entlassen werden konnte. Zugleich zeigten die Untersuchungen der Mutterschutzinitiative, der Frauenarbeitsdebatte und die Entstehung der Gleichbehandlungsrichtlinien, dass die Geschlechtergleichheit angestrebt wurde. Frauen sollten die Möglichkeit zur Beteiligung an der Erwerbsarbeit erhalten, d.h. aus der Beschränkung auf die private Sphäre gelöst werden. Das Prinzip der Lohngleichheit und die Chancengleichheit in Hinblick auf Bildung und soziale Sicherung (Richtlinien) konnten der Ausbeutung von Frauen entgegenwirken. Zudem wurde von den ExpertInnen immer wieder ein Einstellungswandel gegenüber der weiblichen Arbeitsleistung eingefordert, der durch den Aufbau des Fraueninformationsdienstes in den 1970er Jahren vorangetrieben werden sollte. Teilweise wurden auch infrastrukturelle Veränderungen wie der Ausbau der öffentlichen Kinderbetreuung angestrebt, um die Marginalisierung von Frauen und ihrer Arbeitsleistung und dem Androzentrismus in der Arbeitswelt entgegenzuwirken. Die ExpertInnen und Aktivistinnen forderten im Sinne der Geschlechtergleichheit z.T. auch eine Umverteilung der Arbeitsbe-
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Schlussbetrachtung
lastung und eine Einbeziehung von Männern in die Familienarbeit. Diese Forderungen wurden von der Kommission aber nicht aufgegriffen. Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre wandte sich die Kommission von einer Politik ab, die Frauen lediglich als konjunkturelle Reserve und Frauenerwerbsarbeit nur als Zuverdienst betrachtete. Dieser Wandel blieb zunächst auf das entstehende Feld der Gleichbehandlungspolitik begrenzt und nahm seinen Ausgang in beschäftigungspolitischen Überlegungen. Die Steigerung der Frauenerwerbsarbeit galt seit dem mittelfristigen Wirtschaftsprogramm (1967) als beschäftigungspolitisches Ziel der Gemeinschaft. Da in den Beschluss zum mittelfristigen Wirtschaftsprogramm Schlussfolgerungen aus den Frauenarbeitsberichten eingegangen waren, wurde die Erwerbsintegration von Frauen mit der Gleichbehandlung der Geschlechter verbunden. Es konnte gezeigt werden, dass die Gleichbehandlungspolitik der 1970er Jahre ihren Anfang auch in der Beschäftigung mit dem Thema „Arbeit verheirateter Frauen“ und „Doppelbelastung“ nahm (Pfadabhängigkeit). Der veränderte Zugriff der Kommission auf das Thema Frauenerwerbsarbeit ab Mitte der 1960er Jahre resultierte u.a. aus der Anlehnung an den globalen Gleichheitsdiskurs. Ausgehend vom UN-System und der ILO diskutierte die Kommission die Erwerbsintegration von Frauen, die Steigerung der Beschäftigungsquoten und des Wirtschaftswachstums als Mittel, soziale Gerechtigkeit zu schaffen und breitere Bevölkerungsschichten an Wohlstand und sozialem Fortschritt teilhaben zu lassen. Damit wurden gleiche Zugangschancen zu Bildung, Erwerbsarbeit und sozialer Sicherung ungeachtet des Geschlechts, des Alters oder der sozialen Herkunft wichtige Themen auf der Agenda der Kommission. VertreterInnen der Kommission erklärten die dauerhafte Erwerbsintegration von Frauen zu einem wichtigen Gemeinschaftsziel. Somit wurde auch der Leitgedanke der Antidiskriminierung sukzessive auf erwerbstätige Frauen ausgedehnt und die Integration in den Arbeitsmarkt als entscheidender Faktor für die gesellschaftliche Integration und Geschlechtergleichheit konzipiert. Streben nach Legitimation. Die Entwicklung der Gleichstellungspolitik wurde nicht nur durch den soziökonomischen Wandel und den globalen Gleichheitsdiskurs gerahmt. Es konnte gezeigt werden, dass die inhaltliche Arbeit auch von Auseinandersetzungen um die Gestaltung des Integrationsprojekts geprägt war. Die EWG zeichnete sich durch die Offenheit des Integrations- und Entscheidungsprozesses aus. Auch das institutionelle Gefüge und die Kompetenzverteilung waren zwar durch den EWGV vorgezeichnet, aber nicht statisch. Die sozialpolitischen Initiativen der Kommission waren mit einem steten Ringen um Legitimation und Kompetenzen verbunden. Vor allem das Verhältnis von Wirtschaftsund Sozialpolitik und die Verteilung der Kompetenzen zwischen intergouvernementalen und supranationalen Organen waren in den 1960er Jahren Gegenstand von Auseinandersetzungen. Die Kommission trieb schon in den frühen 1960er Jahren Initiativen voran, die im Sinne einer Harmonisierung bzw. Konvergenz auf eine gemeinschaftliche Sozialpolitik hinwirken sollten. Sie zweifelte am neoliberalen Paradigma und warnte vor den sozialen Folgen, die sich aus dem Integrationsprozess ergeben
Schlussbetrachtung
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würden. Sie sah die Aufgabe der Gemeinschaft darin, auf eine freie und gleiche Gesellschaft hinzuwirken. Unter Walter Hallstein stand die Kommission für eine Sozialpolitik ein, die in allen Mitgliedstaaten die sozialen Standards anheben und zugleich Unterschiede im gemeinsamen Wirtschaftsraum nivellieren sollte. Unterstützung fand sie vor allem bei den Gewerkschaften und dem Europäischen Parlament, zum Teil auch bei einigen Mitgliedstaaten. In den 1960er Jahren gelang es der Kommission jedoch nur selten, den Ministerrat von der Notwendigkeit sozialpolitischer Initiativen zu überzeugen. Am Beispiel der Mutterschutzempfehlung konnte das Wechselspiel zwischen der institutionellen Entwicklung und sozialpolitischen Initiativen bzw. Konzepten gezeigt werden. Da die Kommission die sozialpolitische Dimension der Integration forcieren und die supranationalen Kompetenzen erweitern wollte, versuchte sie, eigene sozialpolitische Normen zu setzen und wandte sich damit gegen eine Koordinierung durch etablierte internationale Organisationen wie die ILO. Als Versuch der Kompetenzerweiterung wurde die Mutterschutzempfehlung von ArbeitgebervertreterInnen und einigen nationalen Regierungen zurückgewiesen. Die Mitgliedstaaten, allen voran Frankreich, wollten eine Erweiterung supranationaler Kompetenzen abwehren und versuchten daher auch sozialpolitische Bemühungen einzudämmen. Vor allem das breit angelegte Studienprogramm der Kommission zu sozialen und beschäftigungspolitischen Fragen und die Einbeziehung von ExpertInnen hatten den Unmut der nationalen Regierungen geweckt. Für die Angleichung der Mutterschutzbestimmungen wurde in der EG dann schließlich jener Weg beschritten, den die Kommission verlassen wollte: die Anerkennung internationaler Standards, konkret die Ratifikation des ILO-Übereinkommens zum Mutterschutz. Jedoch zeigte sich bald, dass die Koordinierungsmittel (Richtlinien, Empfehlungen, Vertragsverletzungsverfahren) der EWG die Möglichkeiten der ILO überstiegen. Die Standards der ILO waren weniger verbindlich und es existierten auch keine Sanktionsmöglichkeiten. So entwickelte sich die EWG binnen weniger Jahre zu einem wichtigen Akteur. Die ILO-MitarbeiterInnen honorierten die sozialpolitischen Bemühungen der EWG in den 1960er Jahren und nahmen vor allem die integrationspolitischen Vorstellungen der Kommission wahr, die auf dem Ideal der sozialen Gerechtigkeit gründeten: „Since the 1970s, EU legislation has surpassed that of the ILO in importance to EU Member States, with the effect that national contributions at the ILO are in part determined by the existence of regional legislation.“13
Der „Aufstieg“ der EWG zur sozialpolitischen Akteurin war jedoch ohne die ILO nicht denkbar. Die Genfer Organisation diente der EWG in den Anfangsjahren als bedeutende kognitive Referenz und setzte durch ihr moralisches Prestige, ihre Ideale und ihre Agenda Maßstäbe. Die Normsetzung durch die EWG sollte daher nicht als Beleg für ein „Herauseinigen“ aus dem internationalen System überbewertet werden. Vielmehr verschaffte die Orientierung am Diskurs und der Agenda 13 Johnson: European Welfare States, Basingstoke 2005, S. 183.
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Schlussbetrachtung
der ILO der Kommission die notwendige Legitimation für ihre Initiativen. Wenngleich konkrete Formen der Zusammenarbeit in der Normgebung selten waren, so kann die wechselseitige Beobachtung und der Austausch von Dokumenten, Berichten und Statistiken zwischen der ILO und der EWG als Verknüpfung zwischen der internationalen und supranationalen Ebene bewertet werden. Für den Teilbereich der Gleichstellungspolitik konnte das Wechselverhältnis von Internationalisierung und Europäisierung bzw. die Verortung der Europäischen Integration in internationalen Diskursen nachgezeichnet werden. Dabei wurde gezeigt, dass die Debatten internationaler Organisationen als Referenz für die europäische Agenda dienten, die EWG aber zugleich zu deren Ausgestaltung beitrug. Für weitere Forschungsarbeiten wäre es wünschenswert, dieses Wechselverhältnis auch anhand der Beziehungen der EWG zu anderen internationalen und regionalen Organisationen (z.B. UN, OECD, Europarat) und am Beispiel anderer Politikfelder zu untersuchen.14 Die Einbettung der EWG in das internationale System konnte auch durch die Ausbildung spezifischer Verwaltungspraktiken, vor allem die Produktion sozialwissenschaftlicher Expertise und den Kontakt zu externen ExpertInnen, nachgewiesen werden. Bereits in den 1960er Jahren war der Entscheidungsprozess der EWG sehr komplex und die verschiedensten AkteurInnen waren darin involviert. Die Kommission konsultierte in fast allen Politikbereichen ExpertInnengruppen, bestehend aus nationalen Verwaltungseliten, WissenschaftlerInnen, ExpertInnen internationaler Organisationen oder VertreterInnen von Interessengruppen. Im Kontakt mit sozialen und politischen Netzwerken konnten Ideen ausgetauscht und sogar institutionelle Regeln und Praktiken unterhalb der formalisierten supranationalen Ebene verhandelt werden. Damit konnte gezeigt werden, dass der Integrationsprozess nicht nur durch intergouvernementale Entscheidungen vorangetrieben wurde. Es erscheint sehr wünschenswert, die institutionelle Entwicklung und die Ausbildung von Verwaltungspraktiken in Zukunft durch weitere mikrohistori-
14 In der Integrationsforschung werden die Globalisierung oder auch die Weltkultur als Rahmen der Europäisierung gesehen, Vgl. Delanty, Gerard/Rumford, Chris: Rethinking Europe: Social Theory and the Implications of Europeanization, London 2005, S. 13–16. Der Zugriff erfolgt meist über das Theorieangebot der Internationalen Beziehungsforschung, Vgl. und weiterführende Literatur: Peters, Dirk/Freistein, Katja/Leininger, Julia: Theoretische Grundlagen zur Analyse internationaler Organisationen, in: Freistein, Katja/Leininger, Julia (Hg.): Handbuch internationale Organisationen. Theoretische Grundlagen und Akteure, München 2012, S. 3–27. Die Beziehung zwischen der EWG/EU und internationalen Organisationen wurde meist für spezifische Themenbereiche und die neuere Zeitgeschichte untersucht, vgl. dazu Bauer, Hans-Joachim: Der Europarat nach der Zeitenwende 1989 – 1999. Zur Rolle Straßburgs im gesamteuropäischen Integrationsprozeß, Münster 2001; Polakiewicz, Jörg: Europäischer Menschenrechtsschutz zwischen Europarat und Europäischer Union: zum Verhältnis von EMRK und EU-Grundrechtscharta, in: Marauhn, Thilo (Hg.): Die Rechtsstellung des Menschen im Völkerrecht: Entwicklungen und Perspektiven, Tübingen 2003, S. 37–54; Wassenberg, Birte: Histoire du Conseil de l’Europe (1949–2009), Brüssel 2012.
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sche und akteurszentrierte Studien zu erforschen und dabei Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen einzelnen Politikbereichen herauszuarbeiten.15 Dem Zugang zu wissenschaftlicher Expertise und der Verwendung von ExpertInnenwissen kommt in der Arbeit technokratischer Institutionen eine enorme Bedeutung zu. Weder die EWG-Kommission noch das Internationale Arbeitsamt waren bzw. sind demokratisch legitimierte Institutionen. Daraus ergaben sich zwei Konsequenzen: zum einen bewegten sich die Institutionen in einem instabilen organisatorischen Feld und sind einem fortwährenden Diskussionsprozess über ihre Kompetenzen und ihren Status ausgesetzt. Im Falle der ILO zeigten sich diese Unsicherheiten bspw. an den Auseinandersetzungen um ihren Status im UNGefüge und um ihren globalen Gestaltungsanspruch. Die Zuständigkeit und Gestaltungsfähigkeit der ILO wurde auch von Regionalorganisationen wie der EWG mit eigenem Anspruch der Normsetzung herausgefordert. Für die Kommission galten diese Unsicherheiten umso mehr hinsichtlich ihrer sozialpolitischen Kompetenzen. Zum anderen können technokratische Institutionen kaum an den Auswirkungen ihrer Entscheidungen gemessen werden. Ihre Legitimation beziehen sie vor allem aus „talks“ und „decisions“. Sowohl die ILO als auch die EWG-Kommission waren darauf angewiesen, sich als AkteurInnen zu präsentieren, die einen breiten Zugriff auf vergleichbare Daten und Wissen hatten und somit eine andere Perspektive als die nationalen Regierungen einnehmen konnten. Der Rückgriff auf ExpertInnenwissen, vor allem auch auf die sozialwissenschaftliche Expertise, war zentral für die Arbeitsweise supranationaler und internationaler Organisationen. Die Wissensproduktion im Auftrag und durch die Kommission bzw. das IAA erlaubte es, Politikfelder zu identifizieren, die einer gemeinschaftlichen oder internationalen Initiative bedurften. So versuchte die EWG-Kommission, auf der Grundlage wissenschaftlicher Expertise, Gemeinschaftsinitiativen im Bereich der Sozialpolitik auszuweiten. Zudem versuchte die Kommission durch die Produktion und den Rückgriff auf ExpertInnenwissen, ihre sozialpolitischen Kompetenzen auszudehnen. „The Commission’s interaction with expert groups is a significant element of the European governance structure, a routinized practice and a tool for extending its capacity for action.“16 Es sei daran erinnert, dass im Ministerrat die Ausweitung des Forschungsprogramms der Kommission in den frühen 1960er Jahren als eben solcher Versuch der Kompetenzerweiterung zurückgewiesen wurde. Des Weiteren konnte die Konsultation von ExpertInnen und Netzwerken die Legitimität der Kommission als sozialpolitische Akteurin unterstreichen. Im Falle des Presse- und Informationsdienstes wurde gezeigt, dass dieser Mechanismus auch innerhalb der Kommission in Hinblick auf den Status einzelner Direktionen wirkte. Dem ExpertInnenwissen und dem Aufbau weit verzweigter Netzwerke kam damit eine wichtige 15 Vgl. Kaiser/Leucht/Rasmussen: Origins of a European Polity, in: Dies. (Hg.): The History of the European Union, New York/London 2009, S. 4. 16 Böhling: Symbolic Knowledge At Work, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung 2009, S. 4.
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Funktion als symbolisches Wissen in der Arbeit der Kommission zu, weil sie dadurch ihren Wissensvorsprung gegenüber nationalen Regierungen und internationalen Organisationen ausbauen und Anerkennung als sozialpolitischer Akteur gewinnen konnte.17 Der Rückgriff auf ExpertInnennetzwerke wurde am Beispiel der Frauenerwerbsarbeit und der Freizügigkeit analysiert. Das ExpertInnenwissen musste nicht zwingend als formaler Beitrag in den Entscheidungsprozess eingehen. Vielmehr prägten die ExpertInnenbeiträge die Art und Weise, wie über das Soziale nachgedacht und soziale Probleme konzipiert wurden. Die ExpertInnen nahmen dabei eine Vermittlerposition ein zwischen der lebensweltlichen Erfahrung, nationalen Interessen und internationalen Diskursen. Auch boten die ExpertInnenbeiträge spezifische Lösungsangebote, die von den KommissionsmitarbeiterInnen selektiv weiterverarbeitet werden konnten. Jedoch zeigten sich abhängig vom Institutionalisierungsgrad des Politikfeldes und dem Organisationsgrad der Interessenverbände Unterschiede im Umgang mit der Expertise. So wurden die Vorstellungen der Familienverbände zur Organisation der Familienbeihilfen und deren Leitbilder von Familien und Geschlechterrollen von der Kommission in der Freizügigkeitspolitik unmittelbar berücksichtigt, die Anregungen der FrauenarbeitsexpertInnen und feministischer Aktivistinnen erst mit zeitlicher Verzögerung. Diese Unterschiede können mit dem Stellenwert der Debatten erklärt werden. Probleme in Hinblick auf die Familienbeihilfen berührten einen Kernbereich des Gemeinsamen Markts: die Umsetzung der Freizügigkeit. Die Angleichung der sozialen Sicherung der WanderarbeitnehmerInnen war im EWGV klar definiert und für den Gemeinsamen Markt unerlässlich. Die Kommission war daher an schnellen Lösungen interessiert und suchte gezielt den Kontakt zu ExpertInnen. Zum Zeitpunkt als die Frauenverbände auf die strukturelle Diskriminierung von Frauen am Arbeitsmarkt hinwiesen, war das Thema Frauenarbeit auf der Agenda der Kommission noch nachrangig. Erst ab Mitte der 1960er Jahre wurde die Frauenerwerbsarbeit im Rahmen der Beschäftigungspolitik als Aktionsfeld entwickelt. Für die Expertise der Familienverbände war der Bedarf quasi bereits erkannt und von der Kommission formuliert worden. Das Thema Freizügigkeit beschäftigte verschiedene Abteilungen und die Verwaltungskommission. Die Familienverbände konnten daher innerhalb der Kommission eine größere Basis erreichen als die Frauenverbände. Dem spielte auch die Haltung der Familienverbände entgegen, da sie die Agenda der EWG mitbestimmen wollten. Möglicherweise verfügten die Familienverbände auch 17 Vgl. zur Funktion von ExpertInnenwissen ebenda, S. 7; Boswell, Christina: The Political Functions of Expert Knowledge: Knowledge and Legitimation in European Union Immigration Policy, in: Journal of European Public Policy, Bd. 15, Nr. 4, 2008, S. 471–488; Dies.: The European Commission’s Use of Research, S. 4, http://aei.pitt.edu/7709/1/boswell-c09c.pdf; Rasmussen: Supranational Governance in the Making, in: Kaiser/Leucht/Rasmussen (Hg.): The History of the European Union, New York/London 2009, S. 49; Ders.: European Rescue of the Nation-state?, in: Kaiser, Wolfram (Hg.): European Union History, Basingstoke 2010, S. 144.
Schlussbetrachtung
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über bessere Ausgangsbedingungen. Es sei daran erinnert, dass die UIOF ein international anerkannter Partner war und dieser Status ihren Forderungen gegenüber der EWG hohes Gewicht verlieh. Die Familienverbände konnten durch den Kontakt zur Kommission ihre Leitbilder in den Entscheidungsprozess einbringen.18 Die Frauenverbände hingegen wollten in den 1960er Jahren nicht zwingend Einfluss auf die Gemeinschaftspolitik, sondern auf die nationale Politik nehmen. Zudem war das Thema Frauenarbeit bzw. Geschlechtergleichheit in den 1960er Jahren noch nicht institutionell verankert. Die Frauenverbände konnten sich nur an einzelne MitarbeiterInnen oder an „marginale“ Dienststellen (Informationsund Presseamt) wenden, deren Position im institutionellen Gefüge selbst unsicher war. An der Entwicklung der Gleichbehandlungspolitik zeigte sich, dass der Rückgriff auf Netzwerke und wissenschaftliche Untersuchungen auch als eine Art Ausweichstrategie genutzt werden konnte. War die Kommission mit ihrer Agenda nicht erfolgreich, versuchte sie, durch wissenschaftliche Expertisen die Notwendigkeit der Gemeinschaftsinitiativen zu belegen. Der Produktionsprozess von ExpertInnenwissen als solcher konnte genutzt werden, um Politikpräferenzen der Kommission zu stützen. Dieser Mechanismus zeigte sich vor allem in den 1970er Jahren, als auch die Institutionalisierung der Gleichstellungspolitik voranschritt. Zunächst konnten die wissenschaftlichen Auftragsarbeiten der Kommission als sozialpolitische Akteurin Legitimität verschaffen. Die Einrichtung von ExpertInnengremien mit RegierungsvertreterInnen (z.B. Ad-Hoc-Frauenarbeit) trug zur Normalisierung der Debatte bei, half Politikpräferenzen zu entwickeln und zu vermitteln und förderte auch bei den nationalen Regierungen das Verständnis für die Notwendigkeit einer Gemeinschaftsinitiative. In Anlehnung an neuere integrationshistorische Arbeiten, die sich auf die Ausbildung und Funktion von Netzwerken konzentrierten, konnte gezeigt werden, dass Frauenverbände früher als bislang in der Forschung angenommen, Einfluss auf die Gemeinschaftspolitik nahmen. Sie leisteten einen wichtigen Beitrag zur Institutionalisierung der Frauenarbeitsfrage bzw. zur Entwicklung der Gleichbehandlungspolitik. Darüber hinaus hatten sie den Aufbau einer gleichstellungspolitischen Infrastruktur gefordert und boten feministischen Beamtinnen Rückhalt. In der Vorbereitung der Gleichbehandlungsrichtlinie (1976) griff die Ad-hoc-Gruppe die Forderungen der Aktivistinnen nach Chancengleichheit auf und übernahm sie in abgeschwächter Form in den Richtlinien-Entwurf. Das Netzwerk der Frauenverbände und die Rolle einzelner Persönlichkeiten verdient allerdings eine eingehendere Untersuchung, als es im Rahmen dieser Arbeit möglich war.19 18 Bei den Veranstaltungen der Kommission und der Familienverbände waren VertreterInnen der GD Soziale Angelegenheiten, der GD Innerer Markt, GD Wettbewerb, GD Landwirtschaft zugegen. Vgl. Liste de participant, V/1129/60, in: HAEU BAC008/1969–19, S. 204– 209. 19 Vgl. zum Forschungsstand Ramot, Marie: Le Lobby Européen des femmes. La voie institutionnelle du féminisme européen, Paris 2006; Hoskyns: Integrating Gender, London/New York 1996, S. 97.
DANKSAGUNG An erster Stelle gebührt meinen Betreuerinnen und Betreuern Dank. Vor allem Prof. Dr. Claudia Kraft hat mich ermutigt, dieses Dissertationsthema zu entwickeln und mir in all den Jahren an der Universität Erfurt und später von der Universität Siegen aus mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Ich möchte mich für ihr persönliches Engagement, ihre Zeit und Mühe bedanken, die sie in meine Arbeit investiert hat. Auch von Prof. Dr. Theresa Wobbe konnte ich wertvolle Anregungen für meine Forschungsarbeit erhalten. Ich danke ihr, dass ich im Rahmen des Workshops „The Pasts and the Futures of European Gender Policy: Where are we now? What has been left out? Where will we move?“ 2009 in Potsdam mein Projekt mit Catherine Hoskyns und anderen Wissenschaftlerinnen diskutieren konnte. Besonders möchte ich die Unterstützung durch das Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien an der Universität Erfurt hervorheben. Ohne das Promotionsstipendium im Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs „Menschenwürde und Menschenrechte“ wäre die Dissertation sicher nicht entstanden. Für die wissenschaftliche Begleitung danke ich Prof. Dr. Dieter Gosewinkel. Ich danke auch all den Fellows, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und Kollegiatinnen und Kollegiaten für die konstruktiven Anregungen und Kommentare in den Kolloquien und den vielen Gesprächen. Ebenso möchte ich den stets hilfsbereiten und freundlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Archive danken, die ich für meine Rercherchen aufgesucht habe. Sie haben mir bei der sprichwörtlichen Suche nach der Nadel im Heuhaufen stets geholfen. Die Archivaufenthalte in Florenz und Genf wurden erst dank der finanziellen Unterstützung durch den DAAD möglich. Selbstverständlich sei an dieser Stelle auch dem Franz Steiner Verlag und den Herausgebern der Reihe für die Aufnahme in ihr Programm gedankt. Leider kann ich nicht alle Personen aufzählen, die mich in den vergangenen Jahren unterstützt haben. Ein besonderer Dank gebührt meiner Familie. Vor allem mein Mann hat sich konstruktiv der Lektüre und Korrektur des Manuskripts angenommen und meine Arbeit als Gesprächspartner mit historischer Fachkenntnis kommentiert. Er hat mich stets bestärkt und mir den Rücken freigehalten.
QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS QUELLEN Historisches Archiv der Europäischen Union, Florenz (HAEU) Hohe Behörde der EGKS: CEAB 02, Secrétariat général CEAB 05, Division relations extérieures CEAB 11, Division travail et affaires sociales Kommission der EWG, Generaldirektion II Wirtschaft und Finanzen: BAC026/1969, (1951–1968) Kommission der EWG, Generaldirektion V Soziale Angelegenheiten: BAC 008/1966, (1957–1966) BAC007/1967, (1958–1967) BAC006/1977, (1954–1974) BAC 237/1980, (1949–1968) Ministerrat der EWG und EURATOM: CM2/1959–45 Mouvement Européen, Commission féminine international, 1948–1999: ME 1627 ME 1653 ME 1663 ME 1755
Historisches Archiv des Ministerrats, Brüssel (HAER) CM2 1967- 36 CM2 1968–974 CM2 1969–1034 CM2 1971–1176
Historisches Archiv der Europäischen Kommission, Brüssel (HAEK) BAC 38/1984 CEAB2 1965 2911
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und zum beruflichen Aufstieg sowie in bezug auf die Arbeitsbedingungen). (Stellungnahme des WSA), ABL C 286, 15.12.1975, S. 8–19. Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in bezug auf die Arbeitsbedingungen, ABL L 39, 14.02.1976, S. 40–42. Vorschlag für eine Richtlinie zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit, ABL C 34, 11.02.1977, S. 3–4. Entschließung mit der Stellungnahme des Europäischen Parlaments zu dem Vorschlag der Kommission der Europäischen Gemeinschaften an den Rat für eine Richtlinie zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit, ABL C 299, 12.12.1977, S.13. Stellungnahme zu dem Vorschlag für eine Richtlinie zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit. (Stellungnahme WSA), ABL C 180, 08.07.1977, S. 38. Entscheidungen des EuGH: Urteil des Gerichtshofes vom 25. Mai 1971. Gabrielle Defrenne gegen Belgischen Staat. Ersuchen um Vorabentscheidung: Conseil d'Etat - Belgien. Gleichheit des Arbeitentgelts. Rechtssache 80–70. Sammlung der Rechtsprechung 1971, S. 445. Urteil des Gerichtshofes vom 8. April 1976. Gabrielle Defrenne gegen Société anonyme belge de navigation aérienne Sabena. Ersuchen um Vorabentscheidung: Cour du travail de Bruxelles Belgien. Gleichheit des Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher Arbeit. Rechtssache 43– 75. Sammlung der Rechtsprechung 1976, S. 455. Urteil des Gerichtshofes vom 15. Juni 1978. Gabrielle Defrenne gegen Société anonyme belge de navigation aérienne Sabena. Ersuchen um Vorabentscheidung: Cour de cassation - Belgien. Gleichheit zwischen männlichen und weiblichen Arbeitnehmern in bezug auf die Beschäftigungsbedingungen. Rechtssache 149/77. Sammlung der Rechtsprechung 1978 Seite 01365, http://eur-lex.europa.eu/Notice.do?val=67128:cs&lang=de&list=67128:cs,67060:cs,53615:cs, 53568:cs,23864:cs,23833:cs,&pos=1&page=1&nbl=6&pgs=10&hwords=defrenne~&checkte xte=checkbox&visu=#texte, letzter Zugriff, 20.11.2012.
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ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS CECIF COREPER ECOSOC EG EGKS EP EURATOM EWG EWGV GD HAEK HAER HAEU HAILO IAA IAK IFR ILO o.D. o.O. UIOF UN UNAF WSA
Centre européen du Conseil international des femmes Comité des représentants permanents/Ausschuss der Ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten Economic and Social Council/Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen Europäische Gemeinschaften Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Europäisches Parlament Europäische Atomgemeinschaft Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWG-Vertrag Generaldirektion Historisches Archiv der Europäischen Kommission, Brüssel Historisches Archiv des Ministerrats, Brüssel Historisches Archiv der Europäischen Union, Florenz Historisches Archiv der International Labour Organisation, Genf Internationales Arbeitsamt Internationale Arbeitskonferenz Internationaler Frauenrat International Labour Organisation Ohne Datum Ohne Ort Union internationale des organismes familiaux United Nations Union Nationale des Associations Familiales Wirtschafts- und Sozialausschuss
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ZUR REIHE „STUDIEN ZUR GESCHICHTE DER EUROPÄISCHEN INTEGRATION“ Mit zunehmendem Abstand zum Beginn des europäischen Integrationsprozesses nimmt die Bedeutung der Geschichtswissenschaften im Spektrum der wissenschaftlichen Erforschung des Europäischen Integrationsprozesses zu. Auch wenn die übliche dreißigjährige Sperrfrist für Archivmaterial weiterhin ein Hindernis für die Erforschung der jüngeren Integrationsgeschichte darstellt, werden die Zeiträume, die für die Wissenschaft zugänglich sind, kontinuierlich größer. Heute können die Archive zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl bis hin zur ersten Erweiterung eingesehen werden; in einem Jahrzehnt wird ein aktengestütztes Studium der Rahmenbedingungen der Mittelmeererweiterung und der Entstehung der Einheitlichen Europäischen Akte möglich sein. Darüber hinaus ist der Beitrag der Geschichtswissenschaften auch heute schon Rahmen der Erforschung der jüngsten Integrationsgeschichte nicht mehr zu übersehen. Ihre Methodenvielfalt hilft dabei, die durch Sperrfristen der Archive entstandenen Probleme auszugleichen. Allerdings findet der einschlägige geschichtswissenschaftliche Diskurs in der Regel immer noch im nationalstaatlichen Kontext statt und stellt damit, so gesehen, gerade in Bezug auf die europäische Geschichte einen Anachronismus dar. Vor diesem Hintergrund haben sich Forscherinnen und Forscher aus ganz Europa und darüber hinaus dazu entschlossen, eine Schriftenreihe ins Leben zu rufen, die die Geschichte der Europäischen Integration nicht nur aus einer europäischen Perspektive beleuchtet, sondern auch einem europäischen Publikum vorlegen möchte. Gemeinsam mit dem Verlag Franz Steiner wurde deshalb die Schriftenreihe Studien zur Geschichte der Europäischen Integration (SGEI) gegründet. Ein herausragendes Merkmal dieser Reihe ist ihre Dreisprachigkeit – Deutsch, Englisch und Französisch. Zu jedem Beitrag gibt es mehrsprachige ausführliche und aussagekräftige Zusammenfassungen des jeweiligen Inhalts. Damit bieten die Studien zur Geschichte der Europäischen Integration interessierten Leserinnen und Lesern erstmals einen wirklich europäischen Zugang zu neuesten geschichtswissenschaftlichen Erkenntnissen auf dem Gebiet der Geschichte der Europäischen Integration.
CONCERNANT LA SÉRIE » ETUDES SUR L’HISTOIRE DE L’INTÉGRATION EUROPÉENNE « L’importance des recherches historiques ne cesse d’augmenter au sein de l’éventail qu’offrent les recherches scientifiques sur le processus d’intégration européenne, et ce à mesure que le recul par rapport au début du processus d’intégration européenne se fait de plus en plus grand. Même si le délai d’attente habituel de trente ans pour la consultation des archives constitue encore un obstacle pour les recherches sur l’histoire récente de l’intégration, les périodes accessibles à la recherche se révèlent de plus en plus étendues. A l’heure actuelle, les archives datant de la fondation de la Communauté Européenne du Charbon et de l’Acier jusqu’au premier élargissement peuvent être consultées ; d’ici dix ans, une étude documentée des conditions générales de l’élargissement méditerranéen et de la conception de l’Acte unique européen sera possible. La contribution des recherches historiques dans le cadre de la recherche sur l’histoire toute proche de l’intégration est dès à présent remarquable. La diversité de méthodes utilisées permet en effet de régler des problèmes engendrés par le délai de blocage des archives. Toutefois, le débat historique s’y rapportant s’inscrit encore généralement dans le contexte de l’Etat-nation et représente, de ce point de vue, un anachronisme par rapport à l’histoire européenne. C’est dans ce contexte que des chercheuses et chercheurs de toute l’Europe et au-delà ont décidé de lancer une série d’ouvrages qui mettent en lumière l’histoire de l’intégration européenne non seulement dans une perspective européenne, mais qui se veut également accessible à un large public européen. Cette série d’ouvrages, intitulée Etudes sur l’Histoire de l’Intégration Européenne (EHIE), a été créée en collaboration avec la maison d’édition Franz Steiner. Le caractère trilingue de cette série – allemand, anglais et français – constitue une particularité exceptionnelle. Chaque contribution est accompagnée de résumés plurilingues, détaillés et éloquents sur le contenu s’y rapportant. Les Etudes sur l’Histoire de l’Intégration Européenne offrent pour la première fois aux lectrices et lecteurs intéressés un accès réellement européen aux avancées historiques les plus récentes dans le domaine de l’histoire de l’intégration européenne.
ABOUT THE SERIES “STUDIES ON THE HISTORY OF EUROPEAN INTEGRATION” With increasing distance to the process of European integration, there is a growing significance of the historical sciences within the range of the scientific research on the European integration process. Even if the usual blocking period for archive sources is still an obstacle for researching the more recent history of integration, the periods which are accessible for the sciences are continuously becoming more extended. Today, the archives on the foundation of the European Coal and Steel Community are accessible as far as to the first extension; in one decade it will be possible to gain access to the appropriate files for studying the history of the prerequisites of the Mediterranean extension and the development of the Single European Act. Furthermore, already today the contribution of historic sciences in the context of researching the most recent history of integration cannot be overlooked. Their variety of methods helps with balancing problems resulting from the blocking periods for archives. However, usually the relevant historic discourse still happens in the context of national states and is thus, if we like to see things this way, rather an anachronism in respect of European history. Against this background, researchers from all over Europe and beyond have decided to found a series of publications which intends not only to shed light on the history of European integration from a European point of view but also to present this to a European audience. For this reason, together with the Franz Steiner Publishing House the series of publications Studies on the History of European Integration (SHEI) was founded. One outstanding feature of this series will be its trilingualism – German, English and French. For every contribution there will be extensive and telling summaries of the respective contents in several languages. Thus, by Studies on the History of European Integration interested readers will for the first time be offered a really European approach at most resent historic insights in the field of the history of European integration.
Die 1970er Jahre gelten als Ausgangspunkt der inzwischen weit entwickelten EU-Geschlechterpolitik. Doch bereits in der ersten Integrationsphase (1958–1972) konnten soziale und ökonomische Ungleichheiten aufgrund des Geschlechts thematisiert werden, denn der mit dem Integrationsprojekt verbundene Gleichheitsanspruch beinhaltete bereits eine geschlechterpolitische Dimension. Ausgehend vom gesellschaftlichen und strukturellen Wandel, dem globalen Gleich-
heitsdiskurs – vertreten durch die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) – und der institutionellen Entwicklung der EWG zeichnet Kristin Reichel nach, unter welchen Bedingungen das Geschlecht als Kategorie der Problembeschreibung formuliert wurde. Anhand der Kommissionsinitiativen im Bereich Mutterschutz, Frauenarbeit, Berufsbildung und Freizügigkeit zeigt sie die Ambivalenz der Geschlechter- und Familienleitbilder in den Kommissionsinitiativen.
SGEI SG SHEI SH EHIE E www.steiner-verlag.de
Franz Steiner Verlag
ISBN 978-3-515-10776-1
9
7835 1 5 107 761