Diskriminierung von Christen in der DDR: Band 1: Militarisierung und Widerstand in den 1960er Jahren [1 ed.] 9783666500121, 9783525500125


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German Pages [359] Year 2023

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Diskriminierung von Christen in der DDR: Band 1: Militarisierung und Widerstand in den 1960er Jahren [1 ed.]
 9783666500121, 9783525500125

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Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte Reihe B: Darstellungen, Band 88 In den 1960er Jahren beschleunigte die DDR die Militarisierung der Gesellschaft. Die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht und weitere wehrerzieherische Maßnahmen stießen auf zum Teil heftigen Widerstand. Wer sich aus christlicher oder pazifistischer Überzeugung widersetzte, lief Gefahr, Repressionen und Diskriminierung zu erfahren. Wie aber hängen diese Themen genauer zusammen? Die Autorinnen und Autoren des Sammelbandes gehen aus verschiedenen Perspektiven dem Verhältnis von Widerstand und Diskriminierung nach. Neben historischen Kontextualisierungen untersuchen sie Formen des christlichen Widerstandes, Diskriminierungen von Individuen und Gruppen sowie konfessionelle Spezifika. Abgerundet wird der Band durch ein Interview mit Rainer Eppelmann. Insgesamt entsteht ein differenziertes Panorama, das neue Erkenntnisse über die DDR bietet. Die Herausgeber Christopher Spehr ist Professor für Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Spehr / Lehmann  (Hg.)  Nachrichten aus der Politik

32mm

Format: Bez.155x232, Aufriss: HuCo

Christopher Spehr / Roland M. Lehmann (Hg.)

Diskriminierung von Christen in der DDR Band 1: Militarisierung und Widerstand in den 1960er Jahren

Roland M. Lehmann ist Privatdozent für Kirchengeschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena sowie Wissenschaftlicher Koordinator des Forschungsteams im Drittmittelprojekt »Diskriminierung von Christen in der DDR. Dargestellt am Beispiel von Bausoldaten, Totalverweigerern und Jugendlichen im Widerstand gegen die Wehrerziehung in den 1960er-Jahren mit Schwerpunkt Thüringer Raum«.

ISBN 978-3-525-50012-5

AKIZ B 88

9 783525 500125

9783525500125_Spehr_Lehmann_Umschlag_neue.indd Alle Seiten

13.07.23 12:27

Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte

Herausgegeben im Auftrag der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte von Siegfried Hermle und Harry Oelke Reihe B: Darstellungen Band 88

Vandenhoeck & Ruprecht

Christopher Spehr / Roland M. Lehmann (Hg.)

Diskriminierung von Christen in der DDR Band 1: Militarisierung und Widerstand in den 1960er Jahren

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber https://dnb.de abrufbar.  2023 Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Gçttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schçningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Bçhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschþtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: 3w+p, Rimpar Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197-0874 ISBN 978-3-666-50012-1

Vorwort

Der vorliegende Band vereint 16 Beiträge der interdisziplinären und konfessionsübergreifenden Tagung „Diskriminierung von Christen in den 1960er Jahren der DDR“, die vom 27. bis 29. September 2021 in den Rosensälen und der Aula der Friedrich-Schiller-Universität Jena stattfand. In vier Abteilungen, ergänzt durch ein Interview als fünfte Abteilung, wurde über „Militarisierung“, „christlichen Widerstand und staatliche Gegenmaßnahmen“, „Formen der Diskriminierung“ und „Diskriminierung christlicher Konfessionen und Sondergemeinschaften“ referiert und diskutiert. Hierbei entstand ein differenziertes Panorama im Spannungsfeld von Militarisierung, Widerstand und Diskriminierung, das neue Einblicke und Perspektiven für die historische und kirchenhistorische Zeitgeschichtsforschung der DDR in den 1960er Jahren bietet. Die Tagung war Teil des vom Freistaat Thüringen finanzierten Forschungsprojekts „Diskriminierung von Christen in der DDR. Dargestellt am Beispiel von Bausoldaten, Totalverweigerern und Jugendlichen im Widerstand gegen die Wehrerziehung in den 1960er Jahren mit Schwerpunkt Thüringer Raum“, zu dem seit Januar 2020 ein fünfköpfiges Team am Lehrstuhl für Kirchengeschichte in Jena forscht. Durchgeführt werden konnte die Tagung dank der großzügigen Unterstützung der Ernst-Abbe-Stiftung und des Freistaates Thüringen. Im Rahmen der Tagungsvorbereitung kam es zu einem intensiven Austausch mit zahlreichen Personen aus verschiedenen Einrichtungen. Zu danken ist den Expertinnen und Experten der Stiftung Ettersberg, dem Thüringer Archiv für Zeitgeschichte „Matthias Domaschk“, der Evangelischen Akademie Thüringen, dem BMBF-Verbundprojekt „Diktaturerfahrung und Transformation: Biographische Verarbeitungen und gesellschaftliche Repräsentation in Ostdeutschland seit den 1970er Jahren“, dem Lehrstuhl für Kirchengeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt, der Arbeitsstelle Pädagogische Lesungen an der Universität Rostock sowie der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Der Dank gilt besonders den Vortragenden, die ihre Beiträge für den Band zur Verfügung stellten. Um die redaktionellen Arbeiten machten sich die studentischen Assistentinnen Pia Martin und Johanna Rosin verdient, welche auch das Register anfertigten. Dass der Band in der Reihe „Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte“ erscheinen darf, verdanken wir der „Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für

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Vorwort

kirchliche Zeitgeschichte der EKD“ und den beiden Reihenherausgebern Prof. Dr. Harry Oelke (München) und Prof. Dr. Siegfried Hermle (Köln). Für die professionelle Betreuung und Drucklegung sei ihnen und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verlags Vandenhoeck & Ruprecht in der BrillGruppe herzlich gedankt. Ermöglicht wurde der Druck dank der wertvollen Förderung durch die Ernst-Abbe-Stiftung und die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland. Jena, den 3. Oktober 2022

Christopher Spehr und Roland M. Lehmann

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Christopher Spehr / Roland M. Lehmann Diskriminierung von Christen in der DDR im Horizont von Militarisierung und Widerstand – Eine Einführung . . . . . . . . . . .

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I. Militarisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Detlef Pollack Evangelische Theologie und Kirche unter den Bedingungen der kalkulierten Repressions- und Abgrenzungspolitik der DDR in den 1960er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

Claudia Lepp Die „Remilitarisierung“ der beiden deutschen Staaten und die evangelischen Kirchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

Klaus Fitschen Die evangelische Kirche in der DDR und die Militarisierung der Jugend: Das Zeugnis des Friedens angesichts der Erziehung zum Hass

71

Kristina Koebe Wehrerzieherische Elemente im DDR-Unterricht der 1960er Jahre im Spiegel von Pädagogischen Lesungen dieser Zeit . . . . . . . . . . . . .

83

II. Christlicher Widerstand und staatliche Gegenmaßnahmen . . 95 Hans-Hermann Dirksen Entwicklungen bei der Rechtsverfolgung des aktiven Widerstandes von Christen durch die DDR-Justiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

97

8

Inhalt

Heiner Bröckermann Das Thema der Wehr- und Waffendienstverweigerer innerhalb der NVA und im Nationalen Verteidigungsrat der DDR . . . . . . . . . . . . . . 115 Christiana Steiner Walter Schilling und die Offene Arbeit als Akteure widerständigen Handelns gegenüber Kirche und DDR-Staat . . . . . . . . . . . . . . . 135 Henning Pietzsch Kirchliche Jugendarbeit in Jena und im Thüringer Raum . . . . . . . . 163

III. Formen der Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Albert Scherr Diskriminierung / Antidiskriminierung – Begriffe und Grundlagen

. . 181

Roland M. Lehmann Facetten von Diskriminierung – Annäherungen zur kirchengeschichtlichen Erforschung der DDR . . . . . . . . . . . . . . 195

IV. Diskriminierung christlicher Konfessionen und Sondergemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Christopher Spehr Der „Thüringer Weg“ im Kontext der Diskriminierung von Christen in der DDR in den 1960er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Jörg Seiler Diskriminierung katholischer Christen in der DDR in den 1960er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Roland Cerny-Werner Zwischen globalem Blick und notwendigem Handeln vor Ort – Vatikanische Perspektiven auf die Lage der Katholischen Kirche in der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Falk Bersch Die Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas als marginalisierte und diskriminierte Gruppe im Kontext der Einführung der Wehrpflicht . . 295

Inhalt

9

Bernhard Thiessen Eingeschüchtert – Angepasst – Aufrechtgegangen: Mennoniten in der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315

V. Interview . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Roland M. Lehmann Im Gespräch mit Rainer Eppelmann: Das Bausoldatentum als „Schule der Demokratie“ – Erfahrungen als Bausoldat . . . . . . . . . . . . . . 343 Abkürzungsverzeichnis

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349

Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353

Christopher Spehr / Roland M. Lehmann

Diskriminierung von Christen in der DDR im Horizont von Militarisierung und Widerstand – Eine Einführung Diskriminierung gehört für viele Menschen weltweit zum Alltag, indem sie Ausgrenzungen und Benachteiligungen aufgrund von religiösen, ethnischen oder sozialen Zugehörigkeiten sowie vermeintlichen Zuschreibungen erleben1. Von besonderer Brisanz sind diese Formen menschlicher Herabwürdigung, wenn sie von totalitären Regierungen gezielt als Mittel zur Unterdrückung Andersdenkender eingesetzt werden2. In der DDR war Diskriminierung ein systemimmanentes Instrument, um nonkonformes Verhalten einzudämmen. Wer sich nicht regimetreu zeigte, konnte schnell in Konflikt mit den staatlichen Behörden geraten und Benachteiligungen auf rechtlicher, sozialer, berufs- und bildungsbiografischer Ebene erleiden. Dies betraf auch die Christen in der DDR, die aufgrund ihres Glaubens der atheistischen Staatsideologie kritisch gegenüberstanden3. Auch über dreißig Jahre nach Ende der DDR sind die Erfahrungen mit der Willkürherrschaft des SED-Regimes in der Generation, die sie erleiden musste, noch präsent. Repressionen und Diskriminierungen konnten sich dabei auf alle Lebensbereiche erstrecken – im Beruf, in der Schule und auch im Alltag. Wenn in diesem Zusammenhang von Christen gesprochen wird, dann sind damit alle männlichen Anhänger und weiblichen Anhängerinnen christlichen Glaubens sowohl der Großkirchen als auch der religiösen Sondergemeinschaften gemeint. Die maßgebliche Konfliktlinie zwischen christlichem Widerstand und repressiven Maßnahmen des DDR-Staats verlief in den 1960er Jahren vor dem Hintergrund der Militarisierung der Gesellschaft. Zwar bezeichnete sich die DDR selbst als „Friedensstaat“ – der Alltag der Menschen war jedoch auffällig stark militarisiert. Nicht nur im Rahmen der Nationalen Volksarmee oder in den militärisch organisierten Einrichtungen des Staatssicherheitsdienstes, der Bereitschaftspolizei und der Betriebskampfgruppen war der Staat darauf ausgerichtet, junge Menschen auf den Verteidigungsfall vorzubereiten, son1 Die Einleitung verzichtet der Übersichtlichkeit halber auf umfangreiche Literaturhinweise und beschränkt Einzelnachweise auf grundlegende Literatur zu den größeren Problemzusammenhängen. 2 Einen aktuellen Einblick in die Diskriminierungsforschung geben Scherr / El-Mafaalani / Yeksel, Handbuch. 3 Vgl. die Überblickswerke zur Kirchengeschichte der DDR von Mau, Protestantismus; Maser, Kirchen; Neubert, Geschichte; Albrecht-Birkner, Freiheit; Stegmann, Kirchen.

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dern auch im Bildungssystem vom Kindergarten bis zur Universität. Insofern bildet das Thema „Militarisierung“ den gesellschaftshistorischen Ausgangspunkt des Sammelbandes, der in der ersten Abteilung diskutiert wird. Von dort aus erfolgt in der zweiten Abteilung eine Darlegung verschiedener Fallbeispiele, in denen es aufgrund der Militarisierung zum christlichen Widerstand gekommen ist. Die dritte Abteilung nimmt eine Metaperspektive ein, indem in ihr Grundlagen und Theorien des Diskriminierungsbegriffs geklärt werden und eine Einführung in die Diskriminierungsforschung erfolgt. In der vierten Abteilung wird ein kirchenhistorischer Standpunkt eingenommen, der eine konfessionelle Ausdifferenzierung vornimmt und die Situation zwischen einzelnen Kirchen bzw. Sondergemeinschaften und dem DDR-Staat ins Auge fasst. Abgerundet wird der Tagungsband mit einer fünften Abteilung, in der ein Gespräch mit Rainer Eppelmann zu lesen ist, das am 27. September 2022 in der Aula der Friedrich-Schiller-Universität Jena vor Publikum stattfand. Im Folgenden soll zunächst in die einzelnen Abteilungsthemen eingeführt werden, um sodann die jeweiligen Beiträge des Sammelbandes vorzustellen und aufeinander zu beziehen.

1. Konturen der Militarisierung Der Globale Militarisierungsindex des Bonner International Centre für Conflict Studies versteht das Phänomen „Militarisierung“ im quantitativen Sinne. Dieser Index gibt die zur Verfügung stehenden Mittel und Kapazitäten der staatlichen Streitkräfte an4. Hierzu werden u. a. die Militärausgaben auf das Bruttoinlandsprodukt bezogen, um die Bedeutung des staatlichen Militärapparats im Verhältnis zur Gesellschaft zu ermitteln. Mit solchen Instrumenten können jedoch nicht die ideologischen Maßnahmen der jeweiligen Staaten gemessen werden, die zur militärischen Erziehung der Bevölkerung angewendet werden. Die Militarisierung des Alltags begann in der DDR von Kindesbeinen an und blieb von da an dauerhaft präsent. In den 1960er Jahre ist die Militarisierung der Gesellschaft der DDR an mehreren historischen Ereignissen festzumachen5. Dazu zählen die Abriegelung der Sektorengrenzen am 13. August 1961, die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht am 24. Januar 1962, die Anordnung des Nationalen Verteidigungsrates zur Aufstellung von Baueinheiten in der NVA vom 7. September 1964 und die Etablierung einer obligatorischen wehrerzieherischen Ausbildung in Form eines ein- bis zweiwöchigen Lehrgangs für Schülerinnen und 4 Vgl. Bayer, Militarisierungsindex. 5 Vgl. grundlegend zum Thema „Militarisierung in der DDR“ die Werke von Brçckermann, Militarisierung; ders., Landesverteidigung.

Diskriminierung von Christen in der DDR – Eine Einführung

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Schüler der Erweiterten Oberschulen, der Spezial- und Fachschulen sowie für Lehrlinge der Berufsausbildung seit dem Schuljahr 1968/69. Gegen jegliche dieser Maßnahmen regte sich Kritik vonseiten der Kirchen und Opposition, so dass es notwendig ist, diesen Kontext in einem ersten Beitrag des Sammelbandes zu thematisieren. Detlef Pollack eröffnet den Tagungsband mit einer Untersuchung über die Evangelische Theologie und Kirche unter den Bedingungen der kalkulierten Repressions- und Abgrenzungspolitik der DDR. Zunächst untersucht er die Kursverschärfung der DDR seit 1952, die den offensiven Kampf gegen die sozialen und finanziellen Grundlagen der evangelischen Kirchen einläutete. Dabei war die Kirchenpolitik des SED-Regimes von einer Doppelstrategie geprägt: einerseits unnachgiebig in der Sache, aber konziliant in der Form. Eine solche Differenzierungspolitik belohnte die dem Staat gegenüber loyalen Teile der Kirchen, wohingegen die staatskritischen Kräfte benachteiligt wurden. Die Reaktion der Kirchen auf die Repressionspolitik der DDR bestand zunächst darin, Protest zu üben, um danach jedoch verstärkt auf Verhandlungen mit den staatlichen Vertretern hinter geschlossenen Türen zu setzten, damit die Handlungsmöglichkeiten der Kirchen bewahrt würden. Beim Bau der Berliner Mauer nahm die evangelische Kirche eine eher devote Haltung ein. Theologisch lassen sich drei kirchliche Positionen mit Blick auf den ausgeübten politischen Druck ausmachen. Die erste Position formulierte eine stärkere Abgrenzung vom DDR-Staat, die zweite hingegen sah eine angemessene Antwort eher in der Veränderung der kirchlichen Strukturen, um sich für die sozialistisch geprägte Gesellschaft zu öffnen. Zwischen beiden Lagern formierte sich eine dritte Mittelposition, die in den „Zehn Artikeln über Freiheit und Dienst der Kirche“ von 1963 festgehalten ist. Pollack kritisiert dabei die Tendenz einer gewissen „Übertheologisierung“, bei der die Theologie für die Anpassung des Handelns an die politischen Verhältnisse der DDR instrumentalisiert wurde, wenn beispielsweise gefordert wurde, die Kirche möge christusgleich sich selbst verleugnen, um ganz für den anderen da zu sein. Claudia Lepp vergleicht in ihrem Beitrag die „Remilitarisierung“ der beiden deutschen Staaten. In der Bundesrepublik erfolgte die Wiederbewaffnung bereits seit den 1950er Jahren. Nach ihrer Gründung am 1. April 1956 wurde die Bundeswehr zunehmend in der Gesellschaft entweder als praktische Notwendigkeit oder als charakterbildende Einrichtung akzeptiert. Eine Liberalisierung des Zivildienstrechts fand indes zunächst nur zögerlich statt. In der DDR hingegen wurde der Ausdruck „Militarismus“ als ideologischer Kampfbegriff und als Vorwurf gegen die Bundesrepublik verwendet. Faktisch verfolgte die SED jedoch seit ihren Anfängen ebenfalls eine Wiederaufrüstung. Die kasernierte Volkspolizei, die im Juli 1952 gegründet wurde, wandelte man 1956 zur Nationalen Volksarmee um. Das wesentliche Motiv für die darauffolgende breite Militarisierung der Gesellschaft war die Festigung der DDR sowohl nach außen als auch nach innen. Die Kirchen waren dabei in der ersten

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Hälfte der 1950er Jahre in der Frage der Wiederbewaffnung zutiefst zerstritten. Quer zur Ost-West-Grenze verlief die Trennlinie zwischen einem lutherisch geprägten Mehrheitsprotestantismus, die auf der Grundlage der sogenannten Zwei-Reiche-Lehre keine politische Position zur Wiederbewaffnung beziehen wollte, und einem von Karl Barths Theologie beeinflussten Minderheitsprotestantismus, die eine Wiederbewaffnung vor dem Hintergrund der theologischen Lehre von der „Königsherrschaft Christi“ ablehnte. In den 1960er Jahren blieb die Frage der Kriegsdienstverweigerung ein weiterhin umstrittenes Thema, welches jede kirchliche Stellungnahme in Ost wie West schwierig gestaltete. Klaus Fitschen betrachtet die Kirchenpolitik und Friedenspädagogik der evangelischen Kirche in der DDR als Reaktion auf die Militarisierung der Jugend. In den 1960er Jahren hielten sich die ostdeutschen Landeskirchen mit Äußerungen zum Thema Frieden eher zurück. Eine Ausnahme bildete die „Handreichung für Seelsorge an Wehrpflichtigen“ aus dem Jahr 1965, wenngleich der Text faktisch kaum Wirkung zeigte. Ziel der Militarisierung war nicht nur die Landesverteidigung, sondern auch die Konformisierung und Entindividualisierung der Kinder und Jugendlichen. Dagegen setzte die Kirche ein Rahmenkonzept zur „Erziehung zum Frieden“, bei der die Positionen zwischen Kirchenleitung und den Initiativen „von unten“ manches Mal auseinandergingen. Ein deutliches Zeichen setzten die Gemeinden durch die Friedensdekaden in den 1980er Jahren. Die Kirche bot denen, die Widerspruch und Opposition wagten, einen Schutzraum und die Möglichkeit, eine alternative Gegenöffentlichkeit zu etablieren. Der Beitrag von Kristina Koebe weitet den Blick auf das Thema Militarisierung, indem sie die wehrerzieherischen Elemente im DDR-Unterricht im Spiegel von Pädagogischen Lesungen betrachtet. Sie geht der Frage nach, wie sich die Bemühungen um die Schaffung eines Wehrbewusstseins an den Schulen vor 1968 gestalteten. Wertvolle Quellen sind hierfür die Pädagogischen Lesungen, welche ausführliche Abhandlungen über pädagogische Praktiken darstellen, die von den Lehrenden selbst verfasst wurden. Die Wehrerziehung wurde dabei insbesondere im Geschichtsunterricht und in der Staatsbürgerkunde verortet, hielt aber auch Einzug in alle übrigen Fächer. Anvisiert wurde ein komplexes Gefüge wehrerzieherischer Maßnahmen, die den Schulalltag über alle Fächer hinweg prägen sollten. Dabei standen theoretische Wissensvermittlung, Charakterbildung und körperliches Training im Fokus.

Diskriminierung von Christen in der DDR – Eine Einführung

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2. Christlicher Widerstand gegen die Staatsgewalt Die zeithistorische Beschreibung von Widerstand und Opposition zählt zu den zentralen Gegenständen der Erforschung moderner Diktaturen6. Gleichwohl fehlt bislang eine konsensfähige und abschließende Definition von Widerstand – insbesondere für die DDR-Forschung. Grundsätzlich bezeichnet Widerstand eine Form der Auflehnung im Rahmen asymmetrischer Herrschaftsbeziehungen7. Dabei sind verschiedene Modelle zur Abstufung der Phänomene aufgestellt worden. So macht Ilko-Sascha Kowalczuk unter dem Oberbegriff „Widerstand“ vier Handlungsakte aus: Die gesellschaftliche Verweigerung, der soziale Protest, die politische Dissidenz und der Massenprotest8. Hubertus Knabe unterscheidet den politischen Widerspruch nach dem Grad der Energie. Die Steigerungsformen lauten Resistenz, partielle Kritik, sozialer Protest, passiver Widerstand, neue soziale Bewegungen, politischer Protest, Dissidenz, politische Opposition, aktiver Widerstand und Aufstand9. Solche Modelle bleiben jedoch abstrakt, wenn es nicht gelingt, in den einzelnen historischen Etappen der Zeitgeschichte konkrete Ereignisse passgenau einordnen zu können. Statt eines deduktiven Ansatzes, der ein typisierendes Modell aufstellt und dann versucht, die Ereignisse darauf zu beziehen, ist zunächst auf die Einzelfälle zu blicken und dann induktiv zu einem Ordnungsschema zu gelangen. Diesen Weg ist für die Geschichte der DDR Ehrhart Neubert gegangen10. Dabei unterscheidet er zwischen legaler Opposition, bei der Neubert das abweichende Verhalten der Blockparteien, Kirchen, sozialethischen Gruppen oder der Bürgerbewegungen im Jahr 1989 vor Augen hat. Von der legalen Opposition ist der illegale Widerstand abzugrenzen. Er besteht in spontanen Massenaufständen, unterdrückten sozialen Milieus, Sabotage- oder Flugblattaktionen sowie in der Entscheidung zur Flucht oder Ausreise. Die dritte Form bezeichnet Neubert als unorganisierten, politischen Widerspruch. Dazu gehören Handlungen innerhalb der SED von Einzelnen oder Gruppen, wie Intellektuellen oder Subkulturen sowie kritische Meinungsäußerungen im Alltag. Freilich sind hier die Grenzen nicht immer randscharf zu ziehen. Dennoch bietet das Schema von Neubert die Grundlage, um weitere Einzelfälle des christlichen Widerstands zu erschließen, die in diesem Sammelband in der zweiten Abteilung diskutiert werden. Dabei ist von Interesse, dass mit Blick auf die staatlichen Gegenmaßnamen sowohl eine

6 Zum fachwissenschaftlichen Diskurs vgl. den Aufsatzband von Brechenmacher, Zeitgeschichte und die Einführung in die Widerstandsforschung von Halbrock, Freiheit, 31–37. 7 Vgl. hierzu die grundsätzlichen Erwägungen aus dem Jahr 1977 von Hettenberger, Vorüberlegungen, 116–134, hier 126. 8 Vgl. Kowalczuk, Freiheit, 85–115, hier 97. 9 Vgl. Knabe, DDR-Opposition, 184–198, hier 197. 10 Vgl. Neubert, Geschichte, 29–33.

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rechtshistorische als auch eine militärhistorische Perspektive eingenommen wird. Den aktiven Widerstand von Christen aus der Perspektive der Rechtsverfolgung durch die DDR-Justiz nimmt Hans-Hermann Dirksen in den Blick. Seit den 1950er Jahren begann die strafrechtliche Verfolgung von Christen insbesondere gegen die Zeugen Jehovas. Nach dem Mauerbau gerieten ebenfalls Wehrdienstverweigerer ins Visier der Behörden, während ab den 1970er Jahren die Strafverfolgung oppositioneller Gruppen dominierte. Dabei konnten die Behörden bis 1968 gar keine Maßnahmen aufgrund unrechtmäßiger Religionsausübung vornehmen, weil es vor diesem Zeitpunkt noch keine geeigneten Strafnormen für Religionsverbrechen in der DDR-Verfassung gab. Stattdessen verfolgte man rein religiös motivierte Handlungen mit den Mitteln des politischen Strafrechts. Heiner Bröckermann untersucht das Thema der Wehr- und Waffendienstverweigerer innerhalb der NVA und dessen Diskussion im Nationalen Verteidigungsrat der DDR. Der Militärhistoriker beginnt seine Überlegungen damit, dass die NVA den Wehrdienst mehr als Bürgerrecht denn als Bürgerpflicht angesehen habe. Angebote zur Einrichtung einer Militärseelsorge in der NVA gab es in den 1950er Jahren, welche aber abgelehnt wurden. Der Mauerbau 1961 und die Einführung der Wehrpflicht 1962 wurde vom SEDRegime und von der NVA als „Sicherung des Friedens“ angesehen. Auf die darauffolgende Verweigerung des Wehrdienstes war die NVA nicht richtig vorbereitet. Die Zeit von 1962 bis 1964 betrachtet die DDR-Militärgeschichtsforschung eher als konzeptionslose Phase. Die im Jahr 1964 eröffnete Möglichkeit für einen waffenlosen Wehrdienst in den neu eingerichteten Baubataillonen schuf einen gewissen Ausgleich. Jedoch verhinderte das SEDRegime, dass die Möglichkeit eines solchen Ersatzdienstes in der Öffentlichkeit bekannt gemacht wurde. Insgesamt kommt Bröckermann zu dem Schluss, dass die Wehrdienstverweigerung aufgrund der geringen Umfänge in erster Linie weniger ein militärisches Problem der NVA als vielmehr ein ideologisches und herrschaftspolitisches Problem der SED-Führung war. Christiana Steiner berichtet über die Offene Arbeit Walter Schillings als Zentrum widerständigen Handelns. Ende der 1970er Jahre galt das Rüstfreizeitheim in Braunsdorf bei Saalfeld als Anlaufstelle für opponierende und nonkonforme Jugendliche in der DDR. Seit 1956 überwachte die Staatssicherheit den Kreisjugendpfarrer Walter Schilling, der mit den „Jugendgroßveranstaltungen“ JUNE (1978/79) und seinen „Gottesdiensten – einmal anders“ immer wieder Aufsehen erregte. Die Kreisdienststelle für Staatssicherheit Rudolstadt versuchte aufgrund des „Verdachts auf staatsfeindliche Gruppenbildung“ die Arbeit Schillings zu zersetzen und schloss das Heim 1974. Theologisch zentral war in der Offenen Arbeit das Jesus-Bild, welches ihn als sich den Randgruppen widmenden Menschen hervorhob. Über den sozialdiakonischen Ansatz hinaus suchte Schilling die Jugendlichen zu begleiten, damit sie selbst das Evangelium verkünden könnten.

Diskriminierung von Christen in der DDR – Eine Einführung

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Einem weiteren, bis in die 1980er Jahre ausgreifenden Forschungsfeld widmet sich Henning Pietzsch, indem er die kirchliche Jugendarbeit in Jena und im Thüringer Raum analysiert. In den 1970er Jahren bildeten sich Jugendzentren in Rudolstadt, Saalfeld, Jena und Weimar aus, die sich zunehmend auch mit vielen kleineren Orten überregional vernetzten. Eine zentrale Rolle in Jena spielte der Jugenddiakon Thomas Auerbach, der neben zwei weiteren Theologiestudierenden aufgrund ihres Protests gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns kurzzeitig verhaftet wurde. Weitere prägende Gestalten in den 1980er Jahren waren die Diakone Wolfgang Musigmann in Erfurt und Lothar König in Jena. Dabei erforderte das jeweilige Agieren der christlichen Jugendlichen innerhalb und außerhalb der Kirchengemeinden eine ständige Balance zwischen Anpassung und Konfrontation. Aufgrund der permanenten Repressionen kam es im Rahmen der Offenen Arbeit zu einer dauerhaften Politisierung immer weiterer neuer Gruppen.

3. Diskriminierungsbegriff und Diskriminierungsforschung Das Thema „Diskriminierung“ wird seit Jahren intensiv im politischen Bereich debattiert. Auslöser waren die Antidiskriminierungsgesetze der Europäischen Union im Jahr 2000 und das 2006 verabschiedete bundesdeutsche „Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz“11. Durch diese Entwicklungen hat auch die Wissenschaft ihre Aufmerksamkeit auf dieses Phänomen gelenkt. In den historischen Wissenschaften jedoch ist der Begriff bisher kaum etabliert. Für die im Sammelband verhandelten Themen ist von einem umfassenden Verständnis von „Diskriminierung“ auszugehen. Dies schließt verschiedene Aspekte mit ein: die Motivation (bewusst oder unbewusst), die Akteurinnen und Akteure (individuell oder institutionell), die Äußerungsformen (direkt oder indirekt), den Grad (subtil oder grob) und die Aktionsebenen (interaktiv oder strukturell)12. In der dritten Abteilung des Sammelbandes werden weitere Grundlagen gelegt. So gibt Albert Scherr eine Einführung in die Begriffe „Diskriminierung“ und „Antidiskriminierung“. Diskriminierung kann dabei nicht nur als Folge von individuell entstandenen Vorurteilen begriffen werden, sondern ist vielmehr ein komplexes System sozialer Beziehungen. Institutionelle und organisationale Aspekte sind gleichermaßen zu berücksichtigen. Der Begriff „Diskriminierung“ setzt dabei die Idee der Gleichbehandlung von Menschen voraus, die in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung (1776) und der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1789) zum ersten 11 Vgl. Riesenhuber, Gleichbehandlungsgesetz, 5. 12 Vgl. Liebscher, Antidiskriminierungspädagogik, 29; vgl. hierzu auch Zick, Diskriminierungsforschung, 74.

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Mal rechtlich ausformuliert wurde und heutzutage in den Menschenrechten fixiert ist. Für Maßnahmen zur Antidiskriminierung im Sinne der Durchsetzung von Gleichbehandlung ist das Problembewusstsein in der Gesellschaft zu stärken, Antidiskriminierungskonzepte in Einrichtungen zu verankern und Empowerment bei den Betroffenen zu betreiben. Roland M. Lehmann führt in seinem Beitrag die Gedanken von Albert Scherr fort, indem er die Facetten von Diskriminierung in Annäherung zur kirchengeschichtlichen Erforschung der DDR untersucht. Er weist auf die Aktivitäten der Diskriminierungsforschung in anderen Disziplinen hin und bemerkt demgegenüber, dass in der historischen Forschung dieses Thema sich erst zu etablieren beginne. Dabei definiert Lehmann Diskriminierung als „ungerechte Ungleichbehandlung“. Die kirchengeschichtliche DDR-Forschung lässt das Diskriminierungsthema noch weitgehend vermissen. Nur vereinzelt wird das Thema explizit oder implizit aufgegriffen. Zum Schluss wird ein vorläufiges idealtypischen Modell entwickelt, welches die Phänomene von Diskriminierung zu ordnen und zu erfassen sucht.

4. Die Kirchen und christlichen Sondergemeinschaften Die kirchliche Zeitgeschichte unterliegt einem rasanten Wandel, der vom gesellschaftlichen Bedeutungsverlust der Großkirchen, den Veränderungen in der akademischen Fächerlandschaft, wechselnden Schwerpunktsetzungen und einer zunehmenden Ausdifferenzierung beeinflusst ist13. Die spezifische kirchengeschichtliche Erforschung der DDR-Zeit ist davon nicht unberührt geblieben. Betrachtet man ihre Entwicklung, so lässt sich beobachten, dass nach einer Phase, in der zumeist die kirchliche Gesamtsituation in Form von Überblickswerken in den Blick genommen wurde, in den letzten Jahren eine zunehmende Ausdifferenzierung der Themen und methodischen Zugangsweisen erfolgte, die jedoch noch längst nicht an ihr Ziel gekommen ist14. Noch immer fehlen sowohl Spezialstudien zu den einzelnen Landeskirchen, Regionen und Orten als auch Untersuchungen, die über den institutionsgeschichtlichen Zugang hinausgehen und das Augenmerk auf sozial-, kultur-, mentalitäts-, theologie- und frömmigkeitsgeschichtliche Aspekte legen. Ein solches Ausdifferenzierungsdefizit ist auch in der komparativen kirchlichen Zeitgeschichtsforschung der DDR zu konstatieren, die neben dem Vergleich der beiden Großkirchen auch die kleineren christlichen Sondergemeinschaften und deren Verhältnis zu ihnen berücksichtigt. Die vierte Abteilung 13 Vgl. Brechenmacher, Zeitgeschichte, 9. 14 Vgl. hierzu u. a. die Forschungsüberblicke von Lepp, Forschung, 455–503; dies., Ausgeforscht?, 93–101; dies., Christen. Vgl. ferner Stengel, Kirchen-DDR-Geschichte, 4–15; ders., Blick, 19–26.

Diskriminierung von Christen in der DDR – Eine Einführung

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nimmt daher bewusst eine konfessionsdifferenzierende Perspektive ein, indem die Diskriminierung von Christen exemplarisch anhand der evangelischen Landeskirche Thüringens und der Katholischen Kirche sowie anhand von zwei ausgewählten christlichen Minderheiten genauer betrachtet wird. Nach dem Zweiten Weltkrieg sah die SED die Großkirchen als gefährliche Gegenspielerinnen an, die versuchten, das sozialistische Weltbild in Zweifel zu ziehen15. In den 1960er Jahre veränderte sich die Situation. Durch den massiven Ausbau der Machtstrukturen des Pateiapparates und den zunehmenden Rückgang an Kirchenmitgliedern gelang es der DDR-Regierung, das sozialistische Weltbild in der Gesellschaft zu etablieren. Mit Blick auf die evangelischen Kirchen verfolgte das DDR-Regime eine Differenzierungs- und Unterwanderungspolitik, die bewusst auf das gegenseitige Ausspielen der einzelnen evangelischen Landeskirchen setzte16. Hierzu sollten sowohl die unteren Gremien wie Gemeindekirchenräte als auch die oberen Kirchenleitungen durch das Einschleusen geeigneter Personen unterwandert werden. Demgegenüber befand sich die Katholische Kirche auf dem Gebiet der DDR in einer doppelten Diasporasituation17. Einerseits bildete sie konfessionell betrachtet eine Minderheit innerhalb des Christentums in Ostdeutschland. Davon ausgenommen waren die überwiegend katholisch geprägten Gebiete des Eichsfeldes, der thüringischen Rhön und der sorbischen Oberlausitz. Andererseits lebte die Katholische Kirche gemeinsam mit den Protestanten und den anderen christlichen Sondergemeinschaften in einer ideologischen Diaspora. Der christliche Glaube sollte gegenüber dem marxistisch-leninistischen Weltbild zurückgedrängt werden. Dies führte zu einem verstärkten Bemühen um gelebte Ökumene trotz aller konfessionellen Unterschiede. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebten ca. 2,5 Millionen Katholiken in Ostdeutschland, was bei etwa 18 Millionen Ostdeutschen, knapp 14 Prozent ausmachte, wobei über die Hälfte der Mitglieder aus Flüchtlingen und Vertriebenen bestand18. Das SED-Regime verfolgte gegenüber der Katholischen Kirche die Strategie, jegliche Verbindung mit den Mutterdiözesen in den westlichen Besatzungszonen bzw. später in der Bundesrepublik zu erschweren. Der Umgang der katholischen Amtskirche mit der SED-Diktatur war dabei von einer geringen Dynamik geprägt, indem sie die Politik politischer Abstinenz verfolgte, um sich so wenig wie möglich vom SED-Staat vereinnahmen zu lassen. Während zur Geschichte der beiden Großkirchen im Osten Deutschlands bereits zahlreiche Studien erschienen sind, fristet das Thema „Freikirchen und christlichen Sondergemeinschaften in der DDR“ immer noch ein Schatten15 16 17 18

Vgl. Maser, Kirchen, 25. Vgl. hierzu die Ausführungen von Goerner, Kirche, 231–292. Zur Erforschung der katholischen Kirche in der DDR vgl. Pilvousek, Kirche. Vgl. Pollack, Wandel, 19

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dasein19. Unumstritten ist, dass keine andere christliche Gruppe so sehr unter den gezielten Verfolgungen durch den DDR-Staat zu leiden hatte wie die Zeugen Jehovas20. Um 1950 gab es etwa 23.000 Anhänger. Im selben Jahr wurde die Gruppierung verboten. Durch den Mauerbau 1961 waren die Gläubigen vom West-Berliner Büro und der Zentrale in Wiesbaden abgeschnitten. Mit dem Zentralen Operativen Vorgang „Sumpf“ ab dem Jahr 1963 versuchte das SED-Regime flächendeckend die gesamte Untergrundsleitung auszuschalten. Ihre Tätigkeit wurde als „politisch-ideologische Diversion“ gewertet. Problematisch wurde es auch für die Kinder und Jugendlichen, die schon in der Schule zu Außenseitern wurden, keine weiterführenden Schulen besuchen und teilweise nicht einmal eine Ausbildung abschließen durften. Im Vergleich zählten die Mennoniten mit etwa 2.000 Anhängern nach dem Zweiten Weltkrieg zu den zahlenmäßig kleinsten christlichen Gemeinschaften in der DDR. In den späten 1950er Jahre flohen viele von ihnen in die Bundesrepublik Deutschland, so dass nach dem Mauerbau verstreut einige Mitglieder mit Hauptsitz in Ostberlin übrigblieben. An den Orten, an denen sich eine größere Anzahl von Mennoniten sammelte, wurden die Gläubigen auf dem Weg der Reisepredigt betreut. Aus Furcht vor Repressionen hielten viele ihre Anhängerschaft geheim. Trotz der geringen Anzahl war der Staat bemüht, Spitzel in den inneren Kreis einzuschleusen. Christopher Spehr widmet sich den Ereignissen in der Thüringischen Landeskirche, indem er den „Thüringer Weg“ im Kontext der Diskriminierung von Christen in der DDR in den 1960er Jahren beschreibt. Unter dem „Thüringer Weg“ wird eine eher systemkonforme und staatsloyale Haltung der Kirchenleitung gegenüber dem SED-Regime verstanden, deren Hauptakteure in diesem Jahrzehnt der Landesbischof Moritz Mitzenheim und der Oberkirchenrat Gerhard Lotz waren. Anhand von Mitzenheims Rundbriefen an die Pfarrer arbeitet Spehr dessen positive Bewertung der Wehrpflicht und seine kritische Haltung zur Kriegsdienstverweigerung sowie zum Bausoldentendient heraus. Gleichzeitig setzte sich Mitzenheim aber auch für Betroffene ein, die unter Repressionen vonseiten des Staates litten, und erwirkte vielfach Rückstellungsgesuche vom Wehrdienst für junge Männer, die sich in der kirchlichen und theologischen Ausbildung befanden. Jörg Seiler beschreibt die Diskriminierung von Christen aus der Perspektive der römisch-katholischen Kirche. Zur Rekonstruktion bedarf es ihm zufolge eines multiperspektivischen Zugangs, der auch diskursanalytische oder handlungstheoretische Verfahren berücksichtigt. Im Vergleich zu den evangelischen Kirchen vermied es die katholische Kirche, von einer „Christenverfolgung“ in der DDR zu sprechen. Die vom Staat zum Teil willkürlich vollzogenen Diskriminierungen waren dabei nicht ausschließlich auf einen 19 Vgl. Fitschen, Übersehen?, 19–28. 20 Zur Geschichte der Zeugen Jehovas in Deutschland vgl. Dirksen, Keine Gnade; Bersch, Aberkannt; Besier / Stokłosa, Zeugen, 129–268.

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religiös sozialisierten Personenkreis beschränkt. Die verschieden dosierte Repression diente dabei auch als Mittel, um die Kirchen bewusst zu täuschen. Dabei war die Konfliktvermeidung gegenüber dem Staat eine wesentliche amtskirchliche Strategie, um den eigenen Handlungsrahmen offen zu halten. Die katholische Kirche bewegte sich insofern zwischen weltanschaulicher Grenzziehung und segmentärer Kooperation. Roland Cerny-Werner weitet den Blick, indem er die Lage der Katholischen Kirche in der DDR aus der Perspektive des Vatikans schildert. Die Strategiepapiere des vatikanischen Staatssekretariats gaben vor, beim DDR-Staat zu intervenieren, wenn die Spendung der Sakramente, die apostolische Sukzession oder das karitative Wirken gefährdet sein würden. In den 1950er Jahren war die Beschäftigung des Vatikans mit der Situation in der DDR eher randständig. Seit den 1960er Jahren stieg das Interesse an der „Kirche hinter dem Vorhang“ (chiesa oltrecortina), was aber unter Berücksichtigung aller Ostblockstaaten und beider deutschen Staaten geschah. Gemeinsames Kennzeichen war dabei die Stärkung des jeweiligen nationalen Episkopats. Papst Johannes XXIII. lockerte die Abwehrpolitik, indem er sich bereit zeigte, auch Repräsentanten kommunistisch regierter Staaten zu empfangen. Vergleichsweise war jedoch die Handlungsnotwendigkeit für den Vatikan mit Blick auf die Situation in der DDR nicht derart ausgeprägt wie z. B. in Polen, Ungarn ˇ SSR. Papst Paul VI. begann, die Dialogmöglichkeiten weiter ausoder der C zuloten und versuchte, den wachsenden internationalen Legitimationsdrang der Partei- und Staatsführung für sich fruchtbar zu machen. Thüringen wurde dabei 1975 Schauplatz dieser neuen vatikanischen Ostpolitik, als der vatikanische „Außenminister“ sich weigerte, eine Kranzniederlegung an der „Neuen Wache“ Unter den Linden in Berlin durchzuführen und stattdessen einen Blumenstrauß in der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald ablegte. Falk Bersch lenkt das Augenmerk auf die Zeugen Jehovas als marginalisierte und diskriminierte Gruppe im Kontext der Einführung der Wehrpflicht. Sowohl im Nationalsozialismus als auch in der DDR wurden Angehörige der Religionsgemeinschaft verfolgt. Bis Mitte der 1960er Jahre wurden 2.253 Zeugen Jehovas von den Strafgerichten zu Zuchthausstrafen verurteilt. Dabei zeigten die Kreisgerichte keine einheitliche Vorgehensweise gegen die Wehrdienstverweigerer hinsichtlich der Dauer der Haftstrafen. Die Richter erkannten die Verweigerungen nicht als religiöse Gewissensentscheidungen an, sondern sahen darin schwerwiegende Angriffe gegen die Interessen des sozialistischen Staates. Die Staatssicherheit nutzte die Einberufung zur NVA auch zur Ausschaltung besonders aktiver Zeugen Jehovas. Nur selten zogen einige Zeugen Jehovas den Dienst in den Baueinheiten in Betracht. Mitglieder der Sondergemeinschaft verbüßten ihre Haft bis 1968 zumeist im Gefängnis Berndshof bei Ueckermünde. Maßnahmen zur „Umerziehung“ der Häftlinge scheiterten. Auch nach der Haftentlassung hörten die Diskriminierungen im Alltagsleben nicht auf.

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Die Situation der Mennoniten in der DDR untersucht Bernhard Thiessen. Die Mennoniten-Gemeinde in der DDR wurde 1961 infolge des Mauerbaus gegründet. Von der Berliner Hauptzentrale wurden die DDR-weiten Besuche in 14 Orten organisiert. Prägende Gestalt war der Gemeindeleiter Walter Jantzen zusammen mit seiner Frau. Sie wurden unterstützt von Marie „Rie“ Hoogeveen und Daniel Geiser, die 1966 im Auftrag des Internationalen Mennonitischen Hilfswerks zwei Besuchsreisen in die DDR durchführten. Spezifische Verfolgungen von Mennoniten gab es von Seiten des DDR-Staates nicht, wenngleich es zu subtilen Diskriminierungen kam, die zu Ängsten und Einschüchterungen führten, weswegen viele Gemeindeglieder auf die öffentliche Religionsausübung verzichteten und Kontakte zu Glaubensgeschwistern reduzierten. Immer wieder schaffte es die Staatssicherheit, Informanten einzuschleusen. Abgerundet wird der Tagungsband durch die fünfte Abteilung, in der Rainer Eppelmann über seine Erfahrungen als Bausoldat spricht und ausführt, warum er die Bausoldatenzeit als „Schule der Demokratie“ bezeichnen würde. Der Theologe, Bürgerrechtler und Minister für Abrüstung und Verteidigung in der letzten DDR-Regierung schildert dabei anschaulich seine Erlebnisse als Spatensoldat und seinen Erfahrungen während der Haftzeit. Die Verhaftung erfolgte, weil er sich geweigert hatte, das Gelöbnis abzulegen. Eppelmann hebt hervor, dass auch die Kirche eine „Schule der Demokratie“ in der DDR war, da sie für viele Menschen einen Freiraum ermöglichte, die eigene Meinung frei formulieren zu können. Die hier vorliegende Publikation zur Diskriminierung von Christen in der DDR zeigt, wie facettenreich und anregend das Thema ist. Die Beiträge geben an vielen Stellen zu erkennen, dass der fachwissenschaftliche Diskurs noch längst nicht ausgelotet ist. Neben den 1960er Jahren sind auch die anderen Jahrzehnte der DDR-Zeit in den Blick zu nehmen. Aus konfessionsspezifischer Sicht sind ebenso Einzelchristen und christliche Gruppen in anderen Freikirchen und Religionsgemeinschaften genauer zu betrachten, um die Eigentümlichkeiten der staatlichen Repression einschätzen zu können. Weitere Studien zum Diskriminierungsthema könnten die Leistungen der bereits vorhandenen Widerstandsforschung bereichern und ergänzen. Es bleibt zu hoffen, dass durch diesen Band zur weiteren Erforschung dieses Themas angeregt wird.

Quellen- und Literaturverzeichnis Albrecht-Birkner, Veronika: Freiheit in Grenzen. Protestantismus in der DDR (CuZ 2). Leipzig 2018. Bayer, Markus: Globaler Militarisierungsindex 2021. Bonn 2021. Online abrufbar unter : https://www.bicc.de/uploads/tx_bicctools/BICC_GMI_2021_D.pdf [22.12. 2022].

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Besier, Gerhard / Stokłosa, Katarzyna (Hg.): Jehovas Zeugen in Europa. Geschichte und Gegenwart. Band 3: Albanien, Bulgarien, Deutschland, Jugoslawien, Liechtenstein, Österreich, Polen, Schweiz, Tschechoslowakei und Ungarn. Berlin 2018. Bersch, Falk: Aberkannt! Die Verfolgung von Jehovas Zeugen im Nationalsozialismus und in der SBZ / DDR (Schriftenreihe der Beauftragten des Landes Brandenburg zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur 10). Berlin 2017. Brechenmacher, Thomas u. a. (Hg.): Kirchliche Zeitgeschichte. Bilanz – Fragen – Perspektiven (AKIZ B 83). Göttingen 2021. Brçckermann, Heiner : Militarisierung der DDR. Erfurt 2018. –: Landesverteidigung und Militarisierung. Militär- und Sicherheitspolitik in der Ära Honecker 1971–1989 (Militärgeschichte der DDR 61). Berlin 2011. Dirksen, Hans-Hermann: „Keine Gnade den Feinden unserer Republik“. Die Verfolgung der Zeugen Jehovas in der SBZ / DDR 1945–1990 (ZGF 10). Berlin 2001. Fitschen, Klaus: Übersehen? Die Freikirchen in der DDR in der kirchlichen Zeitgeschichtsforschung. In: KZG 29 (2016), 19–28. Goerner, Martin Georg: Die Kirche als Problem der SED. Strukturen kommunistischer Herrschaftsausübung gegenüber der evangelischen Kirche 1945 bis 1958. Berlin 1997. Halbrock, Christian: „Freiheit heißt, die Angst zu verlieren“. Verweigerung, Widerstand und Opposition in der DDR: Der Ostseebezirk Rostock (Analysen und Dokumente 40). Rostock 22015. Hettenberger, Peter : Voru¨berlegungen zum „Widerstandsbegriff“. In: Ju¨ rgen Kocka (Hg.): Theorien in der Praxis des Historikers. Forschungsbeispiele und ihre Diskussion (Geschichte und Gesellschaft 3). Bielefeld 1977, 116–134. Knabe, Hubertus: Was war die „DDR-Opposition“? Zur Typologie des politischen Widerspruchs in Ostdeutschland. In: DA 29 (1996), 184–198. Kowalczuk, Ilko-Sascha: Von der Freiheit, Ich zu sagen. Widerständiges Verhalten in der DDR. In: Ulrike Poppe / Rainer Eckert / Ders. (Hg.): Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung. Berlin 1995, 85–115. Lepp, Claudia: 15 Jahre kirchengeschichtliche Forschung im wiedervereinten Deutschland – Ein Rückblick und Ausblick. In: THR 70 (2005), 455–503. –: Ausgeforscht? Überlegungen zu Stand und Perspektiven der Forschung zur Kirchengeschichte der DDR. In: MKiZ 24 (2006), 93–101. –: Christen und Kirchen in der DDR. Eine Nachlese (1990–2014). In ThR 81 (2016), 48–73. Liebscher, Doris: Antidiskriminierungspädagogik. Konzepte und Methoden für die Bildungsarbeit mit Jugendlichen. Wiesbaden 2010. Mau, Rudolf: Der Protestantismus im Osten Deutschlands. 1945–1990 (KGE IV/3). Leipzig 22011. Maser, Peter: Kirchen in der DDR. Niemals voll in das Regime integriert. Erfurt 2013. Neubert, Ehrhart: Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989 (Bundeszentrale für Politische Bildung 346). Bonn 21998.

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Pilvousek, Josef: Die katholische Kirche in der DDR. Beiträge zur Kirchengeschichte Mitteldeutschlands. Münster 2014. Pollack, Detlef: Der Wandel der religiös-kirchlichen Lage in Ostdeutschland nach 1989. Ein Überblick. In: Ders. / Gerd Pickel (Hg.): Religiöser und kirchlicher Wandel in Ostdeutschland 1989–1999. Opladen 2000, 18–47. Riesenhuber, Karl (Hg.): Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz – Grundsatz und Praxisfragen. Berlin 2007. Scherr, Albert / El-Mafaalani, Aladin / Yeksel, GökÅen (Hg.): Handbuch Diskriminierung (SRS). Wiesbaden 2017. Stegmann, Andreas: Die Kirchen in der DDR. Von der sowjetischen Besatzung bis zur Friedlichen Revolution. München 2021. Stengel, Friedemann: Kirchen-DDR-Geschichte zwischen Gedächtnispolitik und Erinnern. In: epd-Dokumentation Nr. 40 (2015), 4–15. –: Blick in die Forschung. In: epd-Dokumentation Nr. 44 (2019), 19–26. Zick, Andreas: Sozialpsychologische Diskriminierungsforschung. In: Scherr / ElMafaalani / Yüksel, Handbuch, 59–80.

I. Militarisierung

Detlef Pollack

Evangelische Theologie und Kirche unter den Bedingungen der kalkulierten Repressions- und Abgrenzungspolitik der DDR in den 1960er Jahren Um die kirchenpolitische Situation der DDR in den 1960er Jahren verstehen zu können, ist es erforderlich, in die 1950er Jahre zurückzugehen. In dieser Zeit wandelte sich die Lage der evangelischen Kirchen in der DDR grundlegend, wurden weichenstellende Entscheidungen getroffen und bildeten sich die Konfrontationslinien heraus, die auch für die 1960er Jahre prägend blieben. Die DDR war eine von oben organisierte Gesellschaft. Für die Analyse der Lage der evangelischen Theologie und Kirche in den 1960er Jahren wird man also zunächst einmal von den strategischen Entscheidungen der SED-Führung in den 1950er Jahren ausgehen müssen, dann aber auch die Haltungen und Verhaltensweisen in der Bevölkerung in dieser Zeit in den Blick zu nehmen haben, die von den politischen Vorgaben teilweise erheblich abwichen. Beides hatte einen prägenden Einfluss auf die evangelischen Kirchen in der DDR, die in den Jahren zwischen 1950 und 1960 einen Großteil ihrer institutionellen Stärke einbüßten und am Ende dieses Jahrzehnts eine neue Handlungslinie entwickeln mussten, um der gewandelten Situation Rechnung zu tragen. Ausschlaggebend für die Schwächung der Kirche waren die politischen Aktionen der Führung der SED mit ihren unvorhergesehenen negativen Auswirkungen auf die kirchliche Bindung der Bevölkerung. Im Laufe ihrer Geschichte hat die SED wohl nur zwei Lernerfahrungen gemacht. 1953 musste sie einsehen, dass sich eine Gesellschaft nicht im Sturm erobern und mit harten Repressionen nach den eigenen Vorstellungen umgestalten lässt. Nach dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 wurde ihr klar, dass für die sozialistische Durchdringung der Gesellschaft ein auf Beharrlichkeit und kleine Schritte setzendes Vorgehen erforderlich ist, das politische Kontrolle und Wohlstandsanhebung miteinander kombiniert. Die zweite Veränderung ihres politischen Kurses nahm sie in der ersten Hälfte der 1970er Jahre vor, nachdem sich im Zuge des Mauerbaus eine gewisse ökonomische Konsolidierung eingestellt hatte und es im Gefolge des Grundlagenvertrags mit der Bundesrepublik zu einer breiten internationalen Anerkennung der DDR gekommen war. Die Kultur- und die Jugendpolitik wurden leicht liberalisiert, ausländische Journalisten ins Land gelassen, der Wohnungsbau forciert und Wohlstandsgeschenke verteilt, was zur Ausweitung politischer und kultureller Freiräume führte und es schon nach wenigen Jahren erforderlich machte, die Zügel wieder anzuziehen. Als mit der Einführung von Perestroika und Glasnost in der Sowjetunion das dritte Mal eine Lernerfahrung ins Haus stand,

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verweigerte sich die SED-Spitze indes den Erfordernissen der politischen Situation. Sie hielt an ihrem starren Kurs fest und riss in kürzester Frist mit dem Zusammenbruch ihrer Macht auch die DDR in den Untergang. Die Kirchenpolitik der SED war in all den Jahrzehnten ein unmittelbarer Ausdruck ihres allgemeinen Kurses und muss daher von diesem her erschlossen werden.

1. Die kirchenpolitische Strategie der SED in den 1950er und 1960er Jahren Der erste umfassende Angriff auf die evangelische Kirche in der DDR erfolgte unmittelbar nach der 2. Parteikonferenz im Juli 1952, auf der der „Aufbau des Sozialismus“ beschlossen wurde. Nachdem die Bemühungen Stalins, ein neutralisiertes Deutschland zu schaffen, gescheitert waren, ordnete er einen Kurswechsel an. Nicht mehr die Demokratisierung der DDR sollte vorangetrieben werden, sondern der Klassenkampf. Die Kollektivierung der Landwirtschaft und des Handwerks wurden beschlossen, ebenso die personelle Säuberung des Staats- und Parteiapparats, der Ausbau der Schwerindustrie, die Aufrüstung der DDR und die Verschärfung der ideologischen Propaganda. Für die Kirchenpolitik resultierte aus dieser Kursverschärfung der offensive Kampf gegen die sozialen und finanziellen Grundlagen der evangelischen Kirchen und dabei insbesondere gegen die Junge Gemeinde. Sowohl die Kirchenleitungen als auch die kirchliche Jugend reagierten auf diesen Angriff überraschend widerständig. Otto Dibelius, der Ratsvorsitzende der EKD, erklärte: „Ein neuer Kampf gegen die Kirche ist da! Die Kirche wird diesen zweiten Kampf mit Gottes gnädiger Hilfe bestehen, wie sie den ersten bestanden hat. Ihr Herr ist stärker als alle seine Feinde!“1 Unterstützt wurde er vom Generalbevollmächtigten des Rates der EKD bei der Regierung der DDR Propst Heinrich Grüber : „Wir wissen nur das eine, dass wir auch diesen Kirchenkampf bestehen und dass es diesmal keine zwölf Jahre dauert, bis er zu Ende kommt.“2 Selbst der später für seine staatstreue Haltung bekannt gewordene Thüringische Landesbischof Moritz Mitzenheim rief die christliche Jugend zum widerständigen Handeln auf: „Lasst euch durch Drohungen nicht beirren, handelt nicht aus Angst.“3 Tatsächlich erwiesen sich viele Jugendliche als standhaft und ließen sich eher von den Abiturjahrgängen relegieren, als dass sie ihre Treue zur Jungen Gemeinde aufkündigten4. Doch nicht die beachtliche Widerständigkeit der Kirchen und ihrer Jugend zwang die SED zum Einlenken, sondern das Scheitern des auf der 2. Partei1 2 3 4

Heidtmann, Kirche, 338. Hutten, Christen, 88. Ebd., 104. Vgl. KJ 80 (1953), 171.

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konferenz beschlossenen Aufbaukurses. Die Wirtschaft geriet in die Krise, Ackerland lag brach, die Versorgung mit Lebensmitteln war katastrophal. Die SED hatte sich mit der gesamten Bevölkerung angelegt und vermochte auch durch Preissteigerungen und Akkorderhöhungen die Lebensverhältnisse nicht zu verbessern. Auf Anweisung der sowjetischen Genossen drosselte sie daraufhin das Tempo des sozialistischen Umbaus und gab am 10. Juni 1953 einen „Neuen Kurs“ bekannt, mit dem sie einerseits „eine Reihe von Fehlern“ eingestand und versprach, die Interessen der Bauern, Handwerker und der Intelligenz sowie auch der Kirche stärker zu berücksichtigen, andererseits aber an der Erhöhung der Akkordnormen festhielt5. Die Folge dieses halbherzigen Einlenkens waren nicht Dankbarkeit und eine Beruhigung der Situation. Vielmehr reagierte die Bevölkerung gereizt und fühlte sich in ihrem Unmut bestärkt. Am 17. Juni gingen die Menschen im ganzen Land zu Hunderttausenden auf die Straße. Der Volksaufstand des 17. Juni konnte mit Hilfe sowjetische Panzer zwar schnell niedergeschlagen werden, aber der Schock über den Aufruhr des Volkes saß bei den Funktionären, die sich als Anwälte der Arbeiterklasse verstanden, tief. Die Schlussfolgerung, die die Führung der SED aus dem Volksaufstand zog, bestand einmal darin, dass es unklug sei, Fehler zuzugeben. Schon bald nach dem 17. Juni verbreitete sie die Parole „Die Generallinie war und bleibt richtig.“6 Zum andern sah sie sich jedoch genötigt, die Methoden zur Durchsetzung dieser Generallinie umzustellen. Unnachgiebigkeit in der Sache, aber Konzilianz in der Form – das war die neue Leitlinie, mit der sie mehr Rücksicht auf die Lebensinteressen der Bevölkerung nehmen wollte, um sie auf diese Weise auf den Sozialismus zu verpflichten und das stets verfolgte strategische Ziel zu erreichen7. Diese Leitlinie bestimmte auch die Entscheidungen der SED in ihrer Politik gegenüber der Kirche. Im Sinne dieser Leitlinie stellte die SED nach dem Volksaufstand ihre Kirchenpolitik von der konfrontativen Repression auf eine Doppelstrategie um: Auf der einen Seite sollten breite Kreise der Gläubigen für die „friedliche Aufbauarbeit in der Deutschen Demokratischen Republik“8 gewonnen und eine Verletzung ihrer religiösen Gefühle vermieden werden. Auf der anderen Seite kam es den Kommunisten darauf an, die Kirche als „stärkste legale Position der imperialistischen Kräfte“9 in der DDR zu schwächen. Die Gläubigen, die man auf die eigene Seite ziehen wollte, sollten von den „reaktionären Kirchenleitungen“10 getrennt werden. Die kirchenpolitische Methode der SED bestand also in einer Differenzierungspolitik: Die loyalen Teile der Kirche sollten belohnt, die staatskritischen Kräfte hingegen benachteiligt werden. Diese kirchenpolitische Doppelstrategie blieb leitend 5 6 7 8 9 10

Vgl. Hoffmann u. a., Dokumente, 152–158. Der neue Kurs 1953, 95. Vgl. Weber, Geschichte, 245. Wilke, SED-Kirchenpolitik, 43–47. Ebd. Ebd.

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bis zur Mitte der 1970er Jahre, als die repressive Taktik partiell gelockert und Freiräume, etwa was die Errichtung von Kirchenbauten oder die Durchführung von Kirchentagen anging, erweitert wurden. Seitdem traten an die Stelle der Konfrontation partiell Dialogangebote, die allerdings weiterhin vergiftet blieben. Unterstrichen wurde der nach dem Volksaufstand eingeleitete Kurswechsel durch die Einrichtung einer „Abteilung für Kirchenfragen“ (später Arbeitsgruppe Kirchenfragen) beim Zentralkomitee der SED, der die Aufgabe zukam, die Kirchenpolitik der Partei, des Staates und des Staatssicherheitsdienstes anzuleiten und nach den politischen Zielen der SED auszurichten11. Das wichtigste Mittel zur Umformung der Gesellschaft bestand in den Augen der SED in der Einrichtung von Stabs- und Organisationsstellen, die in das System des demokratischen Zentralismus eingeordnet wurden, von oben her zu steuern und zu kontrollieren waren und die Aufgabe hatten, die empfangenen Anweisungen nach unten durchzustellen und umzusetzen. Zur besseren Koordinierung wurde im Gefolge der Einrichtung der „Abteilung für Kirchenfragen“ beim SED-Zentralkomitee auch das Kirchenreferat im Staatssicherheitsdienst umgebildet12 und 1957 als staatliches Pendant das Staatssekretariat für Kirchenfragen geschaffen. Diese dreigliedrige Struktur blieb bis zum Ende der DDR erhalten. Ein Paradebeispiel für die Doppelstrategie der SED-Kirchenpolitik stellt die Einführung der Jugendweihe dar, die die SED 1954 in Angriff nahm. Auf der einen Seite betonte sie, dass die Jugendweihe weltanschaulich neutral sei, auf freiwilliger Basis erfolge und ohne staatliche Unterstützung durchgeführt werde. Auf der anderen Seite wurde die Jugendweihe auf dieselbe Jahreszeit wie die Konfirmation gelegt, für dieselbe Altersstufe wie für die Konfirmanden angeboten und wie die Konfirmation als Weihehandlung mit Gelöbnis vollzogen, also als direkte Konkurrenz zur Konfirmation aufgebaut. Wie 1952 nahm die Kirche den Kampf mit dem Regime auf. Die Kirchenleitungen drohten sogar, dass wer an der Jugendweihe teilnähme, von der Konfirmation ausgeschlossen werde. Anfangs gingen nur relativ wenige der Jugendlichen zur Jugendweihe, 1955 weniger als 20 Prozent. 1956 ließen sich noch etwa drei Viertel der 14-jährigen konfirmieren. Drei Jahre später waren es jedoch nur noch ein Drittel, die das taten13. Die Beteiligung an der Jugendweihe schnellte in demselben Zeitraum hingegen auf 80 Prozent nach oben und blieb auf dem Niveau von deutlich über 90 Prozent über den Zeitraum der Existenz der DDR stabil. Die Kirchen hatten sich zwar mutig und selbstbewusst auf den Kampf mit dem sozialistischen Regime eingelassen, sie hatten ihn aber innerhalb kurzer Zeit verloren. Noch nach dem Untergang der DDR beklagte der langjährige Bischof der Kirchenprovinz Sachsen Werner Krusche „die absolut 11 Vgl. ebd., 46. 12 Vgl. Besier / Wolf, Pfarrer, 180–185. 13 Vgl. Pollack, Organisationsgesellschaft, 135 u. 150.

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ernüchternden Erfahrungen“14, die die Kirchenleitungen „mit dem Widerstandswillen der Gemeindemitglieder bei Gelegenheit der Jugendweihe“15 Ende der 1950er Jahre hatten machen müssen.

2. Der Wandel der kirchenpolitischen Position der evangelischen Kirche von den 1950er zu den 1960er Jahren Bis Mitte der 1950er Jahre reagierte die evangelische Kirche in der DDR auf die repressive Politik der SED mit harten Einsprüchen. Sie wandte sich gegen den staatlich ausgeübten Gewissenszwang in den Schulen, protestierte gegen die öffentliche Diffamierung des christlichen Glaubens und kritisierte die in den Wahlen der DDR übliche Praxis der Aufstellung von Einheitslisten, die praktisch keine Wahl zuließen16. Hinter dieser staatskritischen Haltung stand eine unübersehbare Nähe zu den Idealen des Westens, zu Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, die durch die enge Verflechtung mit den Kirchen in der Bundesrepublik, in der EKD und deren antitotalitären Grundkonsens gestärkt wurde. Nachdem die evangelischen Kirchen in der DDR den Kampf mit dem Regime um die Bevölkerung verloren geben mussten, lenkten sie ein. Sie verzichteten auf die offensive Kritik am SED-Regime unter Bezugnahme auf die Werte des Westens und auf den öffentlichen Kampf mit dem übermächtigen Gegner zur Aufrechterhaltung ihrer Rechte. Da sich die Kirchenleitungen auf die Standhaftigkeit der Gemeindemitglieder nicht verlassen konnten, setzten sie nunmehr auf Verhandlungen mit den staatlichen Vertretern hinter geschlossenen Türen, um auf diese Weise die Handlungsmöglichkeiten der Kirche zu bewahren und schrittweise zu erweitern. Am 21. Juli 1958 erklärte eine kleine Verhandlungsdelegation der evangelischen Kirche unter der Leitung von Moritz Mitzenheim nach einer Reihe von Gesprächen mit den Staatsvertretern: „Ihrem Glauben entsprechend erfüllen die Christen ihre staatsbürgerlichen Pflichten auf der Grundlage der Gesetzlichkeit. Sie respektieren die Entwicklung zum Sozialismus und tragen zum friedlichen Aufbau des Volkslebens bei.“17 Mit dieser Loyalitätserklärung erhofften die Kirchenvertreter, auch den Staat zum Einlenken bewegen zu können. Im Raum der Kirche wurde die Erklärung der Verhandlungsdelegation um Mitzenheim mit ungläubigem Staunen und scharfer Kritik, ja mit Entsetzen und heller Empörung, aber teilweise auch mit Verständnis aufgenommen. Der eingeschlagene weiche Kurs, der bedeutete, den Staat ernst zu nehmen, sich um die Regelung strittiger Probleme hinter geschlossenen Türen zu bemühen, 14 15 16 17

Krusche, Rückblick, 31. Ebd. Vgl. Heidtmann, Kampf, 197; vgl. ferner KJ 81 (1954), 131. Kirche in der Zeit 13 (1958), 283.

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auf Grundsatzkritik und Konfrontation zu verzichten und sich in politischen Fragen im Interesse der Verbesserung der kirchlichen Lage zurückzuhalten – dieser Kurs der kirchenpolitischen Annäherung blieb in den 1950er und 1960er Jahren innerkirchlich hoch umstritten. Im Laufe der Jahre setzte er sich indes immer mehr durch, bis er mit der Gründung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR im Jahr 1969 schließlich zur bestimmenden Leitlinie des kirchlichen Handelns wurde. Seit Mitte der 1950er Jahre schwenkte die sowjetische Deutschlandpolitik von ihrem auf die Einheit und Neutralisierung Deutschlands gerichteten Kurs auf die sogenannte „Zwei-Staaten-Theorie“ um. Da ganz Deutschland als sowjetische Einflusssphäre nicht zu gewinnen war, verstärkte die Sowjetunion die Einbindung der DDR in den sozialistischen Staatenbund. 1955 erkannte sie der DDR die vollen Souveränitätsrechte zu. Im selben Jahr wurde die DDR Mitglied des Warschauer Pakts, des sowjetischen Militärbündnisses. Ein Jahr später wurde die NVA geschaffen. Die Zementierung der Spaltung Deutschlands blieb den Kirchenvertretern nicht verborgen. Die Wiedervereinigung der beiden getrennten Landesteile wurde in ihren Augen immer unwahrscheinlicher. Auf seinen Reisen durch die Bundesrepublik habe Günter Jacob, der Cottbusser Generalsuperintendent, dessen Stellungnahmen für den Weg der evangelischen Kirchen in der DDR richtungsweisend werden sollten, festgestellt, so berichtet Reinhard Steinlein, Superintendent der Kirchenkreise Finsterwalde und Nauen, dass dort das Interesse an den Glaubensbrüdern in der DDR merklich gesunken sei: „Keiner rechne mehr mit einer Wiedervereinigung in absehbarer Zeit. Wir müssten uns entschlossen auf die neue Situation einstellen und zur Staatsführung der DDR ein anderes Verhältnis finden.“18 Wie er sich die Neuausrichtung der Kirchen in der DDR vorstellte, skizzierte Günter Jacob auf der in Reaktion auf den zunehmenden staatlichen Druck in Berlin einberufenen außerordentlichen Synode der EKD im Juni 1956. In der DDR, so Jacob, zeige sich, was auch dem Westen bevorstehe: das Ende des konstantinischen Zeitalters, in dem die Kirche aufgrund ihres Bündnisses mit der Staatsmacht eine privilegierte Stellung eingenommen habe und infolge ihrer sozialen Monopolstellung mit der kirchlichen Identifizierung der gesamten Bevölkerung habe rechnen können. Die Kirche, so Jacob weiter, solle sich nicht auf „eine reaktionäre Haltung“19 festlegen und „an die Modelle der Vergangenheit“20 binden, in der die Kirche die Macht besaß. Auch dürfe es der Kirche nicht darum gehen, sich durch Verhandlungen den „Raum zu sichern, […] um so die Voraussetzungen für die Verkündigung des Evangeliums zu schaffen.“21 Nein, es sei der lebendige Herr 18 19 20 21

Steinlein, Jahre, 61 f. Jacob, Raum, 19. Ebd. Ebd., 21.

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selbst, der „die Türen aufsprengt und sich den Raum für das Evangelium in der Welt schafft“. „Die geistliche Fragwürdigkeit einer privilegierten Kirche“22 hätten wir heute, schließt Jacob sein Referat, „so durchschaut, dass wir allen Tendenzen zur Restaurierung absagen müssen. Wir sagen ja zu einem Weg der Kirche in einer Atmosphäre, in der die Luft sauber und offen wird, ja auch voller Feindschaft und Gefahr.“23 Damit hat Jacob eine Angleichung der gesellschaftlichen und politischen Situation zwischen Ost- und Westdeutschland vorgenommen, den Angriff der SED als den normalen Wind, der der Kirche im nachkonstantinischen Zeitalter entgegenwehe, bagatellisiert und das Bemühen der Kirche um Verteidigung ihres Lebensraums als Suche nach Sicherheit und Privilegierung denunziert. Seine Kritik an den kirchenpolitischen Bestrebungen zum Erhalt der Volkskirche in der DDR folgt einer Argumentationsstrategie, mit deren Hilfe eine faktisch vollzogene Anpassung an die politischen Verhältnisse in der DDR als theologisch gebotener Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes verbrämt werden kann. Noch allerdings fand diese theologische Beschönigungsstrategie keine Mehrheit unter den Verantwortlichen in der evangelischen Kirche. Die Synodalen in Berlin jedenfalls verabschiedeten eine Erklärung, mit der sie dem Totalitätsanspruch des DDR-Regimes widersprachen: „Das Evangelium rückt uns den Staat unter die gnädige Anordnung Gottes, die wir in Geltung wissen, unabhängig von dem Zustandekommen der staatlichen Gewalt oder ihrer politischen Gestalt. Das Evangelium befreit uns dazu, im Glauben Nein zu sagen zu jedem Totalitätsanspruch menschlicher Macht, für die von ihr Entrechteten und Versuchten einzutreten und lieber zu leiden, als gottwidrigen Gesetzen und Anordnungen zu gehorchen.“24

Auch wenn die Mehrheiten noch klar verteilt waren, nahm die Zahl der Kirchenführer und Theologen, die auf die von Günter Jacob vorgezeichnete Linie einschwenkten, im Laufe der 1950er und 1960er Jahre zu. Auch ein Theologe wie Johannes Hamel, der als Studentenpfarrer für mehrere Monate im Gefängnis saß, muss in die Tendenz zur theologischen Verklärung der politischen Situation der DDR eingeordnet werden. In seiner vielbeachteten Schrift „Christ in der DDR“ von 1957 nahm auch er eine Ermäßigung des Unterschieds zwischen Ost und West und eine Bagatellisierung der Herrschaftspraktiken der DDR vor. Gott sei der Herr der ganzen Welt, auch des gottlosen Ostens. Das Faktum, dass Gott der Herr der Welt sei, werde sich, erklärte er, „als mächtiger erweisen […] als alle atheistische Propaganda zusammen“25. Deshalb sei das Ja zu den Verwaltern der Macht, wenn wir es sprechen, nicht das Ja der gewünschten Akklamation, sondern ein Ja, das in Entsprechung zu 22 23 24 25

Ebd., 29. Ebd. Bericht eber die ausserordentliche Tagung der Zweiten Synode der EKD, 224. Hamel, Christ, 23.

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dem Ja Gottes zu dieser Welt stehe. Die Christen in der DDR müssten die gängige Alternative zwischen Anpassung und Widerstand überwinden und zwischen allen Fronten stehen. Sie dürften keine Parteigänger des Westens sein, sondern sollten zu Brückenbauern zwischen Ost und West werden. Hamel übte Kritik an der antitotalitären Ausrichtung der EKD, der es darauf ankam, an den Grundwerten der westlichen Demokratie festzuhalten, den totalitären Staat in die Schranken zu weisen und die Kirche gegenüber dem übergriffigen Staat zu stärken. Das Argument, dass Gott auch in der DDR mittendrin sei und die Protagonisten des Systems daher nichts anderes als „Dienstmänner Gottes“26 sein könnten, diente auch hier dazu, den politischen Opportunismus theologisch zu rechtfertigen. Mit seinen Argumenten beeinflusste er die kirchenpolitischen Stellungnahmen der EKU Ende der 1950er Jahre, denen die Positionspapiere der lutherischen Kirchen gegenüberstanden. Immer mehr setzte sich diese Haltung durch, insbesondere nach dem Bau der Berliner Mauer, der damit verbundenen Abschnürung von den Kirchen der EKD im Westen und dem vor allem in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre wieder zunehmenden staatlichen Druck auf die Kirche. Dabei mischten sich in die wachsende Bereitschaft, sich auf den Staat der DDR einzulassen, unterschiedliche Motive. Die Einsicht in die begrenzten Handlungsmöglichkeiten der Kirchen in der DDR spielte hier ebenso eine Rolle wie die Kritik an einer sich machtbewusst gebenden Volkskirche, wie sie etwa der Ratsvorsitzende der EKD Otto Dibelius vertrat, der Versuch, mit den repressiven politischen Verhältnissen zurechtzukommen, ebenso wie die vom Ansatz Karl Barths geprägte Überzeugung, dass das ängstliche Bemühen um Selbstbewahrung ein Ausdruck mangelnden Gottvertrauens sei.

3. Die kirchlichen Reaktionen auf den Bau der Berliner Mauer Zurückhaltung und Vorsicht bestimmten auch die Reaktionen der evangelischen Kirchen auf den Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961. Nach Abtrennung des östlichen Landesteils vom Westen nahmen die Kirchen weder eine Analyse der Ursachen dieses einschneidenden Schrittes vor, noch verurteilten sie die menschenverachtende Maßnahme des autoritären Regimes. In ihrem Schreiben an die Gemeinden erhoben der EKD-Ratsvorsitzende Präses Kurt Scharf und der Bischof der Berlin-Brandenburgischen Kirche Dibelius nicht Anklage, sondern begnügten sich damit, zum Vertrauen in Gott aufzurufen und Trost und Hoffnung zu vermitteln: „Wir haben nicht danach zu fragen, wie und wodurch es zu Maßnahmen hat kommen können, die unser Vaterland noch mehr als bisher auseinanderreißen. 26 Findeis, Licht, 106.

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[…] Die Aufgabe der Kirche ist es, zum Frieden zu helfen, zur Besonnenheit zu rufen, wo Leidenschaften entbrennen wollen, zur Liebe zu mahnen, wo der Haß alles zu verschlingen droht. Um unseres Amtes willen bitten wir Euch alle: Verliert Euch jetzt nicht in Bitterkeit und Haßgefühl! […] Gottes Hand ist über allem, was Menschen tun. Er schmilzt Leiden und Nöte um in neue Kraft.“27

Ebenso enthielten sich auch die Kirchenvertreter in einem Telegramm, das sie wenige Tage später an die Regierung der DDR und den Ostberliner Oberbürgermeister sandten, aller politischen Bewertungen und baten lediglich um die „großzügige Gewährung“28 von Reiseerlaubnissen. Wie devot die Kirche angesichts der einschneidenden Maßnahmen des SED-Staates agierte, soll an einem Fallbeispiel illustriert werden. Angesichts der Abriegelung der DDR vom Westen entschloss sich Generalsuperintendent Fritz Führ, unter Ausschluss der Öffentlichkeit einen Brief an Walter Ulbricht zu schreiben sowie zwei Begleitschreiben an den Staatskirchensekretär Hans Seigewasser und den Volkskammerpräsidenten Johannes Dieckmann zu richten. In ihnen äußerte er die Bitte, zu Weihnachten Verwandtenbesuche zuzulassen. Natürlich kenne er die Einwände, die von staatlicher Seite dagegen in der Regel vorgebracht werden, schreibt Führ in seinem Brief an Dieckmann. Aber, so weiter, „jetzt geht es nicht um Politik. Jetzt geht es um Menschlichkeit. Und in solchem Anliegen weiß ich mich mit Ihnen besonders verbunden.“ Zur Bekräftigung seines Anliegens beruft er sich auf den Staatsratsvorsitzenden, der vor kurzem darauf hingewiesen habe, dass die humanistischen Ziele des Sozialismus und das Christentum keine Gegensätze seien. Die Erfüllung der Bitte würde „in hohem Maße der Würde und dem Ansehen der Deutschen Demokratischen Republik entsprechen“29. Die Äußerungen Führs sind symptomatisch für den Argumentationsstil der Kirche in der verhärteten Situation nach dem Mauerbau. Die Zwangseinsperrung von 17 Millionen Ostdeutschen wird mit keinem Wort erwähnt; es wird eine Regelung unter Ausschluss der Öffentlichkeit angestrebt; zur Legitimation des eigenen Anliegens werden nicht etwa Menschenrechte ins Feld geführt, vielmehr beruft er sich auf Befriedungsaussagen der Staatsvertreter, appelliert also an deren schönfärberische Rhetorik und hält das eigene Anliegen in Form einer Bitte. Natürlich sind die Schreiben Führs ein Versuch, sich für die Menschen in der DDR einzusetzen. Vor allem aber sind sie ein Ausdruck der völligen Ohnmacht der Kirche angesichts der eindeutig verteilten Machtverhältnisse. Sprechend ist aber auch, dass die evangelische Kirche in der DDR sich mit ihrer Handlungsohnmacht nie hat abfinden können und sich selbst in auswegloser Situation noch mit dem ihr eigenen Instrument – mit dem Wort, mit Worten der Verständigung und gut gemeinten Appellen – für Humanität und Besserung der Lage eingesetzt hat. 27 Kirche in der Zeit 16 (1961), 363. 28 KJ 88 (1961), 4. 29 Ebd., 144.

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Und noch etwas ist bezeichnend an diesem Vorgang, nämlich die Art und Weise, wie Dieckmann auf das Anliegen Führs reagiert. Zunächst wird Führ für den Verzicht auf die Veröffentlichung seiner Bitte gelobt. Obwohl dies richtig sei, möchte Dieckmann, so erklärt er, auf den Brief von Führ in diesem Fall jedoch öffentlich antworten, da die von ihm aufgeworfene Frage viele betreffe. Seiner Meinung, dass es sich hier um eine Angelegenheit der Menschlichkeit und nicht der Politik handele, könne er freilich nicht zustimmen. „Verehrter Herr Generalsuperintendent: Politik und Menschlichkeit sind in unserem, den Sozialismus aufbauenden deutschen Friedensstaat nicht unterschiedliche, nicht trennbare Begriffe, sondern Begriffe, die sich decken.“30 Wenn er etwas für die Einreise der Westberliner nach Ostberlin tun wolle, müsse er sich an den Westberliner Senat wenden, an dessen ablehnender Haltung alle Bemühungen der DDR zur Ermöglichung von Besuchsreisen gescheitert seien. Der herablassende Paternalismus, mit dem die in Form einer Ergebenheitsadresse gehaltene Bitte Führs beantwortet wurde, entspricht dem zynischen Herrschaftsstil der Staatsmacht der DDR, aber ist ganz gewiss nicht Ausdruck einer Fürsorgediktatur, als die man die DDR gelegentlich gekennzeichnet hat31.

4. Die kirchenpolitischen und theologischen Positionen der evangelischen Kirchen in der DDR in den 1960er Jahren In den 1960er Jahren kam es den evangelischen Kirchen in der DDR auf zweierlei an, einmal darauf, den mit Unterordnungs- und Anpassungserwartungen verbundenen Vereinnahmungsversuchen der Führung der DDR zu entkommen, zum andern aber auch darauf, nicht auf der Gegenseite zum DDR-System zu stehen zu kommen und als Feind der DDR behandelt zu werden. Beide Anliegen waren kirchenpolitisch und pragmatisch motiviert, wurden aber in den aktuellen Auseinandersetzungen auch immer theologisch reflektiert. Zur Begründung für ihren Autonomieanspruch knüpfte die Kirche an die Barmer Theologische Erklärung an, die darauf insistierte, dass sich die Kirche niemals „zu einem Organ des Staates“ machen lassen darf. In einem Brief an den Bezirksratsvorsitzenden von Rostock stellte der Vorsitzende der Ostkonferenz Bischof Friedrich-Wilhelm Krummacher heraus, dass „die Christenheit ihre Wegweisung für ihr Reden und für ihr Schweigen nur von ihrem alleinigen Herrn Jesus Christus“32 empfange. Um sich weder von der Staatsmacht der DDR in Anspruch nehmen zu lassen noch mit ihr anzulegen, erlegte sich die evangelische Kirche Anfang der 30 Der Morgen, Jg. 16, Ausgabe vom 19. 12. 1961. 31 Vgl. Jarausch, Fürsorgediktatur, 33–46. 32 KJ 88 (1961), 149.

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1960er Jahre eine konsequente politische Zurückhaltung auf. Die Kirche, so stellte der sächsische Bischof Gottfried Noth klar, besitze kein politisches Mandat33. Sie müsse der Versuchung widerstehen, sich zu Dingen zu äußern, die nicht in ihren Kompetenzbereich fallen, aber sie wolle sich auch keine Äußerungen abnötigen lassen, die außerhalb ihres Auftrages liegen34. Auf diese Weise versuchte sie, den Totalitätsanspruch des Staates zu unterlaufen. Ihre Zurückhaltung kam allerdings dort an eine Grenze, wo der Totalitätsanspruch des Staates auf einen Raum übergriff, in dem der Mensch nach christlicher Auffassung allein Gott verpflichtet ist: auf den Raum des Gewissens. In den 1960er Jahren gab es scharfe Auseinandersetzungen um die weltanschauliche Erziehung der Kinder und Jugendlichen in den Schulen und um die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht. Die evangelischen Kirchenleitungen erhoben Einspruch gegen den von staatlicher Seite ausgeübten Druck, mit dem unmündige Kinder in der Schule zu Handlungen und Erklärungen genötigt würden, die mit ihrem Gewissen nicht vereinbar sind. Die Konferenz der evangelischen Kirchenleitungen in der DDR kritisierte den im September 1963 veröffentlichten Entwurf eines neuen Jugendgesetzes, weil in ihm die jungen Menschen ganz für „eine umfassende ideologische Sinngebung“35 beansprucht würden, die dem Glauben an Gott keinen Raum lasse. Gegen die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht im Jahr 1962 forderte die evangelische Kirche, deren Position die Bischöfe Krummacher und Mitzenheim in einem Gespräch am 12. März 1962 den Regierungsvertretern unter Leitung des Ministerpräsidenten Willi Stoph vortrugen, das Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen ein36. Die Kirche bestritt dem Staat nicht das Recht, seine Bürger zum Wehrdienst heranzuziehen. Ebenso legte sie sich nicht darauf fest, die Wehrdienstverweigerung zur allgemeinen Norm zu erheben, denen die Christen zu folgen hätten. Es kam ihr nicht darauf an, dem Einzelnen die Entscheidung in dieser Frage abzunehmen, sondern darauf, dem Einzelnen zu ermöglichen, dass er der Stimme seines Gewissens folgen kann. Vor allem angesichts des Mauerbaus ging der Rückhalt, den die evangelischen Kirchen in der DDR in der gesamtdeutschen EKD besaßen, immer mehr verloren. Gemeinsame Gremien konnten nicht mehr tagen. Der persönliche Austausch zwischen Ost und West war behindert. Dem Ratsvorsitzenden Scharf wurde die Einreise in die DDR verwehrt. In den 1960er Jahren erschien bis auf eine Ausnahme keine einzige gemeinsame Stellungnahme der Kirchen in Ost und West. So waren die Kirchen in der DDR herausgefordert, immer wieder ihre kirchenpolitische Position in der überpolitisierten Gesellschaft der DDR zu überdenken und neu zu bestimmen. Auf den politisch ausgeübten 33 34 35 36

Vgl. KJ 91 (1964), 143. Vgl. KJ 90 (1963), 158. Ebd., 215. Vgl. EZA Berlin, 104/101.

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Druck reagierten manche der kirchlichen Gruppierungen durch den Versuch der stärkeren Abgrenzung von der Gesellschaft und der Bewahrung des kirchlichen Bestandes, andere hingegen sahen eine angemessene Antwort eher in der Öffnung zur Gesellschaft und der Veränderung der kirchlichen Strukturen. So vertrat der Studienkreis der Thüringer Kirchlichen Konferenz die Auffassung, dass der Pfarrer „nicht in erster Linie Missionar, sondern […] der Hirte seiner Herde“37 sei. Nicht das Wachstum der Gemeinde, sondern ihre Erbauung stehe an erster Stelle. Dagegen sah Günter Jacob die Aufgabe der Kirche darin, „dass wir uns ganz auf das Wachstum einer mündigen Gemeinde konzentrieren“38. Nur wenn die Kirche ihre Formen verändere und eine neue missionarische Struktur gewinne, könne sie das Evangelium noch glaubhaft verkündigen. Die meisten kirchlichen Stellungnahmen vertraten freilich eine Mittelposition mit dem Bemühen um eine Vermeidung der Ghettoisierung der Kirche und dem Verzicht auf ein undialektisches Ja zur Welt. Diese Mittelposition bezog auch die wichtigste kirchliche Stellungnahme der 1960er Jahre: die Schrift „Zehn Artikel über Freiheit und Dienst der Kirche“, die im März 1963 von der Konferenz der Kirchenleitungen verabschiedet wurde. Diese Stellungnahme wurde im kirchlichen Raum stark rezipiert. Selbst Karl Barth hat sie kommentiert39. Er sieht in ihr eine doppelte Abwehrfront: einmal gegen die Bereitschaft zur Anpassung an die Welt, zum andern gegen die Neigung zum Rückzug aus der Welt. Die Freiheit der Kirche, von der die Artikel reden, bezieht sich auf den Auftrag der Kirche, das Wort Gottes „zuversichtlich zu predigen, ohne Menschen zu fürchten und ohne Menschen gefällig zu sein“40. Der Dienst der Kirche hingegen umfasst die Aufgabe, an der Erhaltung des Lebens mitzuwirken und Mitverantwortung an der gesellschaftlichen Ordnung, in die Gott sie gestellt hat, zu übernehmen. Die „Zehn Artikel“ rufen die Christen dazu auf, die staatliche Obrigkeit anzuerkennen, aber sie sagen ihnen auch, dass sie im Ungehorsam handeln, wenn sie zum „Missbrauch der Macht schweigen und nicht bereit sind, Gott mehr zu gehorchen als den Menschen“41. Die vom Weißenseer Arbeitskreis verfassten „Sieben Sätze von der Freiheit der Kirche zum Dienen“ wenden hingegen kritisch ein, dass aus den „Zehn Artikel“ mehr der „Geist der Abwehr oder Anpassung“42 als der „Geist des frei machenden Evangeliums“43 spreche. So wie Jesus Christus, stellen die „Sieben Sätze“ fest, sich selbst verleugnet und die Welt geliebt habe, so sei auch die Kirche in der Nachfolge Jesu „durch ihre Selbstverleugnung von der Welt

37 38 39 40 41 42 43

KJ 88 (1961), 306 f. Jacob, Dienst, 62. Vgl. Barth, Gutachten, 414–422. Zehn Artikel, 230. Ebd., 232. KJ 90 (1963), 194. Ebd.

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unterschieden und durch ihre Liebe mit ihr verbunden“44. Da die Liebe Gottes universal sei und allen Gesellschaftsordnungen gelte, müsse die Kirche der Versuchung widerstehen, in der Absonderung von der Welt ihr Heil zu suchen. Unbesorgt um sich selbst könne die Kirche neue Wege erkunden, wenn ihr Einfluss begrenzt und ihre Rechte bestritten würden. Sie müsse das Wort Gottes nicht verteidigen, denn das Wort Gottes schaffe sich selbst Raum45. Die Liebe Gottes gebe dem Christen die Kraft, sich nicht auf das gesellschaftliche Gegenüber von Theismus und Atheismus zu fixieren und „von eigensüchtigen Interessen leiten zu lassen“46, sondern „in sorgloser Gelassenheit“47 Gottes menschenfreundlichem Wort zu gehorchen. Ebenso plädiert auch das damals entwickelte Konzept der „Missionarischen Gemeinde“48 dafür, jedes Bemühen um Selbstbewahrung aufzugeben, von den traditionalen Strukturen Abschied zu nehmen und aus dem bürgerlichen Ghetto auszubrechen, um die Menschen, die „sehr anders, weit draußen“49 sind, erreichen zu können. Die Kirche existiere „nicht für sich selbst, sondern für die, die nicht zu ihr gehören“50. Kirche sei nichts als Mission, nichts als Kirche für andere. Unverkennbar steht hinter den hier vertretenen Aufrufen zur Öffnung, zur Preisgabe des Selbstbehauptungsstrebens, zum Vertrauen in das selbstwirksame Handeln Gottes die Erfahrung der politisch betriebenen Entkirchlichung und der gesellschaftlichen Säkularisierung. Mit einem Konzept, das das kirchliche Handeln aus der allumfassenden Liebe Gottes ableiten will, sucht die Kirche Antwort auf eine als schwierig empfundene Lage. Die Kirche möge christusgleich sich selbst verleugnen, sich an die Welt verlieren, ganz für die anderen da sein. Ihre Freiheit geht ganz und gar in ihrer Freiheit zum Dienen auf. Ihre Existenz sei nichts als Mission. Verneint wird damit das Recht der Kirche, für sich selbst zu sorgen, geleugnet ihre Differenz zum Handeln Jesu Christi. Auch wenn dies vielleicht nicht intendiert sein sollte, ist mit dieser Übertheologisierung des kirchlichen Handelns die Tendenz zur Anpassung an die politischen Verhältnisse in der DDR befördert. Gottes Gnade gilt allen gesellschaftlichen Ordnungen; es gebe keinen Grund, sich zu verweigern; umgekehrt, die Kirche müsse in der Welt aufgehen, dürfe nichts für sich selbst beanspruchen. Die Gleichsetzung der politischen Verhältnisse in Ost und West, die Bagatellisierung der politischen Repression, die Aufforderung zur Weltöffnung gehen hier mit der theologischen Herausstellung der politisch unangreifbaren Souveränität des göttlichen Handelns eine unheilige Allianz ein. Letztendlich wird hier die Theologie, eine übersteigerte christozentrische 44 45 46 47 48 49 50

Ebd. Vgl. ebd., 196. Ebd. Ebd. Margull, Mission, 5. Ebd. Ebd., 118.

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Theologie instrumentalisiert, um sich über die unkritische Anpassung an die unwirtlichen Verhältnisse in der DDR täuschen zu können51. Unterstützt wurde diese Öffnung gegenüber der sozialistischen Gesellschaft der DDR durch den in den westlichen Demokratien in den 1960er Jahren einsetzenden Wertewandel, der auch die Theologie nicht unberührt ließ. Galt in den kirchlichen Stellungnahmen der 1950er Jahre das westliche Gesellschaftsmodell noch als das selbstverständliche normative Maß für die Kritik an der DDR, so bildete sich in den 1960er Jahren die Tendenz heraus, das westliche und das östliche Gesellschaftsmodell gleich zu bewerten und beide an universellen Kriterien, die sich auch theologisch begründen ließen, zu messen. Nicht mehr Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit waren die höchsten Werte, sondern Frieden, Gerechtigkeit und Solidarität. Der Grund für diesen Wechsel der Orientierung lag nicht, wie der Systematische Theologe Friedrich Wilhelm Graf behauptet52, in überkommenen antikapitalistischen Leitvorstellungen des Protestantismus des 19. Jahrhunderts, die ja auch in den 1950er Jahren nicht zentral waren, und auch nicht in einem Rückgriff auf die Gemeinwohlrhetorik des Protestantismus. Entscheidend für die kirchliche Umorientierung von bürgerlichen Freiheitswerten hin zu kollektiven Universalwerten war vielmehr die Tatsache, dass im Laufe der 1960er Jahre die bürgerlichen Werte in den westlichen Industrienationen zunehmend selbst fragwürdig wurden. Die Aufrüstungspolitik des Westens, der Vietnamkrieg der USA und das als ungerecht empfundene internationale Nord/Süd-Gefälle beförderten eine radikale Modernitätskritik, die von den Kirchen in West und Ost unverzüglich aufgenommen wurde. Zum Ausdruck kommt diese Umstellung der Wertorientierung von bürgerlich-demokratischen auf universelle Kollektivwerte in der einzigen von den Kirchen in Ost- und Westdeutschland gemeinsam verfassten Stellungnahme der 1960er Jahre, in der von der Kammer der EKD für öffentliche Verantwortung 1968 verabschiedeten Studie „Friedensaufgaben der Deutschen“. Nachdem sie die Verantwortung der westlichen Industrienationen für die Erhaltung des Weltfriedens und den Ausgleich zwischen Nord und Süd herausgestellt hatte, bestimmte die Studie als den obersten, die Deutschen in Ost und West verbindenden Grundwert „den Frieden unter den Völkern“53. Der Wert der Freiheit, der in früheren kirchlichen Verlautbarungen als die Grundbedingung für die Einheit Deutschlands behandelt worden war, wurde hingegen auf den Wert des Friedens als Höchstwert bezogen. Eine ähnliche Vorordnung begegnet uns auch in der 1965 verabschiedeten Handreichung der Konferenz der Kirchenleitungen in der DDR „Zum Friedensdienst der Kirche“, in der sich die Kirche für das Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen einsetzte. In dieser Handreichung wird 51 Vgl. Pollack / Richter, Theologie, 687–719. 52 Vgl. Graf, Traditionsbewahrung, 177. 53 KJ 95 (1968), 122.

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die Wehrdienstverweigerung zwar nicht zur allgemein verbindlichen Norm erhoben, wohl aber die Verweigerung des Waffendienstes und der waffenlose Wehrdienst gegenüber dem Dienst mit der Waffe als „deutlicheres Zeugnis des gegenwärtigen Friedensgebots unseres Herrn“54 bezeichnet. Gott habe seine universale Friedensherrschaft bereits im alten Äon unter uns aufgerichtet und fordere daher auch ein dieser Herrschaft entsprechendes Verhalten. Kam es der Kirche bislang darauf an, die Gewissensfreiheit des Einzelnen gegen den Totalitätsanspruch des sozialistischen Staates einzuklagen, so wendet sie sich jetzt in ihrer Handreichung explizit gegen einen individualethisch verengten Ansatz55. Das Friedensgebot richte sich nicht nur an den Einzelnen, sondern an die Gemeinde und die Gesellschaft insgesamt. Kein Gut – seien es Recht und Freiheit im Westen oder die sozialistischen Errungenschaften im Osten – besitze einen solchen Wert, dass um seinetwillen ein Krieg riskiert werden dürfe. Heute sei der internationale Frieden das höchste Gut56. Damit stehen nicht mehr die Werte Recht, Freiheit und Demokratie, die es gegen den östlichen Totalitarismus zu verteidigen gilt, an oberster Stelle. Vielmehr sind diese westlichen Werte dem Wert des Friedens ebenso untergeordnet wie die des Ostens und kommen mit diesen letztendlich auf derselben Ebene zu stehen. Wie wir sehen, ist die theologische Behauptung der universalen Friedensherrschaft Gottes, der Ost und West gleichermaßen unterworfen seien, das Instrument, um gegen den sozialistischen Staat das Recht auf Wehrdienstverweigerung theologisch zu rechtfertigen und am staatlich ausgeübten Zwang Kritik zu üben. Der Preis aber besteht darin, dass damit die grundsätzlichen Unterschiede zwischen der politischen Ordnung des Westens und des Ostens nivelliert werden. Das Recht auf Wehrdienstverweigerung leitet sich nicht aus der Verweigerung gegenüber einem totalitären Unrechtsstaat ab, gegen den die göttlich begründete Gewissensfreiheit des Einzelnen kräftig zur Geltung gebracht wird, sondern aus der Universalität der Gottesherrschaft, in der alle Gesellschaftsordnungen gleichermaßen vorläufig sind. Die kulturell bedingte und theologisch begründete Aufweichung der antitotalitären Argumentationslogik hat der Bereitschaft der evangelischen Kirchen in der DDR, sich von der EKD institutionell zu trennen und einen eigenen Bund – den Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR – zu gründen, vorgearbeitet. Zur Verselbständigung der evangelischen Kirchen in der DDR hat darüber hinaus eine Vielzahl weiterer Gründe beigetragen, die es verbieten, ein einliniges Gründungsnarrativ zu erzählen. Deren Analyse würde indes den hier gesetzten Rahmen sprengen57.

54 55 56 57

KJ 93 (1966), 256. Vgl. ebd., 251. Vgl. ebd., 253. Vgl. jedoch Pollack, Organisationsgesellschaft, 211–232.

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Quellen- und Literaturverzeichnis I. Unveröffentlichte Quellen Evangelisches Zentralarchiv, Berlin (EZA Berlin) Bestand 104: Kirchenkanzlei der EKD für die Gliedkirchen in der DDR.

II. Veröffentlichte Quellen und Darstellungen Barth, Karl: Theologisches Gutachten zu den „Zehn Artikeln über Freiheit und Dienst der Kirche“. In: KiZ 18 (1963), 414–422. Bericht eber die ausserordentliche Tagung der zweiten Synode der EKD. Bd. VIII. Hg. im Auftrag des Rates von der Kirchenkanzlei der EKD. Berlin 1956. Besier, Gerhard / Wolf, Stephan (Hg.): „Pfarrer, Christen und Katholiken“. Das Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen DDR und die Kirchen (HTSt 1). Neukirchen-Vluyn 21992. Der Morgen, Zentralorgan der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands, Jg. 16, Ausgabe vom 19.12. 1961. Findeis, Hagen: Das Licht des Evangeliums und das Zwielicht der Politik. Kirchliche Karrieren in der DDR. Frankfurt a. M. 2002. Graf, Friedrich Wilhelm: Traditionsbewahrung in der sozialistischen Provinz. Zur Kontinuität antikapitalistischer Leitvorstellungen im neueren deutschen Protestantismus. In: ZEE 36 (1992), 175–192. Hamel, Johannes: Christ in der DDR (unterwegs 2), Berlin 41957. Heidtmann, Günter (Hg.): Kirche im Kampf der Zeit. Die Botschaften, Worte und Erklärungen der evangelischen Kirche in Deutschland und ihrer östlichen Gliedkirchen: Hat die Kirche geschwiegen? Berlin-West 21954. Hoffmann, Dierk / Schmidt, Karl-Heinz / Skyba, Peter (Hg.): Die DDR vor dem Mauerbau. Dokumente zur Geschichte des anderen deutschen Staates. München 1993. Hutten, Kurt: Christen hinter dem Eisernen Vorhang: Die christliche Gemeinde in der kommunistischen Welt. Bd. 2. Stuttgart 1963. Jacob, Günter: Der Raum für das Evangelium in Ost und West. In: Kirchenkanzlei der EKD (Hg.): Bericht über die außerordentliche Tagung der zweiten Synode der EKD. Berlin 1956, 17–29. –: Vom Dienst der Kirche unter veränderten Verhältnissen. In: KiZ 18 (1963) 60–61. Jarausch, Konrad H.: Realer Sozialismus als Fürsorgediktatur : Zur begrifflichen Einordnung der DDR. In: APuZ 20 (1998), 33–46. Kirche in der Zeit, Evangelische Kirchenzeitung, Presseverband der Evangelischen Kirche im Rheinland. Düsseldorf 1950–1967. Kirchliches Jahrbuch, Jg. 80–95. Gütersloh 1953–1968.

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Krusche, Werner : Rückblick auf 21 Jahre Weg- und Arbeitsgemeinschaft im Bund Evangelischer Kirchen. Synodalvortrag auf der 3. Tagung der VI. Synode des Bundes der Evangelischen Kirche. Hg. v. Sekretariat des Bundes der Evangelischen Kirchen. Berlin 1991. Margull, Hans Jochen (Hg.): Mission als Strukturprinzip. Ein Arbeitsbuch zur Frage missionarischer Gemeinden. Genf 1968. Parteivorstand der KPD (Hg.): Der neue Kurs 1953. 15. Tagung des ZK der SED vom 24. bis 26. Juli 1953. Hamburg 1953. Pollack, Detlef: Kirche in der Organisationsgesellschaft. Zum Wandel der gesellschaftlichen Lage der evangelischen Kirchen in der DDR. Stuttgart u. a. 1994. – / Richter, Hedwig: Protestantische Theologie und Politik in der DDR. In: HZ 294 (2012), 687–719. Steinlein, Reinhard: Die gottlosen Jahre. Berlin 1993. Weber, Hermann: Geschichte der DDR. München 21986. Wilke, Manfred: SED-Kirchenpolitik 1953–1958: Die Beschlüsse des Politbüros und des Sekretariats des ZK der SED zu Kirchenfragen 1953–1958. In: Arbeitspapiere des Forschungsverbundes „SED-Staat“. Bd. 1. Berlin 1992. Zehn Artikel über Freiheit und Dienst der Kirche. In: KiZ 18 (1963), 230–232.

Claudia Lepp

Die „Remilitarisierung“ der beiden deutschen Staaten und die evangelischen Kirchen

Die Entwicklung der beiden deutschen Staaten und Gesellschaften nach 1949 lässt sich mit Christoph Kleßmann als eine „asymmetrisch verflochtene Beziehungsgeschichte“1 verstehen. Diese Perspektive rückt die Geschichte der Bundesrepublik sowie der DDR in einen engen Zusammenhang, ohne dass sie als eigene Untersuchungsgegenstände aufgelöst werden. Die beziehungsgeschichtliche Interpretationsdimension lässt sich zudem mit der vergleichsgeschichtlichen verbinden, um Verflechtung und Abgrenzung sowie Gemeinsames und Trennendes in der doppelten deutschen Nachkriegsgeschichte freizulegen. Petra Weber hat in ihrer großen Darstellung der deutsch-deutschen Geschichte diese Perspektive noch erweitert zu einer „Parallel-, Kontrast-, Vergleichs-, Perzeptions- und Beziehungsgeschichte“2. Im Folgenden soll auch die Wiederaufrüstung der beiden deutschen Staaten und deren Auswirkungen auf die beiden Gesellschaften aus dieser Perspektive betrachtet werden, auch wenn die Entwicklung @ aufgrund der durchaus vorhandenen gravierenden Unterschiede auf diesem Feld @ getrennt und nacheinander dargestellt wird. Dabei gilt es auch, die wirksamen Traditions- und Problembestände der gesamtdeutschen Geschichte vor 1945 mit zu berücksichtigen. Ebenso sind die internationalen Konstellationen wie der Kalte Krieg und die gegeneinander aufgebauten Militärbündnisse einzubeziehen. Die evangelischen Kirchen sind ein besonders geeigneter Gegenstand für beziehungsgeschichtliche Untersuchungen. Aufgrund ihrer organisatorischen Ost-West-Einheit in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), wie sie im Untersuchungszeitraum dieses Beitrages noch existierte, ist trotz des Agierens in zunehmend divergierenden gesellschaftlichen Kontexten auf ein hohes Maß an Wechselwirkungen bei den Kirchen zu schließen. Im dritten Teil des Beitrages wird daher die Haltung der Kirchen zu Krieg, Wehrdienst und dessen Verweigerung in beiden deutschen Staaten gemeinsam behandelt.

1 Klessmann / Misselwitz / Wichert, Vergangenheiten, 12. 2 Weber, Getrennt, 8.

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1. „Remilitarisierung“ in der Bundesrepublik Die deutsche Nachkriegszeit begann mit einer vollständigen „Entmilitarisierung“. Für zehn Jahre gab es auf deutschem Boden keine Militärorganisation mehr3. Die Alliierten hatten die „Ausrottung“ des deutschen Militarismus zum Kriegsziel erklärt und im Potsdamer Abkommen noch einmal festgeschrieben. Insbesondere Amerikaner und Briten formulierten ein detailliertes politisches Programm, mit dessen Hilfe sie Deutschland entmilitarisieren und demokratisieren wollten. Die Umerziehung sollte den Deutschen ihre tiefsitzende Kriegsmentalität nehmen und zu einem wirklichen Gesinnungswandel führen. Im Unterschied zur Situation nach dem Ersten Weltkrieg wurde nach 1945 die Entmilitarisierung durch die Besatzungsmächte von der deutschen Öffentlichkeit bejaht und auch offizielle Politik der neuen Bundesregierung4. Der bald schon aufziehende Kalte Krieg weckte jedoch bei den Amerikanern das Interesse an einer deutschen Wiederbewaffnung. Bundeskanzler Konrad Adenauer sah darin die Chance, durch die Bereitschaft zur Aufstellung von Streitkräften für den westdeutschen Teilstaat Souveränität hinzuzugewinnen. Ab Dezember 1949 informierte er die Öffentlichkeit über das Aufrüstungsprojekt. Dessen Befürworter vermieden den Begriff „Remilitarisierung“, um zu verdeutlichen, dass es ihnen nicht um ein Anknüpfen an alte militaristische Traditionen gehe. Stattdessen wurden die „Legitimationsvokabeln Wehrbeitrag, Verteidigungsbeitrag oder Beitrag zur Verteidigung Westeuropas“5 verwendet. Die Rüstungsgegner hingegen sprachen zunächst bewusst von einer drohenden „Remilitarisierung“. Später unterließen sie dies zunehmend, da „Remilitarisierung“ in der Propaganda der DDR und der Sowjetunion als politischer Kampfbegriff gegen die Bundesrepublik benutzt wurde. Doch wie stand die westdeutsche Bevölkerung so kurz nach Kriegsende und Entmilitarisierung zu den Wiederbewaffnungsplänen? Zunächst dominierten Skepsis und Ablehnung. Im Oktober 1950 lehnten es laut einer AllensbachUmfrage 49 % der befragten Männer ab, Soldat zu werden, wenn Westdeutschland aus dem Osten angegriffen würde; nur 38 % zeigten sich dazu bereit6. Zum gleichen Zeitpunkt waren 45 % der befragten Männer und Frauen gegen eine Teilnahme deutscher Truppen an einer westeuropäischen Armee; im Juni 1954 lag der Anteil dann bei 36 %7. Im Oktober 1950 waren 48 % der Befragten gegen den Aufbau einer selbständigen deutschen Armee, im Februar 1955 waren es immer noch 43 %8. Gegen eine allgemeine Wehrpflicht 3 Vgl. zum Folgenden Wette, Militarismus, 215–233; Kroener, Militär, 41–45; Rink, Bundeswehr. 4 Vgl. Friedeburg, Verhältnis, 17. 5 Wengeler, Sprache, 319. 6 Vgl. Jahrbuch der çffentlichen Meinung (1947–1955), 355. 7 Vgl. ebd., 360 f. 8 Vgl. ebd., 372 f.

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sprachen sich im März 1950 bei einer Allensbach-Umfrage 55 % aus, im November 1953 waren es nur noch 31 %9. Im März 1956 waren 51 % der Befragten für eine allgemeine Wehrpflicht und immer noch 31 % dagegen10. Für die Möglichkeit einer Kriegsdienstverweigerung votierten im Dezember 1953 48 % und im Januar 1955 45 %11. 54 % der im April 1956 Befragten sprachen jungen Männern, die Verwandte in der DDR hatten, das Recht auf Verweigerung zu12. Sie sollten sich nicht in einen „Bruderkrieg“ begeben müssen. Als die neue westdeutsche Armee im Mai 1955 schließlich gegründet wurde, waren 37 % der Bundesbürger für und 42 % gegen die Aufstellung13. Im Januar 1956 waren dann bereits 44 % dafür und 40 % dagegen14. Für den Aufbau der „neuen Wehrmacht“, die erst am 1. April 1956 den Namen „Bundeswehr“ erhielt, wurden auch Vertreter der ehemaligen Wehrmachtselite benötigt. Für diese war damit die Zeit der „Schmähungen“15 und der fehlenden Berufsperspektiven vorbei. Durch „Ehrenerklärungen“ seitens des zum Oberbefehlshaber der NATO in Europa designierten General Dwight D. Eisenhower und Bundeskanzler Adenauer wurden die deutschen Soldaten kollektiv rehabilitiert. Für die Bundeswehr aber stellten diese personellen Kontinuitäten eine schwere Belastung dar. National-militaristische Tendenzen innerhalb der Truppe, die es bis in die 1970er Jahre hinein noch gab, wurden jedoch durch die internationale Einbindung der deutschen Streitkräfte gebändigt. Auch innerdeutsch gab es Schutzmauern gegen einen Rückfall in eine militaristische Vergangenheit: In der Präambel des Grundgesetzes wurde das Friedensgebot als vorrangiges Staatsziel festgeschrieben; der Katalog der Grundrechte enthielt das Recht auf Kriegsdienstweigerung und die Vorbereitung eines Angriffskrieges war verfassungsrechtlich verboten. Der Primat der Politik wurde dadurch gesichert, dass die oberste „Befehls- und Kommandogewalt“ der Bundeskanzler beziehungsweise der Bundesverteidigungsminister innehatte. Letzterer war dem Bundestag in vollem Umfang rechenschaftspflichtig. Das Parlament bestimmte aus seinen Reihen einen Wehrbeauftragten, an den sich beschwerdeführende Bundeswehrangehörige außerhalb des Dienstweges wenden konnten. Durch einen Personalgutachterausschuss wurden belastete Personen von Führungsstellen der Bundeswehr ferngehalten. Der Militärreformer Wolf Graf von Baudissin entwarf das Konzept der „Inneren Führung“, das den Soldaten als „Staatsbürger in Uniform“ vorsah, mit aktivem und passivem Wahlrecht und der Pflicht, sich verbrecherischen Befehlen zu widersetzen. Die „Innere Führung“ blieb jedoch 9 10 11 12 13 14 15

Vgl. ebd., 374. Vgl. Jahrbuch der çffentlichen Meinung (1957), 303. Vgl. Jahrbuch der çffentlichen Meinung (1947–1955), 377. Vgl. Jahrbuch der çffentlichen Meinung (1957), 306. Vgl. ebd., 296. Vgl. ebd. „Ehrenerklärung“ Bundeskanzler Konrad Adenauer vor dem Deutschen Bundestag am 3. 12. 1952. Zitiert nach Rink, Bundeswehr, 32.

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eine „dauernde Aufgabe“, wie es der evangelische Publizist Eberhard Stammler, einer der Sprecher des vom Bundesminister für Verteidigung 1958 eingerichteten „Beirats für Fragen der Inneren Führung der Bundeswehr“, formulierte16. Lange Zeit standen sich Reformer und Traditionalisten in der Bundeswehr gegenüber und versuchten jeweils Einfluss auf die Verteidigungspolitik zu nehmen. Indirekte Unterstützung für die Traditionalisten kam vonseiten der populären Literatur. Während in den ersten Nachkriegsjahren kein Kriegsspielzeug verkauft wurde und das Thema Krieg aus der Jugendliteratur verschwunden war, änderte sich dies parallel zu den politischen Bemühungen um die bundesdeutsche Wiederbewaffnung17. Kriegsromanserien wie „Der Landser“ und ähnliche Produkte kamen zwischen 1956 und 1959 massenhaft in Umlauf. Dies alarmierte einige Jugendpfleger, die 1960 gemeinsam mit Pädagogen und Juristen eine Auswahl solcher Kriegsliteratur auf ihren jugendgefährdenden Charakter hin untersuchten und das Ergebnis publizierten. Kritisiert wurden vor allem die Verharmlosung und Heroisierung des Kampfgeschehens in diesen Heften. Infolge der Debatte wurden mehrere Kriegsbücher und Kriegsromanhefte durch die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften indiziert. Die Bundeswehr selbst bemühte sich in ihrer Präsentation nach außen zumeist darum, ein „ziviles Gesicht“18 zu präsentieren. In der Nachwuchswerbung dominierte der „habituell ,verbürgerlichte[ ]‘ Bundeswehrsoldat“19. Von 1958 an übernahmen Jugendoffiziere die Öffentlichkeitsarbeit der Bundeswehr im Bildungsbereich. Sie traten in Schulen und Jugendverbänden auf und informierten dort über die bundesdeutsche Sicherheitspolitik20. 1961 wurde in Richtlinien und Informationen für Jugendoffiziere festgelegt, dass diese nicht zur Nachwuchswerbung eingesetzt werden durften21. 1967 kamen erstmals auch nebenamtliche Jugendoffiziere in Einsatz und bis 1969 wurde die Zahl der hauptamtlichen Jugendoffiziere auf 27 erhöht. Tausenden Lehrern wurde regelmäßig die Monatsschrift „Information für die Truppe“ zugeschickt22. Doch erst 1971 kam es zu einer Reihe von Erlassen der Kultusministerien, die Empfehlungen zur Behandlung von sicherheitspolitischen Inhalten in den Schulen enthielten23. Schon zuvor veranstaltete die Schule der Bundeswehr für Innere Führung Informationslehrgänge für Multiplikatoren wie Pädagogen und Journalisten24. Ein schwieriges Feld für die Öffentlich16 17 18 19 20 21 22 23 24

Vgl. Stammler, Führung. Vgl. auch im Folgenden Klausenitzer, Diskussion, 215–217. Rink, Bundeswehr, 116. Ebd. Vgl. ebd.; Bredow, Primat, 79; Sachs, Zusammenarbeit, 15 f.; Rogge, Aufgabe. Vgl. Sachs, Zusammenarbeit, 16. 1963 wurden ca. 10.000 Lehrern diese Informationen zugeschickt. Vgl. Bredow, Primat, 81. Vgl. Sachs, Zusammenarbeit, 18. Vgl. Klausenitzer, Diskussion, 209.

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keitsarbeit waren indes die Universitäten, vormals eine Hochburg des Militarismus. Die Mehrheit der bundesdeutschen Studierenden galt als indifferent in wehrpolitischen Fragen; eine Minderheit als kritisch bzw. ablehnend25. Neben den Studierenden waren es die evangelischen Theologen, bei denen die Öffentlichkeitsarbeit der Bundeswehr nach eigener Einschätzung bis Mitte der 1960er Jahre am wenigsten verfing26. 1965 klagte Verteidigungsminister KaiUwe von Hassel vor dem Evangelischen Arbeitskreis der CDU, dass in den Augen „einer Vielzahl der Verblendeten“ in der EKD nur der Wehrdienstverweigerer ein richtiger Christ wäre27. Auch wenn sich Zeit- und Berufssoldaten in ihrem „Diensteid“ zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekannten – Wehrpflichtige taten dies in dem weniger verbindlichen „Feierlichen Gelöbnis“28 – so fiel es doch den meisten Offizieren schwer, eine demokratische Gesinnung zu entwickeln. Sie orientierten sich an vermeintlich zeitlosen soldatischen Tugenden und pflegten eine auf den Erfahrungen zweier Weltkriege gegründete Militärtradition. Im Jahr 1964 kritisierte der Wehrbeauftragte Hellmuth Heye, CDUBundestagsabgeordneter und Vizeadmiral a. D., in seinem Jahresbericht unter anderem menschenunwürdige Ausbildungspraktiken bei der Fallschirmjägertruppe am Standort Nagold. Um seiner Kritik Nachdruck zu verleihen, veröffentlichte er in einer dreiteiligen Artikelserie in der Zeitschrift „Quick“ im Juni und Juli die zentralen Punkte seines Berichtes unter dem Titel „In Sorge um die Bundeswehr“ und warnte vor einer Tendenz zum „Staat im Staate“29. 1966 lehnten es hohe Offiziere ab, dass Gewerkschaften in den Kasernen Mitglieder werben durften, und traten aus Protest dagegen zurück. Prominente Bundeswehrangehörige warfen den Medien und der Öffentlichkeit vor, die Streitkräfte unsachlich zu kritisieren30. Anlässe hierfür waren Presseberichte über immer neue Fälle von Befehlsmissbrauch. 1968 hieß es in einer von Heeresinspekteur General Albert Schnez verantworteten Denkschrift, die Demokratie sei für das Militär nur „ohne übertriebene parlamentarische Kontrolle“ akzeptabel und die Bundesrepublik benötige eine „Umformung der zivilen Gesellschaft an Haupt und Gliedern“ nach militärischem Vorbild31. Für die SED-Presse war die Studie eine Steilvorlage für Polemik gegen die Bundesrepublik32. 25 26 27 28 29 30

Vgl. Bredow, Primat, 84. Vgl. ebd. Zitiert nach Klausenitzer, Diskussion, 213. Vgl. Rink, Bundeswehr, 95. Ebd., 119. Vgl. Weltz, Bundeswehr, III. – Die Studie über das Verhältnis der bundesdeutschen Bevölkerung zur Bundeswehr wurde von der Zeitschrift „Stern“ angeregt und von dem Soziologen Friedrich Weltz geleitet. Das Infratest-Institut in München führte die Befragung im Juli 1964 durch. 31 Zitiert nach Wette, Militarismus, 225. 32 Vgl. Weber, Getrennt, 530.

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Die in der Studie enthaltene Forderung nach Übertragung militärisch-autoritärer Ordnungsformen auf die Gesellschaft war auch eine Replik auf die grundlegenden Wandlungen in der westdeutschen Gesellschaft hinsichtlich der Einstellung zu Krieg und Frieden, Militarismus und Zivilität, die sich bis Ende der 1960 Jahre vollzogen, auch wenn sie nicht linear verliefen. Frieden galt zunehmend als Norm und Krieg nicht mehr als normales Mittel der Politik, was die Rückversicherung in einer militärischen Politik der Stärke aber nicht ausschloss. Die Bevölkerung lernte seit den 1950er Jahren den Frieden, in dem sie Wohlstand und Rechtssicherheit erlebte, zu schätzen. Gleichzeitig wurde die Bundeswehr vermehrt akzeptiert und als „praktische Notwendigkeit“ oder „notwendiges Übel“ betrachtet, wozu die Schockwirkungen des Ungarnaufstands 1956 und des Mauerbaus 196133 sowie der erfolgreiche Einsatz der Bundeswehr bei der Flutkatastrophe 196234 beigetragen hatten. Auch die Öffentlichkeits- und Pressearbeit der Bundeswehr zeigte Wirkung35. In Ausstellungen der Teilstreitkräfte, in Filmen, Vorträgen, Diskussionsveranstaltungen, Seminaren und Tagungen sowie bei Tagen der offenen Tür, Flugtagen sowie musikalischen Veranstaltungen mit den Musikkorps der Bundeswehr wurde der Bevölkerung die Truppe und ihre Arbeit nahegebracht36. Während der Berufssoldat eher wenig Ansehen genoss, waren noch Mitte der 1960er Jahre 80 % der Männer und 85 % der Frauen vom „charakterbildenden“37 Wert des Wehrdienstes überzeugt. Als Erziehungsinstitution schätzte die Bevölkerung folglich die Bundeswehr. Nationales Selbstbewusstsein zogen die Bundesdeutschen jedoch stärker aus den wirtschaftlichen Leistungen als aus dem Stolz auf die deutsche Armee, die man als nicht modern genug empfand38. Die Proteste gegen den Vietnamkrieg, die Studentenbewegung und die sozialliberale Entspannungspolitik förderten dann Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre die gesellschaftliche Akzeptanz von Demokratie und Frieden weiter. Eine Liberalisierung des Zivildienstrechts fand indes zunächst nur zögerlich statt. Lange war die Kriegsdienstverweigerung „wohl eines der unbekanntesten Grundrechte“ und staatlicherseits war viel getan worden, um die Arbeit der Interessenorganisationen zu behindern39. In der Großen Koalition seit 1966 war es dann vor allem Gustav Heinemann, der als Justizminister mit großem Engagement eine Humanisierung des Zivildienstrechts forcierte. Ein Motiv hierfür war auch, dem DDR-Regime „keine propagandistische Angriffsfläche gegen die Bundesrepublik“40 zu bieten. 1969 wurde für die total33 34 35 36 37 38 39 40

Vgl. Weltz, Bundeswehr, 7. Vgl. Bredow, Primat, 82. Sehr kritisch zu dieser Arbeit: Bredow, Primat. Vgl. ebd., 78. Weltz, Bundeswehr, 113. Vgl. ebd., 35. Vgl. Bernhard, Zivildienst, 398. Ebd., 400.

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verweigernden Zeugen Jehovas eine Lösung gefunden41. Infolge des sich in der bundesrepublikanischen Gesellschaft vollziehenden Wertewandels stieg dann seit Ende der 1960er Jahre die Zahl der Kriegsdienstverweigerer sprunghaft an42. Verweigerten im Jahr 1967 nur 5.963 Wehrpflichtige, so waren es 1968 11.952, im Jahr 1969 14.420 und 1970 bereits 19.36343. Verstärkt lehnten Abiturienten und Studenten den Wehrdienst ab. Während bislang religiöse Motive dominierten, waren es nun säkulare Beweggründe: „Verweigerung aus humanitär-ethisch-moralischen Gewissensmotiven, aus sozialer Verantwortung, aus politischen Gründen sowie aus ,privatistischen‘ Motiven“44. Diese mussten indes in einem strengen justizähnlichen Prüfungsverfahren als Gewissensgründe formuliert werden. Die linke Studentenbewegung entdeckte zu dieser Zeit in der Kriegsdienstverweigerung und im Zivildienst politische Agitationsfelder. Dabei forderte sie auch eine Entmilitarisierung und Demokratisierung des Zivildienstes45. Die Bundeswehrführung und viele Politiker zeigten sich insbesondere durch das Anwachsen von Kriegsdienstverweigerungsanträgen von Soldaten stark beunruhigt. Scharfe behördliche Reaktionen auf die Proteste und Streiks der Jahre 1968 bis 1970 und die Medienberichterstattung darüber sensibilisierten die Bevölkerung für den Zivildienst als gesellschaftspolitische Thematik. Es formierte sich eine Reformallianz aus Kirchen, Interessenverbänden der Kriegsdienstverweigerer, Gewerkschaften und Parteien. In den langen 1960er Jahren erfuhr indes auch die Bundeswehr eine „Umprägung“46. Infolge des Generationenwechsels und der Bundeswehrreform entstand eine „sozial erneuerte Armee“47. Teil dieses Prozesses war es, dass die evangelische Überrepräsentanz unter den Offizieren verloren ging48.

2. „Remilitarisierung“ in der DDR Auch die sowjetische Besatzungsmacht verfolgte in ihrer Zone zunächst eine Politik der Entmilitarisierung. Vorrang hatte hier allerdings, dem Militarismus seine sozioökonomische Basis zu nehmen. Die mentale Entmilitarisierung sollte dann von selbst folgen49. Entsprechend waren nach dem Ver41 Vgl. Gesetz über den Zivildienst der Kriegsdienstverweigerer (Zivildienstgesetz – ZDG) § 15a Freies Arbeitsverhältnis, https://www.gesetze-im-internet.de/ersdig/15a.html. 42 Vgl. ebd., 404. 43 Zahlen aus ebd., 417. 44 Ebd., 404. 45 Vgl. ebd., 401. 46 Rink, Bundeswehr, 40. 47 Ebd., 41. 48 Vgl. ebd., 135. 49 Vgl. Wette, Militarismus, 219.

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ständnis der SED-Führung der „lmperialismus und Militarismus mit ihren Klassenwurzeln“ durch die Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges auf dem Gebiet der DDR beseitigt worden50. Militarismus und Militarisierung galten als Kennzeichen eines „reaktionären politischen Systems herrschender Ausbeuterklassen“51 und wurden als ideologische Kampfbegriffe im Kalten Krieg gegen die Bundesrepublik verwendet52. Faktisch aber verfolgte die SED von 1949 an aus Gründen des Machterhalts und der Bündnispflichten eine Wiederaufrüstung53. Während die ersten Schritte der ostdeutschen Wiederbewaffnung in Gestalt der Volkspolizeibereitschaften noch im Geheimen erfolgten, fand schon früh eine Militarisierung des Sports statt, etwa durch ein Sportleistungsabzeichen mit militärischen Elementen oder der Bildung von „Wehrsportgemeinschaften“ in der FDJ54. Im neuen Jugendgesetz der DDR wurde die Jugend zu einer Art von Landesverteidigung verpflichtet, die es offiziell noch gar nicht gab. 1952 regte Stalin dann die nächste Phase der Bewaffnung der DDR an, die über die Gründung der Kasernierten Volkspolizei im Juli 1952 zur Nationalen Volksarmee im Jahr 1956 führen sollte55. Nach dem Trauma der SED vom 17. Juni 1953 wurden sogenannte Kampfgruppen der Arbeiterklasse geschaffen, paramilitärische Verbände, die man bei einem erneuten Aufstand einsetzen wollte56. Den Erhalt der DDR sollten neben den staatlichen Kräften in der Folgezeit auch überzeugte Bürger gewaltsam sichern. Dies war ein Motiv für die breite Militarisierung der Gesellschaft. In der DDR-Forschung spricht man seit 1987 von einem „militarisierten Sozialismus“57. Der SED ging es nicht nur um militärische Stärke nach außen, sondern auch um eine Festigung der Herrschaft nach innen durch die Übertragung militärischer Organisationsstrukturen und militäraffiner Verhaltensweisen in alle gesellschaftlichen Bereiche58. Die Einbindung aller Staatsbürger in die Aufrechterhaltung der inneren und äußeren Sicherheit fand sich bereits im Verteidigungsgesetz von 1961, mit dem alle Bürger dazu verpflichtet wurden, die „staatlichen Organe“ beim Schutz vor den „Auswirkungen feindlicher Angriffe“ zu unterstützen59. Dass die Verteidigung der DDR eine Pflicht für alle ihre Bürgerinnen und Bürger war, verdeutlichte auch Artikel 23 der DDRVerfassung von 1968: „Der Schutz des Friedens und des sozialistischen Vaterlandes und seiner sozialistischen Errungenschaften ist Recht und Ehrenpflicht der Bürger der Deutschen 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59

Auch zum Folgenden vgl. Brçckermann, Militarisierung, 27; Rogg, Armee. Zitiert nach Brçckermann, Militarisierung, 27. Vgl. ebd., 28. Vgl. ebd., 10. Vgl. ebd., 12. Vgl. ebd., 13. Vgl. ebd., 18. Ebd., 28. Vgl. Rogg, Armee, 9. Vgl. Brçckermann, Militarisierung, 30.

„Remilitarisierung“ der beiden deutschen Staaten und evangelische Kirchen 53 Demokratischen Republik. Jeder Bürger ist zu Dienst und zu Leistungen für die Verteidigung der Deutschen Demokratischen Republik entsprechend den Gesetzen verpflichtet.“60

Und in der Jugendweihe gelobten die Heranwachsenden seit 1968, „den Sozialismus gegen jeden imperialistischen Angriff zu verteidigen“61. Seit dem Jahr 1962 mussten die männlichen DDR-Bürger einen 18-monatigen Wehrdienst ableisten. Zuvor hatte es sich bei der Nationalen Volksarmee (NVA) um eine Freiwilligenarmee gehandelt, die aus den Jugendverbänden und der SED selbst rekrutiert worden war. Bis Ende der 1950er Jahre war es der SED gelungen, die Armee mittels einer politisch-ideologischen Indoktrination und einer von ihr gesteuerten Personalführung ihrer Kontrolle zu unterwerfen62. Da aber trotz Drohungen und der durch den Mauerbau verwehrten Möglichkeit einer Flucht in den Westen der Erfolg von Werbekampagnen weit hinter den Erwartungen der Partei zurückgeblieben war, hatte man sich für eine Wehrpflichtarmee entschieden. Laut der Beobachtung des Ministeriums für Staatssicherheit waren ablehnende oder negative Äußerungen in der Bevölkerung zur Einführung der allgemeinen Wehrpflicht im Verhältnis zu den zustimmenden Äußerungen die Minderheit63. Die Befürworter hoben vor allem die Bedeutung der Armee für die charakterliche Erziehung der Jugend hervor64 – hierin waren sich demnach Ost- und Westdeutsche infolge ihres gemeinsamen Traditionsbestandes einig. Der Anteil der kritischen Stimmen in der Aufbauphase der Wehrpflichtarmee lässt sich nicht eindeutig ermitteln65. In der NVA wurde die von der SED gewollte Militarisierung der Gesellschaft im Zuge der abzuleistenden Wehrpflicht durchgesetzt66. Die Soldaten waren der politischen Indoktrination sowie einer umfassenden Überwachung und Disziplinierung ausgesetzt. Ausgang aus der Kaserne oder das Verlassen der Garnison war für die Wehrpflichtigen streng reglementiert. Zivilkleidung durfte ausschließlich im Heimaturlaub getragen werden67. Eingaben und Beschwerden konnten nur beim unmittelbaren Vorgesetzten vorgebracht werden, was aus Furcht vor Repressalien selten geschah68. Ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung gab es in der DDR nicht. Nach dem Verteidigungsgesetz von 1961 und dem Wehrpflichtgesetz der DDR von 1962 wurde bei einer Weigerung des Wehrdienstes der Straftatbestand der Wehrdienstverweigerung erfüllt. Darauf standen in den Folgejahren zwischen acht und 28 Monaten Gefängnis. Das Strafgesetzbuch der DDR von 1968 enthielt ein Strafmaß von bis zu fünf Jahren 60 61 62 63 64 65 66 67 68

Zitiert nach ebd., 31. Zitiert nach Rogg, Armee, 193. Vgl. Kroener, Militär, 47. Vgl. Rogg, Armee, 536. Vgl. ebd. Vgl. ebd., 537. Vgl. Brçckermann, Militarisierung, 50. Vgl. ebd., 56. Vgl. Weber, Getrennt, 533.

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Freiheitsentzug bei Wehrdienstentziehung und Wehrdienstverweigerung69. Auch mit Rücksicht auf den in der Bundesrepublik möglichen Zivildienst richtete die DDR aber als einzige Armee im Warschauer Pakt 1964 die Möglichkeit eines waffenlosen Wehrersatzdienstes als „Bausoldat“ ein70. Die Bausoldaten blieben jedoch als Wehrpflichtige in den Dienst und Auftrag der NVA eingebunden, mussten ein Gelöbnis ablegen, an einer staatspolitischen Schulung sowie an Luftschutzübungen teilnehmen. Zudem nutzte man sie beim Bau von Schießplätzen und Panzerstraßen als billige Arbeitskräfte. Die Motive der jungen Männer waren bis Mitte der 1970er Jahre vornehmlich religiöser Natur. Da die meisten Jugendlichen in der DDR nicht wussten, dass sie ihren Wehrdienst auch als Bausoldat ableisten konnten, war die Zahl der Bausoldaten jedoch gering. Sie blieben eine diskriminierte Minderheit, denen u. a. der Zugang zur Hochschule verweigert wurde. 1970 entschied der Nationale Verteidigungsrat der DDR, dass grundsätzlich alle Studenten vor ihrem Studienbeginn den Wehrdienst abgeleistet haben sollten71. Ein wichtiger Ansatzpunkt für die Militarisierung der DDR-Gesellschaft war die sozialistische Wehrerziehung. An den Universitäten und Hochschulen wurden Arbeitsgruppen für Fragen der Sozialistischen Wehrerziehung bei den Wissenschaftlichen Räten eingerichtet. Studierende mussten ab 1958 eine studienbegleitende militärische Ausbildung absolvieren. Auf Beschluss des Politbüros der SED wurden 1962 „Kommissionen für die sozialistische Wehrerziehung“ in den Bezirken und Kreisen eingerichtet72. Innerhalb der SED wurde die „Arbeitsgruppe für sozialistische Wehrerziehung und militärpolitische Agitation“ beim Politbüro zur maßgeblichen Stelle für die Arbeit der Kommissionen und die verschiedenen Ansätze der Militarisierung73. Die Arbeitsgruppe sollte die DDR-Medien in der Verbreitung der Militärpolitik der SED anleiten, die sozialistische Wehrerziehung vorantreiben und eigene politische Agitation gegen die Militär- und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik betreiben. An der gesellschaftlichen Basis setzten die sogenannten gesellschaftlichen Organisationen und Institutionen die Vorstellungen der Arbeitsgruppe durch74. Von 1963 an waren Oberschulen, Berufsschulen und Betriebsfachschulen verpflichtet, eine „vormilitärische Ausbildung“ außerhalb des Unterrichts als Freizeitangebot zu organisieren75. 1967 führte das Ministerium für Volksbildung die von der FDJ organisierten wehrsportlichen Hans-Beimler-Wettkämpfe an allen polytechnischen Oberschulen in den Klassen 8 bis 10 ein. Für die Jüngeren bot die Pionierorganisation „Ernst

69 70 71 72 73 74 75

Vgl. Brçckermann, Militarisierung, 57. Vgl. auch zum Folgenden: Eisenfeld / Schicketanz, Bausoldaten. Vgl. Brçckermann, Militarisierung, 43. Vgl. ebd., 45. Vgl. ebd., 48. Vgl. ebd. Vgl. ebd.

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Thälmann“ ab 1968 regelmäßig sogenannte Pioniermanöver an76. Ab dem Schuljahr 1969/70 wurde dann die vormilitärische Ausbildung der Jungen zwischen 16 und 19 Jahren „Bestandteil des Schulbesuches bzw. der Berufsausbildung“. Die bereits 1952 gegründete Gesellschaft für Sport und Technik (GST), eine paramilitärische Massenorganisation, bereitete die 16- bis 18jährigen Jungen auf den Wehrdienst vor77. Mädchen nahmen freiwillig an den Angeboten der GST teil78. Die Wehrerziehung begann allerdings schon vor der Schule in den Kinderkrippen, im Kindergarten sowie in Kindermagazinen wie „Bummi“, der „ABC-Zeitung“ und „Frösi“79. Bereits seit Mitte der 1950er Jahre gab es auch Kriegsspielzeug, jedoch wurde es wenig öffentlich propagiert. Ein weiterer Bestandteil der wehrpolitischen Mobilisierung war die militärpolitische Öffentlichkeitsarbeit80. Dazu gehörten die Pressearbeit sowie die Verlegung von militärischer Fach- und Populärliteratur durch einen bereits 1956 gegründeten volkseigenen Militärverlag. Besonders gefördert wurde die Militärbelletristik. Fachzeitschriften widmeten sich militärischen Spezialthemen. Die staatlichen Rundfunksender strahlten Sendungen zu militärischen Themen aus. Ende des Jahres 1960 wurde ein Armeefilmstudio gegründet, das Ausbildungsfilme, Werbefilme, die Armeefilmschau sowie Dokumentarfilme produzierte. Beim Fernsehen der DDR existierte seit 1963 eine Redaktion für Militärpolitik. Zur wehrpolitischen Öffentlichkeitsarbeit gehörten auch die jährlichen Feiern zur „Woche der Waffenbrüderschaft“ und zum „Tag der NVA“. In jedem Mai und November wurde die öffentliche Vereidigung der neuen Soldaten zelebriert. Die NVA inszenierte sich in der Öffentlichkeit zudem mit Aufmärschen, Paraden und Militärkonzerten. Zur Vertiefung der Kontakte und Stärkung des Identitätsgefühls gab es Patenschaftsverbindungen zwischen der NVA und Betrieben sowie Schulen. Sie dienten letztlich der sozialistischen Wehrerziehung und damit der Gewinnung von Zeit- und Berufssoldaten. Öffentlichkeitsarbeit und Erziehung waren bei der wehrpolitischen Mobilisierung der DDR-Bevölkerung eng verschränkt81.

76 77 78 79 80 81

Vgl. Rogg, Armee, 184. Vgl. Brçckermann, Militarisierung, 46. Vgl. ebd., 47. Vgl. Rogg, Armee, 173–180. Vgl. ebd., 105–169. Vgl. ebd., 205.

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3. Die Kirchen und die „Remilitarisierung“ in beiden deutschen Staaten Krieg solle nach Gottes Wille nicht sein, so lautete der friedensethische Appell der ersten Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen 1948 in Amsterdam. In Einklang mit dieser friedensethischen Neuorientierung auf ökumenischer Ebene und vor dem Erfahrungshintergrund des Zweiten Weltkriegs begann die gesamtdeutsche Evangelische Kirche in Deutschland über Krieg und Frieden neu zu denken. Dabei erfolgten alle friedensethischen Reflexionen der 1950er und 1960er Jahre im Kontext der deutschen Teilung und des Ost-West-Konflikts. In der großen, die erste Hälfte der 1950er Jahre prägenden Debatte um Wiederbewaffnung und Westintegration der jungen Bundesrepublik war die evangelische Kirche zutiefst zerstritten. Obgleich diese noch überwiegend gesamtdeutsch geführten Diskussionen vor den Kulissen des Kalten Krieges stattfanden, markierten die in ihnen deutlich zu Tage tretenden tiefen theologischen und politischen Gegensätze keine innerkirchliche Ost-West-Grenze. Die Trennlinie verlief vielmehr quer zu ihr : zwischen – vereinfacht gesprochen – einem lutherisch geprägten Mehrheitsprotestantismus und einem von Karl Barths Theologie beeinflussten Minderheitsprotestantismus. Grundfragen der politischen Ethik verwoben sich dabei mit friedensethischen Überlegungen und diese wiederum mit nationalen Motiven. Der bruderrätliche Flügel der EKD bezog sich auf die Lehre von der „Königsherrschaft Christi“, nach der kein Bereich von der Herrschaft Christi ausgenommen war und die Christen im Gehorsam gegen Gottes Willen dazu aufgerufen waren, ein Stück der verheißenen Zukunft zeichenhaft vorwegzunehmen, indem sie an der Veränderung der Zustände mitwirkten. In der Wiederbewaffnungsfrage waren die Anhänger dieser politischen Ethik dazu bereit, im Bewusstsein der deutschen Schuld am Zweiten Weltkrieg, die zu einer politisch konkret praktizierten Umkehr zwinge, sowie um der Hoffnung auf eine deutsche Wiedervereinigung willen auf eine militärische Westintegration zu verzichten. Aus einer national-humanitären Haltung heraus appellierten sie an die Kirche, Anwalt der Menschen in der DDR zu sein, die bei einer militärischen Westintegration der Bundesrepublik mit einer Verschlechterung ihrer Lage zu rechnen hätten. Zu den prominenten protestantischen Wiederbewaffnungsgegnern zählten Martin Niemöller und Gustav Heinemann. Die andere Streitpartei lehnte es auf der Grundlage der sogenannten lutherischen ZweiReiche-Lehre ab, eine politische Frage wie die Wiederbewaffnung mit der Autorität der Bibel zu beantworten und als Kirche zu vertreten. In ihrer persönlichen politischen Entscheidung schlossen sie sich zumeist der Position der Adenauer-Regierung an. Sie hielten die militärische Westintegration für die Sicherheit und Freiheit der Bundesrepublik für notwendig und Westbin-

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dung und Wiedervereinigung im Konzept einer Politik der Stärke für vereinbar. Als entschiedene Gegner der evangelischen Nationalneutralisten taten sich insbesondere Eugen Gerstenmaier und Eberhard Müller hervor. Letzterer veranstaltete im Herbst 1950 in der Evangelischen Akademie Bad Boll auch sogenannte Soldatentagungen, bei denen frühere Offiziere, Kirchenführer und Politiker miteinander über die Zukunft des Soldatentums diskutierten. Dabei ging es nicht allein um Seelsorge an den ehemaligen Berufssoldaten, sondern auch um deren gesellschaftliche Rehabilitierung82. So erklärte der württembergische Landesbischof Martin Haug in seinem Grußwort: „Mehr und mehr bricht sich die Erkenntnis der wahren Tatbestände Bahn. Insbesondere beginnt deutlich zu werden, daß der Beruf des Soldaten nicht als solcher schon dem Verdikt des Militarismus unterliegen kann, so daß jemand berechtigt wäre, diesen Stand in besonderem Maße für unser schweres Schicksal verantwortlich zu machen.“83

Schon bei der Entnazifizierung hatten sich die evangelischen Kirchen für ihr eigenes sozialmoralisches Milieu eingesetzt84, dem auch die Offiziere angehörten, war doch das deutsche Militär seit dem 19. Jahrhundert preußischprotestantisch geprägt gewesen. Nun sollte das Ansehen dieser Berufsgruppe wiederhergestellt werden, um ihre Bereitschaft, in einer neuen Armee mitzuwirken, zu erhöhen. Entsprechend schrieb der Geschäftsführer der Akademie, der ehemalige Panzergeneral Heinrich Eberbach, im Oktober 1950 in einem Brief: „Für uns handelt es sich darum, die Offiziere, die so lange nur als der Sündenbock abgestempelt waren und grossenteils verbittert sind, einmal ins Gespräch zu bringen, die unverdauten Probleme in ihnen zu klären und sie damit über den ,ohne mich‘-Standpunkt wegzubringen.“85

Im Laufe der Auseinandersetzungen um die westdeutsche Wiederbewaffnung geriet die EKD mehrmals an den Rand ihrer Existenz; beide Streitparteien griffen sogar auf das Interpretament „Kirchenkampf“ zurück. Aufgrund der inneren Differenzen war es der EKD immer weniger möglich, sich in der Wiederbewaffnungsfrage eindeutig zu positionieren. Die Stellungnahme der EKD-Synode in Weißensee „Was kann die Kirche für den Frieden tun?“ vom April 1950 konnte noch als national motivierte Ablehnung einer deutschen Wiederbewaffnung gelesen werden86. So sorgte man sich vor einem drohenden Bruderkrieg zwischen deutschen Soldaten in Ost und West und bekannte sich daher zum Schutz von Kriegsdienstverweigerern aus Gewissensgründen. Im 82 83 84 85 86

Vgl. Manig, Politik, 244–246. Zitiert nach ebd., 246. Vgl. Lepp, Tabu, 58. Zitiert nach Hoppe, War denn wirklich alles falsch?, 12. Das Friedenswort der Synode ist abgedruckt in: Merzyn, Kundgebungen, 94–97.

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August 1950 glaubte der Rat in einer knappen Mehrheitsentscheidung, einer „Remilitarisierung Deutschlands“87 nicht das Wort reden zu können. Im November 1950 relativierte er seine Aussagen zur „Remilitarisierung“, erkannte den innerkirchlichen Pluralismus in politischen Urteilsfragen an und bat kirchliche Amtsträger um politische Zurückhaltung88. Dahinter stand der Wille, die ohnehin fragile kirchliche Gemeinschaft nicht weiter durch politische Kontroversen zu gefährden. Im Winter 1954/55 brach der Streit um die militärische Westintegration und ihre Auswirkungen auf die deutsche Frage innerhalb der evangelischen Kirche noch einmal aus. In dieser Phase verfestigten sich unter den Protestanten in der Regierungskoalition Bitterkeit und Empörung über die protestantischen Nationalneutralisten. Dazu trug auch die Beteiligung prominenter Protestanten an der außerparlamentarischen Paulskirchenbewegung bei, die dort aus ethisch-moralischen Gründen der Wiedervereinigung deutlich die Priorität gegenüber einer militärischen Westbindung einräumten. Innerkirchlich wurde man sich einig, der Haltung gegenüber dem EVG- und dem Deutschlandvertrag nicht die Bedeutung des status confessionis beizumessen89. Bleibendes Erbe der Debatten war das konstante kirchliche Eintreten für den Schutz der Kriegsdienstverweigerung und damit die Verstetigung dieses Traditionsbruchs in der protestantischen Kriegsethik. Bereits im April 1950 hatte die EKD-Synode erklärt: „Wer um des Gewissens willen den Kriegsdienst verweigert, soll der Fürsprache und der Fürbitte der Kirche gewiß sein.“90 In einem „Ratschlag des Rates der EKD zur gesetzlichen Regelung des Schutzes der Kriegsdienstverweigerer“ vom 16. Dezember 1955 legte dieser beiden deutschen Staaten nahe, die Wehrdienstverweigerung gesetzlich zu regeln und verschiedene Formen des Ersatzdienstes vorzusehen. Zugleich erklärte der Rat, dass das Gewissen nicht justiziabel sei91. Das Memorandum wurde beiden deutschen Regierungen übergeben. Auf Beschluss der EKDSynode machte der Ratsvorsitzende Otto Dibelius am 24. Mai 1956 schriftlich dem Volkskammerpräsidenten Johannes Dieckmann einen Vorschlag für eine gesetzliche Regelung des Schutzes der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen92. Dieckmann forderte daraufhin die EKD auf, sich gegen die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in der Bundesrepublik auszusprechen93. Deren Nichteinführung sei „mithin wie kein anderes Mittel geeignet, ein Wiedererstehen von Armeen im alten Sinne zu verhindern“94. 87 Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Wiederaufrüstung vom 27.8. 1950, abgedruckt in: Merzyn, Kundgebungen, 104 f. 88 Vgl. Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zu Fragen des öffentlichen Lebens, abgedruckt: in Merzyn, Kundgebungen, 106. 89 Vgl. Lepp, Tabu, 187. 90 Merzyn, Kundgebungen, 96. 91 Abgedruckt in: Merzyn, Kundgebungen, 208 f. 92 Vgl. KJ 83 (1956), 43 f. 93 Vgl. ebd., 45.

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In der Wehrdienstfrage aber war die EKD zutiefst zerstritten. Auf der außerordentlichen Synode 1956 wurde der Beschluss gefasst, eine Kommission zu beiden deutschen Regierungen zu entsenden, welche die Sorgen „von Synodalen“ hinsichtlich von Wehrpflicht in der Bundesrepublik und Rekrutierungsdruck in der DDR übermitteln sollte95. Diese Befürchtungen betrafen auch kirchliche Interessen. Gegenüber beiden Regierungen wurde adressatenspezifisch argumentiert. Am 3. Juli empfing Vizekanzler Franz Blücher zusammen mit drei weiteren Bundesministern die EKD-Delegation, bestehend aus Friedrich-Wilhelm Krummacher, Gottfried Noth, Günter Jacob, Walter Bauer und Klaus von Bismarck, in Bonn96. Der Greifswalder Bischof Krummacher verlas den Synodalbeschluss und erläuterte ihn. Die Kirchen befürchteten, dass in einem gewissen Automatismus der Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht in der Bundesrepublik eine solche in der DDR folgen würde. Dann wäre dort die gesamte männliche Jugend 18 Monate lang einer ideologischen Schulung ausgesetzt und damit rückte der Tag näher, so formulierte es der sächsische Landesbischof Noth, „an dem nichts mehr zu vereinigen sei.“ Er mahnte: Die „Gefahr der Ausblutung der Kirche des Ostens“ sei sehr viel größer, als dies in Westdeutschland wahrgenommen werde. Der Unternehmer Bauer, erklärtermaßen CDU-nahe, äußerte Bedenken hinsichtlich des Zeitpunktes der Einführung der Wehrpflicht: „In der Zone seien die Dinge im Fluss“. Die Minister verwiesen demgegenüber auf die internationalen Verpflichtungen der Bundesrepublik und auf die Sicherheitslage. Im Anschluss sprach die Delegation noch mit dem Bundestagspräsidenten, den Fraktionsvorsitzenden aller Parteien mit Ausnahme der FDP, Vertretern der einzelnen Fraktionen sowie mit dem Bundespräsidenten Theodor Heuss. Letzterer sagte zu, Adenauer die Bedenken der Synode zu übermitteln, was er auch tat. Der Besuch der Delegation in Ost-Berlin fand am 6. August bei Otto Nuschke statt, der den verreisten Ministerpräsidenten Otto Grotewohl vertrat97. Krummacher bat im Namen der Synode, dass kein Zwang zum Eintritt in die NVA und zur Teilnahme an einer vormilitärischen Ausbildung ausgeübt werden solle. Der Cottbuser Generalsuperintendent Günter Jacob verwies auf den seelsorgerlichen Auftrag der Kirche an ihren Gliedern in der NVA. Er klagte über die gesteigerte Kirchenaustrittspropaganda unter NVA-Angehörigen und über die Schwierigkeiten, die den Soldaten beim Besuch von Gottesdiensten und hinsichtlich des Besitzes von Bibeln und Gesangbüchern gemacht würden. Nuschke verwies auf die Festlegung der DDR-Regierung, 94 Ebd., 48. – Der Briefwechsel wurde von beiden Seiten veröffentlicht und weit verbreitet. 95 Berlin 1956, 231. 96 Vgl. Aktennotiz von Hermann Kunst vom 4.7. 1956 (EZA Berlin, 87/958). Dort auch alle Folgezitate. 97 Die Delegation war auf Krummacher, Jacob und Bismarck zusammengeschrumpft, da Noth und Bauer durch Auslandsreisen verhindert waren. Vgl. Aktenvermerk von Erich Grauheding vom 7.8. 1956 (EZA Berlin, 87/958).

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dass die Werbung für die Volksarmee sich ausschließlich auf der Grundlage der Freiwilligkeit vollziehen dürfe. Er sagte zu, die vorgebrachten Anliegen zu prüfen und den Ministerpräsidenten und den Ministerrat über die Unterredung mit der Delegation zu informieren. Ein gemeinsames Pressekommuniqu8 über das Gespräch kam indes nicht zustande. Nuschke wollte darin politische Akzente enthalten wissen, die für die Kirchenvertreter unannehmbar waren. Die Mission der gesamtkirchlichen Delegation bei den Regierungen beider deutscher Staaten blieb somit hier wie da wenig ertragreich. Ihr Erfolg lag eher in der Tatsache, dass sie überhaupt stattfand. Und sie dokumentiert das Selbstverständnis der Kirchen, dass das Militär für sie nach wie vor ein Handlungsfeld sei. Mit der Bundesregierung schloss die EKD im Februar 1957 einen Militärseelsorgevertrag ab. Gegen den Abschluss hatte es zuvor innerprotestantische Bedenken gegeben, da negative Folgen für die ostdeutschen Gliedkirchen befürchtet worden waren98. Dem Vertrag zufolge wurde der Seelsorgebereich zukünftig vom Staat finanziert und unterstand dem Kirchenamt für die Bundeswehr, das wiederum dem Verteidigungsministerium nachgeordnet war. Mit der Ratifizierung des Militärseelsorgevertrags, der eine enge Kooperation von Staat und Kirche dokumentierte und damit die Stellung der evangelischen Kirche im politischen System der Bundesrepublik stabilisierte, hatten sich die CDU-nahen Gruppen im Protestantismus durchgesetzt99. Eine deutliche Zweidrittelmehrheit der EKD-Synodalen hatte dem Vertrag zugestimmt, darunter auch nahezu alle Synodalen aus der DDR100. Letztere begründeten ihr Votum geistlich101: Die EKD sei keine Arbeitsgemeinschaft, sondern eine Kirche. Sie müsse als Gesamtkirche tätig werden, gleichgültig, ob es sich um Aufgaben und Schwierigkeiten in der Bundesrepublik oder in der DDR handele. Dass die DDR-Regierung der Synode einen ostdeutschen Tagungsort verweigert hatte und den für Juli in Thüringen geplanten Deutschen Evangelischen Kirchentag aufgrund unannehmbarer politischer Forderungen unmöglich zu machen schien102, spielte bei der Zustimmung der ostdeutschen Synodalen zum Militärseelsorgevertrag aber wohl ebenso eine Rolle wie die Tatsache, dass der DDR-Verteidigungsminister Willi Stoph, noch während die Synode tagte, es am 4. März ablehnte, mit der EKD ebenfalls in Verhandlungen über einen Militärseelsorgevertrag zu treten103. Die Bemühungen der EKD, eine Seelsorge bei der Volksarmee zu ermöglichen104, waren damit gescheitert. 98 99 100 101

Vgl. Cremers, Staat, 24. Vgl. Doering-Manteuffel, Religionspolitik, 272. Vgl. Tagebucheintrag von Otto Dibelius zum 3.–8.3. 1957 (BArch Koblenz, N 1439/4). Vgl. hierzu und zum Folgenden: Schreiben von Herrmann Kunst an Joachim Beckmann vom 1.1. 1963 (EZA Berlin, 87/997). 102 Vgl. Lepp, Tabu, 243. 103 Vgl. ebd. 104 Vgl. hierzu den Briefwechsel zwischen Gustav Heinemann und Hermann Kunst vom 15. und 18.2. 1956 (EZA Berlin, 742/399).

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Sie konnten aber angesichts der weltanschaulichen Grundlagen und Ziele des SED-Staates auch nicht zum Erfolg führen. Die SED hatte schon im Vorfeld gegen den Abschluss des Militärseelsorgevertrags polemisiert, ihn aber nicht zu verhindern versucht. Mit dem Vertrag hatte die Parteiführung einen willkommenen propagandistischen Vorwand gefunden, ihre auf die Spaltung der EKD zulaufende Kirchenpolitik voranzutreiben und als „Defensive“ zu tarnen. Die letzte der Kontroversen in den 1950er Jahren, die Atomdebatte von 1957 bis 1959, drehte sich um die Frage, ob die Kirche die Atomrüstung generell als ethisch nicht zu rechtfertigen ablehnen müsse105. Im April 1958 konstatierte die EKD-Synode in ihrer sogenannten Ohnmachtsformel, dass die theologischen und kirchenpolitischen Gegensätze bei dieser Thematik vorerst nicht zu überbrücken seien. Mit den „Heidelberger Thesen“ der Atomkommission der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft konnte dann 1959 ein friedensethischer Minimalkonsens erreicht werden, indem einander ausschließende Gewissensentscheidungen als „komplementäres Handeln“106 in eine konstruktive Spannung gebracht wurden. In einer gefährdeten Übergangszeit könne die atomare Abschreckung ausschließlich in ihrer kriegsverhütenden Funktion vorläufig toleriert werden, eine Anwendung dieser Waffen sei indes ethisch unter keinen Umständen zu rechtfertigen. Die Strategie der atomaren Abschreckung müsse so schnell wie möglich durch den Aufbau weniger gefährlicher Kriegsverhütungsstrategien und die Entwicklung nichtkriegerischer Formen des Konfliktaustrages im Rahmen einer Weltfriedensordnung überwunden werden. Das kritische Moment des „heute noch“ wurde in der Folgezeit aber zunehmend überlagert von der Vorstellung einer grundsätzlichen Gleichrangigkeit des Wehrdienstes und der Wehrdienstverweigerung im nuklearen Zeitalter, wie sie in der 1967 auf dem Hannoveraner Kirchentag geprägten statischen Formulierung vom „Friedensdienst mit und ohne Waffen“ ihren Ausdruck fand. Mit den Heidelberger Thesen überließ der westdeutsche Protestantismus in der Folgezeit die Entscheidung über den Wehrdienst gänzlich dem Einzelnen107, auch wenn dies zunehmend kritisiert wurde. Gleichzeitig wurde die kirchliche „Betreuung“ der Wehrdienstverweigerer und Ersatzdienstleistenden seit den 1960er Jahren allmählich ausgeweitet und institutionalisiert. Sowohl organisatorisch als auch finanziell hinkte sie indes der Militärseelsorge hinterher. Die Frage der Kriegsdienstverweigerung blieb in den 1960er Jahren ein politisch instrumentalisierbares Thema zwischen Ost und West, was jede kirchliche Stellungnahme schwierig gestaltete. So wurden die bundesrepublikanischen Kriegsdienstverweigerer von der DDR zu Verbündeten ihrer 105 Vgl. ausführlicher zum Folgenden: Lepp, Tabu, 269–277. 106 Mçller, Prozeß, 344. 107 Dies erfolgte „als Nebenfolge eines politischen Konflikts und unter Aufnahme eines naturwissenschaftlichen Theorieangebots und nicht etwa aus einer genuinen theologischen Erkenntnis heraus.“ (Meyer-Magister, Wehrdienst, 568 f.).

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Friedensbestrebungen erklärt, während ostdeutschen Kirchenvertretern, die für ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen eintraten, „Adenauerhörigkeit“ vorgeworfen wurde108. Nach dem Mauerbau formulierte die mehrheitlich systemnahe Berliner Theologische Fakultät eine „Erklärung über die staatsbürgerliche Verantwortung des Christen“, in der es hieß: „4. Die Fakultät erklärt, daß die DDR wie jeder Staat die Aufgabe hat, sich selbst zu verteidigen, und daß sie gerade gegenwärtig verpflichtet ist, mit ihrer eigenen Existenz zugleich den Frieden in Europa zu schützen. 5. Aus dieser Sicht heraus versteht sie auch den Dienst in den nationalen Streitkräften der DDR und ist der Meinung, daß Christen, die diesen guten Dienst ebenso verstehen, bei ihrer Beteiligung am Schutz unseres Staates ein gutes Gewissen haben können. […] 7. Die Theologische Fakultät tritt dafür ein, daß mit denjenigen, die sich aktiv mit ihrer ganzen Person für die Friedenspolitik der DDR einsetzen, lediglich aber für ihre Person Gewissensbedenken gegen die Anwendung von Waffengewalt zum Schutz des Friedens haben, freundschaftlich und geduldig über die Notwendigkeit einer bewaffneten Verteidigung des Friedens und der DDR sowie ihren Beitrag dazu gesprochen werden sollte.“109

Während hier klar der Wehrdienst favorisiert wurde, gaben die ostdeutschen Landeskirchen zur Frage der Wehrdienstverweigerung, die sich ihnen mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in der DDR im Jahr 1962 stellte, eine andere Antwort. In den programmatischen „Zehn Artikeln über Freiheit und Dienst der Kirche in der DDR“ von 1963 hieß es in Artikel V: „Die Kirche setzt sich für den gesetzlichen Schutz der Wehrdienstverweigerer aus Glaubens- und Gewissensgründen ein, wie sie auch für ihre Glieder, die Soldaten werden, den Auftrag zur Seelsorge behält.“110 Drei Jahre später erfolgte dann in der Handreichung „Zum Friedensdienst der Kirchen“ eine kirchliche Favorisierung der Wehrdienstverweigerung. Der Text war am 6. November 1965 den ostdeutschen Landeskirchenleitungen als Orientierungshilfe für die Seelsorge an Wehrpflichtigen in der Situation der DDR zugeleitet worden, nachdem zwei Wochen zuvor in Thüringen ein gemeinsames Manöver von Truppenverbänden aus Polen, der Tschechoslowakei, der Sowjetunion und der DDR – der sogenannte Oktobersturm – stattgefunden hatte. Ursprünglich nur für den innerkirchlichen Gebrauch bestimmt, führte die Handreichung zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Staat und Kirche in der DDR, bei der die Fassade von der „politischmoralischen Einheit des Volkes“ einzustürzen drohte111. Verfasst hatte den Text ein Arbeitskreis von ostdeutschen Theologen, der 108 Darüber wurde z. B. auf der Sitzung der gesamtdeutschen Kammer für öffentliche Verantwortung der EKD am 12.10. 1960 geklagt. Vgl. Entwurf der Niederschrift vom 22.10. 1960 (EZA Berlin, 2/1353). 109 Zitiert nach Besier, SED-Staat, 412. 110 Abdruck in: KJ 90 (1963), 181–185, hier 183. 111 Vgl. hierzu ausführlicher Lepp, Tabu, 533–535.

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auf Bitten der Konferenz der Kirchenleitungen in der DDR von dem Magdeburger Bischof Johannes Jänicke einberufen worden war, um innerkirchlich „noch offene Grundsatzfragen“112 im Zusammenhang mit dem Wehrdienst zu klären. Die westdeutschen Kirchen waren über das Vorhaben nicht informiert worden. Der Arbeitskreis unter Vorsitz von Pfarrer Heino Falcke entwickelte seine Überlegungen auf der Basis des Wortes der EKD-Synode von 1950 und dem darin angezeigten Paradigmenwechsel in der protestantischen Kriegsethik113. Er kam zu dem Ergebnis, dass die Besinnung auf den Friedensdienst der Kirche zu einer Angelegenheit aller evangelischen Christen in den ostdeutschen Gliedkirchen der EKD werden müsse. Die Kirche wurde aufgefordert, sich stärker mit der Entscheidung für Wehrdienstverweigerung zu verbinden, als sie dies bisher getan hatte. Sie sollte „nicht nur um der Gewissensfreiheit des Einzelnen willen für die Wehrdienstverweigerer eintreten, sondern deren Entscheidung als eine legitime christliche Gehorsamsentscheidung mit vertreten.“114 Im Text der Handreichung hieß es dann: „Es wird nicht gesagt werden können, daß das Friedenszeugnis der Kirche in allen drei der heute in der DDR gefällten Entscheidungen junger Christen in gleicher Deutlichkeit Gestalt genommen hat. Vielmehr geben die Verweigerer, die im Straflager für ihren Gehorsam mit persönlichem Freiheitsverlust leidend bezahlen, und auch die Bausoldaten, welche die Last nicht abreißender Gewissensfragen und Situationsentscheidungen übernehmen, ein deutlicheres Zeugnis des gegenwärtigen Friedensgebotes unseres Herrn. Aus ihrem Tun redet die Freiheit der Christen von den politischen Zwängen.“115

Mit der Bevorzugung der Wehrdienstverweigerung „als deutlicheres Zeugnis“ provozierten die ostdeutschen Kirchen nicht allein den SED-Staat, der den Dienst in der NVA als „Friedensdienst“ propagierte, sondern brachten sich auch in einen Gegensatz zu den westdeutschen Gliedkirchen der EKD. Deren Synodalen entschieden sich auf ihrer Arbeitstagung im November 1965 ohne Wissen über Existenz und Inhalt der ostdeutschen Handreichung dafür, Wehrdienstleistung und Wehrdienstverweigerung als gleichwertige Möglichkeiten christlicher Gewissensentscheidung einzustufen116. Sie erkannten die Wehrdienstverweigerung als vollgültige christliche Entscheidung an, räumten ihr aber gegenüber dem Wehrdienst nicht den Vorrang ein. Infolge dieses 112 Entwurf eines Schreibens von Manfred Stolpe an Johannes Jänicke, 4.1. 1965 (EZA Berlin, 102/11). 113 Vgl. Niederschrift über die Sitzung der Konferenz der Kirchenleitungen in der DDR am 1.7. 1965 (ebd.). 114 Die ethischen Fragen des Krieges. Referat vor dem Theologischen Ausschuss der Kammer für öffentliche Verantwortung der EKD, gehalten in Berlin am 7.7. 1966 von Dr. Heino Falcke (EZA Berlin, 2/1362). 115 Abgedruckt in: KJ 93 (1966), 249–261, hier 256. In der DDR wurde die Handreichung nicht veröffentlicht. 116 Arbeitstagung Frankfurt, 194 f.

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Widerspruchs beauftragten die westlichen und östlichen Ratsmitglieder im Oktober 1966 die Kammer für öffentliche Verantwortung, einen konsensualen Text zu erarbeiten117. In der Kammer beschäftigte sich bereits seit Juli 1966 ein theologischer Unterausschuss in gesamtdeutscher Runde mit Fragen der Kriegs- und Friedensethik. Zur Einführung in das Thema hatte Heino Falcke unter dem Titel „Die ethischen Fragen des Krieges“ eine theologische Interpretation der ostdeutschen Handreichung gegeben118. Auf ihrer Sitzung am 20. Oktober in Ostund West-Berlin119 kamen die Kammermitglieder dann zu dem Schluss, dass es angesichts des theologischen Diskussionsstandes in und zwischen Ost- und Westdeutschland weder politisch ratsam noch praktisch möglich sei, eine EKD-Handreichung zu erstellen. Denn nach Ansicht der ostdeutschen Kammermitglieder musste eine EKD-Handreichung auf jeden Fall „die theologische Identität mit der DDR-Handreichung“ wahren, was jedoch angesichts der tatsächlichen Diskussionslage nicht möglich war. Die Kammer empfahl dem Rat, das Ergebnis ihrer laufenden Arbeit zu „Kriegsverhütung und Friedenssicherung“ abzuwarten. Erst im Rahmen der noch zu leistenden Klärung von kriegsethischen Grundfragen könne ein fundierter Vorschlag für eine Handreichung für Wehrdienstpflichtige gemacht werden. Der Rat folgte dieser Empfehlung120 und stellte sich damit gegen den früheren Wunsch des Vorsitzenden der Konferenz der Kirchenleitungen, Bischof Krummacher, die schwierige Situation in der DDR, wie sie durch die Handreichung entstanden war, dadurch zu erleichtern, dass die EKD auch eine entsprechende Handreichung veröffentlichte. Allerdings hatten Ende des Jahres 1966 die öffentlichen Angriffe gegen die Kirchen in der DDR auch bereits ihren Höhepunkt überschritten. In der bis zur Gründung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR (BEK) noch gesamtdeutsch zusammengesetzten Kammer für öffentliche Verantwortung versuchte ein Unterausschuss121 dann in den Jahren bis 1969, im Rahmen von theologischen „Thesen zum Friedensdienst der Christen“ zu einer gemeinsamen Stellungnahme hinsichtlich des Wehrdienstes zu kommen122. Im westdeutschen Kammerteil geriet die Reflexion über die Thematik jedoch in den neuen Disput um den Wehrdienst in der Bundesrepublik. Der 117 Vgl. Niederschrift über die Ratsbegegnung (EZA Berlin, 104/43). 118 Der Text des Referates befindet sich im EZA Berlin, 2/1357. 119 Vgl. hierzu Aktenvermerk von Hans-Jürgen Behm über die Sitzung der Kammer für öffentliche Verantwortung vom 20.10. 1966 (EZA Berlin, 2/1357); Schreiben Erwin Wilkens an Ludwig Raiser vom 18.11. 1966 (ebd.); Schreiben Raisers an Kurt Scharf vom 21.11. 1966 (EZA Berlin, 2/1363). 120 Niederschrift über die Sitzung des Rates der EKD am 30. / 31.11. 1966 (EZA Berlin, 2/1377). 121 Ihm gehörten an: Werner Danielsmeyer, Heino Falcke, Hermann Klemm, Benjamin Locher, Heinz-Friedrich Pflugk, Eduard Putz, Walter Verwiebe, Gottfried Voigt (EZA Berlin, 2/1357). 122 Niederschrift über die Sitzung der Kammer der EKD für öffentliche Verantwortung 21.–23.11. 1968 in Berlin (EZA Berlin, 2/8543).

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Einmarsch von Truppen des Warschauer Paktes in Prag am 21. August 1968 sowie ein politischer „Mißbrauch“ des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen durch Anhänger der Studentenbewegung ließen einige CDU-nahe westdeutsche Kammermitglieder Auffassungen vertreten, mit denen die EKD „hinter Weißensee 1950 zurückgeworfen“ worden wäre123. Auch schwelte in der Bundesrepublik ein Konflikt um ein „im Einvernehmen“ zwischen dem Verteidigungsminister und den Militärbischöfen beider Kirchen von einer Kommission erstelltes Gutachten zur Wehrdienstverweigerung vom April 1969124. Um zwischen „echten Kriegsdienstverweigerern“ und „Simulanten“ zu unterscheiden, forderte das Gremium eine Verschärfung des Prüfungsverfahrens sowie eine Verlängerung der Dienstzeit der Ersatzdienstpflichtigen. Das Problem der Verweigerung während des Wehrdienstes glaubte man mit der Einführung von waffenlosen Diensteinheiten lösen zu können. Die Kritiker des Gutachtens verwiesen auf die Analogie zu den „Bausoldaten“ in der NVA125. Die Kammer für öffentliche Verantwortung gab im Mai 1969 die Konsenssuche auf und beschloss, die beiden letzten Thesen der Reihe mit den Überschriften „Seelsorge an Wehrpflichtigen“ und „Ausbau der Friedensdienste“ von den theologischen Thesen „Der Friedensdienst der Christen“ abzutrennen und in die alleinige Verantwortung der westlichen Kammermitglieder zu legen. Zugleich sollte aber die ostdeutsche „Handreichung zur Seelsorge an Wehrpflichtigen“ der Konferenz der Kirchenleitungen als Gegenstück in die geplante Gesamtpublikation aufgenommen werden, ebenso wie Texte von ostdeutschen Referenten126. Dafür sprach, dass die Verfasser der Handreichung an der Thesenreihe und durch Referate an der Publikation wesentlich mitgewirkt hatten. Während die ostdeutschen Ausschussmitglieder mit dem Abdruck der Handreichung einverstanden waren127, lehnten ihn die östlichen Ratsmitglieder ab. Artikel 4,4 der Bundesordnung zur „besonderen Gemeinschaft“128 sollte nicht gleich mit einem der „heißesten Eisen“ praktiziert werden129. Es sollten daher weder die Handreichung noch die Referate der ostdeutschen Theologen abgedruckt werden und auch nicht 123 So die Klage des Geschäftsführers der Kammer Erwin Wilkens gegenüber dem Vorsitzenden der Kammer Ludwig Raiser in einem Schreiben vom 7.1. 1969 (EZA Berlin, 2/8612). 124 Vgl. hierzu KJ 96 (1969), 83–85. Sehr kritisch zu dem Gutachten: Kubbig, Kirche, 78–84. 125 Vgl. KJ 96 (1969), 84. 126 Niederschrift über die Sitzung der Kammer für öffentliche Verantwortung am 9./10.5. 1969 in Bonn (EZA Berlin, 2/8545). 127 Vgl. Vermerk über die Sitzung der Kammer für öffentliche Verantwortung am 8.5. 1969 in OstBerlin (ebd.). 128 Artikel 4,4 enthielt die Aussage, dass die Gemeinschaft der evangelischen Christenheit in Deutschland schon vor ihrer Institutionalisierung in der EKD bestanden hätte und auch nach der Bundesgründung weiter bestünde. Die Gemeinschaft sollte zukünftig aber nicht mehr in der EKD „sichtbar“ werden, sondern als „besondere Gemeinschaft“ in der verbindlichen, aber freien Kooperation zweier selbstständiger Partner praktiziert werden. Vgl. Lepp, Tabu, 927. 129 So Friedrich-Wilhelm Krummacher im Bericht von Olaf Lingner über die Sitzung (EZA Berlin, 650/38).

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erwähnt werden, dass es sich bei den Thesen um eine Gemeinschaftsarbeit von Ost und West handelte130. Daraufhin wurden Anfang Dezember 1969 zunächst die Thesen veröffentlicht131. Sie vermieden bei der theologisch-ethischen Beurteilung des Wehrdienstes bzw. des Wehrersatzdienstes, die als zwei Formen des Friedensdienstes verstanden wurden, jede Akzentverschiebung zugunsten der einen oder anderen Seite. Gleichzeitig empfahlen sie aber den Fortfall des besonderen Prüfungsverfahrens für Verweigerer. Die Kirche sollte Staat und Öffentlichkeit für zusätzliche Investitionen auf dem Gebiet der zivilen Friedensdienste, Entwicklungsdienste und privaten Friedensdienste, die für internationale Verständigung und Solidarität arbeiteten, gewinnen. Im Jahr 1970 erschien dann der Sammelband einschließlich der Texte der ostdeutschen Referenten, namentlich nur der von Heino Falcke, aber ohne die „Handreichung zur Seelsorge an Wehrpflichtigen“132. Auf den gesamtdeutschen Entstehungskontext der Thesen wurde nicht verwiesen. In der Außenperspektive gab es die intern schwierige friedensethische Diskussionsgemeinschaft nicht mehr. Das galt auch hinsichtlich eines neuen Kammerthemas. Im Kontext einer sich in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre entwickelnden gesellschaftskritischen Friedenspädagogik reflektierte die Kammer für öffentliche Verantwortung seit Ende 1968 über „innergesellschaftliche Friedensaspekte“ als neues Arbeitsgebiet. Die west- und ostdeutschen Kammermitglieder hatten sich gemeinsam für das Sujet „Erziehung zum Frieden“ ausgesprochen, da ihnen dieses für eine Mitarbeit der DDR-Mitglieder „am sinnvollsten“ erschien133. Hierzu sollten in den Ostteil der Kammer Pädagogen und Psychologen aufgenommen werden134. Die Gründung des Kirchenbundes bedeutete dann aber das Ende der gesamtdeutschen Kammerarbeit. Die westdeutschen Kammermitglieder planten sodann eine Studie über die Frage der politischen Entspannung als pädagogische Aufgabe135. Sollte dies zunächst am Beispiel der Deutschlandpolitik erfolgen136, so publizierte man 1973 stattdessen eine Studie mit der Entwicklungspolitik als Exempel137. Der Nord-Süd-Konflikt rangierte in der Aufmerksamkeitsökonomie nun vor dem Ost-West-Konflikt. Auch differierten die gesellschaftlichen Kontexte für Friedenserziehung in den 1970er Jahren zwischen Ost- und Westdeutschland noch stärker, entwickelte 130 131 132 133 134 135 136 137

Vgl. auch Vermerk von Lingner vom 10.10. 1969 (EZA Berlin, 2/8545). Abgedruckt in: KJ 96 (1969), 70–83. Vgl. Danielsmeyer, Friedensdienst. Aktenvermerk von Hans-Jürgen Behm betr. Sitzung der Kammer für öffentliche Verantwortung vom 21.11. 1968 (EZA Berlin, 104/127). Vgl. Niederschrift über die Sitzung der Kammer der EKD für öffentliche Verantwortung vom 21. bis 23.11. 1968 in Berlin (EZA Berlin, 2/8543). Vgl. Auszug aus dem Protokoll der Ratssitzung vom 27./28.11. 1969 (EZA Berlin, 2/8612). Vgl. Kurze Niederschrift über die Sitzung der Kammer der EKD für öffentliche Verantwortung am 12./13.6. 1970 in Bonn (EZA Berlin, 2/8546). Vgl. Bosse / Hamburger, Friedenspädagogik.

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sich doch die DDR zu einer „der am stärksten militarisierten Gesellschaften der Welt“138. Doch damit ist der in diesem Beitrag zu behandelnde Zeitraum bereits überschritten.

Quellen- und Literaturverzeichnis I. Unveröffentlichte Quellen Bundesarchiv – Hauptdienststelle, Koblenz (BArch Koblenz) Bestand N 1439: Nachlass Otto Dibelius, 4.

Evangelisches Zentralarchiv, Berlin (EZA Berlin) Bestand 2: Kirchenkanzlei der EKD, 1353, 1357, 1362, 1363, 1377, 8543, 8545, 8546, 8612. Bestand 87: Bevollmächtigter des Rates der EKD am Sitz der Bundesrepublik Deutschland, 958, 997. Bestand 102: Geschäftsstelle der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der DDR, 11. Bestand 104: Kirchenkanzlei der EKD für die Gliedkirchen in der DDR, 43, 127. Bestand 650: Nachlass Erwin Wilkens, 38. Bestand 742: Nachlass Hermann Kunst, 399.

II. Veröffentlichte Quellen und Darstellungen Arbeitstagung Frankfurt 1965. Bericht über die Arbeitstagung der dritten Synode der EKD vom 8. bis 10. November 1965 in Frankfurt a. M. Hg. i. A. der Synode von der Kirchenkanzlei der EKD. Hannover 1968. Berlin 1956. Bericht über die außerordentliche Tagung der zweiten Synode der EKD vom 27. bis 29. Juni 1956. Hg. i. A. des Rates von der Kirchenkanzlei der EKD. Hannover 1956. Bernhard, Patrick: Zivildienst zwischen Reform und Revolte. Eine bundesdeutsche Institution im gesellschaftlichen Wandel 1961–1982 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 64). München 2005. Besier, Gerhard: Der SED-Staat und die Kirche. Bd. 1: Der Weg in die Anpassung. München 1993. Bosse, Hans / Hamburger, Franz: Friedenspädagogik und Dritte Welt: Voraussetzungen einer Didaktik des Konflikts. Stuttgart u. a. 1973. 138 Brçckermann, Militarisierung, 7.

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Die evangelische Kirche in der DDR und die Militarisierung der Jugend: Das Zeugnis des Friedens angesichts der Erziehung zum Hass 1. Militarisierung und Diskriminierung „Sehr geehrter Herr Direktor! Unsere Tochter S. hat am vergangenen Sonnabend ihre Klassenleiterin davon in Kenntnis gesetzt, daß sie an dem Unterrichtsfach ,Wehrerziehung‘ aus Gewissensgründen nicht mehr teilnehmen wird, da es sich dabei um eine rein militärische Ausbildung handelt und sie während des Unterrichts keine Möglichkeit sieht, ihre Einstellung dazu von ihrer christlichen Überzeugung her zum Ausdruck zu bringen.“1

Das schreibt ein Vater – Beruf: Pfarrer – im März 1979 an die Schulleitung der EOS „Thomas Müntzer“ in Halle. Der Vater bietet auf, was er kann: Das Engagement seiner Tochter in der Schule, die Zusage des Staates an die Kirche, es werde keine Diskriminierung bei Nichtteilnahme am Wehrunterricht gegeben, das Angebot eines persönlichen Gesprächs. Die Schülerin wurde zwar nicht der Schule verwiesen, aber man war ja auch nicht mehr in den 1950er und 1960er Jahren. Was aber geschah, waren die üblichen Erpressungen und Nötigungen in der verbleibenden Schulzeit, also „Aussprachen“, und was letztendlich geschah, war die Nichtzulassung zum Medizinstudium. Die junge Frau wurde Krankenschwester, und – glücklicher, aber seltener Ausgang – im Herbst 1989 begann sie, Medizin zu studieren2. Das eben ist Diskriminierung: Sie besteht nicht nur in gewalttätigen Übergriffen, sondern auch in einer großen Bandbreite von Repressionen und Benachteiligungen. Besonders perfide ist das, was man jungen Menschen antun kann, indem man sie ausgrenzt, in Konflikte mit dem Elternhaus bringt, ihre Überzeugungen lächerlich macht und ihren Bildungsweg stört oder gar zerstört. Wer sich gegen die Militarisierung und dabei speziell gegen die Erziehung zum Hass wehrte, riskierte eben genau das. Folglich ist das Thema Militarisierung ein generationenspezifisches, denn nicht nur die Armee, sondern auch das Bildungswesen waren in der DDR eine Bühne für die Erziehung zum Hass gegen „Feinde“ im Inneren wie im Äußeren. „Die evangelische Kirche in der DDR und die Militarisierung der Jugend: Das Zeugnis des Friedens angesichts der Erziehung zum Hass“. Diese The1 Ahrberg, Mit gestutzten Flügeln, 72 f. 2 Vgl. ebd., 73–75.

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menformulierung schließt zwei Unterthemen ein: zum einen die Haltung der evangelischen Kirche in der DDR zur Militarisierung der Gesellschaft und insbesondere der Jugend, zum anderen den Versuch im Raum der Kirche, dem Freund-Feind-Denken, also der Erziehung zum Hass, friedenspädagogisch etwas entgegenzusetzen. Anders gesagt: Bei dem ersten Themenfeld geht es um den eher verzweifelten Versuch der Kirche, Jugendliche vor der staatlichen Beeinflussung und Diskriminierung in Schutz zu nehmen, bei dem zweiten Themenfeld geht es darum, Haltungen einzuüben, die dem Wesen des Christentums gerecht werden. Nicht einfach ist es nun, summarisch von „der Kirche“ zu reden. Gefragt waren auf dem ersten Themenfeld, also der generellen Auseinandersetzung mit der Militarisierung, zuerst die Kirchenleitungen der einzelnen Landeskirchen und der Bund Evangelischer Kirchen in der DDR als Dachorganisation seit den 1970er Jahren. Auf dem zweiten Themenfeld, der Friedenspädagogik, gab es zwar eine gewisse Rückendeckung durch die Kirchenleitungen, aber aktiv waren hier vor allem Initiativen von unten, aus Kirchengemeinden oder Gruppen, die eher am Rande der Kirche standen. Daraus ergaben sich Konflikte zwischen Kirchenleitungen oder kirchenleitenden Personen und Friedensinitiativen unter dem Dach der Kirche. Das Bild vom Dach allerdings müsste das eines löchrigen Daches sein, was auch daran lag, dass diejenigen, die unter diesem Dach Zuflucht suchten, unterschiedliche Motivationen hatten, die von einer bewusst christlich-pazifistischen Haltung zu einer Positionierung reichten, in der die Friedensthematik ein Element einer umfassenderen oppositionellen Haltung war. Ein Beispiel dafür sind die Vorgänge in Jena.

2. Die Haltung der evangelischen Kirche zur Militarisierung Die Haltung der evangelischen Kirche in der DDR zum Thema Militarisierung ist nicht verständlich, wenn man nicht die Debatten in den 1950er Jahren bedenkt, die letztlich darauf hinausliefen, dass der Konflikt um die Frage des Wehrdienstes in das Gewissen des Einzelnen verlegt wurde. So hieß es 1950 in dem Text der EKD-Synode in Berlin-Weißensee zum Thema „Was kann die Kirche für den Frieden tun?“: „Wir legen es jedem auf das Gewissen, zu prüfen, ob er im Falle eines solchen Krieges eine Waffe in die Hand nehmen darf.“ Dazu gehörte der Appell an „die Regierungen und Vertretungen unseres Volkes“, also an die Verantwortlichen in beiden deutschen Staaten: „Wir begrüßen es dankbar und voller Hoffnung, daß Regierungen durch ihre Verfassung denjenigen schützen, der um seines Gewissens willen den Kriegsdienst verweigert.“3 Damit konnte freilich nur die Regierung der Bundesrepublik Deutschland gemeint sein. Diese Äußerungen 3 Der Text der Synode von Berlin Weissensee, Was kann die Kirche für den Frieden tun?, ist abgedruckt in: KJ 77 (1950), 7–9, hier 9.

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wurden in einer Zeit formuliert, in der viele angesichts des beginnenden KoreaKrieges meinten, der Dritte Weltkrieg stehe bevor. Auf dieser Linie blieb ebenso der fünfte der von den evangelischen Landeskirchen in der DDR vertretenen „Zehn Artikeln über Freiheit und Dienst der Kirche in der DDR“ von 1963: „Die Kirche setzt sich für den gesetzlichen Schutz der Wehrdienstverweigerer aus Glaubens- und Gewissensgründen ein, wie sie auch für ihre Glieder, die Soldaten werden, den Auftrag zur Seelsorge behält.“4 Nicht nur diese Formulierung stieß auf heftige Kritik von staatlicher Seite und es war Bischof Mitzenheim, der die innerkirchliche Bedeutung der Thesen herunterspielte, nicht ohne seine eigene Kritik daran in der „Neuen Zeit“ öffentlich zu machen5. Das Beharren auf einem seelsorgerlichen Auftrag an Soldaten war aus kirchlicher Sicht die Konsequenz aus der Fokussierung auf das Gewissen, auch und gerade weil der Militärseelsorgevertrag von 1957 nicht gesamtdeutsch wirksam werden konnte. Die Propaganda der SED-Diktatur gegen den Militärseelsorgevertrag und die „NATO-Kirche“ wirkte dann so abschreckend, dass der Vertrag nach der Wiedervereinigung neben der Kirchensteuer und dem Religionsunterricht zu den großen innerkirchlichen Konfliktfeldern gehörte. Die ostdeutschen Landeskirchen, ohnehin noch von der antikirchlichen Politik der 1950er Jahre strapaziert und zunehmend von der vom Staat betriebenen Teilung der immer noch gesamtdeutschen EKD betroffen, hielten sich in den 1960er Jahren mit Äußerungen zum Thema Frieden zurück. Um so mehr ragt die „Handreichung für Seelsorge an Wehrpflichtigen“ mit dem Titel „Zum Friedensdienst der Kirche“ heraus, die 1965 von einem Arbeitskreis verfasst und von den Kirchenleitungen gebilligt wurde – allerdings mit einer Ausnahme, der der Thüringischen Landeskirche nämlich. Oberkirchenrat Lotz unterband ihre Verbreitung und stellte sie den Superintendenten mit einer ablehnenden Stellungnahme zu6. Die staatlichen Reaktionen waren – durchaus vorhersehbar – ablehnend, und ihr Ziel war es, dass die Handreichung aus dem Verkehr gezogen würde7. Eine Wirkung hatte der Text faktisch nicht: Das MfS konnte keinen Anstieg der Zahl der Wehrdienstverweigerer feststellen. Auf Gemeindeebene wurde die Handreichung nicht zur Kenntnis genommen8. In dieser Handreichung findet sich das Stichwort „Hass“. Die Handreichung beharrte darauf, dass die Kirche die Aufgabe habe, den Wehrpflichtigen bei ihrer Gewissensentscheidung beizustehen, wobei diese ebenfalls bein4 5 6 7 8

Zehn Artikel, 183. Vgl. Mitzenheim, Krieg, 187. Vgl. Eisenfeld / Schicketanz, Bausoldaten, 91–93. Vgl. ebd., 96–98. Vgl. ebd., 100 f.

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halten konnte, dass der Wehrdienst bewusst geleistet wurde. Es galt aber der Vorbehalt, dass sich der Wehrpflichtige darüber klar sein müsse, „daß er als Christ in der Nationalen Volksarmee angesichts der zur Zeit üblichen Erziehung zum Haß in Situationen kommen kann, in denen er ein offenes Bekenntnis ablegen muß“9. In dieser Handreichung findet sich auch eine Formel, die noch nach 1989 eine Rolle spielte, nämlich die vom „deutlicheren Zeugnis“ für das christliche Friedensgebot, das die Totalverweigerer und die Bausoldaten leisteten10. In einer einseitigen und überdies von dem ehemaligen Bischof der Kirchenprovinz Sachsen, Axel Noack, kritisierten Sichtweise wurde daraus eine Haltung, die letztlich dem ostdeutschen Protestantismus zuschrieb, er habe generell die Wehrdienstverweigerung zum besseren und die Ableistung des Wehrdienstes zum schlechteren Zeugnis erklärt11. Die Verbreitung der Handreichung von 1965 erfolgte in den Landeskirchen sehr unterschiedlich und sie geriet in Vergessenheit, bis sie in den friedensethischen Kontroversen zu Beginn der 1980er Jahre wieder aktuell wurde12. Dies macht ein „Leitfaden zur seelsorgerlichen Beratung in Fragen des Wehrdienstes und der Wehrerziehung“ von 1982 deutlich13. Der Staat freilich wollte weder 1965 noch 1982 etwas von der kirchlichen Haltung in dieser Frage wissen. Repressionen ereigneten sich zur gleichen Zeit, in den 1960er Jahren, und sie richteten sich vor allem gegen solche junge Männer, die den Bausoldatendienst als halbe Alternative zum Wehrdienst wählten. Vereinzelt befassten sich auch kirchliche Gremien auf unterer Ebene wie eine Kreissynode oder ein Pfarrkonvent damit14. Betroffen von Repressionen waren in den 1960er Jahren vor allem Schüler, die aus pazifistischer Motivation gegen die Wehrpflicht protestierten, und betroffen waren zu dieser Zeit jene Lehrkräfte, die nicht vollends gleichgeschaltet waren, sondern den jugendlichen Protest nicht weitermeldeten oder ihn sogar teilten15. Seinerzeit waren es vor allem die Bausoldaten, die kritisches Denken anstoßen wollten, z. B. im Blick auf die Militarisierung der Kinderzimmer durch Kriegsspielzeug. Aber auch in kirchlichen Kindergärten, in der Kinderarbeit, in der Christenlehre und im Konfirmandenunterricht gab es entsprechende Initiativen schon am Ende der 1960er Jahre16. Die Wehrpflichtigen und dann auch die Bausoldaten – also junge Männer – waren seit den 1960er Jahren nicht mehr die einzigen, die kirchliche Positionierungen zum Thema Militär und Militarisierung herausforderten. Zu9 10 11 12 13 14 15 16

Abgedruckt in: Christoph, Kundgebungen, 215. Vgl. ebd., 211. Vgl. Noack, Leibsorge, 629 f. Vgl. Eisenfeld / Schicketanz, Bausoldaten, 93 und 104. Abgedruckt in: Falkenau, Kundgebung, 55–67. Vgl. Eisenfeld / Eisenfeld, Militarisierung, 702; Sachse, Jugend, 225. Vgl. Sachse, Jugend, 232–238. Vgl. ebd., 226–229.

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nehmend waren alle Kinder und Jugendlichen betroffen, denn das Militär und das Militärische wurden zu einem unausweichlichen Bestandteil des Lebensweges durch Kindergarten, Schule, Universität und Lehrlingsausbildung hindurch. Sport und Technik im Sinne der Gesellschaft für Sport und Technik (GST) waren Wehrsport und Wehrtechnik, die „Zivilverteidigung“ erfasste Mädchen und Frauen. Diese Entwicklung hatte schon unmittelbar nach der Gründung der DDR begonnen, und sie hatte sich schnell beschleunigt. Seit 1970 waren Lehrlinge gezwungen, an der vormilitärischen Ausbildung teilzunehmen. Angehenden Studenten wurde noch einmal eingeschärft, dass die Zulassung zum Studium vom Wehrdienst abhing. 1972 wurde das Gleiche für die Studenten an Ingenieur- und Fachschulen verfügt17. Damit war der Erwerb weiterführender Bildungsqualifikationen eng mit dem Militärdienst verknüpft, und außerdem waren Studenten unter ständigem Druck, die Reserveoffiziersausbildung zu absolvieren. Hier wiederholte sich eine Militarisierung des Studiums, die es schon in der nationalsozialistischen Diktatur gegeben hatte. Bei aller Beschwörung der Bedrohung durch einen äußeren Feind bestand das eigentliche Ziel nicht in der Landesverteidigung, sondern in der Konformisierung und Entindividualisierung der Kinder und Jugendlichen. Das sollte dadurch erreicht werden, dass Feindbilder eingeschärft wurden, die keinesfalls nur nach außen gerichtet waren, sondern eine permanente Spannung erzeugten, die sich gegen Abweichler im Inneren richtete. Und solche Abweichler, häufig Kinder aus christlichen Familien, saßen dann eben auch im Klassenzimmer oder in der FDJ-Gruppe. Wer sich hier entziehen wollte oder gar widersprach, wurde ausgegrenzt, gemaßregelt und diskriminiert – dazu konnte sich mehr als ein Anlass im Leben bieten. Sich zu entziehen und zu widersprechen konnte aber nach der Logik der SED-Diktatur unmöglich das Ergebnis eines individuellen Denk- und Entscheidungsprozesses sein, sondern musste als Folge einer Fremdbeeinflussung „erkannt“ werden, die vom „Klassenfeind“ ausging, oder als Folge einer verachtenswerten Dummheit, die die Segnungen der SED-Diktatur nicht zu erkennen vermochte. Die Lage spitzte sich noch einmal erheblich zu durch die Einführung des Wehrunterrichts als Schulfach in der 9. und 10. Klasse für Jungen und Mädchen, hinzu kamen ein zwölftägiges Wehrlager für die Jungen und ein gleich langes Zivilverteidigungslager für die Mädchen in der 9. Klasse – wer nicht am Wehrlager teilnehmen wollte, durfte immerhin bei den Mädchen mitmachen18. Natürlich wurde nicht erst dadurch die Schule ein Ort der Militarisierung, denn diese gab es schon in den 1950er Jahren und das in allen Fächern, nicht nur in der Staatsbürgerkunde. Das neue Fach zwang kritische Schülerinnen und Schüler dazu, sich entweder dagegen zu positionieren oder sich ein weiteres Mal in die Anpassung zu flüchten. Den Kontext des neuen 17 Vgl. Hanisch, Militarisierung, 159 f. 18 Vgl. Eisenfeld / Eisenfeld, Militarisierung, 679.

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Schulfachs beschrieb das neue Verteidigungsgesetz vom Oktober 1978: Hier hieß es, die „Verteidigungsbereitschaft“ müsse „auf allen Gebieten des staatlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens gewährleistet“ sein (§ 1 Abs. 2 S. 2). Die evangelische Kirche war die einzige Organisation, die neben nichtorganisierten jugendlichen Bezugsgruppen und außerhalb des Elternhauses Kindern und Jugendlichen Rückhalt geben und versuchen konnte, Diskriminierungen zu verhindern oder abzumildern. Umso perfider war der Zeitpunkt der Einführung des neuen Schulfachs unmittelbar nach dem „Spitzengespräch“ zwischen der Staatsführung und der Leitung des Bundes Evangelischer Kirchen in der DDR im März 1978. Die Kirchenleitungen sahen sich genötigt, in einer „Orientierungshilfe“ und in einem Brief an die Gemeinden Stellung zu beziehen. Dieser an alle Pfarrämter gerichtete Brief aus dem November 1978 gab ein Gespräch mit dem Staatssekretär für Kirchenfragen, Hans Seigewasser, wieder. Bei dieser Gelegenheit hatte Seigewasser zugesichert, es werde keine Ordnungsstrafverfahren gegen Eltern geben, die ihre Kinder nicht am Wehrunterricht teilnehmen ließen, und es werde keine Diskriminierung von Schülern wegen Nichtteilnahme oder kritischer Teilnahme geben19. Letztlich war dies einer der geläufigen staatlichen Täuschungsversuche, wie das eingangs genannte Beispiel deutlich macht. Kirchliche Proteste gegen den Wehrunterricht gaben auch denen eine Stimme, die ihren Protest nicht öffentlich machen wollten – die Ablehnung in der Bevölkerung ging über die Kirchen bzw. ihre Mitglieder hinaus20. Die katholische Kirche war als Diasporakirche in einer anderen Situation, und sie hatte sich seit dem Mauerbau zunehmend auf sich selbst zurückgezogen. Gegen die Einführung des Wehrkundeunterrichts protestierte die Berliner Bischofskonferenz 1978 nicht kirchenöffentlich, sondern mit einem Schreiben, das Staatssekretär Seigewasser überreicht wurde. Immerhin finden sich in den 1980er Jahren dann ebenfalls in der katholischen Kirche deutliche Worte zum Thema. Dafür steht ein Hirtenwort aus dem Jahre 1983, das etliche Geburtswehen hinter sich hatte und erstmals eine öffentliche Äußerung darstellte.

3. Erziehung zum Frieden Die Friedenspädagogik stellte das zweite Themenfeld kirchlicher Aktivitäten dar, wobei eher von Aktivitäten innerhalb der Kirche zu reden wäre. Die Orientierungshilfe der Kirchenleitungen zur Einführung des Wehrunterrichts enthielt die Warnung: „Die frühzeitige Anerziehung militärischer Denkweise, Einstellungen und Verhaltensnormen im Schulunterricht kann dazu führen, 19 Vgl. Ahrberg, Flügel, 82–84. 20 Vgl. Hanisch, Militarisierung, 162.

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daß die Chancen friedlicher Konfliktbeilegung in späteren Jahren gar nicht mehr wahrgenommen werden.“ Daraus aber folgte als konkrete Aufgabe u. a.: „Jeder Romantisierung des militärischen Lebens und der Verharmlosung der unvorstellbaren Folgen des Krieges ist zu wehren. Das hat Konsequenzen z. B. für die Auswahl des Spielzeugs und der Lektüre, die Erwachsene kaufen oder verschenken.“21 Das von einer Arbeitsgruppe erstellte und 1980 vom Bund Evangelischer Kirchen in der DDR zustimmend zur Kenntnis genommene „Rahmenkonzept Erziehung zum Frieden“22 machte eingangs die gesellschaftspolitische Problemlage deutlich: Es standen eben mehrere Konzeptionen nebeneinander, in Staat und Kirche, aber auch innerhalb der Kirche, was ausdrücklich vermerkt wurde. Schule, Familie und Kirche befanden sich in einem Spannungsverhältnis, und nur christliche Eltern und Kirchengemeinden konnten auf das Thema überhaupt angesprochen werden – wobei sich hier die Frage stellt, ob die Reichweite nicht doch über die entschiedenen Christen hinausging. Ein eigener Abschnitt des Rahmenkonzepts thematisierte die „Vorbehalte und Barrieren“, die es innerhalb der Kirche auch gab und das nicht zuletzt wegen der Distanz zwischen den Kirchenleitungen und ihren Verlautbarungen und den Initiativen „von unten“, wobei in Klammern nur Gemeinden aufgeführt wurden, aber keine anderen Initiativen unter oder neben dem Dach der Kirche.

4. Spannungsfeld Kirche Letztlich gingen beide Felder ineinander über. Die Friedensdekaden der 1980er Jahre waren gegen eine Militarisierung nach außen wie nach innen gerichtet, gegen das, was auch in einer gesamtdeutschen Perspektive „Erziehung zum Hass. Geistige Militarisierung in der DDR“ hieß – so lautete nämlich der Titel eines 1987 in der Bundesrepublik erschienenen Buches. Die Friedensdekaden und die Friedenswerkstätten, überdies der Konflikt um den Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“ und dann auch das Thema Sozialer Friedensdienst zeigen, dass von „der Kirche“ als Akteurin nur schwer zu reden ist und dass diejenigen, die sich für nicht staatskonforme Friedensvorstellungen engagierten, nicht einfach als Christen zu vereinnahmen sind und waren. Die Kirche konnte denen, die Widerspruch und Opposition wagten, eine Stimme geben und ihnen ein Dach bieten, sie tat das aber nicht in verlässlicher Weise und sie verweigerte manchen dieses Dach. Anschauungsmaterial bieten dafür nicht zuletzt die Konflikte in Berlin in den 1980er Jahren um das Abhalten von Friedenswerkstätten. In der Kirche gab es Mutige und 21 Die „Orientierungshilfe der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen“ ist abgedruckt in: Falkenau, Kundgebungen, 246–251. 22 Rahmenkonzept Erziehung zum Frieden, abgedruckt in: KJ 107 (1980), 380–387.

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Verzagte und ebenso wenige, die im staatlichen Auftrag verhinderten, was sie verhindern sollten, indem Friedensgruppen Kirchen und Gemeindehäuser verschlossen blieben. Hinzu kam ein verdeckter generationeller Konflikt zwischen jugendlichem Protest, der weit über die Friedensfrage hinausging, und der kirchenamtlichen Sorge um den Verlust des eigenen Spielraums in der Diktatur. Erschwert wurden kirchliche Stellungnahmen durch jene wenigen, die systemloyal versuchten, das Thema für sich und also für die SED-Diktatur zu vereinnahmen. Eine tragende Rolle kam hier der Christlichen Friedenskonferenz zu, der CFK also, und in besonderer Weise Carl Ordnung in seiner Funktion als Regionalsekretär der CFK in der DDR. Ordnungs Stellung zum Staat war aufgrund dieser und anderer Funktionen klar erkennbar, ohne dass man wusste, dass er IM war. Er wurde dafür innerkirchlich kritisiert, und er war im Übrigen als Methodist nicht in landeskirchlichen Strukturen verankert. Dennoch hatte er die Rolle eines staatlich gestützten Störenfrieds in der Debatte um die rechte Haltung zum Thema Frieden und Militarisierung. Als Ordnung 1974 angesichts des Vietnamkriegs schrieb: „Christliches Engagement für den Frieden bedeutet Kampf: Kampf mit den Feinden des Friedens“23, klang das Grundmotiv der 1980er Jahre schon an. Dass Ordnung als scheinbar wichtige kirchliche Stimme wahrgenommen wurde, zeigt beispielhaft die Veröffentlichung seiner Thesen zur Friedenserziehung in einem Heft zum Thema „Erziehung zum Frieden“. Dieses wurde 1981 vom Landesjugendring Niedersachsen herausgegeben, zusammen mit einer Stellungnahme der Konferenz der evangelischen Kirchenleitungen in der DDR und anderen Texten24. In seinem Buch „Erziehung zum Frieden“, erschienen 1980, entfaltete Ordnung sein ideologisches Konzept, dessen wesentliche Stichwortgeber Margot und Erich Honecker sowie Gerald Götting waren25 – Ordnung war in der CDU aktiv. Mit einem Rückgriff auf Dorothee Sölle gelang Ordnung dann auch die Versöhnung des Hasses mit der Feindesliebe, indem er sehenden von blindem Hass unterschied und zu dem Ergebnis kam: „Der Haß auf den Imperialismus ist kein blinder und dumpfer, sondern ein bewußter und gezielter Haß.“26 In den 1980er Jahren konnten kirchliche Stellungnahmen und Initiativen, die unter oder neben dem Dach der Kirche angesiedelt waren, zunehmend auf mehr Verständnis hoffen: Die Wehrbereitschaft in der jüngeren Generation nahm ab, immer weniger Jugendliche und junge Erwachsene waren bereit, ihr Leben für die „sozialistischen Errungenschaften“, faktisch also den Erhalt der SED-Diktatur, zu opfern. Das Leipziger Zentralinstitut für Jugendforschung

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Ordnung, Friedensdienst, 243. Vgl. Ordnung, Friedenserziehung, 24 f. Vgl. Ordnung, Erziehung, 92–94. Ebd., 151.

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wusste auch in dieser Sache mehr, als Partei und Staat glauben wollten27. Die Zuschriften, die zur Vorbereitung der Ökumenischen Versammlung bis zum Februar 1988 eingingen, zeigen, dass neben vielen anderen Kritikpunkten die Ablehnung der Militarisierung des Alltags vor allem von Kindern und Jugendlichen ein wichtiges Thema war28. Allerdings waren solche Distanzierungen keine Bewegung, wie überhaupt trotz aller Überzeichnungen durch das MfS die alternative Friedensbewegung, ob kirchennah oder nicht, eine Randerscheinung war. Die „Blume aus dem Stahlhelm“, blieb klein29.

5. Resümee Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene waren also dem Zugriff der SEDDiktatur massiv ausgesetzt, und die Militarisierung weiter Lebensbereiche, bis in das Denken und Mentalitäten hinein, verlangte ihnen auf diesem Gebiet Gehorsamsleistungen, Einverständniserklärungen und Selbstverleugnung ab. Wo diese verweigert wurde, war eine Diskriminierung fast unausweichlich. Die Rolle der evangelischen Kirche in der DDR war die einer kritischen Stimme auf der Ebene der Kirchenleitungen und einer Institution, die eine Erziehung zum Frieden ermöglichen wollte. Nicht unwichtig ist, dass die Diskriminierung innerhalb der Kirche wenigstens zur Sprache kommen konnte und so ebenfalls auf Synoden thematisiert wurde. Hier gab es also die vielzitierte „Gegenöffentlichkeit“. Aus der Sicht der Bürgerbewegungen könnte man wieder einmal fragen, ob das zu wenig war und ob es nicht mehr Entschlossenheit auf kirchlicher Seite hätte geben sollen. Dazu ließe sich sagen, dass kirchliche Verlautbarungen, die heute als staatsnah gelesen werden können, unter den Bedingungen einer Diktatur entstanden sind, in der die Kirchen einen Weg suchten, der sie als Organisationen bestehen ließ. Hier müsste man sagen, ob man das für gut oder schlecht hält. Sagen ließe sich überdies, dass die mangelnde Entschlossenheit eine Folge der mangelnden Geschlossenheit in der Kirche war. Vor allem aber fehlte es an einer Resonanz in der Öffentlichkeit, auch unter betroffenen Eltern. Die Kirchenleitung der Kirchenprovinz Sachsen sah es in ihrem Bericht an die Synode im November 1978 so: „Es wird sich zeigen müssen, ob die Einsprüche gegen die Wehrerziehung nur das momentane Aufwallen eines kritischen Bewußtseins war, das alsbald in ein resigniertes Laufenlassen der Dinge übergeht, oder ob sich unsere Gemeinden die Aufgabe der Friedenserziehung bewußt und nachdrücklich zu eigen machen.“30 27 28 29 30

Vgl. Tietze / Vogel, Friedenstauben, 261–264. Vgl. Kunter, Hoffnungen, 182. Vgl. Kluge, Blume. Schultze, Berichte, 382.

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Gesamtgesellschaftlich blieb es trotz aller Gruppen und Initiativen doch beim resignierten Laufenlassen, und die marginalisierten Kirchengemeinden waren letztlich zu schwach, um in die Gesellschaft hineinwirken zu können.

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Evangelische Kirche in der DDR und die Militarisierung der Jugend

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Ordnung, Carl: Christlicher Friedensdienst. In: Umschau ’74. Evangelische Christen in der DDR – Zwischenbilanz in 40 Streiflichtern. Berlin 1974, 239–243. –: Erziehung zum Frieden. Möglichkeiten und Grenzen einer pädagogisch-politischen Konzeption und ihre Diskussion in den Kirchen (Fakten / Argumente). Berlin 1980, 92–94. –: Zur Friedenserziehung (Thesen). In: Landesjugendring Niedersachsen (Hg.): Erziehung zum Frieden. Hannover 1981, 24 f. Rahmenkonzept Erziehung zum Frieden. In: KJ 107 (1980), 380–387. Sachse, Christian: Aktive Jugend – wohlerzogen und diszipliniert. Wehrerziehung in der DDR als Sozialisations- und Herrschaftsinstrument (1960–1973). Münster 2000. Schultze, Harald (Hg.): Berichte der Magdeburger Kirchenleitung zu den Tagungen der Provinzialsynode 1946–1989 (AKIZ A 10). Göttingen 2005. Synode von Berlin-Weissensee: Was kann die Kirche für den Frieden tun? In: KJ 77 (1950), 7–9. Tietze, Andreas / Vogel, Nicole: Von Friedenstauben und Pflugscharen. Einheit und Widerspruch offizieller und oppositioneller Friedenserziehung in der DDR. In: Till Kössler / Alexander J. Schwitanski (Hg.): Frieden lernen. Friedenspädagogik und Erziehung im 20. Jahrhundert (Frieden und Krieg. Beiträge zur Historischen Friedensforschung 20). Essen 2014, 251–272. Zehn Artikel eber Freiheit und Dienst der Kirche. In: KJ 90 (1963), 181–185.

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Wehrerzieherische Elemente im DDR-Unterricht der 1960er Jahre im Spiegel von Pädagogischen Lesungen dieser Zeit Vorliegende Forschungen zum Thema1 stellen pointiert heraus, dass wehrerzieherische Aspekte schon lange vor der offiziellen Einführung des Wehrunterrichts in der DDR zum Schuljahr 1978/79 die Bildungsbiografien junger Menschen geprägt haben. Man bemühte sich, entsprechenden Bestrebungen im außerschulischen Bereich, vor allem durch FDJ und Gesellschaft für Sport und Technik (GST) realisiert, eine Thematisierung im Unterricht zur Seite zu stellen2. Hierbei wurde auch die entscheidende Rolle von FDJ und GST bei der sich ab den 1960er Jahren vollziehenden sukzessiven Integration vormilitärischer Ausbildung in das schulische Leben herausgestellt3. Der Schwerpunkt lag auf der Schaffung außerunterrichtlicher sowie außerschulischer Angebote im Rahmen von Arbeits- und Interessengemeinschaften, der Organisation wehrsportlicher Ausbildung und Wettkämpfe und auf Freizeitangeboten zu militärtechnischen Aspekten, vor allem im Umgang mit Funktechnik und Kraftfahrzeugen. Erst Ende der 1960er Jahre ist von einer systematischen Erschließung des Schulunterrichts für die Wehrerziehung die Rede: Man etabliert die sogenannten Hans-Beimler-Wettkämpfe für Schülerinnen und Schüler der Klassenstufen acht bis zehn und andere wehrsportliche Veranstaltungen, die Disziplinen wie Sportschießen, aber auch Orientierungsmärsche und Geländespiele beinhalten. Nun wird auch die Teilnahme an der vormilitärischen Ausbildung verpflichtend, zunächst an den Erweiterten Oberschulen (EOS) und Berufsschulen. Diese wird zu dieser Zeit durch die GST (Jungen) bzw. das DRK (Mädchen) organisiert. Im Jahr 1973 vollzieht sich der nächste Schritt in Richtung systematische Wehrerziehung: Gemeinsam mit der Nationalen Volksarmee der DDR (NVA), der GST und FDJ organisiert man Arbeitsgemeinschaften für Wehrerziehung, die als Vorläufer des Wehrunterrichts gelten können4. Zum obligatorischen Unterrichtsfach an allen Polytechnischen Oberschulen (POS) und EOS der DDR wird der Wehrunterricht mit dem Jahr 1978. Die hier angestellten Untersuchungen gehen der Frage nach, ob es auch vor dieser systematischen Etablierung der Wehrerziehung ab Ende der 1960er 1 2 3 4

Vgl. u. a. Sachse, Jugend; Koch / Decker, Drill. Vgl. ebd. Vgl. u. a. Sachse, Jugend; Koch / Decker, Drill. Vgl. Sachse, Jugend.

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Jahre – und damit mehr im Ermessen der Schule oder Lehrkraft liegend – Bemühungen gab, im Rahmen des regulären Schulunterrichts Wehrerziehungsthemen zu behandeln. Dieser Eruierung liegt ein Verständnis von Wehrerziehung zugrunde, das neben der Herstellung einer Wehrfähigkeit auch die Schaffung eines Wehrbewusstseins und einer Wehrbereitschaft einschließt. Unter Wehrbewusstsein verstand man in der DDR „Erkenntnisse, Einstellungen, Emotionen sowie Willensakte und Überzeugungen hinsichtlich der Verteidigung des Sozialismus.“5 Wehrbereitschaft dagegen definiert das zeitgenössische Verständnis als das „stabilisierende Bereitsein zur Wehrbefähigung und zur Abwehr von Aggressionshandlungen und Anschlägen gegen die sozialistische Ordnung.“6 Die Wehrfähigkeit wiederum galt als Einübung militärischer Praktiken zur Vorbereitung auf eine militärische (und wehrsportliche) Grundausbildung in der NVA. Die Arbeitsgrundlage der hier angestellten Untersuchungen ist ein bislang wenig beachtetes Konvolut, das mit Fug und Recht als eine der DDR-Unterrichtspraxis am ehestens abbildenden, überlieferten Quellen gelten kann7: Die Pädagogischen Lesungen der DDR. Das Format wurde in der DDR in den 1950er Jahren entwickelt und Anfang der 1960er Jahre als festes Element des DDR-Weiterbildungssystems etabliert und institutionell verankert. Bis zum Ende der DDR im Jahr 1989 wurden in allen Bereichen des DDR-Bildungswesens (Kindergarten, allgemeinbildende Schulen, Hilfsschulen, außerschulische Pädagogik) ausführliche Abhandlungen über pädagogische Praktiken verfasst, die man für innovativ und nachahmenswert hielt und deshalb breit kommunizieren wollte. Die Texte der Praktikerinnen und Praktiker wurden im Rahmen eines zentralistisch organisierten, mehrstufigen Verfahrens (auf Kreis-, Bezirks- und nationaler Ebene) bewertet und durchliefen damit einen Selektionsprozess, der darauf abzielte, fachlich besonders gute bzw. relevante Pädagogische Lesungen auszuwählen. Die Verbreitung der auf nationaler Ebene ausgewählten Texte unter den Kollegen und Kolleginnen erfolgte über ein Verleihsystem, gleichzeitig aber auch über eine Präsentation auf regionalen und nationalen Weiterbildungsveranstaltungen. Letztere, die sogenannten Zentralen Tage der Pädagogischen Lesungen, fanden einmal im Jahr statt, zunächst ausschließlich am Zentralinstitut für Weiterbildung (ZIW) in Ludwigsfelde, später an verschiedenen Veranstaltungsorten. Die für eine Distribution auf nationaler Ebene ausgewählten Lesungen wurden in der Pädagogischen Zentralbibliothek im Haus des Lehrers Berlin archiviert, wo sie von Fachkräften aus allen Landesteilen ausgeliehen werden konnten. Der dort sukzessive akkumulierte Bestand umfasste am Ende ca. 9.500 Dokumente zu allen DDR-Unterrichtsfächern und Schularten, aber auch solche, die auf all-

5 Ilter / Herrmann / Stolz, Handreichung, 30. 6 Ebd., 34. 7 Vgl. u. a. W-hler / Hanke, Erfahrungen; Koch u. a., Schule.

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gemeinpädagogische bzw. psychologische Fragen fokussierten. Damit bildet die Quelle in hohem Maß etwas ab, das sich beschreiben lässt als „institutionalisierte Art des Erfahrungsaustausches von Pädagog:innen in allen Bereichen des DDR-Bildungswesens (Kindergarten, allgemeinbildende Schulen, Hilfsschulen, außerschulische Pädagogik). Dabei wird die schriftliche Niederlegung eigener Erfahrungen sowie innovativer Vorschläge zur Gestaltung pädagogischer Prozesse ergänzt durch die öffentliche (Vor-)Lesung für ein Fachpublikum praktisch tätiger Pädagog:innen in großangelegten zentralen Weiterbildungsveranstaltungen.“8

Im Fokus der hier angestellten Betrachtungen stehen die Pädagogischen Lesungen zum Unterricht an Polytechnischen Oberschulen in der DDR im Zeitraum 1960 bis 1969 und damit die Pädagogischen Lesungen aus dem ersten Jahrzehnt der systematischen Edition und Popularisierung von Texten in diesem Format. Angesichts der Einordnung der Quelle als vergleichsweise ungebrochene Dokumentation von DDR-Unterrichtspraxis, erlaubt dies die Suche nach Antworten auf die Frage, in welcher Weise wehrerzieherische Themen im DDR-Unterricht der 1960er Jahre aufgegriffen wurden. Das Gesamtkorpus der in den 1960er Jahren zentral zur Distribution ausgewählten Pädagogischen Lesungen wurde einer Titelanalyse unterzogen. So konnten sämtliche Pädagogischen Lesungen ermittelt werden, die Komposita mit dem Begriff „Wehr“ im Titel trugen. Aus diesen wurden jene ausgewählt, die sich auf den Unterricht an POS und EOS und hierbei auf die Klassenstufen sieben bis zehn beziehen und so dieses für die DDR sehr charakteristische und in diesem Kontext maßgebliche Schulsegment abbilden. Auf diese Weise ergab sich ein Gesamtkorpus von neun Pädagogischen Lesungen, die nun einer Inhaltsanalyse unterzogen wurden. Hierbei wurden folgende Fragestellungen untersucht: 1. In welchem Bereich des Unterrichts bzw. des Verantwortungsbereichs Schule verortet man die Wehrerziehung? 2. Welche Fächer erachtet man in dieser Zeit, in der dem Thema noch kein eigenes Schulfach zugeordnet war, als relevant für die Vermittlung von wehrerzieherischem Wissen? 3. Welche Dimensionen der Wehrerziehung (theoretische Wissensvermittlung, Charakterbildung, Schaffung körperlicher Voraussetzungen etc.) stehen hierbei im Fokus? Aus dem ermittelten Konvolut relevanter Texte sticht eine Pädagogische Lesung heraus, die sich fast auf den gesamten Untersuchungszeitraum (1962 bis 1969) bezieht und den Anspruch erhebt, die Unterrichtsarbeit zu Wehrerziehungsthemen in allen Fächern genauer zu beleuchten. Dies geschieht anhand praktischer Erfahrungen, die die Autorinnen und Autoren an der EOS 8 Ebd., 1.

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Reichenbach gesammelt haben, aus dem erklärten Bemühen um höchstmögliche „Effektivität der sozialistischen Wehrerziehung“9. Man versucht sie zum einen durch eine Thematisierung in möglichst vielen Unterrichtsfächern und zum anderen durch Einbeziehung möglichst vieler gesellschaftlicher und damit auch außerschulischer Bereiche, u. a. des Elternhauses und der Patenbrigade, zu erreichen. Ausgangspunkt dieses Netzwerkansatzes ist die Auffassung der Autorinnen und Autoren, dass Wehrerziehung nicht allein der Schule obliege, sondern eine von verschiedensten gesellschaftlichen Teilbereichen und Akteuren gemeinsam zu leistende Aufgabe sei. Dieses intersektorale Verständnis korreliert mit der in der DDR-Pädagogik fest verankerten Vorstellung, die Erziehung von Kindern und Jugendlichen sei ein gesamtgesellschaftlicher Auftrag – ohne dass hierdurch die Schule aus der Verantwortung für die Erreichung von Bildungs- und Erziehungszielen entlassen würde: „In diesem Sinne kann sozialistische Wehrerziehung an den Schulen unserer Republik nicht als etwas Spezielles, neben dem Gesamterziehungsprozeß Herlaufendes sein; sie ist integrierender Bestandteil des Gesamtsystems der Erziehung zu sozialistischen Persönlichkeiten. So ist das Ziel der sozialistischen Wehrerziehung immanenter Bestandteil der allgemeinen sozialistischen Erziehungs- und Bildungsziele.“10

Wie breit die Autorinnen und Autoren den Begriff fassen, macht ihre Formulierung der Ziele von Wehrerziehung deutlich. Es geht ihnen keineswegs nur um eine Beschäftigung mit militärischen Themen und unmittelbare Einstimmung auf die Landesverteidigung, sondern vor allem um die Ausformung bestimmter Überzeugungen und charakterlicher Grunddispositionen, im Grunde also um die Erzeugung von Wehrbewusstsein und die Schaffung einer Wehrbereitschaft11. So ist es erklärtes Anliegen, den von ihnen betreuten Jugendlichen Klarheit über den Begriff Vaterland, ein klares Bild vom Klassenfeind, Wissen um die Bedeutung der NVA für die Landes- und Systemverteidigung sowie ein klares, vom Klassenstandpunkt getragenes, Verhältnis zur Sowjetunion und den anderen sozialistischen Ländern nahezubringen12. Derlei Sichtweisen subsumieren die Autorinnen und Autoren

9 Ingeborg Hochmuth / Bernd Schmidt, Höhere Effektivität der sozialistischen Wehrerziehung, 1969 (DIPF, 1643), 1. 10 Ebd., 2. 11 Diese wird in der Lesung dann sogar als Hauptziel entsprechender schulischer und außerschulischer Bemühungen herausgestrichen: „Wir sehen deshalb als die entscheidende Seite der sozialistischen Wehrerziehung die Stärkung der Verteidigungsbereitschaft an, die nur erreicht werden kann durch die Erziehung zur marxistisch-leninistischen Weltanschauung und den ihr entsprechenden politisch-moralischen Überzeugungen, die das Charakterbild der jungen sozialistischen Persönlichkeit ausmachen“ (ebd., 3). 12 Ebd., 5.

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unter der Formel „Weltanschauliche Überzeugungen“13. Hierfür brauche es die Entwicklung bestimmter Charaktereigenschaften, darunter u. a. „Mut, Beharrlichkeit, Gewissenhaftigkeit, Diszipliniertheit“14, aber auch „Prinzipientreue, Kollektivität, Pflichtbewußtsein, Offenherzigkeit, Hilfsbereitschaft“15. Diese seien Grundvoraussetzungen für eine charakterliche Eignung für den Militärdienst, noch stärker aber für das Ergreifen eines militärischen Berufs: „Ein solcher Jugendlicher bringt alle Voraussetzungen mit, in Situationen, die eigenverantwortliche Entscheidungen fordern, das Richtige zu tun und in seiner Dienstzeit bei der NVA nicht nur sich selbst zu bewähren, sondern auch das Kollektiv seiner Genossen weiterzuentwickeln. In diesem Sinne ist er vorbereitet auf Führungsaufgaben als Unteroffizier oder Offizier.“16

Gleichzeitig adressiere die schulische Wehrerziehung keinesfalls nur Schüler. Auch die Schülerinnen sollten verinnerlichen, dass man Landesverteidigung „nicht allein dem männlichen Geschlecht überlassen“ dürfe, denn „im Falle eines aufgezwungenen Krieges müsse auch die Frau bereit zur Verteidigung sein“17. Für die an diesem Lehr- und Lernziel orientierte schulische Arbeit entwickeln die Autorinnen und Autoren zunächst einen fachübergreifenden Rahmen: Sie konzipieren eine Abfolge sogenannter Bewährungsproben, um, darauf aufbauend, das wehrerzieherische Potential verschiedener Unterrichtsfächer auszuloten. Für dessen Ausschöpfung brauche es eine möglichst gute Integration des Themas in die verschiedenen Unterrichtskontexte, da nach Auffassung der Autorinnen und Autoren „Überzeugungen und Charaktereigenschaften vor allem im Prozess des Unterrichts selbst geformt und entwickelt werden müssen“18. Die Basis für die diesbezügliche Arbeit in anderen Fächern schüfen Staatsbürgerkunde- und Geschichtsunterricht – eine Einordnung, die eine Gewichtung innerhalb des Fächerspektrums deutlich macht. Doch auch in den anderen Schulfächern lasse sich wehrerzieherisches Wissen vermitteln. Die Pädagogische Lesung führt nicht aus, wie dies konkret didaktisch zu gestalten sei. Der Fokus liegt erkennbar darauf, inhaltliche Anknüpfungspunkte und Möglichkeiten einer inhaltlichen Erweiterung bestehender Lehrpläne aufzuzeigen. Im Geschichtsunterricht liege der Schwerpunkt auf einer historischen Legitimation der besonderen Beziehung zu den Ländern der Sowjetunion19, 13 14 15 16 17 18 19

Ebd. Ebd., 9. Ebd., 10. Ebd. Ebd., 14. Ebd., 11. Vgl. hierzu die Formulierung: „die Geschichte der UdSSR [als] eine Folge historischer Pioniertaten zum Wohle der gesamten Menschheit“, ebd., 12.

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wobei die Befreiung vom „Hitlerfaschismus“ als zentrales Narrativ und besonders herauszustellender Verdienst eingeordnet wird. In verschiedenen Kontexten sei die Vorbildhaftigkeit der zur UdSSR gehörenden Menschen herauszuarbeiten und die besondere Beziehung zu diesem Land als historisch gewachsen zu untermauern. Die Argumentation der Autorinnen und Autoren folgt hier im Grunde dem Prinzip der Mythenstiftung zwecks historischer „Legitimation“ einer eigentlich artifiziell vorgenommenen Zuschreibung, die auf diese Weise als natürlich und folglich nicht zu hinterfragende Verbindung erscheint20. Für die Wehrerziehung im Fach Staatsbürgerkunde empfehlen die Autorinnen und Autoren konkrete Stoffkomplexe, u. a. die im neunten und zehnten Schuljahr verortete Beschäftigung mit den Themen „Militarisierung der westdeutschen Gesellschaft“ und „Der Jugend Vertrauen und Verantwortung“21. Im diesbezüglichen Unterricht geleistete Vorarbeit sei dann in FDJVersammlungen aufzugreifen, bis es gelungen sei, „Standpunkte so weit zu entwickeln, daß daraus Taten erwachsen (Bereitschaftserklärungen zum erweiterten Ehrendienst in der NVA)“22. Im Deutschunterricht seien an Grundwissen anknüpfende Thematisierungen sowohl im Sprach- als auch im Literaturunterricht möglich. Vor allem dem Literaturunterricht obliege eine Präsentation vorbildhafter literarischer Figuren, um „den Schülern ein nachahmenswertes Bild vom Menschen unserer Epoche“23 als Leitbild nahezubringen. Hierbei gibt man auch Empfehlungen für den Umgang mit dem offenkundigen Widerspruch zwischen in der klassischen Literatur propagierten humanistischen und inhärent eben auch pazifistischen Ideen und dem Wehrerziehungsgedanken ab. Seien derlei Auffassungen im 18. und 19. Jahrhundert berechtigt gewesen, habe man mit dem sozialistischen Menschen eine höhere Entwicklungsstufe erreicht, „durch Erfassen des Wesens des sozialistischen Menschen, dessen Humanismus darin besteht, daß er das Menschliche gegen die Feinde der Menschheit auch mit der Waffe in der Hand verteidigt.“24 Das wehrerzieherische Potential der Fächer Mathematik und Physik sehen die Autorinnen und Autoren vor allem darin, den Lernenden in Aufgabenstellungen Begriffe „aus dem Militärwesen“25 nahezubringen und ihnen damit „Informationen über eine moderne, schlagkräftige sozialistische Armee zu vermitteln“26. In ihrer Arbeit hätten die Autorinnen und Autoren Aufgaben auf 20 Vgl. u. a. Barthes, Mythen; Menkler, Geschichtsmythen. 21 Ingeborg Hochmuth / Bernd Schmidt, Höhere Effektivität der sozialistischen Wehrerziehung, 1969 (DIPF, 1643), 11 f. 22 Ebd., 12. Gemeint ist hier also eine dreijährige Dienstzeit statt der für alle obligatorische, anderthalb Jahre dauernde. 23 Ebd., 13. 24 Ebd., 14. 25 Ebd., 16. 26 Ebd.

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der Basis von Zahlenmaterial aus Armee- und GST-Zeitungen entwickelt und die Lernenden noch unbekannte Termini, darunter etwa „Höhenfunkmesser“ und „Aktionsradius“27, nachschlagen lassen, um sie inhaltlich und auch technisch genau zu erfassen. Außerdem biete der Physikunterricht sich für eine Erläuterung militärisch relevanter physikalischer Erscheinungen an. Das hier avisierte Themenspektrum reicht von der Funktionsweise eines Kompasses bis zu Raketentechnik und Radarwesen. In Bezug auf das Fach Chemie verweisen die Autorinnen und Autoren auf Stoffeinheiten, die schon in der Anlage prädestiniert für die Vermittlung von Wehrerziehungswissen seien. Hierzu zählt man vor allem den Themenkomplex „Chemische Kampfstoffe“. Die vom Lehrplan geforderte Vermittlung der chemischen Eigenschaften derselben lasse sich um „die ideologische Seite des Stoffes“ ergänzen. So eigne sich eine Auseinandersetzung mit sinnvollen Schutzmaßnahmen dazu, „die Schüler zu Abscheu vor den verbrecherischen Methoden des USA-Imperialismus“28 zu erziehen, der etwa im Vietnamkrieg mit solchen Substanzen operiere. Im Fach Biologie ließe sich daran anknüpfen, im Rahmen einer Stoffeinheit, deren wehrerzieherisches Potential weniger offenkundig gewesen sein dürfte. So könne die Stoffeinheit Bakterien auch eine Beschäftigung mit bakteriellen Massenvernichtungsmitteln einschließen, deren Einsatz die Aggressivität des „Weltimperialismus“29 sichtbar mache, was wiederum die Lernenden von der Notwendigkeit einer angemessenen Wehrbereitschaft und Wehrfähigkeit überzeuge. Das Fach Erdkunde klassifizieren die Autorinnen und Autoren als „ideologieintensive[s]“30 Fach und erwarten von den verantwortlichen Lehrkräften eine konsequente Präsentation von Wissen, das die Lernenden zu „systemhafte[m] Denken“ erziehe. Dies impliziere auch eine wiederholte Vergegenwärtigung des „Zusammenhangs zwischen Ökonomie und Militärpolitik“31. Es ginge darum, Freund- ebenso wie Feindbilder plastisch herauszuarbeiten und darüber deutlich zu machen, dass das sozialistische Staatenbündnis zu einer effektiven Landesverteidigung in der Lage sei. Hinzu käme ein Potential des Unterrichts hinsichtlich der Einübung relevanter praktischer Fähigkeiten und Fertigkeiten, so etwa des Kartenzeichnens und -lesens und der darauf aufbauenden Fähigkeit zur Orientierung im Gelände, untermauert durch topografisches Grundwissen. Praktische Vorbereitungen auf den Wehrdienst der Jungen verortet man im Fach Körpererziehung, das in den höheren Klassenstufen darauf hinzuarbeiten habe, „die physische Leistungsfähigkeit des Jugendlichen stufenweise den 27 28 29 30 31

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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hohen Anforderungen des Wehrdienstes an[zu]nähern“32. Hier finden sich dann vereinzelt konkrete methodische Empfehlungen, darunter der Hinweis auf ein neun Disziplinen kombinierendes „Testprogramm“33, die Empfehlung einer in den Unterricht eingebetteten Rettungsschwimmerausbildung34 und die Empfehlung, „verschiedene Übungselemente der vormilitärischen Ausbildung in den Sportunterricht“35 zu übernehmen. Nicht zuletzt böte der Unterricht Gelegenheit zum Hineinfinden in klassische Hierarchien, was sowohl ein Erteilen als auch ein Einhalten von Kommandos miteinschlösse. In der Summe entwickeln die beiden Autorinnen und Autoren damit ein komplexes Gefüge wehrerzieherischer Maßnahmen, die den Schulalltag über alle Fächer hinweg prägen. Mehrfach wird die aus dieser Multidimensionalität erwachsende Effektivität ihrer Bemühungen betont36. Dabei gehen ihre Ausführungen, auch das macht diese Pädagogische Lesung deutlich, über die Vorgaben der Lehrpläne und Unterrichtshilfen der Zeit hinaus. Implizit wird dem DDR-Unterricht der 1960er Jahre damit auch eine unzureichende Auslotung des wehrerzieherischen Potentials attestiert. Selbst bei den eigenen, ja noch um ausführlich entwickelte Kooperationen mit FDJ, GST, Elternhaus und Patenbrigaden ergänzten, Wehrerziehungsbemühungen sieht man noch Verbesserungsmöglichkeiten: Die Lesung endet mit einer Analyse, was in der zukünftigen Arbeit ergänzend möglich sei. Als entscheidendes Instrument hierzu betrachtet man Patenschaftsverträge mit Einrichtungen der Nationalen Volksarmee der DDR (NVA), die u. a. eine Einbeziehung „des Patenbetriebes, der Patenbrigaden und der Kampfgruppenkommandeure bzw. Reservistenkollektive in die politisch-ideologische Erziehung und praktische Ausbildung“37 vereinbaren. Befragt man, ausgehend von dieser exemplarischen Analyse, die übrigen acht Pädagogischen Lesungen des eingangs konturierten Konvoluts, zeigt sich, dass die anderen Autorinnen und Autoren nicht auf eine so vieldimensionale Vermittlung wehrerzieherischen Wissens setzen. Hier ist es nun häufig der Sportunterricht38, in dem man das entscheidende Instrument für praktische

32 33 34 35 36

Ebd., 30. Ebd. Vgl. ebd., 31. Ebd., 30. Der dieses Konzept legitimierende Erfolg wird nicht nur behauptet, sondern statistisch belegt: So entscheide sich schon über mehrere Jahre ein Viertel der männlichen Jugendlichen eines Jahrgangs für eine Offizierslaufbahn, weitere zehn Prozent für die Option „Soldat auf Zeit“, die ebenfalls weit über die Verpflichtung zum achtzehnmonatigen Grundwehrdienst hinausgehe. Zuletzt habe man die Bereitschaftserklärung aller Schüler einer Klasse für einen „erweiterten Wehrdienst“ (Ingeborg Hochmuth / Bernd Schmidt, Höhere Effektivität der sozialistischen Wehrerziehung, 1969 [DIPF, 1643], 37) verzeichnen können. 37 Ebd., 22. 38 Vgl. beispielsweise die Pädagogischen Lesungen von Robert Handel, Meine Erfahrungen als Klassenleiter, 1979 (DIPF, 1844); Werner Richter, Die aktive Vorbereitung der Jugendlichen auf

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Vorbereitungen auf den Wehrdienst sieht. So heißt es etwa in einer Pädagogischen Lesung aus dem Jahre 1965 ausdrücklich: „Es darf keinen Sportwettkampf mehr ohne Disziplinen des militärischen Mehrkampfes geben“39. Andere Lesungen verweisen – ergänzend oder alternativ – auf das, was sie als „vormilitärische Ausbildung“40 bezeichnen. Diese bindet man stark an die außerschulisch agierende, aber offenbar mit den Schulen intensiv kooperierende GST, ohne den Unterricht deshalb von der Verantwortung für die Wehrerziehung freizusprechen. Auch eine Einbeziehung der Patenbrigade in die Wehrerziehung scheint vergleichsweise gängige Praxis gewesen zu sein41 – man setzt auf die Wehrdiensterfahrungen der Brigademitglieder oder wählt explizit mit dem Thema assoziierte Patenbrigaden aus, oft die NVA selbst42. Nur in ausgewählten Fällen werden andere Fächer als für die Wehrerziehung relevant beschrieben – hier vor allem das Fach Geschichte43. In diesem Kontext ist natürlich auch zu berücksichtigen, dass es – jenseits des hier konturierten Konvoluts – zahlreiche Pädagogische Lesungen gibt, die nicht den Begriff Wehrerziehung im Titel tragen, diesen aber, wie schon Hochmuth und Schmidt, als Teil dessen mitdenken, was unter Begriffen wie „Erziehung zu Schülerpersönlichkeiten“44 oder „politisch-ideologischen Arbeit an der Schule“45 subsummiert wird. Lehrkräfte, die Wehrerziehung als integralen Bestandteil der schulischen Ausbildung und des Erziehungsauftrages sehen, werden diese tendenziell mitdenken und weniger als Einzelthema herausstellen. Dies gilt umso mehr, wenn man der Argumentationslinie von Hochmuth und Schmidt folgt und die Ausformung bestimmter Charaktereigenschaften auch als Bestandteil einer Erziehung zur Wehrbereitschaft betrachtet. In welchem Ausmaß dies in den Pädagogischen Lesungen der 1960er Jahre stattfand, ließ sich im Rahmen der hier angestellten Untersuchungen nicht ermitteln. Eine Auswertung des Konvoluts macht auch deutlich, dass sich offenbar mehrere Autorinnen und Autoren Pädagogischer Lesungen ausdrücklich eine noch breitere Verankerung im Schulunterricht wünschen und diesbezüglich auch die DDR-Lehrpläne in die Pflicht nehmen, so u. a. in einer Pädagogischen

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den Wehrdienst, 1969 (DIPF, 1642); Helmut Jung, Der Beitrag des Sportunterrichts zur sozialistischen Wehrerziehung, 1970 (DIPF, 1799). Siegfried Birkner, Sozialistische Wehrerziehung und vormilitärische Ausbildung, 1965 (DIPF, 736), 24. Ebd., Titelblatt. Vgl. u. a. Ingeborg Hochmuth / Bernd Schmidt, Höhere Effektivität der sozialistischen Wehrerziehung, 1969 (DIPF, 1643); Robert Handel, Meine Erfahrungen als Klassenleiter, 1979 (DIPF, 1844). U. a. Robert Handel, Meine Erfahrungen als Klassenleiter, 1979 (DIPF, 1844). Vgl. vor allem die Pädagogische Lesung von Dietrich Maaß, Die Pflege revolutionärer und fortschrittlicher militärischer Traditionen im Geschichtsunterricht, 1968 (DIPF, 1385). Robert Handel, Meine Erfahrungen als Klassenleiter, 1979 (DIPF, 1844, 5). Richard Serwuschok, Die sozialistische Wehrerziehung als ein organischer Bestandteil der politisch-ideologischen Arbeit an der Schule, 1967 (DIPF, 1146, 1).

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Lesung aus dem Jahre 1965, in der es heißt: „Hieraus erwächst die Forderung, [!] nach einer stärkeren Betonung des Militärischen bei einer künftigen Lehrplangestaltung zu suchen.“46 Insofern lässt sich die im Vorfeld skizzierte Auslotung des wehrerzieherischen Potentials der einzelnen Unterrichtsfächer durchaus auch als Blick in die DDR-Pädagogik der Zukunft lesen. Diese erwies dann allerdings, dass man sich letztendlich doch für die Einrichtung eines eigenen Faches zum Thema entschied, statt die interdisziplinäre Verankerung der wehrerzieherischen Lehr- und Lernziele zu befördern.

Resümee In der Summe machen die hier angestellten Betrachtungen deutlich, dass die Verankerung des Themas Wehrerziehung im Schulunterricht der 1960er Jahre sehr von Überzeugungen und Herangehensweise der einzelnen Lehrkräfte oder Schulen abhing. Das Spektrum reichte hier von einer Kooperation mit der GST im Rahmen der sogenannten vormilitärischen Ausbildung bis zu Versuchen, das Thema in den regulären Schulunterricht zu integrieren. Bewertet man die einzelnen Fächer hinsichtlich ihrer ,Wehrerziehungsrelevanz‘, wird dem Sportunterricht der höchste Stellenwert zugebilligt, vereinzelt auch dem Geschichtsunterricht. Eine einzelne Pädagogische Lesung lotet in einer systematischen Analyse das wehrerzieherische Potential aller Fächer aus und kann tatsächlich selbst in den naturwissenschaftlichen Fächern und Fremdsprachen geeignete Themenkomplexe empfehlen. Hierbei geht es in der Regel um eine Erweiterung des vom Lehrplan vorgegebenen Stoffes, so dass ein Aufgreifen dieser Vorgehensweise im Ermessen der einzelnen Lehrerkraft lag, ggf. auch gelenkt durch entsprechende Empfehlungen der zuständigen Fachberaterinnen und Fachberater. Die über die Vermittlung von relevantem Fachwissen und die körperliche Vorbereitung auf den Wehrdienst hinausgehende Schaffung einer Wehrbereitschaft mittels Ausformung bestimmter Charaktereigenschaften wurde in einigen der betrachteten Pädagogischen Lesungen als weitere Dimension der Wehrerziehung sichtbar. Hier benennt man wünschenswerte Charaktereigenschaften der Schülerinnen und Schüler und setzt diese, manchmal explizit, manchmal eher allgemein, zu den didaktischen Zielen Wehrbereitschaft und Wehrfähigkeit in Bezug.

46 Siegfried Birkner, Sozialistische Wehrerziehung und vormilitärische Ausbildung, 1965 (DIPF, 736), 20.

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Quellen und Literaturverzeichnis I. Unveröffentlichte Quellen Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation (DIPF), Bibliothek für Bildungshistorische Forschung – Archiv : Archiv der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften, Pädagogische Lesung (BBF) 736: Birkner, Siegfried (1965). Sozialistische Wehrerziehung und vormilitärische Ausbildung. 1844: Handel, Robert (1970). Meine Erfahrungen als Klassenleiter bei der klassenmäßigen Erziehung der Schüler in enger Zusammenarbeit mit der demokratischen Öffentlichkeit und der Patenbrigade. 1643: Hochmuth, Ingeborg / Schmidt, Bernd (1969). Höhere Effektivität der sozialistischen Wehrerziehung durch komplexe erzieherische Einwirkung von Schule, Elternhaus, Patenbrigade, gesellschaftliche Organisationen und Institutionen. 1799: Jung, Helmut (1970). Der Beitrag des Sportunterrichts zur sozialistischen Wehrerziehung. 1385: Maaß, Dietrich (1968). Die Pflege revolutionärer und fortschrittlicher militärischer Traditionen im Geschichtsunterricht: ein Beitrag zur sozialistischen Wehrerziehung an den Schulen. 1642: Richter, Werner (1969). Die aktive Vorbereitung der Jugendlichen auf den Wehrdienst durch die Einbeziehung des Achtertestes der Nationalen Volksarmee in den Sportunterricht der Schulen. 1146: Serwuschok, Richard (1967). Die sozialistische Wehrerziehung als ein organischer Bestandteil der politisch-ideologischen Arbeit an der Schule.

II. Veröffentlichte Quellen und Darstellungen Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Berlin 52020. Ilter, Karl / Herrmann, Albrecht / Stolz, Helmut (Hg.): Handreichung zur sozialistischen Wehrerziehung. Berlin 1974. Koch, Katja / Decker, Clemens: Zwischen Drill und Lagerfeuerromantik – Wehrerziehung und Wehrunterricht an Hilfsschulen der DDR im Spiegel der Pädagogischen Lesungen. In: Schriftenreihe der Arbeitsstelle der Pädagogischen Lesungen an der Universität Rostock 11 (2021), H. 3, 1–24. Verfügbar unter : https:// doi.org/10.18453/rosdok_id00002954 [22.12. 2022]. Koch, Katja / Koebe, Kristina / von Brand, Tilman / Plessow, Oliver: Sozialistische Schule zwischen Anspruch und Wirklichkeit – Die Pädagogischen Lesungen als ungehobener Schatz zur Erforschung von Unterricht in der DDR. In: Schriftenreihe der Arbeitsstelle der Pädagogischen Lesungen an der Universität Rostock 1 (2019) H. 1, 1–19. Verfügbar unter: https://doi.org/10.18453/rosdok_id00002727 [22.12. 2022].

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Menkler, Herfried: Geschichtsmythen und Nationenbildung. In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.), Geschichte und Erinnerung, 2010. Verfügbar unter : https://m.bpb.de/ge- schichte/zeitgeschichte/geschichte-und-erinnerung/39792/ geschichtsmythen [22.12. 2022]. Sachse, Christian: Aktive Jugend – wohlerzogen und diszipliniert. Wehrerziehung in der DDR als Sozialisations- und Herrschaftsinstrument (1960–1973) (Studien zur DDR-Gesellschaft 7). Münster 2000. W-hler, Josefine / Hanke, Maria-Annabel: „Erfahrungen der Besten“. Die unikale Sammlung Pädagogischer Lesungen der DDR – ein Werkstattbericht. In: Medienimpulse 57 (2019), H. 1, 1–39.

II. Christlicher Widerstand und staatliche Gegenmaßnahmen

Hans-Hermann Dirksen

Entwicklungen bei der Rechtsverfolgung des aktiven Widerstandes von Christen durch die DDR-Justiz

Die Forschung ist sich in der Beurteilung der Politik der SED gegenüber den Kirchen und den Christen in der DDR einig: Seit Ende der 1940er Jahre wurde in der sowjetisch besetzten Zone und später in der DDR eine kirchenfeindliche Politik betrieben. Christen wurden aus staatlichen Institutionen und anderen Bereichen systematisch herausgedrängt. Denn die Religionen, die in ihrer Ausrichtung auf ein christliches Glaubensverständnis grundsätzlich anderen Grundsätzen und Überzeugungen folgten als der Idee, den Aufbau des Sozialismus und Kommunismus zu unterstützen, standen zunächst einmal in einem deutlichen Wertungswiderspruch zur Parteiführung der SBZ/DDR. Allerdings bestanden laut DDR-Verfassung 1949 mit Art. 41 ff. umfangreiche Religionsfreiheiten: „Jeder Bürger genießt volle Glaubens- und Gewissensfreiheit. Die ungestörte Religionsausübung steht unter dem Schutz der Republik.“ Ein weiteres spezifisch juristisches Problem bestand darin, dass es keine geeigneten Strafnormen für „Religionsverbrechen“ gab. Die DDR hat erst 1968 ein eigenes Strafrecht verfasst, zuvor musste man das alte Strafrecht aus der überkommenen Kaiserzeit anwenden. Dort existierte lediglich in § 130a des Strafgesetzbuches von 1871 – der sogenannte „Kanzelmissbrauch“ – der mit einer Höchststrafe von zwei Jahren Gefängnis bestrafbar war. Insofern bestand ein vergleichbares Dilemma wie bei der Verfolgung sogenannter Wirtschaftsverbrecher, bei der Legitimation von Enteignungen oder eben bei der Bekämpfung des politischen Widerstands.

1. Verfolgung aufgrund Artikel 6 der Verfassung von 1949 Diese ganze Gemengelage wurde der Partei- und Staatsführung der frisch gegründeten DDR in ganz prekärer Weise im Zusammenhang mit der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas bewusst. Nicht unproblematisch war bei einem Vorgehen gegen die Glaubensgemeinschaft, dass sie bereits im Nationalsozialismus aufgrund ihres Glaubens verfolgt und inhaftiert wurden – und zahlreiche Glaubensangehörige aufgrund der Weigerung, in irgendeiner Art am Krieg teilzunehmen, hingerichtet worden waren1. 1 Vgl. Garbe, Widerstand. Vgl. ferner Besier / Stokłosa, Jehovas Zeugen.

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Bereits im September 1949 gab es einen Politbürobeschluss, der sich explizit mit der Bekämpfung dieser Religionsgemeinschaft beschäftigte. Als dieser die Missionstätigkeit der Zeugen Jehovas nicht zu unterbinden vermochte, erfolgte Ende August 1950 eine Verhaftungswelle, bei der 400 Glaubensangehörige in Haft kamen, sowie das Verbot der Religionsgemeinschaft am 31. August 19502. Nach dem Verbot musste dann den mehreren hundert – bis zum Jahresende waren es sogar über 800 verhaftete Glaubensangehörige – der Prozess gemacht werden, um das Verbot zu legitimieren. Zum Zwecke der Legitimierung und allgemeinen Diskreditierung startete kurz vor dem Verbot und parallel dazu eine Pressekampagne3. Dabei wurden die Glaubensangehörigen als „Apostel des Untergangs“, „Propagandisten des Krieges“, „Feinde des Aufbaus“, „raffiniert getarnte amerikanische Spionageorganisation“ und „Apostel der Atombombe“ bezeichnet. Ihre „Auffassung und Haltung“ sei „nicht nur in staatsbürgerlicher Hinsicht […] eine Gefahr“, weshalb man in der Konsequenz die öffentliche Forderung vertrat, „,Zeugen Jehovas‘ müssen verschwinden“4. Nun begann ein überaus bemerkenswerter Vorgang, dessen Entwicklungen zum Schauprozess sich gut am Beispiel der bereits im Juni 1950 in Magdeburg wegen Verstoßes gegen die Kontrollratsdirektive (KD) 38 vom 12. Oktober 1946, Abschn. II Art. III A III verhafteten Glaubensangehörigen Fritz Adler und Paul Thieme veranschaulichen lassen. Beide waren wegen ihres Glaubens bereits viele Jahre im KZ gewesen. Die KD 38 war vom Alliierten Kontrollrat wiederum zur „Verhaftung und Bestrafung von Kriegsverbrechern, Nationalsozialisten und Militaristen“ erlassen worden. Im Laufe des Ermittlungsverfahrens kam zum ersten Mal eine Anwendung des Art. 6 der Verfassung ins Spiel. Adler und Thieme wurde nun vorgeworfen: „In Verbindung mit dem § 130a des St.G.B. (Mißbrauch der Kanzel) sowohl mit dem Art. 6 d. Verf. der DDR haben sich beide des Verbrechens schuldig gemacht.“5 Gemäß Art. 6 Abs. 2 der ersten DDR-Verfassung von 1949 konnten die Tatbestände „Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen, Mordhetze gegen demokratische Politiker, Bekundung von Glaubens-, Rassen-, Völkerhass, militaristische Propaganda sowie Kriegshetze und alle sonstigen Handlungen, die sich gegen die Gleichberechtigung richten“ verfolgt werden. Als die Ermittlungsakten schließlich an die Generalstaatsanwaltschaft in Halle versandt wurden, hatte man dort allerdings offensichtlich Bedenken, ein Strafverfahren gegen eine Religionsgemeinschaft durchzuführen und wandte sich am 16. August 1950 (immer noch vor dem Verbot) an die Oberste 2 3 4 5

Dirksen, Keine Gnade, 191–301. Dirksen, Steuerung, 83–114. Ebd., 94–108. Dirksen, Keine Gnade, 302–305.

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Staatsanwaltschaft der DDR und fragte bei Generalstaatsanwalt Melsheimer an: „Bevor ich die obigen, mir von der hiesigen Verwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit übersandten Akten an die Staatsanwaltschaft Magdeburg weitergebe, lege ich diese mit der Bitte um Entscheidung vor, ob es zweckmäßig gehalten wird, gegen die Sekte der Bibelforscher gerichtlich vorzugehen. Die gerichtliche Bestrafung einiger sog. Prediger dieser Sekte würde m. E. der Bewegung nur neuen Auftrieb geben. […] Es ist kaum zu erwarten, daß die bisher angewandten Mittel den Einfluß der Gruppe einzudämmen im Stande sind. Falls eine Anklageerhebung für notwendig gehalten wird, darf ich um Entscheidung darüber bitten, aus welchen rechtlichen Gesichtspunkten gegen die Beschuldigten vorzugehen ist. Dies erscheint mir erforderlich, um eine einheitliche Behandlung der Frage im ganzen Gebiet der DDR zu erreichen. Dankbar wäre ich auch für eine authentische Interpretation des Art. 6 der Verfassung der DDR.“6

Generalstaatsanwalt Melsheimer seinerseits legte den Vorgang am 31. August 1950, dem Tag des Verbots gegen die Zeugen Jehovas, dem ZK-Sekretariat, Abt. Staatliche Verwaltung, der Staatlichen Kontrollkommission (SKK), dem Ministerium des Inneren sowie dem Ministerium für Staatssicherheit vor. Nach dieser Abstimmung wurden die Ermittlungsakten unter Beifügung eines Zeitungsartikels an den Generalstaatsanwalt des Landes Sachsen-Anhalt zurückgereicht: „Es wirkt befremdlich, wenn mit Rücksicht auf das vorliegende schwere Belastungsmaterial Ihr Sachbearbeiter um eine Entscheidung bittet, aus welchen rechtlichen Gesichtspunkten die Anklage zu erheben sei, falls eine Anklage für notwendig gehalten wird. Es ist natürlich nicht zu verkennen, daß diesem ersten Prozeß gegen Mitglieder der als Verbrecherorganisation entlarvten und seit dem 4. September 19507 durch den Minister des Inneren der Deutschen Demokratischen Republik verbotenen Sekte der Zeugen Jehovas eine gehobene Bedeutung zukommt. Deswegen müssen die Ermittlungen und das Verfahren um so sorgfältiger durchgeführt werden. Die Anklage darf sich daher nicht nur darauf beschränken, Äußerungen der Beschuldigten zu zitieren, ohne dabei auf die politische Bedeutung dieser Sekte im allgemeinen und die Stellung der Beschuldigten in der Sekte im besonderen einzugehen. Vor allem ist die Anklage auf Art. 6 der Verfassung zu stützen, jedoch in Verbindung mit der Dir. 38 Art. III A III, um die Zuständigkeit der Strafkammer nach Befehl 201 zu begründen. In der Anklageschrift ist einleitend anhand des zahlreich vorhandenen Materials, welches ohne weiteres aus der Tagespresse zu entnehmen ist, die staatsschädigende und verbrecherische Haltung dieser Organisation aufzuzeigen.“8

6 Ebd., 307 f. u. 301–321. 7 Melsheimer bezeichnete das Datum des Verbots mit dem 4.9. 1950. 8 Dirksen, Keine Gnade, 310.

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Schließlich fand dann am 3. und 4. Oktober 1950 vor dem Obersten Gericht der DDR unter Vorsitz von Hilde Benjamin ein großer Schauprozess statt, tatsächlich der zweite Prozess des OG überhaupt, bei dem es zu hohen Zuchthausstrafen für die angeklagten Zeugen Jehovas kam: zweimal lebenslänglich, dreimal fünfzehn Jahre, einmal zwölf, zweimal zehn und einmal acht Jahre Zuchthaus. Die Angeklagten wurden wegen Spionage, Boykott und Kriegshetze verurteilt9. In dem Urteil führte das Oberste Gericht aus, dass den Angehörigen dieser Religionsgemeinschaft das Recht der freien Religionsausübung nicht zugutekomme. Auf die in Artikel 41 der Verfassung könnten sich die Glaubensangehörigen nicht berufen, da die festgestellten Handlungen keine Religionsausübung darstellten: „[W]as die Angeklagten getan haben und wofür sie bestraft werden, hat mit Religionsausübung nichts zu tun. Deshalb hat das Gericht auch während der Hauptverhandlung alle Erörterung religiöser Fragen abgelehnt. Die Angeklagten haben keine Glaubensgrundsätze bekannt und verbreitet, wenn sie gegen den Frieden und die Bemühungen des Volkes, den Frieden zu erhalten, und gegen die Demokratie agitierten.“10

Nach der Urteilsverkündung setzte sich die Pressekampagne fort. Man titelte etwa mit „Amerikanische Spione vor dem Obersten Gericht“, „,Zeugen Jehovas‘ – getarnte Spionageorganisation des amerikanischen Imperialismus“ oder „USA-Spione und Agenten unter religiöser Tarnung“11. Eine Flut von Verfahren in allen Bezirken der DDR setzte ein. Allein von 1950 bis 1955 kamen 1850 Zeugen Jehovas in den DDR-Strafvollzug. Insgesamt starben 60 inhaftierte Zeugen Jehovas. Über 450 Zeugen waren sowohl im Nationalsozialismus als auch im DDR-Regime in Haft12. Dieser Strafprozess lieferte das Fanal und die Blaupause für die als Terrorjustiz bezeichneten Strafprozesse vor dem Obersten Gericht der DDR direkt nach der Staatsgründung, die auch den Strafgerichten im Land selbst die Marschroute für ihre Entscheidungen vorgab. Alle großen Strafprozesse wurden ab jener Zeit auf Art. 6 der Verfassung gestützt. Mit diesen Entwicklungen wird deutlich: In der DDR fand eine Christenverfolgung mit den Mitteln des Strafrechts statt. Die Strafurteile beruhten grundsätzlich immer auf den Vorwürfen staatsfeindlicher Propaganda und Hetze, sowie Spionage oder einem Boykottieren des Staates. In der Konsequenz wird man keine Urteile finden, die die bloße Religionsausübung betreffen.

9 10 11 12

Ebd., 322–355. Ebd., 347. Dirksen, Steuerung, 110–112; Dirksen, Keine Gnade, 365 f. Ebd., 367–512, 920–924. Vgl. ferner Besier, Jehovas Zeugen, 226.

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2. Verfolgung der Jungen Gemeinde Genau die gleiche Vorgehensweise und Argumentation benutzte die Strafjustiz auch zur Bekämpfung der „Jungen Gemeinde“, die ebenfalls als „Agentenorganisationen“ diskreditiert und insbesondere 1952/1953 in erheblichem Maße verfolgt wurde. Pfarrer und andere kirchliche Mitarbeiter wurden verhaftet, hunderte Mitglieder der Jungen Gemeinde mussten die Oberschulen und die Universitäten verlassen, noch mehr flohen in den Westen. Hatte man 1949 zunächst die Aktivitäten der Jungen Gemeinde mehr oder weniger geduldet, wurde 1950 zunehmend administrativ dagegen vorgegangen – etwa durch Verbote und Beeinträchtigung von Veranstaltungen. Schließlich stand die Junge Gemeinde in Konkurrenz zur sich formenden FDJ. So wandte sich am 5. Juni 1950 Herbert Grünstein, Chefinspektor der Deutschen Volkspolizei, an Staatssekretär Hans Warnke und forderte „eine Gesamtregelung in der Frage der christlichen Jugend“, um deren demokratische Entwicklung durch Versuche „reaktionärer Kirchenpolitiker“ nicht zu gefährden, „die eine Jugendorganisation im Interesse des anglo-amerikanischen Imperialismus aufrechterhalten bzw. die Freie Deutsche Jugend spalten wollen“13. Im Kontext der prestigeträchtigen III. Weltfestspiele der Jugend und Studenten im August 1951 in Berlin hielt man sich zwar mit Maßnahmen kurzzeitig zurück, verstärkte diese jedoch angesichts der Popularität und des Mitgliederzuwachses der Jungen Gemeinde spätestens ab Frühjahr 195214. Kein geringerer als Walter Ulbricht behauptete auf dem IV. Parlament der FDJ am 29. Mai 1952 in Leipzig, es sei „Agenten und Spionen gelungen“, getarnt als „Vertreter einer christlichen Bewegung“, in FDJ-Leitungsgremien an Universitäten einzudringen und so „von innen heraus die feindliche Tätigkeit im Auftrage Westberliner Zentralen durchzuführen“. Sogar über ein Verbot der Jungen Gemeinde wurde im Politbüro der SED diskutiert15. In Mielkes Dienstanweisung vom 23. November 1952, in der u. a. das Einschleusen „GM und Informatoren“ in die Gruppen der Jungen Gemeinde festgelegt wurde, wird der Jungen Gemeinde vorgeworfen, Jugendliche für „reaktionäre Tätigkeiten“ gewinnen zu wollen und sich dazu „mit einem religiösen Mäntelchen zu umgeben, Hetzmaterial aus Westdeutschland bzw. West-Berlin zu verbreiten und die „anglo-amerikanischen Kriegsbestrebungen“ zu verherrlichen. Es sei erwiesen, „daß die ,Junge Gemeinde‘ fortgesetzt, gegen die Verfassung verstößt und ihre staatsfeindliche Tätigkeit als religiöse 13 Zitiert nach Wentker, Kirchenkampf, 97. 14 „Das ständige Anwachsen der Mitgliederzahl beweist, daß sich hieraus eine ernste Gefahr für die Einheit der Jugendbewegung ergibt, die von Tag zu Tag größer wird“, so Erich Mielke am 23.11. 1952. Zitiert nach Besier / Wolf, Pfarrer, 168–182, hier 170. 15 Zitiert nach Wentker, Kirchenkampf, 104. Vgl. ferner ebd., 105–107.

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Handlung tarnt“. Gleichzeitig stellte Mielke mit Bezug auf die Religionsfreiheit gemäß Art. 41 Verfassung klar : „Es ist aber erwiesen, daß die ,Junge Gemeinde‘ fortgesetzt gegen die Verfassung verstößt und ihre staatsfeindliche Tätigkeit als religiöse Handlung tarnt. […] Damit stempelt sie sich klar als eine reaktionäre Organisation.“ Insofern habe sie kein Recht, sich auf die Verfassung zu stützen16. Mit dem Politbürobeschluss vom 27. Januar 1953 wurde dann – neben Maßnahmen zur öffentlichen Diskreditierung der Jungen Gemeinde und ihrer Darstellung als „Tarnorganisation für Kriegshetze, Sabotage und Spionage, die von westdeutschen und amerikanischen imperialistischen Kräften dirigiert wird“ – der Beschluss gefasst, juristisch gegen sie vorzugehen. Der Generalstaatsanwalt beim Obersten Gericht der DDR wurde beauftragt, „in einigen Bezirks- bzw. Kreisstädten der DDR – nicht in Berlin – in kurzen Zeitabständen hintereinander (Zeitdauer insgesamt 14 Tage) drei bis vier öffentliche Prozesse anhand des entsprechenden Beweismaterials durchzuführen, in denen klar die kriegshetzerische und Agenten- und Sabotagetätigkeit von Mitgliedern und Funktionären der Jungen Gemeinde nachgewiesen wird“. Im Anschluss an die Prozesse war das Verbot der Jungen Gemeinde geplant: „Seitens der Regierung ist nach Durchführung der Prozesse der Leitung der Evangelischen Kirche mitzuteilen […] Jede Tätigkeit der sogenannten Jungen Gemeinde wird verboten.“17 Alsbald kam es zu Verhören, Hausdurchsuchungen und Verhaftungen wie im Fall des Studentenpfarrers an der Universität zu Halle, Johannes Hamel, der am 12. Februar 1953 wegen Boykotthetze festgenommen wurde. Der Haftbefehl vom 13. Februar 1953 stützte sich darauf, dass Hamel „fortgesetzt handelnd in seiner Eigenschaft als Studenten-Pfarrer in Halle (Saale) antisowjetische sowie antidemokratische Hetze betrieben und damit den Frieden des deutschen Volkes und den Frieden der Welt gefährdet zu haben. Verbrechen nach Artikel 6 der Verf. in Verb. mit KD 38“. Hamel wurde in der Untersuchungshaftanstalt im „Roten Ochsen“ in Halle inhaftiert. Zu einer Verurteilung kam es nicht mehr. Am 18. Juni wurde er entlassen18. Unterstützend zur Begründung der Verfolgung der Jungen Gemeinde gab die „Junge Welt“, das Organ des Zentralrats der Freien Deutschen Jugend, im April 1953 eine Sonderausgabe heraus. Sie titelte: „,Junge Gemeinde‘ – Tarnorganisation für Kriegshetze, Sabotage und Spionage im USA-Auftrag“, wobei ihr „schändlicher Mißbrauch des christlichen Glaubens vorgeworfen und sie als illegal bezeichnet wurde19. Auch gegen Studentenpfarrer Hamel wandte sich die „Junge Welt“ im April 1953. So warf sie dem im Nationalso16 Zitiert nach Besier / Wolf, Pfarrer 168–182. 17 BArch SAPMO, DY 30/J IV 2/2/259, Bl. 27–32. Zur Relegation von Schülern vgl. KwiatkowskiCelofiga, Schüler, 168. 18 Zitiert nach Meller, Gemeinden, 90 f. Vgl. ferner Gursky, Vorgang „Riga“, 55. 19 Junge Welt, April 1953, Sonderausgabe, 1. Vgl. ferner ebd. die Ausgaben vom 10.4. 1953 und 15.4. 1953.

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zialismus für die Bekennende Kirche tätigen Pfarrer vor, sich gegen die Entnazifizierung zu wenden. Er habe Hetzzeitschriften in die DDR eingeschleust, habe mit der Organisierung von Agententätigkeit zu tun und Spionageberichte weitergereicht20. In einem Kommentar des SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“ (ND) vom 24. April 1953 wurde zur Tätigkeit von Hamel erklärt: „Der Studentenpfarrer Johannes Hamel sah es als seine Aufgabe an unter dem Deckmantel der Religion offene Kriegshetze zu betreiben. Bereits zur Zeit der Volkswahlen betätigte er sich als bewußter Feind der demokratischen Ordnung und versuchte, Professoren und Studenten von der Teilnahme an den demokratischen Wahlen abzuhalten. […] Im Interesse seiner westlichen Auftraggeber hetzte er gegen die Aufstellung nationaler Streitkräfte in unserer Republik und erklärte, er sei dafür, daß die gesamte DDR von den amerikanischen Okkupationstruppen besetzt wird.“21

Neben Hamel wurden in den Folgemonaten ca. 70 Pfarrer und Jugendleiter diffamiert und teilweise verhaftet. Stellvertretend sei hier auf Vikar Johannes Althausen (Halle), Jugendpfarrer Reinhold George (Ostberlin), Diakon Herbert Dost (Leipzig) und den in der Jungmännerarbeit tätigen Fritz Hoffmann hingewiesen22. Ähnlich wie im Fall Hamel wurde der Vikar Althausen im ND vom 24. April 1953 verunglimpft. Er habe „im Auftrage des Bonner Spionageministers Jakob Kaiser, der den Einsatz der Agenten in der Deutschen Demokratischen Republik leitet,“ in den Gruppen der Evangelischen Studentengemeinde kriegshetzerische Tätigkeit ausgeübt und „laufend Berichte über die Zahl der Studierenden, Angaben über Studien- und Stipendienanordnungen, Mitteilungen über das Meldegesetz der DDR und über die Sicherheitsmaßnahmen unserer Regierung zum Schutz der Bevölkerung an der Zonengrenze“ an seine westlichen Auftraggeber gesandt. Im Fall von Pfarrer George hieß es, er würde sich in Vorträgen gegen die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften und gegen die Volkseigenen Betriebe wenden23. Diese Vorwürfe hätte man im Fall einer Anklage wohl auch gegen ihn verwandt. Ähnlich der Fall Fritz Hoffmann: Anfang März 1953 war verhaftet und im Roten Ochsen verhört worden. Dazu berichtete er : „In mehr als 50 Verhören versuchte man, weitere Beweise für meine ,Untergrundtätigkeit gegen die FDJ‘ zu bekommen.“24 Doch zur Verurteilung sollte es aufgrund der politischen Entwicklungen und des sogenannten Neuen Kurses nicht mehr kommen. Die Vorgehensweise, die Umgehung der Religionsfreiheit und die Vorwürfe 20 21 22 23 24

Meller, Gemeinden, 92. Zu Hamel vgl. auch Stegmann / Theissen, Leben. Zitiert nach Meller, Kirche, 67 f. Lehmann, Jugendpolitik, 92. Meller, Kirche, 67 f. Saurbier, Interview mit Fritz Hoffmann anlässlich seines 90. Geburtstages, https://www.cvjmsachsen-anhalt.de/interview-mit-fritz-hoffmann/.

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erinnern an die Prozesse gegen Zeugen Jehovas: Auch hier gab es Inhaftierungen, Diskriminierungen, öffentliche Diskreditierungen und Aberkennung der religiösen Tätigkeit bis hin zur Kriminalisierung. Zu den geplanten großen Schauprozessen kam es aber nicht, da die Bekämpfung der Jungen Gemeinde nach dem Tode Stalins auf Anordnung der neuen sowjetischen Führung eingestellt werden musste. 1955 wurde in der DDR die Jugendweihe eingeführt. Damit gelang es der DDR-Staatsführung, den Einfluss und die Bedeutung der Jungen Gemeinde zunächst zu minimieren.

3. Antisemitismus Parallel zu einem Schauprozess gegen den ehemaligen tschechischen Innenminister Rudolf Sl#nsky´ und 13 weitere Personen – Kommunisten jüdischen Glaubens – als „Agenten einer weltweiten imperialistisch-zionistischen Verschwörung“, die zur Hinrichtung von Sl#nsky´ und 10 weiteren Angeklagten führten, begannen in der DDR antisemitische Repressionen. Paul Merker, ehemaliger Staatssekretär im Ministerium für Forst- und Landwirtschaft, wurde auf Anweisung des Politbüros durch das MfS festgenommen. Erneut bediente man sich der Presse: Im Neuen Deutschland und der Jungen Welt wurde über die „Lehren aus dem Prozeß gegen das Verschwörerzentrum Slansky“ berichtet und die verhafteten Paul Merker, der Staatsrechtler Leo Zuckermann und der Chefredakteur der Volkswacht Erich Jungmann des Zionismus bezichtigt. Paul Merker war über ein Jahr in der berüchtigten Untersuchungshaftanstalt des MfS in Berlin. Zur Verurteilung kam es durch den Tod von Stalin nicht mehr25.

4. Strafverfahren gegen Siegfried Schmutzler Wieder einige Jahre später wandte die DDR-Strafjustiz diese Vorgehensweise auch bei Studentenpfarrer Siegfried Schmutzler aus Leipzig an, der unter dem Vorwurf von feindlicher Diversion, Aufwiegelung und Spionage am 5. April 1957 von der Staatssicherheit festgenommen wurde. Die entsprechenden Ermittlungsverfahren führte die Linie IX des MfS; die Strafprozesse wurden von vom MfS handverlesenen Richtern geführt. Konkret warf man Schmutzler die Mobilmachung gegen Parteiorgane und Kontakte zu westdeutschen evangelischen Gemeinden vor. Demnach habe er in Leipzig eine illegale Gruppe geschaffen, „in der er die Hetze weiter betrieb und mit deren Hilfe er weite Kreise der Bevölkerung negativ beeinflusste. Dabei nutzte 25 Herf, Antisemitismus, 635–667. Vgl. ferner http://www.jstor.org/stable/44923999.

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er die sogenannte Studentengemeinde aus, aus deren Kreis er ,Vertrauensstudenten‘ auswählte. Diese Vertrauensstudenten waren mit dem Angeklagten gemeinsam der führende Kopf und somit die Leitung dieser illegalen Organisation.“ Sie hätten „in Vorträgen und Aussprachen eine systematische Hetze gegen unseren Staat betrieben“26. Am Ende des Schauprozesses wurde Schmutzler am 28. November 1957 durch das Bezirksgericht Leipzig wegen „Boykotthetze“ zu fünf Jahren Haft verurteilt. Nach knapp vier Jahren wurde Schmutzler vorzeitig aus dem Zuchthaus entlassen27. Auch im Fall Schmutzlers wurde die Presse herangezogen. So erklärte „Der Morgen“ vom 27. November 1957 unter der Überschrift „Agent im Priestergewand“: „Pfarrer Schmutzler organisierte Wühlarbeit gegen die DDR“, wobei er die „Seelsorge für politische und Nato-Hetze mißbraucht“ habe28.

5. Strafrechtsergänzungsgesetz (StEG) Aufgrund der extensiven Anwendung des Art. 6 kam es aber zunehmend zu Kritik vor allem aus dem Westen an dessen generalklauselartiger Formulierung bzw. der Ausdehnung auf Sachverhalte, die nicht einmal vom Wortlaut oder Sinn der Norm miterfasst waren. Daher wurde mit der Schaffung eines neuen Strafgesetzbuches in der DDR begonnen. Da die Ausarbeitung aber erhebliche Verzögerungen erfuhr, wurde ein „Zwischenrecht“ erlassen, welches zur „Ergänzung“ der strafrechtlichen Verfolgung politischer Gegner präziser formulierte Staatsschutzbestimmungen aufwies. So kam es am 1. Februar 1958 zur Einführung des Strafrechtsergänzungsgesetzes (StEG). Im Rahmen dieses Gesetzes fanden bei politischen Delikten vor allem § 14 (Spionage), § 15 (Sammlung von Nachrichten), § 16 (Verbindung zu verbrecherischen Organisationen oder Dienststellen) und § 19 (Staatsgefährdende Propaganda und Hetze) StEG Anwendung. Die daraus entstehenden juristischen Fragen waren, wie nun das Verhältnis zwischen den Regelungen des StEG zu Art. 6 sein würde und wie damit gegen vermeintliche Gegner des Sozialismus unter diesen neuen Vorzeichen argumentiert werden sollte. Und wieder musste ein Strafverfahren gegen die Zeugen Jehovas herhalten, um die neue Anwendung des Rechts zu erläutern. Dazu kam es am 28. Februar 1958 vor dem 1. Strafsenat des Obersten Gerichts. Das Gericht entschied nunmehr, dass die beiden angeklagten Zeugen Jehovas (ein Mann und eine Frau) wegen Spionage (§ 14 StEG) und fortge-

26 Zitiert nach Fricke, Opposition, 79. 27 Lipski, Schmutzler, 427–446. 28 Der Morgen, LDP, 27.11. 1957, https://esg-leipzig.de/uber-uns/geschichte-der-esg-leipzig/.

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setzter schwerer Hetze (§ 19 StEG Abs. 2 und 3 StEG) zu einer Gesamtstrafe von 4 Jahren Zuchthaus und 2 Jahren Zuchthaus verurteilt werden sollten29. Schließlich sah sich der 1. Strafsenat des Obersten Gericht der DDR am 23. Mai 1960 nochmals genötigt, auf die genaue Anwendung des Spionagetatbestandes bei den Zeugen Jehovas einzugehen: „Die Charakterisierung der verbrecherischen Tätigkeit der Organisation Zeugen Jehovas, wie sie mit dem Urteil des Obersten Gerichts vom 4. Oktober 1950 vorgenommen worden ist, hat in ihrer grundsätzlichen Art auch heute noch ihre Gültigkeit. Die streng zentralistisch aufgebaute Organisation dirigiert durch ihre Leitung in Brooklyn (USA) unter dem Vorwand religiöser Betätigung die Funktionäre und die Massen ihrer Anhänger nach Belieben und verfügt insgesamt über ein noch Tausende zählendes Heer, welches sie zur Spionage und Hetze befähigt. Ihre Betätigung besteht demnach nicht nur in der Organisierung ausgesprochener Spionage gegen das sozialistische Lager, sondern auch in Wühltätigkeit der verschiedenen Art, insbesondere staatsfeindlicher Propaganda und Hetze.“30

Die grundlegende Vorgehensweise der Strafjustiz hatte sich also in keiner Weise geändert. Am 12. August 1961, genau einen Tag vor dem Mauerbau, verurteilte das Bezirksgericht Cottbus den bereits 1954 durch das Bezirksgericht Cottbus nach Art. 6 zu 6 Jahren Zuchthaus verurteilten Zeugen Jehovas, Alfred Lohan, nunmehr nach StEG zu 3 Jahren Zuchthaus. In den Urteilsgründen heißt es: „An dieser Stelle muß nochmals betont werden, daß die Verurteilung des Angeklagten nicht etwa wegen eines religiösen Glaubens erfolgt, sondern einzig und allein wegen der staatsgefährdenden Propaganda und Hetze. Diese Feststellung ist deshalb notwendig, weil die staatsgefährdende Propaganda und Hetze durch die Sekte Zeugen Jehovas, der auch der Angeklagte wieder angehörte, unter dem Deckmantel der Religion betrieben wird. Die Hetze ist aber einmal darauf gerichtet, Bürger vom gesellschaftlichen Leben fernzuhalten und zum anderen gegen die sozialistische Ordnung aufzuwiegeln.“31

Diese Entwicklungen zeigen auf, dass Ende der 1950er Jahre die terroristische Phase der DDR-Strafjustiz und die Anwendung von Art. 6 der Verfassung als Strafnorm beendet wurde. Allerdings fand das Strafrechtsergänzungsgesetz in gleicher Weise wie Art. 6 der Verfassung Verwendung, um vermeintliche Gegner der DDR in den Religionsgemeinschaften als Staatsfeinde zu verurteilen, wenn auch mit niedrigeren Strafmaßen.

29 Dirksen, Keine Gnade, 641–643. 30 Ebd., 656. 31 Ebd., 670 f.

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6. Mauerbau 1961 Am 13. August 1961 wurde die Mauer gebaut. Die DDR holte nach dem Mauerbau nochmals aus, um nunmehr auch die letzten in der DDR existierenden Gegner zu vernichten. Eines dieser Verfahren wurde zu einem Vorfall auf dem Fahrgastschiff MS Binz abgeschlossen. In der Propaganda wurde dazu verkündet, zwölf Mitglieder einer Jungen Gemeinde aus Berlin hätten am 18. August 1961 das Ausflugsschiff mit 150 Passagieren vor Bornholm unter ihre Kontrolle gebracht, die Mannschaft überwältigt und sie gezwungen, die dänische Insel anzusteuern. Der Kapitän hätte jedoch noch einen Funkspruch abgesetzt, der dazu führte, dass ein Boot der Grenzeinheiten das Schiff vor Bornholm aufbrachte und in die DDR zurückführte. Hintergrund war : Das Ausflugsschiff MS Binz sollte an diesem Tag planmäßig Bornholm umrunden, um dann wieder nach Wolgast zurückzukehren. Wegen schlechten Wetters wurde die dänische Insel nicht angesteuert. Die Jugendlichen hatten ihre Enttäuschung darüber geäußert und zudem, eher scherzhaft, eine Notiz an den Kapitän geschrieben, er möge den Ausflug doch wie geplant durchführen. Der Kapitän ließ daraufhin Brücke und Maschinenraum sichern und verständigte die Sicherheitsorgane an Land32. Ein Schauprozess wurde initiiert, den das Bezirksgericht Rostock schnell abwickelte. Es sprach bereits am 5. September 1961 alle zwölf Angeklagten schuldig und verurteilte die beiden „Rädelsführer“, die als „NATO-Kirchensöldlinge“ bezeichneten Studenten Dietrich Gerloff und Jürgen Wienert, zu je acht Jahren Zuchthaus. Tatsächlich wurde dieses Verfahren in der Berufungsinstanz auch nochmal vor dem Obersten Gericht der DDR verhandelt, wo die Verurteilung wegen staatsgefährdender Propaganda und Hetze sowie Nötigung nach § 19 Abs. 1 Ziff. 2, Abs. 2 und 3 StEG bestätigt und die Berufung verworfen wurde. Im September 1963 wurden sie vorzeitig entlassen33. Am 25. Februar 1963 wurde vom MfS ein Operativer Zentralvorgang (ZOV) unter dem Decknamen „Sumpf“, Reg. Nr. XV/988/63, mit dem Ziel eingeleitet, die seit dem 13. August 1961 in der DDR tätige Leitung der Zeugen Jehovas zu liquidieren. Insgesamt wurden im Rahmen dieser Aktion schließlich acht Strafverfahren gegen Zeugen Jehovas vor unterschiedlichen Bezirksgerichten geführt. Obwohl das durchschnittliche Strafmaß bei der Verurteilung der Zeugen Jehovas im Verhältnis zu den 1950er Jahren schon erheblich gesunken war, wurden in den Verfahren 1966 nochmals sehr hohe Strafen ausgesprochen34. 32 Heinz / Kr-tzner, Verurteilt wegen „staatsgefährdender Hetze“ – Reaktionen auf den Mauerbau im Bezirk Rostock, 6–8, https://www.stasi-unterlagen-archiv.de/assets/bstu/de/Down loads/staatsfeindliche-hetze_rostock.pdf. 33 Ebd. 34 Dirksen, Keine Gnade, 680–691. Vgl. ferner Masuch, Doppelstaat; Hirch, Glaubensgemeinschaft.

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Dennoch hat der Mauerbau am 13. August 1961 der DDR eine gewisse innere Festigung verliehen. Daher war die DDR intern durchaus an politischer Entspannung interessiert, und der strafpolitische Kurs der Justiz wurde allmählich abgemildert. Nachdem die SED meinte, die sich nach dem 13. August 1961 noch regenden letzten oppositionellen und regimefeindlichen Kräfte in der Bevölkerung eliminiert oder wenigstens unter Kontrolle gebracht zu haben, orientierte sie die politische Justiz erneut auf eine stärker differenzierende Strafpolitik. Die schon früher eingeleitete Zeit der sogenannten Friedlichen Koexistenz, in der keine offensichtliche Minderheitenverfolgung mehr nach außen bekannt werden sollte, war jedoch Mitte der 1960er Jahre fortgeschritten. So lässt sich nach der Verurteilung der Mitglieder der „Illegalen Leitung“ 1966 keine systematische Strafverfolgung der Zeugen Jehovas durch das MfS und die Bezirksgerichte wegen religiöser Glaubenstätigkeit mehr feststellen. Sonstige Repressionen und die Verurteilungen wegen Wehrdienstverweigerung wurden allerdings fortgesetzt und intensiviert. Insofern änderte der Mauerbau zunächst nichts an der Verfolgung insbesondere von Glaubensanhängern der Zeugen Jehovas, wie auch einzelner Angehöriger anderer Glaubensgemeinschaften.

7. Strafgesetzbuch 1968 Mit dem „sozialistischen“ Strafgesetzbuch, das am 1. Juli 1968 wirksam und in den 1970er und 1980er Jahren mehrmals – meist strafverschärfend – geändert und ergänzt wurde, erfolgte eine erhebliche Erweiterung der schon bestehenden Tatbestände, einige neue kamen hinzu. Die politische Strafjustiz verlor allerdings seit Mitte der 70er Jahre zunächst an Bedeutung. Die SEDFührung war im Zuge ihre Bemühungen um internationale Anerkennung bestrebt, es möglichst nicht mehr zu Prozessen mit Urteilen kommen zu lassen, die offensichtlich mit den Maßstäben eines Rechtsstaates nichts zu tun hatten und im westlichen Ausland Proteste und Kritik hervorrufen konnten. Nun versuchte sie, politische Gegner bereits vor einem Strafprozess auszuschalten – durch den massiven Einsatz des Ministeriums für Staatssicherheit mit seinem riesigen Heer hauptamtlicher und Inoffizieller Mitarbeiter.

8. Oppositionelle Bewegungen Im Zusammenhang mit der Wehrdienstfrage und der Bausoldatenregelung wie auch mit der Einführung des Wehrunterrichts 1978 entwickelte sich Friedensbewegungen im kirchlichen Umfeld. So formierten sich bereits Anfang der 1970er Jahre unter ehemaligen Bausoldaten erste Friedenskreise mit

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ihnen mehrten sich die Proteste35. So ließ am 25. Juni 1978 die evangelische Kirche in allen Kirchengemeinden ein „Wort an die Gemeinden“ verlesen: „Die Konferenz befürchtet, daß durch die Einführung von obligatorischem Wehrunterricht die Erziehung zum Frieden im Bewußtsein gerade von Jugendlichen ernsten Schaden leidet und die Glaubwürdigkeit der Friedenspolitik der DDR in Frage gestellt wird.“36 Eingaben aus den Kirchengemeinden folgten37. Bei der Entwicklung der Friedensbewegung spielte die „Junge Gemeinde Stadtmitte“ in Jena eine wichtige Rolle. Schon 1976 mit der Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann hatte sich hier Protest formiert, gegen den mit Inhaftierungen hart durchgegriffen wurde. Das wiederum führte dazu, dass sich auch andere im nichtkirchlichen Rahmen mit Protestbriefen und Unterschriftsaktionen engagierten. Und nachdem der aus der Oberlausitz stammende Matthias Domaschk, der dann der Jungen Gemeinde Jena-Stadtmitte angehörte und Lesekreise organisierte wie auch Samisdat-Publikationen verbreitete, am 12. April 1981 unter bisher ungeklärten Umständen in der Untersuchungshaft der Staatssicherheit starb, was als Selbstmord dargestellt wurde, entwickelte sich konkreter politischer Widerstand38. So Roland Jahn, der im September 1982 mit einer an seinem Fahrrad befestigten polnischen Staatsflagge und der Aufschrift „Solidarnos´cˇ, z polskim nrodem“ durch Jena fuhr, daraufhin wegen „Mißachtung staatlicher Symbole“ verhaftet und am 17. Januar 1983 vom Bezirksgericht Gera wegen Verstoß gegen § 220 StGB „Öffentliche Herabwürdigung der staatlichen Ordnung“ zu 1 Jahr und 10 Monaten Gefängnis verurteilt wurde. Aufgrund von Protesten aus dem Westen wurde er dann aber doch wieder freigelassen39. Bei der offiziellen Gründung der Friedensgemeinschaft Jena im März 1983 außerhalb der Kirchen wurde erklärt: „Wer sind wir: Solidargemeinschaft – bestehend aus Christen, Atheisten, konfessionell Ungebundenen, keine politische Organisation, ohne Leitung, ohne eingeschriebene Mitglieder.“40 Damit war auch klar, dass es sich hier nicht mehr nur um religiöse Belange handelte. Gleichwohl waren in den sich entwickelnden Umwelt-, Menschenrechts-, Frauen- und „Dritte-Welt“-Gruppen viele evangelische Christen vertreten. Dezidiert politisch-alternative und damit von der SED als hochgradig oppositionell eingestufte Gruppen gab es einige, unter ihren Mitgliedern auch Christen. Diese Gruppen traten oft für die Demokratisierung der DDR ein. Sie forderten die Einhaltung der Bürgerrechte, demokratische Wahlen, eine Entmi35 Vgl. Neubert, Geschichte. 36 Zitiert nach Dirksen, Augenhöhe, 158. Vgl. ferner Gassert / Geiger / Wentker, Zweiter Kalter Krieg. 37 Vgl. hierzu den Online-Artikel über Roland Jahn von der Bundeszentrale für politische Bildung und der Robert-Havemann-Gesellschaft e. V., https://www.jugendopposition.de/145512. 38 Vgl. Pietzsch, Jugend. 39 Vgl. Jahn, Gift, 68–77. http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-14018844.html. 40 Praschl, Jahn, 69.

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litarisierung der Gesellschaft sowie Reisefreiheit und grenzten sich von den „Ausreisewilligen“ ab, die kein Interesse an einer Reform der DDR hatten, sondern nur schnell das Land verlassen wollten. Im kirchlichen Kontext sei hier beispielhaft auf die Friedensarbeit und die Bluesmessen Berliner Friedenskreise hingewiesen. Besonderen Anstoß erregten die gutbesuchten Bluesmessen mit Rainer Eppelmann, deren Verbot man erwog, aber nicht umsetzte41. Aufgrund der Behinderungen und auf der Suche nach Betätigungsmöglichkeiten suchten oppositionelle Gruppen oft Schutz unter dem Dach der Kirchen. Eine interessante Entwicklung nahm es mit der wohl bekanntesten Samisdat „grenzfall“ der im Januar 1986 gegründeten Bürgerbewegung Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM) mit ihrer Forderung nach Frieden, Menschenrechten und demokratischen Veränderungen im Land. Gedruckt wurde das Blatt u. a. in den Räumen der Zionskirche durch die ebenfalls 1986 gegründete Umweltbibliothek in der Zionskirche Berlin. Durch Spitzel der Staatssicherheit wurden die Strukturen aufgedeckt und sieben Mitglieder der Gruppe im November 1987 auf der Grundlage des § 218 StGB, Zusammenschluss zur Verfolgung gesetzeswidriger Ziele verhaftet. Nur noch zwei Ausgaben des Blattes erschienen in Berlin. Im März 1987 hatte das MfS den OV „Bibliothek“ gegen die Umweltbibliothek eröffnet. Insofern muss hier unterschieden werden zwischen religiöser und oppositioneller Tätigkeit.

9. Schlussbetrachtung Es gab eine Rechtsverfolgung von Christen durch die DDR-Justiz allein wegen ihrer Religionsausübung beginnend 1950 mit dem großen Schauprozess gegen die Zeugen Jehovas bis Mitte der 1960er Jahre. Ab den 1960er Jahren bis 1985 kam die Strafverfolgung gegen Wehrdienstverweigerer hinzu. Seit Ende der 1970er Jahre formierte sich aus der zusammengeschrumpften kirchlichen Jugend, kirchlichen Mitarbeitern und Theologen eine Opposition, aus der 1989 die Bürgerbewegungen entstanden. Auch diese Gruppierungen wurden strafrechtlich verfolgt. Es muss differenziert werden zwischen der Strafverfolgungen wegen der Ausübung einer Religion bzw. aus Gewissensgründen und andererseits der Strafverfolgung von politisch motivierten Straftaten, die von Christen begangen wurden. Diese Delikte werden auch von demokratischen Rechtsstaaten verfolgt. Da die DDR-Justiz aber auch rein religiös motivierte Handlungen mit dem Mitteln des politischen Strafrechts als Angriffe auf den Sozialismus und den Staat bewertete, wird es schwer sein, eine genaue Bezifferung der Religionsverfolgung in der DDR vorzunehmen. 41 Ebd., 125–129.

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Aufgrund bereits existierender Forschungen kann zumindest gesagt werden, dass in der DDR in der Zeit von 1945 bis 1987 über 6.000 Zeugen Jehovas verhaftet wurden, von denen mindestens 5.000 zu Strafhaft verurteilt wurden. In dieser Zahl sind mindestens 2.250 Verurteilungen wegen Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen enthalten42.

Quellen- und Literaturverzeichnis I. Unveröffentlichte Quellen Bundesarchiv, Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (BArch SAPMO) Bestand DY 30/J IV 2/2/259, Bl. 27–32

II. Veröffentlichte Quellen und Darstellungen Besier, Gerhard: Jehovas Zeugen in Deutschland. In: Ders. / Katarzyna Stokłosa (Hg.), Jehovas Zeugen in Europa (Geschichte und Gegenwart 3). Berlin 2018, 129–268. – / Wolf, Stephan (Hg.): „Pfarrer, Christen und Katholiken“. Das Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen DDR und die Kirchen. Neukirchen 1991. Der Morgen, LDP, 27.11. 1957. In: https://esg-leipzig.de/uber-uns/geschichte-deresg-leipzig/ [22.12. 2022]. Dirksen, Annegret: Auf Augenhöhe mit den Zentren der DDR-Opposition. Die Entwicklungen zur Friedlichen Revolution in der Oberlausitz. In: Silesia Nova. Vierteljahrsschrift für Kultur und Geschichte 12 (2015), H. 3–4, 14–201. –: Die Steuerung der Presse zur Kriminalisierung der Zeugen Jehovas in der SBZ / DDR. Zur Forschung über die Bekämpfung und Ausgrenzung der Zeugen Jehovas. In: Gerhard Besier / Clemens Vollnhals (Hg.): Repression und Selbstbehauptung. Die Zeugen Jehovas unter der NS- und SED-Diktatur (ZGF 21). Berlin 2003, 83–114. Dirksen, Hans-Hermann: „Keine Gnade den Feinden unserer Republik.“ Die Verfolgung der Zeugen Jehovas in der SBZ / DDR 1945–1990 (ZGF 10). Berlin 22003. Fricke, Karl Wilhelm: Opposition und Widerstand in der DDR. Köln 1984. Garbe, Detlef: Zwischen Widerstand und Martyrium. Die Zeugen Jehovas im „Dritten Reich“ (Studien zur Zeitgeschichte 42). München 41999.

42 Vgl. Dirksen, Keine Gnade, 920–932.

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Gassert, Philipp / Geiger, Tim / Wentker, Hermann: Zweiter Kalter Krieg und Friedensbewegung: Der NATO-Doppelbeschluss in deutsch-deutscher und internationaler Perspektive (VZG.S Sondernummer). München 2011. Gursky, Andr8: Vorgang „Riga“. Die „Bearbeitung“ eines evangelischen Studentenpfarrers 1953 in Halle (Saale) durch das Ministerium für Staatssicherheit. Magdeburg 1998. Heinz, Michael / Kr-tzner, Anita: Verurteilt wegen „staatsgefährdender Hetze“ – Reaktionen auf den Mauerbau im Bezirk Rostock, 6–8. In: https://www.stasi-unter lagen-archiv.de/assets/bstu/de/Downloads/staatsfeindliche-hetze_rostock.pdf [22.12. 2022]. Herf, Jeffrey : Antisemitismus in der SED. Geheime Dokumente zum Fall Paul Merker aus SED- und MfS-Archiven. In: VZG 42 (1994), H. 4, 635–667. Hirch, Waldemar : Die Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas während der SEDDiktatur. Unter besonderer Berücksichtigung ihrer Observierung und Unterdrückung durch das Ministerium für Staatssicherheit. Frankfurt a. M. 2003. Jahn, Roland: „Du bist wie Gift“. In: Der Spiegel, Nr. 26/83, 68–77. In: http://www. spiegel.de/spiegel/print/d-14018844.html [22.12. 2022]. Junge Welt: April 1953, Sonderausgabe, 1. –: Ausgabe vom 10.4. 1953. –: Ausgabe vom 15.4. 1953. Kwiatkowski-Celofiga, Tina: Verfolgte Schüler. Ursachen und Folgen von Diskriminierung im Schulwesen der DDR (Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung 54). Göttingen 2014 Lehmann, Steffi: Jugendpolitik in der DDR. Anspruch und Auswirkungen (Extremismus und Demokratie 35). Baden-Baden 2019, 126–252. Meller, Christina: Die Jungen Gemeinden in der DDR am Beispiel der Evangelischen Studentengemeinde Halle. In: Hallische Beiträge zur Zeitgeschichte 13 (2003), 63–96. Lipski, Stephan: Der „Fall Dr. Schmutzler“ und die Evangelische Studentengemeinde. Ein Kapitel der SED-Kirchenpolitik 1954–1958. In: KZG 6 (1993), 427–446. Masuch, Christina: Doppelstaat DDR. Eine Untersuchung anhand der Verfolgungsgeschichte der Zeugen Jehovas in der SBZ / DDR 1945–1990 (Berliner Juristische Universitätsschriften 48). Berlin 2009. Meller, Anne-Kathrin u. a.: Kirche in der DDR. Materialien und Anregungen. In: AKD: Pädagogisch-Theologisches Institut (Hg.): zeitspRUng Sonderheft. Kirche in der DDR. Berlin 2012, 65–79. Meller, Christina: Die Jungen Gemeinden in der DDR am Beispiel der Evangelischen Studentengemeinde Halle. In: Die Hallischen Beiträge zur Zeitgeschichte 13 (2003), 63–96. Neubert, Ehrhart: Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989 (Bundeszentrale für Politische Bildung 346). Berlin 21998. Pietzsch, Henning: Jugend zwischen Kirche und Staat. Geschichte der kirchlichen Jugendarbeit in Jena 1979–1989. Köln 2005.

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Heiner Bröckermann

Das Thema der Wehr- und Waffendienstverweigerer innerhalb der NVA und im Nationalen Verteidigungsrat der DDR Der rote Faden der Geschichte der DDR zeigt sich für Historikerinnen und Historiker oftmals bei der Suche nach der Macht der Partei, dem cui bono oder besser dem immer geltenden in dubio – pro SED. Und auch bei Fragen der Militärgeschichte der DDR hat das Thema der „Justiz“ seine Berechtigung, da alle Ansprüche des Staates auf dem Gebiet der Landesverteidigung mit Gesetzen, Verordnungen und Regelungen bis in die 1980er Jahre vor allem diejenigen betrafen, die außerhalb der bewaffneten Organe standen. Der Journalist Karl-Wilhelm Fricke gilt als einer der profiliertesten Kenner der ostdeutschen Diktatur. Er hat treffende Worte über dieses besondere Verhältnis von Parteimacht und Justiz in der DDR gefunden: „Die normative Kraft des Faktischen war in der DDR zu allen Zeiten stärker, als die faktische Kraft des Normativen.“1 Und doch war die SED erstaunlich kleinteilig bemüht, ihrem „Rechtsstaat“ die Führung durch die Partei mit Gesetzen und Normen lückenlos einzuimpfen; Parteimacht und Unrecht verschmolzen zu sozialistischen Rechtsnormen ostdeutscher Prägung. Das Thema des christlichen Widerstands und den entsprechenden staatlichen Gegenmaßnahmen kann in vielen Facetten und Abstufungen betrachtet werden. Im Kontext von Wehr- und Waffendienstverweigerern direkt einen „christlichen Widerstand“ zu sehen, ist dennoch auf den ersten Blick ungewöhnlich. Scheint es doch mehr um das „Sich-dem-Staat-entziehen“ zu gehen, als um einen Widerstand gegen den Staat. Und doch ist die Wehrdienstverweigerung eine so konsequente Absage gegenüber dem Anspruch des Staates und der Gemeinschaft auf Leben und Handeln der Bürger, dass es aus der Perspektive der SED als Aggression und Verrat an der propagierten Idee vom Friedensstaat DDR gewertet werden musste. Andererseits war für viele Christen die DDR der Unterdrücker, ja der Feind des Christentums, dem man nicht auch noch zu seiner Erhaltung beispringen wollte. Das war etwas, was durchaus nicht mit den Kriegsdienstverweigerern im Westen vergleichbar war. Die Frage, was mehr motivierte, das „Du-sollst-nicht-töten-Gebot“ oder das aus dem persönlichen Erleben gebotene „Du-sollst-dieser-SED-nichthelfen“ durchzieht, wie es scheint, einige Biografien der ersten Wehrpflichtigen-Generation der 1960er Jahre. Hierzu hat auch der Historiker und DDR1 Fricke, Strafjustiz, 52; Brçckermann, Landesverteidigung, 546 f., 559.

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Oppositionelle Bernd Eisenfeld die Wehrdienstverweigerung als Opposition beschrieben2.

1. Wehrdienst als Bürgerpflicht und Bürgerrecht Die Allgemeine Wehrpflicht war in Deutschland ein Kind des 19. Jahrhunderts. Die Idee der Volksbewaffnung basierte dabei in Anlehnung an Gedanken der Französischen Revolution auf einer enthusiasmierten Bürgerschaft. Mit der für die Kriegsführung benötigten Masse sollte dabei auch eine gewisse Klasse und Qualität von Grundüberzeugungen einhergehen. Nach dem preußischen Militärreformer General Gerhard von Scharnhorst war jeder Bürger bei entsprechender Überzeugung und Wertschätzung immer auch ein „geborener Verteidiger“ des Vaterlandes. Aus dem Zweiklang der Pflicht für Gott und König wurde durch den Begriff Vaterland eine moderne Trinität im Übergang. Bis zum Ende der Wehrpflicht in Deutschland sollte sich die Verteidigung des Vaterlands zuweilen mit selbstreferentiellen Bezügen als stärkste Formel erweisen, während Herrschaftsform, Ethik sowie Werte in den Vaterlandsbegriff inkludiert wurden und ihn damit sogar überhöhen konnten. Der Wehrdienst wurde in der DDR tatsächlich immer mehr als Bürgerrecht, denn als Bürgerpflicht angelegt. Die deutsche Linke war dabei traditionell eine Linke sowohl in der Defensive als auch in der Offensive; zuweilen verdeckt, zuweilen offen bis zum Bürgerkrieg. Kämpfen gehörte zum „Linkssein“; das war beizeiten eine geeignete Form des Bekenntnisses zu den Zielen dieser Bewegung. Andererseits gab es in der jungen DDR auch immer einen Personalmangel an jungen und qualifizierten Menschen, die für die Ziele des Staates eingesetzt werden konnten. Er war in vielerlei Hinsicht selbstgemacht, darauf soll hier nicht eingegangen werden. Mit Verfassungsergänzungen der Artikel 5 und 112 wurden im September 1955 früh die Grundlagen einer Einführung der Wehrpflicht gelegt, dabei bereits die klassischen zwei Aufgaben der Landesverteidigung implementiert, nämlich der „Schutz des Vaterlandes“ und der „Schutz der Errungenschaften der Werktätigen“. Schon hier zeigte sich ein ideologisches Junktim der Herrschaft der SED. 1955 war die Verfassung daher bereits so ergänzt, dass der Dienst als eine „ehrenvolle nationale Pflicht der Bürger der Deutschen Demokratischen Republik“ galt. Die NVA begann 1956 bekanntlich als Freiwilligenarmee mit erheblicher Unterstützung aus den Reihen der FDJ und der SED. Dies hatte den Charakter der Parteiarmee bereits früh gefestigt, wurde propagandistisch gegen die Bundeswehr genutzt und hatte einer gewünschten Ausprägung des sogenannten Klassenprinzips in den sozialistischen Streitkräften etwas mehr Raum gegeben. Wer in den 1950er Jahren freiwillig und doch oft mit einigem Druck zur NVA kam, hatte meist 2 Vgl. Eisenfeld, Wehrdienstverweigerung, 241–256.

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folgenden Hintergrund: 17 bis 20 Jahre alt, Volksschule mit Beruf, ledig und aus der Arbeiterklasse. Der Hauptgrund für das Ausbleiben der Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht war jedoch bis 1961 die offene Grenze, die der Durchsetzung eines Pflichtdienstes entgegenstand. Doch ohne Wehrpflicht schwand die Basis für die NVA, denn in den Jahren bis 1961 waren besonders viele Jugendliche und junge Erwachsene unter den Flüchtlingen nach dem Westen. Für manche Jugendliche wurde die unter Druck entstandene Bereitschaftserklärung zum freiwilligen Dienst in der NVA auch Anlass zur Flucht3.

2. Wiederbewaffnung mit Militärseelsorge In der Bundesrepublik Deutschland war bereits am 22. Februar 1957 der „Vertrag der Evangelischen Kirche in Deutschland mit der Bundesrepublik Deutschland zur Regelung der evangelischen Militärseelsorge“ geschlossen worden. Militärseelsorger waren daraufhin in die westdeutschen Streitkräfte eingeführt worden. Den Vertrag unterzeichneten für die EKD der Ratsvorsitzende Bischof Otto Dibelius, der Präsident der Kirchenkanzlei Heinz Brunotte sowie Bundeskanzler Konrad Adenauer und Verteidigungsminister Franz Josef Strauß. Ein Vertrag mit der katholischen Kirche folgte. Adenauer, Strauß, Kirche und Armee – man kann es sich schon denken: Diese ersten Schritte wurden von der NVA vor allem ideologisch eingeordnet und damit ethisch entwertet. Trotzdem vermied die DDR in dieser Zeit in der Propagandaarbeit das Thema der Militärseelsorge hinsichtlich der ansonsten als „NATO-Kirche“ diffamierten Glaubensgemeinschaft4. Dabei hätte die NVA damals durchaus von der Militärseelsorge im Westen Ideen aufnehmen können. Denn der erste evangelische Militärbischof für die Bundeswehr Hermann Kunst hatte angeregt, mit der Heidelberger Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) ab 1957 Fragen der „theologischen Implikationen des durch die Atomwaffen revolutionierten Kriegsbildes“ zu erforschen. Den Vorsitz der interdisziplinären Kommission führte der Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker. Das Ergebnis waren die „Heidelberger Thesen“ von 1959. Die These VI, die Komplementaritätsthese, in Verbindung mit den Thesen VII und VIII eröffnete einen Ausgleich, da sowohl der Dienst mit der Waffe als auch die Verweigerung des Wehrdienstes als anteiliges Wirken am Frieden gesehen werden konnten. Dagegen zerstörte die 1965 von der ostdeutschen Kirche geschaffene „Handreichung für Wehrpflichtige“ mit der ethischen Höherbewertung der

3 Vgl. Wenzke, Soldaten, 119–121, 127, 307–309. 4 Vgl. ebd., 187, 191–194, 353 f.

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Verweigerung den bis dahin herrschenden theologischen Konsens in der deutschen evangelischen Kirche5. In der DDR gab es letztlich keine Übereinkunft von Kirche und Staat in Fragen der Militärseelsorge. An Angeboten seitens der Kirche hatte es in den 1950er Jahren nicht gefehlt. DDR-Verteidigungsminister Generaloberst Willi Stoph schrieb abschließend am 4. März 1957 an Bischof Otto Dibelius, dass „bisher von keinem Angehörigen der Nationalen Volksarmee das Bedürfnis nach ,Seelsorgerischer Betreuung durch Wehrmachtpfarrer‘ geäußert worden ist“. Es bestünde demnach keine „Notwendigkeit“ und eine „Gleichsetzung“ der beiden deutschen Streitkräfte verböte sich im Übrigen6.

3. Mauerbau, Wehrpflicht und Herausforderung der Kirchen Dann kam der Mauerbau vom 13. August 1961, der auch für die Phase des Aufbaus und der Professionalisierung der NVA im Rahmen des Warschauer Paktes als eine Zäsur wirkte. Wieder war es zunächst die FDJ, die die neue Lage für ein Werbe-Aufgebot nutzte und zwar unter dem Titel: „Das Vaterland ruft! Schützt die sozialistische Republik!“7 Doch schon am 28. August 1961 beschloss der Nationale Verteidigungsrat der DDR [NVR] unter dem Vorsitz von Walter Ulbricht die Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht und leitete den Gesetzgebungsprozess ein. Das Protokoll der Sitzung führte der Sekretär des NVR Erich Honecker. Der Verteidigungsminister Armeegeneral Heinz Hoffmann hatte damals zu Fragen der Verteidigungsbereitschaft der DDR vorgetragen und das neue Verteidigungsgesetz sowie das Gesetz über die Allgemeine Wehrpflicht präsentiert. Schon im Entwurf des Verteidigungsgesetzes, das die Volkskammer am 20. September 1961 verabschiedete, wurde die Bedeutung der Verteidigung als „historische Aufgabe und Pflicht der deutschen Arbeiterklasse und aller patriotischen Kräfte“ definiert. An die Spitze des Wehrpflichtgesetzes trat wiederum die Verfassungsergänzung aus dem Jahre 1955 zur „Erfüllung der ehrenvollen nationalen Pflicht, das Vaterland und die Errungenschaften der Werktätigen zu schützen“. In den Sitzungen des NVR

5 Vgl. Dçrfler-Dierken, Friedensbewegung, 422 f. Die Thesen 6 bis 8 lauten: „These 6: Wir müssen versuchen, die verschiedenen im Dilemma der Atomwaffen getroffenen Gewissensentscheidungen als komplementäres Handeln zu verstehen. These 7: Die Kirche muss den Waffenverzicht als eine christliche Handlungsweise anerkennen. These 8: Die Kirche muss die Beteiligung an dem Versuch, durch das Dasein von Atomwaffen einen Frieden in Freiheit zu sichern, als eine heute noch mögliche christliche Handlungsweise anerkennen.“ Vgl. hierzu Werkner, Aktualität; Scheffler, Friedensdienst, 609–615; zur Diskussion in der Bundesrepublik Deutschland vgl. die Arbeit von Meyer-Magister, Wehrdienst. 6 Zum Schreiben vgl. das Zitat bei Wenzke, Soldaten, 354. 7 M-hlert, Hemden, 140.

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vom 29. November und 30. Dezember 1961 wurde die neue Wehrgesetzgebung für das Jahr 1962 weiter besprochen8. Leider sind keine ausführlichen Wortprotokolle des NVR in den 1960er Jahren erstellt und erhalten worden, sondern eher nur dürftige Ergebnisprotokolle der Zeit. Armeegeneral Hoffmann begründete allerdings die Wehrgesetzgebung ebenfalls vor der Volkskammer, was sich vermutlich im Kern nicht von seinen Ausführungen im NVR unterscheiden dürfte. Hoffmanns Ansichten wurden in der Feststellung zusammengefasst: „Wer die DDR verteidigt, verteidigt den Frieden.“9 Gleichzeitig wurde die kritische Haltung der Jugend vom Ministerium für Staatssicherheit in Auswertungen für die höhere Führung registriert, so im September 1961 in Gera mit der Auflistung von Meinungen und Fragen aus der Jugend, die als Folge des intensiven Werbens für den freiwilligen Dienst in der NVA gesehen wurden: „Wir nehmen keine Waffe in die Hand – Waffe ist Waffe. – Die Warschauer Partner sollen unseren Schutz organisieren. – Wir schießen nicht auf unsere Brüder und Schwestern. – Wozu brauchen wir eine verstärkte Armee, wenn wir den Frieden wollen? – Wir gehen nur zur Armee, wenn die Wehrpflicht eingeführt wird. – Unter christlichen Jugendlichen – vor allem in Jena – wird die Meinung vertreten, sie seien aufgrund ihres Glaubens zur Wehrdienstverweigerung verpflichtet.“10

Während im Westen die Bundeswehr von Anfang an Fragen der Wehr- und Kriegsdienstverweigerung berücksichtigen musste, war die Wehrdienstverweigerung in der Konzeption der Wehrpflichtarmee NVA 1962 nicht vorgesehen. Sie wurde in der DDR offiziell nicht geduldet und war nach § 32 Wehrpflichtgesetz in vielerlei Hinsicht strafbewehrt. Demnach musste das Militärstrafrecht der DDR angepasst werden. Das „Zweite Gesetz zur Ergänzung des Strafgesetzbuches, Militärstrafgesetz“ vom 24. Januar 1962 zielte auf die Erziehung zum „Klassen- und Staatsbewusstsein“ und ihm wurde in der damaligen Diktion eine „vorbeugende und erzieherische Funktion zur Überwindung noch vorhandener Reste kleinbürgerlicher Lebensgewohnhei8 Vgl. Protokoll der 7. Sitzung des NVR, 28.8. 1961 (BArch-MA Freiburg, DVW 1/39464, Bl. 2, Bl. 15 und Bl. 27); vgl. auch den Text des Gesetzes über die allgemeine Wehrpflicht (Wehrpflichtgesetz) vom 24.1. 1962, § 1; Protokoll der 8. Sitzung des NVR, 29.11. 1961 (BArch-MA Freiburg, DVW 1/39465, Bl. 9); Protokoll der 9. Sitzung des NVR, 30.12. 1961 (BArch-MA Freiburg, DVW 1/39466, Bl. 2–4). Der sowjetische Parteichef, Nikita Chrusˇcˇ[v, hat Ulbricht in einem Schreiben darauf verwiesen, dass sich die Dauer des Wehrdienstes aus Gründen der Propaganda nicht von der Dienstzeit in der Bundeswehr unterscheiden sollte. Vgl. Wenzke, Soldaten, 309. 9 Vgl. den Leitartikel in Neues Deutschland, 21.9. 1961, 1. 10 Bericht Nr. 600/61 über die im Zusammenhang mit den Schutzmaßnahmen der DDR aufgetretenen politisch-operativen Schwerpunkte im Bezirk Gera vom 28.9. 1961 (BArch Berlin, MfS, ZAIG 478, 4. Expl., 127–139).

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ten, die in Verstößen gegen die militärische Disziplin und Ordnung ihren Ausdruck finden“11 beigemessen. Dazu war sowohl im Wehrdienstgesetz als auch im Militärstrafgesetz eine doppelte Aufgabe der NVA verankert, die neben der klassischen Schutz- und Verteidigungsfunktion gleichermaßen der „Sicherung des Friedens“ dienen sollte. Nach Artikel 30 der Verfassung der DDR sollten Kirchen und Religionsgemeinschaften „ihre Tätigkeit in Übereinstimmung mit der Verfassung und den gesetzlichen Bestimmungen der Deutschen Demokratischen Republik“ ausüben. Nach dem Mauerbau 1961 galt es aus der Perspektive der SED für die Bürgerinnen und Bürger, zum Staat DDR zu stehen oder mindestens mit einem gewissen Sinn für die neuen Realitäten, dem Staat nicht das zu verweigern, was er verlangte. Durch die Ausbürgerung des gemäßigten Nachfolgers von Otto Dibelius als Ratsvorsitzender der EKD Präses Kurt Scharf am 31. August 1961 hatte die SED die Kirche verunsichert. Und mit der Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht in der DDR im Jahr 1962 fühlten sich Christen binnen kurzem von der Staatsmacht erneut herausgefordert. Mit Blick auf wiederkehrende Fragen zur Jugendweihe schien zudem die Zeit gekommen zu sein, der SED und den Kirchenmitgliedern Standpunkte aus den Kirchenleitungen zu übermitteln. Wehrdienst sollten Christen nur leisten, wenn sie es mit ihrem Gewissen vereinbaren konnten. Der katholische Bischof von Berlin, Alfred Bengsch, hatte 1962 schnell, aber resigniert seine Ansichten zur Wehrpflicht in einem Brief an die Berliner Ordinarienkonferenz ausgedrückt. Er verglich auch den Konflikt des Fahneneides mit der Frage der Jugendweihe. Den Kampf gegen die Durchsetzung der Wehrpflicht würde der kirchliche Widerstand nicht gewinnen können, da in dieser Frage der Staat zu härterem Vorgehen gegen die Kirche herausgefordert würde. In der unmittelbaren Folge reagierte die Ordinarienkonferenz nach außen mit einer zurückhaltenden Kritik und einer Anerkennung der Realitäten. Letztlich wurde als Minimalkonsens festgehalten, dass während des Dienstes die freie Religionsausübung gewährleistet bleiben solle. Daran änderten auch die vom Meißener Bischof Otto Spülbeck angestoßenen Reflexionen der Papstschriften „Pacem in terris“ und „Gaudium et spes“ im Rahmen der Meißener Synode ab 1969 in Dresden nichts12. Die Einführung der Wehrpflicht am 24. Januar 1962 bedeutete nicht zugleich die Einführung einer Verweigerungsmöglichkeit oder einer Alternative zum Waffendienst. Die Kirchen in der DDR, nach dem Mauerbau nun in einer neuen Lage auf sich bezogen, berieten sich intern. Zur Frage nach dem persönlichen Beistand und der Unterstützung kamen Fragen zum erforderlichen Ausmaß einer öffentlichen Reaktion hinzu. Zu den bekanntesten Stellungnahmen gehörte damals die Erklärung der Ostberliner Regionalsynode unter der Überschrift „Für die Respektierung echter Gewissensgründe“ vom 11 Prinz, Einfluss, 272 f. 12 Vgl. Wenzke, Soldaten, 363 f.; Thurau, Friedensbewegung, 525 f.

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16. März 196213. Und im März 1963 erschienen die „Zehn Artikel über Freiheit und Dienst der Kirche“14. Der Artikel V „Versöhnung und Friede“ war dabei eine deutliche Stellungnahme gegen den Wehrdienst in der DDR und zugleich ein Bekenntnis zu den seelsorgerischen Aufgaben in den Gemeinden, die auch die dienstleistenden Wehrpflichtigen einschloss und deren Gewissenskonflikt dabei voraussetzte: „Gott hat durch Jesus Christus, den Gekreuzigten und Auferstandenen, Frieden gemacht mit der Welt. Christus ist unser Frieden. Sein Evangelium verkündigt den Anfang der neuen Menschheit, in der die Feindschaft unter den Menschen und Völkern aufgehoben ist. Darum haben die Christen in der Welt der Versöhnung zu dienen. Dieser Dienst verpflichtet uns, auch in den irdischen Verhältnissen Frieden zu suchen. Auch wenn wir dabei zwischen die Fronten einer friedlosen Welt geraten, bemühen wir uns, je an unserem Ort, durch sachliches Urteilen und Handeln versöhnend zu wirken und Frieden zu stiften. Wir verschließen uns dem Haß und Vergeltungsdrang, weil sie dem Versöhnungswillen Gottes widersprechen. Auch machen wir die Schändung der Ehre des Gegners nicht mit. Der Dienst der Versöhnung verpflichtet uns auch, für den Frieden unter den Völkern ehrlich und ernstlich zu wirken. Angesichts der Massenvernichtungsmittel ist der Krieg weniger denn je eine Möglichkeit zur Lösung politischer und ideologischer Spannungen zwischen den Völkern und Machtblöcken. Die Kirche setzt sich für den gesetzlichen Schutz der Wehrdienstverweigerer aus Glaubens- und Gewissensgründen ein, wie sie auch für ihre Glieder, die Soldaten werden, den Auftrag zur Seelsorge behält. Wer wegen seines Dienstes für die Versöhnung leiden muß, darf der Treue Gottes gewiß sein und soll die Hilfe und fürbittende Liebe der Gemeinde erfahren. Wir handeln im Unglauben, wenn wir den irdischen Frieden mit dem Frieden Gottes verwechseln, und wenn wir unser Wirken für den irdischen Frieden den Maßstäben menschlicher Ideologien, politischer Wunschbilder und Vergeltungsgedanken unterwerfen oder aber an unserem Friedensauftrag verzweifeln. Wir handeln im Ungehorsam, wenn wir nicht dem Mißbrauch widerstehen, das politische oder nationale Eigeninteresse dem Dienst am Frieden gleichzusetzen.“15

Wenig später musste sich die Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der DDR bereits öffentlich dagegen verwahren, dass die Inhalte für „politischen Missbrauch“ genutzt würden. Ziel der Artikel sei lediglich eine „theologische Besinnung über die Grundlagen ihres Dienstes und ihres Handelns in der heutigen Welt“ gewesen16. 13 Vgl. Luchterhandt, Situation, 178 f. 14 Vgl. zur Einschätzung Neubert, Geschichte, 188. 15 Zehn Artikel über Freiheit und Dienst der Kirche. https://www.ekmd.de/kirche/geschichte-der-ekm/ geschichte-der-kirchen-in-der-ddr/zehn-artikel-ueber-freiheit-und-dienst-der-kirche.html. 16 Vgl. Erklärung über die Zehn Artikel über Freiheit und Dienst der Kirche. https://www.ekmd. de/kirche/geschichte-der-ekm/geschichte-der-kirchen-in-der-ddr/erklaerung-ueber-zehn-arti kel-ueber-freiheit-und-dienst-der-kirche.html.

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4. Wehrerfassung und Umgang mit Wehrdienstverweigerern ab 1962 Die Wehrdienstverweigerung wurde als Reaktion Einzelner auf die Verwaltungsakte der Musterung und Einberufung auffällig. Die Organisation der Musterung, der Prüfung der Einberufungen sowie der Tauglichkeitsuntersuchungen von Soldaten oblag den sogenannten territorialen Wehrorganen der DDR. Unterhalb der Ebene der 15 Wehrbezirkskommandos (WBK) waren die 211 Wehrkreiskommandos (WKK) der DDR für die Bildung von Einberufungskommissionen und Musterungskommissionen zuständig. Dabei setzten sich jene in der Regel zusammen aus dem Leiter des WKK, Mitarbeitern der örtlichen Räte von Stadt oder Kreis, einem MfS-Mitarbeiter und mehreren Ärzten. Den Umgang mit Wehrdienstverweigerern und was diese im Antragsverfahren den Kommissionen vorlegen und erklären mussten, legten die nichtöffentlichen Auffüllungsordnungen der NVA fest17. Man geht für die Jahre von 1962 bis 1964 von insgesamt etwa 1500 Fällen von Wehrdienstverweigerung aus. Die meisten Totalverweigerer gehörten zu den Zeugen Jehovas, bis 1971 wurden insgesamt über 850 von ihnen verurteilt18. Zum 4. April 1962 wurden die ersten Wehrpflichtigen eingezogen. Deren Musterung war noch sehr improvisiert durchgeführt worden. Im Frühjahr 1962 hatten 231 Wehrpflichtige den Dienst verweigert, immerhin noch vier Männer davon entzogen sich dem Dienst durch Flucht in die Bundesrepublik Deutschland. Unter den Verweigerern waren Theologen, kirchliche Mitarbeiter sowie Mitglieder anderer Glaubensgemeinschaften oder Sekten. Über die Musterung für den Herbst 1962 gab es genauere Untersuchungen. Hierbei wurden etwa 8000 Anträge auf Zurückstellung vom Wehrdienst registriert, dabei viele Spezialisten aus technischen Berufen, aber auch Theologen. Es mussten auch 187 Wehrpflichtige durch die Polizei zur Musterung in der Zeit vom 3. bis 26. Dezember 1962 zugeführt werden. 287 Wehrpflichtige hatten während der Musterung erklärt, dass sie nicht bereit seien, den geforderten Wehrdienst zu leisten, davon 253 aus Glaubensgründen und 5 Männer als erklärte Pazifisten. Die Mehrheit dieser Personen aus den Kreisen Altenburg, Apolda, Eisenach, Mühlhausen und Weimar waren Zeugen Jehovas, eine in der DDR verbotenen Glaubensgemeinschaft19. Im April 1963 verweigerten bereits 439 Personen den Wehrdienst. Im Herbst 1964 waren dies bei den Musterungen 956 Männer, im Frühjahr 1965 dann 713 Männer, damals ein Anteil von 0,4 Prozent. Gleichsam muss man bemerken, dass bei den Soldaten der NVA damals bestimmt mehr 17 Vgl. Wenzke, Einberufung, 15 f. 18 Vgl. Wolf, Kräfte, 279 f., Wenzke, Soldaten, 364. 19 Vgl. Diedrich, Aufrüstung, 149–152; Wenzke, Soldaten, 319 f.; Abschlussbericht Chef Verwaltung Auffüllung über die Herbstmusterung 1962 vom 17.10. 1962 (BArch-MA Freiburg, DVW 1/19996, Bl. 147–156).

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als 50 Prozent getauft und konfirmiert waren. Bei den Zeugen Jehovas bemerkten die Musterungskommissionen eine Vorbereitung durch schriftliche Erklärungen, die mitgebracht worden waren. Die Kritik an der Wehrpflicht wurde auch in der Nähe der Musterungsorte durch Flugblätter und Parolen mit religiösen Inhalten deutlich gemacht. Meldungen dieser Art von den Musterungen fassten die regionalen Behörden, aber auch die Sicherheitsabteilung des Zentralkomitees der SED zusammen. In den folgenden Jahren reduzierte sich die Zahl der Wehrdienstverweigerer bzw. derer, die einen Wehrdienst zunächst ablehnten, leicht. Die Mehrheit der Wehrpflichtigen leisteten ihren Dienst und hier konnte die NVA bereits auf eine umfangreiche vormilitärische Prägung bauen. Gegen Ende der 1960er Jahre waren bereits etwa 50 Prozent der Zeitsoldaten und ein Drittel der Wehrpflichtigen vorher Mitglieder der Gesellschaft für Sport und Technik (GST) gewesen. Zwischen 60 und 70 Prozent der Wehrpflichtigen hatte sogar schon an einer vormilitärischen Ausbildung im Rahmen der Schule oder Berufsausbildung teilgenommen20. Die Zeit von 1962 bis 1964 beschreibt die DDR-Militärgeschichtsforschung eher als konzeptionslose Phase. Diese Zeit war aber auch durch die Folgen der aufwändigen Kampagne der SED-Führung gegen Bischof Krummacher 1962/ 63 geprägt. Es sollte damals und auch später niemals zu offiziellen Gesprächen zwischen Vertretern der Kirchen und der NVA kommen. Man nutzte Umwege über die gewohnten offiziellen Kontakte zum Staatssekretär für Kirchenfragen Hans Seigewasser oder anderen Spitzenfunktionären. So war es wieder Willi Stoph, diesmal als 1. Stellvertretender Vorsitzender des Ministerrates, der dem Vorsitzenden der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der DDR, Bischof Friedrich-Wilhelm Krummacher, und seinem Stellvertreter, Bischof Moritz Mitzenheim, im berühmten Gespräch vom 12. März 1962 aufforderte, den Bürgern den Dienst für das Vaterland auch als eine Christenpflicht zu erklären. Krummacher trug das kirchliche Memorandum zu den Schwerpunkten Glaubens- und Gewissensfreiheit, ”Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen”, Fahneneid und Rückstellung vor. Neben umfangreichen Anschuldigungen gegen Krummacher durch Stoph, die auf die Zeit des Dritten Reiches und des Zweiten Weltkrieges sowie eine aktuelle Unterstützung der NATO-Politik zuliefen, konnten die Bischöfe auch das am 20. Februar 1962 vom Politbüro bestätigte Memorandum „Argumentation zu Fragen über die allgemeine Wehrpflicht, die von Bischöfen der evangelischen Kirche gestellt werden“ zur Kenntnis nehmen. Letztlich war die Front der evangelischen Bischöfe aber nicht so geschlossen, wie es aussah. Der thüringische Landesbischof Mitzenheim hatte noch am 19. Februar 1962 in einem Rundbrief geschrieben, dass es „objektiv […] keine vertretbaren Gründe“ gegen den

20 Vgl. Wenzke, Soldaten, 322, 325–327, 355; dazu den Bericht Chef Verwaltung Auffüllung über die Musterung im Frühjahr 1965 vom 30.4. 1965 (BArch-MA Freiburg, DVW 1/19096, Bl. 1–6).

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Anspruch des Staates auf Ableistung des Wehrdienstes gäbe. Immerhin wurden die Musterungskommissionen im Nachklang des Gespräches vom März 1962 zu einer gewissen Flexibilität angehalten, die offenbar kirchliche Belange in der Frage der Rückstellungen berücksichtigte21.

5. Waffenloser Wehrdienst in Baubataillonen ab 1964 Erst im Jahr 1964 eröffnete sich die Möglichkeit für einen waffenlosen Wehrdienst in den neu geschaffenen Baubataillonen. Mit dem Bericht des Chefs der Verwaltung Werbung und Auffüllung, Oberst Heinz Huth, über die Frühjahrsmusterung 1963 wurde rückblickend der Beginn der Planungen für die Bausoldaten verbunden. Im Bericht wurde vermerkt: „Bei den Pioniertruppen sind außerhalb des Stellenplans Bau- und Arbeitsbataillone zu schaffen, in denen Wehrpflichtige, die den Dienst mit der Waffe verweigern, die Möglichkeit haben, den Wehrdienst zu leisten, ohne dass sie eine Waffe in die Hand nehmen müssen. Der Einsatz dieser Bataillone müsste zur Realisierung wichtiger Bauvorhaben der Nationalen Volksarmee erfolgen.“22

Am 6. Juni 1963 fällt die Entscheidung im Verteidigungsministerium zur Planung der Aufstellung von „Arbeitseinheiten bzw. Arbeitsbataillonen“. Die Beschlussvorlage Nr. 59/60 für den NVR wurde dann am 20. August 1963 vorgelegt23. Der Nationale Verteidigungsrat hat in seiner Sitzung vom 20. September 1963 die Aufstellung von Arbeitsbataillonen in der NVA für das Frühjahr 1964 beschlossen. Mit dem Befehl Nr. 108/64 vom 18. September 1964 ordnete der Verteidigungsminister die Aufstellung der neuen BauPionierbataillone an, darin Bau-Pioniereinheiten und Baueinheiten24. Der Befehl trennte deutlich den aktiven Wehrdienst als Baupionier in Bau-Pioniereinheiten von dem Dienst in den Baueinheiten der einen Waffendienst verweigernden Bausoldaten. Dieser Dienst sollte als so genannter Wehrersatzdienst gem. § 25 Wehrpflichtgesetz „ohne Waffe“ durchgeführt werden.

21 Wenzke, Soldaten, 338, 358; vgl. auch den Bericht von Bischof Johannes Jänicke auf der 4. Tagung der IV. Synode. Erfurt. 12.5. 1962. In: Berichte der Magdeburger Kirchenleitung, 177–181, hier 179 mit Hintergrundinformationen in Anm. 6.; Mau, Protestantismus, 86 f.; vgl. zur Wehrpflicht und der Kampagne gegen Krummacher auch Br-uer, Bischof, 463–488. 22 Oberst Huth, Bericht zu Fragen der Erklärungen über Ablehnung des Wehrdienstes (BArch-MA Freiburg, DVW 1/22663, Bl. 11–15); vgl. auch die Schlussfolgerungen und Vorschläge auf Bl. 14 f. 23 Vgl. Mengel, Bausoldaten, 17 f.; Rogg, Armee, 464–473. 24 Vgl. den Befehl Nr. 108/64 des MfNV über die Aufstellung von Bau-Pioniereinheiten (BArch-MA Freiburg, DVW 1/5005, Bl. 132–135).

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Zur Begründung reichten religiöse oder nicht näher benannte sonstige Gründe („aus religiösen Anschauungen oder aus ähnlichen Gründen“) aus. Geführt wurden die Bausoldaten von aktiven Soldaten der Truppe. Gefordert dazu waren „bewährte Offiziere, Unteroffiziere und Soldaten als Vorgesetzte“. Die Bataillone sollten bei militärischen Bauvorhaben, bei der Beseitigung von Übungsschäden sowie bei Katastrophen eingesetzt werden. Im Unterschied zu den Soldaten der NVA sollte kein Fahneneid geleistet, sondern ein besonderes Gelöbnis lediglich unterschrieben werden. Schon im Entwurf der Anordnung wurde die bewusst schmucklose Uniform mit dem „Spaten“ auf der Schulterklappe als einzigem Erkennungszeichen geplant25. Trotzdem wurde es ein Dienst als Soldat in der NVA, nur eben ohne Waffe und im Rahmen von Bauprojekten der NVA. Der Historiker Thomas Widera beschrieb den trotz der „ideologischen Herausforderung“ damit verbundenen doppelten Nutzen für die SED: „Die Bausoldatenanordnung von 1964 erfüllte eine Doppelfunktion. Sie regulierte pazifistisches Engagement und schwächte es, weil sie differenzierte. Die bis dahin begrenzt-öffentlichen Kontroversen zwischen Pazifisten und der Staatsgewalt fanden hinter Kasernenmauern ihren verborgenen Austragungsort in der „Falle“ einer totalen Institution. Demgegenüber ermöglichte die gesetzliche Regelung des waffenlosen Wehrdienstes den Militär- und Justizbehörden die Verfolgung aller, die sich dem Dienst in den Baueinheiten widersetzten.“26

Eine Wehrdienstberatung, die diese spezielle Form des Dienstes erklärte, war nicht vorgesehen. Sogar die „Anordnung des NVR der DDR über die Aufstellung von Baueinheiten im Bereich des Ministeriums für Nationale Verteidigung“ vom 7. September 1964 war als Text in der Folgezeit nur schwierig zu bekommen27. In der Rubrik „Unsere Leser fragen – Neues Deutschland antwortet“, veröffentlichte das SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“ am 26. November 1964 unter der Überschrift „Was sind Bausoldaten?“ eher beiläufig mit den Inhalten der Anordnung etwas zu den neuen Verbänden: „Gemäß einer Anordnung des Nationalen Verteidigungsrates der DDR vom 7. September 1964 hat der Minister für Nationale Verteidigung die Aufstellung von Bau-Pionierbataillonen befohlen […]. Zu den Baueinheiten werden Wehrpflichtige einberufen, die den Dienst mit der Waffe ablehnen.“28

25 Vgl. die 16. Sitzung des NVR, 20.9. 1963, TOP 5: Bildung von Arbeitsbataillonen in der NVA (BArch-MA Freiburg, DVW 1/39473, Bl. 5 u. Bl. 80–83). Das „Gelöbnis“ der Bausoldaten ist auf Bl. 85 im Entwurf abgedruckt; vgl. Wenzke, Soldaten, 339. 26 Widera, Kriegsdienstverweigerung, 404. 27 Gesetzblatt der DDR, Teil I., Nr. 11 vom 16.9. 1964, 129–130. Die Anordnung wurde mit der Anlage des Textes des Gelöbnisses veröffentlicht, zitiert nach Eisenfeld / Schicketanz, Bausoldaten, 66 f. 28 Vgl. den Artikel Ehlert, Was sind Bausoldaten?, 5.

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Im Grunde auch eine Ausführung auf Basis der Anordnung des NVR. Mehr Informationen gab es nicht. Bald organisierten jedoch Pfarrer oder Gruppen, wie das Evangelische Jungmännerwerk, die Möglichkeit zur Information im Gespräch oder mit selbst erstellten Texten. Die Kirchenleitung der evangelischen Landeskirche Sachsen hatte am 22. Oktober 1964 ein Schreiben an den Vorsitzenden des Ministerrates der DDR zum Wehrdienst gerichtet. Aus Sicht des neuen Ministerpräsidenten Willi Stoph hatte Landesbischof Gottfried Noth noch nicht ausreichend verstanden, dass es keinen „Wehrersatzdienst außerhalb des Militärs“ gab. Armeegeneral Heinz Hoffmann arbeitete Stoph für ein klarstellendes Schreiben an die evangelische Landeskirche Sachsens inhaltlich zu und betonte das größere Gewicht des Wehrpflichtgesetzes gegenüber der Anordnung des NVR zur Aufstellung von Baueinheiten. Der Dienst als Bausoldat sei demnach nur die Ausnahme von der Regel der Allgemeinen Wehrpflicht: „In der Anordnung des Nationalen Verteidigungsrates wird allerdings für bestimmte Ausnahmefälle ein Wehrersatzdienst ohne Waffe zugelassen. Diese Ausnahmefälle können im Bezug auf die religiöse Überzeugung nur solche Wehrpflichtige betreffen, die Glaubensgemeinschaften angehören, deren Dogmen keine anderen Möglichkeiten zulassen. Dazu gehört aber nicht die ev.-luth. Kirche; das beweist die ältere und jüngere Geschichte und das Verhalten dieser Glaubensgemeinschaft in andern Staaten (Seelsorgevertrag in Westdeutschland). Weiterhin sollte die Kirchenleitung darauf hingewiesen werden, dass ihr Recht, für solche Würdenträger, deren Tätigkeit für die ev.-luth. Landeskirche von besonderer Wichtigkeit ist, Anträge auf Zurückstellung vom Wehrdienst zu stellen, durch diese Stellungnahme nicht berührt wird.“29

Die Militärverwaltung soll diese Praxis der Zurückstellung dann auch im weiteren Sinne stillschweigend nach 1964 beibehalten haben, auch um die Anzahl der Totalverweigerer und der Bausoldaten gewissermaßen statistisch noch staatlich steuern zu können. Denn jeder Antrag konnte auch als ein Bekenntnis gegen die DDR und die SED verstanden werden30.

6. Dienst, widerständiges Verhalten und stillschweigende Normalität Zum Herbst 1964 wurden die ersten etwa 250 Wehrpflichtigen als Bausoldaten einberufen. Ein Großteil dieser Soldaten hatte mit der Musterung des Jahres 1962 den Wehrdienst verweigert. Zu den Garnisonen der neuen Verbände 29 Schreiben des MfNV, Armeegeneral Hoffmann, an den Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, Willi Stoph vom 10.11. 1964 (BArch-MA Freiburg, DVW 1/17045, Bl. 11 f.). 30 Vgl. Neubert, Geschichte, 191; Luchterhandt, Situation, 179.

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wurden zunächst vier Standorte: Bärenstein (MB III, Bau-Pionierbataillon 3), Garz (Kdo LSK/LV, Bau-Pionierbataillon 14), Sassnitz, ursprünglich Nonnevitz/Rügen (Kdo VM, Bau-Pionierbataillon 7) und Prenzlau (MB V, Bau-Pionierbataillon 5). Später kamen zum Beispiel im Norden der DDR weitere Standorte hinzu, die Inseln Usedom und Rügen sowie Laage, Torgelow, Rövershagen, Trollenhagen und Stralsund. Die Herausforderungen für die NVA waren in den ersten Jahren der Konflikt beim Bau von militärischen Anlagen und die Verweigerung des „Gelöbnisses“. Bis Ende der 1960er Jahre sind circa 400 Fälle von „Arbeits-, Gelöbnis- und Befehlsverweigerungen“ belegt31. Die Zeitung „Neue Zeit“ veröffentlichte am 22. Dezember 1964 eine Notiz über einen Besuch des stellvertretenden Vorsitzenden des DDR-Staatsrates und Vorsitzenden der Ost-CDU Gerald Götting sowie des Stellvertreters des Ministeriums für Nationale Verteidigung (MfNV) und Chefs der Politischen Hauptverwaltung Admiral Waldemar Verner beim Bau-Pionierbataillon in Prenzlau: „Sie informierten sich dabei vor allem über den Dienst der Bausoldaten. In einer längeren Aussprache mit einer Bausoldateneinheit wurden aktuelle politische Fragen erörtert. Das offene Gespräch zeugte von der Bereitschaft der Bausoldaten, ihre Verpflichtung gegenüber der Deutschen Demokratischen Republik stets zu erfüllen.“32

Der interne Bericht der Ost-CDU vom Besuch aus der Feder des CDU-Funktionärs und inoffiziellen Mitarbeiters des MfS Carl Ordnung schilderte den Ablauf des Truppenbesuches dagegen etwas farbiger. Nach einer zufriedenstellenden Gesprächsrunde mit den Offizieren, die die Arbeitsleistungen und das Benehmen der Bausoldaten lobten, wurde doch bemerkt, dass von den 56 Bausoldaten 32 ihr Gelöbnis nicht abgelegt hätten, 15 Bausoldaten wären keine Christen. Nach einem Rundgang durch die Unterkünfte wurde im Kulturhaus die Aussprache mit den Bausoldaten gesucht. Gerald Götting betonte dabei, dass mit der Schaffung der Baueinheiten die „politisch-moralische Einheit unserer Bevölkerung“ gestärkt worden sei. Anschließend meldete sich der Bausoldat Christfried Berger, Schwiegersohn eines bekannten Missionsdirektors, und machte deutlich, dass man sich einen echten Zivilersatzdienst wünschen und Arbeiten zum Zweck der Landesverteidigung ablehnen würde. Andere Inhalte der Gespräche betrafen den Wunsch nach einem Glaubensleben in der Kaserne, da man auch aus religiösen Gründen diese Einheit gebildet hatte. Nach Ausführungen über Nächstenliebe und die Unmöglichkeit den Feind zu hassen, ging es um praktische Fragen, wie den rechtzeitigen 31 Vgl. Wenzke, Soldaten, 340 f.; Eisenfeld / Schicketanz, Bausoldaten, 417; Wunnicke, Bausoldaten, http://widerstand-in–mv.de/detail/die-bausoldaten-in–mecklenburg-vorpom mern/; vgl. ferner den Befehl Nr. 108/64 des MfNV über die Aufstellung von Bau-Pioniereinheiten (BArch-MA Freiburg, DVW 1/5005, Bl. 132–135). 32 Bei Bausoldaten zu Besuch. Offenes Gespräch mit Gerald Götting und Waldemar Verner. In: „Neue Zeit“, (22.12. 1964).

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Ausgang am Sonntag zum Besuch des Gottesdienstes. Deutlich wurde darüber hinaus, dass die Christen das Spatensymbol bereits als „Ehrenzeichen“ begriffen. Admiral Verner ging in seinen Ausführungen auf das Thema des Hasses ein: „Admiral Verner sagte dann, auch er liebe seinen Feind. […] Im Grunde seien unsere Verteidigungsmaßnahmen Maßnahmen der Feindesliebe. Allerdings lehre die Geschichte, dass Schwäche oft Anlass zum Krieg geworden ist. […] Er liebe das Leben, aber das gerechte Leben.“33

Im Großen und Ganzen schienen Probleme mit den Bausoldaten aber niemanden zu überfordern. In vielen Dingen sollte sich schnell eine stillschweigende Normalität einstellen. Grundsätzliches schien dabei geklärt oder es vermittelte den Eindruck, dass mehr zunächst nicht zu erreichen war. Ein gemeinsames Papier von Staat und Kirche blieb unrealistisch. Nachdem 1963 die „Zehn Artikel über Freiheit und Dienst der Kirche“ eher den Charakter einer Selbstvergewisserung einnehmen sollten, wurde im November 1965 als Reaktion auf die Anordnung zur Aufstellung der Baueinheiten eine Ratgeberschrift mit dem Titel „Zum Friedensdienst der Kirche. Eine Handreichung für Seelsorge an Wehrpflichtigen“34 erlassen oder vielmehr die Verteilung einer „Seelsorgerlichen Handreichung“ in der Konferenz der Bischöfe abgestimmt. Sie war für den internen Gebrauch der Kirche im Frühjahr 1965 durch eine Arbeitsgruppe der evangelischen Kirche unter dem Vorsitz von Probst Heino Falcke erarbeitet worden. Hierbei wurden auch vier Gruppen definiert, die künftig das Ziel der seelsorgerlichen Unterstützung sein sollten: waffentragende Soldaten, Bausoldaten, inhaftierte Wehrdienstverweigerer sowie nicht-verhaftete Wehrdienstverweigerer. Über die Notwendigkeit dieser Handreichung wurde in Kirchenkreisen durchaus gestritten. Hierbei setzte sich die Initiative der Leitung der evangelischen Kirche in der Kirchenprovinz Sachsen durch35. Im November 1965 informierte Walter Ulbricht seinen Verteidigungsminister vom Kirchenpapier. Das Papier selbst gelangte im Dezember über das Staatssekretariat für Kirchenfragen an den Stellvertreter des MfNV Admiral Waldemar Verner. Schon das Staatssekretariat hatte das Papier als „hinterhältig“ und „gefährlich“ beschrieben. Die offizielle Bewertung war durchweg negativ, wie eine Auswertung der Staatssicherheit zeigte. Demnach richtete 33 Abteilung Kirchenfragen, Wehrdienst, Bausoldaten, Carl Ordnung, Bericht über den Besuch bei einer Bausoldateneinheit in Prenzlau vom 19.12. 1964 (ACDP St. Augustin, 07–011:3005, 1–6). 34 Vgl. Die Handreichung unter : https ://www.ekmd.de/attachment/aa234c91bdabf36 adbf227d333e5305b/2 f100511036e3 f121cbb9c43d27928cf/Zeitdokument%2B-%2BFrie densdienst%2BHandreichung_6.11.1965.pdf. 35 Vgl. zur Entstehung und Einordnung Neubert, Geschichte, 188–190; vgl. ebenfalls die Einzelinformation Nr. 1093/64 über eine Besprechung der Bischöfe und Mitglieder der Kirchenleitungen der evangelischen Kirche in der DDR vom 8.12. 1964 (BArch Berlin, MfS, ZAIG 977, 7. Exemplar, 1–5).

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sich das Papier gegen die Gesetze der DDR und ließ grundsätzliche Zweifel an der Wehrpflicht erkennen. Der anschließende Druck des Staatssekretärs für Kirchenfragen, dem durch den Militäroberstaatsanwalt und dem Verteidigungsministerium sekundiert wurde, hatte aber nur teilweisen Erfolg. Das Papier blieb in der Welt, wurde aber nie offiziell „veröffentlicht“36. Die Durchsetzung der Wehrgesetzgebung wird in der Forschung für die folgenden Jahre als konsequent beschrieben. Die Existenz der Bausoldaten wurde durchgängig nicht öffentlich thematisiert, deren Anzahl blieb aber über Jahre auf einem vergleichbaren Niveau. Erst 1982 wurde ein neues Wehrdienstgesetz der DDR von der Volkskammer verabschiedet. Auch wenn dieses Gesetz vorrangig in dem Zusammenhang der sogenannten Vervollkommnung des Systems der Landesverteidigung der 1970er Jahre mit dem sich zeigenden Mangel an qualifiziertem Personal zu sehen ist, bezog Verteidigungsminister Armeegeneral Heinz Hoffmann die Wehrpflicht weiterhin in den altbekannten grundsätzlichen Zusammenhang verschiedener Grundrechte und Grundüberzeugungen des SED-Staates ein. So sah er neben dem Recht auf Arbeit und soziale Sicherheit im neuen Gesetz das „Recht zum Schutze des Friedens“ auf aktuelle Weise verwirklicht37. Auch in der Fassung von 1982 wurde die Wehrdienstverweigerung nicht thematisiert, der waffenlose Dienst war als Bausoldat in der NVA zu leisten. Daher galt § 2 Abs. 1, wonach der Wehrdienst grundsätzlich in der NVA geleistet wurde und der bereits 1962 sogenannte „Ersatzdienst“ gem. § 2 Abs. 3 nur auf einen Dienst in anderen bewaffneten Organen der DDR (MfS, kasernierte Einheiten des MdI sowie in der Zivilverteidigung) bezogen wurde38. Über die Bausoldaten wurde in der DDR bzw. in Publikationen der NVA nicht berichtet. Erst als Verteidigungsminister Hoffmann 1984 die Baustelle des Fährhafens Mukran besuchte und dabei auch mit Bausoldaten sprach, gab es eine Erwähnung in zwei Veröffentlichungen. Warum dies so war, kann die Reaktion auf einen Leserbrief erklären helfen. Die Zeitschrift „Armeerundschau“ antwortete auf eine Nachfrage aus einer Jungen Gemeinde zum Bausoldatendienst schriftlich, dass dieses Thema nicht dem Ziel der „Förderung der Verteidigungsbereitschaft“ entspräche und schreibt weiter : „Wir respektieren diese Anschauungen, sehen aber keinen Grund, diesen Umstand noch groß zu popularisieren und die Jugend darüber aufzuklären. […] Der Personenkreis der in erster Linie für die Baueinheiten in Frage kommt, erfährt deren Existenz in ihren Religionsgemeinschaften. Notwendige Informationen erteilt jedes Wehrkreiskommando.“39

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Wenzke, Soldaten, 359–361; Schicketanz, Reaktionen, 29–36. Vgl. Brçckermann, Landesverteidigung, 556. Vgl. ebd., 559. Mengel, Bausoldaten, 20; Neubert, Geschichte, 576.

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In den 1960er Jahre wurden Maßstäbe im Umgang mit dem Anspruch des Staates auf eine Ableistung des Wehrdienstes und dem damit verbundenen deutlichen Bekenntnis zum Staat DDR gesetzt. Der damals von Karl Barth ausgesprochenen Angst vor einer Überwältigung der Kirche hatte die Kirche pragmatisch und doch mit einer moralischen Entschlossenheit begegnen können. Die Kirche wollte ihren Platz in der Gesellschaft behaupten, was letztlich auch bedeutete, den Rahmen des sozialistischen Staates bis zu einem bestimmten Grad zu akzeptieren. Im Falle des Wehrdienstes erlaubte man sich jedoch eine im Vergleich mit der westdeutschen Kirche geradezu radikale ethische Bewertung des Militärischen. Dies war am Ende des Jahrzehnts eine Basis für das Konzept Kirche im Sozialismus. Grundsätzlich stellte sich die Kirche in den Schnittmengen von Humanismus und Sozialismus als „Zeugnisund Dienstgemeinschaft in der sozialistischen Gesellschaft der DDR“40 weder daneben noch dagegen, sondern mittendrin neu auf. Das Thema der Wehrdienstverweigerung war aufgrund der geringen Umfänge in erster Linie weniger ein militärisches Problem der NVA als vielmehr ein ideologisches und herrschaftspolitisches Problem der SED-Führung. Die Praxis der Einführung der Wehrpflicht in der DDR in den 1960er Jahren musste aus Sicht der SED im Grunde als Erfolg einer Indoktrinierung und ideologischen Vorbereitung der Jugend gesehen werden. Auch weil die Mehrheit der Soldaten eine christliche Prägung durch Taufe oder Konfirmation aufwies. Das Streben der SED nach einer totalen Herrschaft hat aber auch dem Thema Wehrdienstverweigerung mehr Aufmerksamkeit verschafft, als man rückblickend vermuten würde. Dieser „christliche Widerstand“ in den Anfangsjahren der Allgemeinen Wehrpflicht in der DDR erscheint zudem aus Sicht der SED und mit Blick auf die Opferzahlen überwiegend von der religiösen Gemeinschaft der verbotenen Zeugen Jehovas und weniger von den anerkannten Religionsgemeinschaften in der DDR getragen worden zu sein.

Quellen- und Literaturverzeichnis: I. Unveröffentlichte Quellen Bundesarchiv-Militärarchiv, Freiburg im Breisgau (BArch-MA Freiburg) Bestand DVW 1: Ministerium für Nationale Verteidigung.

Bundesarchiv, Ministerium für Staatssicherheit (BArch Berlin, MfS) Bestand ZAIG: Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe. 40 Luchterhandt, Situation, 156 f.

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Archiv für Christlich-Demokratische Politik, Sankt Augustin (ACDP St. Augustin) Bestand CDU SBZ / DDR: Abteilung Kirchenfragen, 07–011.

II. Veröffentlichte Quellen und Darstellungen Berichte der Magdeburger Kirchenleitung zu den Tagungen der Provinzialsynode 1946–1989. Bearb. v. Harald Schultze (AKIZ A 10). Göttingen 2005. Br-uer, Siegfried: Bischof in schwieriger Zeit. Die Einführung der Wehrpflicht und die Kampagne der DDR-Regierung gegen Bischof Krummacher 1962. In: ThLZ 124 (1999), H. 5, 463–488. Brçckermann, Heiner : Landesverteidigung und Militarisierung. Militär- und Sicherheitspolitik der DDR in der Ära Honecker 1971–1989, hg. v. MGFA (Militärgeschichte der DDR 20). Berlin 2011. Diedrich, Torsten: Gegen Aufrüstung, Volksunterdrückung und politische Gängelei. Widerstandsverhalten und politische Verfolgung in der Aufbau- und Konsolidierungsphase der DDR-Streitkräfte 1948 bis 1968. In: Staatsfeinde in Uniform? Widerständiges Verhalten und politische Verfolgung in der NVA. Mit Beiträgen von Torsten Diedrich, Hans Ehlert und Rüdiger Wenzke. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes, hg. v. Rüdiger Wenzke (Militärgeschichte der DDR 9). Berlin 2005, 31–196. Dçrfler-Dierken, Angelika: Die evangelische Friedensbewegung in beiden deutschen Staaten. In: Echternkamp, Militär, 403–491. Echternkamp, Jörg (Hg.): Militär und Gesellschaft in Ost- und Westdeutschland 1970–1990 (Deutsch-deutsche Militärgeschichte 3). Berlin 2021. Eisenfeld, Bernd: Wehrdienstverweigerung als Opposition. In: Klaus-Dietmar Henke / Peter Steinbach / Johannes Tuchel (Hg.): Widerstand und Opposition in der DDR (Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung 9). Köln / Weimar / Wien 1999. – / Schicketanz, Peter : Bausoldaten in der DDR. Die „Zusammenführung feindlichnegativer Kräfte“ in der NVA. Berlin 2011. Evangelische Kirche Mitteldeutschlands: Erklärung über „Zehn Artikel über Freiheit und Dienst der Kirche“. In: https://www.ekmd.de/kirche/geschichte-derekm/geschichte-der-kirchen-in-der-ddr/erklaerung-ueber-zehn-artikel-ueberfreiheit-und-dienst-der-kirche.html [22.12. 2022]. –: Zehn Artikel über Freiheit und Dienst der Kirche. In: https://www.ekmd.de/kir che/geschichte-der-ekm/geschichte-der-kirchen-in-der-ddr/zehn-artikel-ueberfreiheit-und-dienst-der-kirche.html [22.12. 2022]. Fricke, Karl Wilhelm: Strafjustiz im Parteiauftrag. In: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.): Die kriminelle Herrschaftssicherung des kommunistischen Regimes der Deutschen Demokratischen Republik. Dokumentation. Leipzig 1992, 41–53.

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Heiner Bröckermann

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Christiana Steiner

Walter Schilling und die Offene Arbeit als Akteure widerständigen Handelns gegenüber Kirche und DDR-Staat 1. Einführung Das Rüstzeitheim in der Gemeinde Braunsdorf, in der Walter Schilling als Pfarrer seinen Dienst tat, wurde zu einem wichtigen Ort der Offenen Arbeit (OA). Hier kamen junge Menschen DDR-weit zusammen, Wehrdienstverweigerer und NVA-Soldaten fanden Begleitung und Beratung, Werkstätten und Rüstzeiten wurden veranstaltet. In enger Zusammenarbeit mit der Jungen Gemeinde um Pfarrer Uwe Koch in Rudolstadt organisierten sie die beiden JUNE-Jugend-Festivals 1978 und 1979. Auf den Veranstaltungen der OA wurde thematisch gearbeitet und politische, gesellschaftliche und theologische Themen miteinander verbunden. Auch die Frage nach einem demokratischen Sozialismus wurde diskutiert. Der oft von Seiten der Kirche und der Staatssicherheit erhobene Vorwurf, die OA hätte keine eigenen theologischen Überlegungen angestellt, lässt sich mit einem Blick auf die „Jugendgroßveranstaltungen“ JUNE (1978/79) klar entkräften. Sowohl Rüstzeitheim als auch JUNE-Festivals wurden als Ort und Ereignisse staatsgefährdenden Handelns seitens der SED und des MfS angesehen. Die Unrechts- und Widerstandsgeschichte in diesem Zusammenhang gilt es im Folgenden darzustellen. Welche Verwicklungen gab es zwischen Staat und Kirchenleitungen und welche Effekte hatten die Beschlüsse des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) auf kirchliches Handeln? Ein Exkurs zu Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) auf kirchlicher Leitungsebene soll die Dimensionen des Zusammenwirkens aufzeigen. Im Anschluss wird ein dritter Punkt die theologischen Konzepte der OA umreißen.

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2. Das Rüstzeitheim 2.1 Aufbau Walter Schilling kam 1955 nach seinem Vikariat in Königsee (Thüringen) in den zwischen Saalfeld und Rudolstadt gelegenen Ort Braunsdorf1. Das Rüstzeitheim in Braunsdorf wurde in Eigenregie im Laufe der 1960er Jahre gebaut. Ehemals war der Bau ein verfallener Wirtschaftstrakt, der zum dortigen Pfarrhaus gehörte. Zusammen mit der Schülerarbeit Thüringen funktionierte Schilling mit vielen anderen diesen sukzessive zu einem Rüstzeitheim um. Involviert in den Umbau waren örtliche Anwohner, sowie die Junge Gemeinde (JG) Rudolstadt und der dortige Jugendwart. Gerade die Jugendlichen benannten diesen Ort als den „ihrigen“, um ihrer Verbundenheit aufgrund eigener Mitarbeit Ausdruck zu verleihen2. Ab Mitte der 1960er Jahre gab es die ersten Belegungen des Rüstzeitheimes mit Jugendlichen, die zu einer gemeinsamen Zeit zusammenkamen. Anfangs wurde das Heim vor allem von der JG Rudolstadt und Saalfeld für Bibelfreizeiten genutzt. Bereits Ende der 1960er Jahre war die Reichweite des Heimes überregional. In einem Brief an seinen ehemaligen Mitarbeiter und dessen Familie beschrieb Walter Schilling es so: „[Am] 17.8.69 stieg das große Blues- und Beat Festival in Braunsdorf: ganz große Platten und Tonband-Bar, volle Beat-Band, gemischt aus Rudolstädtern und Saalfeldern. 50 Leute im ausgeräumten großen Raum – es war herrlich und ging gut über die Bühne, trotz meiner Angst vor dieser Überfülle. Seitdem ist nun die Verbindung Rudolstadt-Saalfeld immer besser geworden. Nachdem wir erst vom Modell Saalfeld gelernt haben, lernen die jetzt von uns!“3

Bald nach der Eröffnung wurde ein Kuratorium4 gebildet, das sich zweimal im Jahr traf und aus Personen verschiedener kirchlicher Leitungsebenen zusammengesetzt war. Das Haus blieb über die gesamten Jahre selbstverwaltet. Es gab keine festgelegte Hausordnung, sondern jede Gruppe musste für die gemeinsame Zeit eine eigene Ordnung entwickeln. Für Walter Schilling selbst war das ein Schritt zu selbstverantwortetem Handeln, das er mit den Worten „den aufrechten Gang üben“ umschrieb und das an den Titel von Gollwitzers Buch „Krummes Holz, aufrechter Gang“ erinnert. Schillings OA wurde eine der 1 Vgl. das Schreiben Landeskirchenrat an Walter Schilling am 5.10. 1955 (LKA Eisenach G 2605 Bd. 2, Bl. 23). 2 Vgl. Schilling, 68er-Insel, 194. 3 Brief der Schillings an Oswald, Christl, Frank, Maus und Biene vom 12.3. 1970 (ThürAZ Jena. PSW-K-04.01). 4 Übersicht über rechtliche Problematik des Heims Braunsdorf 1967 (ThürAZ Jena. P-SW-K04.03).

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zentralen Anlaufstellen für die opponierende und nonkonforme Jugendkultur in der gesamten DDR5. Die staatlichen Behörden und die örtliche Staatssicherheit begannen bereits mit dem Wechsel Schillings nach Braunsdorf mit der Dokumentation und Überwachung seiner pastoralen Tätigkeit sowie des Rüstzeitheimes. Walter Schilling wurde mindestens6 ab Dezember 1956 bis zum Ende der DDR durch das MfS überwacht. In einem Ermittlungsbericht der Kreisdienststelle (KD) Rudolstadt von 1968 heißt es: „Auch für kriminelle Elemente setzte sich Schilling ein, nur um einen weiteren Einfluss zu gewinnen. […] In den letzten Jahren widmet er sich wieder stark der Jugend. So wurde in Braunsdorf ein Rüstheim eröffnet, in welchem ständig Rüsten durchgeführt werden.“7

Im August desselben Jahres schrieb die Bezirksverwaltung (BV) des MfS Gera an die zuständige KD Rudolstadt: „Uns wurde bekannt, dass der Kreisjugendpfarrer Schilling, Walter, Dittrichshütte, sein Wohnhaus umgestaltet und ein Rüstzeitheim eingerichtet hat. Seit Ostern 1968 sollen dort wöchentlich Wochenendrüstzeiten durchgeführt werden. Die Teilnehmerzahl ist durchschnittlich 20 Personen, hauptsächlich aus den Bezirken Gera, Erfurt und Suhl. Während der Ferienzeit sollen ebenfalls mehrere Rüstzeiten durchgeführt werden, ohne dabei die gesetzlichen Fristen einzuhalten. Es muss eingeschätzt werden, dass sich beim Umbau des Wohnhauses zu einem Rüstzeitheim sowie in den jetzt stattfindenden Veranstaltungen die staatliche Ordnung nicht eingehalten wird. Sie werden ersucht zu überprüfen inwieweit die Angaben der VP den Tatsachen entsprechen und geeignete politisch-operative Maßnahmen einzuleiten, um eine Kontrolle zu gewährleisten.“8

Mit diesem Schreiben wurden sowohl das Rüstzeitheim Braunsdorf als auch die dort stattfindenden Veranstaltungen außerhalb der „staatlichen Ordnung“ platziert. Diese Platzierung war die Voraussetzung, um „politisch-operative Maßnahmen“ seitens des MfS zu lancieren, die zu einer „Wiederherstellung“ einer solchen Ordnung führen sollten. Diese Fragen bezüglich der staatlichen Ordnung betrafen auch im weiteren Sinne das Staat-Kirche-Verhältnis. In einer undatierten, vermutlich im Jahr 1970 verfassten, „Einschätzung der Tätigkeit des Jugendpfarrers Walter Schilling“ wurde die Kollision kirchlicher und staatlicher Tätigkeit im Raum Rudolstadt folgendermaßen auf den Punkt gebracht: 5 Vgl. Schilling, 68er-Insel, 196. 6 Volkspolizei-Kreisamt Rudolstadt Abt. E am 14.12. 1956 (BArch, MfS, OV „Reaktionär“, AOP, Nr. 477/75, Bd. 1, Bl. 7). 7 Ermittlungsbericht der KD Rudolstadt vom 31.1. 1968 (BArch, MfS, OV „Reaktionär“, AOP, Nr. 477/75, Bd. 1, Bl. 60). 8 BV für Staatssicherheit Gera an KD Rudolstadt am 15.8. 1968 (BArch, MfS, OV „Reaktionär“, AOP, Nr. 477/75, Bd. 1, Bl. 70).

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„Es ist jedoch zu verzeichnen, dass seitens der Kirchenleitung […] beim Rat des Kreises Einspruch erhoben wurde, gegen eine angebliche Einmischung der FDJ KL [Kreisleitung] in die Angelegenheiten der Kirche insbesondere in die Jugendarbeit. Die Situation ist jedoch […] soweit herangereift, dass sich die FDJ-Leitungen unbedingt mit diesen [sic!] Problem befassen müssen, da ein großer Anteil der Besucher der Jungen Gemeinde Mitglieder der FDJ sind.“9

Die Jungen Gemeinden in Südthüringen hatten ab Mitte der 1960er Jahre begonnen mit neuen Gottesdienst-Formaten zu experimentieren, bei dem vor allem auch „neue“ Musik eine Rolle spielte. Diese Gottesdienste zogen mehr und mehr auch nicht-kirchliche Jugendliche an, die aus ideologischen Gründen von staatlicher Seite aus in der FDJ organisiert sein sollten. 2.2 Gottesdienste – einmal anders Im Herbst 1969 fand in der Stadtkirche Rudolstadt, der dortige Pfarrer war Uwe Koch, ein erster „Gottesdienst – einmal anders“ statt. In einer Aufstellung der Jungen Gemeinde Saalfeld dokumentierte Walter Schilling dieses Ereignis: „Seit dem Sommer 1969 haben sich durch gemeinsame Veranstaltungen im Rüstzeiheim Braunsdorf […] starke Verbindungen zwischen der JG Saalfeld und der JG Rudolstadt […] gebildet. […] Das hat am 27.9. eine erste sichtbare Form im ersten Gottesdienst – mal anders in der Stadtkirche Rudolstadt gefunden, an dem knapp 400 Jugendliche teilnahmen.“10

In Zella-Mehlis hatte Jürgen Hauskeller11, später einer der wichtigsten, von SED, MfS und Kirche repressierten Protagonisten der oppositionellen Jugendarbeit, einen solchen Gottesdienst in neuem Format bereits durchgeführt. Diese „Gottesdienste – einmal anders“ zeichneten sich dadurch aus, dass das Liedgut aus dem Blues kam und Jugendbands auftraten. Der Rat des Kreises versuchte diese Gottesdienste zu verbieten, was nur teilweise gelang. In einem Brief beschrieb Walter Schilling schlaglichtartig die Lage: „Reiner Beat und Blues, letzterer frei improvisiert. Schwierigkeiten: 5 Tage vor dem Gottesdienst wurden die Medianas verboten! Freitag kam Winkler vom Kreisrat zum Sup [Superintendent]: die ,Medianas‘ sind verboten und dürfen in der Kirche nicht spielen! Sup.: Medianas? Kenne ich nicht. In der Kirche spielen Glieder der JG und die dürfen! So ging das eine Stunde hin und her, bis Winkler abzog: die sind verboten und dürfen nicht. Sup: das interessiert uns nicht, die spielen im Gottesdienst! 9 BV für Staatssicherheit Gera, undatiert (BArch, MfS, OV „Reaktionär“, AOP, Nr. 477/75, Bd. 1, Bl. 132). 10 JG Saalfeld Aufstellung 1962–1969 (ThürAZ Jena, P-SW-K-04.01). 11 Vgl. Stengel, Hauskeller, 26–28.

Walter Schilling und die Offene Arbeit als Akteure widerständigen Handelns 139 Gottesdienste verbieten wollen? Marschrichtung: Entweder Gottesdienst wie geplant mit allem halten oder der Gewalt weichen unter ausdrücklichem Hinweis, daß das Verhinderung eines Gottesdienstes ist! Also: Mit Musik oder gar nicht! Natürlich passierte gar nichts – nur der Sup. hatte noch mehrere Gespräche mit dem Kreisrat. Der Gottesdienst dauerte ganze 2 Stunden – da waren etwa 500 Jugendliche – wenig Erwachsene – obwohl er nicht als Jugendgottesdienst sondern als ,Gottesdienst – mal anders‘ abgekündigt worden war.“12

In Saalfeld musste der „Gottesdienst – einmal anders“ dagegen laut einem IMBericht abgebrochen werden: „Die Bekanntmachung des Jugendgottesdienstes geschah durch einen Anschlag vor der Stadtkirche: ,Jugendgottesdienst – einmal anders‘ am Sonnabend 1. 11. 1969. Bis 17.30 Uhr hatte sich eine große Menge von Jugendlichen, ca 700–800 Personen angesammelt. Ich sah, wie Jugendliche, Angehörige der Minnesänger und „Willi“ von den Medianas darunter, durch den Hintereingang der Kirche ein- und ausgingen und auch Musikinstrumente hineintrugen. […] Die Jugendlichen strömten hinein. Im Handumdrehen waren alle Plätze besetzt, so dass sehr viele im Mittelgang standen. Aber vorn tat sich nichts. Die Menge wurde langsam unruhig. […] Gegen 18 Uhr betrat der Superintendent von Saalfeld die Kanzel […]. Er war von der Menge (etwa 1000 Personen) der Jugendlichen beeindruckt. Zum Jugendgottesdienst selbst machte er folgende Ausführungen: ,ich möchte gleich am Anfang sagen, dass der Gottesdienst einmal anders, in der ursprünglich geplanten Form nicht durchgeführt werden kann.‘“13

In einer „Einschätzung der Tätigkeit des Jugendpfarrers Walter Schilling“ durch die Staatssicherheit wird selbiges Ereignis ebenfalls erwähnt: „[Es] wurde bekanntgegeben, dass die Veranstaltung auf Weisung des Rates des Kreises Saalfeld nicht stattfindet. Schilling, welcher als Organisator dieser Veranstaltung zu betrachten ist, versuchte geschickt, gegen diese Maßnahme des Staatsapparates zu agitieren. Unter anderem sagte er : ,Ihr seit [sic!] ja gar keine Gammler und Halbstarke, die Kirche ist ein selbständiges Organ, die Jugendlichen können zu ihr kommen, der Staat hat da nicht hineinzureden.‘“14

Bereits hier wird das Konfliktpotenzial deutlich, mit dem sich die Offene Arbeit regelmäßig konfrontiert sah: War die in Braunsdorf und Umgebung stattfindende Jugendarbeit Bestandteil kirchlicher Arbeit oder überschritt sie die Kompetenzen einer Kirche, die nach dem Willen des SED-Staates lediglich mit „Kultausübung“ betraut sein sollte? 12 Brief der Schillings an Oswald, Christl, Frank, Maus und Biene am 12.3. 1970 (ThürAZ Jena, PSW-K-04.01). 13 IM Bericht vom 2.12. 1969 (OV „Reaktionär“, MfS-Reg. X/295/71 Bd. 1, Bl. 99–103). 14 Einschätzung der Tätigkeit des Jugendpfarrers Walter Schilling (OV „Reaktionär“, MfS-Reg. X/ 295/71 Bd. 1, Bl. 127–132).

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Die „Gottesdienste – einmal anders“ finden sich auch im Eröffnungsbericht zum Operativen Vorgang „Reaktionär“, den die Staatssicherheit ab 1971 gegen Walter Schilling wegen § 107 StGB „Verdacht der staatsfeindlichen Gruppenbildung“ lancierte, wieder : „1969 organisierte Genannter mehrere Veranstaltungen unter dem Motto „Gottesdienst einmal anders“, indem [er] mittels Beatveranstaltungen in kircheneigenen Räumen Jugendliche an sich zog, die eine dekadente und zum Teil zum Staat eine feindliche Einstellung besitzen.“15

Mit dem staatlichen Vorwurf, Kirchenräume in missbräuchlicher Weise zu nutzen, musste sich auch das Kuratorium des Braunsdorfer Rüstzeitheimes auseinandersetzen. Laut Protokoll forderten die Kuratoriumsmitglieder „[e]ine Verfügung des LKR“, die „beinhalten [soll], dass die Räume für die von der Verfassung der DDR geschützte Religionsausübung geschaffen sind und unter dem Schutz des Artikels 41 der Verfassung stehen“16. Mit einer solchen Verfügung sollten die permanenten Konflikte mit den kommunalen Behörden gelöst werden und zugleich das Rüstzeitheim sowie die dortigen Veranstaltungen als kirchlicher Kompetenzbereich markiert werden. Die Themen, die in den Veranstaltungen der Jungen Gemeinde und in der sich formierenden Offenen Arbeit verhandelt wurden, waren solche, die sich an der Schnittstelle kirchlicher und politischer Bereiche befanden. Die teilnehmenden und mitwirkenden Jugendlichen kamen zunehmend nicht mehr nur aus kirchlich geprägten Haushalten, sondern waren junge Menschen, die mit staatlichen Institutionen in Konflikt geraten waren. Diese Jugendlichen fielen zunächst durch ihr Äußeres auf: lange Haare, Parka, Levis-Jeans. Seitens der SED wurde dies bereits 1965 als „dekadentes Äußeres“ markiert und „asozialem Verhalten“ zugeschrieben. An dieser Stelle sei nur kurz auf die repressiven Haarschneideaktionen durch staatliche Instanzen, wie sie beispielsweise in Pößneck stattfanden17, hingewiesen. Des Weiteren gab es starke Tendenzen in der Jugendbewegung zu „westlichem“ Beat und Blues und zu Bands wie den Beatles, Rolling Stones u. a. Es entstanden DDR-weit Bands, die diese Impulse aufgriffen, Lieder coverten oder eigene Songs schrieben. Jugendliche trampten wochenends zu Konzerten, die nicht selten gerade in der thüringischen Provinz in Gaststätten, Kneipen und immer wieder in Kirchen stattfanden. Vielfach erhielten diese Bands keine Auftrittslizenz oder ihnen wurde diese Lizenz wieder entzogen. Der Auftritt in Kirchen wurde durch die örtlichen Behörden in Frage gestellt und die Jugendabende diffamiert: „Die Ev. Kirche hat in Saalfeld eine Baracke unmittelbar neben dem Gemeindehaus der Kirche, in welcher Zusammenkünfte mit der Jugend, speziell – Lang15 Eröffnungsbericht (OV „Reaktionär“, MfS-Reg. X/295/71, Bd. 1, Bl. 11–13). 16 Protokoll Kuratorium vom 4.10. 1967 von 10:30 Uhr bis 17 Uhr (ThürAZ Jena, P-SW-K-04.02). 17 Vgl. https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/242954/sozialistischesmenschenbild-und-individualitaet-die-offene-arbeit-ein-ort-der-freiheit.

Walter Schilling und die Offene Arbeit als Akteure widerständigen Handelns 141 haarigen – durchgeführt werden. […] An den Veranstaltungen beteiligen sich durchschnittlich 30 bis 35 Jugendliche zwischen 14 und 20 Jahren. Bis vor kurzer Zeit war es so, dass bei diesen Zusammenkünften Beatmusik von Schallplatten und Tonbändern gehört wurde, ausschließlich West. Es wurden teure Zigaretten geraucht, Schnaps, Bier, Brause, Milch und Bockwürste verzehrt, was jeder selbst bezahlen musste. Die Jugendlichen saßen dabei auf die Stühle geflezt, Beine auf die Lehnen usw.“18

Der SED-Staat betrachtete diese oppositionelle, westlich geprägte Jugendkultur von Beginn an als Gefährdung des am Ende der 1960er Jahre formulierten pädagogischen Ziels: der Formung sozialistischer und eben auch atheistischer Persönlichkeiten19. Durch die Diffamierung der Jugendlichen als „asozial“20 und den wiederholten Vorwurf der „Arbeitsbummelei“ versuchten SED und MfS nicht zuletzt vor dem Hintergrund des „Asozialen-Paragraphen“ im StGB diese Menschen an den Rand zu drängen und zu kriminalisieren. Der Vorwurf des Staates, dass Walter Schilling das Rüstzeitheim in Braunsdorf nutzen würde, um „negativen Einfluss“ auf Jugendliche auszuüben, indem er sie beispielsweise in der Frage der Wehrpflichtverweigerung beriet und unterstützte, wurde im Laufe der Jahre immer lauter. Die staatlichen Instanzen sahen in den von Schilling angebotenen Veranstaltungen eine Einmischung in „politisch-ideologische“ Belange. 2.3 OV „Reaktionär“ 1971 wurde von der Kreisdienststelle für Staatssicherheit (KDfS) Rudolstadt ein Operativer Vorgang angelegt. Der Vorwurf lautete „Verdacht auf staatsfeindliche Gruppenbildung“ (§ 107 StGB): „Auf Grund der Tätigkeit des Kreisjugendpfarrer Walter Schilling wurde eine verstärkte Konzentration dekadenter und labiler Jugendlicher in den Veranstaltungen der JG. festgestellt. Diese Konzentration wurde durch Gewährleistungen solcher Freiheiten begünstigt, die der sozialistischen Erziehung unserer Jugend entgegenwirken, und in negativen (sic!) Sinne beeinflussen.“21

Walter Schilling wurde im OV „Reaktionär“ fünf Jahre „bearbeitet“. Das Ziel war, ihn und seine Arbeit zu „zersetzen“, um seine „Wirkungsmöglichkeiten 18 Bericht Oltn. Rudolstadt, 16.10. 1969 (BArch, MfS, OV „Reaktionär“, AOP, Nr. 477/75, Bd. 1, Bl. 92–93). 19 Vgl. das „Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem“ vom 25.2. 1965 (Regierungskanzlei der Deutschen Demokratischen Republik: Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1965 I, Nr. 6, 86–106). 20 § 249 StGB der DDR. Vgl. dazu Lenski, Asozialität, 162–175. 21 Beschluss für das Anlegen eines Operativ-Vorlaufes. Rudolstadt, den 29.4. 1971 (BArch, MfS, OV „Reaktionär“, AOP, Nr. 477/75, Bd. 1, Bl. 10).

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einzuschränken“22. Im Operativplan vom 17. Juli 1974 heißt es explizit, „den OV ,Reaktionär‘ mit zielgerichteten Maßnahmen der Zersetzung und Verunsicherung zum Abschluß zu bringen.“23 Das bedeutete konkret, die Schließung des Heims und die Versetzung Schillings durch die eigene Kirchenleitung zu erwirken24 : „Hauptbestandteil des Operativ-Planes war die Erarbeitung eines offiziellen Dokuments, in welchem die Beweismittel über den Rat des Bezirkes, Abt. Inneres dem Landesbischof Dr. Braecklein zur Kenntnis gegeben wurden, mit der Zielstellung: – die Ablösung des Pfarrer Schilling als Kreisjugendpfarrer – die Verhinderung des Mißbrauchs des Rüstzeitheimes in Braunsdorf – und die Versetzung des Pfarrer Schilling in eine andere Gemeindezu erreichen.“25

Für diese „Zielstellung“ wurden IM in „kirchlichen Schlüsselpositionen“ „zum Einsatz gebracht“26. Im Abschlussbericht des OV „Reaktionär“ werden hier insbesondere IM „Hans Klinger“ (alias OKR Hartmut Mitzenheim), IM „Günther“ (alias OKR Walter Sieber) und ein IMV der Stasi-Abteilung HA XX/4 erwähnt. Diese hatten laut Abschlussbericht die Aufgabe, „die Entscheidung im Falle Pfarrer Schilling bei der Verhandlung vor dem Landeskirchenrat in unserem Sinne zu beeinflussen“27. Weiter heißt es im Abschlussbericht des OV: „Durch diese Form des politisch-operativen Abschlusses des Op.-Vorganges wurde der Landeskirchenrat gezwungen, eine politische Entscheidung in unserem Sinne zu treffen und dadurch den Differenzierungsprozess innerhalb der Landeskirche zu fördern.“28

„Differenzierung“ wurde das Mittel der Staatssicherheit genannt, um Gruppenprozesse durch Misstrauen, Diffamierung Einzelner oder strategisch an22 Vgl. Eröffnungsbericht vom 29.4. 1971 (BArch, MfS, OV „Reaktionär“, AOP, Nr. 477/75, Bd. 1, Bl. 11–13). 23 Operativplan. Rudolstadt, den 17.7. 1974 (BArch, MfS BV Gera, AKG 003003, Bd. 16, Bl. 46). 24 Die Eröffnung des OV steht wohl auch in Zusammenhang mit einem Zwischenfall in der JG Rudolstadt. Am 20.4. 1971 findet dort ein Abend mit Walter Schilling statt, an dem das Erbe des Nationalsozialismus kritisch diskutiert wird. Allein aufgrund der Thematisierung des Nationalsozialismus außerhalb staatlicher Einrichtungen (Schule, JP, FDJ, etc.) entsteht ein Eklat, der schließlich auf höchster landeskirchlicher Ebene verhandelt wird. Der Landeskirchenrat diszipliniert Schilling mit der Verwarnung, sich ausschließlich religiösen Themen zu widmen und keinerlei Hinweise zu liefern, aus denen angenommen werden könnte, die kirchliche Jugendarbeit hätte etwas zu politische Debatten beizutragen und würde sich in politische Belange einmischen. Vgl. das Schreiben des Landekreises an Walter Schilling am 26.8. 1971 (LKA Eisenach, G 2605 Bd. 3, Bl. 67). 25 Abschlussbericht zum Operativ-Vorgang „Reaktionär“ vom 12.9. 1974 (BArch, MfS BV Gera, AKG 003003, Bd. 16. Bl. 79). 26 Einschätzung der operativ bedeutsamen Bearbeitungsetappe des OV „Spinne“ vom 3.7. 1979 (BArch, MfS, BV Gera AKG 5755, Bl. 97). 27 Abschlussbericht zum Operativ-Vorgang „Reaktionär“ vom 12.9. 1974 (BArch, MfS BV Gera, AKG 003003, Bd. 16. Bl. 79). 28 Ebd., 79 f.

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gelegte Streitigkeiten zu stören und ein einheitliches Agieren dieser Gruppen zu verunmöglichen. Dokumentationen der Staatssicherheit zeigen, dass die staatlichen Instanzen Interesse daran hatten, die Treffen der Jugendlichen durch bürokratische Hürden zu unterbinden: Anmeldung von Veranstaltungen im Rüstzeitheim bei den Behörden29, Meldescheine30, Hygiene-Inspektionen31. Ab den 1970er Jahren war nicht mehr nur die Kreisleitung der SED Rudolstadt involviert, die staatlichen Behörden agierten bereits auf Bezirksebene. SED-Funktionäre des Bezirks Gera versuchten konstant, in konfrontativen Gesprächen mit kirchlichen Amtsträgern die staatlichen Forderungen und Verbote durchzusetzen32. Der Alleinanspruch der SED auf die Erziehung „sozialistischer Persönlichkeiten“ kollidierte mit dem kirchlichen Anliegen, Freiräume anzubieten und Jugendarbeit durchzuführen. Das Erziehungsmonopol gehörte zu den am hartnäckigsten und gegenüber den Kirchen kompromisslos durchgesetzten politischen Handlungsfeldern der SED. Im Februar 1965 wurde das „Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem“ erlassen. Darin artikuliert sich der Anspruch einer völligen Eingliederung der Jugend in die sozialistische Ideologie der DDR: „Das Ziel des einheitlichen sozialistischen Bildungssystems ist eine hohe Bildung des ganzen Volkes, die Bildung und Erziehung allseitig und harmonisch entwickelter sozialistischer Persönlichkeiten, die bewußt das gesellschaftliche Leben gestalten, die Natur verändern und ein erfülltes, glückliches, menschenwürdiges Leben führen.“33

Das „Gesetz über die Teilnahme der Jugend an der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft und über ihre allseitige Förderung in der Deutschen Demokratischen Republik“ von 1974 verschärfte die Situation noch einmal, da in diesem massiv in die Freizeitgestaltung der Jugendlichen in der DDR eingegriffen wurde. Danach sollten sich Jugendliche, d. h. Bürger bis zum vollendeten 25. Lebensjahr, zu „sozialistischen Persönlichkeiten“ ent29 Vgl. Bericht des Volkspolizei-Kreisamtes vom 21.1. 1959 (BArch, MfS, OV „Reaktionär“, AOP 477/75, Bd. 1, Bl. 17). 30 Fehlende Meldescheine werden als ein weiteres Indiz für Verdächtigungen gegen Pfarrer Schilling aufgeführt: Ergänzung zur Einschätzung der Tätigkeit des Jugendpfarrers Schilling vom 13.11. 1970 (BArch, MfS, OV „Reaktionär“, AOP, Nr. 477/75, Bd. 1, Bl. 183–189). 31 Vgl. Hygiene-Inspektion des Landkreises an Walter Schilling vom 31.7. 1973 (BArch, MfS, OV „Reaktionär“, AOP, Nr. 477/75, Bd. 3, Bl. 405). 32 Vgl. Aussprache mit dem Superintendenten am 26.6. 1968 in Rudolstadt (BArch, MfS, OV „Reaktionär“, AOP, Nr. 477/75, Bd. 1, Bl. 67 f.) und in der Personalakte Walter Schillings, Beiakte, Bl. 1 f.: Niederschrift über ein Gespräch am 11.7. 1974 betreffend Information durch den Rat des Bezirkes Gera, Abt. Inneres, über Vorfälle mit Pfarrer Schilling / Braunsdorf. Landesbischof Braecklein vom 12.7. 1974. 33 § 1(1) des Ersten Teils: Grundsätze und Ziele des einheitlichen sozialistischen Bildungssystems und gesellschaftliche Erziehungsfaktoren. In: „Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem“. Februar 1965.

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wickeln. Recht und „Ehrenpflicht“ der Jugend seien der Schutz des Sozialismus. Bildung und Erziehung, Kultur und Sport, Arbeits- und Lebensbedingungen, Freizeit und Touristik Jugendlicher sowie ihre Teilnahme am politischen und gesellschaftlichen Leben seien in Zusammenarbeit mit der FDJ zu fördern. Die Massenorganisationen der DDR nahmen für die Formung der sozialistischen Jugend eine zentrale Rolle ein. Jede Form von alternativen Optionen der Freizeitgestaltung wurde als Konkurrenz, wenn nicht gar als Bedrohung eingeordnet. So findet sich im „Operativplan zum etappenmäßigen Abschluß des OV ,Reaktionär‘“: „Die vorliegenden Beweismittel bestätigen, daß das gesamte Verhalten und die Tätigkeit des „Reaktionär“ als Kreisjugendpfarrer darauf ausgerichtet ist, Jugendliche mit raffiniert getarnten Methoden ideologisch gegen unseren Staat zu beeinflussen […]. Seine gesamte bisherige Handlungsweise, seit Beginn seiner Amtstätigkeit, offenbart seine feindliche Einstellung zur sozialistischen Entwicklung in der DDR. Unter dem Deckmantel Verantwortlichkeit der Kirche für die sogenannten ,Randsiedler‘, diesen durch Einwirkung der Kirche einen Platz in der Gemeinschaft zu sichern, maßt sich ,Reaktionär‘ an, seinen Einfluß besonders auf solche Jugendliche auszuüben, die sich mit den gesellschaftlichen Verhältnissen und der Politik unseres Staates nicht abfinden.“34

In Braunsdorf, Saalfeld, Rudolstadt, aber auch andernorts gab es nun vermehrt Überschneidungen der Gruppen aus kirchlichen und nicht-kirchlichen Kreisen35. Auch Wehrdienstverweigerer und solche, für die der Dienst an der Waffe aus unterschiedlichen Gründen eine (moralische) Schwierigkeit darstellte, kamen in die OA. MfS-Akten dokumentieren, dass das Rüstzeitheim Braunsdorf aufgrund seiner Lage in der Nähe des Grenzgebietes Anlaufpunkt war für NVA-Soldaten, die an der unweit entfernten Grenze stationiert waren und in ihren „Ausgängen“ an Schillings Junger Gemeinde teilnahmen36. Schillings Engagement für Wehrpflichtige, die aufgrund ihrer Einberufung mit dem Staat in Konflikt geraten waren, umfasste nicht nur Begleitung, sondern auch seelsorgerlichen Beistand bei Gerichtsverfahren gegen Verweigerer. Darüber hinaus bot er Zuflucht für einen Deserteur37. Junge Männer, die sich unter Druck gesetzt sahen, länger als 18 Monate in der NVA zu dienen, wurden von Walter Schilling, Uwe Koch und anderen Jugenddiakonen beraten. Manchen Totalverweigerern und Bausoldaten blieb als berufliche Option nur die Ausbildung zum Jugenddiakon oder das Theologiestudium an einer Kirchlichen Hochschule. Auf diese Weise entstand gerade unter den Jugenddiakonen und Sozialdiakonen ein Bewusstsein für Friedensfragen, befrei34 Operativplan vom 17.7. 1974 (BArch, MfS, BV Gera, AKG 003003, Bd. 16, Bl. 45–54), hier 45. 35 Walter Schilling selbst spricht von einer „Verschiebung“; während anfangs der Teil Ungetaufter 20 % betrug, wuchs dieser Teil im Laufe der 1970er immer weiter an (Schilling, 68er-Insel, 200). 36 Vgl. Bericht (BArch, MfS, OV „Reaktionär“, AOP, Nr. 477/75, Bd. 1, Bl. 278). 37 Vgl. Niederschrift Braecklein am 12.7. 1974 (LKA Eisenach G 2605 Beiakte 1974 Bl. 2).

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ungstheologische Ansätze und reformpädagogische Ideen. Viele von ihnen waren durch Walter Schilling und andere Akteure der OA beraten und begleitet worden. So verbreiteten sie genannte neue Konzepte und sorgten dafür, dass sich DDR-weit Gruppen der OA bildeten. 2.4 Exkurs: Inoffizielle Mitarbeiter in „kirchlichen Schlüsselpositionen“ Ab Ende der 1960er Jahre setzte das MfS vermehrt auf personenbezogene Vorgangsarbeit. Die MfS-Richtlinie 1/71 zur Operativen Personenkontrolle (OPK) wurde 1971 eingeführt. Anhand einer OPK sollte die „Überprüfung von Verdachtsmomenten zu Verbrechen und Straftaten“ ermöglicht, sowie „feindlich-negative“ Haltungen dokumentiert werden38. Außerdem zeigte sich in der Arbeit des MfS ein vermehrter Einsatz von „Operativen Vorgängen“. Diese sollten mit verdeckt repressiven Mitteln in bestimmter Weise unerwünschte Personen, bald auch Gruppen „zersetzen“ bzw. „liquidieren“39. In der Richtlinie 1/71 des MfS zur OPK im Januar 1971 wurde dies folgendermaßen ausgedrückt: „Mit den Resultaten der operativen Personenkontrolle wird der gesellschaftliche Erziehungsprozess bei strikter Wahrung der Geheimhaltung und Konspiration in vielfältiger Weise unterstützt, angeregt und präzisiert.“40

Allein im Umfeld der Bezirksverwaltungen (BV) Suhl, Gera und Erfurt ist zu Beginn der 1970er Jahre ein Ansprung Operativer Vorgänge und OPK zu verzeichnen. Hier seien beispielsweise der OV „Zersetzung“41 der KD Jena gegen Klaus-Peter Hertzsch zu nennen, der OV „Prisma“42 gegen die Jugendwarte Eis und Oberländer, der OV „Reaktionär“43 gegen Walter Schilling, der OV „Hai“44 der BV Suhl gegen Pfarrer Hauskeller, der OV „Ufer“45 gegen Superintendent Große der KD Saalfeld, der OV „Maler“46 gegen einen Mitarbeiter der Jungen Gemeinde, OV „Lützen“47 gegen Gernot Friedrich der BV

38 Vgl. Buthmann, Personenkontrolle, 253. 39 Vgl. Schilling, Bearbeitung, 223. 40 Richtlinie Nr. 1/71 über die operative Personenkontrolle, Januar 1971, 3, https://www.stasi-un terlagen-archiv.de/assets/bstu/content_migration/DE/Wissen/MfS-Dokumente/Downloads/ Grundsatzdokumente/richtlinie-1-71_personenkontrolle.pdf. 41 OV „Zersetzung“, KD Jena X 699/70; BStU Ast Gera, archiviert am 23.10. 1975, zitiert nach Schilling, Bearbeitung, 222. 42 OV „Prisma“, IX 23/72; BStU, ASt Erfurt, AOP 1363/80, zitiert nach ebd. 43 OV „Reaktionär“, KD Rudolstadt X 295/71 X 295/71; BStU Ast Gera, AOP 477/75, zitiert nach ebd. 44 OV „Hai“, BV Suhl, XI 51/71; BStU, ASt Suhl, archiviert am 18.3. 1975, zitiert ebd. 45 OV „Ufer“, KD Saalfeld X 183/71; BStU Ast Gera AOP 659/77, zitiert nach ebd. 46 OV „Maler“, KD Saalfeld X 463/74; BStU, Ast Gera AOP 284/75, zitiert nach ebd. 47 OV „Lützen“, BV Gera X 536/71; BStU, Ast Gera AOP 766/76, zitiert nach ebd.

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Gera oder der OV „Klerus“48 gegen Pfarrer Otto Besser und Pfarrer Jochen Schlegel der KD Stadtroda aufzuzählen49. Diese Liste bleibt unvollständig. Die Veränderungen in der Vorgehensweise des MfS zeigen sich auch in Bezug auf Inoffizielle Mitarbeiter. 1968 wurde der Geheime Informantor (GI) umbenannt zum Inoffiziellen Mitarbeiter.50 Die Geheimhaltung der Kontakte zwischen IM und dem jeweiligen Führungsoffizier des MfS, die sogenannte Konspiration, hatte dabei oberste Priorität. In Bezug auf den Umgang mit der Evangelisch-Lutherische Kirche in Thüringen (ELKTh) rekrutierte das MfS nun vermehrt Personen als IM, die kirchenleitende Positionen innehatten51. Neben dem Landesbischof Ingo Braecklein, der als GM „Ingo“52 seit 1959 beim MfS registriert war, und OKR Gerhard Lotz, der als IM „Karl“53, juristischer OKR und Stellvertreter des Bischofs maßgeblich die Geschicke der Landeskirche und damit auch der Jugendarbeit beeinflusste, wurde 1968 Walter Saft geworben (IM „Salzmann“54), der 1975 OKR wurde und als Visitator für den Kirchenbezirks West zuständig war. Weiterhin wurde 1971 Hartmut Mitzenheim, Sohn des früheren Landesbischof Moritz Mitzenheim, geworben, zu diesem Zeitpunkt Leiter des Kreiskirchenamtes in Gera. Er agierte als IMV „Hans Klinger“55 in Übereinstimmung mit den Interessen des MfS und wurde 1973 juristischer OKR und 1976 Nachfolger von Gerhard Lotz als Stellvertreter des Bischofs. Eine weitere für die Einflussnahme auf die Jugendarbeit in Rudolstadt relevante Person war Walter Sieber, der 1971 geworben und 1975 OKR und Visitator des Kirchenbezirks Ost mit Sitz in Gera wurde. Sein Deckname war IMV „Günter“56. Martin Kirchner wurde 1970 geworben und saß als Leiter des Kreiskirchenamtes Weimar an einer wichtigen Schaltstelle zwischen Landeskirchenrat und Basis. Als IM „Küster“57, IM „Körner“, IM „Falke“ und IM „Hesselbarth“ trug er Diffamierungen von in der Jugendarbeit aktiven Pfarrern weiter in den Landeskirchenrat. 1973 wurde Wolfram Johannes (ab 1976 juristischer OKR) geworben, der als IMB „Nettelbeck“58 u. a. im OV „Reaktionär“ sowie im OV „Spinne“, der 1978 gegen Walter Schilling angelegt worden war, Informationen weitertrug bzw. Handlungsanweisungen vom MfS entgegennahm. Hans-Joachim Werneburg wurde 1971 als IMS „Hörsel“59 geworben und wurde ab 1984 in einer OPK „Hörsel“60 durch das MfS „bear48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60

OV „Klerus“, KD Stadtroda X 5/71; BStU, Ast Gera, AOP 869/75, zitiert nach ebd., 223. Vgl. ebd., 222 f. Vgl. ebd., 224 f. Vgl. ebd. Registriernummer : BStU, MfS 1387/59 bzw. XV/10679/60, zitiert nach ebd., 218. Ebd. BV Suhl XI 187/68, Suhl AIM 389/80, zitiert nach ebd. BV Gera X 410/71, Gera AIM 504/81, ebd., 226. BV Gera X 411/71, Gera AIM 389/80, zitiert nach ebd., 225. BStU Ast Gera F 22: IX 9/70, zitiert nach ebd., 226. BV Erfurt IX 163/73; BStU ASt Erfurt, Teilablage A-129/83, zitiert nach ebd., 225. BV Erfurt IX 621/71, zitiert nach ebd., 227. BV Erfurt 1488/84, zitiert nach ebd.

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beitet“. 1976 wurden Hans Schäfer und Christoph Thurm als IM geworben. Hans Schäfer, der zuvor zwei Jahre in einer OPK bearbeitet wurde, ist als „IME Gerstenberger“61 für das MfS tätig. IME „Bruno Köhler“62 ist der Deckname Christoph Thurms, er wurde 1978 zum OKR und Nachfolger von Walter Sieber als Visitator des Kirchenbezirks Ost der ELKTh. Diese Aufstellung zeigt, dass Ende 1977 drei theologische (Schäfer, Saft, Sieber) und drei juristische OKR (Mitzenheim, Johannes, Lotz) sowie der Bischof (Braecklein) als IM registriert waren. Hinzu kamen der Referent des Bischofs (Hans-Joachim Werneburg) und zwei Juristen als Kreiskirchenamtsleiter (zunächst Kirchner, dann Mitzenheim)63. Die Durchdringung kirchlicher Strukturen war für das MfS Voraussetzung zur Erreichung ihres Ziels, Konflikte einzuebnen oder eskalieren zu lassen und potenzielle Störer durch die Kirche selbst disziplinieren zu lassen. Dies war vor allem deswegen möglich, da kirchliche Amtsträger zu inoffiziellen Kontakten mit dem MfS bereit waren64. OV „Hai“, OV „Reaktionär“, und seit 1978 OV „Spinne“ zeigen, dass es besonders die Jugendarbeit war, die vom MfS unterdrückt wurde. Gerade in Thüringen entwickelten sich schon frühzeitig die Arbeitsformen und Inhalte der OA, die mit erheblichem Zustrom von jungen Leuten aus dem säkularen Bereich eine ungewöhnliche Form der kirchlichen Jugendarbeit darstellte65. Da sie sich abseits konventioneller kirchlicher Jugendarbeit bewegte, konnte das MfS leichter den Vorwurf erheben, die OA bewege sich nicht im „eigentlichen“ kirchlichen Arbeitsfeld und hätte mit Religionsausübung nichts mehr gemein. Dieser Vorwurf stieß durchaus auf Resonanz in den Kirchenleitungen, die teilweise selbst Schwierigkeiten hatten die offene Jugendarbeit als kirchlichen Kompetenzbereich anzuerkennen66. In der ELKTh lagen die Entscheidungsbefugnisse eher bei den Theologinnen und Theologen der kirchlichen Strukturen als beim Laienamt: Während der Landeskirchenrat ein- bis zweimal im Monat tagte und weitreichende Entscheidungen traf, hatte die Synode, in der gerade Laien aktiv waren, stark begrenzte Einflussmöglichkeiten. Dem entsprach die Werbung Inoffizieller Mitarbeiter gerade unter kirchlichen Führungskräften, da dadurch Entscheidungen im Sinne der staatlichen Behörden mitbeeinflusst werden konnten67. Dies hatte teils massive Auswirkungen auf die Gestaltungsfähigkeit der OA. Für die Analyse der kurzzeitigen (1974) und dann endgültigen Schließung des Rüstzeitheimes Braunsdorf 1979 müssen die kirchlichen IM im Landeskirchenrat berücksichtigt werden, da ihr Handeln Effekte auf Beteiligte der OA an vielen Orten hatte. 61 62 63 64 65 66 67

BV Gera X 537/76, zitiert nach ebd., 225. BV Gera X 460/75, zitiert nach ebd., 227. Vgl. ebd. Vgl. ebd., 228 f. Vgl. ebd., 230. Vgl. ebd., 233. Vgl. ebd., 213.

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2.5 Die Schließung Vor allem Schillings und Kochs Engagement für Wehrdienstverweigerer und ihre Beratung von Wehrpflichtigen war der Grund, dass die staatlichen Stellen die Auflösung der OA anstrebten. In einem Gespräch mit dem Landesbischof bemängelte der Stellvertreter Inneres des Rates des Bezirkes Gera, „den negativen Einfluß Schillings auf viele Jugendliche, die er gegen die Wehrpflicht einnimmt. […] Er habe seine negative Kritik an der Ausbildung der Armee geäußert und dies sei besonders auch im Zusammenhang mit dem unmittelbar bei Braunsdorf liegenden Ausbildungsobjekt der Armee erfolgt“68.

Von leitenden Stellen aus dem LKR heraus wurde die Jugendarbeit, die von den beiden Pfarrern betrieben wurde, immer stärker angefragt. Kirchliche Unterlagen und MfS-Akten dokumentieren zahlreiche Versuche, deren Arbeit Repressalien auszusetzen. In den 1970er Jahren kamen vermehrt IM aus dem Umfeld der sich etablierenden OA zum Einsatz, die regelmäßig von den Zusammenkünften berichteten. Die staatlich veranlassten Hygiene-Inspektionen wurden in den nächsten Jahren zum Austragungsort der Konflikte zwischen den Vertretern der OA, kirchenleitenden und staatlichen Stellen. Besonders hervorgehoben wurde der Einsatz Schillings für „asoziale“ bzw. „kriminelle Elemente“, womit die Jugendlichen gemeint waren, die sich strafrechtlich relevante Delikte hätten zu Schulden kommen lassen. Mit seinem Einsatz für eben diese Jugendlichen hätte auch er selbst sich in der Nähe gesetzeswidriger Handlungen bewegt. Auf diesen Vorwurf folgte im Juli 1974 die Drohung der Staatsapparate gegenüber dem Landesbischof ein Ermittlungsverfahren gegen Schilling einzuleiten, wenn die Kirchenleitung nicht selbst fähig wäre, denselben zu disziplinieren69. Die staatlichen Behörden, so geht es aus der OV-Akte hervor, setzten den Landesbischof und den LKR unter Druck, sich gegen Schilling zu positionieren, dessen Arbeit zu diskreditieren und ihn auf eine andere Pfarrstelle zu versetzen. Laut Niederschrift des Landesbischofs vom Juli 1974 berichtete der 1. Stellvertreter Inneres: „Nachdem man schon in den vergangenen Jahren immer wieder einmal in den Staatsorganen mit den Vorfällen in Braunsdorf im Rüstzeitenheim und dem Verhalten des Pfarrers Schilling habe beschäftigen müssen und auch der Landeskirchenrat mit diesen Dingen vom Staat aus befaßt worden sei, sei nunmehr bei dem Verhalten Pfarrer Schillings eine Lage eingetreten, die es nicht erlaube, ohne ernste Konsequenzen gegenüber Schilling die Angelegenheit zu betrachten. […] Die Staatsorgane hätten […] die Absicht ein Ermittlungsverfahren gegen Schilling einzuleiten […]. Man sei sich aber klar, daß ein solches Verfahren für den Staat 68 Niederschrift Landesbischof vom 12.7. 1974 (LKA Eisenach, G 2605, Beiakte 1974, Bl. 5). 69 Vgl. ebd., Bl. 1.

Walter Schilling und die Offene Arbeit als Akteure widerständigen Handelns 149 wie auch für die Kirche von unabsehbaren Konsequenzen sei. Aus diesem Grund wolle der Rat des Bezirkes Gera […] das Material vorlegen und [den Landeskirchenrat] bitten, die nötigen Maßnahmen gegen Schilling einzuleiten.“70

Ab 1971, mit der Eröffnung des OVs gegen Schilling, wurde Jahr um Jahr die Eskalation vorangetrieben, die mit einem Verweis des Landkreises der ELKTh und der Schließung des Heimes 1974 ihren Höhepunkt erreichte: „Der Landeskirchenrat hat sich in seiner Sitzung vom 26. 8. 1974 mit dem Komplex befaßt und ist zu folgenden Entscheidungen gekommen: Da Pfarrer Schilling seine Pflichten als verantwortlicher Heimleiter […] gröblichst verletzt hat, wurde ihm ein förmlicher Verweis Maßgabe des Amtszuchtgesetzes ausgesprochen. Da durch die Feststellung der Kreishygieneinspektion erhebliche sanitäre Mißstände im Rüstzeitheim Braunsdorf festgestellt wurden, wird das Heim mit sofortiger Wirkung geschlossen. […] Der Landeskirchenrat wird nach Braunsdorf einen Pfarrer zu bringen versuchen, der für die verantwortliche Leitung eines Rüstzeitheimes geeignet ist.“71

Schilling wurde aufgefordert, die Pfarrstelle zu wechseln und es wurde ihm auferlegt, sich bis zu seinem Stellenwechsel ausschließlich der Gemeindearbeit zu widmen und aus der Jugendarbeit zurückzuziehen. Mit der Schließung und dem drohenden Weggang Pfarrer Schillings wurde die Offene Arbeit zu beseitigen versucht. Es kam zu einer Solidarisierungswelle mit Pfarrer Walter Schilling zusammen mit der Bitte, das Rüstzeitheim schnellstmöglich wieder zu öffnen. Gemeindekirchenräte und Gemeinderäte aus verschiedenen Rudolstädter Kirchengemeinden wandten sich in einem gemeinsamen Brief an Landesbischof Ingo Braecklein: „Die bestürzenden Vorgänge um das Rüstzeitheim Braunsdorf bewegen uns, eine Gruppe von Mitgliedern verschiedener Rudolstädter Gemeinden, die seinerzeit – vor 10 und mehr Jahren – am Aufbau des Bdorfer Heimes mitgewirkt haben, Ihnen unsere diesbezüglichen Sorgen und Wünsche zu unterbreiten. Es befremdet uns, daß für eine so schwerwiegende Beschlußfindung keine Mithilfe mündiger Christen in Anspruch genommen wurde. Der GKR Bdorf, das dem Heim vorstehende Kuratorium, die Suptur Rudolstadt sowie Nutzer des Heimes – Das Schülerwerk und die betroffenen JG – hätten aus christlicher Verantwortung doch gehört werden sollen. Es kann nicht Absicht des LKR sein, sich zum Liktor staatlicher Organe herzugeben. Ein Lokaltermin in Braunsdorf hätte die Darstellung der Kreishygiene-Inspektion Rudolstadt ohnehin als Zerrbild entlarvt. 70 Ebd. 71 Brief an den 1. Stellv. Inneres des Rates des Bezirkes Gera vom 30.8. 1974 (LKA Eisenach, G 2605, Beiakte 1974, Bl. 36).

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Die Schließung des Heimes ist eine schwere Störung der christlichen JA und könnte zu einem gefährlichen Präzedenzfall werden, dessen Weiterungen gar nicht abzusehen sind. Es kann jetzt nur Anliegen aller Beteiligten sein, eine baldmögliche Öffnung des Heimes herbeizuführen. Das sind wir nicht zuletzt jenen sozialen Randgruppen schuldig, die dort eine – oft ihre einzige – Heimstatt gefunden haben.“72

Auch der Pfarrkonvent Rudolstadt solidarisiert sich mit Schilling und schreibt an den LKR: „Wir waren sehr überrascht, daß eine solche Entscheidung ohne seelsorgerliches Gespräch mit Bruder Schilling, ohne Information an Ort und Stelle und ohne Rücksprache mit dem Konvent gefallen ist. In einer gemeinsamen Beratung hätten sich Mißverständnisse und Härten vermeiden lassen. Bruder Schilling hat im Laufe seines Dienstes an Jugendlichen immer wieder versucht, für alle dazusein, insbesondere für solche, die Hilfe in persönlichen Konflikten und Nöten suchten. Er hat die Solidarität mit den Jugendlichen unter Einsatz seines Privat- und Familienlebens geübt und praktische Lebenshilfe gegeben. Als Amtsbrüder und Mitarbeiter sehen wir in seiner Tätigkeit eine Verwirklichung des Auftrages der Kirche, offen zu sein für die Welt. Es ist selbstverständlich, daß dadurch Schwierigkeiten und Mißverständnisse mit staatlichen und kirchlichen Stellen entstehen können. […] Mit Schließung des Heims wäre unser Dienst an den Jugendlichen empfindlich getroffen. Wir können uns deshalb mit der Schließung des Heims nicht einverstanden erklären.“73

Und nicht zuletzt meldeten sich die Jugendlichen selbst in zahlreichen Briefen beim Landesbischof, u. a. die JG Jena: „Wir wenden uns an den LKR in einer Angelegenheit, die uns sehr am Herzen liegt. Wir gehören zur jungen Gemeinde Jena. Unser Jugendkreis ist ein Kreis der offenen Arbeit, d. h. wir sind offen für junge Christen der verschiedensten sozialen Schichten […]. Mit Bestürzung und großem Befremden haben wir erfahren, daß der LKR das Rüstzeitheim Braunsdorf geschlossen und Pfr Walter Schilling aufgefordert hat sich eine andere Pfarrstelle zu suchen und die Heimleitung abzugeben. Wir sind damit nicht einverstanden. Das Rüstzeitheim Braunsdorf bedeutet für die Arbeit unserer JG sehr viel. Wir haben nur dort immer Gelegenheit uns mit jungen Christen aus der ganzen DDR zu treffen. […] Nicht wenige von uns sind dort getauft oder konfirmiert worden. Auch junge Familien mit kleinen Kindern haben hier die Möglichkeit, am Leben der Jungen Gemeinde teilzunehmen, was in vielen andern Heimen nicht möglich ist. […] Für viele Jugendliche, die nirgendwo echte Hilfe fanden, wurde die Gemeinschaft in Braunsdorf zum positiven Wendepunkt ihres Lebens. Das wurde 72 Schreiben an Landesbischof vom 19.9. 1974 (LKA Eisenach, G 2605, Beiakte 1974, Bl. 87). 73 Pfarrkonvent Rudolstadt vom 16.9. 1974 (ThürAZ Jena, P-SW-K-04.01).

Walter Schilling und die Offene Arbeit als Akteure widerständigen Handelns 151 nur durch die Person und den Leitungsstil Walter Schillings möglich. […] Wir haben den Eindruck, daß der Landeskirchenrat sich über das Leben und die Zustände im Rüstzeitheim Braunsdorf nur einseitig und nicht aus eigener Anschauung informiert hat. Wir sehen in der Schließung des Heims eine Behinderung unserer Jugendarbeit überhaupt. Wir müssen befürchten, daß in Konsequenz dieser, der offenen Jugendarbeit äußerst hinderlichen Maßnahme, uns mehr und mehr der kirchliche Rückhalt genommen wird. Wir erwarten vom Landeskirchenrat eine verständnisvolle Überprüfung seiner Entscheidung in dieser Sache.“74

Schilling selbst legte Widerspruch gegen den Verweis und den Beschluss des Landkreises zur Schließung des Heimes ein. Diesem wurde zwar nicht stattgegeben, aber die Wiedereröffnung des Heimes wurde nicht mehr an seinen Weggang geknüpft. Die Synode sollte über den Verweis gegen Schilling abstimmen, falls er seinen Widerspruch nicht zurückziehen würde. Die Beratungen dazu zogen sich noch bis in das Jahr 1975 hin. Dann beschloss der LKR nach einer Vereinbarung mit Schilling: Wenn dieser den Verweis akzeptiere, dürfe er in Braunsdorf bleiben und das Heim unter einem neuen Leiter wieder eröffnet werden. Ein Protokoll-Auszug der LKR-Sitzung gibt darüber Auskunft: „44. Wiedereröffnung des Rüstzeitheims Braunsdorf […] a) Das Rüstzeitheim Braunsdorf wird wieder eröffnet. Die Leitung erfolgt in der Verantwortung und nach der Weisung des Superintendenten Sondershaus, ausgeübt durch den Diakon Köhler, Rudolstadt. b) Das Heim ist nicht als allgemeine Beherbergungsstätte zu benutzen, infolgedessen ist es auch nicht möglich, Privatgäste aufzunehmen, die sich in Braunsdorf aufhalten. c) Pfarrer Schilling hat das Recht zur Durchführung von Rüstzeiten […] in Anspruch zu nehmen.“75

Im Abschlussbericht des OV „Reaktionär“ räumten die MfS-Offiziere ein, dass die Versetzung des „Reaktionärs“ auf eine andere Pfarrstelle zwar nicht geglückt sei, aber im Wesentlichen die „Zielstellung des Vorganges ,Reaktionär‘ […] erreicht wurde“76. Die Eskalation hatte vorerst einen Höhepunkt erreicht und die Staatssicherheit mit der kirchlichen Disziplinierung Schillings zumindest einen Teilerfolg verbuchen können. Dennoch wurde zwischen 1975 und 1980 das Rüstzeitheim zu einem wichtigen Anlaufpunkt vieler Jugendlicher. Die Offe74 JG Jena an den LKR vom 12.9. 1974 (LKA Eisenach, G 2605, Beiakte 1974, Bl. 72). 75 Prot.-Auszug der LKR-Sitzung am 13./14. 1. 75 (LKA Eisenach, G 2605, Beiakte 1974, Bl. 145). 76 Weiterhin wurde in diesem Dokument beschlossen, dass Schilling im Rahmen einer sogenannten Operativen Personenkontrolle (OPK) weiterhin überwacht und gegebenenfalls „Maßnahmen“ eingeleitet werden sollten. Vgl. den Abschlussbericht zum Operativ-Vorgang „Reaktionär“ am 12.9. 1974 (BArch, MfS, AKG 003003, Bd. 16 Bl. 69–83).

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nen Zeiten in Braunsdorf waren einige Wochen im Sommer, die keiner Anmeldung bedurften, von einem Kommen und Gehen geprägt waren, in denen Kontakte zwischen den verschiedenen OA geknüpft wurden und thematisch intensiv theologisch und gesellschaftspolitisch gearbeitet wurde. Ende Oktober 1979 musste das Rüstzeitheim – nach einer im September durchgeführten Hygienekontrolle – schließen und erhielt bis zum Ende der DDR keine Genehmigung zur Wiedereröffnung. Nach der Bezirkshygienekontrolle, die die Schließung des Heimes angeordnet hatte, wandte sich der 1. Stellvertreter Inneres der Bezirksleitung Gera an den Landesbischof Werner Leich. In diesem Schreiben ging jener insbesondere auf die Ereignisse im Jahr 1974 ein und übte unter Bezugnahme auf die damaligen Beschlüsse des Landkreises Druck auf die Kirchenleitung aus, Schilling nun endgültig aus Braunsdorf zu entfernen: „Da offensichtlich keine klaren Verhältnisse hinsichtlich der Verantwortlichkeit bestehen, konnten sich die Zustände im Rüstzeitheim derart entwickeln, wie sie bei den letzten Hygienekontrollen festgestellt wurden. Darüber hinaus waren auch inhaltliche Aspekte der Jugendarbeit des Pfarrers Schilling bereits mehrmals Gesprächsgegenstand zwischen uns. […] Daraus geht […] die eindeutig kirchenfremde Zielsetzung in der Arbeit des Pfarrers hervor, die sichtbar machen, daß die von ihm betriebene Arbeit ein Mißbrauch kirchlicher Möglichkeiten ist. Als Basis dafür nutzt er das von ihm immer mehr zweckentfremdete Heim in Braunsdorf“77.

Die längerfristige Schließung stand im Zusammenhang mit den Jugendfestivals JUNE, die 1978 und 1979 in der Rudolstädter Stadtkirche und unter Einbeziehung des Heimes als Übernachtungsort stattfanden und jeweils über 1000 Jugendliche aus der ganzen DDR anzogen.

3. JUNE 78 und 79 JUNE 78 wurde als Jugendfestival durch Beteiligte der JG Rudolstadt und Saalfeld, Mitwirkende der Offenen Zeiten in Braunsdorf, darunter viele (zukünftige) Diakone, geplant und durchgeführt. Trotz der Aufforderung sich aus der Jugendarbeit zurückzuziehen, nahmen Schilling und Koch abermals eine maßgeblich koordinierende Funktion ein. Sowohl die staatlichen Behörden auf Bezirksebene als auch die kirchenleitenden Stellen im Landeskirchenamt erfuhren sehr kurzfristig von dem Vorhaben JUNE 78. Daher war die Durchführung von JUNE 78 für die Veranstalterinnen und Veranstalter we77 Schreiben 1. Stellv. Inneres der Bezirksleitung Gera an Landesbischof Werner Leich am 24.10. 1980 (LA Thüringen, StA Rudolstadt – Bezirkstag und Rat des Bezirkes Gera 17310, Bl. 137).

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sentlich unkomplizierter als JUNE 79. Das zweite Festival war mit zahlreichen Auflagen belegt worden, die die Durchführung für die Veranstalter stark beeinträchtigten. Das dreitägige JUNE 78 fand in der Rudolstädter Stadtkirche unter dem Motto „Christen im UNO-Jahr gegen die Apartheid“78 statt. Damit schien der Vorbereitungskreis ein für staatliche Ohren ungefährliches Thema gewählt zu haben. Apartheid wurde mit Emanzipationskämpfen Schwarzer Menschen in Südafrika und andernorts assoziiert und war damit augenscheinlich anschlussfähig an antiwestliche Positionierungen der SED. Aus der ganzen DDR reisten Jugendliche an. Zunächst standen Berichte über „Apartheid und Rassismus, die das Zusammenleben von Rassen, Kulturen und Nationen zerstören“ auf dem Programm. Im Anschluss daran wurde Apartheid – in direkter Übersetzung „Ausstoßung, Absonderung“ – auf Lebenswirklichkeiten der Jugendlichen anhand von fünf Impulsen appliziert: „Laßt den Anderen anders sein – Frage nach der Ursache, warum er anders ist – Lerne den Anderen ganz kennen – Miß den Anderen weniger nach seinem Können, sondern nach seinem Sein“79. Arbeitsgruppen diskutierten Fragen, die sich auf Problemlagen u. a. christlicher Jugendlicher in der DDR bezogen. Zentral war das Themenfeld „Anderssein“ und der Umgang damit. Am Ende stand der Impuls: „Traue dem Anderen und dir selbst etwas zu“. Eine Liturgische Nacht, an der mindestens 1.000 Jugendliche teilnahmen, rundete das Ende des zweiten Tages ab. Der Gottesdienst der Versöhnung mit Gebeten für rassifizierte Menschen weltweit, für Inhaftierte und sozial Ausgestoßene in der DDR entließ die Jugendlichen wieder in den Alltag80. Die Brisanz von JUNE 78 lag zum einen in der überregionalen Ausrichtung der Veranstaltung, die die Staatssicherheit veranlasste, über Bezirksgrenzen hinweg tätig zu werden, um dem Anspruch der Kontrolle und Überwachung des Jugendfestivals gerecht zu werden. Zum anderen wurde hier gewagt, den Kampf gegen Rassismus im globalen Süden mit den Unfreiheiten und Ausgrenzungen der SED-Diktatur zusammenzudenken. Dass dies gleichzeitig mit den aufkeimenden Menschrechtsdebatten in der DDR im Kontext der Schlussakte von Helsinki geschah, dramatisierte die implizite Kritik am sozialistischen Staat und seine Positionierung auf der Seite der „Guten“. Diese Gleichzeitigkeiten hatten den Effekt eines Bedrohungsszenarios für SED und MfS, was sich in den Maßnahmen zu Beginn der 1980er Jahre deutlich zeigt. Im November 1978, kurz nach JUNE 78, eröffnete das MfS den OV „Spinne“ gegen Walter Schilling81. Federführend war Klaus Roßberg (alias „Dr Roß78 Die UNO hatte auf ihrer 32. Generalversammlung Ende 1977 beschlossen das Internationale Anti-Apartheid-Jahr für 1978 auszurufen, um die gemeinsamen internationalen Bemühungen zur Beseitigung der „Rassendiskriminierung“ zu verstärken. 79 TherAZ, Losgehen, 132 f. 80 Vgl. Von Versöhnung reden – soll – will ich (ThürAZ Jena, P-SW-K- 63.03). 81 Vgl. BArch, MfS, BV Gera, Abt XX, Reg.-Nr. X/760/78 OV „Spinne“.

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bach“), einer der wichtigsten MfS-Offiziere für Kirchenfragen in der DDR82. Landesbischof Werner Leich, KKR Kirchner (IM „Franke“) sowie OKR Hartmut Mitzenheim (IMV „Hans Klinger“) und OKR Hans Schäfer (IME „Gerstenberger“) waren bezüglich Walter Schillings regelmäßig mit „Dr Roßbach“ in Kontakt. Die Hauptabteilung in Berlin wirkte entscheidend am OV „Spinne“ mit und veranlasste, dass die Planungen zu JUNE 79 erheblich erschwert wurden83. JUNE 79 stand unter dem Motto „Christen im UNO-Jahr des Kindes“. Um einem möglichen Streit mit der Kirchenleitung auszuweichen, wurde diese nun im Vorfeld über die Planungen zum Jugendwochenende in Kenntnis gesetzt. In diesem Schreiben, das dem OKR Vogel von FrommannshausenSchubart als Dezernent für Jugendfragen vom Stadtjugendpfarramt Rudolstadt vorgelegt wurde, heißt es: „Eventuelle musikalische Veranstaltungsteile, Schriftstellerlesungen etc. werden den staatlichen Organen nicht zur Genehmigung vorgelegt, da die Gesamtveranstaltung als gottesdienstliche (Werkstattgottesdienst) zu verstehen ist. Die Leiter der Veranstaltung sind im (sic!) Abstimmung mit der AG ,Berufstätige Jugend‘ beim Bund bereit, diese Entscheidung theologisch zu begründen und zu verantworten“84.

Diese Erwähnung seitens der Veranstalterinnen und Veranstalter zeigt, dass es zumindest fraglich war, ob das Jugendwochenende laut Veranstaltungsverordnung als Gottesdienst gelten konnte und damit von einer Veranstaltungsgenehmigung ausgenommen war. Dies bestätigt sich auch in dem darauffolgenden Aktenvermerk vom oben genannten OKR an Landesbischof Leich zur Kenntnisnahme: „Die schlichte Feststellung, daß evtl. musikalische Veranstaltungsteile, Schriftstellerlesungen usw. nicht zur Genehmigung vorgelegt würden, ist ungeprüft so nicht hinzunehmen. Die Mitverantwortung der vorgesetzten kirchlichen Dienststelle bleibt bestehen, auch wenn die Veranstalter selbst das offensichtlich nicht wahrhaben wollen. Solche Entscheidungen sind im übrigen zwar theologisch begründbar. Die Frage der Verantwortung ist jedoch aus dem Kontext der staatlichen Ordnungsbestimmungen nicht herauszulösen“85.

Aus den Gesprächsprotokollen des Rates des Bezirkes Gera, die die Treffen zwischen u. a. dem Stellvertreter Inneres mit Landesbischof Leich und OKR 82 Er hatte als Dr. Roßbach Landesbischof Leich – erfolglos – anzuwerben versucht und war von Gera aus zum stellvertretenden Leiter der für Kirchenfragen zuständigen HA XX/4 des MfS aufgestiegen. (Vgl. Schilling, Bearbeitung, 236). 83 Vgl. ebd., 236. 84 Brief Stadtjugendpfarramt Rudolstadt an den Dezernenten für Jugendfragen vom 15.2. 1979 (LKA Eisenach, Kirchliche Jugendveranstaltung in Rudolstadt A 720–12, Bl. 1). 85 Aktenvermerk vom 28.2. 1979 (LKA Eisenach, A 720–12, Kirchliche Jugendveranstaltung in Rudolstadt, Bl. 2).

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Hartmut Mitzenheim aus staatlicher Perspektive dokumentieren, geht hervor, dass genau diese Frage, ob die einzelnen Veranstaltungen des Jugendwochenendes unter „Gottesdienst“ subsumiert werden können, massiv diskutiert wurde. Die staatlichen Stellen belegten die kirchliche Veranstaltung mit Auflagen zur Anmeldung und Teilnehmendenzahl86. JUNE 79 griff Themen der Erziehung, der Pädagogik und der Sozialisation auf, die in verschiedenen Formaten87 verhandelt wurden. Der Vorbereitungskreis geriet in Konflikt mit Staat und Kirchenleitungen: Das Thema „Erziehung“ war ein von der SED besetztes Thema und ideologisch stark aufgeladen88. Im Kontrast zur autoritären Erziehung und zum militärischen Drill, der vielen Jugendlichen vor allem aus staatlichen Institutionen und Organisatoren bekannt war, wurden auf JUNE 79 reformpädagogische Konzepte rezipiert, die das Schutzbedürfnis, die Verwundbarkeit und Selbstverwirklichung von Kindern und Jugendlichen in den Mittelpunkt stellten. Konflikte mit Eltern und Lehrende wurden dabei ebenso thematisiert, wie die Fragen nach Zugehörigkeit und Anerkennung. In einem szenischen Spiel wurde besonders das Gefühl der Verunsicherung und Ausgesetztheit von Kindern und Jungerwachsenen angesprochen89. Die beiden JUNE-Festivals verorteten sich mit beiden Mottos thematisch an den Grenzen theologischer und gesellschaftspolitischer Fragestellungen. Durch die Verlesung des „Wort[es] an die Gemeinde“ zur Einführung des Unterrichtsfaches Sozialistische Wehrkunde positionierten sich die Organisatorinnen und Organisatoren von JUNE 78 beispielsweise eindeutig gegen die geplante Einführung des Unterrichtsfaches am 1. September 1978. Am 6. März 1978 hatte das große Staat-Kirche-Gespräch stattgefunden. Dass die vereinbarte gute Kooperation zwischen Kirche und Staat staatlicherseits durch die Einführung des Unterrichtsfaches unterlaufen wurde, ist bekannt90. Mit Blick auf die JUNE-Festivals wird deutlich, dass auch innerhalb der Kirche diese Kooperation hinterfragt wurde. Die inhaltliche Umsetzung der JUNE-Festivals war auf die Themen und damit die Selbstverwirklichung der partizipierenden Jugendlichen ausgelegt. Friedensfragen, die Suche nach einer guten Gesellschaft und der Blick auf die Menschen, die vom System benachteiligt wurden, boten Angriffsfelder für staatliche Organe. Hier wurden 86 Vgl. Schreiben des Referats für Kirchenfragen Gera an Staatssekretariat für Kirchenfragen Berlin vom 7.7. 1978 (LA Thüringen – StA Rudolstadt, Bezirkstag und Rat des Bezirkes Gera 17233, Bl. 63–66). 87 Werkstätten, Ausstellungen, Vorträge, Diskussionen, Lesungen. 88 Ob die SED-Diktatur eine Erziehungsdiktatur war, sei dahingestellt. Dass sie jedoch einen omnipräsenten Anspruch auf das Leben der Menschen erhob und dies mit der Durchstrukturierung des Lebens von Jungpionieren, FDJ, Parteizugehörigkeit, Gesellschaft für Sport und Technik, Wehrdienst, Staatsbürgerkunde in der Schule ganzheitlich umzusetzen versuchte, zeigt sich an den bereits erwähnten Konfliktlinien mit der OA. 89 Vgl. Ablauf Stadtkirche 30.6. 1979 (ThürAZ Jena, P-SW-K-63.02). 90 Vgl. Mau, Protestantismus, 140 f.

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bewusst von der SED besetzte Themen subversiv aufgenommen und neu verhandelt. Mitwirkende der Festivals setzten mit diesen Auseinandersetzungen darauf, Konflikte zu inszenieren sowie auszutragen und weniger Strategien der Konfliktvermeidung zu betreiben91. Die beiden JUNE-Festivals zeigen zum einen die Reichweite, die die OA Ende der 1970er Jahre in der ganzen DDR erlangt hatte und welche Relevanz die OA für die Jugendlichen hatte. Zudem belegen die MfS- und kirchlichen Akten, wie umkämpft das Festival war. Die Frage, an welchen Orten Jugendliche ihre Freizeit gestalten und verbringen sollten, wurde an oberster Stelle, in Berlin und Eisenach, verhandelt. Die Gefahr, die in den Augen staatlicher Behörden von der OA ausging, verweist auf die Relevanz der staatlichen Jugendpolitik für die ideologische Stabilität der SED-Diktatur. Die Fragilität trat gerade in der Konkurrenz mit alternativen/kirchlichen Angeboten zutage. So schließt die Eröffnung eines weiteren OV gegen Walter Schilling durch das MfS nahtlos an das erste JUNE-Festival 1978 an92. Darüber hinaus dokumentieren die JUNE-Festivals die theologische Orientierung der OA. Beide Festivals hatten gesellschaftspolitische Themen als Motto, die zugleich mit theologischen und kirchlichen Fragstellungen verbunden wurden. Diese bezogen sich dabei auf relevante Lebensbezüge derjenigen Jugendlichen, die die Festivals mitgestaltet haben und daran teilnahmen. Der Versuch, JUNE jährlich stattfinden zu lassen, scheiterte. JUNE 80 wurde von Anfang an verboten93. Zugleich bewirkten Landeskirchenrat, SED und MfS Ende 1979 eine längerfristige Schließung des Rüstzeitheimes in Braunsdorf. Eine Zwischeneinschätzung des MfS im Bezirk Gera vom März 1981 dokumentiert, dass das MfS die Schließung des Heimes in Braunsdorf als das Ergebnis eines „offensiven Einsatzes“ einschätzte, bei dem vor allem kirchliche IM in Schlüsselpositionen und staatliche IM eine entscheidende Rolle gespielt hätten. Das MfS bewertete die Schließung des Heimes als Entzug wesentlicher Möglichkeiten, zur „mißbräuchliche[n] Nutzung kirchlicher Räume“ bzw. „antisozialistisches Gedankengut“ weiter zu verbreiten. Die damit geschaffene Tatsache war für die Staatssicherheit nicht nur ein Schlag gegen die OA vor Ort, sondern gegen „negativ-feindliche Gruppierungen in der gesamten Republik“94. Wichtige Orte, wie JUNE oder das Rüstzeitheim waren für die OA blockiert. Viele Akteurinnen und Akteure erlebten Ende der 1970er, Anfang der 1980er schwere Verfolgungen, diese trafen sowohl die Organisationsstrukturen der OA – so konnte ein DDR-weites Festival in Rudolstadt erst 1986 wieder or91 Vgl. Stengel, Fortgeführt, 25. 92 Vgl. BArch, MfS, BV GERA, Abt XX, Reg.-Nr. X/760/78 OV „Spinne“. Der OV wurde am 21.11. 1978 angelegt. 93 Vgl. Schilling, Bearbeitung, 236. 94 Zwischeneinschätzung zum OV „Spinne“ am 19.3. 1981 (BArch, MfS, HA XX/4 Nr 3751, Bl. 1).

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ganisiert werden – als auch Einzelpersonen. Diese Zerschlagungen betrafen kirchliche Jugendarbeit an vielen Orten der DDR unterschiedlich stark95. Einerseits fanden nun vermehrt örtliche oder regionale Werkstätten statt und die Gestaltung der Friedensdekaden gewann an Bedeutung. Walter Schilling war mit dem Auto unterwegs und hielt in kirchlichen Oppositionsgruppen Vorträge zum Thema „Methoden der Stasi“. Dabei vertrat er den Standpunkt, dass Vertrauen und Offenheit die beste Art der Dekonspiration sei96. Andererseits gab es auch Verluste, die es wahrzunehmen gilt: In Gera wurde die OA nahezu zerschlagen, in Weimar konnte sich der Montagskreis der OA nur unregelmäßig treffen, da ihm Räume verwehrt blieben. In Halle wurde der Jugenddiakon Lothar Rochau, der selbst viel Zeit in Braunsdorf und bei Walter Schilling verbracht hatte, nach einer bewusst herbeigeführten Konflikteskalation in der Haft genötigt, einen Ausreiseantrag zu stellen. Die Restriktionen erreichten um 1980 ihren Höhepunkt. Das Verbot von JUNE und die Schließung des Heimes sowie die damit verbundenen Effekte der „Zersetzungsmaßnahmen“ des MfS, die immer auch das persönliche Umfeld zerstören und die Persönlichkeit des bzw. der Betroffenen einschüchtern sollten, waren ein schwerer Schlag für die OA. Ab 1987 war Walter Schilling maßgeblich in der Planung des „Kirchentags von Unten“ und der daraus hervorgegangenen „Kirche von Unten“ beteiligt. Die Kirche von Unten hatte den Anspruch eine Graswurzelbewegung zu sein und einen Ort für die zu bieten, die sich einerseits marginalisiert fühlten und sich andererseits politisieren wollten. Basisdemokratische Entscheidungsbildung, flache Hierarchien und die Tendenz zu anarchistischen Ideen sollten die Ausrichtung der Kirche von Unten bestimmen97.

4. Theologie Die Vertreterinnen und Vertreter der OA hatten eine eigene Theologie entwickelt, die sich selbst als im Prozess verstand: eine Theologie, die sich im Gespräch entwickelte und sich bewusst nicht-akademischen Beteiligten zuwandte98. Die theologisch Ausgebildeten wollten sich „zusammen mit jungen Leuten nach Lebensmöglichkeiten aus dem Angebot des Evangeliums in der ihnen gemäßen Weise“99 auf die Suche begeben. Dabei waren die theologischen Standpunkte keinesfalls beliebig. Zentral war ein Jesus-Bild, das Jesus als einen verstand, der sich den Randgruppen widmete. Dabei war die Art und 95 96 97 98 99

Vgl. Schilling, Bearbeitung, 252–255. Vgl. Neubert, Geschichte, 430. Vgl. ebd., 686–689. Vgl. Schilling, 68er-Insel, 195. Brief an den Bischofskonvent der Ev. Kirchen in der DDR mit der Bitte um ein Gespräch über „Offene Arbeit“ am 3.3. 1982 (ThürAZ Jena, P-SW-K-03.04). In: Stiebritz / Geiss, Arbeit, 20.

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Weise des Umgangs mit diesen ausschlaggebend: Es ging nicht um eine paternalistisch-altruistische Bevormundung marginalisierter Gruppen, sondern um Unterstützung und Solidarität mit und in ihren Fragen, Wünschen und Bedürfnissen100. Vertreterinnen und Vertreter der OA, u. a. Walter Schilling, setzten sich damit dezidiert von einer sozialdiakonischen Jugendarbeit ab, die die Jugendlichen zu „etwas besserem“ erziehen wollte. Vielmehr ging es der OA darum die Jugendlichen auf ihrem Weg zu begleiten und sie zu selbstbestimmten Entscheidungen zu ermuntern. Auch Dissens wurde dabei als förderlich angesehen101. Gemeinsam mit dem sozialdiakonischen Ansatz war der OA, dass diese Jugendlichen der Kirche aufgetragen waren und – darin ging sie über die Sozialdiakonie hinaus – diese Jugendlichen selbst Evangelium verkündeten und damit Teil der Kirche waren. Während die einen dieses Engagement außerhalb des kirchlichen Kompetenzbereiches verorteten und darin eine Einmischung in politische Belange sahen, waren Walter Schilling und andere der Meinung, dass „gerade diese labile Jugend aber der Kirche aufgegeben [sei]“102 und „um nichts anderes gehe es und nichts anderes geschehe in den Jungen Gemeinden und im Heim Braunsdorf“103. Die Konfrontation mit Jesus wurde als politisches Moment begriffen. Dabei initiierte diese Auseinandersetzung zum einen den Prozess mit politischen Fragen der Zeit und zum anderen bildete die Beschäftigung mit Jesus auch das Fundament, von dem aus politische Fragen angegangen wurden. Dies zeigen exemplarisch Thesen, die die OA für ein Gespräch am Rande des Bischofskonvents 1982 formuliert hatte: „Wenn die Kirche ihrem Auftrag gerecht werden will, muß sie sich einlassen auf Verhaltensweisen, die nicht typisch für die traditionelle Gemeinde sind, sondern auf der Suche nach neuen Verhaltensweisen, die den Bedürfnissen und Erfordernissen der Zukunft der Menschen entsprechen. Weil der, zu dem sie sich bekennt, die Verhaltensweisen gerade der Frommen seiner Zeit hinterfragte und zu neuen Verhaltensweisen hinführte, sollte es für die Kirche eigentlich typisch sein, übernommene Verhaltensweisen hinter sich zu lassen und Ansätze zu neuen Verhaltensweisen exemplarisch zu leben“104.

Walter Schilling beschrieb in einem Interview 1995 seine Vorstellung von Kirche als einen offenen Ort ohne Bekenntniszwang. Er sah die Treffen der 100 Vgl. Thesen zu einem Gespräch mit dem Bischofskonvent der Evangelischen Kirchen (ThürAZ Jena, P-JV-K-03.03) zitiert nach Stiebritz / Geiss, Arbeit, 20–26, hier 22. 101 Schilling, 68er-Insel, 195 f. 102 Schilling war überzeugt, „daß die Wahrnehmung dieser Aufgabe letztlich auch der Gesellschaft und unserem Staat diene […] da die Kirche nichts anders zu tun habe, als jungen, zum Teil labilen Menschen Jesus Christus zu verkünden, der sie in Ordnung bringen kann“, Niederschrift von Walter Schilling am 1.12. 1970 (ThürAZ Jena, P-SW-K-04.01). 103 Ebd. 104 Thesen zu einem Gespräch mit dem Bischofskonvent der Evangelischen Kirchen (ThürAZ Jena, P-JV-K-03.03) In: Stiebritz / Geiss, Arbeit, 22.

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Jungen Gemeinden in den 1960er Jahren als eine Zeit an, in der die Frage verhandelt wurde, wie junge Menschen mit dem „Zwiespalt zwischen Gehorsam und Verantwortungsethik“105 umgehen konnten. Sie waren von Eltern großgezogen worden, die noch unter autoritären Bedingungen aufgewachsen waren. Mit der 68er Bewegung entstand eine Unruhe, die herrschende Verhältnisse als ungerecht markierte und traditionelle Hierarchien hinterfragte. Walter Schilling wollte diesen Zwiespalt, vor den die Jugend gestellt war, ernstnehmen, anstatt das Aufbegehren als jugendlichen Leichtsinn, den es zu brechen galt, zu marginalisieren. Vielmehr versuchte er in den von ihm geleiteten Abenden diese Brüche anzusprechen. Das Bibelwort „was ihr getan habt einem meiner geringsten Brüder, das habt Ihr mir getan“ betrachtete Schilling als orientierungsgebend für ein praktisch gelebtes Nachfolgeverständnis. Es ging darum Haltung zu zeigen, wenn Menschen Unrecht getan wurde. Dies beinhaltete die Zuwendung zu jungen Menschen, die sich aus verschiedenen Gründen vor Gericht verantworten mussten, zu Jugendlichen, die nicht mehr in ihr Elternhaus zurückkehren konnten oder die im Betrieb diskriminiert worden waren. Nachfolge Jesu wurde als ein Selbstanspruch gedeutet, der die Nachfolgenden an die Grenzen des Konventionellen und Legalen brachte und zugleich darin bestärkte: „Wenn die Kirche ihrem Auftrag gerecht werden will, muß sie sich einlassen auf die ständige Grenzüberschreitung des gesellschaftlichen Rahmens, die nicht typisch ist für die Gesellschaft, in die sie eingebunden ist. Weil der, zu dem sie sich bekennt, die gesellschaftlichen Verhältnisse seiner Zeit im Blick auf die angebrochene Gottesherrschaft in Frage stellte, sich ohne Absicherung dem Risiko des Mißlingens aussetzte und nicht nach dem Maßstab des Machbaren oder Erlaubten richtete, sollte es für die Kirche eigentlich typisch sein, daß sie ständig aus der sie umgebenden Realität unterwegs ist zu dem, was noch nicht ist aber sein wird. Deshalb muß sie sich einlassen auf die Grenzüberschreitung, – die Freiraum schafft für die, die nach Lebensraum schreien. – die sich mit denen verbündet, die die Vermenschlichung der bestehenden Verhältnisse gegen den seelenlosen Apparat erstreben. – die den berechtigten Protest nicht bremst oder den Verhältnissen anzupassen versucht, sondern ihn unterstützt und mit der Botschaft vom kommenden Reich Gottes motiviert.“106

Diese theologischen Überlegungen rezipierten dabei befreiungstheologische Elemente, die aus Südamerika oder aus den afrikanischen Emanzipationsbewegungen durch Autoren wie James Baldwin, Martin Luther King oder Ernesto Cardenal verbreitet wurden. Explizit setzten sich Teile der OA auch 105 Schilling, 68er-Insel, 196. 106 Thesen zu einem Gespräch mit dem Bischofskonvent der Evangelischen Kirchen (ThürAZ Jena, P-JV-K-03.03), zitiert nach Stiebritz / Geiss, Arbeit, 23 f.

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mit Harvey Cox „Stadt ohne Gott“ auseinander und stellten sich die Frage, in welcher Form sich christlicher Glaube in einer säkularisierten und atheistischen Gesellschaft authentisch ausdrücken könnte.

5. Fazit Die Verwicklungen zwischen MfS und kirchenleitenden Personen, die zu Beund Verhinderungen kirchlicher Jugendarbeit führten, sind unübersehbar. Durch das Zusammengehen kirchenleitender und staatlicher Interessen wurden sowohl theologische Arbeit torpediert als auch biographische Abbrüche in Kauf genommen. Gleichzeitig stellte sich der Pfarrkonvent Rudolstadt hinter Walter Schilling und das von ihm geleitete Rüstzeitheim. Die Dokumente der Bezirksleitung und der Staatssicherheit belegen die durch die SED und MfS lancierten und exekutierten Repressionen gegen Walter Schilling und weitere in der OA Beteiligte. Durch das Treffen der Repräsentantinnen und Repräsentanten von Staat und Kirche am 6. März 1978 hatte die SED den Bund Evangelischer Kirchen in der DDR zwar einerseits als offiziellen Gesprächspartner anerkannt, zugleich wurden jedoch all jene zu unliebsamen Personen, die dieses Verhältnis gefährdeten oder das Gespräch grundsätzlich infrage stellten. Die OA tat genau dies, indem sie die Kirche aufforderte „bestehende Gesetze und Ordnungen“107 zu hinterfragen und Spielräume „bis zum Äußersten“108 auszureizen. Viele Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die vom MfS „operativ bearbeitet“ worden waren, sehen sich heute nicht als Opfer. Sie sehen sich als widerständige Akteurinnen und Akteure, die sich an den Orten, die ihnen zur Verfügung standen, jenseits ideologischer Vorgaben mit für sie relevanten Themen auseinandersetzten. Diese Perspektive gilt es im Blick zu behalten, wenn über Repressalien und Verfolgung von weiblichen und männlichen Christen in der DDR geschrieben wird. Die Herrschaft und Willkür des SED-Regimes ließen zwar wenig Spielräume, zugleich dokumentieren die Selbstzeugnisse der OA auch die Eigenwirksamkeit der Akteure. Die JUNE-Festivals und die Rüstzeiten in Braunsdorf wurden so zu Orten und Ereignissen, die einerseits umkämpft waren und andererseits als Zeiten der eigenen und gemeinsamen Selbstentfaltung wahrgenommen wurden.

107 Ebd., 24. 108 Ebd.

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Quellen- und Literaturverzeichnis I. Unveröffentlichte Quellen Bundesarchiv, Ministerium für Staatssicherheit (BArch, MfS) Sachbezogene Akten, HA XX/4 Nr 3751, Bl. 1. Operative Akten (OP), OV „Reaktionär“, AOP, Nr. 477/75, Band 1 und 2. Bezirksverwaltung Gera (BZ Gera), AKG 003003, Band 16.

Landeskirchenarchiv Eisenach (LKA Eisenach) Akten des Landeskirchenrats der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen über Walter Schilling G 2605, Band 2, Band 3 und Beiakte 1974. Kirchliche Jugendveranstaltung in Rudolstadt 1979–1980, A 720–12.

Landesarchiv Thüringen, Staatsarchiv Rudolstadt (LA Thüringen, StA Rudolstadt) Bezirkstag und Rat des Bezirkes Gera, 17310. Bezirkstag und Rat des Bezirkes Gera, 17233.

Thüringer Archiv für Zeitgeschichte Jena (ThürAZ Jena) P-SW-K-04.01; P-SW-K-04.02; P-SW-K-04.03; P-SW-K-63.02; P-SW-K-63.03.

II. Veröffentlichte Quellen und Darstellungen Buthmann, Reinhard: Operative Personenkontrolle. In: Das MfS Lexikon. Begriffe, Personen und Strukturen der Staatssicherheit der DDR. Hg. im Auftrag der Abteilung Bildung und Forschung des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. Berlin 22012, 230 f. Lenski, Katharina: „Asozialität“ in der DDR. Re-Konstruktion und Nachwirkung eines Ausgrenzungsbegriffs. In: Enrico Heitzer u. a. (Hg.): Nach Auschwitz: Schwieriges Erbe DDR. Plädoyer für einen Paradigmenwechsel in der DDR-Zeitgeschichtsforschung. Frankfurt a. M. 2018, 162–175. –: Sozialistisches Menschenbild und Individualität. Die „Offene Arbeit“ – ein Ort der Freiheit? In: https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/ 242954/sozialistisches-menschenbild-und-individualitaet-die-offene-arbeit-einort-der-freiheit [22.12. 2022].

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Mau, Rudolf: Der Protestantismus im Osten Deutschlands (1945–1990) (KGE IV/3). Leipzig 2005. Neubert, Ehrhart: Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989 (Bundeszentrale für Politische Bildung 346). Bonn 1997. Regierungskanzlei der Deutschen Demokratischen Republik (Hg.): Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1965, I, Nr. 6, 86–106. Schilling, Walter: Die 68er-Insel im „Roten Meer“ – Braunsdorf (Interview von Andreas Dornheim) In: Andreas Dornheim / Stephan Schnitzler (Hg.): Thüringen 1989/90. Akteure des Umbruchs berichten (Thüringen gestern & heute 1). Erfurt 1995, 193–209. –: Die „Bearbeitung“ der Landeskirche Thüringen durch das MfS. In: Clemens Vollnhals (Hg.): Die Kirchenpolitik von SED und Staatssicherheit. Eine Zwischenbilanz (Analysen und Dokumente. Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der Ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik 7). Berlin 1996. Stengel, Friedemann: Jürgen Hauskeller. In: Versöhnung und Aufarbeitung. Erstes Forum zum Bußwort des Landeskirchenrats der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland zum Buß- und Bettag 2017. Theologische Fakultät der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg, 26. Mai 2018. In: epd-Dokumentation 35 (2018), 26–28. –: Fortgeführt. Stand und Perspektiven der Aufarbeitung der Geschichte der Kirchen in der DDR. Dokumentation der kirchenhistorischen Vorträge auf der Tagung „Bilder tauschen – Kirche in der DDR“. Evangelische Akademie Thüringen, 12. bis 14. September 2019. In: epd-Dokumentation 51 (2019), 20–33. Stiebritz, Anne / Geiss, Stephan (Hg.): Offene Arbeit der Evangelischen Kirchen in der DDR. Thüringer Horizonte. Jena 2012. Theringer Archiv fer Zeitgeschichte „Matthias Domaschk“ (Hg.): Losgehen und Ankommen. Jugendkultur in der DDR Ende der 70er Jahre am Beispiel der Jugendgroßveranstaltungen JUNE 78 / JUNE 79 in Rudolstadt. Jena 1999.

III. Internetquellen https://www.stasi-unterlagen-archiv.de/assets/bstu/content_migration/DE/Wissen/ MfS-Dokumente/Downloads/Grundsatzdokumente/richtlinie-1-71_personen kontrolle.pdf [22.12. 2022].

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Kirchliche Jugendarbeit in Jena und im Thüringer Raum

1. Die Kirche als Feind des Staates Die politischen Spannungsfelder in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Thüringen, kurz Thüringer Landeskirche, waren im Verhältnis zum SED-Staat vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen kein Zufall, auch weil vor allem Mitglieder der Thüringer Landeskirche ab Anfang der 1970er Jahre den Weg einer „Kirche im Sozialismus“ politisch mitgestalten wollten und dies in vielfältiger Weise auch umsetzten1. Ziel war es, den inneren Verfall der Kirchengemeinden zu stoppen, Mitgliederschwund einzudämmen und vor allem missionarische Einrichtungen zu erhalten bzw. vor dem Zugriff des SED-Staates zu bewahren. In zahlreichen Gemeinden herrschte allerdings zunehmend seit dem Mauerbau 1961 eine große Uneinheitlichkeit darüber, wie das Verhältnis zum SED-Staat im Konkreten auszugestalten war. Jedes Bekenntnis der Kirchenleitungen zum gewünschten „positiven“ Verhältnis zum SED-Staat hatte daher unmittelbare Folgen für die Gemeinden. Kurz, das Verhältnis zum SED-Staat wurde insbesondere vom Kampf um ökonomische Ressourcen bestimmt. Und das geschah aus der jeweils ideologischen und religiösen Weltsicht heraus. Umgekehrt sah es ganz anders aus. Der SED-Staat stellte ideologisch und auch ganz konkret die Formel auf: „Die Kirche ist unser Feind“2. Grundsätzliches und ideologisch geprägtes Misstrauen prägte das Verhältnis zur Kirche, egal welcher Konfession3. Ziel des SED-Staates war es, wenn schon die Institution Kirche als solche nicht sofort abzuschaffen war – sie galt in der Vorstellung der SED-Genossen als anachronistisch –, eine allumfassende 1 Vgl. Maser, Kirchen, 26–28; Dippel, Kirche. https://www.deutschlandfunk.de/kirche-im-sozia lismus-das- spitzengespraech-1978-zwischen-100.html. In den 1970er Jahren prägten Vertreter der evangelischen Kirche die Formel der „Kirche im Sozialismus“. Bischof Albrecht Schönherr formulierte auf der Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR 1971: „Wir wollen Kirche nicht neben, nicht gegen, sondern im Sozialismus sein.“ Vgl. außerdem die Formulierung: „Eine Zeugnis- und Dienstgemeinschaft von Kirchen in der DDR wird ihren Ort genau zu bedenken haben: In dieser so geprägten Gesellschaft, nicht neben, nicht gegen sie.“ Zitiert nach Sekretariat des BEK, Kirche als Lerngemeinschaft, 172 f. 2 Vgl. Diensthandbuch für MfS-Mitarbeiter der KD Jena, o. D. [1983] (BArch, MfS, BV Gera, KD Jena, 001692). 3 Vgl. Maser, Kirchen, 5–9.

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Kontrolle über alle Aktivitäten innerhalb der Kirchen zu erlangen. Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) kämpfte dabei an „vorderster Front“. Alle Mitarbeiter der Kirchen sollten und konnten wissen, dass das MfS immer dabei war4. Wie der Umgang mit dem MfS von kirchlicher Seite aus gelingen konnte, dafür stand der Thüringer Bischof Werner Leich, der schon zuvor als Superintendent von Lobenstein „Regeln für den Umgang mit MfS-Mitarbeitern“ aufgestellt hatte: Erstens: Keine Gespräche unter vier Augen, es sollte immer eine weitere kirchliche Person dabei sein, um so Transparenz zu ermöglichen. Zweitens: Keine Treffpunkte an „neutralen“ Orten, die von der Staatssicherheit präpariert sein könnten, und drittens: keine Schweigegelöbnisse, sondern immer die Mitteilung: „Das melde ich meinem Bischof.“5 Die so genannten Spitzengespräche mit Kirchenleitungen und Gemeindevertretern fanden demgegenüber zumeist ganz offen statt. Sie dienten politischen Zwecken oder auch der Einschüchterung. Zugleich steuerte das MfS mit Hilfe ihrer IMs im kirchlichen Dienst oftmals die Geschicke der Gemeinden. Gelang dies nicht, wurde der gesamte Machtapparat des MfS in Bewegung gesetzt6. Das Gesamtverhältnis zwischen den Evangelischen Landeskirchen und dem SEDStaatsapparat blieb daher stets ambivalent7. Aber auch die Kirche selbst blieb ambivalent. Sie verortete sich einerseits als „Kirche im Sozialismus“, andererseits zunehmend ab Anfang der 1970er Jahre als „Schutzraum der Opposition“8.

2. Diakonie als Anker Die Diakonie wurde seit Mitte der 1960er Jahre zu einem Anker im Verhältnis zwischen SED-Staat und Evangelischer Kirche in der DDR. Einerseits konnte die Evangelische Kirche so ihren Anspruch auf Bewahrung der Schöpfung innerhalb der politischen Spielregeln des SED-Staates legitimieren. Andererseits erlaubte dies dem SED-Staat, die „Aufgaben“ der Kirchen auf den religiösen und missionarischen Aspekt einzuengen. Gleichzeitig konnte man so die materiellen und strukturellen Vorteile der bestehenden Kirchenorganisationen nutzen. Die Aufgaben der kirchlichen „Wohlfahrt“ entlasteten den SED-Staat auf diese Weise auch ökonomisch, da der SED-Staat keinerlei Finanzierung beisteuerte. Das geschah dafür mehr denn je von den Partnerkirchen in der Bundesrepublik bis hin zu direkten Partnergemeinschaften. Die Abführung einer recht geringen Kirchensteuer von einem Prozent des Bruttojahresverdienstes war in der DDR freiwillig und musste organisatorisch von 4 Vgl. Latk, Stasi-Kirche, 35–42. 5 Vgl. Leich, Stasi. Vgl. https://advent-verlag.de/nachrichten/werner-leich-umgeben-von-der-sta si-gehalten-von-gott-portraet. 6 Vgl. Stegmann, Kirchen, 74–84. 7 Vgl. Helmberger, Blauhemd, 301–304. 8 Vgl. Israel, Freiheit.

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den Kirchen selbst erhoben und eingezogen werden. Innerkirchlich versprach man sich über diesen Weg und einer karitativen Kooperation mit dem SEDStaat die Rekrutierung neuer oder mindestens die zeitweise Zurückgewinnung passiver oder sich abgewandter Gemeindemitglieder. Eine Ausbildungsoffensive im Bereich der Diakonie sollte dies seit Anfang der 1950er Jahre weiter voranbringen. In Thüringen begann der Weg der Diakonie im Jahr 1954 mit der Gründung des Johannes-Falk-Hauses in Eisenach. Gründungsbischof war der Thüringer Bischof Moritz Mitzenheim, umgangssprachlich der „Rote Moritz“ genannt, wegen seiner Befürwortung der Zusammenarbeit mit dem SED-Staat9. Hinter der Idee der Diakonie stand das Konzept einer Stätte der Sammlung Jugendlicher in einer männlichen Vordiakonie als Brückenschlag zu den Anfängen der Inneren Mission in Thüringen10. Neben der Pflegediakonie, Aufgaben in der kirchlichen Verwaltung sowie seelsorgerischer Tätigkeit erlangte der Dienst in der kirchlichen Jugendarbeit zunehmend an Bedeutung. Bereits 1965 standen 59 Diakone im Dienst, weitere 36 befanden sich in Ausbildung11. Seit Ende der 1960er Jahre gewann die Ausbildung zum Jugenddiakon weiter an Bedeutung. Der Bedarf an Jugenddiakonen und Jugendwarten stieg. Sie betreuten in den Gemeinden vor allem die Jungen Gemeinden. Ihre Aufgabe war es, neben dem religiösen Dienst die sozialen Beziehungen in den Kinder- und Jugendgruppen der jeweiligen Gemeinden zu organisieren, zu stabilisieren, und wenn möglich, zu erweitern. Dies bot Voraussetzungen und Bedingungen für die Neugewinnung von Kindern und Jugendlichen für die Gemeinden, die auf Grund der starken Säkularisierung in der DDR bisher kaum oder gar keinen Kontakt zur „Welt der Kirche“ hatten. Die Diakone wurden so immer mehr zu einem zentralen Anker für die Gemeindearbeit. Was zunächst im eher ländlichen Raum und in kleinem Maßstab erfolgte und oft erfolgreich war, dehnte sich seit Anfang der 1970er Jahre auf städtische Räume aus. Die missionarisch geprägte Sozialarbeit der Jugenddiakone im Dienst der Evangelischen Kirche funktionierte in einigen Städten Thüringens besonders dort gut, wo sich im lokalen Rahmen Gemeindepfarrer und Diakone dafür engagierten und wo sich für diese Zeit typische und überschaubare Jugendszenen oder -gruppen herausgebildet hatten12. Das traf in den 1970er Jahren in hohem Maße auf Städte wie Rudolstadt, Saalfeld, Jena und Weimar zu. Mit der Herausbildung einer überregionalen Vernetzung kamen seit Ende der 1970er Jahre weitere Jugendgruppen und Junge Gemeinden in Erfurt, Gera und Ei9 Vgl. Evangelische Akademie, Gefühle. In: https://www.ev-akademie-thueringen.de/blogarti kel/ein-auf-und-ab-der-gefuehle-landesbischof-moritz-mitzenheim. Vgl. Franz, Mauer, 14. Zur Person des Pfarrers Peter Franz vgl. Uhl, Fall; Ploenus, Fall, 15–18. 10 Renger, Diakonie, 230–235. Beschrieben wird hierbei die Geschichte des Johannes-FalkHauses in Eisenach und Einrichtung der Diakonieausbildung 1954. 11 Vgl. ebd., 234 f. 12 Vgl. Eisert-Bagemihl / Kleinert, Bewegung.

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senach hinzu. Aber auch in vielen kleineren Städten und Orten bildeten sich bis zum Teil Ende der 1980er Jahre immer wieder neue Gruppen um kleinere Pfarrgemeinden heraus, so z. B. in Pößneck, Greiz, Auma oder Bilzingsleben. Die meisten Gruppen agierten zunächst dezentral, hatten aber zugleich zahlreiche Kontakte in viele andere Orte in der DDR13. Ein wichtiger Katalysator für die zunehmende Vernetzung der Jungen Gemeinden untereinander waren daher die Diakone, die inzwischen oft in Eisenach ausgebildet waren und durch ihre Arbeit auch überregionale Gruppenstrukturen schufen oder begünstigten. In Jena wirkten beispielsweise zwischen 1970/71 und 1988 als Diakone oder als Jugendwart Thomas Auerbach, Karsten Christ und Jürgen Hoffmann. Ende der 1970er Jahre wurden auch zunehmend Stadtjugendpfarrer etabliert, die mit den Jugenddiakonen die Jugendarbeit in Verknüpfung mit den eher traditionellen Gemeinden der Stadt oder Region organisieren und leiten sollten.

3. Opposition und Widerstand Politische Opposition, intellektuelle Dissidenz sowie konkreter Widerstand gegen den SED-Staat waren mit dem Bau der Berliner Mauer 1961 nicht verschwunden, jedoch kaum noch relevant sichtbar14. Für den Einzelnen oder für Gruppen wurde es noch gefährlicher, sich gegen den SED-Staat zu wenden, Kritik zu äußern oder zu opponieren15. Repressionen gegen Andersdenkende wurden immer präziser umgesetzt und der Repressionsapparat immer weiter ausgebaut. Der letzte Fluchtweg West-Berlin war versperrt. Spektakuläre Tunnelfluchten, andere Formen von Grenzfluchten oder der Umweg über den so genannten Freikauf in die Bundesrepublik blieben zumeist als einziger Ausweg, um dem SED-Regime zu entkommen. Für die Gesamtgesellschaft der DDR wurde die Einsicht in die Notwendigkeit zur gesellschaftlichen Norm und zum Verhaltenskodex. Opportunismus und das Einrichten in die erzwungene oder befürwortete sozialistische Welt bestimmten das Leben, den Alltag. Die „heile Welt der Diktatur“, wie es der Historiker Stefan Wolle prägnant zusammenfasste, zementierte den allumfassenden Machtanspruch des SED-Staates auf die gesamte Bevölkerung in der DDR16. Erst Ende der 1960er Jahre flackerte in einem kleinen Teil der Gesellschaft analog zur Anpassungsleistung der Mehrheit der Bevölkerung neues Protest- und Oppositionspotential auf17. Einschneidender Wendepunkt hierfür war die Nieder13 Vgl. Neubert, Geschichte, 426–441. Nachgegangen wird dabei der These: „Offene Arbeit – ein Kernbereich der Opposition“. 14 Vgl. Poppe / Eckert / Kowalczuck, Selbstbehauptung; Ohse, Jugend. 15 Vgl. Raschka, Überwachung. 16 Vgl. Wolle, Welt. 17 Vgl. Eisenfeld, Verhalten, 83–131.

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schlagung des Prager Frühlings in der Tschechoslowakei 1968. In Reaktion darauf verstärkte der SED-Staat erneut sein repressives Potential. Von dieser Entwicklung blieb auch die Evangelische Kirche nicht unberührt. Inzwischen hatte sich parallel in der Evangelischen Jugendarbeit eine neue Form der kirchlichen Jugendarbeit herausgebildet, die Offene Arbeit18. Die dort versammelten Jugendlichen hinterfragten immer stärker die gesellschaftlichen Normen und politischen Prozesse. Die soziale Arbeit der Pfarrer, Jugendwarte und Diakone mit den Jugendlichen verschränkte sich auf diese Weise mit den Lebens- und Erfahrungswelten der Jugendlichen in der Welt des Sozialismus. Dadurch gerieten zahlreiche Jugendliche und auch einzelne kirchliche Mitarbeiter immer deutlicher in Widerspruch zum SED-Staat. In der Folge stellten die Jugendlichen nicht nur die SED-Ideologie in Frage. Es bildete sich eine weitgehende Ablehnung gegenüber den ideologischen Normen heraus. Die intellektuelle Auseinandersetzung damit fand zugleich und zunehmend Raum und Zugang in einzelnen Gemeinden, besonders dort, wo sich eine offene Jugend- und Gemeindearbeit herausgebildet hatte. Diese neue Form der Gemeindearbeit mit Jugendlichen war von Anfang an umstritten in der Evangelischen Kirche, da sie aus Sicht der Befürworter einer „Kirche im Sozialismus“ das Verhältnis in der Koexistenz zwischen Evangelischer Kirche und SED-Staat gefährdete bzw. in Frage stellte19. Wirksam wurde dies in besonderer Weise in Jena. Dort entstand seit Anfang der 1970er Jahre eine aus Intellektuellen, Künstlern und jugendlichen Arbeitern mit und ohne Abitur eine zahlenmäßig bedeutende und heterogene Jugendszene20. Viele Jugendliche standen dem SED-Staat zunächst nicht sonderlich kritisch gegenüber. Sie versuchten durch persönliches Engagement im Rahmen der staatlichen Möglichkeiten und Vorgaben, eigene Vorstellungen und Interessen durchzusetzen. Besonders die These von einem basisdemokratischen Sozialismus beflügelte viele Akteure. Damit stellten sie aber auch den Charakter der autoritären Herrschaft des SED-Staates in Frage. Das forderte den SED-Staat immer stärker politisch heraus und hielt das MfS bis zum Ende der DDR in Atem. Teilweise fanden diese Akteure, die später in deutlicher Opposition zum SED-Staat standen, in der Offenen Arbeit in Jena eine willkommene Öffentlichkeit. Nachdem ihre Versuche der „Mitgestaltung des Sozialismus“ weitgehend gescheitert waren, bereicherten sie mit ihrer kulturellen und literarischen Arbeit intellektuell wie künstlerisch die bis dahin eher von jugendlichen Arbeitern frequentierte Junge Gemeinde. Das erzeugte wiederum eine interessante Sogwirkung auf die kritische Auseinandersetzung in der Jungen Gemeinde mit der wahrgenommenen sozialistischen Lebenswelt in der DDR.

18 Vgl. Offene Arbeit des Evangelischen Kirchenkreises Erfurt, Arbeit. 19 Vgl. Lenski, Geschichte, 5–22. 20 Vgl. Scheer, Vision; Kaiser / Petzold, Boheme, 269–271.

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4. Wolf Biermann – Katalysator für Opposition und Widerstand in Jena Die Ereignisse um die Ausbürgerung von Wolf Biermann im Jahr 1976, der über Jürgen und Lilo Fuchs, Robert und Katja Havemann zumindest indirekt Kontakte nach Jena hatte, verschärfe die Konfrontation der verschiedenen Gruppen innerhalb und außerhalb der Jungen Gemeinde Stadtmitte in Jena mit der Staatsmacht. Die Jugendlichen solidarisierten sich mit einem Aufruf von zahlreichen DDR-Künstlern. Sie forderten die DDR-Führung auf, die Ausbürgerung Biermanns aus der DDR nach seinem Konzert in Köln zurück zu nehmen21. Ein Hintergrund der Verschärfung der repressiven Verfolgung Andersdenkender durch das MfS war die berüchtigte MfS-Richtlinie 1/7622. Neben der Neuausgestaltung der operativen Arbeit wurden hier die Zusammenarbeit mit und die Kompetenzen der aktuellen und zukünftigen IMs neu festgelegt23. Verschärft wurden aber vor allem die Kriterien der so genannten „Zersetzung“24. Oberkirchenrat Wolfram Johannes aus Eisenach (IM „Nettelbeck“) übermittelte Ende November 1976 dem MfS eine zuvor von Oberkirchenrat Hans Schäfer aus Weida (IM „Gerstenberger“) erhaltene Niederschrift. Dieser hatte Mitte November 1976 das Gespräch mit dem MfS gesucht, um die Folgen der Biermann-Ausbürgerung zu besprechen. Hintergrund war die Verhaftung von zwei Theologiestudenten an der Jenaer Universität. Auch Jugenddiakon Thomas Auerbach sowie weitere Beteiligte an der Unterschriftenaktion der Jungen Gemeinde wurden kurzzeitig verhaftet. Oberkirchenrat Hans Schäfer bezeichnete in der Niederschrift den Liedermacher Wolf Biermann als einen „Handlanger des Imperialismus“. Den Diakon Thomas Auerbach bezeichnete er als „Mitglied eines neomarxistischen Kreises“. Pfarrer Schilling aus Braunsdorf25, der an der Aktion in der Jungen Gemeinde eher zufällig teilnahm, schätzte der IM als eine „Gefahr für das gute Verhältnis zwischen Staat und Kirche“ ein. Möglich sei, so der MfS-Mitarbeiter, Arthur Hermann, dass Pfarrer Schilling, wenn auch als warnender Mitakteur bei der Unterschrif21 Vgl. Pleitgen, Biermann, 25–44. 22 Vgl. Richtlinie Nr. 1/76 zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge (OV) im DDRLexikon. http://www.ddr-wissen.de/wiki/ddr.pl?MfS-Richtlinie_1-76. 23 Formen, Mittel und Methoden der Zersetzung; vgl. https://www.stasi-unterlagen-archiv.de/as sets/bstu/content_migration/DE/Wissen/MfS-Dokumente/Downloads/Grundsatzdokumente/ richtlinie-1-76_ov.pdf. 24 Vgl. Pingel-Schliemann, Zersetzen, 187–193. 25 Walter Schilling, Pfarrer in Braunsdorf (ein Bergdorf im Dreieck der Kleinstädte Saalfeld, Rudolstadt und Bad Blankenburg), hatte in den 1960er Jahren mit Jugendlichen aus den Jungen Gemeinden in Rudolstadt und Saalfeld eine Scheune neben seinem Pfarrhaus zu einem Versammlungsort ausgebaut, später zum Rüstzeitheim umgebaut, und dort seinen Ansatz für die offene kirchliche Jugendarbeit entwickelt. Vgl. Lenski, Geschichte; Hildebrand, Schilling.

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tenaktion, nach der Verhaftung des Diakons Auerbach „den nunmehr verwaisten Kreis der Jungen Gemeinde-Mitte verantwortlich übernehmen könnte“. Das MfS kam zu dem Schluss, Schilling und andere hätten vor, Jena zu einem „Zentrum der Opposition“ zu machen. Daher müsse die Thüringer Landeskirche „auf allen Ebenen zu Gesprächen und Formen der Zusammenarbeit mit den Vertretern der staatlichen Organe bereit“ sein26. Am 28. März 1977 teilte IM „Nettelbeck“ dem MfS mit, dass die Landeskirche beabsichtige, den Diakon Auerbach aus seiner Funktion in der Gemeinde zu entlassen, da Auerbachs geistige Haltung, „nicht die Gewähr dafür bietet, in Zukunft derartige ,Zwischenfälle‘“ zu vermeiden“27. Er solle deshalb in einem pflegerischen Bereich der Landeskirche eingesetzt werden. Die in das Visier Geratenen gehörten nach der MfS-Logik zu einem „Kern einer Personengruppierung in Jena, welche sich auf einer revisionistischen, politisch-ideologischen Plattform das Ziel gestellt hat, gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung in der DDR aufzuwiegeln und den real existierenden Sozialismus durch einen ,demokratischen Sozialismus‘ zu ersetzen. […] Sie unternehmen umfangreiche Aktivitäten zur Schaffung einer konterrevolutionären Massenbasis.“28

Diakon Auerbach wurde neben anderen Anfang 1977 aus dem Gefängnis heraus in die Bundesrepublik abgeschoben. Der Mythos Jenas als „Zentrum der Opposition“, „Hauptstadt der Opposition“ oder als „Kern einer revisionistischen, politisch-ideologischen Plattform“ war geboren. Dies geschah in der Verquickung von Aussagen kirchlicher IMs und weiteren Aufladungen politisch motivierter Begriffe durch die Mitarbeiter des MfS29. Das fand später auch in Berichten der Auswertungs- und Kontrollgruppe (AKG) des MfS 1983 seinen Widerhall. 1983 erklärte das Ministerium für Staatssicherheit die Junge Gemeinde Stadtmitte zum operativen Hauptfeind, die von der „Fuchs-Bande“, wie der Freundeskreis von Lilo und Jürgen Fuchs bezeichnet wurde, von West-Berlin aus gesteuert sei. Deren Ziel sei es, Jena zum Zentrum der Opposition zu machen30. 26 MfS-Protokolle IMV „Nettelbeck“ vom 25.11. 1976, 26.11. 1976, 29.11. 1976, 21.1. 1977 (BArch, MfS, Reg.-Nr. IX/163/73, Bl. 272–324; abgedruckt in: Pietzsch, Jugend, 331–337). Vgl. ebd., 101 f. 27 IM-Bericht zur Entlassung des Jugenddiakons Auerbach vom 28.3. 1977 (BArch, MfS, Reg.-Nr. IX/163/73, Bl. 323 f.; abgedruckt in: Pietzsch, Jugend, 338 f.). 28 Ebd. 29 Vgl. die Jahresanalyse zur politisch-operativen Lage im Bezirk Gera und über die Wirksamkeit der politisch-operativen Arbeit im Jahre 1977 (BArch, MfS, BV Gera, SLK 1280, Geheime Verschlußsache Nr.: 280/77). 30 Vgl. MfS-Protokolle IMV „Nettelbeck“ vom 25.11. 1976, 26.11. 1976, 29.11. 1976 und 21.1. 1977 (BArch, MfS, Reg.-Nr. IX/163/73, Bl. 272–324; abgedruckt in: Pietzsch, Jugend, 331–337). Vgl. ferner ebd., 318.

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5. Kirchliche Jugendarbeit in Jena und im Thüringer Raum Neben Jena waren zahlreiche kleinere Orte und Städte in Thüringen Orte der offenen kirchlichen Jugendarbeit. Die Jungen Gemeinden unterschieden sich zum Teil erheblich, inhaltlich wie organisatorisch. Das hing einerseits mit den sozialen und geographischen Strukturen zusammen. Zum anderen hing es viel mehr von den Personen vor Ort ab. Jena war durch seine ökonomische Struktur und die zahlreichen Großbetriebe, aber eben auch durch die Universität, ein Schmelztiegel verschiedenster Gruppen und Einzelakteure. Nur ein Bruchteil der Akteure in Jena versammelte sich letztlich über die Jahre dauerhaft in der Jungen Gemeinde Stadtmitte oder waren so genannte „JGGänger“. Letztere kamen vornehmlich eher zu Veranstaltungen wie Werkstätten oder Musik- und Theaterveranstaltungen, kurzum zu kulturellen Ereignissen zusammen. Die Fluktuation des Publikums war deshalb über all die Jahre sehr hoch. Soziale „Kerngruppen“ lösten sich oft aus dem Rahmen der Jungen Gemeinde Stadtmitte zügig wieder heraus. Es war insgesamt eine sehr dynamische „Jugendszene“. Ab Mitte der 1980er Jahre gewannen interessengebundene Veranstaltungen immer mehr an Zulauf und Bedeutung. Besondere Furore erzielten in Jena die so genannten „Schwulenpartys“ und die Reihe „Künstler für Andere“. Ersteres hatte einen so riesigen Erfolg, dass „Einlasskontrollen“ in der Jungen Gemeinde notwendig wurden, weil der Andrang auf die begrenzten Räume die Möglichkeiten überstieg. Zu einzelnen Veranstaltungen kamen bis zu 300 Jugendliche zusammen. Vorwiegend homosexuelle Männer reisten aus der ganzen DDR an, nur um die Partys miterleben zu können. Seit Ende 1986 wurden permanent staatliche Kontrollen der Hygiene in den Gemeinderäumen durchgeführt. Das führte dazu, dass das MfS und die staatlichen Organe mit Hilfe des Amtes für Hygiene der Stadt Jena darauf hinwirkten, dass die „Schwulenpartys“ aufhörten. Anfang 1987 musste die Junge Gemeinde ihre Räume wegen nichterfüllter Hygieneauflagen schließen. Die legendären Partys fanden ein Ende, weil die staatlichen Hygienevorschriften nicht eingehalten werden konnten. Der Junge Gemeinde stand damit insgesamt praktisch vor dem Aus. Parallel hatten Akteure der Jungen Gemeinde Anfang 1986 die Reihe „Künstler für Andere“ ins Leben gerufen. Da die Räume der Jungen Gemeinde für größere Veranstaltungen nicht ausreichten und permanent die Schließung der Räume drohte, organisierten die Beteiligten die Veranstaltungen in Jenaer Kirchen oder Gemeindesälen. Der Erfolg war auch hier enorm. Immer mehr Besucher kamen zu den Veranstaltungen der Jungen Gemeinde Stadtmitte, die in Kooperation mit den anderen Kirchengemeinden der Stadt umgesetzt wurden. Es kamen immer mehr so genannte „normale“ Bürger der Stadt, die diesen kulturellen und politischen Freiraum für sich entdeckten und durch ihren Besuch bereicherten. Insofern blieb Jena weiterhin ein „Zentrum der

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Opposition“. Die Repressionen des SED-Staates gegen die Jenaer Akteure und Gruppen verbuchte das MfS deshalb als eigenes Scheitern. Zwar war es dem MfS 1983 und 1984 weitgehend gelungen, einen erheblichen Teil der politisch Verfolgten und Bedrängten entweder auszubürgern, nach dem „Vorbild“ Wolf Biermann, oder zur Ausreise in die Bundesrepublik zu nötigen. Wieder andere wollten die „Ausreisewelle“ in Jena für sich nutzen, um selbst ihre Ausreise zu erzwingen. Ein bekanntes Beispiel dafür ist der „Weiße Kreis“ in Jena31. Der Staatssicherheit gelang es nie, den dynamischen Charakter der gruppenbezogenen Veränderungen innerhalb und außerhalb der offenen kirchlichen Jugendarbeit vollständig einzudämmen und die daraus folgenden, oft sehr kreativen Aktionen zu verhindern. Im Gegenteil. Neben Jena bildete sich seit Ende der 1970er Jahre in Erfurt ein weiteres Zentrum der Offenen Arbeit32. Erfurt und Jena ähnelten sich in der Entwicklung der Offenen Arbeit seit 1979/80. Sie waren Zentren und Sammelbecken für andere regionale Gruppen in Thüringen. Die daraus entstandenen Vernetzungen hatten im Jahr 1989 eine große Bedeutung. Beide verband zudem, dass es beide Gemeinden aus der in der DDR heraus entstanden Gemeindeform der Offenen Arbeit bis heute gibt. Ein Grund dafür waren und sind die verantwortlichen Diakone Wolfgang Musigmann in Erfurt und Lothar König in Jena. Beide erhielten ihre Ausbildung zum Diakon in den 1970er Jahren gemeinsam in Eisenach. Und hier schließt sich der Kreis erneut zum Falk-Haus in Eisenach und der Ausbildung von Diakonen in Thüringen seit 1954. Auch die Ausbildung selbst unterlag Veränderungen. Mehrfach wurden die Ausbildungsinhalte über die Jahre angepasst, verändert und erweitert, die Schwerpunkte neu gesetzt. Die in Eisenach ausgebildeten Jugenddiakone und Jugendwarte prägten die kirchliche Jugendarbeit und insbesondere die Offen Arbeit in ganz Thüringen wesentlich mit. Wichtige Orte in dem Netzwerk der Offenen Arbeit in Thüringen waren neben Jena und Erfurt vor allem Saalfeld, Rudolstadt, Braunsdorf, Weimar, Gera, Eisenach, Greiz und zeitweise zahlreiche kleinere Orte wie beispielsweise Pößneck, Auma und Bilzingsleben. In allen diesen Orten bildeten sich entweder eigenständige oder an Kirchengemeinden gebundene Jugendgruppen heraus, entweder in konkreter Verbindung zu einzelnen Kirchengemeinden oder in adaptierter Anlehnung. Viele Gruppen und Gemeinden waren hierbei in die über viele Jahre in den Gemeinden geführte Diskussion über eine „Konzeption“ der offenen kirchlichen Jugendarbeit im Rahmen der Evangelischen Kirche eingebunden oder orientierten sich daran33.

31 Vgl. Pietzsch, Kreis, 291–302. 32 Vgl. Buchgruppe Offene Arbeit, Arbeit, 49–61. 33 Vgl. Lenski, Menschenbild; Affolderbach, Widersprüche, 99–109.

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6. Zeitzeugen – Einfache Sichtweisen auf komplexe Lebenswelten Formeln wie „Kulturkampf“, „Kirche im Sozialismus“ oder „Bewahrung der Schöpfung“ spiegeln das alltägliche Miteinander in den Kirchengemeinden nur unzureichend wider. Reaktion und Gegenreaktion zwischen Staat und Individuum oder Individuum und Gemeinde prägten den Alltag vieler Jugendlicher und kirchlicher Mitarbeiter in der kirchlichen Jugendarbeit neben dem familiären und sozialistischen Alltag. Das jeweilige Agieren innerhalb und außerhalb der Kirchengemeinden erforderte eine ständige Balance zwischen Anpassung und Konfrontation. Das Mitleben bzw. Miterleben von Geschichte und Geschichten, ihr nachträgliches Durchdringen kann deshalb in der Befragung von Zeitzeugen nachvollziehbarer werden. Wie komplex diese Erfahrungen und Erlebnisse für die beteiligten Akteure in der Offenen Arbeit waren, zeigt sich in vielen konkreten Berichten und Erzählungen von Zeitzeugen. Diese Berichte und Erzählungen sind zugleich ein wichtiger Baustein im Hinblick auf ein Verständnis für die jeweilige Rolle kirchlicher Mitarbeiter im Miteinander von Gemeinde und SED-Staat ganz allgemein sowie in der konkreten Auseinandersetzung mit dem SED-Staat34. Im quellenkritischen Vergleich können MfS-Akten zugleich verdeutlichen, wie der SED-Staat agierte, wer „Instrument“ des MfS war und wer als Feind zu gelten hatte, Repressionen ausgeliefert war. Die Rolle kirchlicher Mitarbeiter in ihren Gemeinden wird daher insbesondere durch die überlieferten Dokumente des MfS sichtbarer. Klargestellt werden muss bei der Einzelbetrachtung der Handelnden wie im Gesamten, dass, wie eingangs aufgezeigt, der SEDStaat und das MfS bestimmten, wer Freund oder Feind war, oppositionell eingeordnet und daher politisch und ideologisch motiviert repressiv verfolgt wurde. Das traf auch und vor allem auf sehr viele der Jugendlichen im Zusammenhang mit der Offenen Jugendarbeit zu. Das Paradoxe hier bestand insbesondere in der Überlagerung von Anpassungsleistung und Aufbegehren. Viele Jugendliche suchten zunächst „nur“ nach einem Weg eines von der Elterngeneration abgegrenzten Freiraums, ohne dem SED-Staat kritisch gegenüber zu stehen. Dafür boten die vom SED-Staat eingerichteten Räume wie beispielsweise Jugendklubs oft nur unzureichenden oder gar keinen Spielraum. Es verwundert nicht, dass Jugendliche, wo auch immer möglich, nun die 34 Die Geschichtswerkstatt Jena e. V. verfügt über eine inzwischen umfangreiche Film-, Audiound Fotodokumentation zur regionalen Zeitzeugenschaft. Die Vielschichtigkeit von Erfahrungen zu verschieden Themen und historischen Ereignissen wird sichtbar und nicht auf einzelne Erfahrungskontexte eingeengt. Vgl. http://www.geschichtswerkstatt-jena.de/index. php/projekte/zeitzeugenwerkstatt/2014-11-27-13-02-03/gesichter-der-friedlichen-revolution1989 und https://www.youtube.com/user/gwsjena/videos. Darüber hinaus existieren weitere Onlineressourcen, die Zeitzeugenschaft aufgreifen. Die Zeitzeugen und deren Erfahrungen rekurrieren dabei häufig auf die persönlichen Erfahrungen von Repression in der DDR. Die Lebenswelten des Alltags dahinter kommen dabei häufig zu kurz.

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gebotenen „Freiräume“ in der Kirche fanden und teilweise in eigener Autonomie für sich nutzen und gestalten wollten. Das führte nicht selten auch innerhalb von Kirchengemeinden zu teils heftigen Konflikten. Die Erfahrungswelten von Zeitzeugen, Jugendlichen wie kirchlichen Mitarbeitern, unterschieden sich daher in Vielem. Ein weiterer wichtiger Aspekt der Vielschichtigkeit der Erlebnis- und Erfahrungswelt von Zeitzeugen war der Anteil so genannter „säkularer Jugendlicher“ in den verschiedenen Gruppen der Offenen Arbeit in Thüringen. Dies stand konkret mit der Ausrichtung und Handlungsweise kirchlicher Mitarbeiter, ihrer Vorprägung und Ausbildung, sowie der sozialen und geographischen Struktur der Stadt oder Region in Verbindung. Während beispielsweise die Offene Arbeit der Jungen Gemeinde Stadtmitte in Jena im Jahr 1983 vom MfS als „Zentrum der Opposition“ in der DDR beschrieben wurde, erlangten andere Junge Gemeinden im Umfeld eher wenig Aufmerksamkeit in der Wahrnehmung des MfS. Es sei denn, es bestanden persönliche Kontakte und Verbindungen untereinander zur Jungen Gemeinde Stadtmitte und ihre Akteure. Das hieß aber nicht, dass das MfS diese „anderen“ Gemeinden weniger überwachte und zu beeinflussen suchte. Viele der temporär handelnden und teilnehmenden Akteure in der Offenen Arbeit Jena waren nicht religiös gebunden. Ursache war unter anderem, dass Jena seit Ende des 19. Jahrhunderts zur Arbeiter- und Industriestadt herangereift war. Es entwickelte sich eine säkularisierte Stadtgesellschaft im Umfeld der Jenaer Universität, geprägt von der Optischen wie Pharmazeutischen Industrie. Das verstärkte sich in der Zeit der Existenz der DDR erheblich und war mit ein Grund dafür, warum sich beispielsweise die meisten Akteure der Friedensgemeinschaft Jena 1982/83 wenig bis gar nicht an die jeweiligen kirchlichen Gemeinden gebunden fühlten. Sie verorteten ihre Politisierung viel mehr in der konkreten Auseinandersetzung mit dem SED-Staat. Dies galt teilweise aber auch für ihr Verhältnis zur Evangelischen Kirche in Thüringen. Vor dem Hintergrund der Systemkonkurrenz des Kalten Krieges, der andauernden staatlichen Repressionen und dem zögerlichen Handeln der Thüringer Kirche gegen die Kriminalisierung der Jugendlichen führte der gemeinsame Weg von Kirchengemeinde und Jugendlichen geradewegs in eine Sackgasse. Die Folge war eine weitgehende Abkehr der Jugendlichen von der Kirchengemeinde und eine wachsende Ablehnung staatlicher wie kirchlicher Strukturen. Die Kirche wurde als „Erfüllungsgehilfe“ des SED-Staates wahrgenommen. In anderen Gemeinden der Offenen Arbeit in Thüringen wiederholten sich diese Prozesse in ähnlicher Weise. Wieder andere Kirchengemeinden schafften es dagegen, ein eher kirchlich gebundenes Klientel Jugendlicher zu binden und in die Strukturen der Kirche zu integrieren. Dass aus den zum Teil völlig unterschiedlichen Erfahrungen und Wahrnehmungen unterschiedliche Geschichten und Zeitzeugenberichte resultieren müssen, liegt also auf der Hand. Insofern erfordert die Aufarbeitung der SED-Diktatur, ihrer Geschichte sowie die Herleitung allgemeiner Erfahrungs- und Erklärungssätze bis heute ein genaueres Hinsehen auf die einzelnen Lebenswelten

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in ihrer Komplexität, aber auch und vor allem ein tieferes Verständnis für die unterschiedlichen Lebens- und Erfahrungswelten der Menschen in der DDR insgesamt.

7. Verhältnis Staat – Kirche – Offene Arbeit Das Verhältnis zwischen SED-Staat, Kirche und Offener Arbeit blieb über die gesamte Zeit ambivalent und angespannt. Der SED-Staat versuchte die Entwicklung der Offenen Arbeit einzudämmen, zu verhindern und zu zerstören. Dabei konnte er unter Einsatz des MfS auf zahlreiche kirchliche Mitarbeiter und Würdenträger zurückgreifen. Viele von ihnen unterstützten als IM die Ziele des Staates, weil die Offene Arbeit das Verhältnis von Kirche und SEDStaat dauerhaft belastete. Die ursprünglich angestrebte diakonisch geprägte Jugendarbeit wurde für beide Seiten zum „Trojanischen Pferd“. In der Offenen Arbeit vermischten sich diakonischer Arbeitsansatz mit sozialen und politischen Themen. Letzteres sollte unbedingt vermieden werden, was nie wirklich gelang. Der innerkirchliche Diskurs pendelte seit Entstehung des SED-Staates permanent zwischen Anpassung an die staatlichen Rahmenbedingungen und dem Kampf um die Legitimität der Existenzberechtigung der Kirchen. Daraus leitet sich jegliches Handeln ab, im Kleinen wie im Großen, im Einzelnen wie im gruppenbezogenen Handeln. Während der SED-Staat die Kirchen nur widerwillig duldete, ihre ökonomischen Ressourcen plündern und ihre sozialen Kompetenzen ausnutzen wollte, duldeten und verfolgten die Kirchen in der DDR ganz allgemein und um den Preis der eigenen Marginalisierung im säkularisierten SED-Staat den Kurs der Anpassung und des Opportunismus. Es galt zu überleben. Der „Stachel“ Offene Arbeit blieb dabei ein permanenter Zankapfel zwischen SED-Staat und Evangelischer Kirche. Die Folgen für viele Jugendliche in der Offenen Arbeit und in den angelehnten Gruppen, die auf einen kirchlichen Schutz hofften oder angewiesen waren, und welcher oft genug verwehrt wurde, waren prägend für das ganze Leben. Nicht wenige wandten sich von der Offenen Arbeit und der Evangelischen Kirche wieder ab. Das führte im Spannungsfeld zwischen SED-Staat und Kirche zu einer Verselbständigung oppositionellen Handelns. Beide, Kirche wie SED-Staat, mussten feststellen, dass ihre Ziele, die Offene Arbeit einzudämmen, zu verhindern und zu zerstören immer wieder scheiterten. Stattdessen kam es im Rahmen der Offenen Arbeit auf Grund der permanenten Repressionen zu einer dauerhaften Politisierung immer weiterer neuer Gruppen Jugendlicher. Dies wirkte sich im Jahr 1989 direkt auf die politische Situation in der DDR aus und wurde Teil der Dynamik, die zum Ende des SED-Staates beitrug. Die Evangelische Kirche befreite sich in diesem Prozess ihrerseits von dem politischen Korsett des SED-Staates und trug wesentlich mit dazu bei, dass die gesellschaftlichen Veränderungen in der DDR in den Jahren 1989/90 friedlich

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verlaufen konnten. Die Fragen nach dem „richtigen“ Maß von Anpassung und Opportunismus an aktuelle gesellschaftliche Verhältnisse im Kontext der Auslegung des christlichen Auftrages aber sind geblieben. „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist.“35

Quellen- und Literaturverzeichnis I. Unveröffentlichte Quellen und Darstellungen Bundesarchiv, Ministerium für Staatssicherheit (BArch, MfS) Bestand Reg.-Nr. IX/163: Untersuchungsorgan des MfS im Bezirk Gera. Bestand 001692: Schulungsmaterial für Mitarbeiter der Bezirksverwaltung Gera, Kreisdienststelle Jena. Bestand SLK 1280: Stichlochkartensammlung der Bezirksverwaltung Gera.

II. Veröffentlichte Quellen und Darstellungen Affolderbach, Friedemann: Zu den Widersprüchen (in) der Offenen Arbeit und Sozialdiakonischen Jugendarbeit in der DDR. In: Widersprüche. Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich 36 (2016), 99–109. In: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-63975–1 [22.12. 2022]. Buchgruppe Offene Arbeit (Hg.): Alles verändert sich, wenn wir es verändern. Die Offene Arbeit Erfurt im Wandel der Zeiten (1979–2014). Heidelberg 2014. Dippel, Carsten: Kirche im Sozialismus. Das „Spitzengespräch“ 1978 zwischen SED und Protestanten. In: https://www.deutschlandfunk.de/kirche-im-sozialismusdas- -spitzengespraech-1978-zwischen-100.html [22.12. 2022]. Eisert-Bagemihl, Lars / Kleinert, Ulfrid (Hg.): Zwischen sozialer Bewegung und kirchlichem Arbeitsfeld. Annäherung an die Offene Jugend(-)Arbeit. Leipzig 2002. Evangelische Akademie (Hg.): Ein Auf und Ab der Gefühle: Landesbischof Moritz Mitzenheim. In: https://www.ev-akademie-thueringen.de/blogartikel/ein-aufund-ab-der-gefuehle-landesbischof-moritz-mitzenheim/ [22.12. 2022]. Franz, Peter (Hg.): Hinter der Mauer und doch frei. Ein NachLeseBuch von DDRChristen. Schkeuditz 1997. Helmberger, Peter : Blauhemd und Kugelkreuz. Konflikte zwischen der SED und den christlichen Kirchen um die Jugendlichen in der SBZ / DDR (Forum Deutsche Geschichte 16). München 2008. 35 Eine Jesus von Nazareth zugeschriebene Sentenz im Wortlaut der Lutherbibel. Im griechischen Original: !p|dote owm t± Ja_saqor Ja_saqi ja· t± toO heoO t` he`. Vgl. auch Lk 20,25.

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Hildebrand, Georg: Walter Schilling, 1930–2013. In: https://www.dissidenten.eu/la ender/deutschland-ddr/biografien/walter-schilling/ [22.12. 2022]. Idea. e. V. (Hg.): „Meister“. Die MfS-Vorlaufakte des Thüringer Landesbischofs Werner Leich im Spiegel seiner Vermerke (Idea-Dokumentation 15/96). Wetzlar 1996. Israel, Jürgen (Hg.): Zur Freiheit berufen. Die Kirche in der DDR als Schutzraum der Opposition 1981–1989. Berlin 1991. Kaiser, Paul / Petzold, Claudia: Boheme und Diktatur in der DDR. Gruppen, Konflikte Quartiere 1970–1989. Berlin 1997. Kurth, Eberhard u. a. (Hg.): Opposition in der DDR von den 1970er Jahren bis zum Zusammenbruch der SED-Herrschaft (Am Ende des realen Sozialismus 3). Opladen 2001. Latk, Klaus-Reiner : Stasi-Kirche (Christ und Politik). Uhldingen 1992. Leich, Werner : Umgeben von der Stasi, gehalten von Gott (Porträt). In: https://ad vent-verlag.de/nachrichten/werner-leich-umgeben-von-der-stasi-gehalten-vongott-portraet [22.12. 2022]. Lenski, Katharina: Sozialistisches Menschenbild und Individualität. Die „Offene Arbeit“ – ein Ort der Freiheit? Entstehung, Konzepte und soziale Praxis alternativer Jugendkultur im Staatssozialismus (1961–1989). In: https://www.bpb.de/ge schichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/242954/sozialistisches-menschen bild-und-individualitaet-die-offene-arbeit-ein-ort-der-freiheit [22.12. 2022]. – / Schçn, Angelika / Schilling, Walter: „So bestehet nun in der Freiheit, zu der uns Christus befreit hat …“. Die „Andere“ Geschichte. Erfurt 1993. Maser, Peter: Kirchen in der DDR. Niemals voll in das Regime integriert. Erfurt 2013. Neubert, Ehrhart: Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989 (Bundeszentrale für Politische Bildung 346). Bonn 21998. Offene Arbeit des Evangelischen Kirchenkreises Erfurt (Hg.): Offene Arbeit. Selbstauskünfte. Erfurt 1991. Ohse, Marc-Dietrich: Jugend nach dem Mauerbau. Anpassung, Protest und Eigensinn (DDR 1961–1974). Berlin 2003. Pietzsch, Henning: Der „Weiße Kreis“ in Jena – Beispiel für den Wandel der Protestformen Ausreisewilliger in den siebziger und achtziger Jahren. In: Leonore Ansorg u. a. (Hg.): „Das Land ist still – noch!“ Herrschaftswandel und politische Gegnerschaft in der DDR (1971–1989) (Zeithistorische Studien 40). Köln 2009, 291–302. –: Jugend zwischen Kirche und Staat. Geschichte der kirchlichen Jugendarbeit in Jena 1970–1989. Köln u. a. 2005. Pingel-Schliemann, Sandra: Zersetzen. Strategie einer Diktatur (Schriftenreihe der Robert-Havemann-Gesellschaft 8). Berlin 2002. Pleitgen, Fritz (Hg.): Wolf Biermann und andere Autoren. Die Ausbürgerung. Anfang vom Ende der DDR. Berlin 2001. Ploenus, Michael: Der Fall des „roten Franz“ von Kapellendorf. Oder : die Kontinuität von Feindbildern. In: Gerbergasse 18 (2006), H. 4, 15–18.

Kirchliche Jugendarbeit in Jena und im Thüringer Raum

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Poppe, Ulrike / Eckert, Rainer / Kowalczuck, Ilko-Sascha (Hg.): Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung. Formen des Widerstandes und der Opposition in der DDR (Forschung zur DDR-Gesellschaft). Berlin 1995. Raschka, Johannes: Zwischen Überwachung und Repression – Politische Verfolgung in der DDR 1971 bis 1989 (Am Ende des realen Sozialismus 5). Opladen 2001. Renger, Helmut: Die männliche Diakonie. Gestalt und Auftrag im Wandel der Zeiten. Witten 1965. Scheer, Udo: Vision und Wirklichkeit. Die Opposition in Jena in den 1970er und 1980er Jahren. Berlin 1999. Sekretariat des BEK (Hg.): Kirche als Lerngemeinschaft. Dokumente aus der Arbeit des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR. Bischof D. Albrecht Schönherr zum 70. Geburtstag. Berlin 1981. Stegmann, Andreas: Die Kirchen in der DDR. Von der sowjetischen Besatzung bis zur Friedlichen Revolution. München 2021. Uhl, Ernst: Der Fall Peter Franz. Eine Nachlese zur Thematik evangelische Kirche und DDR-Staatssicherheit. Bremen 2003 Wolle, Stefan: Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971–1989. Berlin 1998.

III. Internetquellen http://www.ddr-wissen.de/wiki/ddr.pl?MfS-Richtlinie_1-76 [22.12. 2022]. http://www.geschichtswerkstatt-jena.de/index.php/projekte/zeitzeugenwerkstatt/ [22.12. 2022]. https://www.youtube.com/user/gwsjena/videos [22.12. 2022].

III. Formen der Diskriminierung

Albert Scherr

Diskriminierung / Antidiskriminierung – Begriffe und Grundlagen*

Im Sinne einer formalen und abstrakt gefassten Definition kann unter Diskriminierung zunächst die Verwendung von kategorialen, das heißt vermeintlich eindeutigen und trennscharfen Unterscheidungen zur Herstellung, Begründung und Rechtfertigung von Ungleichbehandlung mit der Folge gesellschaftlicher Benachteiligungen verstanden werden. Den Diskriminierten wird der Status des gleichwertigen und gleichberechtigten Gesellschaftsmitglieds bestritten; ihre faktische Benachteiligung wird entsprechend nicht als ungerecht bewertet, sondern als moralisch rechtfertigbare, unvermeidbare oder anstrebenswerte Folge ihrer Andersartigkeit betrachtet. Bedeutsam für diskriminierende Strukturen und Praktiken sind dabei einerseits Unterscheidungen von Gruppenkategorien (beispielsweise „Juden“, „Migranten“, „Muslime“, „Sinti und Roma“). Diesen „abstrakten Gruppen“1 – es handelt sich ersichtlich nicht um reale Gruppen, deren Mitglieder einander kennen, sondern um gesellschaftlich wirkungsmächtige Gruppenkonstruktionen2 – wird eine kollektive Identität und werden Eigenschaften zugeschrieben, die sie von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden. Andererseits geschieht Diskriminierung auf der Grundlage der Unterscheidung von Personenkategorien (beispielsweise „Behinderte“, „Frauen“, „psychisch Kranke“, „Kriminelle“), für die in irgendeiner Weise problematische individuelle Eigenschaften behauptet werden, die sie vom angenommenen Normalfall des physisch und psychisch gesunden, rechtskonform handelnden und erwerbstätigen Staatsbürgers und seiner Familienangehörigen unterscheiden. Schon mit diesen einleitenden Überlegungen wird deutlich: Der Begriff „Diskriminierung“ verweist auf überaus heterogene Sachverhalte – auf die * Bei diesem Beitrag handelt es sich um die überarbeitete Fassung eines Textes, der zuerst in der Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“ (66 Jg. 9/2016, 3–10) publiziert wurde. Die Herausgeber danken der Bundeszentrale für politische Bildung für ihre Zustimmung zur Veröffentlichung dieser Textfassung. 1 Diesen Begriff verwendet Simmel, Soziologie, 335. 2 Solche Gruppenkonstruktionen sind keine neutrale Voraussetzung von Diskriminierung, sondern selbst bereits ein wichtiges Element des Prozesses, der zu Diskriminierung führt. Denn mit der Zuordnung zu diskriminierten Gruppen werden Menschen nicht mehr als eigenverantwortliche und selbstbestimmungsfähige Individuen, sondern als Gruppenwesen wahrgenommen, die durch ihre Zugehörigkeit geprägt sind. Eine wichtige Kritik des Denkens in Gruppenkategorien liegt bei Brubaker, Ethnizität; für eine Analyse der sozialen Konstruktion ethnischer Gruppen vgl. Scherr, Ethnisierung.

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gesellschaftlichen Geschlechterverhältnisse, auf die soziale Ausgrenzung von Minderheiten, auf Nationalismus und Rassismus und weiteres –, die in jeweilige historische und gesellschaftliche Kontexte eingebettet sind und in diesen spezifischen Ausprägungen haben. Diskriminierung kann deshalb nicht zureichend allein als eine Folge von individuellen Einstellungen oder kollektiven Mentalitäten verstanden werden. Vielmehr ist es ein komplexes System sozialer Beziehungen, in dem diskriminierende Unterscheidungen entstehen und wirksam werden. Um politisch, rechtlich oder pädagogisch wirksame Maßnahmen gegen Diskriminierung zu entwickeln, genügt es deshalb nicht, eine generelle Haltung der Toleranz einzufordern sowie individuelle Rechtsansprüche auf Diskriminierungsschutz zu gewährleisten. Vielmehr ist dazu sowohl ein angemessenes Verständnis der gesellschaftlichen Strukturen und sozialen Praktiken erforderlich, die unterschiedlichen Ausprägungen von Diskriminierung gemeinsam sind, als auch eine Berücksichtigung der besonderen Bedingungen, die jeweils zu Diskriminierung führen. Pointiert formuliert: Bei der Benachteiligung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt handelt es sich zum Beispiel ebenso um Diskriminierung wie bei der rassistischen Kategorisierung von Sinti und Roma. Die Ursachen sind in beiden Fällen jedoch anders gelagert; Gegenstrategien müssen dies berücksichtigen3. Dem Sachverhalt, dass Diskriminierung nicht allein eine Folge von benachteiligenden Handlungen ist, wird im Antidiskriminierungsrecht durch die Anerkennung mittelbarer Diskriminierung als Tatbestand Rechnung getragen: Während unmittelbare Diskriminierung dann vorliegt, wenn Regelungen und Praktiken einen direkten Bezug zu Diskriminierungsmerkmalen (wie Geschlecht oder Religion) haben, verweist mittelbare Diskriminierung auf die Folgen scheinbar neutraler Vorgaben und Verfahrensweisen, die im Effekt gleichwohl zu Benachteiligungen bestimmter Personenkategorien und sozialer Gruppen führen. Dass sich Diskriminierung auch nicht immer als Folge einfacher Ursache-Wirkung-Zusammenhänge begreifen lässt, wird in den Konzepten der Mehrfachdiskriminierung und Intersektionalität thematisiert: Unterschiedliche Dimensionen von Diskriminierungen können sich überlagern und verstärken und somit zu spezifischen Formen verdichten, die zum Beispiel nur für migrantische Frauen ohne legalen Aufenthaltsstatus bedeutsam sind4.

3 Deshalb ist das einflussreiche Konzept der „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ problematisch, denn es akzentuiert die gemeinsamen sozialpsychologischen Ursachen der unterschiedlichen Ausprägungen von Vorurteilsbereitschaft und tendiert in der Folge zu einer Vernachlässigung der Unterschiede sowie der spezifischen historischen und gesellschaftsstrukturellen Zusammenhänge. 4 Vgl. Holzleithner, Mehrfachdiskriminierung; http://portal-intersektionalitaet.de/uploads/ media/Walgenbach-Einfuehrung.pdf.

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1. Wodurch geschieht Diskriminierung? Im alltäglichen Sprachgebrauch wird unter Diskriminierung ein benachteiligendes Handeln und ein abwertendes Sprechen verstanden, dessen Grundlage die Annahme vermeintlicher Andersartigkeit ist. Diesem Verständnis von Diskriminierung entspricht erstens die Suche nach sozialpsychologischen Erklärungen von Diskriminierung, in deren Zentrum die Frage steht, wie Diskriminierungsbereitschaft mit bestimmten Persönlichkeitsstrukturen (wie Autoritarismus und sozialer Dominanzorientierung) sowie mit vorherrschenden Mentalitäten in sozialen Milieus zusammenhängt. Folglich gelten zweitens Ergebnisse der Meinungs- und Einstellungsforschung zum Ausmaß der Verbreitung von Stereotypen und Vorurteilen in der Gesamtgesellschaft und in bestimmten sozialen Gruppen als eine zentral bedeutsame Informationsgrundlage5. Als wesentliche Elemente einer Strategie gegen Diskriminierung werden drittens öffentliche Kampagnen sowie pädagogische Maßnahmen betrachtet, die über Stereotype und Vorurteile aufklären und für diese sensiblisieren, die moralische und rechtliche Ablehnung jeder Form von Diskriminierung verdeutlichen sowie die Betroffenen ermächtigen (Empowerment) sollen6. In der sozialwissenschaftlichen Forschung ist jedoch gezeigt worden, dass ein Verständnis von Diskriminierung als Folge von Eigenschaftszuschreibungen und negativen Einstellungen gegenüber Gruppen, die zu abwertenden Äußerungen und benachteiligenden Handlungen führen, unzureichend ist. Diskriminierung umfasst mehr als Formen des direkten und absichtsvollen Sprechens und Handelns von Einzelnen oder Gruppen. Dies ist schon deshalb der Fall, weil nachgewiesen worden ist, dass diskriminierende Einstellungen nicht zwangsläufig zu diskriminierenden Handlungen führen und zugleich auch keine notwendige Voraussetzung diskriminierender Handlungen sind7. Denn diese diskriminierenden Entscheidungen können beispielsweise auch aus rationalen ökonomischen Kalkülen vorurteilsfreier Akteure resultieren. Das Konzept der statistischen Diskriminierung8 bietet eine Erklärung für solche Formen von Diskriminierung, die auch dann entstehen, wenn jeweilige Entscheider auf dem Arbeitsmarkt oder auf dem Wohnungsmarkt für sich beanspruchen, keine Vorurteile zu haben und niemanden diskriminieren zu wollen. Argumentiert wird, dass Entscheidungen – etwa bei der Einstellung 5 Vgl. die Studien des Projekts „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“, z. B. Heitmeyer, Zustände. 6 Seit der Verabschiedung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) 2006 besteht für Betroffene darüber hinaus die Möglichkeit, gegen erfahrene Diskriminierung im privatwirtschaftlichen Sektor durch Klagen vorzugehen – sofern sich diskriminierende Praktiken von Akteuren justiziabel nachweisen lassen. 7 Auf diese Diskrepanz weist bereits hin Merton, Discrimination. 8 Dazu grundlegend Phelps, Theory.

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von Arbeitnehmern – immer auf einer unsicheren Informationsgrundlage bezüglich der Eigenschaften, Fähigkeiten und Potenziale individueller Bewerberinnen und Bewerber getroffen werden. Deshalb werden Annahmen über wahrscheinliche Unterschiede zwischen sozialen Gruppen, denen jeweilige Individuen zugerechnet werden, als Zusatzinformationen herangezogen, um den Entscheidungsprozess zu vereinfachen. „Hautfarbe oder Geschlecht werden als Schätzgröße für wichtige Daten, die nicht erhoben wurden, verwendet“9, da der zeitliche Aufwand, der für die genaue Betrachtung des einzelnen Falles verwendet werden kann, begrenzt ist. In der Folge sind bereits mehr oder weniger plausible Annahmen über die wahrscheinlichen Eigenschaften kategorial unterschiedener Gruppen ein Einfallstor für Diskriminierung, nicht erst Vorurteile und eine darin begründete Ablehnung oder absichtsvolle Benachteiligung. In der sozialpsychologischen Gruppenforschung ist aufgezeigt worden, dass Stereotype und Vorurteile in Gruppenkonflikten als eine Folge des Wettbewerbs um knappe Resourcen oder als Effekt des Bedürfnisses nach Aufwertung der Eigengruppe entstehen können10. Es handelt sich bei Vorurteilen also nicht um individuelle Irrtümer, sondern um die Folgen eines sozialen Prozesses. Diskriminierung als gesellschaftliches Phänomen kann jedoch nicht in direkter Analogie zu realen Gruppenkonflikten verstanden werden. Denn rassistische, ethnisierende, nationalistische oder geschlechtsbezogene Diskriminierung ist keine Folge realer und vorgängiger Gruppenkonflikte. Vielmehr sind es in gesellschaftlichen Diskursen und Ideologien verankerte Annahmen über vermeintliche Gemeinsamkeiten derjenigen, die einer rassistisch, ethnisch, national, religiös oder geschlechtsbezogen definierten Kategorie zugeordnet werden, in Verbindung mit der Zuschreibung kollektiver Merkmale, die „die Anderen“ von „uns“ unterscheiden, die erst die Vorstellung als plausibel erscheinen lassen, es handle sich um einen Konflikt zwischen Gruppen mit unterschiedlichen Eigenschaften, Normen, Werten oder Interessen. Gruppenkonstruktionen sind eine notwendige Bedingung, um diskriminierende Eigenschaftszuschreibungen und Praktiken gegenüber den Individuen plausibilisieren zu können, die infolge dieser Konstruktion als Gruppenangehörige wahrgenommen werden. Es bedarf also bestimmter Diskurse und Prozesse, durch die etwa Geschlechter, Ethnien, Religionen oder „Rassen“ als vermeintlich homogene Kollektive konstruiert werden, damit die soziale Wirklichkeit als ein konflikthaftes Verhältnis zwischen den so markierten Gruppen erfahren werden kann. Als institutionelle Diskriminierung11 werden solche Benachteiligungen bezeichnet, die nicht auf individuell zurechenbare Handlungen oder Über9 Ebd., 659. 10 Dazu klassisch Tajfel, Identity. 11 Vgl. Gomolla, Diskriminierung.

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zeugungen zurückgeführt werden können. Als Ursache werden vielmehr Strukturen und Verfahrensweisen von Institutionen in den Blick gerückt, die auch dann diskriminierende Auswirkungen haben, wenn die handelnden Personen in der Institution weder stereotype Vorstellungen über Eigenschaften von Gruppen noch benachteiligende Absichten haben. In Schulen, Betrieben und Hochschulen kommt institutionelle Diskriminierung zum Beispiel dann zustande, wenn muttersprachliche Kenntnisse der deutschen Sprache als Normalfall vorausgesetzt werden und deshalb keine Vorkehrungen getroffen werden, die Personen mit anderer Erstsprache darin unterstützen, ihre sprachlichen Fertigkeiten weiterzuentwickeln. Organisationelle Diskriminierung12 resultiert aus den funktionalen Erfordernissen von Organisationen, beispielsweise von Industrie- und Dienstleistungsbetrieben. Das Primat der wirtschaftlichen Bewährung führt dazu, dass Ausbildungs- und Arbeitsstellen bevorzugt an solche Bewerberinnen und Bewerber vergeben werden, von denen angenommen wird, dass sie sich problemlos in die Betriebskultur einfügen sowie von der Belegschaft und von den Kunden akzeptiert werden. Dies führt zu einer Diskriminierung von Bewerberinnen und Bewerbern, denen – wie dies in zugespitzter Weise bei kopftuchtragenden Muslimas der Fall ist – soziokulturelle Distanz zur Betriebskultur unterstellt wird und / oder bei denen angenommen wird, dass ihre Einstellung zu Konflikten im Betrieb oder zu Schwierigkeiten mit der Kundschaft führen wird. Gesellschaftsstrukturelle Diskriminierung liegt dann vor, wenn etablierte Strukturen in den gesellschaftlichen Teilsystemen (Recht, Politik, Bildung, Ökonomie) direkt oder indirekt zu gruppenbezogenen Benachteiligungen führen. Prominente Beispiele hierfür sind die Behinderung weiblicher Erwerbskarrieren durch die vorrangige Zuweisung von Haushalts-, Erziehungsund Fürsorgeleistungen an Frauen, die Effekte des hierarchisch gegliederten und monolingualen Schulsystems auf die Bildungschancen migrantischer Schülerinnen und Schüler, die Benachteiligung von Ausländern aus Drittstaaten durch das Arbeitsrecht sowie die Unterscheidung nach Staatsangehörigkeiten bei der Vergabe von Visa und Aufenthaltsberechtigungen. Mit dem Konzept past-in-present-discrimination13 wird auf die gegenwärtigen Auswirkungen vergangener Diskriminierung hingewiesen. So kann etwa die gegenwärtige Situation der black underclass in den USA ebenso wenig ohne die direkten und indirekten Auswirkungen von Sklaverei und Rassentrennung verstanden werden wie die Situation der deutschen Sinti ohne ein Wissen um ihre Verfolgung im NS-Regime sowie ihre fortgesetzte offene Diskriminierung in Westdeutschland bis zu ihrer verspäteten Anerkennung als Opfer des NSRegimes und als nationale Minderheit.

12 Vgl. Imdorf, Ausländerdiskriminierung; Scherr / Janz / Meller, Diskriminierung. 13 Vgl. Feagin / Feagin, Discrimination.

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2. Was gilt als Diskriminierung? Für demokratisch verfasste und der Idee der Menschenrechte verpflichtete moderne Gesellschaften ist der Anspruch leitend, dass alle Individuen über gleiche Rechte und gleiche Chancen verfügen sollen. Alle Menschen sind gleich und frei geboren, niemand soll aufgrund seiner sozialen Herkunft oder seiner Religion benachteiligt werden, so lässt sich das gemeinsame Credo bereits der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung (1776) und der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1789) zusammenfassen. Im Rückblick auf die Geschichte der modernen Gesellschaften wird jedoch auch deutlich, dass die Forderung nach Anerkennung der gleichen Rechte und Freiheiten von Anfang an faktisch keineswegs auf alle Menschen bezogen, sondern mit substanziellen Einschränkungen verbunden war : Dass Frauen keineswegs gleichermaßen vernunftbegabte Menschen seien, die zur Selbstbestimmung in Freiheit fähig sind, war noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts eine einflussreiche Annahme. Thomas Jefferson war zentraler Autor der „Declaration of Independence“ und zugleich praktizierender Sklavenhalter. Dies war möglich, weil Afroamerikaner zu seiner Zeit nicht als gleichwertige Menschen galten und ihre Ungleichbehandlung als Sklaven als gerechtfertigt betrachtet wurde. Die Philosophin Susan Buck-Morrs argumentiert, dass in dieser Gleichzeitigkeit auch eine systematische Blindstelle der europäischen Aufklärung deutlich wird: „Die Ausbeutung von Millionen von Sklavenarbeitern in den Kolonien wurde von denselben Philosophen, die die Meinung verkündeten, Freiheit sei der Naturzustand des Menschen und sein unveräußerliches Recht, als Lauf der bestehenden Welt akzeptiert.“14 Darin zeigt sich exemplarisch: Wann Ungleichbehandlung als diskriminierend oder als gerechtfertigt gilt, hängt entscheidend von historisch veränderlichen Annahmen darüber ab, wer im vollen Wortsinn als ein (Mit-)Mensch gilt, der einen Anspruch auf Anerkennung als Individuum mit gleichen Rechten und gleichen Freiheiten haben soll15. Deshalb ist der Wortlaut der Formulierung des Diskriminierungsverbots im Artikel 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 nach wie vor von hoher Aktualität. Dort heißt es: „Jeder hat Anspruch auf die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten, ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand.“ Anders als im deutschen Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) wird hier keine abschließende Festlegung auf bestimmte Kriterien vorgenommen, die zu inakzeptablen Benachteiligungen 14 Buck-Morrs, Hegel, 69. 15 Vgl. Rorty, Wahrheit, 255–268.

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führen können16 ; vielmehr erfolgt dort eine offene („etwa nach“) Aufzählung von Unterscheidungen, die mit Diskriminierung einhergehen können. Diese Offenheit hinsichtlich der Ausprägungen von Diskriminierung ist bedeutsam, weil auch gegenwärtig nicht davon ausgegangen werden kann, dass das inzwischen erreichte Verständnis inakzeptabler Ausprägungen von Benachteiligungen zureichend ist. Aus der historischen Erfahrung ist vielmehr zu lernen, dass es sich bei der Entwicklung des Diskriminierungsverständnisses um einen prinzipiell unabschließbaren Lernprozess handelt: Wiederkehrend haben sich Benachteiligungen erst im Rückblick als ungerechtfertigt erwiesen, die sich für die historischen Zeitgenossen als unproblematisch und unvermeidbar darstellten17. Angesichts der gegenwärtigen Flüchtlingskrise stellt sich vor diesem Hintergrund die zweifellos kontroverse Frage, ob die weitgehend akzeptierte Verweigerung von Einwanderungs- und Aufenthaltsrechten für sogenannte „Armuts- und Wirtschaftsflüchtlinge“ eine rechtfertigbare Notwendigkeit oder aber eine Form von Diskriminierung darstellt, deren Überwindung eine zentrale Herausforderung für das 21. Jahrhundert ist18. Auch im Hinblick auf andere Formen ist anhaltend umstritten, was als Diskriminierung und was als gesellschaftlich zulässige Ungleichbehandlung gelten soll: Dies betrifft die Kontroversen um die rechtliche Gleichstellung homosexueller Paare mit heterosexuellen Familien, das Recht der Kirchen, Arbeitsverhältnisse an eine christlichen Werten entsprechende Lebensführung zu binden, oder das Recht von Muslimas, im öffentlichen Dienst das Kopftuch zu tragen. Zu Kontroversen führt auch die Ungleichbehandlung von Staatsbürgerinnen und -bürgern und Ausländerinnen und Ausländern. Denn die Diskriminierung von Nicht-Staatsangehörigen ist ein rechtlich verankertes Grundprinzip moderner Staatlichkeit, das jedoch ersichtlich in einem substanziellen Spannungsverhältnis zu den Menschenrechten von Nicht-Staatsbürgerinnen und -bürgern steht.

3. Individualismus, soziale Ungleichheiten und Diskriminierung Das Diskriminierungsverbot stellt ein grundlegendes Menschenrechtsprinzip dar, denn nur durch das Verbot jedweder Einschränkung ihres Geltungsbereichs kann der universalistische Anspruch der Menschenrechte auf die Ge16 In § 1 AGG genannt werden „Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität“. 17 Von zentraler Bedeutung für solche Lernprozesse waren – so im Fall der ersten und zweiten Frauenbewegung und der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung – die sozialen Emanzipationsbewegungen derjenigen, die ihren Anspruch auf gleiche Rechte eingefordert haben. 18 Vgl. Pogge, Weltarmut; Scherr, Wer soll deportiert werden?

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währleistung „gleichberechtigter Freiheit“19 erfüllt werden. Folglich kann die Etablierung einer dezidierten Menschenrechtspolitik als zwingende Konsequenz aus einer Entwicklung verstanden werden, die nach dem Zweiten Weltkrieg im Völkerrecht, auf nationalstaatlicher Ebene und in der EU dazu geführt hat, dass der Bezug auf die Menschenrechte als Wertegrundlage an Bedeutung gewonnen und zu einer Verankerung der Menschenrechte im positiven Recht geführt hat20. Gleichwohl begründen soziologische Analysen und sozialhistorische Studien Skepsis gegenüber der Erwartung, dass moderne Gesellschaften zu einer umfassenden Überwindung von Diskriminierung in der Lage sind. Denn in ihre Strukturen ist ein paradoxes Verhältnis eingelassen. Sie ermöglichen eine normative Ablehnung von Diskriminierung, ohne jedoch auf Diskriminierung verzichten zu können. Moderne Gesellschaften sind individualistische Gesellschaften, in denen allein die individuellen Fähigkeiten und Leistungen über den sozialen Status entscheiden sollen. Auch moderne Gesellschaften stehen jedoch, wie historisch ältere, vor dem Problem, Individuen in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereichen auf Positionen zu verteilen, die durch Privilegien oder Benachteiligungen gekennzeichnet sind21. Sie können dieses Problem nicht mehr dadurch lösen, dass sie auf gottgewollte oder naturgegebene Vorrechte – etwa auf Standesprivilegien – verweisen. Als angemessen und gerechtfertigt gilt die Positionszuweisung in den gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnissen deshalb nur dann, wenn sie durch jeweils bedeutsame individuelle Unterschiede erklärt werden kann, wie das intellektuelle Leistungsvermögen, die sprachliche Ausdrucksfähigkeit, die erworbenen fachlichen Kenntnisse und Kompetenzen. Trotz erheblicher Zweifel daran, dass die Idee der Chancengleichheit tatsächlich realitätsgerecht ist, handelt es sich um einen notwendigen Glauben an das meritokratische Prinzip der Leistungsgerechtigkeit, eine unverzichtbare „Illusio“22. Genau aus diesem Grund werden auf kollektive Merkmale bezogene Ungleichbehandlungen und Benachteiligungen als Diskriminierung bezeichnet und zum Problem erklärt: Sie stehen in einem fundamentalen Widerspruch zum leistungsindividualistischen Selbstverständnis der modernen Gesellschaft. Aus dem gleichen Grund aber sind Formen der Diskriminierung geradezu unverzichtbar. Denn es ist immer wieder nachgewiesen worden, dass der 19 Bielefeldt, Diskriminierungsverbot, 23. 20 Vgl. zur Sozialgeschichte der Menschenrechte Davidson, Laws; für eine rechts- und staatstheoretische Analyse Sandkehler, Recht. 21 Im Bildungssystem werden bessere und schlechtere Zeugnisse sowie höherwertige und niedrige Abschlusszertifikate zugeteilt, auf dem Arbeitsmarkt berufliche Positionen mit höherem und geringerem Einkommen, in Parteien haben Spitzenpolitiker mehr Einfluss und höheres Ansehen als gewöhnliche Parteimitglieder usw.; es handelt sich also um eine komplexe Gemengelage von Ungleichheiten. 22 Vgl. Bourdieu / Passeron, Illusion; Solga, Meritokratie.

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Verweis auf individuelle Unterschiede keine zureichende und letztlich überzeugende Antwort auf die Frage geben kann, wie Positionen in den Strukturen sozialer Ungleichheiten zugewiesen werden sollen. Bereits der Soziologe Alfred Schütz argumentiert, dass es in jeder Gesellschaft immer mehr Menschen gibt, die in der Lage wären, privilegierte Positionen auszuüben, als privilegierte Positionen verfügbar sind23. Zudem kann argumentiert werden, dass das Ausmaß der sozialen Ungleichheiten und das Ausmaß der individuell zurechenbaren Unterschiede sich realiter keineswegs entsprechen. So lässt sich mit guten Gründen bezweifeln, dass das im Vergleich zu einem einfachen Arbeiter 20-mal höhere Einkommen eines Managers tatsächlich einer 20-mal höheren Leistung entspricht24. Gravierende soziale Ungleichheiten können deshalb auf lange Sicht nur aufrechterhalten werden, so der Sozialwissenschaftler Charles Tilly, wenn Vorstellungen über eine Hierarchie der Fähigkeiten und Berechtigung sozialer Gruppen eine Rechtfertigung dafür bereitstellen, dass die Angehörigen der „besseren“ sozialen Gruppen auch die bevorzugten sozialen Positionen einnehmen25. Pointiert formuliert: Das Diskriminierungsverbot ist zwar eine zwingende Entsprechung des meritokratischen Prinzips. Diskriminierung ist gleichwohl in dem Ausmaß gesellschaftlich nicht verzichtbar, wie Positionszuweisungen unter Bedingungen gravierender sozialer Ungleichheiten begründet werden müssen, aber nicht zureichend mit dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit gerechtfertigt werden können26. Der Zusammenhang von sozioökonomischen Ungleichheiten und Diskriminierung zeigt sich auch darin, dass beide Dimensionen oft empirisch auf eine Weise ineinander verschränkt sind, in deren Folge schwer zu unterscheiden ist, was in der Lebenswirklichkeit Betroffener Folge von Diskriminierung und was Folge von Einkommens- oder Bildungsarmut ist. Typisch sind, das zeigen Studien zur Situation in benachteiligten Wohngebieten, etwa zur Jugendarbeitslosigkeit in den französischen Banlieues, oder Analysen diskriminierter Minderheiten wie der Roma in Ost- und Südeuropa, sich wechselseitig verstärkende Überlagerungen von Armut und Diskriminierung. Aus diesen Überlegungen lassen sich vier Folgerungen ableiten: Erstens ist unter Bedingungen gravierender sozialer Ungleichheiten eher eine Verschiebung der Unterscheidungen erwartbar, mit denen diskriminiert wird, als ein völliges Verschwinden diskriminierender Unterscheidungen. Eine solche Verschiebung zeigt sich beispielsweise darin, dass der alte biologische Rassismus zunehmend delegitimiert worden ist und an gesell23 24 25 26

Vgl. Schetz, Gleichheit. Vgl. Rorty, Looking Backwards. Vgl. Tilly, Inequality. Vgl. http://portal-intersektionalitaet.de/uploads/media/Albert_Scherr_Disriminierung_Inter sektionalit%C3%A4t.pdf.

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schaftlicher Bedeutung verloren hat, während zugleich Formen der Ethnisierung und des kulturellen Rassismus zunehmend zur Erklärung und Rechtfertigung der anhaltenden Benachteiligung migrantischer Minderheiten herangezogen werden. Zweitens ist die etablierte Aufspaltung in eine Gesellschaftspolitik, die auf den Abbau sozialer Ungleichheiten und die Herstellung sozialer Gerechtigkeit zielt, einerseits und eine Antidiskriminierungspolitik andererseits problematisch, da sozioökonomische Ungleichheiten und diskriminierende Positionierungen sich wechselseitig bedingen. Antidiskriminierungspolitik kann also eine auf soziale Gerechtigkeit zielende Arbeitsmarkt-, Bildungs-, Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht ersetzen27. Drittens gilt der Zusammenhang zwischen sozialer Ungerechtigkeit und Diskriminierung auch für die internationalen Beziehungen in der Weltgesellschaft: Zunehmend erweist sich die Diskriminierung von Armutsmigranten als ein unverzichtbares Mittel zur Stabilisierung der globalen (Ungleichheits-)Ordnung. Eine wirksame Bekämpfung der Fluchtursachen, mit der solche Diskriminierung verzichtbar würde, ist aber nicht möglich, ohne die weltgesellschaftlichen Ungleichheiten zu verringern. Viertens kann Diskriminierung als gesellschaftliches Phänomen nicht zureichend durch eine – zweifellos unverzichtbare – Gesetzgebung überwunden werden, die an individuellen Benachteiligungen ansetzt und individuelle Rechte etabliert. Problematisch an einer Fokussierung auf das Antidiskriminierungsrecht als zentrales Mittel der Antidiskriminierungspolitik ist so betrachtet nicht nur, dass es schwierig ist, das Vorliegen von Diskriminierungen gerichtsfest nachzuweisen, sondern vor allem, dass individuelle Beschwerden und Klagen nicht an den gesellschaftlichen Ursachen von Diskriminierung rühren28.

4. Antidiskriminierung als gesellschaftspolitische Programmatik Zentrales Element aller Strategien gegen Diskriminierung ist die Forderung, Gleichbehandlung konsequent durchzusetzen. Dazu werden in der einschlägigen Forschung29 Maßnahmen eingefordert, die auf drei Ebenen ansetzen: 27 Auch ein Blick auf die neuere Sozialgeschichte zeigt: Die Erfolge der Antidiskriminierungsbewegungen und der Antidiskriminierungspolitik seit den 1960er Jahren sind nicht mit einem Abbau sozialer Ungleichheiten einhergegangen. Insbesondere für die USA lässt sich feststellen: Die Fortschritte im Hinblick auf die Gleichberechtigung von Frauen und die Anerkennung der Rechte von Homosexuellen vollziehen sich zeitgleich zu einem Abbau sozialstaatlicher Leistungen und einer Zunahme sozioökonomischer Ungleichheiten. 28 Zur Reichweite des AGG vgl. Egenberger, Diskriminierungsschutz. 29 Vgl. für den Bereich der beruflichen Bildung und des Arbeitsmarktes zusammenfassend Scherr / Janz / Meller, Diskriminierung, 183–192.

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Erstens gilt es als unverzichtbar, nicht nur wirksame rechtliche Sanktionen gegen Diskriminierung zu verankern, sondern auch ein gesellschaftliches Problembewusstsein zu stärken – etwa dadurch, die Thematik in der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern, Ausbilderinnen und Ausbildern, Juristinnen und Juristen und weiterer Berufsgruppen, im schulischen Unterricht und der außerschulischen Jugend- und Erwachsenenbildung sowie durch politische Kampagnen zu verankern. Denn die faktische Durchsetzbarkeit von rechtlichen Vorgaben hat zur Bedingung, dass sie gesellschaftlich als legitime und sinnvolle Vorschriften betrachtet werden. Zweitens wird die verbindliche und überprüfbare Verankerung von Antidiskriminierungskonzepten in Organisationen eingefordert, etwa durch Trainings- und Qualifizierungsmaßnahmen für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Einrichtung von Beschwerdestellen, anonymisierte Verfahren der Bewerberauswahl, Formen des Monitoring von Gleichstellungsmaßnahmen sowie die Implementierung von Diversity-Konzepten. Drittens gilt das Empowerment der Betroffenen als ein weiteres wichtiges Element, so durch ihre Aufklärung über die rechtlichen Möglichkeiten und ihre Unterstützung durch qualifizierte Beratungsstellen. Anhaltend kontrovers diskutiert werden international Affirmative-actionProgramme, die auf positive Maßnahmen zur Verbesserung der Position diskriminierter Gruppen zielen. Strittig ist dabei nicht allein die Wirksamkeit dieser Maßnahmen, sondern auch die Begründbarkeit der Auswahlkriterien und die Folgen der Festschreibung von Gruppen, die als besonders förderungswürdig betrachtet werden30. Dies betrifft nicht zuletzt die Frage, ob beziehungsweise wie der Verschränkung der sozialen Klassenlage mit diskriminierenden Unterscheidungen angemessen Rechnung getragen werden kann31. Zusammenfassend kann festgestellt werden: Die rechtliche Verankerung des Diskriminierungsverbots im AGG, die Schaffung von Institutionen wie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes und die Einrichtung von Beschwerdestellen auf lokaler Ebene, öffentliche Kampagnen, die auf Sensibilisierung und Empowerment zielen, sowie die Ansätze einer Antidiskriminierungspädagogik in der außerschulischen und schulischen Bildung stellen zweifellos wichtige Schritte dar, um Diskriminierung zu überwinden. Gleichwohl: Um das Diskriminierungsverbot umfassend zu realisieren, braucht es mehr als solche Maßnahmen. Erforderlich ist eine Gesellschaftspolitik, die die Gewährleistung gleicher Rechte und Freiheiten jedes Individuums und die gesellschaftsstrukturelle Gewährleistung sozialer Gerechtigkeit als zwei Seiten 30 Vgl. Harper / Reskin, Action. 31 Am Fall US-amerikanischer Hochschulen diskutiert dies Richard D. Kahlenberg in instruktiver Weise. Vgl. Kahlenberg, A Better Affirmative Action. Seine zentrale These lautet, wie er an anderer Stelle zum Ausdruck bringt: „Basing preferences on class rather than race is not only better for the nation as a whole. It’s better for disadvantaged minorities themselves.“ (Ders., Race-Based Affirmative Action).

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einer Medaille begreift. Die Frage nach den Bedingungen sozialer Gerechtigkeit lässt sich nicht zureichend in der Sprache der individuellen Rechte beantworten32.

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Diskriminierung / Antidiskriminierung – Begriffe und Grundlagen

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Roland M. Lehmann

Facetten von Diskriminierung – Annäherungen zur kirchengeschichtlichen Erforschung der DDR

Seit Januar 2020 arbeitet das vierköpfige Team unter der Leitung von Christopher Spehr am Forschungsprojekt „Diskriminierung von Christen in der DDR. Dargestellt am Beispiel von Bausoldaten, Totalverweigerern und Jugendlichen im Widerstand gegen die Wehrerziehung in den 1960er Jahren mit Schwerpunkt Thüringer Raum“1. Das Projekt verfolgt dabei ein zweifaches Ziel: Einerseits sollen konkrete Fälle von Ungleichbehandlungen, Ausgrenzungen und Stigmatisierungen in den drei genannten Bereichen detailliert beschrieben werden. Zu erforschen ist, wie Diskriminierung von Christen in der DDR in bestimmten gesellschaftlichen Zusammenhängen vor dem Hintergrund der Militarisierung in den 1960er Jahren konkret erfolgte. Andererseits verfolgt das Projekt das Ziel, vor dem Hintergrund konkreter Einzelfälle allgemeine Strategien, Mechanismen und Folgen von Repression in der damaligen Zeit abzuleiten. Die Leitfrage lautet: Lassen sich gewisse Muster von Benachteiligungen, Prozesse der Standardisierung in den Vorgängen oder idealtypische Verläufe feststellen, die zum Verstehen der Repressionen in der DDR beitragen? Das Projekt zielt insofern auch darauf, einen Beitrag zur historischen Diskriminierungsforschung zu leisten. In diesem Vortrag soll es insbesondere um den zweiten Aspekt gehen. Aus verschiedenen Perspektiven wird sich dem facettenreichen Phänomen der „Diskriminierung“ genähert. Dadurch soll das Projekt in verschiedene Forschungskontexte eingebettet und die so gewonnenen Erkenntnisse für das Jenaer Vorhaben nutzbar gemacht werden. Hierzu sind in einem ersten Schritt die neueren Einsichten der Diskriminierungsforschung in den Blick zu nehmen – ein noch relativ junges Fachgebiet, das sich in dieser expliziten Zuspitzung erst in den letzten Jahrzehnten etabliert hat. Danach erfolgt in einem zweiten Schritt die Sondierung der bereits geleisteten kirchenhistorischen Erforschung der DDR zum Thema „Diskriminierung von Christen“. Dabei werden insbesondere neuere Arbeiten berücksichtigt, die das Thema in den Fokus rücken. In einem letzten Schritt soll ein Modell vorgestellt werden, das sich aus der Arbeit im Rahmen des Forschungsprojekts ergeben hat und kategoriale Unterscheidungskriterien formuliert, um die konkreten Diskriminierungsfälle bei den Bausoldaten, Totalverweigerern und Jugendlichen im Widerstand gegen die Wehrerziehung besser verstehen und einordnen zu 1 Vgl. hierzu meinen Beitrag Lehmann, Diskriminierung.

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können. Da das Projekt noch nicht abgeschlossen ist, kann es sich hierbei lediglich um einen vorläufigen Entwurf als Diskussionsgrundlage handeln.

1. Erkenntnisse der Diskriminierungsforschung Das Wort „Diskriminierung“ leitet sich vom lateinischen Präfix „dis-“ im Sinne von „gesondert“ oder „auseinander“ sowie vom Grundwort „crimen“ mit der Grundbedeutung „scheiden“ oder „entscheiden“ ab. Im Lateinischen bedeutet „discriminatio“ zunächst im wertneutralen Sinn eine „Scheidung“ von Dingen oder Gedanken2. Dabei verstärkt das Präfix die differenzierende Tätigkeit. Insofern geht es nicht allein um eine bloße Unterscheidung von Sachverhalten, sondern um eine „entschlossene“ bzw. „nachdrückliche“ Sondierung von Dingen. Aufgrund dieser Pointierung übersetzt die Sprachforscherin Gisela Schlüter den Begriff „discrimen“ auch im Sinne eines bewussten bzw. „entscheidenden Unterscheidens“3. Die deutsche Ableitung „Diskriminierung“ bezeichnet erst seit dem frühen 20. Jahrhundert den benachteiligenden Umgang, zunächst unter Handelspartnern und wenig später in Bezug auf Personen oder gesellschaftliche Gruppen4. Die klassische Definition des Begriffs basiert auf zeitgenössischen Erläuterungen des Artikels 7 der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ von 1949. Demnach fasst Diskriminierung „jedes Verhalten, das auf einer Unterscheidung basiert, die aufgrund natürlicher oder sozialer Kategorien getroffen wird, die weder zu den individuellen Fähigkeiten oder Verdiensten noch zum konkreten Verhalten der individuellen Person in Beziehung stehen.“5 Diskriminierung bezeichnet also im Kern das Phänomen „ungerechter Ungleichbehandlung“6. Damit sind Benachteiligungen „einer Person oder einer Gruppe von Personen“ gemeint, die „zu einer Ausgrenzung, Herabwürdigung, Aberkennung oder Verweigerung von Möglichkeiten der Lebensgestaltung, Rechten oder Privilegien“7 führen. Via negativa formuliert meint Diskriminierung insofern „jegliche Verletzung legitimer Ansprüche auf Gleichbehandlung“8. Diskriminierungsverbot und Gleichheitsgebot bilden insofern einen engen komplementären Zusammenhang9. Mit den Ausdrücken

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Zur Wortbedeutung vgl. Zapf, Diskriminierungsnormen, 19. Schleter, Materialien, 126. Vgl. ferner Mullino Moore, Diskriminierung, Sp. 871 f. Vgl. K-mper, Diskriminieren, 666. Scherr, Diskriminierungsforschung, 46. Rothermund / Mayer, Altersdiskriminierung, 13. Vgl. ferner Scherr, Funktion, 47 f. Ebd., 12. Kreger, Diskurse, 76; Fritzsche, Begründung, 4. Vgl. ebd. Zum Verhältnis der Begriffe „Diskriminierung“ und „Integration“ vgl. Gomolla / Radtke, Diskriminierung, 11.

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„Antidiskriminierung“, „Integration“ oder „Empowerment“10 werden die Gegenmaßnahmen im Sinne einer Eindämmung von Diskriminierung beschrieben11. Auch wenn das Thema Diskriminierung in den Untersuchungen über Rassismus, Ethnisierung, Sexismus, Benachteiligung basierend auf körperlicher wie geistiger Verfassung und religiösen Verhaltens durchaus präsent ist, so ist eine eigenständige Diskriminierungsforschung eine vergleichsweise junge Disziplin und befindet sich noch am Anfang der Entwicklung12. So konstatiert der Sozialpsychologe Andreas Zick, dass die Erforschung von Diskriminierung in der angelsächsischen und amerikanischen Konfliktforschung bereits eine wichtige Rolle spiele, man jedoch in Europa noch nicht von einem etablierten Forschungsfeld sprechen könne13. Trotz der Einrichtung von Antidiskriminierungsstellen auf Bundes-, Länder- und Vereinsebene14 existiert in Deutschland weder ein Institut noch ein wissenschaftliches Publikationsorgan, dass sich explizit dieser wissenschaftlichen Kategorie widmet. Impulse für eine intensivere Erforschung des Themas gaben die Antidiskriminierungsgesetze der Europäischen Union im Jahr 200015 sowie das 2006 verabschiedete bundesdeutsche Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz16. Davor waren Diskriminierungsverbote eher im Rahmen der Grundrechte verhandelt worden. Durch das Gleichbehandlungsgesetz wurde in Deutschland die Grundlage für einen umfassenderen Schutz vor Diskriminierung geschaffen17. Seitdem lassen sich in der Forschung überblicksweise zwei Tendenzen beobachten, denen ein leicht verschiedenes Verständnis von „Diskriminierung“ zugrunde liegt: Eine Tendenz betrifft die Begründung, Präzisierung und Ausdifferenzierung innerhalb des Rechtsdiskurses. Diskriminierung wird hier in einem engeren Sinn als rechtlich unzulässige Ungleichbehandlung verstanden. Es wurde beispielsweise darüber verhandelt, welche diskrimi10 Unter „Empowerment“ in diesem Kontext wird der „Prozess individueller und kollektiver Selbstbemächtigung von marginalisierten Menschen“ verstanden. Vgl. hierzu Kechaja, Empowerment, 77. 11 Vgl. Fritzsche, Begründung, 4. 12 Vgl. Hormel / Scherr, Diskriminierung, 11. Vgl. ferner Bauer, Diskriminierung, 7. 13 Vgl. Zick, Diskriminierungsforschung, 73. 14 Vgl. https://www.antidiskriminierungsstelle.de/; https://www.staatskanzlei-thueringen.de/ar beitsfelder/lads; https://www.antidiskriminierung.org und https://adis-ev.de. 15 Vgl. Europäische Union: Richtlinie 2000/43/EG DES RATES vom 29.6. 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft. Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaft, L 180/22, DE, 19.7. 2000 und Europäische Union (EU) (2000b): Richtlinie 2000/78/EG DES RATES vom 27.11. 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens fu¨r die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf. Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaft, L 303/16, DE, 2.12. 2000. 16 Bundesministerium der Justiz: Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (2006). Vgl. http://www. gesetze-im-internet.de/agg/BJNR189710006.html. 17 Vgl. Riesenhuber, Gleichbehandlungsgesetz, 5.

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nierenden Merkmale aufzuführen sind, welche Bedeutung sie haben und in welchem Verhältnis sie zueinanderstehen18. So benennt das Gleichbehandlungsgesetz die Merkmale „Rasse“ bzw. „ethnische Herkunft“, „Geschlecht“, „Religion“ bzw. „Weltanschauung“, „Behinderung“, „Alter“ und „sexuelle Identität“ (§ 1 AGG). Dabei ergeben sich Abgrenzungsfragen, beispielsweise wo die Trennungslinie zwischen „Geschlecht“ und „sexuelle Identität“19 oder zwischen „Behinderung“ und „Krankheit“20 zu ziehen ist. Ferner hat die Rechtspraxis gezeigt, dass bei Berufung auf ein einziges Merkmal Diskriminierungsklagen mangels rechtsgenügender Nachweise häufig scheiterten, weshalb Debatten um Diskriminierung aus mehreren Gründen intensiv geführt wurden. In diesem Forschungsfeld haben sich die Begriffe „Mehrfachdiskriminierung“ und „Intersektionalität“ etabliert21. Während Ersteres eher die Addition mehrerer Diskriminierungsgründe betrifft, bezeichnet Zweiteres die Entstehung eines neuen Diskriminierungsgrundes durch die Verwobenheit verschiedener Differenzkategorien22. Schließlich wird im rechtlichen Kontext diskutiert, in welchen Fällen eine unmittelbare oder eine mittelbare Diskriminierung vorliegt. Nach dem Gleichbehandlungsgesetz liegt eine unmittelbare Diskriminierung vor, wenn eine Person „eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation“ (§ 3 Abs. 1 AGG). Dem zugrunde liegt ein Vergleichspersonen-Konzept, bei dem im Rechtsfall der Vergleich zu anderen gezogen wird23. Eine mittelbare Diskriminierung liegt dann vor, „wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen […] in besonderer Weise benachteiligen können“ (§ 3 Abs. 2 AGG). Wenn beispielsweise Einsparmaßnahmen einer Firma zwar aus aktuellen wirtschaftlichen Gründen erfolgen, jedoch die Lohneinbußen lediglich ausländische Beschäftigte treffen24. Neben diesen rechtswissenschaftlichen Debatten ist eine zweite Tendenz in der Diskriminierungsforschung zu beobachten. Sie betrifft die zunehmende Etablierung des Themas in weiteren Teildisziplinen sowie in interdisziplinären Forschungsdebatten. Während der Diskurs in der Jurisprudenz mit einem Diskriminierungsbegriff im engeren Sinn operiert, weil konkrete Rechtsfälle zu beurteilen sind, weitet sich das Verständnis in anderen Disziplinen, da beispielsweise Fragen über das Zustandekommen, Motive und die sozialen Verhältnisse wie Strukturen in der Gesellschaft berücksichtigt werden. Einige exemplarische Schwerpunkte der Teildisziplinen sollen hier kurz ohne Anspruch auf Vollständigkeit erwähnt werden. 18 Vgl. P-rli, Diskriminierungsforschung, 106 f. 19 Vgl. Wiemann, Orientierung, 237; Schiek, Gleichbehandlungsgesetz, 88. 20 Vgl. Hey / Forst, Gleichbehandlungsgesetz, III. Vgl. ferner die Diskussion um den Fall einer Kündigung aufgrund einer HIV-Infektion bei Wersig, Fälle, 61–64. 21 Zum Stand der europäischen Debatten vgl. Lutz / Herrera Vivar / Supik, Fokus, 13–16. 22 Vgl. Philipp, Auswirkungen, 10–24. 23 Vgl. Boemke / Danko, Arbeitsrecht, 21. 24 Vgl. Wersig, Fälle, 24.

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In der Sozialpsychologie ist die Diskriminierungsforschung ein Sonderbereich der allgemeinen Vorurteilsforschung25. Dort wird u. a. der Fokus auf die Entstehungsfaktoren gelegt. Dabei kann man von einem Dreiklang im Aufkommen von Diskriminierung sprechen: Die affektive Dimension, bei der die Bewertungen einer Situation aufgrund eigener Betroffenheit eine Rolle spielt, die kognitive Dimension, hervorgerufen durch stereotypes Wissen, und die konative Dimension, in der es um verhaltensrelevante Komponenten in der jeweiligen Situation geht26. In der Soziologie wird davon ausgegangen, dass Diskriminierung nicht allein auf fehlgeleiteten Einstellungen von Individuen oder Gruppen basiert, sondern dahinter reale soziale Konflikte stehen. Damit verändert sich die Fragestellung: Diskriminierung wird demnach nicht nur als Folge individueller Vorurteile, sondern vielmehr als Ausdruck gesellschaftlicher Missverhältnisse angesehen27. Denn Ressentiments entfalten erst dann eine größere Kraft, wenn ihnen eine soziale Anschlussfähigkeit zugrunde liegt. Da Sprache ein zentrales Medium von Diskriminierung ist, betrachtet man das Phänomen auch aus der Perspektive der Linguistik. Dabei kann Sprache als Mittel, Objekt oder Instrument zur Bekämpfung von Diskriminierung fungieren28. Erforscht werden hier nicht nur sprachliche Ausdrucksformen, sondern auch standardisierte Argumentationsmuster29. Soziale Benachteiligung spielt auch in den Erziehungswissenschaften eine hervorgehobene Rolle, insbesondere vor dem Hintergrund von Migrationsproblemen an Schulen. Themenfelder sind hier die Analyse von Diskriminierungsroutinen und -mechanismen in Bildungsinstitutionen, die Ursachenforschung hinsichtlich der Verhinderung von Lern- und Bildungsprozessen oder die didaktische Erarbeitung des Themas „Diskriminierung“ als Lern-Gegenstand im Unterricht30. In jüngster Zeit lässt sich zunehmend auch eine Thematisierung in der Erforschung künstlicher Intelligenz beobachten, bei der Fragen zur Diskriminierung durch Algorithmen in der zunehmend digitalen Gesellschaft virulent werden31. Den Gang durch die wissenschaftlichen Disziplinen könnte man problemlos fortsetzen. Stattdessen sollen jedoch vor diesem Hintergrund die Verbindungslinien zum Forschungsprojekt der „Diskriminierung von Christen“ hervorgehoben werden, um die eigene Fragestellung in den Kontext der Diskriminierungsforschung einzubinden und die Besonderheiten hervorzuheben. 25 26 27 28 29 30 31

Zur Entwicklung der Vorurteilsforschung seit 1922 vgl. Thiele, Medien, 99–154. Vgl. Beelmann / Jonas, Diskriminierung, 24. Vgl. Scherr, Diskriminierung, 12. Vgl. Reisigl, Diskriminierungsforschung, 83 f. Vgl. die tabellarischen Übersichten ebd., 90–95. Vgl. Heinemann / Mecheril, Diskriminierungsforschung, 117, 129. Vgl. Heesen / Reinhardt / Schelenz, Diskriminierung, 129–147.

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Unser Forschungsprojekt geht erstens nicht allein von einem rechtlich enggeführten Diskriminierungsbegriff aus, sondern versteht Diskriminierung als „ein komplexes soziales Phänomen, das auch auf historisch gewordene soziale Verhältnisse, auf institutionell verfestigte Erwartungen und Routinen, organisatorische Strukturen und Praktiken sowie auf Diskurse und Ideologien verweist“32. Es geht weniger um die Frage rechtlicher Rehabilitation von Benachteiligten, sondern vielmehr um das Verstehen, wie Diskriminierung ausgeübt und welche Erfahrungen mit Diskriminierung in den spezifisch historischen Kontexten gemacht wurden. Zweitens liegt zwar das Hauptaugenmerk auf der historischen Betrachtung der Vergangenheit, aber durch die methodische Befragung von noch lebenden Zeitzeugen besitzt das Projekt auch einen Bezug zur aktuellen Diskriminierungsforschung. Die Betroffenen müssen heutzutage noch immer mit den Langzeitfolgen leben. Sie wurden beispielsweise hervorgerufen durch das Vorenthalten von Rechten, durch Einschränkungen der Berufsfreiheit, der Verweigerung von angemessener Mitwirkung an der Willensbildung im öffentlichen Bereich oder der Begrenzung der persönlichen Religions- und Gewissensfreiheit. Drittens liegt die Besonderheit des Forschungsprojekts in der engen Verknüpfung mit der Diktatur- und Widerstandsforschung33. Diskriminierung wird insofern aktivisch im Sinne ihrer Ausübung, als auch passivisch im Sinne des Erleidens von ungerechter Ungleichbehandlung zumeist aufgrund widerständigen Verhaltens verstanden. Damit ist auch das Thema der Herrschaftsdurchsetzung berührt, mit welchen Techniken Repression auf bestimmte Gruppen ausgeübt wurde34. Und viertens wird ein Aspekt innerhalb der Diskriminierungsforschung untersucht, der so m. E. bisher nicht thematisiert wurde. Gemeint ist der Tatbestand, dass die Diskriminierungsmaßnahmen in der DDR häufig aufgrund eines Widerstands- und Oppositionsverhaltens hervorgerufen wurden35. Der Diskriminierung in der DDR gingen in vielen Fällen Ausdrucksformen von Kritik voraus, worauf mit Repression reagiert wurde. Dabei wird auch das Themenfeld der Antidiskriminierung berührt und historisiert, da beispielsweise Netzwerkbildungen bei den Bausoldaten und Totalverweigerern in gegenwärtiger Betrachtung als Empowerment gedeutet werden können. 32 Scherr / El-Mafaalani / Yeksel, Diskriminierung, VI. 33 Vgl. hierzu den Forschungsverbund https://verbund-dut.de. Vgl. ferner Ganzenmeller, SEDDiktatur, 54–66. 34 Exemplarisch sei an dieser Stelle auf das Modell von Eckhard Jesse verwiesen. Er unterscheidet zum Vergleich von Diktaturen vier Dimensionen: den Grad des politischen Pluralismus, den Grad der ideologischen Ausrichtung, den Grad der gelenkten ideologischen Mobilisation und den Grad der politischen Repression. Vgl. Jesse, Diktaturen, 392–395. 35 Zur Begrifflichkeit und Typologie der politischen Gegnerschaft in der DDR vgl. Kowalczuk, Freiheit, 97; Knabe, DDR-Opposition, 197; Neubert, Geschichte, 29–33; ders., Typen; Pollack, Protest, 30; Eckert, Widerstand.

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2. Der Diskriminierungsbegriff in der kirchenhistorischen DDR-Forschung Über dreißig Jahre nach dem Mauerfall befindet sich die kirchenhistorische DDR-Forschung in mehrfacher Hinsicht in einem Prozess der Transformation. Ein erster Aspekt bezieht sich auf die Forscherinnen und Forscher, die sich aktuell der wissenschaftlichen Aufarbeitung widmen. Während in den letzten Jahrzehnten die überwiegende Mehrzahl an Untersuchungen von Betroffenen vorgenommen wurde36, besteht gegenwärtig die Herausforderung, einer neuen, sogenannten „4. Generation Ostdeutschland“, die nach Ende der DDR geboren wurde37, Gelegenheit zur Auseinandersetzung mit der DDR-Historie zu geben. Der zweite Aspekt betrifft den Zugriff auf die Quellen. Der Aufbau neuer digitaler Findhilfsmittel erleichtert zunehmend die Einsicht in die Quellenbestände der einzelnen Archive und Behörden38. Der dritte Aspekt bezieht sich auf die Darstellungsformen. Gesamtdarstellungen haben nach dem Mauerfall die Grundlage gelegt39. Seit etwas mehr als zehn Jahren bereichern zudem zeitlich und regional konzentrierte Detailstudien die Forschungslandschaft. Der Diskriminierungsbegriff spielt bislang in der kirchenhistorischen DDR-Forschung eine eher untergeordnete Rolle, wenngleich das Phänomen in Einzelstudien durchaus präsent ist. Eine Sensibilisierung für das Diskriminierungsthema erfolgte innerkirchlich durch die Debatten um das Bußwort der Evangelischen Kirche Mitteldeutschlands40. In selbstkritischer Weise richtete die Stellungnahme das Augenmerk auf Betroffene, die politisch bedingte Repression erlitten und zu wenig durch kirchliche Mitarbeitende oder Institutionen unterstützt wurden. Im Folgenden sollen drei Publikationen aus der aktuellen zeitgeschichtlichen Erforschung der DDR herausgegriffen werden, die auf das Thema „Diskriminierung von Christen“ genauer eingehen. Aus dem Jahr 2014 stammt die Untersuchung von Tina Kwiatkowski-Celofiga mit dem Titel „Verfolgte Schüler. Ursachen und Folgen von Diskrimi-

36 Vgl. die Forschungsberichte insbesondere von Lepp, Forschung; dies., Überlegungen; dies., Kirchen; dies., Christen. Vgl. ferner von Heydemann, Innenpolitik, 47–110; Silomon, Situation; Henke, DDR-Forschung; Eckert, SED-Diktatur, 761–788; Stengel, Kirchen-DDRGeschichte; Albrecht-Birkner, Freiheit, 15–25. 37 Zur dritten Generation der sogenannten „Wendekinder“, vgl. Matth-us / Kubiak, Osten, 1. 38 Vgl. die revisionsbedürftige Übersicht von M-hlert, Vademekum; vgl. ferner M-hlert, Chance. 39 Vgl. Besier, Anpassung; ders., Vision; ders., Höhenflug; Pollack, Kirche; Mau, Protestantismus; Maser, Regime; Albrecht-Birkner, Freiheit; Zillmann, Überblick; Stegmann, Kirchen. 40 Vgl. Landeskirchenrat, Erklärung, 11 f. Vgl. ferner Stengel, Blick.

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nierung im Schulwesen der DDR“41. Sie beginnt ihre Studie mit der Aussage Margot Honeckers vor dem Ausschuss der Volkskammer zur Untersuchung von Amtsmissbrauch und Korruption im Dezember 1989. Dort behauptete die ehemalige Ministerin für Volksbildung: „Ich habe nie, nie mich intolerant gegenüber den Christen verhalten, und ich habe niemanden dazu veranlasst, sich in einer solchen Weise zu verhalten“42. Die Wirklichkeit jedoch war eine andere, so die Autorin, und konstatiert, dass nach wie vor ein Mangel an Untersuchungen bestehe, die nicht nur die Benachteiligung von Schülerinnen und Schülern analysieren, sondern ebenso deren langfristige Folgen43. Dabei lenkt sie den Fokus insbesondere auf die Personen, die vor der Justiz im Rahmen eines Rehabilitierungsverfahrens nachweisen konnten, dass sie eine gesundheitliche Schädigung, einen Eingriff in die Vermögenswerte oder eine berufliche Benachteiligung erlitten haben44. In Sachsen waren dies bis zum Jahr 2003 über 3500 Anträge45. Darüber hinaus nimmt sie aber auch diejenigen in den Blick, die sich beispielsweise infolge von Diskriminierungserfahrungen gar nicht mehr um den Besuch einer weiterführenden Bildungseinrichtung bemühten. Sie konzentrierte sich hierbei auf die ehemaligen DDR-Bezirke Dresden, Karl-Marx-Stadt sowie Leipzig und führte hierzu 21 Interviews mit Zeitzeugen und Zeitzeuginnen46. In ihrer quantitativen Auswertung der Rehabilitationsverfahren kommt sie zum Ergebnis, dass rund 27 % der rehabilitierten Personen zwischen 1945 und 1959 geboren wurden und in den 1960er Jahren insbesondere infolge der Wehrerziehung diskriminiert wurden47. In etwa 62 % aller Fälle, die von der Autorin genauer untersucht wurden, erfolgte eine Diskriminierung aus Glaubensgründen48. Als repressive Maßnahmen nennt sie ungerechte Beurteilungen, verhängte Schulstrafen, verweigerte Auszeichnungen und die Nichtzulassung zu weiterführenden Bildungseinrichtungen49. Der Kultursoziologe Thomas Prennig legte 2019 eine Studie mit dem Titel „Pfarrerskinder in der DDR. Zwischen Privilegierung und Diskriminierung“ vor50. Er führte hierzu 32 Leitfadeninterviews mit Pfarrerskindern durch, die ihre Mittlere Reife zwischen 1975 und 1985 erwarben und denen ein Abitur an staatlichen Schulen aus politischen Gründen verwehrt wurde51. Im Rahmen 41 Vgl. Kwiatkowski-Celofiga, Schüler. 42 Ebd., 9. Vgl. hierzu Protokoll zur Befragung Margot Honeckers durch den Untersuchungsausschuss der Volkskammer zur Untersuchung von Amtsmissbrauch und Korruption vom 20.12. 1989 (BArch, DA 1/16349, Bl. 90). 43 Vgl. Kwiatkowski-Celofiga, Schüler, 10. 44 Vgl. ebd., 11. 45 Vgl. ebd., 23. 46 Vgl. ebd., 17, 26. 47 Vgl. ebd., 69. 48 Vgl. ebd., 158. 49 Vgl. ebd., 239–257. 50 Vgl. Prennig, Pfarrerskinder. 51 Vgl. ebd., 12, 20, 93.

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der Auswertung stellte Prennig fest, dass es bei nahezu allen Interviewten fünf Konfliktpunkte gab, in denen ihr ablehnendes oder zustimmendes Verhalten die Weichenstellung darstellte, Diskriminierung zu erleiden: Die Nichtteilnahme an den staatlichen Jugendorganisationen (Jungpioniere, Thälmannpioniere und FDJ), die Weigerung in der Schule das „Weberlied“ von Heinrich Heine aufgrund des darin vorkommenden Gottesfluches zu zitieren52, der Widerstand gegenüber dem Wehrunterricht, die Ablehnung der Jugendweihe und der Umgang mit der allgemeinen Wehrpflicht53. Martin Naumann betrachtet in seiner jüngst erschienen Dissertationsschrift die Kirchenpolitik des Görlitzer Bischofs Hans-Joachim Fränkel54. Fränkel leitete das Görlitzer Kirchengebiet von 1964 bis 1979 und galt als einer der schärfsten Kritiker des DDR-Regimes. Höhepunkt war sein Vortrag in der Dresdner Annenkirche im November 1973, worin er den Christen trotz aller Repressionsmaßnahmen Mut zusprach55. Indem er dort nach dem Ertrag des Kirchenkampfes in den 1930er Jahren fragte, vollzog er in provokanter Weise eine Parallelisierung zwischen Nationalsozialismus und der DDR. Dabei bezeichnete er Christus als den „Terrorbrecher“, dessen Macht sich auch gegen den DDR-Staat richte56. Insbesondere untersucht Naumann die langjährige Diskriminierung der Person Fränkels durch die Staatssicherheit, die ihn seit 1958 als „unliebsame Person“ bzw. als „persona non grata“ eingestuft hatte57. Die Repressionen äußerten sich in der gezielten Isolation Fränkels in seiner eigenen Landeskirche durch Gespräche mit anderen Würdenträgern, dem Entzug von Privilegien wie Reisen ins Ausland oder dem Besuch ausländischer Gäste auf dem Görlitzer Kirchengebiet und der Benachteiligung bei der Vergabe von Wohnraum an die Geistlichen innerhalb der Stadt Görlitz58. Ab 1974 waren Fränkels Äußerungen jedoch von einer auffälligen Zurückhaltung geprägt. Dies ist in der Forschung als die sogenannte „Fränkel’sche Wende“59 bezeichnet worden. Martin Naumann analysiert die verschiedenen Deutungen der Verhaltensänderung Fränkels. Der Verfasser kommt zum Ergebnis, dass keine monokausale Erklärung gegeben werden kann, sondern es sich vielmehr um eine Gemengelage verschiedener Gründe 52 Die zweite Strophe des Weberliedes lautet in der Erstfassung: „Ein Fluch dem Gotte, dem blinden, dem tauben, j zu dem wir gebeten mit kindlichem Glauben. j Wir haben vergebens gehofft und geharrt“. In der Überarbeitung lautet die Strophe: „Ein Fluch dem Gotte j zu dem wir gebeten j In Winterskälte und Hungersnöten; jWir haben vergebens gehofft und geharrt, j Er hat uns geäfft und gefoppt und genarrt – j Wir weben, wir weben!“ (Heine, Gesamtausgabe, 820). Vgl. ferner Teting, Weber. 53 Vgl. ebd., 33–35. 54 Vgl. Naumann, Terrorbrecher. 55 Vgl. ebd., 13. 56 Vgl. ebd., 287. 57 Vgl. zum Ausdruck „unliebsame Person“ ebd., 105, 152, 360; zum Begriff „persona non grata“ vgl. ebd., 16, 147 f., 153, 169, 313, 360. 58 Vgl. ebd., 245. 59 Vgl. ebd., 319.

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handelte. Dazu zählen der staatliche Druck von außen, aber auch der innerkirchliche Druck durch leitende Geistliche sowie der Abschluss der Vorverhandlungen für die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa im Jahr 1973, die sich im Vertrag von Helsinki niederschlugen, in dem sich die Staaten des Warschauer Paktes zur Glaubens- und Gewissensfreiheit bekannten60. Dabei geht Naumann davon aus, dass Fränkel zwar seine inhaltlichen Positionen beibehielt, jedoch bewusst seine Strategie veränderte, indem er bei öffentlichen Auftritten einen kooperativeren Ton anschlug61. Betrachtet man die drei exemplarisch ausgewählten Studien, so ergibt sich, dass in der Erforschung der DDR das Diskriminierungsthema auf verschiedenen Ebenen bereits eine Rolle spielt, wenngleich nur wenige das Thema explizit angehen. Neben Studien über betroffene Schülerinnen und Schüler sowie speziell über Pfarrerinnen und Pfarrer zeigen auch Untersuchungen, die im engeren Sinn das Verhältnis von Kirche und Staat ins Zentrum rücken und die kirchenleitende Ebene betreffen, dass die „Diskriminierung von Christen“ zu den relevanten und lohnenswerten Forschungsthemen zählt, die noch längst nicht hinreichend genug untersucht wurden.

3. Eigene Ansätze zur Beschreibung der Diskriminierung von Christen in der DDR Das Jenaer Forschungsprojekt analysiert die Diskriminierung von Christen in den 1960er Jahren anhand der drei exemplarischen Fälle Bausoldaten, Totalverweigerer und Jugendliche im Widerstand gegen die Wehrerziehung. Die Zusammenstellung der drei Forschungsschwerpunkte hat mehrere Gründe. Zum einen handelt es sich bei den drei genannten Fällen um Phänomene, die der DDR eigentümlich waren und in anderen West- und Oststaaten in dieser Weise nicht vorkamen62. Zum anderen ist die Zusammenstellung dem Interesse an den 1960er Jahren der DDR geschuldet. In diesem Jahrzehnt intensivierte der DDR-Staat die Militarisierung der Gesellschaft, festzumachen am Mauerbau 1961, der Einführung der Wehrpflicht 1962, der Einrichtung eines 60 Vgl. ebd., 363 f. 61 Ebd. 62 Zu den Parallelen des Bausoldatendienstes in der DDR im Vergleich zu den anderen Ostˇ SSR und Bulgarien blockländern vgl. Eisenfeld / Schicketanz, Bausoldaten, 13 f., 72. In der C gab es keine gesetzliche Grundlage für eine Alternative zur Wehrpflicht, aber interne Verwaltungsvorschriften, die für bestimmte religiöse Gruppen einen waffenlosen Dienst in der Armee bzw. einen mehrjährigen Arbeitsdienst zuließen. In Ungarn bestand eine gesetzliche Erlaubnis eines waffenlosen Dienstes in der Armee für Mitglieder von Religionsgemeinschaften. In Polen gab es seit 1967 die Möglichkeit, auf der Grundlage eines Gesetzes vom 21.11. 1967 im Gesundheitswesen, bei der Sozialfürsorge, in Pflegeheimen und im Umweltschutz sowie in öffentlichen Einrichtungen einen ersatzweisen Dienst zu absolvieren.

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waffenlosen Wehrdienstes 1964 und der Einführung der obligatorischen Wehrlager an den Schulen 1968. Damit hängt drittens zusammen, dass die kommenden Jahre – aus Altersgründen – die letzte Gelegenheit bieten, Zeitzeugen zu interviewen, die in den 1960er Jahren aufgrund ihrer Weigerung gegenüber dem Wehrdienst diskriminiert wurden. Schließlich wird viertens mit der Wahl der drei Fallbeispiele intendiert, ein möglichst breites Spektrum von Diskriminierungsformen abzudecken, von harten Haftstrafen über Einschränkungen der Berufsfreiheit bis hin zu subtilen Diskriminierungen wie der Einflussnahme der Lehrerinnen und Lehrer auf Jugendliche im Unterricht. Die aktuelle Diskriminierungsforschung hat mehrere Analyse-Instrumente zur Unterscheidung einzelner Diskriminierungsformen entwickelt63. Im Laufe der Recherche in den Archiven und der Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen haben sich bestimmte Unterscheidungskriterien in der Praxis bewährt, um die konkreten Diskriminierungen einzuordnen und miteinander vergleichen zu können. Im Folgenden soll dieses Modell vorgestellt und anhand von Beispielen aus unseren Forschungsbereichen veranschaulicht werden. Dabei handelt es sich um eine idealtypische Annäherung, die versucht, auf konstruierende Weise die Phänomene von Diskriminierung zu ordnen und zu erfassen. Sie dient der Heuristik, um die Wirklichkeit analytisch trennscharf erfassen zu können. Auf der Wirklichkeitsebene kommt es freilich viel stärker zu Überschneidungen und komplexeren Zusammenhängen. Auch hier gilt der Satz, dass Grenzen fließend sind. Die erste Unterscheidung betrifft das Kriterium, dass man anlegt, um von einer Diskriminierung zu sprechen. Die Eigentümlichkeit des Diskriminierungsbegriffs besteht darin, dass er sowohl analytische als auch normative Elemente mitführt64. Wer Diskriminierung beschreiben will, der muss auch über die Kriterien Rechenschaft geben, die ein solches Urteil normativ begründen. Dabei ist es sinnvoll, zwischen Diskriminierungen zu unterscheiden, die auch innerhalb des Rechts- und Moralsystems der DDR als eine solche bewertet werden können, und solchen, die aus der Perspektive internationaler Rechtssetzung sowie Moralkultur als solche bezeichnet werden können. Als beispielsweise der Bausoldatendienst 1964 im Sinne einer legalen Möglichkeit per Gesetz eingeführt wurde65, dann stellt es auch aus der internen Perspektive des DDR-Systems eine bewusst einkalkulierte Form der Diskriminierung dar, wenn Personen, die diese – wie gesagt – legale Option wählten, Einschränkungen in ihrem weiteren Berufsweg erfahren mussten. Anders gestaltet sich dies dagegen bei der systematischen Verfolgung der Zeugen Jehovas. Nach Einführung der Wehrpflicht verwendete das DDR-Regime bewusst die Total63 Vgl. hierzu die Tabelle von Zick, Diskriminierungsforschung, 74. 64 Vgl. Schu¨ ssler, Diskriminierung, 166. 65 Vgl. hierzu das Gesetzesblatt der Deutschen Demokratischen Republik vom 16.9. 1964 „Anordnung des Nationalen Verteidigungsrates der Deutschen Demokratischen Republik über die Aufstellung von Baueinheiten im Bereich des Ministeriums für Nationale Verteidigung“, abgedruckt bei Eisenfeld / Schicketanz, Bausoldaten, 66 f.

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verweigerungen der Zeugen Jehovas, um koordinierte Verhaftungen vorzunehmen, wobei man Totalverweigerer anderer Kirchen und Sondergemeinschaften außer Acht ließ. Der interne Rechtsgrund für Verhaftungen war demnach gegeben, wurde aber bewusst zur Verfolgung einer Minderheit eingesetzt66. Bewertet man diese Verfolgungswellen aus universalrechtlicher Perspektive, so ist zu fragen, ob es sich hierbei um Verstöße gegen die allgemeinen Menschenrechtskonventionen handelt. Damit unterliegt man gewiss immer der Gefahr, aus einer anachronistischen Perspektive zu urteilen. Jedoch ist es m. E. in der Diskriminierungsforschung unumgänglich, auch diese Perspektive einzunehmen, wenn man sie methodisch von anderen Betrachtungsweisen trennt. Die zweite Unterscheidung betrifft die individuelle Ebene: wie die Diskriminierung im Vergleich zur tatsächlich erfolgten Repression persönlich empfunden wurde. Bei den Interviews stellten wir fest, dass beides auseinanderklaffen kann. So kam der Bausoldat Gottfried Arlt in Militärhaft aufgrund seiner Verweigerung, am Gelöbnis teilzunehmen. Im Rückblick bewertete er diese Zeit aber als positiv, da es ihn nach eigener Auskunft stärker gemacht habe. Gegenüber dem subjektiven Empfinden kann aber aus dem Vergleich, wie damals mit Gelöbnisverweigerern umgegangen wurde, erhoben werden, dass es sich hierbei um ein relativ hohes Strafmaß gehandelt hat. Aus objektiver Perspektive kann man daher durchaus von einer ungerechten Ungleichbehandlung sprechen. Eng damit verknüpft ist die dritte Unterscheidung, die sich auf die Intensität erfahrener Diskriminierung bezieht. Diese Unterscheidung ist als eine Art Gradmesser zu verstehen, bei denen lediglich die Extreme bezeichnet werden. Allerdings ist hier die Bewertung schwierig. Wer kann ermessen, welche Diskriminierungsformen eher als leicht oder als schwer einzustufen sind? So konnten subtile Formen von Mobbing bei Jugendlichen in der Schule so schwere Auswirkungen haben, dass es neben anderen Gründen dadurch zum Suizid kam. Andererseits wog für viele Totalverweigerer im Rückblick auf ihre Haft viel schwerer, dass sie von der Militärstrafkammer aufgrund des beschleunigten Verfahrens keinen Nachweis besaßen, aus welchem Grund sie verurteilt worden waren und als vorbestraft galten. Einsicht in ihr Urteil erhielten die Angeklagten lediglich eine halbe Stunde lang in ihrer Zelle67. Dies war später für viele ein großes Hindernis, da ihnen hierdurch der Nachweis des Anlasses ihrer Gefängnisstrafe bei Amtsvorgängen oder in ihrem Betrieb verunmöglicht wurde. Bei den Interviews ergab sich außerdem, dass die Diskriminierungen immer auch Auswirkungen auf das Umfeld der Betroffenen hatten. Daher ist 66 Vgl. hierzu beispielsweise der zentrale operative Vorgang „Sumpf“ der HA XX/4, dargestellt bei Dirksen, Keine Gnade, 680–713. 67 „Wir haben das Urteil nicht in die Hände bekommen.“ (Interview im Rahmen des Projektes mit Joachim Juckel am 20.11. 2020).

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zwischen direkten und indirekten Diskriminierungsformen zu unterscheiden. So beschrieben die Bausoldaten in mehreren Fällen ihre Benachteiligung als das „Schikanieren“ durch ihre Vorgesetzten. Sie betraften beispielsweise durch die Verweigerung von Urlaub oder das Verhängen von Ausgangsverboten. Neben der Bausoldatenzeit selbst hatte dieses Schikanieren aber auch Auswirkungen auf die Ehefrauen, die zu Hause eine Schwangerschaft allein durchleben mussten, bei der Betreuung der Kinder auf sich gestellt waren oder allgemein unter der Entfernung ihrer Gatten ungemein litten. Eine weitere Unterscheidung betrifft die Motive, die zum Auslöser für diskriminierendes Verhalten wurden. Insbesondere ist hier zu differenzieren zwischen individuellen und institutionellen Motiven. Das Ausmaß an Benachteiligung hing häufig auch von der Willkür des jeweiligen Akteurs ab. So urteilt Markus Meckel beispielsweise: „Eine Lehrerin mußte einem Kind, das nicht bei den Pionieren oder in der FDJ war, keine schlechteren Noten geben, auch wenn es ihrem Image schadete […]. So kam es nach meiner Kenntnis kein einziges Mal vor, daß ein Grenzsoldat verurteilt wurde, weil er einen Flüchtling nicht getroffen hatte. […] Jeder entschied durch sein Verhalten mit, ob dieser Staat menschlicher oder unmenschlicher, sympathischer oder brutaler war.“68

Frei nach Thomas Horstman könnte man hier auch von einer gewissen „Logik der Willkür“ sprechen69. Anders dagegen sieht es aus, wenn überindividuelle Gründe zu Ungleichbehandlungen führten. Sie beziehen sich eher auf organisatorische, institutionelle oder strukturelle Ebenen. So können als ein Grund für die Verweigerung eines zivilen Wehrersatzdienstes militär-ökonomische Erwägungen eine Rolle gespielt haben. Für die Optimierung der Landesverteidigung benötigte die DDR-Regierung insbesondere in den 1960er Jahren preiswerte Arbeitskräfte zum Neu- und Ausbau von Militärflughäfen oder anderen militärischen Vorhaben70.

4. Resümee Die Ausführungen sollten zeigen, dass der Diskriminierungsbegriff nicht nur für die Erforschung der Gegenwart, sondern auch für das Verstehen der kirchlichen Zeitgeschichte neue Perspektiven eröffnet. Aufgrund der zunehmenden gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit Diskriminierung gewinnt eine historische Erkundung dieses Phänomens umso mehr an Relevanz. Für die DDR-Forschung könnten die Linien weitergezogen werden, wenn 68 Interview im Rahmen des Projektes mit Markus Meckel am 11.11. 2021. 69 Vgl. Horstmann, Logik. 70 Vgl. Diedrich / Ehlert / Wenzke, Staatsfeinde, 386.

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man beispielsweise nach den Diskriminierungen von Christen insbesondere in den Freikirchen und Sondergemeinschaften fragen würde. Zu Erforschung der Eigentümlichkeiten von Diskriminierung der christlichen Religionsgemeinschaften in ihrer Vielfalt wären weitere Forschungsprojekte vonnöten71. So hebt Klaus Fitschen hervor, dass die Freikirchen und Sondergemeinschaften in der DDR durch die etablierte evangelische Kirchengeschichtsforschung bislang „übersehen“ wurde72. Eine – wie er schreibt – „shared history“ mit Blick auf das Gesamtbild des Protestantismus in der DDR, fehle nach wie vor73. Eine Zusammenschau von Diskriminierungen, wie das Erschweren des Zugangs zu Rechten, die Einschränkung der Berufsfreiheit, die Verweigerung einer Mitwirkung an der Willensbildung im öffentlichen Bereich oder die Einengung der persönlichen Gewissensfreiheit, könnte hierzu einen wertvollen Beitrag leisten.

Quellen- und Literaturverzeichnis I. Unveröffentlichte Quellen Bundesarchiv (BArch) Bestand DDR: Volkskammer 1949–1990, DA 1/16349.

Quellen erstellt im Rahmen des Forschungsprojekts Interview mit Joachim Juckel am 20.11. 2020. Interview mit Markus Meckel am 11.11. 2021.

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IV. Diskriminierung christlicher Konfessionen und Sondergemeinschaften

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Der „Thüringer Weg“ im Kontext der Diskriminierung von Christen in der DDR in den 1960er Jahren „Die Deutsche Demokratische Republik, ein Staat, der in zwanzig Jahren harter Arbeit seine Lebensfähigkeit bewiesen hat […], der seine Bereitschaft, mit allen Völkern, mit allen Staaten in friedlicher Koexistenz zu leben, bezeugt hat, wird von der Basis des Antisozialismus aus nicht anerkannt. Es wird ihm die Völkerrechtsfähigkeit abgesprochen. Seine Bürger sollen genötigt werden, wenn sie in ein westliches Land reisen wollen, sich mittels des unwürdigen Instituts des Travel Board zu Staatenlosen zu erklären. Ich nehme die Gelegenheit wahr, feierlich gegen diese Diskriminierung meiner Heimat, in der Millionen Christen ihres Glaubens leben können, zu protestieren. Nicht Vorhänge, auch nicht ein eiserner Vorhang, trennen die Menschen, sondern ein engstirniger Fanatismus, eine Kreuzzugs-Ideologie, die das Gebiet der DDR als Niemandsland zu betrachten sich anmaßt.“1

Diese Worte stammten nicht von einem führenden Mitglied der SED-Regierung, sondern vom Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen, Moritz Mitzenheim. Im Juli 1965 hielt er in Helsinki die Rede „Wider den Antikommunismus“, in welcher der Kirchenmann pointiert Position für die DDR bezog. Er protestierte gegen den Westen, genauer gegen bestimmte „Kräfte in der Bundesrepublik“, welche eine „sehr wenig christliche Propaganda gegen das sozialistische Deutschland“2 entfesselten. Auch kritisierte er die von den westlichen Alliierten in Berlin vollzogene Praxis, befristete Reisedokumente (Temporary Travel Documents) für Reisen von DDR-Bürgern in Staaten auszustellen, welche die DDR völkerrechtlich nicht anerkannten. Dieses Vorgehen verurteilte Mitzenheim als „Diskriminierung meiner Heimat, in der Millionen Christen ihres Glaubens leben können“3. Nicht Diskriminierung, sondern die Anerkennung zweier deutscher Staaten solle das Ziel sein. Diskriminierung erfuhren die DDR-Bürger und Millionen Christen folglich durch den Westen. Das Leben der Christen in der DDR hingegen vermittelte Mitzenheim in seiner Rede als problemlos, wodurch er seine staatsnahe Perspektive unterstrich. Dass auch das SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“ über Mitzenheims Rede auf der Weltfriedenskonferenz in Helsinki unter dem 1 Mitzenheim, Antikommunismus, 134 f. – Für wertvolle Zuarbeiten zu diesem Beitrag danke ich Maximilian Rosin und Klara Simon sehr herzlich. 2 Ebd., 134. 3 Ebd., 135. Zu der bis 1970 praktizierten Reisepraxis vgl. Gespräch des Staatssekretärs Bahr, Bundeskanzleramt, mit dem Staatssekretär beim Ministerrat der DDR, Kohl, 26.2. 1971. In: Schwarz, Akten 1971 I, 365–386, hier 370.

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Titel „Ich protestiere gegen Diskriminierung meiner Heimat“ am 13. Juli 1965 berichtete4, belegt eindrücklich, dass diese Rede in der DDR breit rezipiert wurde. Mit der Verurteilung der Reisebeschränkungen sowie der Bonner Politik als „Diskriminierung“ der DDR-Bürger griff Mitzenheim eine Bewertung auf, die vom SED-Regime unter Walter Ulbricht und dem „Neuen Deutschland“ geprägt worden war5. Die Staatsnähe, vielleicht auch Staatsloyalität, die der Bischof der Thüringer Landeskirche mit Sitz in Eisenach ventilierte, drückt das aus, was als „Thüringer Weg“ der Kirche bezeichnet wird – ein, wie es Oberkirchenrat Gerhard Lotz im Nachwort der Zusammenstellung von Mitzenheims Reden „Politische Diakonie“ formulierte, Bemühen „um ein gutes und sachgerechtes Verständnis zwischen Staat und Kirche“6. Doch was hatte es mit diesem sogenannten „Thüringer Weg“ auf sich? Wer waren seine Hauptakteure? Was war die Idee und woran entzündete sich Kritik? Und wie gestaltete sich das Miteinander von Staat und Kirche in Thüringen im Horizont des staatsnahen Kurses? Weil die Thematik besonders aufschlussreich vor der Folie des Themas „Diskriminierung von Christen in der DDR“ sein dürfte, soll hier der Fokus auf den Umgang der Landeskirche mit Repressionen und Diskriminierung von evangelischen Christen gelenkt werden. Da in den 1960er Jahren insbesondere die Militarisierung der Gesellschaft in den Vordergrund rückte, möchte ich diesem Zusammenhang etwas genauer nachgehen. Der Beitrag versteht sich als ein Versuch, in ein umstrittenes und noch längst nicht hinreichend erforschtes Themenfeld vorzudringen7. Daher werde ich zuerst auf die Problematik „Thüringer Weg“ eingehen (1), sodann den Umgang der Thüringer Landeskirche mit dem Thema „Diskriminierung von Christen“ thematisieren (2), um schließlich aus den Akten des Landeskirchenarchivs Eisenach Beispiele von kirchenleitendem Handeln oder Nichthandeln bei Fragen rund um die Militarisierung zu präsentieren (3), um dann noch einmal auf die Person Mitzenheim zurückzukommen (4).

4 Vgl. Neues Deutschland, 13.7. 1965, 2. 5 In seiner Rede vom 31.7. 1963 kritisierte der Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht die Ausreisepraxis mit den Worten: „Sie ist seit der Spaltung Deutschlands durch die Schaffung des westdeutschen Separatstaates völkerrechtswidrig geworden und wird als Instrument des kalten Krieges und der Diskriminierung gegen die Bürger der DDR mißbraucht.“ (Ulbricht, Rede, 4). In Folge dessen verwendete das „Neue Deutschland“ den Diskriminierungsbegriff häufig in diesem Zusammenhang. Vgl. z. B. Neues Deutschland, 6.2. 1964, 7; Neues Deutschland, 5.4. 1964, 2. 6 Lotz, Nachwort, 183. 7 Zurecht weist Albrecht-Birkner, Freiheit, 100 darauf hin, dass für die 1960er bis 1980er Jahre umfangreiche kirchenhistorische Studien zur Thüringer Landeskirche bisher fehlen. Für die Anfänge und die 1950er Jahre vgl. Seidel, Sturm; ders., Übergang; Koch-Hallas, Kirche; zur Entnazifizierung u. a. Seidel, Wiederaufbau, 350–375, 424–435; Seidel, EntnazifizierungsAkte; Weispfenning, Entnazifizierung.

Der „Thüringer Weg“ im Kontext der Diskriminierung von Christen

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1. Der „Thüringer Weg“ Der Begriff selbst fand bereits in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft zur Charakterisierung der radikalen deutsch-christlichen Kirchenpolitik der Thüringer Landeskirche Verwendung. Seit 1933 wurde die Thüringer Kirche von den völkisch-rassistisch und antisemitisch ausgerichteten Thüringer Deutschen Christen dominiert, die sich in Abgrenzung zur „Reichsbewegung Deutsche Christen“ zur reichsweit agierenden „Nationalkirchlichen Bewegung“, später „Nationalkirchlichen Einung“ formiert hatten und beispielsweise eine Mitwirkung an den Kirchenausschüssen (1935–1937) ablehnten8. Dieser radikale Kurs der deutsch-christlichen Landeskirche konnte von außen als „Thüringer Weg“ bezeichnet werden9, dem von innen die Lutherische Bekenntnisgemeinschaft in Thüringen ihren bekenntniskirchlichen „Weg“ entgegenzustellen suchte, allerdings ohne Erfolg10. Für die DDR-Zeit bekam der schillernde Begriff „Thüringer Weg“ eine neue Bedeutung. Jetzt stand er für die systemkonforme und staatsloyale Haltung der Hauptvertreter der Thüringer Landeskirche seit den späten 1950er Jahren. Zwei Handlungsrichtungen waren für diesen Sonderweg charakteristisch: Nach außen grenzte man sich durch staatsnahe Alleingänge von den übrigen Landeskirchen ab, während nach innen ein auf volkskirchliche Verwurzelung setzendes landesbischöfliches Kirchenregiment wirkte, welches im Horizont lutherisch-konservativen Obrigkeitshandelns die hergebrachten Strukturen zu erhalten trachtete11. In den 1980er Jahren ausgeprägt12, avancierte der Begriff „Thüringer Weg“ zu Beginn der 1990er Jahre im Rahmen der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit der Kirchen zu einem heftig umstrittenen Terminus, anhand dessen die vielschichtige Problematik und Deutung der Kooperation der Kirche mit dem SED-Staat konkret wurde13. In der kirchlichen Zeitgeschichtsforschung 8 Zu den Thüringer Deutschen Christen und deren deutsch-christlichen Sonderweg vgl. Bçhm, Deutsche Christen; Arnhold, Entjudungsinstitut I–II; Spehr / Oelke, Entjudungsinstitut. 9 Die sächsische Ephorenkonferenz, die sich hinter den sächsischen Landeskirchenausschuss stellte, kritisierte beispielsweise am 16.2. 1937 das radikale Agieren der Thüringer Deutschen Christen gegen den Reichskirchenausschuss mit den Worten: „im Gegensatz zum Thüringer Weg [wollen wir] den Weg der lutherischen Kirche nach Schrift und Bekenntnis mitgehen“ (Fischer, Kirchenkampf, 249). 10 Bruderrat, Weg. Vgl. Stegmann, Kirchenkampf; Helasepp-, Bekenntnisgemeinschaft. Ernst Koch spricht daher auch von „Thüringer Wegen“ vgl. Koch, Wege. 11 Vgl. Steinlein, Jahre, 62 f.; Koch-Hallas, Kirche, 287. 12 Vgl. den Beitrag von B-r, Lehre, aus dem Jahr 1982, der den Begriff bereits als feststehend gebraucht und im Titel verwendet. 13 Bjçrkmam, Lebensraum, 15 definierte den „Thüringer Weg“ 1991 positiv als einen „eigenständige[n] Versuch“, „der kirchlichen Arbeit einen möglichst großen Freiraum zu schaffen.“ – Zur Debatte über den „Thüringer Weg“, in der u. a. Götz Planer-Friedrich 1992 (PlanerFriedrich, Einfallstore) und 1993 (Planer-Friedrich, Stasi) sowie Gerhard Besier 1993

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hat er sich zur Bezeichnung der regimefreundlichen Kirchenpolitik der Thüringer Landeskirche mittlerweile fest etabliert14. Ursprünglich geprägt wurde der Begriff beziehungsweise dessen Umschreibungen nicht von der Thüringer Landeskirchenleitung, sondern sowohl vom SED-Staat mit seinen Organen als auch von den übrigen EKD-Gliedkirchen – und zwar als Abgrenzungsausdruck15. Christine Koch-Hallas betont in Ihrer Studie über „Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Thüringen in der SBZ und Frühzeit der DDR“: „Während die politischen Machthaber in der DDR [mit diesem Begriff] das Ziel verfolgten, die Landeskirche aus der EKD herauszulösen und sie für ihre eigenen politischen Ziele zu instrumentalisieren, machten die anderen Kirchen damit deutlich, dass ihr Weg ein anderer war und die Thüringer Kirche eine Sonderstellung einnahm.“16

Bereits 1961 bot eine davon unterschiedene Interpretation die Zeitung „Die Welt“, indem sie eine strukturelle Kontinuität zwischen der deutsch-christlichen „Thüringer Richtung“ und der „neuen Thüringer Richtung“ feststellte: „Wie 1933 die ,Thüringer Richtung‘ der Deutschen Christen die vollendete Integration zwischen Staat, Partei und Kirche anstrebte, so soll in der neuen ,Thüringer Richtung‘, die Lotz eingeschlagen hat, jene Epoche verlassen werden, in der das Mißverständnis gefördert werden konnte, ,als ob die Kirchen Exklaven im Gesamtzusammenhang der Gesellschaft darstellten‘“17.

Innerkirchliche Kritiker aus Thüringen, die ihre Sorge und Unmut an der staatsloyalen Kirchenpolitik u. a. in Briefen, Eingaben und Synodenbeiträgen äußerten, sprachen in ähnlicher, aber personalisierter Weise vom „Kurs“, „Weg“ o. ä. „Mitzenheims“18. Insofern war der Abgrenzungsbegriff nicht nur von außen an die Thüringer Kirche herangetragen worden. Auch innerhalb der Landeskirche war der sogenannte „Thüringer Weg“ umstritten. Während die kirchenleitende Elite um Mitzenheim und den be-

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(Besier, Resistenz; ders., SED-Staat, 356–373) wissenschaftlich Stellung bezogen, vgl. Schilling, Bearbeitung; Markschies, Bemerkungen; Koch-Hallas, Kirche, 345–347 u. ö.; Dietrich, Arbeitskreis, 38–41. Zur Darstellung des „Thüringer Weges“ in den kirchenhistorischen Überblickswerken vgl. Maser, Regime, 45–52; Mau, Protestantismus, 81 f.; Stegmann, Kirchen, 47 f. Wann der Begriff – Planer-Friedrich, Einfallstore, 76 nennt ihn „terminus technicus“ – erstmals für die staatsnahe Kirchenpolitik der Thüringer Landeskirche verwendet wurde, ist bisher nicht eingehender untersucht worden. Die lohnenswerte Aufgabe kann im Rahmen dieser Studie nicht geleistet werden, sondern muss einer späteren Untersuchung vorbehalten bleiben. In den 1970er Jahren begegnet der Begriff wörtlich in den Akten des Ministeriums für Staatssicherheit, vgl. Seidel, Weg, 91 Anm. 19. Koch-Hallas, Kirche, 345. Vgl. auch Markschies, Bemerkungen, 210. Die Welt, 13.10. 1961 zitiert nach Besier, Resistenz, 198 f. Vgl. z. B. den Bericht Stegmanns auf der 10. Tagung der 2. Synode der Thüringer Kirche vom 3. bis 6.5. 1959 (LKA Eisenach, R 212–1, unfol.).

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reits erwähnten Oberkirchenrat Lotz durch ihr regimefreundliches Verhalten diesen Weg seit 1958 immer deutlicher beschritt, blieben eine Reihe von Thüringer Superintendenten, Pfarrern und Gemeinden – nicht nur innerhalb der Lutherischen Bekenntnisgemeinschaft um Walter Pabst und Werner Leich19 – skeptisch bis ablehnend20. Folglich sollte bei weiteren historischen und kirchenhistorischen Forschungen über den „Thüringer Weg“ immer auch die Opposition und Kritik an diesem kirchenpolitischen Sonderweg berücksichtigt und die Vielschichtigkeit der Problematik beachtet werden. Mit einer pauschalen Verurteilung der gesamten Thüringer Landeskirche – beispielsweise als „Einfallstor der Stasi“21 – wird man der Thematik historiographisch nicht gerecht. Über die sich wie einen Politthriller anmutende Genese des „Thüringer Weges“ lässt sich aufgrund des bisherigen Forschungsstandes Folgendes brennglasartig zusammenfassen. Die zentrale Figur und treibende Kraft für diesen Sonderweg war von Anfang an Gerhard Lotz22. Als Kirchenjurist, Mitglied und Funktionär der CDU war der Eisenacher Oberkirchenrat 1955 von der Staatssicherheit angeworben und zum Geheimen Informator bzw. Inoffiziellen Mitarbeiter (GI „Karl“, später IM „Karl“) aufgebaut worden23. Seine Haltung galt in der Sprache des SED-Staates als „fortschrittlich“, d. h. als staatsloyal, im Gegensatz zum Gegenbegriff „reaktionär“ für staatskritische Personen24. Lotz’ „scharfer politischer Verstand“ und seine Fähigkeit, „strategische Konzeptionen zu entwickeln und sie mit taktischem Geschick umzusetzen“25, machte ihn – so Clemens Vollnhals – für das Ministerium für Staatssicherheit zu einem der „bedeutendsten Einflussagenten“ in den 1950er und 1960er Jahren26. Aus eigenem Antrieb sammelte Lotz verschiedene Akteure um sich, die sich dem sozialistischen Staat verpflichtet fühlten und nicht selten eine deutsch19 Vgl. Leich, Wechsel, 73; Seidel, Übergang, 308. In „Sorge um den gegenwärtigen Weg der Kirche“ äußerte sich die Lutherische Bekenntnisgemeinschaft in Thüringen kritisch zum Kurs der Landeskirche u. a. im Rundbrief vom 6.11. 1959, vgl. Besier, Resistenz, 199. 20 Vgl. Koch-Hallas, Kirche, 327–329. 21 So der Titel von Planer-Friedrich, Einfallstore. 22 Über Lotz, zu dem eine biographische Studie bisher fehlt, die seine Handlungsmotive als Kirchenmann und CDU-Politiker erhellen könnte vgl. Vollnhals, Oberkirchenrat; Maser, Regime, 48–50. Auf die Rolle der CDU in diesem Prozess weist hin Dietrich, Arbeitskreis, 39 f. 23 Zur Tätigkeit von Oberkirchenrat Lotz für das Ministerium für Staatssicherheit vgl. Krone / Schult, Obrigkeit, 129–148; Vollnhals, Oberkirchenrat; Besier, Resistenz; Schilling, Bearbeitung, 216–221; Grosse, Einspruch, 461–489. In den 1950er Jahren wurde noch die Bezeichnung „Geheimer Mitarbeiter“ (GM) für die höchste Stufe der Inoffiziellen Mitarbeiter (IM), später IMB, verwendet. 24 Beide Begriffe wurden unabhängig von der innerkirchlichen bzw. theologischen Position der Personen verwendet und entsprechen ausschließlich einer Momentaufnahme des Verhaltens der Person in einem Konfliktfeld aus der Perspektive eines SED-staatlichen Akteurs. 25 Vollnhals, Oberkirchenrat, 600. 26 Ebd. Über die Aktivitäten der Staatssicherheit in der Thüringer Kirche zwischen 1955 und 1968 vgl. Schilling, Bearbeitung, 216–221.

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christliche Vergangenheit besaßen. Hierzu zählten unter anderem Walter Grundmann (seit 1956 IM „Berg“), einst wissenschaftlicher Leiter des Eisenacher „Entjudungsinstituts“ und nun Rektor des Eisenacher Katechetenseminars27, Karl Brinkel, Leiter des Predigerseminars in Eisenach, der Eisenacher Superintendent Heinz-Erich Eisenhuth, der Gothaer Oberpfarrer und spätere Superintendent Helmut Kramer, der Chefredakteur der Kirchenzeitung „Glaube und Heimat“ und Leiter der landeskirchlichen Pressestelle Herbert von Hintzenstern, Oberkirchenrat Gerhard Säuberlich und der spätere Oberkirchenrat und Bischof Ingo Braecklein (IM „Ingo“)28. Unter Führung von Lotz, Braecklein und Grundmann gründeten die „fortschrittlichen Kräfte“ 1958 den oppositionellen Weimarer Arbeitskreis29, dessen Ziel die Annäherung der Landeskirche an den SED-Staat war. Erreichen wollte man dies machtpolitisch durch die Übernahme zentraler Posten in den landeskirchlichen Leitungsgremien, besonders dem Landeskirchenrat, ideologisch durch Tagungen für Pfarrer im Rahmen der Evangelischen Akademie und personalpolitisch durch das Verdrängen Mitzenheims aus dem Amt30. Noch agierte der Landesbischof in stärkerer Distanz zum SED-Staat als wenige Monate später. Das Ministerium für Staatssicherheit versuchte zwischenzeitlich den Landesbischof zur Mitarbeit zu gewinnen, was aber misslang31. Auch das von Erich Mielke dem Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrats, Walter Ulbricht, Ende 1957 vorgelegte Memorandum, wonach der damals noch als „reaktionär“ geltende Mitzenheim mit Hilfe von Lotz und anderen Inoffiziellen Mitarbeitern zu stürzen sei, scheiterte32. 1958 wurde die Strategie geändert, die jetzt auf Beeinflussung und Instrumentalisierung im Sinne der SED-Herrschaft zielte33. Der seit 1945 amtierende Moritz Mitzenheim vertrat als Landesbischof einen selbstbewussten, episkopalen Kurs34, der 1951 in der Thüringer Kir27 Zu Grundmann vgl. u. a. Osten-Sacken, Grundmann; Deines / Leppin / Niebuhr, Grundmann; Bormann, Grundmann; Arnhold, Entjudung I–II; Heschel, Karrieren; Spehr / Oelke, Entjudungsinstitut. 28 Zu Braecklein vgl. Grosse, Einspruch, 443–460. 29 Vgl. zur offiziellen Gründung des Weimarer Arbeitskreises am 27.3. 1958 Koch-Hallas, Kirche, 335. 30 Zum Arbeitskreis vgl. ebd., 333–337; Dietrich, Arbeitskreis. Eine differenzierte Untersuchung der Veranstaltungen und Akteure steht noch aus. Werner Leich beschrieb ihn wie folgt: „Dieser Arbeitskreis bestand aus Theologen, die sich für ein Ernstnehmen des sozialistischen Staates und der sozialistischen Gesellschaft durch die Kirche einsetzten. Sie wollten durchaus die Unabhängigkeit der Kirche bewahren, aber das politische Umfeld ernster nehmen.“ (Leich, Wechsel, 72). 31 Vgl. Vollnhals, Oberkirchenrat, 600. 32 Vgl. Vollnhals, Abteilung, 87 f. 33 Vgl. Vollnhals, Oberkirchenrat, 600 f. 34 Eine Biographie zu Mitzenheim ist nach wie vor ein Desiderat der kirchlichen Zeitgeschichtsforschung. Über ihn vgl. u. a. Seidel, Mitzenheim; ders., Übergang, passim; Maser, Regime, 46–48; Koch-Hallas, Kirche, 287–326; Neubert, Mitzenheim.

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chenverfassung kirchenrechtlich fixiert wurde, indem dort die bischöflichen Rechte gestärkt und die Rechte der Synode reduziert wurden. Diese fast landesherrliche Machtposition – der Landesbischof war geistlicher Leiter, Vorsitzender der Landessynode, des Landeskirchenrates und des Superintendentenkonvents35 – war einzigartig innerhalb der östlichen Landeskirchen. Die theologische Verhältnisbestimmung von Staat und Kirche oder von weltlicher und geistlicher Obrigkeit wurzelte argumentativ im Neuen Testament (u. a. Röm 13) und wurde aufgrund der politischen Herausforderungen im 20. Jahrhundert, insbesondere seit den 1930er Jahren, in Interpretation von Martin Luthers Obrigkeitslehre unter den Stichworten „Zwei-Reiche-Lehre“ oder „Zwei-Regimenten-Lehre“ thematisiert36. Als Vertreter des lutherischen Flügels der Bekennenden Kirche vertrat auch Mitzenheim eine Zwei-Regimenten-Lehre auf Grundlage von Röm 13, die er bis in die zweite Hälfte der 1950er Jahren als Abgrenzungslehre verstand37. Im Zuge eines Einschwenkens auf den von Lotz und dem Weimarer Arbeitskreis protegierten „Thüringer Weg“ nahm Mitzenheim eine funktionale Akzentverschiebung seiner theologischen Begründung vor. Jetzt interpretierte er die Zwei-Regimenten-Lehre als Kooperations- und Konvergenzlehre38, indem er einerseits die freie Religionsausübung und Gleichbehandlung der Christen im öffentlichen Leben vom Staat forderte, andererseits ein loyales Verhalten der Christen zum Staat in der Kirche anmahnte. Sein neulutherisches Verständnis der Zwei-Regimenten-Lehre lief nun auf eine Trennung von Staat und Kirche „im Sinne eines Interessenausgleichs“ hinaus39. Kirche verstand Mitzenheim dabei immer als Volkskirche im missionarischen und diakonischen Sinne, die es zu verteidigen, zu schützen sowie in die bestehenden Ordnungsgefüge einzupassen galt: „Wir wollen Kirche im Volk und fürs Volk, dienende Kirche bleiben, deren verantwortungsbewußte Amtsträger in Tr[e]ue am Werke sind. Wir wollen darum bitten, daß der Raum, der für den Dienst unserer Kirche geblieben ist, recht mit christlichem Gemeindeleben erfüllt werde.“40

Warum Mitzenheim sich 1958/59 von einem Kritiker der SED-Politik zu einem Fürsprecher eines staatsnahen Kurses wandelte, ist bis heute nicht abschließend geklärt. Möglicherweise standen persönliche Erfahrungen der Verfolgung und Diskriminierung, wie er sie bei seinem 1953 zu sechs Jahren

35 Vgl. Verfassung § 90. 36 Vgl. zur Problematik der Stichworte Kampmann, Bedeutung. 37 In seiner Rede „Dienst für die Öffentlichkeit“ zum zehnjährigen Bestehen des „Thüringer Tageblatts“ vom 2.5. 1956 betonte der Landesbischof die Abgrenzung von Staat und Kirche, vgl. Mitzenheim, Diakonie, 33–35. Zum Thema vgl. Koch-Hallas, Kirche, 297–303; AlbrechtBirkner, Zwei-Reiche-Lehre. 38 Vgl. Koch-Hallas, Kirche, 304. 39 Albrecht-Birkner, Freiheit, 98. 40 Bjçrkman, Lebensraum, 274 (71. Rundbrief, 2.12. 1961).

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Zuchthaus verurteilten Bruder Edgar Mitzenheim erfahren hatte41, im Hintergrund. Vermutlich war es auch die Meinung, dass durch Ablehnung des SED-Regimes und öffentliche Konfrontation den einzelnen Christen und der Kirche in der DDR nicht geholfen, sondern ein „die Gegensätze vermittelnder Konsens mit der Obrigkeit“42 notwendig sei, um Volkskirche bleiben zu können. Auch gesundheitliche Probleme dürften eine Rolle gespielt haben. Schließlich ist wahrscheinlich, dass auf ihn innerkirchlicher Druck ausgeübt wurde, der zu einer Änderung seiner Haltung führte. Immerhin zielte der Weimarer Arbeitskreis anfangs auf eine Ablösung Mitzenheims und die Landessynode hatte Anfang 1958 Mitzenheim mit seiner pointierten „Entweder-Oder“ Haltung zur Frage von Jugendweihe und Konfirmation überstimmt43. Sein Rückhalt in der Landeskirche, vor allem im von Lotz und Säuberlich dominierten Landeskirchenrat, schwand, so dass er aus Pragmatismus oder Überforderung sich in politischen und kirchenpolitischen Fragen von Lotz, dem „Stellvertreter des Landesbischofs in weltlichen Angelegenheiten“, zunehmend überzeugen, lenken und manipulieren ließ44. Seit 1958 stand er maßgeblich unter dem Einfluss des Oberkirchenrates45. So unterstützte Mitzenheim nach seinem Gespräch mit Ministerpräsident Otto Grotewohl am 23. Juni 195846 die „Gemeinsame Erklärung“ von Staat und Kirche vom 21. Juli 1958, auch „Kommuniqu8“ bezeichnet, als politische Loyalitätserklärung47. Ohne Rücksprache mit den anderen Landeskirchen schickte Mitzenheim am 13. April 1959 einen Offenen Brief an Grotewohl, worin er sich positiv zur DDR und der Entwicklung zum Sozialismus äußerte. Insbesondere dieser vom SED-Staat publizistisch verbreitete Brief führte zu Verwerfungen innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutschland und der im Brief sichtbar werdende Anbiederungs-Kurs letztlich zur Isolation der Thüringer Kirchenleitung gegenüber den Ost- und Westdeutschen Kirchen48. Geschrieben hatte den Brief Gerhard Lotz, unterschrieben Mitzenheim. Dass Lotz auch zahlreiche weitere politische Vorträge für den mit Ehrungen des

41 Vgl. Seidel, Übergang, 306 f., 324. 42 Neubert, Mitzenheim, 75. 43 Zum Thema der Abkehr vom kompromisslosen Weg in der Jugendweihefrage durch die Thüringer Landeskirche 1957/58 vgl. Koch-Hallas, Kirche, 179–186. 44 Vgl. Dietrich, Arbeitskreis, 45. 45 Vgl. Koch-Hallas, Kirche, 324–326, die Mitzenheim als „Marionette des Oberkirchenrates“ bezeichnet (ebd., 325). 46 Vgl. die Erklärung Mitzenheims beim Gespräch mit Grotewohl Bjçrkman, Lebensraum, 212–215. 47 In diesem als Pressemitteilung veröffentlichten Text hielten die Kirchen den Vorwurf des Verfassungsbruchs nicht mehr aufrecht. Mitzenheim verteidigte seine Unterstützung u. a. in dem Text „Zum Gespräch zwischen Kirche und Staat“ (Mitzenheim, Diakonie, 40–44). Zur Entstehungsgeschichte des Kommuniqu8s vgl. Mau, Protestantismus, 64–67; zum Thema auch Besier, Anpassung, 280; ders., Resistenz, 187–190; Neubert, Geschichte, 120 f. 48 Vgl. Koch-Hallas, Kirche, 317–322.

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SED-Regimes49 überhäuften Mitzenheim formulierte, überrascht nicht. Oberkirchenrat Lotz war es auch, der die gesammelten politischen Reden seines Landesbischofs 1967 unter dem Titel „Politische Diakonie“ und 1971 unter dem Titel „Aus christlicher Verantwortung“ herausgab und mit einem Nachwort versah50. Insgesamt implizierte der „Thüringer Weg“ die politische Mitarbeit der Christen am „Aufbau des Sozialismus“ in der DDR im Sinne der Regierung. Auf Seiten der SED wurde er instrumentalisiert, um seine Vertreter innerhalb der Thüringer Landeskirche aber auch die Landeskirchen untereinander auszuspielen und zu spalten. Das Ministerium für Staatssicherheit und die SED nannten dieses Vorgehen „Differenzierung“51.

2. Im Kontext der Diskriminierung Repressionen und Diskriminierungen gegenüber sowohl männlichen als auch weiblichen Christen waren in den 1950er Jahren in der DDR allgegenwärtig. Die Thüringer Kirchenleitung und Mitzenheim persönlich hatten gegen die Zwangsaussiedlungen in den Grenzsperrbezirken 1952 gestritten, sich in die Konflikte um die Junge Gemeinde 1953 eingeschaltet und für die kirchliche Jugendarbeit engagiert. Hinzu trat seit 1955 die heftig geführte Auseinandersetzung um die Frage von Jugendweihe und Konfirmation52. Als streitbarer Kirchenmann hatte sich Mitzenheim auf allen Seiten Respekt verschafft53. Wie er sein Engagement im Kampf gegen Diskriminierung und Repression in die Thüringer Pfarrerschaft im Horizont seines regimefreundlichen Kurses seit 1958 vermittelte, soll anhand Mitzenheims pastoraler Rundbriefe untersucht werden, die er von 1945 bis zu seinem Ruhestand 1970 an die Pfarrerschaft der Thüringer Kirche richtete. In 93 Rundbriefen äußerte er sich zu zentralen kirchlichen Themen und suchte hierdurch Informationen und Orientierung an die Thüringer Pfarrer weiterzugeben, die auch die Konflikte zwischen Staat und Kirche umfassten54. Noch 1957 ermutigte er die Thüringer Pfarrer im Weihnachtsrundbrief: 49 Über die höchst umstrittene Verleihung des „Vaterländischen Verdienstordens“ in Gold durch Walter Ulbricht an Mitzenheim am 17.8. 1961, drei Tage nach dem Bau der Berliner Mauer vgl. Koch-Hallas, Kirche, 322–324. 50 Vgl. Mitzenheim, Diakonie; ders., Verantwortung. 51 Vgl. zum Begriff Suckut, Wörterbuch, 90; vertiefend zur Thematik: Wanitschke, Methoden. 52 Zum Streit um Jugendweihe und Konfirmation vgl. u. a. Fischer, Gelöbnis; Anhalt, Macht; Maser, Regime, 36–40. 53 Vgl. zu den Konflikten zwischen Staat und Kirche Maser, Regime, 31 f.; Koch-Hallas, Kirche, 117–190; Dietrich, Arbeitskreis, 40. 54 Vgl. Bjçrkman, Lebensraum, 13–15. Die Rundbriefe werden nach der 1991 publizierten Quellensammlung von Thomas Björkman zitiert. Eine kritische Edition der Rundbriefe fehlt bislang.

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„Kein Amtsbruder, der in Schwierigkeiten gerät, soll meinen, daß er allein steht. Der Superintendent und die Amtsbrüder der Nachbarschaft stehen ihm mit ihrem Zuspruch und Rat zur Seite. Es wird gut sein, Gespräche mit politischen Stellen nicht allein zu führen. Sobald der Landeskirchenrat von Schwierigkeiten erfährt, schaltet er sich ein […]. Unser Amtsbruder Martin Giersch in Weimar und sieben Studenten sind seit einem halben Jahr in Erfurt in Untersuchungshaft. Man hört, daß die Gerichtsverhandlung Mitte Januar sein soll. Die Inhaftierten haben Verteidiger. Ich habe um Besuchserlaubnis nachgesucht.“55

Außerdem forderte er die Gemeinden zur regelmäßigen Fürbitte für die Angefochtenen, Kranken und Gefangenen auf56. Dem Schreiben legte Mitzenheim als „Material XIV.“ Stellungnahmen vom sächsischen Landesbischof Gottfried Noth zum Prozess gegen den Leipziger Studentenpfarrer GeorgSiegfried Schmutzler bei57, die er durch den Abschnitt „Zu den Vorladungen Thür. Pfarrer“ ergänzte. Hierin zitierte er sein Schreiben vom 7. Dezember 1957 „an die zuständigen Stellen“, in dem er für die angegriffenen Thüringer Geistlichen (sie werden nicht namentlich genannt) gegen die „unberechtigte[n] Eingriffe in die Glaubens- und Gewissensfreiheit“ protestierte und die Behörden an die von der DDR-Verfassung gewährte „freie Meinungsäußerung“, „freie Religionsausübung“ und die der Kirche zugesicherte Selbstständigkeit erinnerte. Die Berichterstattung in der Presse kritisierte er als einseitig und irreführend und beklagte in einer Notiz „am 20. 12. 1957“ die Einmischung in innerkirchliche Angelegenheiten58. An den nicht genannten staatlichen Adressaten appellierte Mitzenheim streitbar und unmissverständlich: „Lassen Sie Ihr Mißtrauen gegen die Kirche und Ihre Diener. Lassen Sie sich durch einseitige Einzelfälle, wie sie auch sonst vorkommen, verallgemeinernde und darum irreführende Berichterstattung, wie sie zu meinem Bedauern bei den gegenwärtigen Auseinandersetzungen zwischen Staat und Kirche in einem Teil der Tagespresse üblich geworden ist, in Ihrer Haltung gegenüber der Kirche nicht bestimmen. Unsere Kirche hat nichts zu verbergen. Ich sehe mit großer Sorge um unser Volk; daß durch die ungehindert geübte Diffamierung die Kirche und ihrer 55 Bjçrkman, Lebensraum, 190 f. (52. Rundbrief, 20.12. 1957). Zur Verhaftung des Weimarer Studentenpfarrers Martin Giersch am 25.6. 1957, der am 14.1. 1958 durch das Bezirksgericht Erfurt zu einem Jahr und zwei Monaten Zuchthaus verurteilt wurde, vgl. Neubert, Geschichte, 125; Koch-Hallas, Kirche, 192 Anm. 331; Wendt, Jugendpfarrer. 56 Vgl. Bjçrkman, Lebensraum, 191. 57 Im Rahmen der Verfolgung der Evangelischen Studentengemeinden und der Diffamierung und Kriminalisierung von Pfarrern wurden 1957 besonders die Studentenpfarrer Giersch, Johannes Hamel (Halle) und Georg-Siegfried Schmutzler in Schauprozessen zu Haftstrafen verurteilt. Schmutzler wurde am 5.4. 1957 verhaftet und am 28. 11. verurteilt. Vgl. Noack, Feindobjekt, 303 Anm. 16. 58 Bjçrkam, Lebensraum, 192–195, hier 193 f.

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Diener Spaltung und Verwirrung, Unruhe und Unfrieden in unsere Bevölkerung getragen werden. Daran kann weder dem Staate noch der Kirche gelegen sein.“59

Wie sehr die kirchenkritische Politik, aber auch der innerkirchliche und persönliche Druck auf dem Bischof lasteten, drückte er zu Beginn seines 53. Rundbriefes vom 12. Februar 1958 mit den einleitenden Sätzen aus: „In bewegten Zeiten bedeuten Zeichen der Verbundenheit umso mehr eine Stärkung. Die Zukunft ist in Nebel gehüllt. In solcher Lage gilt es, desto fester zu stehen im Vertrauen auf Gottes Führung und Hilfe.“60 Neben der breiten Raum einnehmenden Thematik Jugendweihe oder Konfirmation empfahl er hinsichtlich staatlicher Repressionsmaßnahmen gegen Pfarrerskinder : „Werden gut begabte Pfarrerskinder nicht zur Oberschule zugelassen, so ist beim Rat des Kreises Einspruch einzulegen. Erfolgt wiederum Ablehnung, so ist der Bescheid dem Landeskirchenrat mitzuteilen zur Weitergabe an den Staatssekretär für Kirchenfragen.“61 Kritik am fehlenden Engagement des Landeskirchenrates für in eine „schwierige Situation“ geratene Pfarrer wurde erstmals im Sommer 1958 laut, wie aus der entschiedenen Zurückweisung einer nicht näher beschriebenen, durch die Tagespresse verbreiteten Nachricht im Rundbrief vom 1. Juli deutlich wird. Vehement unterstrich Mitzenheim: „Seien Sie überzeugt, daß der Landeskirchenrat sich vor seine Pfarrer stellt, wenn sie in Ausübung ihres Dienstes in Schwierigkeiten geraten. Er berät die Amtsbrüder so, wie es in erster Linie für ihren Dienst in der Gemeinde, dann aber auch für ihr persönliches Ergehen nötig und gut ist.“62

Außerdem forderte Mitzenheim seine Amtsbrüder auf, sollten „zuverlässige Unterlagen über Eingriffe in das kirchliche Leben oder über Gewissensdruck“ noch nicht an den Landeskirchenrat eingereicht worden sein, dies umgehend nachzuholen63. Hinsichtlich des Umgangs mit „Schwierigkeiten“, so die Bezeichnung der Repressionen durch SED-Staat und seine Organe, wird zunehmend eine Versachlichung und Konzentration auf Verfahrenswege deutlich. Zuerst sollten die Schwierigkeiten mit dem Superintendenten besprochen werden. Wenn sie nicht auf örtlicher und Kreisebene behoben werden könnten, müssten der Visitator (d. h. der Propst) und Kreiskirchenrat eingeschaltet werden. Sollte auf Bezirksebene keine Klärung herbeigeführt wer59 Ebd., 194 f. 60 Ebd., 195–198, hier 195 (53. Rundbrief, 12.2. 1958), in dem eine Erläuterung des Landeskirchenrates zur „Stellungnahme der Synode“ hinsichtlich von Konfirmation oder Jugendweihe abgedruckt war. Es steht zu vermuten, dass die pessimistischen Aussagen von einer gewissen Krise Mitzenheims zeugen, die letztlich zum Einschwenken auf den „Thüringer Weg“ führte. 61 Ebd., 197. 62 Ebd., 204–207, hier 205 (55. Rundbrief, 1.7. 1958). 63 Ebd., 204 f.

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den können, sei der Landeskirchenrat einzuschalten, der die Dinge in Berlin anhängig mache64. Insgesamt finden sich seit Sommer 1958 staatsfreundlichere Töne als zuvor. Die Entwicklung zum „Thüringer Weg“ wird jetzt auch in Äußerungen greifbar. So beurteilte Mitzenheim im Rundbrief vom 3. September 1958 nicht nur die Gespräche zwischen Regierung und Kirchenvertretern positiv, sondern stellte auch hinsichtlich der von ihm gehaltenen Vorträge über die StaatsKirchen-Gespräche vom Sommer fest: „In den Kreisen, in denen ich zu reden hatte, wurde unser Vorgehen begrüßt und das vorläufige Ergebnis verständnisvoll beurteilt. Das gleiche höre ich aus unserer Thüringer Pfarrerschaft.“65 Dass das Kommuniqu8 vom 21. Juli 1958 positive Auswirkungen auf das kirchliche Leben habe, davon war Mitzenheim überzeugt, und meinte dies im Rundbrief vom 24. November 1958 anhand von Beispielen belegen zu können. So seien Schulen für Gottesdienste wieder geöffnet, Schulräume für die Christenlehre wieder zugänglich gemacht, Abiturienten, die der Jungen Gemeinde angehören, zum Studium zugelassen oder ein christlicher Lehrer, der wegen seines kirchlichen Lebens aus dem Schuldienst entlassen war, wiedereingestellt worden66. Der Landesbischof empfahl, das Kommuniqu8 in Konfliktfällen mit staatlichen Stellen immer bei sich zu führen und sich darauf zu berufen67. Zugleich fällt auf, dass die Hinweise auf „Schwierigkeiten“ und wie die Geistlichen damit umgehen sollten, in den Rundbriefen zwar abnahmen, aber nie verstummten. So kritisierte Mitzenheim beispielsweise im Juli 1959 im Blick auf die schulische Erziehung: „Wir treten dafür ein, daß in der Schule Angriffe gegen den christlichen Glauben unterbleiben. Wir fordern, daß die Lehrer, die entgegen der Verfassung [der DDR] und gegen den Willen der Eltern, ihre Autorität mißbrauchen, um ungefestigte Kinder im Glauben irre zu machen, zur Verantwortung gezogen werden. Wir verlangen, daß unsere getauften Kinder ohne Gefährdung ihres Glaubens die Schule besuchen können. Wenn diesem unserem Anliegen nicht Rechnung getragen werden sollte, so werden sich dauernd die ernstesten Konflikte zwischen Elternhaus und Schule, zwischen Kirche und Staat ergeben.“68

64 Vgl. ebd., 215–217, hier 216 f. (57. Rundbrief, 24.11. 1958); ebd., 225 f. hier 226 (60. Rundbrief, 30.5. 1959). 65 Ebd., 210–212, hier 211 (56. Rundbrief, 3.9. 1958). 66 Ebd., 217. Diese Sichtweise widersprach der Wahrnehmung, welche auf der Kirchlichen Ostkonferenz noch Ende August 1958 thematisiert wurde. Statt Erleichterung durch das Kommuniqu8 berichteten zahlreiche Landeskirchen von neuen Behinderungen des kirchlichen Lebens und der kirchlichen Arbeit. Vgl. zur Kritik am Kommuniqu8 und den verschärften staatlichen Repressionen Besier, Resistenz 187–190. 67 Vgl. Bjçrnkam, Lebensraum, 217. 68 Ebd., 241–243, hier 242 (62. Rundbrief, 14.7. 1959).

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1964 betonte Mitzenheim im Blick auf die Christenlehre: „Bei Schwierigkeiten in der Christenlehre sind alsbald Verhandlungen mit dem Schulleiter unter Berufung auf mich zu führen, unter Umständen unter Beteiligung des Superintendenten und des Visitators.“69 Auch weiterhin setzte sich Mitzenheim für einzelne Christen ein, wenn er von Repressionen oder Diskriminierungen erfuhr. Durch seine Staatsnähe und Popularität in der DDR – häufig war er im „Radio DDR“ oder im „Neuen Deutschland“ durch Beiträge präsent – war seine Autorität auch in den 1960er Jahren ungebrochen. Erst kürzlich wies Ehrhart Neubert darauf hin, dass es für „viele Pfarrer ein kleines Drohpotential“ gab, wenn sie in Fällen „kleinlicher Schikanen“ ausriefen: „Das schreibe ich an Bischof Mitzenheim.“70 Der als „rote Bischof“71 kritisierte Mitzenheim war trotz – oder gerade wegen – seines staatsbejahenden Kurses mit seinen Interventionen gelegentlich erfolgreich, so dass sich auch bedrängte Christen aus anderen Landeskirchen an ihn wandten. Kritisch hingegen waren die Erfahrungen mit Oberkirchenrat Lotz, über den Neubert aus der Erinnerung berichtet: „Lotz war nicht beliebt und viele Pfarrer, die ein Problem Mitzenheim vortragen wollten, hofften an Lotz vorbeizukommen. Und wenn Lotz doch den Bittsteller ins Gespräch zog, konnte jede Gewissensnot von diesem zynisch als ,religiöse Lyrik‘ deklassiert werden.“72

3. Fallbeispiele zum Thema Wehrpflicht Ein spannungsreiches Verhältnis zwischen Staat und Kirche bildete die seit den 1950er Jahren vorangetriebene Militarisierung der Gesellschaft der DDR, das in der Einführung der Pflicht zum Grundwehrdienst in der NVA 1962 einen neuen Höhepunkt erreichte. Charakteristisch für die Debatte zwischen SED-Staat und Kirche war bis zu diesem Zeitpunkt, dass im Zuge der Remilitarisierung der Bundesrepublik73 noch eine prinzipiell-pazifistische Haltung der Kirche von staatlichen Organen der DDR eingefordert worden war – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs. Seit 1962 standen die evangelischen Landeskirchen vor der zusätzlichen Herausforderung, von dieser friedensorientierten Haltung abzurücken und zur 69 Ebd., 301–303, hier 303 (79. Rundbrief, 27.1. 1964). 70 Neubert, Mitzenheim, 80. 71 Mitzenheim kokettierte mit der Zuschreibung bei öffentlichen Auftritten oder in Predigten, wenn er z. B. betonte: „Man nennt mich einen ,roten Bischof‘. Das ist recht so. Denn es gibt auch ein ,Rotes Kreuz‘ – und das bringt Hilfe!“ (Franz, Mauer, 14). 72 Neubert, Mitzenheim, 81 f. 73 Zur Diskussion über Wehrdienst und Verweigerung in der Bundesrepublik Deutschland in den 1950er Jahren vgl. Meyer-Magister, Wehrdienst.

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„Verteidigung des Vaterlands“ aufzurufen. Eine besondere Problematik bildeten dabei jene jungen Männer, die bewusst den Wehrdienst verweigerten und somit die deutlichste Form der Ablehnung der Militarisierung praktizierten. Wie die Landeskirche um Moritz Mitzenheim mit dem Thema Wehrpflicht und den Verweigerern des Grundwehrdienstes umging, soll im Folgenden anhand der Rundbriefe und einschlägiger Akten aus dem Landeskirchenarchiv Eisenach, besonders aus der Oberkirchenrat Lotz unterstellten Rechtsabteilung, untersucht werden. 3.1 Die Rundbriefe des Landesbischofs vom Frühjahr 1962 Mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht am 24. Januar 196274 wurde eine Stellungnahme der Thüringer Kirchenleitung dringlich, zumal Unsicherheit, Sorge und Diskussionen über den Sinn und Zweck der Wehrpflicht die Situation zahlreicher junger Männer und ihrer Familien bestimmten. Insbesondere in kirchlichen Kreisen und Studentengruppen wurde Kritik an der Einführung des verpflichtenden Militärdienstes im Zeitalter der atomaren Bedrohung laut75. Nach Abstimmung mit dem Landeskirchenrat in einer Sondersitzung bezog Mitzenheim in einem theologisch grundierten und argumentativ ausgewogenen Rundbrief an die Pfarrer vom 19. Februar 1962 umfänglich Stellung zur Thematik76. Weil es die erste offizielle Stellungnahme der Thüringer Landeskirche und einer EKD-Gliedkirche überhaupt zur Wehrpflicht nach dem 24. Januar 1962 war, soll der Brief hier etwas ausführlicher dargestellt werden. Der Landesbischof beginnt sein Schreiben mit Ausführungen über verantwortungsbewusste Seelsorge. Da die Wehrpflicht zahlreiche junge Männer bewege, sei es eine Notwendigkeit, „unsere jungen Gemeindeglieder und deren Eltern“ seelsorgerlich zu begleiten77. Der Seelsorgedienst der Pfarrer sei hier besonders gefordert, weil „in der Frage des Wehrdienstes viel Unklarheit“ 74 Die Wehrpflicht war bereits seit der Verfassungsergänzung der Artikel 5 und 112 vom 12.9. 1955 im Gesetz angelegt und konnte seitdem jederzeit beschlossen werden. Zur Gründung der NVA 1956 wurde hierauf explizit verzichtet. Erst der Mauerbau ermöglichte den Übergang von der „freiwilligen Dienstpflicht“ zur allgemeinen Wehrpflicht, da Rekruten nicht mehr bzw. schwerer in die Bundesrepublik ausweichen konnten. Zur Einführung der Wehrpflicht in der DDR vgl. KJ 89 (1962), 193–196; Wenzke, Wehrpflicht; Eisenfeld / Schicketanz, Bausoldaten, 36–41. Zum Thema allgemein vgl. Ehlert / Rogg, Militär; Rogg, Armee. 75 Vgl. Eisenfeld / Schicketanz, Bausoldaten, 43 f. Zur Situation unter den ostdeutschen Theologiestudenten vgl. Aktenvermerk über Zusammenkunft der Studentenpfarrer. Betr. Wehrdienst der Studenten, Berlin 10.10. 1961 (LKA Eisenach, R 108–5, unfol. 6 S.). Zur Diskussion über Wehrdienst und Verweigerung in der Bundesrepublik Deutschland in den 1950er Jahren vgl. Meyer-Magister, Wehrdienst. 76 Bjçrkman, Lebensraum, 275–277 (72. Rundbrief, 19.2. 1962). Erstmals gedruckt: KJ 89 (1962), 196–198. 77 Bjçrkman, Lebensraum, 275. Die folgenden Zitate ebd.

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herrsche. Mitzenheim betont, er habe für diejenigen jungen Männer Verständnis, „die kritisch zum Wehrdienst stehen“, und sorge sich, dass sie durch ihre kritische Haltung „in schwierige Situationen“ kommen könnten. Es sei daher Aufgabe der Pfarrer, in Seelsorgegesprächen die Motive der jungen Männer zu reflektieren, die Konsequenzen ihres Verhaltens zu thematisieren und ihre Beweggründe an der „Mitte der [Heiligen] Schrift“ zu orientieren78. Theologisch plädiert der Landesbischof sodann für eine aus der Mitte der Schrift resultierende, an die lutherischen Bekenntnisschriften gebundene Schriftinterpretation, die ein verkürztes Schriftverständnis ablehne und einzelne, isolierte Bibelworte wie das 5. Gebot oder eine Weisung aus der Bergpredigt als zu rigoristisch problematisiere. In Erinnerung an die lutherische Ständelehre und Berufsethik, welche auch die „Kriegsleute“ einschließe, resümiert er : „Die Behauptung, es sei Christen grundsätzlich nicht möglich, Wehrdienst zu tun, kann aus Schrift und Bekenntnis nicht begründet werden. Nirgends im Neuen Testament wird zum Ausscheiden aus dem Soldatendienst aufgefordert.“79

Mit Hinweis auf das Verhältnis von Staat und Kirche im Horizont der lutherischen Zwei-Regimenten-Lehre akzentuiert Mitzenheim, dass die Kirche dem Staat „nicht das Recht bestreiten“ könne, „zum Schutze der Bevölkerung seine Bürger an der Waffe auszubilden und zum Wehrdienst heranzuziehen.“ „Es gehört auch nicht zum Auftrag der Kirche, die Frage zu beantworten, ob Streitkräfte zur Verteidigung notwendig und ratsam sind und auf welche Weise und in welchem Umfang eine Streitkraft aufgestellt wird. Diese Entscheidung hat der Staat zu treffen. Er hat sie getroffen und trägt nun die Verantwortung in vollem Umfang.“

Die Kirche segne keine Waffen. Ihre Aufgabe sei es vielmehr, zum Frieden zu mahnen und „für Entspannung, Abrüstung und Verständigung“ einzutreten80. Nach diesen grundsätzlichen Orientierungen wendet sich Mitzenheim dem Umgang mit Wehrdienstleistenden und deren möglichen Verweigerern zu. Im Blick auf die Christen in der Nationalen Volksarmee erinnert er daran, dass sie während ihrer Wehrdienstzeit Glieder der Kirche bleiben, für welche die „Zusage ungestörter Religionsausübung“ gelte, wie im Kommuniqu8 vom 21. Juli 1958 zugesichert. Er fordere daher vom Staat, dass „Christen auch in Uniform ihres Glaubens leben und den Dienst ihrer Kirche in Anspruch nehmen können“81. Die Kirche lade sie ein, sich an den Gottesdiensten und am Gemeindeleben ihres Standortes zu beteiligen.

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Ebd., 275 f. Ebd., 276. Die folgenden Zitate ebd. Ebd., 276 f. Ebd., 277.

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Zugleich gebe es Menschen, die aus „religiösen Gründen absolute Pazifisten“ seien. Über sie stellt Mitzenheim fest: „Wir achten ihre Entscheidung. Sie bleiben unsere Brüder. Sie stehen uns nahe, auch wenn die Lehre der Kirche für ihre Entscheidung zur absoluten Gewaltlosigkeit keine Argumente zur Verfügung stellen kann. Die Kirche kann sie auch vor den Folgen, die der Staat für Gehorsamsverweigerung gegen seine Gesetze androht, nicht schützen.“82

Sie werde aber – so verspricht Mitzenheim – für sie eintreten und „um angemessene Berücksichtigung ihrer Gewissensnot bitten“. Diese Fürsprache sei „ein Akt der Barmherzigkeit, wie ihn die Kirche ohne Ansehen der Person und ohne politische Hintergründe“ tue. Pointiert weist er schließlich seine Amtsbrüder darauf hin, dass „Kriegsdienstverweigerung keinesfalls eine Selbstrechtfertigung oder eine höhere Christlichkeit“ bedeute. Abschließend geht Mitzenheim noch auf den Fahneneid mit der für viele junge Leute beschwerenden Formel „unbedingter Gehorsam“ ein. Hierbei erinnert er daran, dass Soldaten schon immer zu unbedingten Gehorsam verpflichtet waren, der Eid aber seine Grenze in Gott und seinem Wort habe83. Die theologisch und seelsorglich argumentierende Stellungnahme ließ erwarten, dass die Thüringer Landeskirche sich auch in Zukunft sowohl für die christlichen Soldaten als auch im Einzelfall für Wehrdienstverweigerer einsetzen werde. Gleichwohl bezog der lutherische Landesbischof aufgrund seiner Zwei-Regimenten-Lehre Position zugunsten des staatlich angeordneten Wehrdienstes. Kriegsdienstverweigerung unterstützte er weder argumentativ noch formulierte er Vorschläge für einen möglichen Ersatzdienst, sondern betonte, dass die jungen Männer bei einer Verweigerung die möglichen strafrechtlichen Konsequenzen selber tragen müssten. Ein Schutzraum für Verweigerer durch die Thüringer Landeskirche war mit einer derartigen Stellungnahme kaum zu erwarten84. Der folgende Rundbrief vom 26. März 1962 widmete sich ausschließlich der Thematik Wehrpflicht85. Hierin berichtete Mitzenheim von einem „Gespräch“ zwischen Vertretern der „Konferenz der evangelischen Bischöfe“ und der Regierung, das am 12. März 1962 in Berlin zu den Auswirkungen des Wehrpflichtgesetzes stattgefunden und an dem er selbst teilgenommen hatte. Tatsächlich gehörte dieses vierstündige Regierungsgespräch zu einer der be82 Ebd. Die folgenden Zitate ebd. 83 Für die Position der römisch-katholischen Kirche zum Wehrdienst bildete der Eid das maßgebliche Problem. Vgl. Pilvousek, Ausbildung, 240–247. 84 Im Gegensatz zur Kommunikationspraxis in der Thüringer Landeskirche, die auf Vermeidung von Kritik abzielte, agierte der Dresdner Bischof Noth aktiv als Fürsprecher verhafteter Gemeindeglieder und forderte vehement eine Aussetzung der Verhaftungen bis zur Klärung des Sachverhalts eines waffenlosen Wehrdienstes zwischen Landeskirchen und SED-Staat. Vgl. Eisenfeld / Schicketanz, Bausoldaten, 57. 85 Bjçrkman, Lebensraum, 278–281 (73. Rundbrief, 26.5. 1962).

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deutendsten und heikelsten Begegnungen in diesem Zusammenhang86, der vielfältige Vorarbeit mitsamt dem von Friedrich-Wilhelm Krummacher, Bischof von Pommern und Vorsitzender der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen, ausgearbeiteten Memorandum zur Wehrpflicht vorausgingen87. Mitzenheims 73. Rundbrief, der sich auf den in der „Neuen Zeit“ am 18. März 1962 publizierten Artikel „Die Wehrpflicht und die Christen in der DDR“ bezog und zeitnah publiziert wurde88, stellte die einzig gedruckte kirchliche Äußerung von dem Gespräch dar, welche die öffentliche Meinung über das „Gespräch“ prägen sollte89. Nach einigen orientierenden Bemerkungen führt Mitzenheim die vier von den Kirchenvertretern vorgetragenen Themen an, wobei er anstatt dem offiziellen Memorandum Krummachers zu folgen, zum Teil wörtlich seinen eigenen Memorandumsentwurf zitiert90 : 1. Gewährleistung des Grundrechts der Glaubens- und Gewissensfreiheit für christliche Gemeindeglieder in der Volksarmee, worunter u. a. der Gottesdienstbesuch und Besuch anderer kirchlicher Veranstaltungen am Garnisonsort, Krankenseelsorge durch die Pfarrer, Versorgung der Soldaten mit Kasualien sowie Gewährung von „Bibel und Gesangbuch in Spind und Tornister“ gezählt werden. 2. Sorge vor einer weltanschaulichen Selbstbindung durch den Fahneneid. 3. Verständnis für Kriegsdienstverweigerung aus Glaubensgründen. 4. Bitte um Zurückstellung vom Grundwehrdienst für Männer in Ausbildung zu einem kirchlichen Beruf. Die Forderung nach einem Ersatzdienst, wie in Mitzenheims „Entwurf“ des Memorandums und im Memorandum selbst angeregt, wird nicht erwähnt91. 86 Zu der Konsultation, an der seitens des Staates der amtierende Vorsitzende des Ministerrates Willi Stoph, dessen Stellvertreter Max Sefrin, der Staatssekretär für Kirchenfragen Hans Seigewasser und der Staatssekretär beim Vorsitzenden des Ministerrates Anton Plenikowski sowie seitens der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen deren Vorsitzender Bischof Friedrich-Wilhelm Krummacher und dessen Stellvertreter Moritz Mitzenheim teilnahmen vgl. Br-uer, Bischof. Der Gesprächsverlauf ist dokumentiert bei Hartweg, SED, 371–390, Dok. 71. 87 Vgl. Memorandum, Berlin, den 12.3. 1962 (LKA Eisenach, R 108–5, unfol., 8 S.). Lotz und Mitzenheim entwarfen auf der Grundlage des von Krummacher gemachten Memorandumentwurfs einen eigenen „Entwurf“, aus dem Mitzenheim während des Gespräches zitierte und später Passagen in seinen Rundbrief übernahm. Krummacher hatte ihn zuvor mit dem Hinweis, das darin „zu viele politische Formulierungen“ enthalten seien, abgelehnt (Br-uer, Bischof, 470). Vgl. den unvollständigen und in der Akte zum 5.3. 1962 eingereihten „Entwurf“ des Memorandums (LKA Eisenach, R 108–5, unfol. 4 S.). 88 O. V., Wehrpflicht, 201–207. Dieser Beitrag wurde als Antwort der Regierung auf die kirchlichen Vorstellungen gedeutet. 89 Abgedruckt wurde Mitzenheims 73. Rundbrief in: Kirche in der Zeit 23 (10.7.) 1962, 410–413; KJ 89 (1962), 199–201. Vgl. hierzu Br-uer, Bischof, 463 f., 477. 90 Vgl. zum Folgenden Bjçrkman, Lebensraum, 278. 91 Vgl. „Entwurf“ des Memorandums (LKA Eisenach, R 108–5, unfol., Bl. 4): „Wir erlauben uns die Anregung, es möge geprüft werden, ob nicht im Rahmen der bestehenden Gesetze ein Weg gefunden werden könnte, diese Christen unter Freistellung vom Waffendienst zu einem anderen Dienst, der gleichfalls der Stärkung der Republik dient, heranzuziehen.“ – Im Memorandum, ebd., Bl. 6: „Wir bitten Sie […] Wege zu finden, um Kriegsdienstverweigerern aus Glaubensund Gewissensgründen durch die zuständigen Organe der Deutschen Demokratischen Repu-

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Auf die vorgetragenen Punkte habe Willi Stoph als amtierender Vorsitzender des Ministerrates umfänglich geantwortet und wenige Tage später in der „Neuen Zeit“ die wesentlichen Aussagen veröffentlicht92. Mitzenheim hebt hervor, dass diese Ausführungen „grundsätzliche Bedeutung“ haben und skizziert sie wie folgt93 : 1. Zusicherung des Grundrechts auf Glaubens- und Gewissensfreiheit und freie Religionsausübung gelte auch für die Soldaten. Allerdings könne in das militärische Leben während der Ausbildungszeit „niemand eingreifen“. 2. Der Fahneneid der Nationalen Volksarmee sei ein „betont weltlicher Eid “. Er fordere von den Soldaten „weder religiöse noch antireligiöse Bekenntnisse“ 3. Der Staat wisse zu unterscheiden zwischen „einer pazifistischen Grundhaltung aus echter religiöser Gewissensüberzeugung“ und einem „Pazifismus, der aus einer politischen Antihaltung herrühre und böswillig dazu mißbraucht werde, um die Verteidigungsmaßnahmen der DDR zu durchlöchern.“ Die Musterungskommissionen seien kompetent, diese Unterscheidung herauszufinden. 4. Zurückstellungen vom Grundwehrdienst sollten die Kirchen an die zuständigen Stellen richten94. Insgesamt blieben die staatlichen Zusagen vage und unkonkret. Mitzenheim schlussfolgerte hingegen für seine Pfarrer positiv : Schwerpunkt der kirchlichen Seelsorge solle nicht die Kriegsdienstverweigerung sein, sondern die Begleitung der jungen Wehrpflichtigen in den Kasernen. Der Fahneneid stelle kein weltanschauliches oder gar atheistisches Bekenntnis dar. Bei jungen Leuten, die den Wehrdienst aus Gewissensgründen verweigern wollten, sollten die Motive „im Lichte des Evangeliums“ geprüft werden. Wenn – und hier folgt Mitzenheim dem DDR-Regime – ein „echtes Gewissensanliegen“ und nicht eine „politische Antihaltung“ vorliege, müsse der jungen Mann „mit aller Deutlichkeit“ auf die Folgen des Gesetzes, d. h. Haft und Repressionen, hingewiesen werden. Die Kirche sei zwar fürsprechend bereit für sie einzutreten, verfüge aber nicht über Machtmittel, „die Kriegsdienstverweigerer vor Rechtsfolgen zu schützen“. Wichtig sei es auch für Verweigerer, an der Musterung teilzunehmen und die Motive bei der Musterungskommission vorzutragen. Die staatlichen Äußerungen problematisierte Mitzenheim mit keiner Silbe, sondern folgte bis in den Wortlaut hinein der Argumentation Stophs. Auf einer außerordentlichen Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der DDR am 19. März war über das Gespräch beraten und beschlossen worden, die Pfarrer über den Inhalt des Gespräches zwar zu informieren, den Text des Memorandums aber nicht zu veröffentlichen95. Auch wenn die übrigen ostdeutschen Landeskirchen das Memorandum ihren Pfarrern nach und

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blik einen irgendwie gearteten gesetzlichen Schutz zu gewähren und die Möglichkeit eines anders gearteten Dienstes zu eröffnen.“ Vgl. O. V., Wehrpflicht, 201–207. Dem Rundbrief gab Mitzenheim als „Material“ diesen bei Bjçrkman, Lebensraum, nicht mit abgedrucktem Artikel bei. Ebd., 279. Die folgenden Zitate ebd. Vgl. ebd., 280. Vgl. KJ 89 (1962), 199; Br-uer, Bischof, 476 f.; Eisenfeld / Schicketanz, Bausoldaten, 46 f.

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nach zugänglich machten, weigerte sich Mitzenheim, seiner Pfarrerschaft dieses gegenüber seinen Ausführungen deutlich staatskritischere Memorandum zukommen zu lassen, so dass er auch in dieser Sache den Thüringer Sonderweg beschritt96. In der Thüringer Pfarrerschaft schürte das Vorgehen neue Skepsis. 3.2 Kritik der Thüringer Landessynode an der Kirchenleitung im Frühjahr 1962 Wie aus der Diskussion auf der anschließenden Landessynode hervorgeht, die vom 2. bis 4. Mai 1962 tagte, war ein Teil der Synodalen mit der Haltung der Eisenacher Kirchenleitung zur Wehrpflicht und Kriegsdienstverweigerung nicht zufrieden. Die Superintendentur Kahla hatte am 16. April eine Eingabe an die Synode gemacht, in der die unterzeichnenden Pfarrer ihre Sorge ausdrückten, die Kirche könne ihr „Hüter- und Wächteramt nicht genügend ausüben“97. Stattdessen forderten sie eine offizielle Eingabe an die DDR-Regierung, gesetzlichen Schutz für diejenigen zu gewähren, die aus Gewissensgründen den Wehrdienst verweigerten. Zudem sollten nicht nur „religiöse“, sondern auch „humanitär-moralische“ Gewissensgründe gelten. Außerdem solle die Kirche „ohne Menschenfurcht“ bereit sein, für die „in ihrem Gewissen Bedrängten mahnend und helfend einzustehen.“ Schließlich plädierten sie dafür, einen synodalen Arbeitsausschuss zu Fragen des Wehrdienstes im Zeitalter der Massenvernichtungswaffen einzusetzen. Auch wenn die meisten Forderungen durch Mitzenheim, Braecklein und Lotz in der Synodaldebatte auf die Linie der Kirchenleitung gebracht wurden – die Forderung nach einem synodalen Arbeitsausschuss wurde mit Verweis auf einen bereits bestehenden Ausschuss der VELKD (den sog. Systematischen Ausschuss) abgelehnt – sprach sich die Synode dafür aus, das kirchliche Memorandum vom 12. März zumindest an die Superintendenten weiterzuleiten98. Die Synode zeigte sich gegenüber der Kirchenleitung misstrauisch, weil vermutet wurde, wichtige Aspekte des Memorandums seien der Pfar96 Dass Mitzenheim Krummacher als Vorsitzender der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen absetzen wollte und gegen ihn in jenen Monaten agierte, ist ein eigenes Thema und kann im Rahmen dieser Studie nicht ausgeführt werden. Vgl. Br-uer, Bischof, 477–480. 97 Eingabe an die Synode von Superintendentur Kahla, 16.4. 1962 (LKA Eisenach, R 108–5, unfol., 1 S. mit Anhang). Die folgenden Zitate ebd. 98 Auszug aus der Niederschrift über die Synode vom 2.–4.5. 1962 (LKA Eisenach, R 108–5, unfol., Anlage 7). Folgende Beschlüsse tätigte die Synode: „1. Der Landeskirchenrat wird gebeten, wie bisher für alle Kriegsdienstverweigerer einzutreten, die ernste Glaubens- und Gewissensgründe nennen. 2. Der Landeskirchenrat wird gebeten, die Frage zu prüfen, ob die Eingabe der Bischöfe in der DDR an die Regierungsstellen vom 12. 3. 62 den Superintendenten zugänglich gemacht werden soll. 3. Der Landeskirchenrat wird gebeten, das in seinen Händen befindliche Material über Wehrdienstfragen dem bereits bestehenden gemeinsamen Ausschuß der VELKD in der DDR zuzuleiten“ (ebd.).

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rerschaft vorenthalten worden99. Nicht nur hinsichtlich der Anregung eines Ersatzdienstes traf dies zu. Dass der Landeskirchenrat der Weiterleitung des Memorandums nur widerwillig und auf Druck der Synode nachkam, wird an dem Hinauszögern des Superintendentenbriefes deutlich. Erst in einem auf den 18. Juli 1962 datierten Schreiben wurde den Superintendenten das Memorandum schließlich zugeleitet100. Für die fehlende Vervielfältigung an die Pfarrerschaft sei Papierknappheit die Ursache – eine Ausrede, wie aus Lotz‘ „Aktenvermerk“ vom 3. Juli 1962 hervorgeht101. Insgesamt blieb die Kritik zahlreicher Pfarrer an einem weiterhin fehlenden klaren Wort für die Gemeinden zur Wehrpflicht bestehen. 3.3 Die Rundbriefe des Landesbischofs zur Wehrpflicht seit 1963 Seine Kritiker suchte Mitzenheim mit Erfolgen zu widerlegen, die er auf seinen staatsnahen Kurs zurückführte. So hob er beispielsweise im Rundbrief vom 4. Februar 1963 die Bedeutung des Gesprächs mit der Regierung über Wehrdienstfragen vom 12. März 1962 hervor und stellte (allerdings unkonkret) fest: Wie auf der Bischofskonferenz in Berlin und in der letzten sächsischen Synode hervorgehoben, wirke das Gespräch sich „günstig aus“. Unverbunden ergänzte Mitzenheim sodann: Er bitte die Pfarrer, „sich der jungen Männer im Wehrdienst während ihres Heimaturlaubs anzunehmen.“102 Keine Erwähnung in Mitzenheims Rundbriefen – vielmehr eine deutliche Distanzierung durch ihn – erfuhren die „Zehn Artikel über Freiheit und Dienst der Kirche“, welche die Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der DDR am 8. März 1963 angenommen hatte. Unmissverständlich wurde dort in Artikel V betont: „Die Kirche setzt sich für den gesetzlichen Schutz der Wehrdienstverweigerer aus Glaubens- und Gewissensgründen ein, wie sie auch für ihre Glieder, die Soldaten werden, den Auftrag zur Seelsorge behält.“103 Es fällt auf, dass Mitzenheim in seinen Rundbriefen über die Einführung des Bausoldatendienstes in der Nationalen Volksarmee 1964 schwieg104. In den konsultierten Akten finden sich Hinweise auf die Thematik erst im Rahmen eines Gespräches mit Oberstleutnant Hermann von der NVA Erfurt am 19. Oktober 1964, in dem es um Rückstellungsgesuche zweier Theologiestudenten ging. In der „Niederschrift des Gespräches“ zeigten sich Mitzenheim 99 Vgl. Aktenvermerk [Lotz]: Durchführung eines Synodalbeschlusses, 3.7. 1962 (LKA Eisenach, R 108–5, unfol.). 100 Vgl. An die Superintendenten, 18.7. 1962 (LKA Eisenach, R 108–5, unfol., 5 S.). 101 Vgl. Aktenvermerk [Lotz]: Durchführung eines Synodalbeschlusses, 3.7. 1962 (LKA Eisenach, R 108–5, unfol.). 102 Bjçrkman, Lebensraum, 295–298, hier 297 (77. Rundbrief, 4.2. 1963). 103 Zehn Artikel, 183. Zu den „Zehn Artikeln“ vgl. KJ 90 (1963), 186–198; Neubert, Geschichte, 188; Mau, Protestantismus, 82–84. 104 Zur Entstehung des Bausoldatentums vgl. Eisenfeld / Schicketanz, Bausoldaten, 58–80.

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und Lotz „dankbar“ für die „grundsätzliche Regelung des Wehrersatzdienstes“105 und betonten, „nicht automatisch jedes Gesuch“ um Rückstellung zu befürworten, „sondern entsprechend individuell kritisch“ zu sichten. Grundsätzlich seien sie der Ansicht, „daß ein Dienst, sei es ein kurzfristiger Dienst mit oder ohne Waffe, ohne weiteres in diesem Baubataillon geleistet werden könne“. Durch Pfarrermangel und Überlastung seien individuelle Gesuche um Rückstellung allerdings notwendig106. Derselben Akte der Rechtsabteilung im Landeskirchenamt war der Zeitungsausschnitt „Was sind Bausoldaten?“ aus dem „Neuen Deutschland“ vom 26. November 1964 beigelegt107. Dieser Artikel berichtete erstmals öffentlich über die neue Form des waffenlosen Wehrdienstes und dürfte auch dem Landeskirchenamt in Eisenach erstmals als ausführlichere Information gedient haben. Anhand der Akten des Landeskirchenarchivs Eisenach lässt sich zudem nicht belegen, dass Mitzenheim sich zuvor für einen Ersatzdienst wie den Bausoldatendienst eingesetzt hatte108. Es dauerte über ein Jahr, ehe Mitzenheim erneut zum Wehrdienst Stellung nahm. Veranlasst durch die von der Thüringer Landeskirche abgelehnte, von der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der DDR aber explizit unterstützte Handreichung „Zum Friedensdienst der Kirche“ vom November 1965, die als Hilfe zur Seelsorge an Wehrpflichtigen gedacht war109, bezog Mitzenheim im Rundbrief vom 1. Dezember 1965, jetzt betont als Seelsorger, Stellung. Die Handreichung erwähnte er mit keinem Wort, so dass der Rundbrief als Mitzenheims pastorale Antwort auf die Handreichung zu verstehen ist: „Unsere jungen wehrpflichtigen Männer haben Anspruch auf Trost aus Gottes Wort, gleichgültig ob sie sich für den Dienst mit der Waffe entscheiden, ob sie den waffenlosen Dienst in einem Baubataillon wählen oder ob sie meinen, aus christlicher Gewissensbindung auch den Dienst in den Baueinheiten oder die Durchführung einzelner Befehle in solchen Baueinheiten verweigern zu müssen. Ich weiß, daß gerade diese Aufgabe ungeheuer schwierig für Sie ist. Es ist auch nicht möglich, Ihnen vertypte seelsorgerliche Anweisungen an die Hand zu geben. Jeder Fall liegt anders. Nur einen Gedanken bitte ich Sie mit mir zu bedenken: Nicht ob und welche Uniform der junge Mensch trägt, ist entscheidend. Gott sieht das Herz an. Christus will zu allen kommen, zu dem jungen Mann i[m] Waffen-

105 Niederschrift vom Gespräch Mitzenheim, Lotz und Hermann, Eisenach, 19.10. 1964 (LKA Eisenach, R 108–13, unfol.). 106 Ebd. 107 Ebd. 108 Vgl. Eisenfeld / Schicketanz, Bausoldaten, 47 f. 109 Vgl. zu der Handreichung und ihrer Geschichte: Neubert, Geschichte, 188–190; Scheffler, Friedensdienst; Eisenfeld / Schicketanz, Bausoldaten, 87–105. Abgedruckt findet sie sich unter KJ 93 (1966), 249–261.

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rock, zu dem in der Bausoldatenuniform und zum absoluten Wehrdienstverweigerer im Sträflingskittel.“110

Mitzenheim erwähnte in diesem Schreiben immerhin Wehrdienst, Bausoldateneinsatz und Totalverweigerung nebeneinander, indem er die pastoralseelsorgerliche Dimension kirchlichen Handelns an allen drei Personengruppen akzentuierte. In den Rundbriefen war es Mitzenheims erstes und letztes Wort zum Thema Bausoldatendienst. 3.4 Individueller Einspruch und innerkirchliche Verhinderungsstrategie Mit der Umsetzung der Wehrpflicht, der Musterung und Einberufung zum Militärdienst, wurden die Probleme in der Folge namentlich greifbar. Eines der Hauptthemen für die evangelischen Landeskirchen war die Rückstellung vom Grundwehrdienst für junge Männer, die in der kirchlichen Ausbildung waren. Auch die Thüringer Landeskirche befasste sich mit der Thematik seit Mitte Februar 1962, erarbeitete Rückstellungsformulare und unterstützte in der Regel die Anträge111. Angesiedelt war die für Theologiestudenten, Diakonen-, Katecheten- und Kantorkatechenschüler entscheidende Aufgabe in Lotz’ Rechtsabteilung, in der jeder einzelne Fall dokumentiert wurde112. Im Laufe der 1960er Jahren entwickelte sich die Praxis, die von den kirchlichen Institutionen erstellten Rückstellungsgesuche eines Jahrganges gebündelt einzureichen – oft vor der eigentlich anstehenden Einberufung der jungen Männer. Gleichzeitig finden sich in den Akten der frühen 1960er Jahre auch wehrdienstkritische Stimmen aus der evangelischen Kirche, die man jedoch seitens des Landeskirchenrates lediglich zur Kenntnis nahm. Beispielsweise blieb so eine Eingabe von Schülern der Predigerschule Paulinum in Berlin erhalten, in der das Eintreten für einen echten Ersatzdienst gefordert wurde113. Eine Antwort aus dem Landeskirchenamt ist in den Akten nicht dokumentiert. 110 Bjçrkman, Lebensraum, 311–315, hier 314 f. (81. Rundbrief, 1.12. 1965). In der Handreichung (KJ 93, 256) wurde hingegen festgestellt: „Es wird nicht gesagt werden können, daß das Friedenszeugnis der Kirche in allen drei der heute in der DDR gefällten Entscheidungen junger Christen in gleicher Deutlichkeit Gestalt angenommen hat. Vielmehr geben die Verweigerer, die im Straflager für ihren Gehorsam mit persönlichem Freiheitsverlust leidend bezahlen[,] und auch die Bausoldaten, welche die Last nicht abreißender Gewissensfragen und Situationsentscheidungen übernehmen, ein deutlicheres Zeugnis des gegenwärtigen Friedensgebots unseres Herrn. Aus ihrem Tun redet die Freiheit der Christen von den politischen Zwängen. Es bezeugt den wirklichen und wirksamen Friedensbund Gottes mitten unter uns.“ 111 Ausgelöst wurden die Aktivitäten im Landeskirchenamt durch ein Schreiben des Theologischen Seminars der Ev.-Luth. Mission zu Leipzig an den Landeskirchenrat zwecks Rückstellung der Studierenden vom Wehrdienst. Vgl. Brief Theologisches Seminar Leipzig an Landeskirchenrat, Leipzig 6.2. 1962 (LKA Eisenach, R 108–5, unfol.). 112 Vgl. ebd. 113 Brief der Schülerschaft der Predigerschule Paulinum Berlin an Landeskirchenrat der ELKTh,

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Anders sah es mit Einzelfällen aus, wie zwei unterschiedliche Beispiele verdeutlichen, in denen Mitzenheim gegen repressive Maßnahmen des Militärs protestierte. Der Kirchenmusikschüler Roland P. (Jahrgang 1942) hatte erfolgreich ein Rückstellungsgesuch vom Grundwehrdienst für die Zeit seiner Ausbildung gestellt, war dann aber am 28. September 1962 zum Wehrkreiskommando in Saalfeld vorgeladen worden. Dort hatte man ohne nähere Erläuterung eine Unterschrift von ihm verlangt und ihn nach eigenen Angaben „in einem sehr gewaltsamen Ton“ eingeschüchtert114. Mit der Frage, wie er in Zukunft darauf reagieren solle, hatte er sich Anfang Oktober unter Schilderung der Repression an seine Ausbildungsstätte, die Kirchenmusikschule Eisenach, gewandt115. Diese leitete den Fall an den Landesbischof weiter, der in einem Schreiben am 6. Oktober 1962 von dem Wehrkreiskommando der NVA in Saalfeld Aufklärung verlangte, gegen die praktizierte Methode Protest einlegte und eine Kopie des Schreibens an den Staatssekretär für Kirchenfragen schickte116. Das Wehrbezirkskommando Gera antwortete im ebenso scharfen Ton am 29. Oktober, der Wehrpflichtige P. habe nur eine Unterschrift zum Erhalt der Rückstellungsbescheinigung leisten sollen, daraufhin aber „Einsichtnahme in die Gesamtheit der Unterlagen“ gefordert, was nicht statthaft sei117. Von Gewaltanwendung und Nötigung sowie einer speziellen „Methode“ könne keine Rede sein, vielmehr habe der Wehrpflichtige die Unwahrheit gesagt und zudem die Änderung seines Wohnsitzes bei der Behörde nicht gemeldet. Gleichzeitig wird der Landesbischof kritisiert, sich nicht zuvor nach dem „tatsächlichen Sachverhalt“ erkundigt zu haben118. Daraufhin wurde der Wehrpflichtige zum Vorsprechen vom Landesbischof am 20. November nach Eisenach geladen, wo seine Aussage protokolliert und unterzeichnet wurde119. Wenige Tage später antwortete Oberkirchenrat Lotz dem Chef des Wehrbezirkskommandos in Gera, dass sie den Wehrpflichtigen

114 115 116 117 118 119

Berlin 12.3. 1962 (LKA Eisenach, R 108–5, unfol.); Eingabe der Schülerschaft der Predigerschule Paulinum an die Synode der Ev. Kirche Berlin-Brandenburg, Berlin 1.3. 1962. In: ebd. – Aufgrund ihres friedensethischen Engagements wurden diese jungen Männer in den kommenden Jahren in besonderer Weise durch das Ministerium für Staatssicherheit im OV „Wehrdienstverweigerer“ überwacht. Vgl. die umfangreiche Dokumentation (BArch, MfS, AOP 7076/65, 3 Bde). Brief Roland P. an Kirchenmusikschule Eisenach, Steinach, 2.10. 1962 (LKA Eisenach, R 108–5, unfol., 2 S.). Ebd. Brief Landesbischof Mitzenheim an Wehrkreiskommando der NVA in Saalfeld, Eisenach, 6.10. 1962 (ebd.); Abschrift an Staatssekretär Hans Seigewasser, Eisenach, 6.10. 1962 (ebd.). Brief Chef des Wehrbezirkskommandos der NVA in Gera Major Menzel an Landesbischof Mitzenheim, Gera, 29.10. 1962 (ebd., 2 S.). Ebd. Vgl. Brief Landeskirchenamt an Roland P., Eisenach, 5.11. 1962 (LKA Eisenach, R 108–5, unfol.); Niederschrift Gespräch Roland P., Eisenach, 20.11. 1962 (ebd.); Brief Lotz an Wehrbezirkskommando der NVA Gera, Eisenach, 20.11. 1962 (ebd.).

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P. vorgeladen und zur Sache verhört hätten120. Dieser habe seine Aussage korrigiert, den Vorwurf, nicht aufgeklärt worden zu sein, aber aufrechterhalten. Lotz formulierte dann: „Wir bedauern, daß wir auf Grund der unrichtigen Sachdarstellung im ersten Schreiben des Wehrpflichtigen P[…]. uns beschwerdeführend an das Wehrkreiskommando der Nationalen Volksarmee gewandt haben. Wir nehmen dieses Beschwerdeschreiben hiermit offiziell zurück und bitten um Entschuldigung. Dem Praktikanten Roland P[…]. haben wir eine förmliche dienstliche Rüge seiner falschen Sachdarstellung wegen schriftlich eröffnet.“121

Während Mitzenheim sich für den Kirchenmusikerschüler eingesetzt hatte, gab Lotz nach NVA-Schreiben und „Verhör“ der staatlichen Seite Recht und kritisierte im Disziplinarschreiben an P., er habe den Landesbischof „in die üble Lage gebracht“, „daß er sich nun beim Chef des Wehrbezirkskommandos Gera entschuldigen“ müsse122. In manchen Fällen setzte sich der Landesbischof jedoch auch positiv für junge Männer ein, die in der NVA in Hinblick auf ihren Glauben bzw. ihre religiöse Praxis diskriminiert wurden. Am 17. Dezember 1963 wandte sich der Gefreite Manfred K., stationiert in Jena, an den Landesbischof mit der Bitte, die Teilnahme am Gottesdienst in Jena zu ermöglichen. Durch den erst ab 10 Uhr gewährten Sonntagsausgang sei dies verunmöglicht123. Mitzenheim schrieb umgehend am 24. Dezember 1963 an den Staatssekretär für Kirchenfragen in Berlin mit Bitte um „unbürokratische Regelung“ und erinnerte den Staat an dessen Zusicherungen im Rahmen des Gesprächs vom 12. März 1962124. Am selben Tag antwortete Mitzenheim auch dem Soldaten, den er für sein kirchliches Engagement lobte125. Zwei Monate später bedankte sich der Gefreite beim Landesbischof, weil dessen Einspruch erfolgreich gewesen sei und er nun sonntags den Gottesdienst besuchen könne126. Umgehend dankte Mitzenheim wiederum dem Staatssekretär für dessen Engagement127. Weitaus strittiger waren die nicht geklärten Fragen um den Bausoldatendienst, die auf landeskirchlicher Ebene unbeantwortet blieben, aber in einzelnen Gemeindeveranstaltung zu friedensbezogenen Themen, von Jugend120 Vgl. Brief Lotz an Chef des Wehrbezirkskommandos der NVA Gera, Eisenach, 28.11. 1962 (ebd.); Abschrift an Staatssekretär für Kirchenfragen, Eisenach, 28.11. 1962 (ebd.). 121 Ebd. 122 Brief Lotz an Roland P., Eisenach, 28.11. 1962 (ebd.). 123 Vgl. Brief Manfred K. an Landesbischof Mitzenheim, Jena, 17.12. 1963 (LKA Eisenach, R 108–13, unfol., 2 S.). 124 Brief Landesbischof Mitzenheim an Staatssekretär für Kirchenfragen, Eisenach, 24.12. 1963 (ebd.). Hans Seigewasser leitete das Schreiben an die entsprechenden Stellen weiter: Brief Staatssekretär für Kirchenfragen an Landesbischof Mitzenheim, Berlin, 6.1. 1964 (ebd.). 125 Vgl. Brief Landesbischof Mitzenheim an Manfred K., Eisenach, 24.12. 1963 (ebd.). 126 Vgl. Brief Manfred K. an Landesbischof Mitzenheim, Jena, 24.2. 1964 (ebd.). 127 Vgl. Brief Landesbischof Mitzenheim an Staatsssekretär für Kirchenfragen, Eisenach, 28.2. 1964 (ebd.).

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pfarrern und -diakonen sowie in der Jungen Gemeinde diskutiert wurden. Erst als die Kreisjugendpfarrer Wolfgang Schenk (Hirschberg) und Ehrhard Voigt (Gotha) für Anfang Februar 1965 um einen Termin beim Landesbischof baten128, kam etwas Bewegung in die Sache. Bei dem Treffen am 3. Februar 1965, an dem neben Mitzenheim der auch für die Jugendpfarrer zuständige Oberkirchenrat Braecklein teilnahm, überreichten sie dem Bischof den einseitigen Text „Unser christliches Friedenszeugnis und die Wehrersatzdienstordnung“129. Hierin wurde die Einrichtung der Baueinheiten als im Rahmen „der konventionellen Vorstellungen“ bleibend kritisiert und die fehlende Überwindung des Freund-Feind-Schemas bemängelt. Vielmehr forderten die Autoren um Schenk und Voigt einen „echten Wehrersatzdienst“, der „weder strategisch noch taktisch militärischen Gesichtspunkten untergeordnet sein dürfe.“130 Seinem Wesen nach müsse er zivil sein und einen nichtmilitärischen Charakter z. B. ohne Fahneneid oder Gelöbnis haben131. Wie Mitzenheim in dem Gespräch reagierte, wird aus den Akten nicht deutlich. Jedenfalls wurde in der kommenden Sitzung des Landeskirchenrates am 4. März die Eingabe zur Kenntnis gegeben und kritisch diskutiert, ohne allerdings ein Ergebnis zu notieren132. Parallel zu diesem Vorgang traf bei Landesbischof Mitzenheim ein Schreiben im Auftrag von Bischof Johannes Jänicke aus der Kirchenprovinz Sachsen ein, in dem über die Einrichtung des von der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der DDR beschlossenen „Arbeitskreis für Wehrdienstfragen“ berichtet wurde133. Aus dem Gebiet der Thüringer Landeskirche sei Wolfgang Schenk für die Arbeit gewonnen worden134. Es folgte ein dienstlich-scharfer Briefwechsel zwischen Peter Schicketanz, dem persönlichen Referenten des Magdeburger Bischofs, und Oberkirchenrat Braecklein, in dem die unterschiedlichen Auffassungen über die kirchenamtliche Bedeutung des Arbeitskreises in exponierter Weise aufeinandertrafen135. Braecklein stellte dabei fest, dass Schenk eine eigene Stellung zum Wehrdienst vertrete, die nicht der Stellung des Gesamt-Landeskirchenrats und der Gesamt-Pfarrerschaft der Thüringer Kirche entspreche136. Wie die Personalie Schenk verdeutlicht, waren die Haltungen in Fragen des 128 Vgl. Brief Wolfgang Schenk an Landeskirchenrat der ELKTh, Hirschberg, 12.1. 1965 (ebd.); Brief Landeskirchenrat an Wolfgang Schenk, Eisenach, 20.1. 1965 (ebd.). 129 Unser christliches Friedenszeugnis (LKA Eisenach, R 108–13, unfol.). 130 Ebd. 131 Vgl. ebd. 132 Vgl. Brief Landeskirchenrat an Pfarrer Schenk, Eisenach, 5.3. 1965. In: ebd.; Protokollauszug über die LKR-Sitzung vom 4.3. 1965 zu „Christliches Friedenszeugnis und Wehrersatzdienstanordnung (ebd.). 133 Vgl. Brief Ev. Bischof der KPS, Propst Heinz Fleischhack, an Landesbischof Mitzenheim, Magdeburg, 11.2. 1965 (ebd.). 134 Vgl. ebd. 135 Vgl. Brief Peter Schicketanz an Landesbischof Mitzenheim, Magdeburg, 4.5. 1965 (ebd.). 136 Vgl. Brief Braecklein an Pfarrer Schicketanz, Eisenach, 16.3. 1965 (ebd.).

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Staats-Kirche-Verhältnisses und in Wehrdienstfragen zwischen der Kirchenprovinz Sachsen und der Evangelisch-lutherischen Kirche in Thüringen mit ihrem „Thüringer Weg“ signifikant verschieden. Schenk ließ sich trotz des mangelnden Rückhalts aus seiner Landeskirche nicht davon abhalten, im Arbeitskreis mitzuarbeiten. So wurde der Thüringer Pfarrer einer der Mitverfasser der Handreichung „Zum Friedensdienst der Kirche“, die für die Seelsorge an Wehrpflichtigen bestimmt war. In der Thüringer Landeskirche wurde die Verbreitung und Aushändigung dieser Handreichung den Pfarrkonventen durch den Landeskirchenrat untersagt137. Damit versuchte die Eisenacher Kirchenleitung, die Diskurse um eines der bedeutendsten Dokumente der evangelischen Kirche der DDR in den 1960er Jahren zu verhindern.

4. Resümee Der „Thüringer Weg“ war auch in den Fragen des Wehrdienstes und der Kriegsdienstverweigerung für die Thüringer Landeskirche charakteristisch. Sowohl innerhalb der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen vertraten die Thüringer Vertreter jenen staatsnahen Sonderweg, der letztlich dazu führte, Mitzenheim 1962 in der Stellvertretung des Vorsitzes abzulösen, als auch innerhalb der eigenen Landeskirche, indem sie gegenüber Synode und kirchlichen Gruppen Verlautbarungen zum Wehrdienst und Ersatzdienst, die von der Konferenz der Ostkirchenleitungen gebilligt worden waren, nur unwillig und auf Druck weitergaben. Wie bei anderen politischen Äußerungen in den 1960er Jahren vertraute Mitzenheim auch in dieser Sache auf Lotz, während der Landesbischof in seinen theologischen, pastoralen und seelsorgerlichen Äußerungen eigenständig blieb. Den Wehrdienst bejahte Mitzenheim grundsätzlich. Um aber die kirchliche Nachwuchsgewinnung zu gewährleisten, unterstützte er zahlreiche Rückstellungsgesuche, die für die in der kirchlichen und theologischen Ausbildung befindlichen Wehrpflichtigen gestellt wurden. Wie das Beispiel von Diskriminierung bei Manfred K. zeigt, setzte sich der Landesbischof für Christen in der NVA ein, die an der Ausübung ihres Glaubens gehindert wurden. Hier sah Mitzenheim ebenso eine rote Linie überschritten, wie bei der erfahrenen Repression von Roland P. Allerdings folgte er oder mehr noch Lotz in diesem Fall der staatlichen Darstellung und ließ P. eine disziplinarische Rüge erteilen, womit der Kirchenmusikschüler in gewisser Weise jetzt durch seine Kirche Repression erfuhr. Bei der Thematik rund um die Kriegsdienstverweigerung warnte Mitzenheim vor Repression und Diskriminierung, die er von Gesetz wegen nicht verhindern könne, sollten junge Männer den Wehrdienst verweigern und 137 Vgl. Eisenfeld / Schicketanz, Bausoldaten, 93, 99.

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keinen Bausoldatendienst als Ersatzdienst leisten wollen. Noch pointierter war die Entsolidarisierung der Eisenacher Kirchenleitung mit Pfarrern wie Schenk und Voigt, die sich kritisch zur Wehrpflicht äußerten. Sie erhielten keinen institutionellen Rückhalt für ihre Position, sondern handelten auf eigenes Risiko. Dass die Stasi über die Vorgänge bestens unterrichtet war und nicht nur die beiden kritischen Pfarrer ins Visier nahm, war vornehmlich auf die Berichterstattung von Lotz und Braecklein zurückzuführen. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn im Rahmen der Netzwerkbildungen von Wehrdienstverweigerern, die vom ersten Jahrgang der Bausoldaten in Prenzlau um Christfried Berger initiiert wurden, die Empfehlung gegeben wurde: „Nicht dem LKA melden!“138. Skepsis und Zurückhaltung gegenüber der Eisenacher Kirchenleitung bestimmten seit 1965/66 den Diskurs über die Wehrpflicht in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen.

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Jörg Seiler

Diskriminierung katholischer Christen in der DDR in den 1960er Jahren

1. Einleitung Die katholische Kirche als Institution, also die Amtskirche, war in den 1960er Jahren keinem Kirchenkampf, wie wir ihn in anderen Ländern des Ostblocks kennen, ausgesetzt. Die institutionelle „Diskriminierung“ war vornehmlich ein staatlicher Zugriff sowohl kollektiver als auch individueller Akteure auf die einzelnen Gläubigen, ihre Familien oder auf die Mesoebene einer pfarrlich organisierten Gruppe (etwa einer Studentengemeinde oder einer Jugendgruppe). Was bislang in der Forschung nicht thematisiert wurde, sei hier als These formuliert: Innerhalb der katholischen Kirche stand den Gläubigen ein Resonanzraum zur Verfügung, um individuelle Diskriminierung als erfahrenes Unrecht zu artikulieren. Der Resonanzraum schafft hierbei Hörbarkeit – bis heute. Diese Erfahrung stellt ein Narrativ dar, von dem aus mehrheitlich „Katholischsein in der DDR“ erzählt wird. Repräsentanten der Amtskirche waren ihrerseits Sprachrohre, um diese Erfahrungen gegenüber dem Staat zum Thema zu machen oder um nach innen, in die Kirche hinein, die Sicherheit zu geben, dass die Erfahrungen weitergegeben werden1. Von daher spiegeln die überlieferten amtskirchlichen Quellen auch individuelle Erfahrungen, ohne jedoch hinreichend Aussagen über jenes „ganz normale Leben“2 zu treffen, das natürlich auch für Katholikinnen und Katholiken in der DDR anzunehmen ist. Dieses „ganz normale Leben“ wird umso weniger sichtbar, als die amtskirchlichen Akteure ihrerseits Druck auf die Gläubigen ausübten, der nicht nur von der bedrückenden Situation kirchlichen Lebens in der DDR herrührte, sondern auch aus einer grundsätzlichen Frustration über Transformationsprozesse der Moderne gespeist wurde. Im Katholizismus der DDR verliefen sie zwar anders als in der westdeutschen Kirche, doch wurden sie 1 Im ersten Hirtenwort nach dem Mauerbau formulieren die Jurisdiktionsträger das zugrundeliegende Modell: „Laßt euch versichern, daß alles, was euch bedrückt, von uns [i. e. den Bischöfen / Jurisdiktionsträgern] – miterlitten wird […] Wir brauchen nicht zu schildern, was ihr erlebt und was wir unmittelbar miterleben“ (Hirtenbrief 29.10. 1961. In: Hçllen, Distanz 2, 293 f.) Semantisch werden hier Erfahrungsebenen von Bischöfen und Gläubigen unterschieden und zugleich zueinander in Beziehung gesetzt. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass schmerzhafte Erfahrungen der Gläubigen amtskirchlich (öffentlich oder auf dem Weg einer Eingabe) reformuliert werden können. 2 Vgl. Fulbrook, Leben.

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unter demselben Label kirchlicherseits verhandelt, nämlich unter dem Aspekt der Kritik am Materialismus3. Allein diese wenigen Hinweise mögen genügen, um zu begründen, dass die Analyse von Diskriminierung und Diskriminierungserfahrungen alltagsgeschichtlich ansetzen und von dort her differenzierte Wirkungsräume, Akteure und Resonanzerwartungen darstellen und analysieren sollte. Wenn man unter Diskriminierung „Äußerungen und Handlungen“ versteht, „die sich in herabsetzender oder benachteiligender Absicht gegen Angehörige bestimmter sozialer Gruppen richten“, die zudem mittels „Benachteiligungen und Bevorzugungen“ konstruiert sind, so wurden Katholikinnen und Katholiken in der DDR in den 1960er Jahren und darüber hinaus diskriminiert4. Angehörige der katholischen Kirche, die im ideologisch-religionsfeindlich geprägten öffentlichen Raum der DDR ihren Glauben aktiv bekannten und hieraus gewisse oder gar bestimmende Entscheidungen und Handlungsoptionen ableiteten, waren repressiver Willkür ausgesetzt. Die neuere Diskriminierungsforschung betont, dass es mit handlungstheoretischen oder gruppenbezogenen Analysen diskriminierender Einstellungen und Handlungen allein nicht getan ist. Es gehe vielmehr auch darum, „gesellschaftsstrukturelle […], kulturelle […], institutionelle sowie organisatorische Bedingungen und Formen von Diskriminierung in den Blick“ zu nehmen. Es sei daher zu fragen nach dem „historischen und systematischen Zusammenhang von Positionierungen in gesellschaftlichen Macht- und Ungleichheitsverhältnissen mit Diskursen, Ideologien, Semantiken, die jeweilige Gruppenkonstruktionen veranlassen und ihnen Plausibilität verleihen – z. B. als Begründung und Legitimation von Privilegierungen und Benachteiligungen“. Außerdem sei zu fragen nach den „Strukturen, Prozessen und Praktiken, mit denen Diskriminierungen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilsystemen bzw. Teilbereichen hervorgebracht und reproduziert, oder aber in Frage gestellt und aufgebrochen werden.“5 Der vorliegende Beitrag versucht dieses komplexe Framing, das zum Verständnis von Diskriminierung wichtig ist, für die katholische Kirche darzustellen. Diskriminierung von Christen in der DDR wurde individuell erfahren, doch stehen kollektive Aushandlungsprozesse im Verhältnis von Kirchenleitung und SED-gelenkten staatlichen Verwaltungsstellen und machtausübenden Funktionsträgern im Hintergrund6. Sowohl individuell (Alltagserfahrungen der Gläubigen) als auch institutionell („Staat-Kirche“) sind Entfaltungs- und Lebensräume durch eine weltanschauliche Grenze beziehungsweise durch die weltanschaulich aufgeladene Gesellschaftswirklichkeit geprägt. Eine saubere Trennung dieser Felder 3 4 5 6

Vgl. hierzu ausführlich Seiler, Rintelen, 252–255 und neuerdings Brechenmacher, Sog, 83–85. Vgl. Hormel / Scherr, Diskriminierung, 7. Ebd., 11 f. Dass es um das Austarieren von Machtverhältnissen geht, zeigt etwa der Abschnitt „Kirche der Bedrängnis“ im Vortrag Döpfners über Lage und Sendung der Kirche (vor Nuntius Bafile), 19.9. 1960. In: Schulte-Umberg, Akten, 819 f.

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ist unmöglich. Das bedeutet, dass ein Komplex wie die Diskriminierung von Christen in der DDR nicht umfassend einzig mithilfe ereignisgeschichtlicher oder politikwissenschaftlicher Analysen, autobiographischer Erinnerungen oder Zeitzeugeninterviews interpretiert werden kann. Es bedarf eines multiperspektivischen Zugangs, der etwa diskursanalytische oder handlungstheoretische Verfahren gleichermaßen berücksichtigt, wie die bisher eher binnenkirchlich fokussierte kirchenhistorische Forschung7. Apologie ist fehl am Platze. Hieraus speisten sich die Debatten der jüngeren Zeit um die Prägnanz, Reichweite, Artikulierbarkeit und Anerkennung von Diskriminierungserfahrungen von Katholikinnen und Katholiken in der DDR.

2. Stand der bisherigen Forschung Josef Pilvousek benennt in seiner Rekonstruktion der Debatten 2016 bis 2018 in Thüringen wesentliche Aspekte, die für die Analyse von Diskriminierungserfahrungen wichtig sind. Auch er vertritt indirekt die Position, als hätten sich die Bereiche kirchlichen Lebens (institutionell wie individuell) und staatlichen Handelns weitgehend auseinanderhalten lassen. Ausgehend von Äußerungen Kardinal Bengschs sieht er als „Grundmuster“ und „kleinste[n] gemeinsame[n] Nenner der offiziellen katholischen Kirche in der DDR im Umgang mit Staat und Partei“ dies an: „Konfliktvermeidung bei gleichzeitigem nonkonformen Verhalten“.8 Ich selbst vertrete die Auffassung, dass bereits die Vorstellung von „Grundmustern“ noch nicht ausreichend einer gleichermaßen durch Pragmatik wie Ideologie und Grundüberzeugungen geprägten komplexen Akteursperspektive gerecht werden kann. Es geht also etwa darum, die Akteure von „Konflikt“ und „Konfliktvermeidung“ nicht einfach dichotom zu beschreiben, sondern in ihrer gegenseitigen Verwobenheit wahrzunehmen. Ähnliches gilt für „Nonkonformität“: Gläubige verhielten sich auch (!) weitgehend pragmatisch in ihrer sozialistischen Umwelt. Wenn bischöflicherseits vor allem im Umfeld des 2. Vatikanischen Konzils (1962–1965) immer wieder der „Weltauftrag der Christen“ angemahnt, dieser jedoch von „Engagement“ unterschieden wird, so ist dies ein Hinweis darauf, dass kirchlicherseits um differenzierte Akteurspragmatiken gerungen wurde 7 Einen exzellenten Interpretationsansatz liefert das Modell eines religiös-weltanschaulichen Feldes, das entwickelt wurde unter Weiterführung des Ansatzes von Pierre Bourdieu von Karstein, Konflikt. Eher diskursgeschichtlich ausgerichtet ist: Gretz, Katholizismus. An politik- und ereignisgeschichtlichen Überblicksdarstellungen für die 1960er Jahre ist weiterhin unverzichtbar: Sch-fer, Staat. Aus kirchengeschichtlicher Perspektive sei auf die gesammelten Aufsätze verwiesen von Pilvousek, Katholische Kirche. Neuere kirchenhistorische Ansätze loten die Möglichkeiten einer deutsch-deutschen Kirchengeschichte aus: Albrecht-Birkner, Freiheit; Seiler, Rintelen. Exzellent neuerdings auch: Brechenmacher, Sog. 8 Pilvousek, Gegenwind, 149.

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und dass es lohnenswert wäre, diese umfassend unter Berücksichtigung kollektiver und individueller staatlicher und kirchlicher Akteure zu beschreiben9. Als wesentliche Ergebnisse hält Pilvousek Folgendes fest, was ich jeweils um eigene Anmerkungen erweitern möchte10 : Ergebnis 1: Von einer Christenverfolgung „zum Zweck der physischen Vernichtung von Christen“ solle man für die DDR nicht sprechen. Dem ist ausdrücklich zuzustimmen. Denn auf die Phase einer scharfen antireligiösen und antikirchlichen Politik, wie sie für die 1950er Jahre typisch ist, folgte eine moderate staatliche Religionspolitik, die kirchlicherseits mit der Pragmatik einer „politischen Abstinenz“11, des „Darunterbleibens“12 und der Aufrechterhaltung eines konfliktarmen und segmentär kooperationsbereiten Status quo beantwortet wurde. Hierfür steht die lange Amtszeit des durchsetzungsstarken Berliner Bischofs und Vorsitzenden der Berliner Ordinarienkonferenz, Alfred Bengsch (1921–1979; seit 1959 Weihbischof, seit 1961 Bischof von Berlin)13. Doch selbst sein wesentlich konfrontativer agierender Vorgänger, Julius Döpfner (1913–1976, Bischof von Berlin 1957–1961)14, verband mit dem Begriffsfeld „Kampf“ und „kämpfen“ nicht die Vorstellung einer systematischen Christenverfolgung und in der Regel wohl auch nicht die Vorstellung eines Kirchenkampfes mit dem Ziel der Beseitigung kirchlichen Lebens. In seinem Lagebericht von Ende Januar 1961 analysierte er die „zutiefst aggressive Tendenz der kommunistisch verstandenen ,friedlichen Koexistenz‘“. Von außen betrachtet ergebe sich „der Eindruck einer gewissen Stille und Beruhigung, während eine genauere Betrachtung ergibt, daß allenthalben für die Glieder der Kirche die gleichen Bedrängnisse bestehen wie früher und daß auch der Kirche gegenüber die innere Kampfstellung des Systems keineswegs verändert ist“. Der „Kampf gegen die Religion“ gehe unter dem Stichwort „Mißbrauch der Religion durch den politischen Katholizismus“ unvermindert weiter. „Dabei sind durchaus Anzeichen vorhanden, daß der direkte Kampf gegen die Religion selbst zugunsten des indirekten Kampfes zurücktritt.“ Er 9 Zur Vermeidung des Begriffs „Engagement“ vgl. Protokoll der Berliner Ordinarienkonferenz 11./12.7. 1966: „die Konferenz kommt zu der Überzeugung, daß der mißverständliche Begriff ,Engagement‘ vermieden werden sollte. An seiner Stelle sollten die konziliaren Begriffe ,Präsenz des Christen in der Welt‘ oder ,Weltdienst des Christen‘ in der weiteren Diskussion verwendet werden.“ (Hçllen, Distanz 3, 18); vgl. NN., Zur Frage des Weltdienstes des Christen in unserer Situation. vgl. die Ordinarienkonferenz vom 2./3.1. 1967 (FKZ Erfurt, Sammlung P, Ordinarienkonferenz 1962). 10 Vgl. Pilvousek, Gegenwind; vgl. Ders., Widerstand. 11 Haese, Kirche. 12 Lagebericht Bengschs vor der Berliner Ordinarienkonferenz 10./11.4. 1962. In: Hçllen, Distanz 2, 322–325, hier 324: „Aber wesentlich ist die Methode des ,Darunterbleibens‘, d. h. die Ausnutzung aller gegebenen Möglichkeiten an Ort und Stelle, während eine neue grundsätzliche Regelung und Sicherung nicht zu erreichen ist.“ 13 Vgl. zu ihm: Pilvousek, Bengsch; vgl. zuletzt die über den bisherigen Forschungsstand hinausgehende höchst informative Studie von Samerski, Bengsch. 14 Vgl. zu ihm: Landersdorfer, Döpfner. Zu Döpfners Amtszeit in Berlin vgl. Brechenmacher, Bischof; Seiler, Bischof.

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werde nunmehr „fast lautlos durchgeführt“, denn man wolle „größere und schwerere Zwischenfälle vermeiden, um nicht den Eindruck zu erwecken, es bestehe doch ein Kirchenkampf“15. Ergebnis 2: „Benachteiligungen, Diskriminierungen, Berufsverbote und Behinderungen von Karrieren hat es für Christen zu jeder Zeit gegeben“16. Eine Analyse derselben dokumentiert das System der Willkürlichkeit, das für den repressiven Charakter des SED-Staates typisch ist. Ab Ende der 1950er Jahre sollte man vermeiden, von systematischen (im Sinne von grundsätzlichen) Diskriminierungen zu sprechen. Repressionen waren systemimmanent und systemisch bedingt, sie erwuchsen aus prinzipiellen Divergenzen und Konflikten. Und doch müssen sie multiperspektivisch analysiert werden. Auf der Ebene der (partei-)politischen und staatlichen Akteure ist ein Aktionsradius von jeweils prinzipiellem bis willkürlichem Zugriff in entsprechenden Fällen möglich. In dieser Reichweite zeigt sich die Perfidie des Systems, das individuell die eigene Existenz ungesichert werden ließ und aufgrund derer die individuelle Freiheitsbeschränkung zu verarbeiten und zu bewältigen war. Betrachtet man die Personen, die Repression erfahren mussten, so zeigt sich, dass sich staatliche Diskriminierung nicht ausschließlich auf einen Personenkreis beschränken lässt, der religiös sozialisiert war. Vielmehr wird in mehrfacher Hinsicht zu differenzieren sein, und das in Abhängigkeit von Entwicklungen, die staatlicherseits in welcher Form auch immer als Bedrohung wahrgenommen wurden. Angesichts der politischen Großwetterlage sei ausgehend von der Interessenlage der DDR davor gewarnt, vorschnelle Schlüsse zu ziehen. Für Personen bzw. Personengruppen mit religiöser Bindung die Verursachung von Benachteiligung und Benachteiligungserfahrungen stets aus dem Identitätsmarker „religiös“ herleiten zu wollen, wird oftmals zu kurz greifen. Vielmehr ist aus den jeweils aktuellen Zeitumständen heraus zu fragen, welche Rahmenbedingungen, Interessenslagen und Handlungsoptionen seitens des Staates und der Einzelpersonen zu konstatieren sind. Für spätere Zeiten sind die Muster besser sichtbar zu machen als für die 1960er Jahre, ohne dass sie für diese nicht gültig wären. Repressive Maßnahmen aufgrund der Verweigerung eines militärischen Dienstes mit der Waffe etwa und des Ausweichens in die weiterhin militärisch konnotierte Tätigkeit als Bausoldat, betrafen nicht nur (wenn auch mehrheitlich) christlich oder reli15 Lagebericht Döpfners vor der Berliner Ordinarienkonferenz, 31.1. 1961. In: Schulte-Umberg, Akten, 900–911. Unter dem Schlagwort „politischer Klerikalismus“ verdichtete seit Ende der 1950er Jahre der Staatssekretär für Kirchenfragen im Verbund mit der SED das Feindbild gegen die katholische Kirche, vgl. Seiler, Weltkongress, 309. Döpfner erkannte hier zurecht einen umfassenden Deutungsrahmen: „Es gibt eigentlich keine religiös-kirchliche Betätigung außerhalb der Kirchenmauern, die von der Partei nicht als ,politischer Klerikalismus‘ angesehen wird“ (Lagebericht vor der Berliner Ordinarienkonferenz, 2.5. 1961. In: Schulte-Umberg, Akten, 937–946, hier 943). 16 Pilvousek, Gegenwind, 152. Pilvouseks Zählung variiert von der hiesigen. Ich verzichte auf eine Kommentierung von Nr. 1 und 9, die für den Kontext dieses Beitrags unwichtig sind.

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giös geprägte Personen, sondern auch religiös ungebundene Personen. Hier wie dort ging es um ideelle Grundüberzeugungen, die in Konflikt mit dem Staat führten, so dass Repressionen die Folge waren. Der größere Teil religiös gebundener ebenso wie religiös ungebundener Personen, die gegenüber dem Waffendienst skeptisch eingestellt waren, leisteten diesen dennoch ab. Dieses Beispiel veranschaulicht, dass auch weltanschaulich begründete Distanz zum SED-Staat nicht zwangsläufig zu Konflikten führen musste. Dieser Perspektivenpluralismus ist zu beachten, wenn man grundsätzliche Aussagen über Diskriminierung und widerständiges Verhalten treffen möchte. Ein weiteres Beispiel: Wenn seit Ende der 1970er und dann vermehrt in den 1980er Jahren etwa Ausreisewillige benachteiligt wurden, so war dies eine prinzipielle Handlungsmaxime des Staates17. Der Antrag auf Ausreise schuf also ein Fluidum oppositionellen Nicht-Einverstanden-Seins mit dem SED-Staat, der konkreten Politik und den gesellschaftlichen Umständen. Wer ausreisen wollte, konnte religiöse, ökonomische, freiheitliche, existenzielle, familiäre u. a. Motivationen haben. Religiöse Bindung muss hier intersektionell verortet werden. Sie traf aber nicht nur auf Zwangsmaßnahmen des Staates, sondern auch auf Befremden und Nicht-Einverständnis kirchenleitender Personen und kirchlicher Institutionen. Die Notwendigkeit intersektionellen Weitblickes trifft grundsätzlich für alle Oppositionsformen zu18. Der Unterschied für Christen bestand wohl darin, in den Kirchen und den Pfarreien Resonanzräume zur Artikulierung ausgrenzender repressiver Maßnahmen zu haben. Der schützende Raum der Kirche manifestierte aber auch zugleich eine eigene Wirklichkeit mit diversen Innen-/Außen-Dichotomien. Ergebnis 3: Dass es bei Repressionen immer auch Ausnahmen gab, die „Alibicharakter trugen oder Täuschungen beabsichtigten“, sei ein „Merkmal totalitärer Regime“. Am „kirchen- und christenfeindlichen Charakter des Marxismus-Leninismus und des SED-Regimes“ habe jedoch nie Zweifel bestanden19. Gerade bei Zeitzeugengesprächen werden die hier angesprochenen Ausnahmen immer wieder thematisiert. Der enge Zusammenhang zwischen Repression und ihrer weltanschaulichen Fundierung kann um eine weitere Beobachtung ergänzt werden: Auch die politisch Verantwortlichen in der DDR waren darauf angewiesen, gesellschaftlichen Frieden herzustellen und zu sichern. Konfrontation konnte daher destabilisierend werden, so dass man dauerhaft einen modus vivendi herzustellen suchte. Die weltanschauliche Divergenz war und blieb dennoch gegeben, wobei die Staatsideologie zunehmend rituell erstarrte. Nach dem 2. Vatikanischen Konzil suchten die staatlichen Gesprächspartner im Verbund mit der Ost-CDU bei den The17 Vgl. Kneipp, Abseits, 61–68. Vgl. die Beiträge zur Ausreise im Sammelband Apelt, Flucht; sowie die Regionalstudie Hertgen, Ausreise. 18 Vgl. Camarade / Goepper, Etat; Pollak, Bedingungen; Pollak / Rink, Verweigerung; Neubert, Geschichte; ders., „Es kann anders werden“. 19 Pilvousek, Gegenwind, 152.

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menfeldern „Frieden“ und „humane Entwicklung der Menschheit“ analoge ethische Überzeugungen im Christentum im Sinne einer Konvergenz der Interessen zu deuten, um die ideologische Frontstellung nicht absolut erscheinen zu lassen und sie als punktuell überbrückbar anzubieten. Kirchlicherseits hätte dies eigene Existenzstrategien gefährdet. Die katholischen Jurisdiktionsträger regierten daher abwehrend. Dies mag auch grundsätzliche Haltung bei der überwiegenden Mehrheit der seelsorglich Aktiven gewesen sein. Ob dies auch für die Alltagspraxis der Gläubigen im hier zu untersuchenden Zeitraum gilt, kann vermutet werden. Doch macht die wieder und wieder in den Berichten des Vorsitzenden der Berliner Ordinarienkonferenz attestierte „Geschlossenheit“ zwischen Jurisdiktionsträgern und Priestern und zwischen amtskirchlichen Akteuren und Gläubigen hellhörig20. Waren die alltäglichen (Gesprächs-)Kontakte von Katholiken und Katholikinnen in Beruf, Freundeskreis und öffentlichem Leben wirklich so eindeutig weltanschaulich gesichert? Wenn Geschlossenheit so hoch bewertet und qualifiziert wird, dann sollte zumindest darüber reflektiert werden, ob Verhalten von Gläubigen nicht auch wesentlich von transreligiösen Wirklichkeiten geprägt war, die zu weitreichenden „Kompromissen“ in den Sozialräumen der Arbeitswelt und des Freundeskreises führen konnten. Ob eigen-sinniges Verhalten dann überhaupt als Normabweichung erkannt oder ob Eindeutigkeit des Bekennens Pragmatik gelebten Christseins in der DDR war, sei dahingestellt. Alibis konnten von allen Richtungen her beansprucht werden. Und natürlich wird man auch von einem gewissen Prozentsatz an katholischen Kirchgängern unter den Ost-CDU-Mitgliedern auszugehen haben, selbst wenn – um die Worte Bischof Bengschs zu zitieren – die Ost-CDU „keine christliche Partei, sondern nur eine Staatspropagandabehörde“21 gewesen sein sollte. Wenigstens ist in den Blick zu nehmen, dass auch solch weltanschaulich unsichere Katholikinnen und Katholiken eben katholisch waren und Katholizismus auf diverse Weise prägten22. Dies trifft auch für SED-Parteimitglieder 20 Aus der Fülle der Beispiele, seien erwähnt: Lagebericht Döpfners vor der Berliner Ordinarienkonferenz, 23.1. 1960. In: Schulte-Umberg, Akten, 693–198, hier 698; Bericht über die Lage der katholischen Kirche in der DDR in der Zeit vom 10.10. 1961 bis 10.1. 1962 (FKZ Erfurt, Sammlung P, Ordinarienkonferenz 1962), 10: „Die Klarheit der Abwehr erfordert als Erstes die Einheit der Bischöfe, des Klerus und des Volkes.“ 21 So die Charakterisierung auf einer Pastoralkonferenz 22.–24.11. 1960; zitiert nach Raabe, OstCDU, 137. 22 Zum Erfolg der CDU unter „unseren Gläubigen“ führte Bischof Döpfner etwa 1960 auf der Ordinarienkonferenz aus: „Wir mußten nüchtern sehen, daß einzelne Gläubige [so in: Bericht des Vorsitzenden, 3.11. 1960 (FKZ Erfurt, Sammlung P, Protokolle der Ordinarienkonferenz 1961); Schulte-Umberg ediert statt „einzelne Gläubige“, nur „manche“; ebenso wie Hçllen, Distanz 2, 246] von diesen Friedensparolen beeinflußt wurden und des ständigen Lebens am Rande der Gesellschaft müde werden. Doch der Kern unserer Gemeinden wäre tief enttäuscht und bedrückt, wenn ihre Hirten in eine verlogene Nachbarschaft zu den Zielen des Staates rückten und sich zu einer inneren Gleichschaltung der Kirche herbeiließen“ (Lagebericht Döpfners vor der Berliner Ordinarienkonferenz, 12.11. 1960. In: Schulte-Umberg, Akten, 857–864, hier 862).

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im katholisch geprägten Eichsfeld zu, für die Partei- und Kirchenzugehörigkeit sich nicht ausschlossen – zum Ärger der entsprechenden Kreisleitungen. Hier werden intersektionelle Dependenzen sehr gut sichtbar : „Dieser Umstand [konfessionelle Bindung von drei Vierteln der SED-Bürgermeister in Dorfgemeinden] erklärte sich weitgehend mit den sozialen Erwartungshaltungen, die in der ländlichen Lebenswelt nochmals deutlich stärker ausgeprägt waren. Bei einer Nichtteilnahme am kirchlichen Leben drohten die Ausgrenzung aus der Dorfgemeinschaft und ein Konflikt im Familienkreis. Außerdem praktizierten große Teile der SED-Mitglieder im Eichsfeld – im katholischen Milieu sozialisiert – ihren christlichen Glauben aus Überzeugung. Der Besuch von Gottesdiensten, Prozessionen und Wallfahrten galt als selbstverständlich.“23

Dem SED-Staat musste es um normative Akzeptanz und Absicherung der Herrschaft der Partei und seiner Funktionäre bis hinunter auf die Ebene lokaler Funktionsträger gehen. Da dies auf dem Weg einer absoluten Zustimmung, die diktatorisch durchgesetzt wurde, nicht möglich war – hiergegen sprachen politische Gründe und der Verzicht auf einen weltanschaulich begründeten Kirchenkampf – etablierte der SED-Weltanschauungsstaat ein repressives System, in dem verschiedene Alltagspragmatiken austariert wurden. Mit den Kirchen zusammen fand man einen modus vivendi. Stabilität erlangte dieses System seitens der Gläubigen nicht durch Zustimmung und Mitarbeit, sondern in bestimmtem Maße eben auch durch Nicht-Nichtzustimmung und Nicht-Verweigerung. Hierbei gilt gleichzeitig, dass die SED-Herrschaft umfassende Partizipationsforderungen an die Bevölkerung stellte, so dass bereits Nicht-Mitmachen jene, die das zu leben suchten, in Bedrängnis bringen konnte24. Das Perfide des Überwachungsstaates, als welchen man die DDR charakterisieren kann, ist die erlebte Willkür und der damit einhergehende individuelle wie kollektive Verlust von Sicherheit bei normabweichendem Verhalten. Willkürmaßnahmen konnten ebenso wie Repressionen auf Nichtzustimmung, Opposition oder Verweigerung zurückgeführt werden. Zugleich beklagten die Bischöfe die Pragmatik angepassten Verhaltens, wie es in vorauseilender Untertänigkeit, in doppeldeutigem Sprechen und mangelnder Bekenntniskraft zum Ausdruck kam. Der von Pilvousek selbstverständlich gebrauchte Begriff des „Totalitarismus“ ist auch ein Quellenbegriff. Die Bischöfe Döpfner und Bengsch verwendeten ihn selbstverständlich25. Wichtig wäre auch hier, die Reichweite und 23 Stçber, Rosenkranzkatholizismus, 231; hier passim auch Ausführungen zur Ost-CDU. Zur CDU in Thüringen vgl. Triebel, CDU, v. a. 82–94 (Mitgliederentwicklung), 127–130 (Verhalten zur katholischen Kirche). – Zum Katholizismus im Eichsfeld vgl. auch: Klenke, Eichsfeld; Wappler, Klassenzimmer ; für die spätere Zeit auch: Remy, Opposition. 24 Vgl. Halbrock, Nicht-Handeln. 25 Als beliebige Beispiele seien ohne Vollständigkeit anzustreben genannt: Schulte-Umberg, Akten, 427, 910 f.; Hçllen, Distanz 2, 292, 323.

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Angemessenheit anzuzeigen, da er in der Forschung für die DDR kontrovers diskutiert wurde26. Ergebnis 4: Die katholische Kirche war „keine oppositionelle Institution und kein Bollwerk des Widerstandes – und wollte es auch nicht sein“. Es ging darum, resistent gegenüber der staatstragenden Ideologie sein zu wollen. Dem Gewissen zu folgen und keine faulen Kompromisse auf dem Glaubenswegs einzugehen, sah man als vorrangig an27. Bei dieser Analyse kommt es auf die Reichweite dessen an, wie man „Opposition“ und „Widerstand“ definiert. Vermutlich wäre hier an eine Reichweite zu denken, wie sie Stadelmann-Wenz definiert als „Strategie […], sich dem umfassenden Herrschaftsanspruch der SED zu entziehen, ihm etwas entgegen zu setzen, ihn zu beschränken und ihn zu begrenzen“28. Die Analyse von Pilvousek kann vertieft werden. Als neuer Vorsitzender der Berliner Ordinarienkonferenz hielt Bischof Bengsch im Oktober 1961 ein Grundsatzreferat. Gegenüber jenem seines Vorgängers, Julius Döpfner, ein knappes Jahr zuvor (3. November 1960) fällt ein kleiner Unterschied auf. Bengsch diskutiert, ob sich mit dem Mauerbau die Situation für die Kirche geändert habe. Er verwendet hier u. a. den Begriff der „Gleichschaltung“, den er von Döpfner übernommen hatte, der davon sprach, dass es im Staat-Kirchen-Verhältnis „nicht um eine echte Normalisierung, sondern um eine Gleichschaltung der Kirche“, also um eine vollständige Einbindung in die staatlichen Strukturen unter Verlust der strukturellen und ideellen Eigenständigkeit, ginge29. Die Strategie des atheistischen Staates habe sich, so Bengsch, „um keinen Millimeter“ geändert. Doch sei dem Staat möglicherweise „eine noch nicht gleichgeschaltete, aber wenigstens nicht formell oppositionelle Kirche in der gegenwärtigen Situation das kleinere Übel“30. Bengschs kirchenpolitische Analyse versteht unter „Opposition“ also eine habituelle Kategorie, die nicht so sehr institutionell konnotiert ist. Als solche ist sie für den Staat weniger gefährlich. Ein Kampf gegen die Kirche als Institution wäre wesentlich aufwändiger. Diese wenigen Hinweise zeigen, wie 26 27 28 29

Vgl. Gr-ssler, DDR. Pilvousek, Gegenwind, 152. Stadelmann-Wenz, Verhalten, 13. Lagebericht Döpfners vor der Berliner Ordinarienkonferenz, 12.11. 1960. In: Schulte-Umberg, Akten, 857–864, hier 862. Als Konsequenz folgerte Döpfner, „daß wir uns einer solchen Vereinbarung [gemeint ist analog zum Kommuniqu8 mit der evangelischen Kirche vom 21.7. 1958; d. Vf.] mit aller Kraft widersetzen müssen“. Döpfner fragt im Kontext danach, ob es eine Normalisierung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche gäbe. Sollte sie eintreten, müsste „von Seiten des Staates ein grundlegender Wandel erfolgen.“ Dies bedeute für die Gläubigen: „[…] Die Kirche kann einen Staat dieser Art eben nur ertragen, kann aber keine Festlegungen erreichen, durch die das Leben der Katholiken, die zugleich Bürger dieses Staates sind, wirklich normalisiert würde.“ Letztes Zitat steht nicht im edierten Text bei Schulte-Umberg, bei dem stattdessen „Minimalforderungen“ an den Staat folgen. Ich zitiere hier nach: Bericht des Vorsitzenden, 3.11. 1960 (FKZ Erfurt, Sammlung P, Protokolle der Ordinarienkonferenz 1961). 30 Bengschs Grundsatz-Referat: „Die nicht veränderte Situation“ und „Die dennoch veränderte Situation“, 10./11.10. 1961. In: Hçllen, Distanz 2, 289–292, hier 291.

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sinnvoll es wäre, auch begriffsgeschichtlich von den Quellen her die Reichweite und das zeitgenössische Bewusstsein staatsdistanzierten Verhaltens von Kirche (und entsprechende Erwartungshaltungen gegenüber den Gläubigen) zu beschreiben. Dem von Pilvousek attestierten weltanschaulichen Resistent-sein-Wollen ist gewiss zuzustimmen. Dass dies nicht immer jenen Bekennermut implizierte, den sich die Bischöfe wünschten, wird mit dem Hinweis auf das „Wollen“ attestiert. Ob dies jedoch vorrangig Gewissensentscheidungen waren oder der Verzicht auf faule Kompromisse? Müsste die Geschichte christlichen Lebens in der DDR nicht auch als jene eines „ganz normalen Lebens“ (Mary Fulbrook) analysiert werden, da es als solches ja auch erzählt und erinnert wird? Ergebnis 5: Konflikte mit dem Staat und der SED wurden, so die kirchliche „Taktik“, weitgehend vermieden. Gleichermaßen ließ die Kirche aber auch keine positiven Stellungnahmen zu, „um einer Vereinnahmung zu entgehen“31. Die Konfliktvermeidung gegenüber dem Staat war eine wesentliche amtskirchliche Strategie, um den eigenen, relativ weiten Handlungsrahmen offen zu halten und zugleich im Verzicht auf direkte Konfrontation die nicht amtskirchlich gesicherten Gläubigen zu schützen. Wenn es um Themen ging, die hohe kirchliche Bedeutung haben, blieb die Kirche auf Konfrontationskurs, etwa bei der Jugendweihe. Von den Gläubigen wurde dann nichtangepasstes Verhalten erwartet oder teilweise auch verlangt und entsprechender Druck ausgeübt. Die beiden weiteren hier darzustellenden Ergebnisse tragen eher apologetischen Charakter32. Wenn man eher prozessorientiert und akteurszentriert analysiert, wird man ein Mittelfeld zwischen Extremen, ein „sowohl als auch“, sichtbar machen können. Gerade im Kontext der Beschreibung von Diskriminierung und Diskriminierungserfahrung – beides ist zu unterscheiden – fällt das Fehlen einer Alltagsgeschichte christlichen Lebens in der DDR auf. Denn vermutlich greifen Narrative wie „Christen wurden in der DDR diskriminiert“ zu kurz. Auch die nachfolgenden Hinweise können das hiermit formulierte Desiderat nicht beseitigen. Sie verstehen sich als Orientierungspunkte, um das notwendige komplexe Framing zur Analyse von „Diskriminierung“ darzustellen.

31 Pilvousek, Gegenwind, 153. 32 Vgl. ebd.: „Kann die katholische Kirche in der DDR nicht im strengen Sinn als ,oppositionell‘ bezeichnet werden, so gilt aber auch, dass sie nicht generell konformistisch handelte. Manche kirchenpolitisch motivierten Handlungen erscheinen zwar wenig mutig, konformistisch müssen sie deshalb aber nicht gewesen sein. […] Trotz Christenfeindlichkeit, Repression und Benachteiligung in dieser säkularen und ideologischen Diaspora ist ein Glaubenszeugnis der Kirchenmitglieder zu registrieren, ,das sich sehen lassen kann‘.“ Das Zitat verweist auf einen Beitrag von Lothar Ullrich in einem Beitrag von 1992.

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3. Weltanschauliche Grenzziehung und segmentäre Kooperation Weltanschaulich stoßen christliches Selbstverständnis und die Ideenwelt eines real existierenden Sozialismus unversöhnlich aufeinander. Die weltanschauliche Frontstellung ist Grund, Motor und zuweilen auch Katalysator sowohl von Benachteiligungen als auch von der spezifischen Artikulierbarkeit von Diskriminierungserfahrungen durch katholische Gläubige. Hierbei muss betont werden, dass individuell eigen-sinnige Handlungsoptionen und lebensweltliche Überlebens- und Lebensstrategien seitens der Gläubigen aktiviert werden konnten, insofern der „Weltanschauung“ keine absolute politische bzw. bedingungslos normative Bedeutung zugemessen wurde. Dass dies Realität war, zeigen die regelmäßigen Warnungen amtskirchlicherseits vor Ermüdung im Glauben oder vor Frustration angesichts der herausfordernden gesellschaftlichen Situation. Hinter solchen Warnungen muss nicht nur Laxheit oder Indifferenz vermutet werden, sondern auch bewusster Eigensinn individuellen Verhaltens33. Während also im Bereich alltagsweltlichen Handelns von Gläubigen die weltanschauliche Grenze in diesem Sinne löchrig sein konnte, dass sie individuelle Kompromisse zuließ, die alles andere als „faul“ waren, war sie im ideellen Gegensatz auf amtskirchlicher Ebene und SED-Staat dicht. Hatte man gemeinsame, auszutarierende Interessen, mussten über die weltanschauliche Grenze hinweg Brücken segmentärer Kooperation gebaut werden. Der Begriff „segmentäre Kooperation“ ergänzt andere analytische Blickwinkel, die in der Forschung als „partizipatorische Diktatur“ (Mary Fulbrook) oder „kooperativer Antagonismus“ (Karl-Joseph Hummel und in dessen Rezeption Sebastian Holzbrecher)34 bekannt sind. In dem wichtigen Gespräch zwischen dem Berliner Bischof Alfred Bengsch und Ministerpräsident Willi Stoph am 2. November 1961 charakterisierte Bengsch als Vorsitzender der Berliner Ordinarienkonferenz, dem Zusammenschluss der katholischen Jurisdiktionsträger in der DDR, den „weltanschaulichen Gehalt“ des Handelns der Staatsführung als „Druck“. Dieses Handeln basierte nach Bengsch grundsätzlich auf einem dem Christentum widerstrebenden Welt- und Geschichtsverständnis: „Die Schwierigkeit ist nur die, daß der Staat, die Deutsche Demokratische Republik, praktisch gleich ist mit der Anschauung des Leninismus-Marxismus und 33 Dies wussten auch die Bischöfe. Auf der Ordinarienkonferenz im Januar 1962 hielt Bengsch fest: „Jeder einzelne ist in irgendeiner Form gezwungen, sich ,einzurichten‘. Der Christ wird natürlich eine Mitarbeit im öffentlichen Raum dort versuchen, wo er vertraute Formulierungen hört, Bilder sieht und Nachrichten empfängt. Es muss damit gerechnet werden, daß diese Propaganda ihre Wirkung hat, und es sind Anzeichen dafür da, dass der Widerstand geringer wird […]“ (Bericht über die Lage der katholischen Kirche für Ordinarienkonferenz 9./10.1. 1962 [FKZ Erfurt, Sammlung P, Ordinarienkonferenz 1962]). 34 Vgl. Holzbrecher, Aktionskreis, 411 f.

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hier in weltanschaulicher Hinsicht die Möglichkeit von Differenzen gegeben ist. Ein Christ ist natürlich nicht in der Lage zu sagen, ich bin Leninist.“35

Der mit der Idee des dialektischen Materialismus und Sozialismus bzw. der kommunistischen Utopie einhergehende Atheismus und die grundsätzliche Religionskritik, die von der Vorläufigkeit von Kirche ausging und je früher desto eher an deren Überwindung aktiv arbeitete, markieren die Abgründe der ideologischen Gegensätze. An konkreten Einsprüchen gegen Gesetzesvorhaben (1959 Schulgesetz; 1963 Jugendgesetz; 1965 Familiengesetz) mangelt es nicht. Hier ist der weltanschauliche Gegensatz formuliert und die Grenze undurchlässig. Doch wurden diese Abgründe oder die Weltanschauungsgrenzen andernorts gestaltet und punktuell überbrückbar gemacht. Der aktive Kampf gegen die Kirchen war seit 1953 kein Thema mehr. In den 1960er Jahren wurde ein modus vivendi hergestellt, der binnenkirchlichen Eigenständigkeit zum Preis von politischer Abstinenz ermöglichte. Die Distanz zum Weltanschauungsstaat wurde durch eine punktuelle, segmentäre Kooperation überbrückt, von der beide Antipoden profitierten. Weltanschaulich begründete Benachteiligungen betrafen die Gläubigen. Zukünftige Forschung sollte solche Differenzierungen aufgrund funktional-lebensweltlicher Situierung im Raum einer weltanschaulich beengten und kontrollierten Gesellschaft eingehend untersuchen. Selbst den Bischöfen in der DDR war klar, dass sie es auf gewisse Weise einfacher hatten als die „normalen“ Gläubigen. Diese Kooperation erstreckte sich auf den sozial-karitativen Bereich36, der staatlicherseits gewährleistet blieb, oder in dem kirchlicherseits Alternativen zu staatlichen Angeboten gemacht werden konnten, etwa bei der Ehe-, Familien- und Lebensberatung oder bei karitativen Berufen37. Sie war gleichermaßen bei den finanziellen Transferleistungen aus der Bundesrepublik gegeben, die nach dem Mauerbau neu geordnet werden mussten und die einen bedeutenden binnenkirchlichen Gestaltungsraum für amtskirchliche Aktivitäten ermöglichten. Allerdings konnten segmentäre Kooperationen auch staatlicherseits mit gravierenden Behinderungen einhergehen, wofür etwa die Gefängnisseelsorge beispielhaft steht38. Kirchlicherseits versicherte man den staatlichen Gesprächspartnern, dass auch Katholiken treue Staatsbürger seien39, sofern von ihnen keine weltanschaulichen Zugeständnisse gefordert würden. Wenn Bischof Bengsch im Gespräch mit Stoph sich eine „friedliche und gedeihliche Zusammenarbeit“ mit dem Staat wünschte, so hatte er nicht nur das amtskirchliche Handeln im Blick. Er versicherte auch, dass die Ka35 36 37 38

(Wort)Protokoll Stophs, 2./4./7.11. 1961. In: Hçllen, Distanz 2, 302. Vgl. Kçsters, Staatssicherheit. Vgl. Fischer, Dienst; Ropers, Krankenpflegeausbildung; Kroll, Ausbildung. Vgl. Fischer, Gott. Eine umfassende Studie von Dr. Martin Fischer (Forschungsstelle Kirchliche Zeitgeschichte Erfurt) wird 2023 publiziert. Zur evangelischen Gefängnisseelsorge vgl. Subklev-Jeutner, Schattenspiel. 39 Als beliebige Beispiele etwa: Hçllen, Distanz 2, 283 (Bischof Spülbeck, 23.8. 1961), 311 Dok. 487a (Weihbischof Freusberg/Erfurt Ende 1961).

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tholiken „bis zur Grenze ihres Gewissens, das nicht zur Diskussion steht, ihre Pflicht“ zu erfüllen bereit seien40. Solche relativen Loyalitätserklärungen resultieren aus der katholischen Staatslehre. Der Schutz, den die Amtskirche den Gläubigen gegenüber staatlichem Druck anbieten konnte, ging genau so weit, wie genuin kirchliche Interessen und Überzeugungen betroffen waren – hier konnten dann in den Gesprächen mit staatlichen Stellen Einzelfälle angesprochen werden und Lösungen bei repressiven Maßnahmen gefunden werden. Es war ein enger Schutzschild, dessen Reichweite von eigenem amtskirchlichem Interesse geprägt war. Denn etwa beim Einsatz für Bausoldaten oder gar für katholische Totalverweigerer hielt man sich kirchlicherseits bis in die 1980er Jahre auffällig zurück41. Der in den 1960er Jahren gefundene modus vivendi bedeutete eben auch, dass die Kirche ihre Gläubigen nur relativ vor institutioneller Diskriminierung schützen konnte und wollte. Das „Können“ hing von der für die SED-Diktatur typischen Willkürlichkeit staatlicher Repression ab. Das „Wollen“ hing davon ab, wie intensiv der Schutz von Menschenrechten als katholische Aufgabe verstanden wurde. Dieses sehr fragile Gleichgewicht bedeutete auch, dass der Druck auf die Gläubigen mit der unangetasteten Existenz der Kirche als Institution gekoppelt war.

4. Staatlicher Druck Die grundsätzliche, wenn auch partielle Teilnahme von Katholiken und Katholikinnen am gesellschaftlichen Leben, die kirchlicherseits zugesichert wurde, konnte staatlicherseits gewährt oder behindert werden. Teilhabe war an Wohlverhalten gebunden. Zugehörigkeit zu erlangen war hierbei häufig von Mechanismen geprägt, die individuell als Druck erlebt und als diskriminierend erfahren wurde. Der Begriff „Diskriminierung“ kommt in den Quellen der 1960er Jahre eigentlich nicht vor und ist – beachtet man die Begriffsgeschichte – auch nicht zu erwarten. Um Drucksituationen auf Gläubige zu benennen, werden neben dem Begriff „Not“ vornehmlich folgende Begriffe verwendet: (schwere) Belastung42, schwere/schwerste Benachteiligung, berufliche/persönliche Nachteile43, „bedrängt“/Bedrängung“44, eingeschränkter Lebensraum für die Kirche bzw. „Einengung“ oder „Bedrückung“45. Diese stark räumlich geprägte 40 (Wort-)Protokoll Stophs, 2./4. /7.11. 1961. In: Hçllen, Distanz 2, 308. 41 Vgl. Seiler, Privatisierung. 42 Aus der Fülle der Beispiele seien für 1961 erwähnt: Schulte-Umberg, Akten, 910 (31.1. 1961); Hçllen, Distanz 2, 289 (10./11.10. 1961), 301 (2./4./7.11. 1961), 315 (31.12. 1961). 43 Aus der Fülle der Beispiele seien für 1961 erwähnt: Schulte-Umberg, Akten, 711. 44 Aus der Fülle der Beispiele seien für 1960/61 erwähnt: ebd., Akten, 819 (19.9. 1960), 906 (31.1. 1961), 945 (2.5. 1961); Hçllen, Distanz 2, 279 (31.8./3.9. 1961). 45 Aus der Fülle der Beispiele seien für 1961 erwähnt: Schulte-Umberg, Akten, 910 f.

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Semantik lässt wenig neutrale oder positive Gegenbegriffe zu. Der Begriff „Entlastung“ bleibt weiter von der Vorstellung von Druck und Schwere/Gewicht geprägt. Die Nicht-Teilhabe („Benachteiligung“) weist auf die Möglichkeit der Bevorzugung bei Wohlverhalten hin. „Bedrängung und Bedrückung“ bleiben semantisch im Feld von Enge, die Angst erzeugen soll. Während der Begriff der Diskriminierung aktive Reaktionsmuster zur Beseitigung der Diskriminierung impliziert – in der Regel geprägt durch staatliches Handeln – also Anti-Diskriminierung und entsprechende Maßnahmen wenigstens sprachlich möglich macht, ist dies bei den erwähnten Quellenbegriffen nicht möglich. Wer bedrängende Erfahrungen ins Wort hebt, hat offensichtlich im religiösen Feld, in dem der Druck wirksam wird, wenig Handlungsräume. Die von den Jurisdiktionsträgern in den Dokumenten der 1960er Jahren benannten Drucksituationen sind gut bekannt, so dass sie lediglich in Erinnerung gerufen werden müssen46. (1) Den Auftakt machte das Schulgesetz von 1959, das die Durchführung des Religionsunterrichts behinderte und als weltanschaulicher Eingriff in die Elternrechte kritisiert wurde. Im Bildungsbereich insgesamt wurden am entschiedensten und dauerhaftesten Konflikte um Diskriminierung ausgetragen. Hier ging es nach katholischer Auffassung um einen unerlaubten Zugriff des Staates auf ein genuines Recht zur Erziehung, das den Eltern zukommt. Bis heute werden diskriminierende Erfahrungen aus dem schulischen Leben als besondere Erfahrungen ideologischen Übergriffs erinnert und thematisiert. Da der SED-Staat als Bevorzugungsdiktatur angesehen werden sollte, die nicht-normabweichendes Verhalten belohnte, sei auch hier vor einer einseitigen Gleichsetzung gewarnt, bei der christliches Engagement und Kirchenzugehörigkeit undifferenziert als Grund für Diskriminierung angesehen wird. Eine einigermaßen „normale“ Schullaufbahn, ohne „übermäßigen Disziplinarmaßnahmen mit Diskriminierung, Stigmatisierung und Verfolgung“ ausgesetzt zu sein, konnte man dann absolvieren, wenn „formale Anpassungskriterien“ wie Mitgliedschaft in der Pionierorganisation und der FDJ, Beteiligung an der Jugendweihe, widerstandslose Akzeptanz vormilitärischer Erziehung und (für männliche Jugendliche) ein idealerweise über die Pflichtzeit von 18 Monaten hinausgehender Militärdienst gegeben waren47. Doch gerade kirchlich engagierte Jugendliche und/oder Eltern waren in signifikantem Maße – wenn auch nicht in überwiegendem Maße – nicht (in allen Punkten) bereit, diese Anpassungsleistung zu vollziehen. Da der „Stand der sozialistischen Bewusstseinsbildung des Schülers in die Beurteilung“ einzugehen hatte, mussten jene, die nicht Mitglied in der Pionierorganisation oder (31.1. 1961), 942 f., 948 (2.5. 1961); (Hçllen, Distanz 2, 279 (31.8./3.9. 1961), 281 (2.9. 1961), 293 (29.10. 1961), 297–300, 306 (2./3.11. 1961). 46 Zum historischen Kontext vgl. weiterhin Sch-fer, Staat, 232–299. 47 Vgl. Kwiatkowski-Celofiga, Schüler, 389 f., 242.

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der FDJ waren, negativ beurteilt werden. Dies stellt eine systematische Diskriminierung dar. Sehr genau wurde in christlichen Familien wahrgenommen, dass es hier tatsächlich um etwas Prinzipielles geht, um einen Eingriff des Staates nämlich auf die Gewissensfreiheit des Individuums und damit um eine Manipulation der weltanschaulich fundierten Haltung und von Grundüberzeugungen. In der Schule findet sich „eine der Funktionsweisen der sozialistischen Gesellschaft eigene religiöse Dimension […] Die Sozialisierung in der Schule fügt dem existierenden Wesen ein neues Wesen hinzu, das von ihr allmählich zum erwachsenen Leben und dem, was dieses erfordert, konvertiert wird: zum politischen und sozialen Engagement in der sozialistischen Gesellschaft […].“ Hierbei, so Emmanuel Droit, bediente sich der Staatsapparat auch religiöser Anleihen, wenn es darum ginge, „ein System von Glaubenssätzen und Sehnsüchten einzuprägen, das auf den Mythen des Antifaschismus, der ,Arbeiterklasse‘, der Einrichtung einer sozialistischen Gesellschaft aufbaut“48. Angesichts eines staatlich propagierten Atheismus, der zwar nicht verordnet war, jedoch subtil bis offen als zu akzeptieren erwartet wurde, waren die Leidtragenden staatlicher Benachteiligungsmechanismen in erster Linie kirchlich gebundene Laien – im Kontext konkret Jugendliche, weil sie aufgrund ihres Glaubens auf ihrem Ausbildungs- und Berufsweg behindert und damit formal diskriminiert werden konnten. Es ging dem Staat nicht um Ermöglichung gleicher Bildungschancen einzig aufgrund schulischer Leistungen. Auch soziale Herkunft, Anpassungsleistungen an die sozialistische Gesellschaft und staatskonformes Verhalten spielten gleichermaßen eine wichtige Rolle. Hinzu kamen planwirtschaftlich bedingte Rahmensetzungen, die sich bei der Bevorzugung aufgrund des Geschlechts oder aufgrund des Stadt-Land-Gefälles auswirken konnten (aber nicht zwangsläufig mussten)49. Es bedurfte eines Mindestmaßes an ideologischer (Zwangs-) Zustimmung. Die Ermöglichung weiterführender Bildungschancen wurde nicht einheitlich gehandhabt. Religiös bekannte (im doppelten Sinne des Wortes: als Bekenntnis und als öffentliches Wissen) Bindung konnte ausschlaggebender Grund für Bildungswegbehinderungen sein. Sie war es aber nicht in jedem Fall zwangsläufig. (2) Die Jugendweihe und andere sozialistische Ersatzriten trugen den Weltanschauungskampf in die katholischen Familien hinein. Denn Jugendlichen wurde die Teilnahme kirchlicherseits unter Androhung des Ausschlusses von den Sakramenten verboten. Dieses amtskirchliche Verbot mutete Gläubigen einiges zu: Wenn Jugendliche um ihres Glaubens Willen die Teilnahme verweigerten, waren Ausgrenzung und schulische Repression zu befürchten. 48 Droit, Vorwärts, 362. 49 Vgl. hierzu das Forschungsprojekt „Zwischen Erfahrung und Erinnerung: Bildungs(um)wege christlicher DDR-Bürger :innen von der sozialistischen Gesellschaft bis in die Gegenwart“, das Dr. Ringo Müller im Rahmen des Forschungsverbundes „Diktaturerfahrung und Transformation“ durchführt; https://verbund-dut.de/teilprojekte/umwege/.

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Gab die Kirche die Teilnahme frei, so bedeutete dies auf dem strittigen Feld des Bildungssektors ein Zurückweichen vor staatlichen Maßnahmen, noch dazu im Kontext ideologischer Auseinandersetzung. Hier wurde der ideologische Kampf auf dem Rücken der sich zwischen den unvereinbaren Seiten positionieren müssenden Schülern bzw. Eltern konkret ausgetragen. Im Ergebnis musste die Kirche angesichts des Drucks Zugeständnisse machen50. (3) Die staatliche Einführung eines allgemein verpflichtenden Wehrdienstes galt den Bischöfen als völkerrechtskonform, wenngleich natürlich auch sie die offene Militarisierung der Gesellschaft kritisierten. Im Februar 1962 legten sie ihre Leitlinien zur Einführung der allgemeinen Wehrpflicht fest. Zentrale Verhandlungen mit den staatlichen und militärischen Stellen sollten nicht geführt werden. Dieses Feld überließ man der evangelischen Kirche. Stattdessen formulierte man eine Pastoralanweisung für die Seelsorger. Die Zurückstellung der Theologiestudenten vom Wehrdienst war dezentral auszuhandeln. Das Recht auf freie Religionsausübung, so die Erwartung der katholischen Jurisdiktionsträger, sollte auch als Soldat gewahrt bleiben. Der Fahneneid wurde als nicht-religiöser Akt definiert, da der Gottesbezug fehle. Man interpretierte die Militarisierung vornehmlich als eine pastorale Herausforderung. Den jungen Christen bot man an, sich mittels Einkehrtagen auf die Wehrdienstzeit vorzubereiten. Die weitere seelsorgliche Begleitung während der Dienstzeit in der NVA, die Begleitung katholischer Bausoldaten oder gar die Unterstützung von Totalverweigerern blieb katholischerseits ungeregelt und war einzelnen engagierten Seelsorgern überlassen. Im Grunde wurden junge Katholiken bis in die 1980er Jahre hinein mit ihrer Gewissensentscheidung weitgehend alleingelassen51. Die weiteren Felder, auf denen Bedrückungssituationen kirchlicherseits in den 1960er Jahren benannt wurden, seien summarisch aufgezählt: die Sozialisierung der Landwirtschaft, Ausreisebeschränkungen und Behinderung der Bewegungsfreiheit, Kampf gegen den der Kirche unterstellten sogenannten „politischen Katholizismus“, Beschränkung der Vertriebswege des katholischen St. Benno-Verlages, Maßnahmen zur Entfremdung der Gläubigen von der Kirche, Verbreitung religionsfeindlicher Schriften und antireligiöser bzw. antikirchlicher Propaganda. Immer wenn die Bischöfe in ihren Hirtenbriefen auf die Situation der Gläubigen angesichts staatlicher Repression zu sprechen kamen, gaben sie zugleich Reaktionsmuster vor. Von ihren Kontakten auf Firmreisen, Visitationen oder von Eingaben her kannten sie die Stimmungslage ihrer Gläubigen und fassten diese in zwei gegenläufigen Reaktionen auf staatliche Repression zusammen: Druck konnte einerseits die Resilienz stärken oder andererseits zu Frustration, Depression oder Indifferenz führen. Resilienz wird immer dort 50 Vgl. Anhalt, Macht; Hartelt, Teilnahme; Helmberger, Blauhemd; Griese, Staatsbürger ; Arnold, Mensch. 51 Vgl. Seiler, Privatisierung.

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sichtbar, wo der Zusammenhalt der Gläubigen angesprochen und bestätigt wird52. Es geht darum, die Authentizität der christlichen Lebenspraxis, den Bekennermut oder die wieder erstarkende Liebe zur Kirche zu betonen. Dies ist typisch für eine sich auf den Binnenraum der Kirche beschränkende Gemeinschaft: Man kann sich hier gegenseitig stärken, Mut zusprechen, stützen und sich des richtigen Verhaltens vergewissern. Gerade in den frühen 1960er Jahren im Kontext des Mauerbaus wird jedoch seitens amtskirchlicher Akteure den Gläubigen häufig auch eine gegenläufige Tendenz zugeschrieben, nämlich Frustration und Hoffnungslosigkeit. Gesellschaftlichem Druck nachzugeben oder, um Nachteile zu vermeiden, katholische Prinzipien nicht kompromisslos zu vertreten, galt als Versagen und wurde – gerade im Kontext der Jugendweihe – als schuldhaftes Tun sanktioniert. Die Bischöfe forderten angesichts dieser Herausforderungen dazu auf, sich nicht einfach ins Private zurückzuziehen. Im Hintergrund stand natürlich die Gefahr, dass Privatheit auch Rückzug aus der kirchlichen Binnenwelt bedeuten konnte. Ein Leben aus dem Glauben implizierte die Übernahme eines „Weltauftrags“, wie es im Fastenhirtenbrief 1963 formuliert wurde53. Die konkrete Gesellschaftsordnung spielte keine Rolle. Bengschs Ablehnung der Pastoralkonstitution „Gaudium et Spes“ auf dem 2. Vatikanischen Konzil galt dem dortigen fortschrittsoptimistischen Blick auf die Welt. Von seiner ostdeutschen Erfahrung her kannte er „Welt“ auch als ein „Gegenüber“, das Kirche und Glaubenspraxis zu beschädigen trachtete. Dieser Art von Welt gegenüber musste Kirche ihren Eigenstand wahren, ohne sich jedoch der Welt zu entziehen. Im Hirtenbrief „Der Christ in atheistischer Umwelt“ aus dem Jahre 1960 wurde diese Dialektik als „Bewährung und Sendung“ beschrieben54.

52 Ein beliebiges Beispiel aus dem Lagebericht Döpfners am 3.7. 1961: „Neben hunderten und tausenden von Beispielen, daß durch diese weltanschaulichen Belastungen die Familien in ihrem Grundgefüge gelockert, wenn nicht sogar erschüttert werden, stehen viele Beispiele von Familien, die durch die Not der Zeit enger und fester zusammengefügt und zusammengeführt werden.“ Am Ende spricht Döpfner die große Beteiligung bei Prozessionen und Wallfahrten an und interpretiert sie so: „Hier ist nicht in erster Linie eine politische Oppositionshaltung wirksam, sicher wurzelt tiefer die Bereitschaft zum Bekenntnis und die Sehnsucht nach der bergenden Gemeinschaft der Kirche.“ (Schulte-Umberg, Akten, 971–977, hier 975, 977). 53 Lange, Kirche, 194–199. Bereits bei seinem Lagebericht für die Ordinarienkonferenz 1962 hatte Bengsch ausgeführt: „Die politische Abstinenz darf nicht soweit gehen, dass sie die Sendung der Laien auch in der atheistischen Umwelt aufhebt“ (Bericht über die Lage der katholischen Kirche in der DDR in der Zeit vom 10.10. 1961 bis 10.1. 1962 [FKZ Erfurt, Sammlung P, Ordinarienkonferenz 1962]). 54 Schulte-Umberg, Akten, 709–715.

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5. Kirchlicher Druck Die amtskirchlichen Erwartungen an die Gläubigen, mit den Begriffen „Bewährung“, „Entscheidung“, „Leben aus dem Glauben“ verbunden, waren hoch. Solche Erwartungen erzeugten ihrerseits Druck. Dies umso mehr, als es im repressiven System der SED-Diktatur darum gehen musste, angesichts staatlicher Differenzierungspolitik ein besonders hohes Maß an Geschlossenheit und Eindeutigkeit des christlichen Zeugnisses kirchenamtlicherseits zu fordern und durchzusetzen. Im freiheitlichen System der Bundesrepublik konnten fortschrittliche und kritische Gläubige diesem durchaus auch vorhandenen kirchlichen Normierungsdruck ausweichen, die kirchliche Autorität in Frage stellen und eine selbstermächtigende Eigenart des Katholischseins ausbilden und etablieren – sehr zum Leidwesen der Bischöfe. Man lernte hier, zwischen Kirche und Christentum zu unterscheiden. Der repressive gesellschaftliche und politische Rahmen der DDR hingegen ließ diese kritische Distanznahme zur kirchlichen Selbstdefinition bis weit in die 1980er Jahre nahezu nicht zu. Der Fastenhirtenbrief 1963 setzte dem „Leben aus dem Glauben“ das Leben in einer sich modernisierenden Welt gegenüber. Die hier zu treffenden Unterscheidungen begründeten gerade kein kirchenautonomes Christentum, sondern forderten zu Entschiedenheit und Eindeutigkeit auf. Die Aufforderung, sich im glaubensfeindlichen Umfeld zu bewähren, stellt einen subtilen Druck auf die Gläubigen dar. Er hatte eine Zielrichtung, nämlich die Kirche als kollektiven Schutzraum sonderweltlich zu ermöglichen. Staatlicherseits wurde diese kleine Sonderwelt aufgrund der politischen Abstinenz und eines anpassungsbereiten öffentlichen Wohlverhaltens zugestanden bzw. stabilisiert. Binnenkirchlich wurde dieser Schutzraum um den Preis katholisch-normativer Glaubens- und Lebenspraxis offengehalten. Hierbei wurde argumentativ eine habituelle Spiritualität eingefordert, die mit den Vorstellungen des Kreuztragens (also einer Opferbereitschaft), der Prüfung durch Gott (also einer Leistungsspiritualität), oder mit der Bereitschaft, gesellschaftlich und politisch abgelehnt zu werden, als dem Weg der Nachfolge Christi55 (also einer masochistischen Argumentationsfigur) durchaus eine repressive Zumutung darstellte. Wiederholt verwendeten die Bischöfe Bilder einer binären Wirklichkeit, bei der sich der Gläubige für das Richtige und Wahre zu entscheiden habe, ohne dass es Zugeständnisse gegenüber der komplementären Seite der Wirklichkeit gebe. Im Hirtenbrief zum Glaubensjahr 1967 betonten sie, der Christ können nicht zweigleisig unterwegs sein: einerseits als guter Katholik und andererseits als angepasster sozialistischer Mitbürger56. Markanter ist der bereits wiederholt zitierte Fastenhirtenbrief von 1963. Fast die gesamte moderne 55 Vgl. Hirtenbrief zum Glaubensjahr 1967; Lange, Kirche, 217. 56 Vgl. ebd.

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Welt, so attestierten die Amtsträger, sei gegenüber dem Glauben fremd, gleichgültig oder feindlich eingestellt. Es gebe in der Entscheidung für den Glauben keine doppelte Wahrheit. Daher gelte es Zeugnis abzulegen im Schweigen und Widerstehen, im Reden (also Bekennen) und in der Liebe, also der karitativen Tat57. Die Weltfeindlichkeit wird durch die weltanschauliche Differenz einer sozialistischen Gesellschaft noch verschärft. Das dadurch quasi verdoppelte Böse bedeutet auch eine verdoppelte Forderung nach Entschiedenheit für die Gläubigen. Sie mussten nicht nur angesichts der weltanschaulichen Angriffe radikal kirchlich bleiben, sondern auch vor dem Hintergrund der Transformationen gesellschaftlichen und kirchlichen Lebens in den 1960er Jahren den wahren Glauben bewahren. Die weltanschauliche Distanz dynamisierte die amtskirchliche Modernisierungskritik. Gerade an den Repressionen gegen die im DDR-Katholizismus aufbrechenden Reformbewegungen der späten 1960er Jahren wird sichtbar, wie reformfreudige Katholiken und Katholikinnen unter doppeltem Druck standen. Erst mit der neuen Bischofsgeneration um 1980, die weniger weltskeptisch war, wird diese plurale Repression entschärft werden.

6. Zusammenfassung „Den“ typischen Katholiken, „die“ typische Katholikin in der DDR gab es nicht. Man sollte von einem breiten Spektrum ausgehen und auf verallgemeinernde Aussagen verzichten bezüglich der Frage, ob und wie angepasst, oppositionell, widerständig, kooperativ, distanziert, pragmatisch, verängstigt, benachteiligt, diskriminiert usw. die einzelnen Gläubigen gewesen seien. Dies gilt auch hinsichtlich der kirchlichen Forderungen an die konkrete Lebenspraxis. „Vermutlich changierten das (un)bewusste Selbstverständnis und das emotionale Selbstbewusstsein bei den meisten katholischen Christen in einem Feld, das von divergierenden, zuweilen gegensätzlichen, Polen gebildet wurde: Selbstbeschränkung ebenso wie Bewusstsein der Zugehörigkeit zu einer Resilienz fördernden, möglicherweise elitären, Sonderwelt; Frustration und Angst ebenso wie Bekenner- und Übermut; Opportunismus und kompromissbereiter Pragmatismus ebenso wie Gegenwehr und prinzipientreuer Idealismus; Erfahrung von Solidarität wie von Vereinzelung und Vereinsamung usw.“58

Familiäre Privatheit und Freiheit im binnenkirchlichen Schutzraum waren immer auch geprägt durch eine komplementäre Nachbarschaftlichkeit mit Nicht-Gläubigen, die ihrerseits ja auch die staatliche Vorgabe, ein „guter so57 Lange, Kirche, 194–199. 58 Seiler, Widerstand, 114.

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zialistischer Mensch“ zu werden, zu erfüllen hatten. Eigen-sinniges Verhalten und Selbstautorisierung einer anpassungsfähigen Lebenspraxis kleiner Reichweite konnten jener Gegendruck sein, der „ein ganz normales Leben“ in einer Diktatur stabilisierte. Diese Art von Alltäglichkeit bestand gerade darin, nicht politisch oder öffentlich Opposition darzustellen oder aufzufallen, vielmehr im Privaten zu funktionieren. Das Private kann sich in repressiven Systemen jedoch als soziales Handeln in das Politische einschreiben. Dies könnte man an den für den Katholizismus der DDR typischen Vergemeinschaftungsformen aufzeigen, etwa den Wallfahrten oder den Familienkreisen. Solche individuellen, privaten und zeitlich beschränkten Vergemeinschaftungen ermöglichten punktuell und temporär soziale Räume, die nicht durchherrscht waren. „Wenn man solche Handlungsoptionen mit dem Narrativ des ,Sich-nicht-Anpassens‘ beschreibt, sollte man die jeweilige Reichweite nicht angepassten Lebens beschreiben. Um in einer Diktatur nicht-angepasst (über)leben zu können, bedarf es geradezu eines alltagspraktisch eingeübten Habitus des Unauffälligseins. Doch Nicht-Anpassung ist nicht nur eine individuelle Entscheidung der Treue zum Glauben und zur Kirche, sondern gleichermaßen eine staatliche und gesellschaftliche Fremdzuschreibung mit entsprechenden Exklusionsmechanismen. Gerade in einem streng überwachten Staat muss Unauffälligkeit eine entscheidende Strategie sein. Das Perfide der SED-Diktatur bestand darin, jederzeit und an nahezu allen Orten (auch in den geschützten Räumen der Kirche) Unauffälligkeit aufzuheben.“59

Diskriminierung setzt dort an, wo abweichendes Verhalten grundsätzliche Relevanz besitzt. Dies ist bei weltanschaulicher Divergenz gegeben. Das bedeutet angesichts des repressiven Systems der SED-Diktatur, dass Wohlverhalten im Sinne einer Mitarbeit am Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft belohnt wurde. Katholiken und Katholikinnen waren als (eigen-sinnige) Sondergruppe besonders benachteiligungsgefährdet, ohne dass Christen jedoch die einzigen waren, die staatlicher Diskriminierung ausgesetzt waren. Sie konnten ihre Diskriminierungserfahrung jedoch besonders artikulieren. Die Kirche bot ihnen einen Reflexions- und Resonanzraum zur Benennung bedrückender Erfahrungen und erlebter Benachteiligung. Der öffentliche Diskurs der letzten Jahre in Thüringen darüber, dass Christen in der DDR Diskriminierung erfuhren und diese Erfahrungen endlich aufgearbeitet werden müssten, machte erneut diese Resonanzräume sichtbar. Er ist seinerseits selbst Teil der Geschichte von Diskriminierungserfahrungen in der DDR.

59 Ebd., 115.

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Quellen- und Literaturverzeichnis I. Unveröffentlichte Quellen Forschungsstelle Kirchliche Zeitgeschichte Erfurt (FKZ Erfurt) Bestand: Sammlung P: Protokolle der Ordinarienkonferenz.

II. Veröffentlichte Quellen und Darstellungen Albrecht-Birkner, Veronika: Freiheit in Grenzen. Protestantismus in der DDR (CuZ 2). Leipzig 2018. Anhalt, Markus: Die Macht der Kirchen brechen. Die Mitwirkung der Staatssicherheit bei der Durchsetzung der Jugendweihe in der DDR. Göttingen 2016. Apelt, Andreas H. (Hg.): Flucht, Ausreise, Freikauf. (Aus-)Wege aus der DDR. Halle 2011. Arnold, Thomas: „Mit ihnen Mensch, für sie Christ“. Herausforderungen für den Katholizismus im Bistum Dresden-Meißen nach 1945. Eine pastoral-zeitgeschichtliche Studie (Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte der Deutschen in Ostmittel- und Südosteuropa 51). Köln 2022. Brechenmacher, Thomas: Bischof im Brennpunkt des Systemkonflikts. Julius Döpfner im geteilten Berlin, 1957–1961. In: Thomas Brechenmacher (Hg.): „In dieser Stunde der Kirche“. Zum 100. Geburtstag von Julius Kardinal Döpfner (Bad Kissinger Archiv–Schriften 2). Würzburg 2013, 57–83. –: Im Sog der Säkularisierung. Die deutschen Kirchen in Politik und Gesellschaft (1945–1990) (Die geteilte Nation: Deutsch-deutsche Geschichte 1945–1990 2). Berlin 2021. Camarade, H8lHne / Goepper, Sibylle (Hg.): Ptat de la recherche, concepts,m8thodologie. In: Dies. (Hg.), R8sistance, dissidence et opposition en RDA 1949–1990. Villeneuve-d’Ascq 2016, 13–32. Droit, Emmanuel: Vorwärts zum neuen Menschen? Die sozialistische Erziehung in der DDR (1949–1989). Wien / Köln / Weimar 2014 (frz. Original: Rennes 2009). Fischer, Martin: Dienst an der Liebe. Die katholische Ehe-, Familien- und Lebensberatung in der DDR (EThSt 107). Würzburg 2014. –: Mit Gott hinter Gittern. Katholische Gefangenenseelsorge in Thüringen in der Nachkriegszeit. In: ZTG 72 (2018) 173–194. Fulbrook, Mary : Ein ganz normales Leben. Alltag und Gesellschaft in der DDR. Darmstadt 22011. Gatz, Erwin (Hg.): Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder 1945–2001. Ein biographisches Lexikon. Berlin 2002.

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Roland Cerny-Werner

Zwischen globalem Blick und notwendigem Handeln vor Ort – Vatikanische Perspektiven auf die Lage der Katholischen Kirche in der DDR1 1. Einleitung „Der Kommunismus nimmt dem Menschen seine Freiheit, beraubt die menschliche Persönlichkeit ihrer Würde und beseitigt alle moralischen Schranken, die den Ausbrüchen dieses blinden Triebes Einhalt gebieten.“2 Diese kurz nach dem Mauerfall 1989 zur internen Nutzung erarbeitete Handreichung des vatikanischen Staatssekretariats in der Sektion für die Beziehung zu den Staaten spricht voller Verachtung und Härte von einem offensichtlich dem Verfall nahen Gesellschaftssystem, dem der Vatikan seit seiner Entstehung feindlich und gegnerisch gegenüberstand. Den unübersehbaren Zusammenbruch der staatssozialistischen Länder des Ostblocks kommentierten die Verfasser der Studie durchaus auch mit einem gewissen triumphalistischen Habitus: „Siebzig Jahre in der Sowjetunion und 40 Jahre in den Ländern Osteuropas hat man versucht, das Christentum mit allen möglichen Mitteln zu entwurzeln. Die jüngsten Ereignisse haben jedoch gezeigt, dass dieser Versuch nicht von Erfolg gekrönt war, auch wenn er die kirchlichen Strukturen weitgehend zerstört und versucht hat, den Glauben aus den Herzen vieler Menschen zu tilgen.“3

In dieser Analyse für den diplomatischen Gebrauch wird freilich auch klar erkennbar auf die existenzielle Gefahr rekurriert, der sich nicht nur die Katholische Kirche in derartig grundsätzlich atheistisch-materialistischen Staaten gegenübersah. Die Auseinandersetzung mit den darin eingelagerten Verfolgungsverläufen als Bedrohung kirchlichen Lebens und des kirchlichen Vollzugs in den betroffenen Gesellschaften stellte – nicht erst seit der Staatswerdung des Kommunismus mit der Oktoberrevolution, aber im herausragenden Maße ab diesem Zeitpunkt – eine kirchenpolitische Konstante von herausragender Bedeutung im 20. Jahrhundert dar. Der Fokus im vatikanischen Staatssekretariat lag dabei nicht vordergründig 1 Übersetzungen von Zitaten (Quellen und Literatur) aus dem Italienischen erfolgen durch den Verfasser. 2 L’Europa centro-orientale agli inizi del 1990 e nuove prospettive per la chiesa; Segreteria di Stato Sezione per i rapporti con gli stati; sub secreto pontificio vom 15.3. 1990 (AS PARMA, Fondo Casaroli / Serie Paesi dell’est / Sottoserie Ateismo, unpag. prov. Sig.). 3 Ebd.

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auf dem subjektiv und von den einzelnen Gläubigen natürlich durchaus real als Notlage erlebten Diskriminierungskontexten, wenngleich in den Analysen, Konzepten und Strategiepapieren der vatikanischen Diplomaten, Repressionen und Diskriminierungserleben implizit bzw. im Sinne einer geradezu ontologischen Perspektive auf die Herrschaftsstrukturen und der Lebenswirklichkeiten und -möglichkeit von männlichen wie weiblichen Christen immer wieder Platz fanden. Der vatikanische Fokus war vielmehr hinsichtlich der Bewertung der religions- sowie kirchenpolitischen Sachlage und eines jeweils zu erreichenden Mindestmaßes kirchlichen Lebens ein dreifacher : 1. Die ungehinderte Spendung der Sakramente musste gewährleistet sein. 2. Die apostolische Sukzession durfte nicht gefährdet sein, d. h. Bischofsernennungen und daraus erwachsende Fragen wie z. B. Priesterweihe und -nachwuchs / Bistumsleitung mussten weitestgehend ungehindert möglich sein. 3. Das karitative Wirken der Kirche sollte weitestgehend gewährleistet werden (z. B. Krankenversorgung, Versorgung von Seniorinnen und Senioren). Die offiziellen vatikanischen Handlungskonzeptionen zur Erreichung und/ oder Absicherung dieses vorgegebenen Minimums an ermöglichten Notwendigkeiten zum (Über-)Leben von Kirche im „Orbita socialista“4 – der „Chiesa oltrecortina“5, wie sich die Kirche in Ländern hinter dem „Eisernen Vorhang“ häufig in den Strategiepapieren im vatikanischen Staatssekretariat benannt fanden – waren dabei den makropolitischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts freilich immer wieder, nicht selten notgedrungen, angepasst. Es erfolgte dabei im Besonderen in den Jahren nach der Staatswerdung kommunistischer Ideologie und in den ersten zwei Jahrzehnten der Etablierung kommunistischer Regimes in Mittel- und Osteuropa nach dem 2. Weltkrieg eine Fokussierung auf grundlegende Strategien und Taktiken im Umgang mit dem neuen Phänomen „Kommunismus als realpolitisches Gesellschaftssystem“. Hierin stellte die theoretische und praktische Auseinandersetzung mit der diesbezüglich weit über ihre Grenzen hinausgreifende Hegemonialmacht Sowjetunion erst einmal den Schwerpunkt der Betrachtungen dar. Die Etablierung staatskommunistischer Herrschaft in Polen, ˇ SSR war jedoch eine wesentliche und durchaus dramaUngarn und in der C tische Erweiterung der Perspektive, schließlich waren dadurch Länder mit ausgesprochen großen Bevölkerungsanteilen an Katholikinnen und Katholi4 Vgl. z. B.: Promemoria circa le difficolt/ ed i problemi tuttora non risolti della vita della Chiesa Cattolica nei territori che fanno parte dell’URSS (e, piF ingenerale, nei Paesi dell’orbita socialista). Anhang zu: Appunto di Mons. Dias per ,l’udienza pontificia a S.E. Sig. Andrei Gromyko vom 28.6. 1975 (AS Parma, Fondo Casaroli / Serie Paesi dell’est / Sottoserie Visite di personalit/, unpag. prov. Sig.). 5 Vgl. z. B.: Promemoria su un organo della S. Sede per gli affari della ,Chiesa oltrecortina‘ vom 15.7. 1963 (AS Parma, Fondo Casaroli / Serie Paesi dell’est / Sottoserie Ateismo, unpag. prov. Sig.).

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ken „oltrecortina“ geraten und stellten so in den ersten Nachkriegsjahrzehnten die wohl bedeutendsten und akutesten Problemlagen für die vatikanische Ostpolitik dar. Die Entwicklungen in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und der dort 1949 etablierten DDR waren dabei nur randständig bzw. nur im Laufe allgemeiner Betrachtungen relevant. Erst mit den Verfestigungstendenzen der Herrschaftsstrukturen in der DDR (sowie in anderen Staaten) in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre, kam die DDR als kirchenpolitisches Problemfeld – wenngleich immer noch eher peripher – auch in den vatikanischen Fokus. Ein Umstand der sich nicht zuletzt durch die Zweiteilung des Landes und den somit noch gut funktionierenden Informationsfluss aus den westdeutschen Diözesen und deren ungehinderte Kommunikationsmöglichkeiten bezüglich der wahrgenommenen Situation im Osten Deutschlands heraus ergab. Begünstigt wurde diese Sondersituation, bezogen auf Kenntnisgewinn und Analysemöglichkeit der Situation der Katholikinnen und Katholiken in der SBZ/DDR, vor allem auch durch die anfänglich über Westberlin noch bestehenden Reisemöglichkeiten der ostdeutschen Ordinarien bzw. ausgewählter Kirchenvertreter6. Dabei waren der von der Katholischen Kirche nicht aufgegebene (Allein-)Vertretungsanspruch Deutschlands durch die BRD als Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reichs und die – ab 1957 letztendlich anerkannte – Weiterführung der Geltung des Reichskonkordats7 evidente Faktoren im Zugriff des Vatikans auf die DDR. Für den ambivalenten Umgang der SED mit dem Reichskonkordat für das Staatsgebiet der DDR und dessen problematischen Auswirkungen auf die Katholische Kirche in der DDR galt: „Da die DDR die Rechtsnachfolge des 1945 untergegangenen Deutschen Reiches ignorierte, bestand im rechtlichen Verhältnis zwischen SED-Staat und Kirche eine Schwebesituation. Der Staat kündigte nicht das Reichskonkordat von 1933, erkannte es aber auch nicht an. Die katholischen Bischöfe hingegen vermieden möglichst alles, was den Staat zu einem solchen Schritt veranlassen könnte. Dies brachte die katholische Kirche von Beginn an in eine kirchenpolitische Defensive. Praktisch galt der Konkordatsschutz in der DDR nicht und erlaubte den SEDMächtigen den Druck durch repressive Maßnahmen beliebig zu verschärfen oder abzuschwächen.“8

6 Zur kirchenpolitischen Situation in der SBZ und der frühen Jahre der DDR (bis 1953) vgl. Sch-fer, Staat, 63–78; vgl. für Entwicklungen der DDR nach dem Volksaufstand (ab 1953) ebd., 104–113. 7 Zum Reichskonkordat und die Diskurse um dessen Weitergültigkeit nach dem Krieg vgl. Vollnhals, Reichskonkordat, 677–706; vgl. auch Hamers, Rezeption. Für die besondere Situation bezogen auf die DDR vgl. ebd., 39–49. 8 Kçsters, Revolution, 57 f.

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Erst mit den vielfältigen, notwendigen Personal- und Strukturveränderungen im Zirkumskriptionsgefüge Polens in den 1960er Jahren9 begann auch die Situation der Katholischen Kirche in der DDR in den Büros des vatikanischen Staatssekretariats immer mehr Beachtung zu finden. Mithin wurden dort nun auch in enger Verschränkung mit den Kirchenleitungen in der DDR und der BRD – wenngleich auch nicht immer im positiven Einklang miteinander – immer mehr Strategien und Konzeptionen zur Stabilisierung und möglichen Verbesserung des Staat-Kirche Verhältnisses in der DDR erstellt. In der bezüglich der „Deutschen Frage“ besonders dynamischen ersten Hälfte der 1970er Jahre kam es in Folge dieser auch zu kirchenpolitischen Prozessen und so zu der wohl intensivsten Phase vatikanischer Fokussierung auf die DDR. Ziel dieser Hinwendung war der grundsätzliche Ansatz vatikanischer Ostpolitik, den Anspruch nicht aufzugeben, kirchenpolitische Aktionen und Reaktionen auch in einer kommunistischen Diktatur wie der DDR zu setzen. So sollte nicht zuletzt auch dem als fundamental diskriminatorisch analysierten Herrschaftsstil in der DDR gegenüber der „chiesa oltrecortina“ begegnet werden.

2. Vatikan und Kommunismus – Eine Einführung Die grundsätzliche Gegnerschaft gegenüber dem Kommunismus blieb für den Vatikan seit Mitte des 19. Jahrhunderts bestehen.10 Seit den frühen, verbindlichen päpstlichen Äußerungen zur Problematik des sich als gesellschaftspolitische Theorie entwickelnden Kommunismus war die Wahrnehmung dieser Ideologie von relativ klar erkennbarer Stringenz und Konstanz gekennzeichnet. Schon in der zweite Enzyklika Pius’ IX. („Qui Pluribus“, 1846)11 und ausdrücklich mit Sanktionsdrohung versehen in seinem „Syllabus Errorum“ (als Appendix zur Enzyklika „Quanta cura“, 1864)12 fand eine explizite Auseinandersetzung mit dem Phänomen Kommunismus statt. Ende des 19. Jahrhunderts erfolgte – in der Sozialenzyklika („Rerum Novarum“, 1891) Leos XIII.13 – auch ein kontextuell-konzeptioneller Gegenentwurf zu der sich immer deutlicher etablierenden Ideologie des Kommunismus. Die so formulierte grundsätzliche Gegnerschaft variierte im Lauf der Zeit nur in methodischen Nuancen und vor allem von aktuell-politischen Ereignissen bewegt. Geradezu zwangsläufig lagen dabei die Entwicklungen in der UdSSR im Fokus der des Vatikans14. So wurden wann immer möglich Infor9 10 11 12 13 14

Morsey, Bundesregierung; Becker, Ostpolitik. Vgl. Cerny-Werner, Ostpolitik, 43–77. Pius IX., Qui pluribus. Pius IX., Quanta cura. Leo XIII., Rerum Novarum. Vgl. Boeckh, Strategien.

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mationen zusammengetragen, um – bei aller Interventionsunmöglichkeit – wenigstens vage Informationen über die Leiden, Diskriminierung und existenziellen Sorgen der Katholischen Kirche im sowjetischen Einflussbereich zu erhalten. Das war ein Vorgehen, was von den befassten vatikanischen Stellen im Lauf der Ostpolitik des Vatikans als essenzielles Charakteristikum im Zugriff auf die Staaten des Ostblocks anzusehen ist. An der grundsätzlichen inhaltlichen Gegenpositionierung änderte sich jedoch nichts Wesentliches und diese ließ auch weiterhin an Klarheit und Deutlichkeit, vor allem nach der etablierten und perspektivisch mittelfristig gesicherten Staatswerdung kommunistischer Herrschaft, nichts vermissen15. Das war beispielhaft an der sogenannten „Antikommunismusenzyklika“ Pius’ XI. („Divini Redemptoris“, 1937)16 abzulesen, die der italienische Kirchenhistoriker Andrea Riccardi treffend als den „finalen Akt der Verurteilung des Kommunismus“17 bezeichnet. Auch im weiteren direkten Umgang mit den Ländern des „orbita socialista“ in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts erschienen die analytischen Äußerungen, auch und gerade der handelnden Personen, in ihrer Gegnerschaft unversöhnlich: „Keine Ideologie, keine Denkrichtung und keine Bewegung in der Geschichte ist je mit dem Charakter aufgetreten, der so entschieden, so radikal und so bewusst Gott und die Religion – und zwar jede Religion – geleugnet hätte, wie der ,dialektische Materialismus‘, die Saat des Marxismus. […] Selten in der Kirchengeschichte erschien die Intervention des Hl. Stuhles so notwendig wie in dieser Konfrontation mit der kommunistischen Welt.“18

Und doch erscheint in dieser Aussage Agostino Casarolis19 am 26. Januar 1978 in einem Vortrag am „Center for Strategic & International Studies“ der Georgetown University ein bedeutendes Faktum auf: Aus einer theoretischanalytischen Befassung mit einer Ideologie, war – schon sechzig Jahre vor diesem Vortrag Casarolis – eine der wohl existenziellsten externen Bedrohungen geworden, die die vatikanische Politik aus der Perspektive des Jahres 1978 intensiv und stetig herausgefordert hatte, herausfordert und herausfordern werde. 15 Vgl. zum Verhältnis der Führung der Katholischen Kirche zum Kommunismus bis zum Pontifikat Pius‘ XII. zusammenfassend Barberini, L’Ostpolitik, 1–51. 16 Pius XI., Divini Redemptoris. 17 Riccardi, Antisovietismo, 138. 18 Casaroli, Der Heilige Stuhl, 164. 19 Agostino Casaroli (1914–1998) war damalig (1978) noch Sekretär des Rates für die öffentlichen Angelegenheiten der Kirche (in etwa vergleichbar mit dem Amt eines „Außenministers“ im ministerialen Gefüge anderer Staaten). 1979 ernannte ihn Johannes Paul II. zum Kardinalstaatssekretär, ein Amt, das er bis 1990 ausfüllte. Casaroli gilt als einer der wichtigsten Akteure der Ausgestaltung des (real-)kirchenpolitisch-diplomatischen Verhältnisses des Vatikans zu den Staaten des Ostblocks in den Sechziger- bis zum Ende der Achtzigerjahre des 20. Jahrhunderts.

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Casaroli verteidigte in dieser Argumentation jedoch auch (s)eine Diplomatie im Rahmen der vatikanischen Ostpolitik. Casarolis Wirken in Bezug auf kommunistisch regierte Länder setzte 1961 ein, als er von Johannes XXIII. als päpstlicher Delegat nach Wien gesandt wurde, um an der Konferenz der UN zu diplomatischen Beziehungen teilzunehmen. Spätestens ab diesem Zeitpunkt kann man nicht nur von einer reaktiven, sondern nun auch aktiven und systematischen Politik und Diplomatie des Heiligen Stuhls gegenüber den kommunistischen Ländern (vor allem) Europas sprechen. Ein Umstand, der Ende der 1960er Jahre auch die DDR betreffen sollte. Bis zum Pontifikat Johannes’ XXIII. war die Politik gegenüber der Sowjetunion und den Ostblockstaaten vor allem von einer sich stetig, teilweise eruptiv, in jedem Fall dramatisch verändernden weltpolitischen sowie in den einzelnen Ländern auch kirchenpolitisch komplexen und problematischen Gesamtlage gekennzeichnet. Dieses globalpolitische Gewicht war es letztendlich auch, dass die zeitweise aggressiv vorgetragene Ablehnung situativtaktisch in den Hintergrund treten ließ, denn das Bewusstsein der Päpste Benedikt XV., Pius XI. und Pius XII., dass im kommunistischen Machtbereich Europas Millionen Katholiken leben mussten, stellte eine evidente und vor allem relevante Gewissheit dar, die den Vatikan bei aller Gegnerschaft immer auch die Möglichkeit zu Kontakten eruieren ließ. Dies wurde durch die Erkenntnis verstärkt, dass sich auch nach der Etablierung der sowjetischen Satellitenstaaten in Mittel-, Ost- und Südosteuropa die Situation der Katholischen Kirche in den entsprechenden Gebieten wie schon Jahrzehnte zuvor in der UdSSR weiterhin existenziell bedrohlich darstellte und diese Entwicklung mittlerweile nicht mehr „nur“ 14 Millionen Katholikinnen und Katholiken in der UdSSR, sondern nun etwa 51 Millionen Katholikinnen und Katholiken unter stalinistisch-kommunistischer Herrschaft betraf. In einer retrospektiven Darstellung der Sachlage aus Perspektive des Staatssekretariats zu Beginn des Pontifikats Pauls VI.20 wurden sechs wesentliche Herausforderungen formuliert: 1. Die konzeptionelle und gezielte Zerstörung des Katholizismus. 2. Die Zerstörung aller mit der Katholischen Kirche verbundenen Kirchen (z. B. die Ukrainische griechisch-katholische Kirche bzw. Unierte katholische Kirche der Ukraine). 3. Die diplomatische sowie politische Isolation des Heiligen Stuhls. 4. Die kontinuierlichen und willkürlichen Attacken aller Art auf den Heiligen Stuhl und die Katholische Kirche, sowie auf Katholikinnen und Katholiken in den jeweiligen Ländern. 5. Die antireligiösen Gesetzgebungen in der UdSSR blieben in Kraft und wurden auf die Satellitenstaaten übertragen. 20 Vgl. Pensiero della Santa Sede dal 1917 ad oggi circa i rapporti con l’URSS (AS Parma, Fondo Casaroli / Serie Paesi dell’est / Sottoserie Relazioni tra la Santa Sede e l’URSS, unpag., prov. Sig.).

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6. Die kommunistischen Länder blieben aus Sicht des päpstlichen Staatssekretariats „das pulsierende Herz der weltweiten [antireligiösen/antikatholischen, d. Vf.] Propaganda“21. Aus diesem Informations- und Bewertungsstand speisten sich die Entscheidungen im Vatikan in Bezug auf die neuen Satellitenstaaten und führten zu Positionsbestimmungen gegenüber den Staaten „oltrecortina“, zumal sich auch die makropolitischen Entwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg immer wieder auf die Notwendigkeiten und Möglichkeiten vatikanischer Politik auswirkten. In der unmittelbaren Nachkriegszeit, in der sich beide Blöcke – der kommunistisch dominierte und der sich demokratisch ausprägende – in gegenseitigem Expansions- und Selbstsicherungsdrang manifestierten, war die Politik der kommunistischen Regierungen gegenüber der jeweiligen Katholischen Kirche vor Ort und dem Vatikan von massiven Anfeindungen und sogar einem deutlich erkennbaren Zerstörungswillen geprägt. Durch dieses Verhalten sah sich der Papst als Oberhaupt dieser Ortskirchen mit weitgreifenden existenziellen Sorgen konfrontiert. Dass die Reaktionen auf diese Entwicklungen dabei sehr unterschiedlich waren, lag in der Natur der ungleichen religiösen/kirchlichen Konstitution der jeweiligen Länder. Das Verhalten gegenüber Polen mit einem Anteil von etwa 95 % Katholikinnen und Katholiken an der Bevölkerung musste ein anderes sein als beispielsweise das gegenüber Bulgarien mit etwa 1 % Katholikinnen und Katholiken an der Bevölkerung oder gegenüber Jugoslawien, wo konfessionelle und religiöse Diversität Beachtung finden musste. Ein Umstand, der auch für die besondere politische Situation in der DDR bzw. den nun zwei deutschen Staaten auf dem Gebiet des ehemaligen Deutschen Reichs gelten musste. Gemeinsames Kennzeichen dieser Politik war zunächst die Stärkung des jeweiligen nationalen Episkopats, denn in den wenigsten Fällen war ein direktes Eingreifen vatikanischer Stellen in die kirchenpolitischen Verläufe möglich. Dies stellte für die meisten Länder des Ostblocks notgedrungene und eher unübliche Zugeständnisse gegenüber den nationalen Episkopaten dar. Ein weiteres Problem war für die vatikanischen Diplomaten von großer Wichtigkeit: Der versiegende Informationsfluss in den Büros des Staatssekretariats bezüglich der Lage der „chiesa oltrecortina“ und damit die ausgesprochen schwierige Evaluation der jeweiligen real-religionspolitischen Lage für die Katholikinnen und Katholiken in der zweiten Hälfte der 1940er und der ersten Hälfte der 1950er Jahre. Der damalige Pro-Staatssekretär für die außerordentlichen Angelegenheiten der Kirche Domenico Tardini äußerte gegenüber dem belgischen Botschafter beim Heiligen Stuhl 1951 in diesem Zusammenhang: „die Situation [die kommunistische realpolitische Herrschaft, d. Vf.] sei außergewöhnlich und wohl von langer Dauer. Der Papst sei in

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diesen Zusammenhängen ausgesprochen pessimistisch und denke an dunkle und teuflische Machenschaften.“22 Mit dem Wechsel des Pontifikats von Pius XII. zu Johannes XXIII. kam es bei inhaltlicher Kontinuität auch zu Veränderungen in der methodischen Herangehensweise des Vatikans gegenüber den kommunistischen Staaten. So war nun eine persönliche Bereitschaft des Papstes zu erkennen, Repräsentanten kommunistisch regierter Staaten zu empfangen und nicht zuletzt war es seine klare Friedensrhetorik – vor allem in seiner Enzyklika „Pacem in Terris“ (1963)23 –, die die Wahrnehmung des Heiligen Stuhls auch in den Ländern hinter dem Eisernen Vorhang zu verändern begann. Die offizielle Politik des Vatikans wandelte sich jedoch nicht nur, weil dieser Kardinal zum Papst gewählt wurde. Casaroli schrieb hierzu in seinen Erinnerungen an die Ostpolitik des Vatikans: „Neu war nicht die Doktrin, sondern die Art und Weise, wie sie präsentiert und vielleicht manchmal interpretiert wurde und sie auf konkrete Situationen anzuwenden, ohne sie zu verraten oder zu verändern. Es ging um eine größere Bereitschaft, den Anderen zu verstehen, sich zu bemühen, die Mentalität oder die Einstellungen auch der am weitesten Entfernten einzuschätzen; die Fähigkeit, die Schwierigkeiten zu erkennen und die Kunst, ein Klima des Vertrauens zu schaffen, trotz der Distanz oder sogar des frontalen Gegensatzes der gegenseitigen Positionen; die Sorgfalt, die Menschen nicht zu verletzen, indem man die Wahrheit sagt.“24

3. Im Fokus? Die Perspektive des Vatikans auf die Lage der Katholischen Kirche in der DDR bis zum Mauerbau „Kirchenrechtlich agierten die kirchlichen Stellen in der SBZ ab Sommer 1945 in gesamtdeutschen Zusammenhängen. […] Weil die katholische Kirche im Vergleich zu den evangelischen Kirchen noch wenig im Blickfeld der SED stand und die Überwachungsmethoden ihrer Sicherheitspolitik noch sehr rudimentär waren, fanden diese innenkirchlichen Konflikte zumeist außerhalb der behördlichen Wahrnehmung von SMAD und SED statt.“25

Diese Feststellung beschreibt nicht nur die grundsätzliche Situation für die Kirchen in der SBZ und in der frühen DDR, sondern weist auch auf einen ausgesprochen relevanten und bis zum Ende der DDR höchst wirkmächtigen Faktor in der Analyse, Bewertung und den daraus erwachsenden Konzeptio22 23 24 25

Riccardi, Antisovietismo, 151. Johannes XXIII., Pacem in Terris. Casaroli, Il martirio, 11. Sch-fer, Staat, 63.

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nen des Umgangs mit ostdeutscher Staats-Kirchenpolitik hin: die Sondersituation der „Deutschen Frage“ als ganzheitlich einflussreiche, geradezu ontologische Grundkomponente staatlicher Verfasstheit der DDR. Auch in der kirchlichen Praxis spielte dieses Faktum eine herausragende Rolle, denn die meisten Leitungssitze der Zirkumskriptionsbereiche in der DDR waren in den westalliierten Besatzungszonen bzw. der BRD verortet. Lediglich die Bistumssitze Berlin und Meißen26 waren auf dem Territorium der SBZ/DDR gelegen, was den beiden dortigen Diözesanbischöfen eine besondere und dem Bischof von Berlin eine herausragende Rolle zuordnete. Die (Erz-)27Bischöfe von Berlin28 waren fortan die wichtigsten kirchenpolitischen Protagonisten, auch gegenüber dem Vatikan, und waren in der kirchlichen Hierarchie im Laufe der Existenz der SBZ/DDR die maßgeblichen Akteure. Auch aus der Perspektive des Vatikans war und blieb die „Deutsche Frage“ der Dreh- und Angelpunkt der Auseinandersetzung mit der DDR und der Hinwendung zur Katholischen Kirche in der DDR. Eine im geopolitischen Vergleich einzigartige und bedeutsame Sondersituation, die für die Analyse und die daraus erwachsenden Synthesen im Staatssekretariat höchst relevant war, denn die gesamtdeutsche Konstitution der Katholischen Kirche ermöglichte einen guten und bis 1961 nahezu ungehindert reziproken Informationsfluss aus und in die Kirche in der SBZ/DDR. Das galt zumindest für die Kommunikationsstrategie über Westberlin, wo sogar Treffen mit dem jeweilig amtierenden Nuntius stattfinden konnten. Das ermöglichte bis zum Mauerbau eine gemessen an den kirchenkampfähnlichen Verläufen in der ersten Hälfte der 1950er Jahre z. B. in Polen und Ungarn relativ ruhige Entwicklung in der DDR. Dies bedeutete freilich nicht, dass die Katholische Kirche „gute Existenzbedingungen“ vorfand oder keine Repressionen im alltäglichen Verhältnis von Staat und Kirche auch und gerade in lokalen Zusammenhängen zu erleiden hatte. Vielmehr wurde die Systemgegnerschaft staatlicherseits in Konfliktfällen willkürlich und zum Nachteil der Kirche ausgeformt und auch in der DDR gab es vereinzelte, gewaltvolle Zugriffe auf katholische Priester sowie propagandistische Angriffe auf die Kirche. Das wurde vor allem im „Kampf um die Jugend“ offenbar : Die vom SED-Staat forcierte und propagandistisch durchgesetzte Jugendweihe zielte als Konkurrenzereignis zu kirchlichen Initiationsfeiern, wie Firmung bzw. Konfirmation, klar erkennbar auf die Entkirchlichung von Erziehung und Bildung ab. Ein Kampf, der zwar in den 1970er Jahren etwas an Dynamik verlor, der aber bis zum Ende der DDR wiederholt für die einzelnen männlichen wie weiblichen Christen lebensbe-

26 Ab 1979 Bistum Dresden-Meißen. 27 Kardinal Bengsch wurde von Johannes XXIII. mit dem persönlichen Titel „Erzbischof“ bedacht (1962). Er war also Erzbischof in Berlin und nicht Erzbischof von Berlin. 28 Konrad Kardinal Graf von Preysing (bis 1950), Wilhelm Weskamm (bis 1957), Julius Kardinal Döpfner (bis 1961), Alfred Kardinal Bengsch (bis 1979).

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stimmend werden konnte und zudem ein wichtiges Distinktionsmoment und Selbstbehauptungserleben für die Einzelne bzw. für den Einzelnen darstellte29. Trotzdem war die Handlungsnotwendigkeit für den Vatikan bis zum ˇ SSR. Mauerbau nicht derart ausgeprägt wie z. B. in Polen, Ungarn oder der C Nicht zuletzt wegen der engen und durchdringenden Verbindung der „Katholischen Kirche in der DDR“ mit der „Katholischen Kirche der BRD“, die sowohl finanzielle als auch personelle und anderweitig strukturelle Hilfe ermöglichte, fand das kirchliche Leben aus katholischer Perspektive – im Sinne von Schäfers Feststellung zu Beginn des Kapitels – während der frühen Existenz der DDR wohl zeitweise „unter dem Radar“ der Partei- und Staatsführung statt. Ein Zustand, der im Vatikan wahrgenommen wurde und an dessen Erhalt man dort auch erst einmal interessiert war. Es war z. B. auf dem Gebiet der DDR nahezu komplikationslos möglich, Diözesan- und Weihbischöfe zu ernennen und auch der Priesternachwuchs sowie die Besetzung von Pfarren war durch das mögliche Theologiestudium in Erfurt (teilweise sogar an Universitäten in der BRD) und die Entsendung von Priestern aus den westdeutschen Teilgebieten von Diözesen in die jeweiligen ostdeutschen Bistumsteile gewährleistet. Diese mit Blick auf die Kirchenverfolgung in Ost- und Südosteuropa durchaus annehmbaren Verhältnisse ließen den vatikanischen Blick kontextuell eben eher auf die Kampf- und Problemfelder für die „chiesa oltrecortina“ fallen. Die Protagonisten im Staatssekretariat sahen so keinen konzeptionellen Handlungsdruck für die DDR, denn die Funktionsfähigkeit der Hierarchie war gegeben, die kirchenrechtlichen Strukturen waren funktional, die westdeutsche Kirche war als starke und genuine Partnerin im Aktionsnetzwerk und so war die Lebensfähigkeit der Katholische Kirche in der DDR nicht existenziell bedroht. Mithin ist der fehlende Fokus auf die DDR auch nicht als Nachlässigkeit ob der vergleichbar hinlänglich befriedigenden Zustände oder gar als Desinteresse zu interpretieren, vielmehr als eine temporär konzeptionelle Duldung der Verhältnisse bei stetiger Evaluation eben dieser gemeinsam mit den handelnden Personen in den Diözesen vor Ort. Mit zunehmender Herrschaftsstabilisierung der SED erfolgte allerdings von staatlicher Seite auch in der DDR eine zunehmende Hinwendung zur Katholischen Kirche als gesellschaftspolitischer Akteurin, deren Beherrschbarkeit sich zu erschweren schien. Es kam so zu einem sich konstant verschlechternden und von (quantitativ und qualitativ) anwachsenden Konflikten gekennzeichneten Verhältnis von Staat und Kirche. Einen besonderen Einschnitt stellte dabei der Mauerbau am 13. August 1961 dar und auch sonst war das Jahr 1961 für die kirchenpolitische Lage in der DDR bedeutsam, denn der wichtigste Posten in der Katholischen Kirche in der DDR erfuhr nahezu gleichzeitig mit dem Mauerbau einen Wechsel von Julius Kardinal Döpfner zu Alfred Bengsch als Bischof der Diözese Berlin. 29 Vgl. zur Jugendweihe Sch-fer, Kirche, 113–116, 140–148.

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Der neue Bischof von Berlin war in einem Bistum beheimatet, dessen Entwicklung – und das durchaus im globalen Maßstab – an Dramatik und politischer Kompliziertheit wohl kaum zu überbieten war. Seine Wahl wurde von staatlichen Stellen relativ wohlwollend betrachtet, da er ein Staatsbürger der DDR mit Wohnsitz in Ostberlin war und weil mit dieser Neubesetzung ein aus staatlicher Perspektive immer drängender werdendes „Problem“ geklärt wurde: Der Weggang von Kardinal Döpfner ließ die Partei- und Staatsführung hoffen, dass damit auch der offen kommunizierte Antikommunismus des Kardinals, der fortan in München als Erzbischof wirkte, keinen direkten Einfluss mehr auf die Gläubigen und die Kirche in der DDR haben würde30. Der Vatikan hatte mit dieser notwendigen Entscheidung (der Erzbischofsstuhl in München war in der Silvesternacht 1960 durch den Tod Kardinal Wendels vollkommen unerwartet frei geworden) zwei anstehende Entscheidungen geklärt. Zum einen konnte die Sedisvakanz in München schnell beendet und mit der Versetzung Döpfners eine kirchenpolitisch aufgeladene Situation gelöst werden31, deren Klärungsbedarf auch im Vatikan wahrgenommen wurde. Der römischen Kurie war zudem nicht entgangen, dass die kompromisslos antistaatliche Haltung Döpfners auch innerkirchlich in der Berliner Ordinarienkonferenz umstritten war. Die Versetzung Döpfners und die Neubesetzung mit Bengsch war somit auch ein kirchenpolitischer Akt, der einen Wandel in der vatikanischen Perspektive auf die DDR und die dortige Kirchenorganisation anzeigte32. Dies kann als politische Justierung in Rom betrachtet werden, die auch in der Partei- und Staatsführung in Ostberlin Widerhall fand, da die Abberufung Döpfners im Kontext der politischen Akzentsetzungen des Zweiten Vatikanischen Konzils war wohl von „Signalwirkung für die DDR-Regierung [und der] Beginn einer ,neuen‘ staatlichen Kirchenpolitik, die von Ansätzen einer ,neuen Vatikanischen Ostpolitik‘ stimuliert wurde“33. Ziel dieser „neuen Kirchenpolitik“ blieb es – einem Staatsgebilde mit vollkommenem Durchherrschungsanspruch entsprechend – jedoch, die Kirche spätestens ab diesem Zeitpunkt auch realpolitisch vollkommen unter ihre Herrschaft zu zwingen. Bengschs Linie folgte nun auch einem weniger konfrontativen Ansatz – nicht zuletzt war er kurz nach dem Mauerbau geradezu geschockt von der Ausweisung des Ratsvorsitzenden der EKD Präses Kurt Scharf und fürchtete ein ebensolches Schicksal für sich. In dieser Zeit entwickelte Bischof Bengsch, der seit 1962 in Anerkennung seiner Arbeit und zur Unterstützung eben dieser in der kirchen- und weltpolitisch besonderen Situation seiner Diözese von Johannes XXIII. mit dem persönlichen Titel eines Erzbischofs versehen wor30 Vgl. zur Wahl und den ersten Monaten seiner Bischofszeit in Berlin, im Kontext des Mauerbaus Samerski, Bengsch, 49–61. 31 Vgl. zur Rolle Döpfners in der Endphase seiner Berliner Zeit Sch-fer, Kirche, 160–164. 32 Ebd.; Samerski, Bengsch, 49 f. 33 Pilvousek, Ostpolitik, 118.

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den war, die Strategie der „politischen Abstinenz“34 : Öffentliche Positionierungen gegen DDR und SED von Würdenträgern der Kirche sollten unterbleiben, ohne dass in den anlaufenden Verhandlungen mit staatlichen Stellen Kontrapunkte und Kritik am Umgang mit der Kirche und Gläubigen ausgespart würden.

4. Im Fokus! Politische Konzeption des Vatikans nach dem Mauerbau Der Vatikan stärkte in einer Art „protokollarischer Diplomatie“ die Stellung Bengschs in Berlin. Nicht nur die Erzbischofsernennung, sondern auch seine Berufung in die „Zentralkommission zur Vorbereitung des II. Vaticanums“, von der Bengsch in einer ausgesprochen langen Privataudienz von Papst Johannes XXIII. am 7. Dezember 1961 erfuhr, waren Akzentsetzungen, die die Amtsführung des Berliner Bischofs performativ festigen und stärken sollten. Was die Lage der Katholischen Kirche in der DDR anging, wurde Bengsch zum wichtigsten Informationsgaranten des Vatikans und er stand auch in der Bewertungshierarchie für Informationen bzw. Stellungnahmen im gesamtdeutschen Kirchengeflecht für das Staatssekretariat an oberster Stelle. Diese Bewertungshierarchie entwickelte sich zu einem wichtigen Analysewerkzeug für die Vatikanische Ostpolitik und die daraus erwachsenden Konzeptualisierungen und Handlungssetzungen: Am bedeutsamsten war die Meinung und Bewertung der Sachlage durch die direkt betroffenen Bischöfe (zum Beispiel Bengsch in Berlin, aber auch Bischof Otto Spülbeck in Meißen). Eine Sonderrolle spielten dabei die Bischöfe der geteilten Diözesen in Deutschland, wie beispielsweise Erzbischof Lorenz Jaeger (Paderborn) oder Bischof Adolf Bolte (Fulda). Mit äquivalenter Wichtigkeit wurden die Sichtweisen der verhandelnden vatikanischen Vertreter einbezogen (z. B. des jeweiligen Nuntius oder anderer vatikanischer Diplomaten im Direktkontakt). An zweiter Stelle erfolgte die Evaluation der Sichtweise von sekundär betroffenen Kirchenführern wie zum Beispiel Erzbischof Döpfner (München), deren Urteil aber nicht bedeutungslos war. Im besonderen Fall der „deutschen Frage“ und des Versuchs der westdeutschen Bundesregierung, größtmöglichen Einfluss auf die Verhandlungen des Vatikans mit der DDR zu gewinnen, hatte die Perspektive der Bundesregierung in Bonn einen gewissen Einfluss, doch war diese in den meisten Fällen der Bewertung der direkt betroffenen Bischöfe untergeordnet35. In diesem Sinne kann ein „Pro Memoria“36, das der Bischof von Berlin im

34 Samerski, Bengsch, 52 f. 35 Vgl. Cerny-Werner, Ostpolitik, 345–347. 36 Vgl. Bericht über die kirchenpolitische Lage Ostdeutschlands im Rahmen der Ostblockstaaten

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Oktober 1965 dem vatikanischen Staatssekretariat zukommen ließ, gesehen werden. Bengsch wollte mit diesem Schreiben eine Handreichung für den Vatikan bieten, die aus seiner Sicht half, grundsätzlich kirchenfeindliche Strategien von vermeintlich affirmativen Taktiken im Rahmen kommunistischer Politik abzugrenzen und Interdependenzen im kirchenpolitischen Vorgehen der Regierungen „oltrecortina“ offenzulegen. Er analysierte in dem Pro Memoria die Politik der kommunistischen Länder scharfsinnig und stellte seine Schlussfolgerungen zur Verfügung. Er hielt fest, dass die Länder des Ostblocks nicht vertragsfähig und damit auch nicht konkordatsfähig wären, daher mit ihnen nur situationsbezogene Interimslösungen möglich seien. Er hielt es für wichtig, dass der Vatikan in seinem Handeln die Einheit mit den nationalen Episkopaten suchen müsse und er appellierte an ein reziprokes Bewusstsein, bestmögliche (innerkirchliche) Transparenz walten zu lassen. Um das zu gewährleisten, sah er den Vatikan als (wenn notwendig) grundsätzlichen Verhandlungspartner für kirchenpolitische Grundfragen „oltrecortina“ an. Für die DDR konkret sah Bengsch die folgenden Punkte als bedeutsam im Umgang mit der Partei- und Staatsführung an: Er plädierte für eine zukünftige Nichtakzeptanz der DDR als souveränes Völkerrechtssubjekt und forderte, dass der Erhalt der Einheit des Bistums Berlin oberste Priorität haben solle. Auf Grundlage dessen sah er es für notwendig an, auf die Unverletzlichkeit der Grenzen der kirchlichen Jurisdiktionsbereiche in der DDR zu verweisen. In seiner Wichtigkeit und Bedeutung für die vatikanische Perspektive auf die DDR ist dieses Pro Memoria kaum zu unterschätzen, nicht zuletzt weil es z. B. im Quellenkorpus des „Fondo Casaroli“37 in einer Akte eingeordnet war, die Agostino Casaroli zusammenstellte, um seinen DDR-Besuch im Juni 1975 vorzubereiten – ein Pro Memoria also, dessen Analysen und Synthesen über mindestens ein Jahrzehnt nicht an Relevanz verloren hatte. Ab dem Beginn der 1960er Jahre kam es konzilsdynamisiert auch im Vatikan zu einer Intensivierung der konzeptionellen Auseinandersetzung mit der Situation und damit Diskriminierung der Katholischen Kirche „oltrecortina“. Die Sorge um die Lage der Katholischen Kirche war ein zentrales Anliegen Pauls VI. und die vatikanischen Diplomaten begannen verstärkt, Dialogmöglichkeiten auszuloten. Sie erreichten durchaus veritable Fortschritte, wie z. B. in den Verhandlungen um die seelsorgliche Lage in Polen. Mit dem ab 1960 existierenden Sekretariat für die Einheit der Christenheit (erst als Konzilskommission, dann als päpstliches Sekretariat)38 unter der vom 27.10. 1965 (AS Parma, Fondo Casaroli / Serie Paesi dell’est / Sottoserie Germania Orientale, unpag. prov. Sig.). 37 Vgl. Cerny-Werner, Ostpolitik, 22–24. Dieser Quellenfundus ist jedoch nicht mehr uneingeschränkt zugänglich. Alle aus dem „Fondo Casaroli“ zitierten Akten sind als Kopie im Besitz des Verfassers. Eine Veröffentlichung (keine wissenschaftliche Edition) einiger Dokumente in: Barberini, La politica del dialogo. 38 Zur Gründungsphase des Sekretariats für die Einheit der Christenheit vgl. Chenaux, Un indirizzo a Roma.

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Leitung Augustin Kardinal Beas und dem 1965 etablierten Sekretariat für die Nichtglaubenden unter der Leitung Franz Kardinal Königs als Präsident39 waren zudem Organe entstanden, die federführend strategisch und taktisch in diese politische Sphäre vorstießen. Da im Laufe seiner Existenz die ökumenische Kontur des Sekretariats, dem Bea vorstand, geschärft und gestärkt werden sollte, wurde die Herausforderung der Unterdrückung der Katholischen Kirche im „orbita socialista“ in den von Kardinal König verantworteten Bereich übertragen. Kardinal Bea hatte schon 1963 in einer Abhandlung zur Einrichtung eines Organs „per gli affari della ,Chiesa oltrecortina‘“40 die zukünftigen Aufgaben vatikanischer Politik in diesen Belangen umrissen. Er sah in der Gewinnung akkurater Informationen zu den Ereignissen in kommunistischen Ländern und den daraus folgenden Evaluationen von Formen praktischer Herrschaftsausübung und rezenter Funktionsweisen kommunistischer Kirchenpolitik das wohl wichtigstes Fundament vatikanischer Ostpolitik in jeglicher Ausprägung. Diese Analysen sollten dann z. B. bei Ernennungen von Bischöfen herangezogen werden und zur Sicherung von kirchlichem Leben genutzt werden. Zudem sollte eine vom Sekretariat für die Nichtglaubenden moderierte Koordination der Zusammenarbeit vatikanischer Kongregationen in Hinblick auf deren Wirken im „orbita socialista“ erfolgen. Nicht zuletzt sollte auch die Durchführung apostolischer Weisungen und Lehren hinter dem Eisernen Vorhang gewährleistet werden und so eine bessere Koordinierung aller möglichen Hilfen für die „chiesa oltrecortina“ erreicht werden. Im Vatikan hatte sich nicht nur die Einsicht schmerzvoll durgesetzt, dass es Anfang der 1960er Jahre keine begründete Hoffnung mehr gab, die Unterdrückung der Katholischen Kirche schnell beenden zu können, sondern auch die dadurch erwachsende Handlungsnotwendigkeit für Kirche, aus einer reaktiven Position eine aktiverere Haltung einzunehmen, „um den schwer belasteten und verfolgten Söhnen zu helfen.“41 Diese notgedrungene Akzeptanz und der so entstandende Wille zur aktiven und konzeptionellen Auseinandersetzung zur Sicherung und Verbesserung der Lebensgrundlage der Katholischen Kirche „oltrecortina“ nach dem Mauerbau war ein Ergebnis der Entwicklungen im Vatikan, die in Zusammenarbeit mit den nationalen Episkopaten zu einer Systematisierung des veränderten Verhaltens gegenüber kommunistischen Ländern führte. Ziel blieb es, so zur Sicherung der Lebensfähigkeit der katholischen Gemeinden in dem jeweiligen Land zu kommen. Ein Prozess, der auch für die DDR immer mehr an Relevanz gewann. Die staatlichen Stellen der DDR waren diesbezüglich durchaus aufmerksame Beobachter und so zeigte sich die Hauptabteilung XX/4 (vormals V) des MfS über ideologisierte Gemeinplätze hinausreichend immer interessierter am 39 Vgl. Cerny-Werner, Ostpolitik, 72–75. 40 Promemoria su un organo della S. Sede (AS Parma). 41 Ebd.

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Vatikan. Auch die AG Kirchenfragen beim ZK der SED begann zum Umgang mit dem Vatikan zu arbeiten: So strebte spätestens ab dem Ende der 1960er Jahre auch die DDR direkte Kontakte mit dem Vatikan an. Dieses Interesse am Vatikan als Verhandlungspartner wurde wesentlich durch die stetig schwelende und sich Ende der 1960er und vor allem Anfang der 1970er Jahre dynamisierende „Deutsche Frage“ befeuert und DDR-seitig soweit intensiviert, dass ein Ausweichen gegenüber den immer wieder und immer deutlicher vorgetragenen Kontaktanfragen im Staatssekretariat nicht mehr opportun erschien. Zumal die sich intensivierenden Verhandlungen mit anderen kommunistisch regierten Staaten, vor allem mit Polen, die Notwendigkeit erzeugten, auch die Verhältnisse in der DDR in den Blick zu nehmen. Dabei war es immer noch nicht so sehr die Situation der Gläubigen und der Kirche in der DDR, die zwar schwieriger geworden war und an Repressionen zunahm, sondern es entwickelten sich in nun stetig Verhandlungen auf der Ebene des Staatssekretärs für Kirchenfragen und auch der Staatsicherheit mit dem Ordinariat in Berlin ein gewisser „modus vivendi“ heraus. Dieser war nicht fixiert und konstant von staatlichen Willkürhandlungen bedroht, ermöglichte aber ein faktisches und temporäres Existieren der Kirche. Vielmehr waren es die Entwicklungen in den westpolnischen Gebieten, die vormals zum Deutschen Reich gehörten, die auch die DDR zu einem kirchenrechtlich ausgesprochen komplizierten Terrain machten. Die explizite Einbettung in die „Deutsche Frage“, ein Umstand, der in der SBZ und dem ersten Jahrzehnt der Existenz der DDR noch eher positive Aspekte hatte, nahm nun durchaus bedrohliche Züge an und stellte für den Vatikan ein kompliziertes und komplexes Beziehungsgeflecht dar, das weit über die notwendige Neuzirkumskription der Bistümer östlich von Oder und Neiße hinausgriff: Ging es fortan um das (katholisch-)kirchliche Leben auf dem Gebiet der DDR, waren neben den Bischöfen in Ost- und Westdeutschland immer mehr nun auch die kontradiktorisch agierenden Regierungen in Bonn und Ostberlin in die Strategien und das taktische Vorgehen einzubeziehen42. Dabei geriet ein für die Kirche und deren Leitung früh als nutzbares Element der Außenpolitik der DDR erkannter Umstand in den Fokus der Betrachtungen: Der ausgesprochen ausgeprägte internationale Legitimationsdrang der Partei- und Staatsführung. Mithin wurde der Vatikan von Seiten der DDR als interessanter und prestigeträchtiger etwaiger Partner angesehen. In der retrospektiven Analyse des vatikanischen Staatssekretariats vom März 1990 fassten dies die Autoren zusammen und bezogen sich dabei auch auf diese bedeutsame und existenzielle Konstante der DDR-Außenpolitik: „Darin liegt nämlich der Unterschied zwischen der Situation der DDR und der Situation Polens, Ungarns oder anderer osteuropäischer Länder, die das sozia42 Vgl. zur „Deutschen Frage“ und dem Handeln des Vatikans Cerny-Werner, „…il concetto di Germania“.

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listische System aufgeben und dennoch als Nationalstaaten existieren können. Wenn ihr sozialistischer Charakter verschwinden würde, hätte die DDR nach Meinung vieler, keine ernsthafte Existenzberechtigung mehr.“43

Die hier hervorgehobene Substanz der Selbstwahrnehmung der DDR als „sozialistische Alternative“ zum „postfaschistischen (West-)Deutschland“ und das daraus konstant erwachsenden Legitimationsdefizit der DDR als „deutscher Staat“, spielte über knapp dreißig Jahre eine wesentliche Rolle auch in den Beziehungen des Vatikans zur DDR und beeinflusste somit stark das Leben der Katholischen Kirche in der DDR. Es kam zwar zu vereinzelten strukturellen Veränderungen in der Katholischen Kirche in der DDR, allerdings nicht im Sinne einer endgültigen Neuzirkumskription und auch das Bistum Berlin blieb bis 1989 ungeteilt erhalten. Die Perspektive des Vatikans war also ein Ergebnis intensiver theoretischer und praktisch-diplomatischer Auseinandersetzung, die im Wesentlichen – bei allen Diskursen und auch innerkirchlichen Verwerfungen – an dem Bewertungsgerüst festhielt, das der Erzbischof in Berlin Alfred Bengsch schon 1965 hinter dem „Portone di Bronzo“ hinterlegt hatte.

5. Exkurs: Der Vatikan und Thüringen Da der vorliegende Band einen starken Thüringen- und auch Jenabezug aufweist und das vatikanische Staatssekretariat sein Analysemikroskop eher selten und dann auch nur in Konfliktfällen auf einzelne kleinere Regionen oder Städte scharfstellte, war wohl kaum mit einem relevanten Aufscheinen Thüringens (außer freilich Erfurt als Bischofs- bzw. Administratorensitz und vereinzelt vielleicht die katholisch geprägte Enklave Eichsfeld) oder gar Jenas im vatikanischen Ostpolitikgeschäft zu rechnen. Und doch ist Thüringen auch einmal wesentlicher Schauplatz eben dieser vatikanischen Ostpolitik gewesen. Im Jahr 1975 besuchte der vatikanische „Außenminister“44 Agostino Casaroli die DDR zu einem politischen sowie pastoralen Besuch45. Von staatlichen Stellen wurde der vatikanischen Delegation vorgeschlagen, eine Kranzniederlegung an der „Neuen Wache“ Unter den Linden in Berlin durchzuführen. In Absprache mit Kardinal Bengsch lehnte Angelo Sodano während seines Vorbereitungsbesuchs in Berlin (Ost) dieses Ansinnen kategorisch ab und schlug vor, einen Blumenstrauß – keinen Kranz – in der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald abzulegen. In einer Notiz an Casaroli machte Sodano die Beweggründe, die aus Bengschs Argumentation heraus entwickelt wurden, deutlich: „Ich 43 L’Europa centro-orientale agli inizi del 1990 (AS Parma). 44 Damals Sekretär für die öffentlichen Aufgaben der Kirche. 45 Vgl. zum Besuch Casarolis in der DDR Cerny-Werner, Visit.

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bestand auf dem nichtoffiziellen Charakter der Reise; es scheint demnach nicht günstig, dem Besuch mit einer feierlichen Kranzniederlegung (unweigerlich von militärischen Ehren usw. begleitet) einen offiziellen Charakter zu geben.“46 Noch deutlicher wurde Sodano, als er Casaroli die Bedenken Kardinal Bengschs47 bezüglich der expliziten und kommunikativen Wirkungsmacht einer solchen Kranzniederlegung Unter den Linden klar machte: „Der Kardinal sagte mir, dass ein solches Foto [der Kranzniederlegung an der Neuen Wache] in allen sozialistischen Ländern die Runde machen würde und das würde ebenso der Kirche schaden, wie es auch eine Farce wäre: In einem der militaristischsten Staaten der sozialistischen Welt den Opfern von Militarismus eine Ehrenbezeugung zu erweisen.“48

In Weimar war dann ein weiterer Aspekt in der vatikanischen Wahrnehmung und analytischen Schärfe zur Politik von Partei- und Staatsführung in der DDR bemerkenswert. Statt an einer Kranzniederlegung in Berlin teilzunehmen, stattete Casaroli dem ehemalige „KZ Buchenwald“ einen Besuch ab – ein persönlicher Wunsch des vatikanischen Diplomaten. Bei dieser Gelegenheit sollte es nach der Vorstellung der ihn begleitenden DDR-Offiziellen zu einer Blumenniederlegung am sogenannten Glockenturm kommen. Ein Ansinnen, das die vatikanische Delegation ebenfalls ablehnte, denn der „Glockenturm“ galt als zentraler Bestandteil des Gedenkstättenensembles auf dem Ettersberg bei Weimar als Herzstück der DDR-Propaganda in der „Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald“. Vielmehr wollte Casaroli im sogenannten Bunker, dem ehemaligen Lagergefängnis, den dort repräsentierten Opfern der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft gedenken und legte so seinen Blumenstrauß an dem Ort ab, an dem neben hunderten brutal ermordeten Folteropfern auch der evangelische Pfarrer Paul Schneider und der katholische Priester Otto Neururer ums Leben gekommenen waren. Ein sehr bemerkenswerter Akt, denn den vatikanischen Gästen war offenbar bewusst, wie sehr der „Ort Buchenwald“ für propagandistische Zwecke aufgeladen wurde. Auch an dieser Stelle wird wieder der Einfluss der den Besuch begleitenden Vertreter der Kirche in der DDR (Bengsch und in Thüringen Hugo Aufderbeck, Bischof und Apostolischer Administrator in Erfurt) erkennbar. Ein weiteres interessantes Detail offenbart zudem die oben angesprochene Studie aus dem Staatssekretariat (Sektion II – Beziehung mit den Staaten) aus dem Jahr 1990. Dort ist zu lesen: „Im selben Moment wie das Regime eine ,Perestroika‘ weiterhin ablehnte, ging Honecker sogar soweit, die Gewalt auf dem Tiananmen Platz in Peking zu loben. Und doch begannen die Demonstrationen auf den Plätzen, so wie die in Leipzig am 46 Mons. Sodano an Erzbischof Casaroli, ohne Datum, nach 28.5. 1975, vor 2.6. 1975 (AS Parma, Fondo Casaroli / Serie Paesi dell’est / Sottoserie Germania Orientale, unpag. prov. Sig.). 47 Bengsch war seit 1967 Mitglied im Kardinalskollegium. 48 Mons. Sodano an Erzbischof Casaroli (AS Parma).

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25. September mit 10.000 Demonstrierenden, die unter anderem die Legalisierung des Neuen Forums forderten. Die Demonstrationen weiteten sich – mit hunderttausenden Personen – auf andere Städte aus, sowohl auf die großen wie, Dresden, Berlin und Jena, als auch auf die kleinen.“49

Den Autoren der Studie, in der es auf gut hundert Seiten um die Situation aller Staaten hinter dem zerfallenden Eiserneren Vorhang ging, scheint hier – auf den ersten Blick – ein klarer Fehler unterlaufen zu sein. Auch wenn es dem einen oder der anderen in Jena sicher unverständlich erscheint, ist die Stadt nicht unter die (ganz) „großen“ Städte in der DDR (wie Berlin, Leipzig, Dresden) einzuordnen. Und auch bevölkerungsquantitativ wäre das damals ca. 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner zählende Jena nicht so prominent in die Reihe Berlin, Leipzig, Dresden einzuordnen gewesen, denn Städte wie Erfurt, Chemnitz, Magdeburg, Halle oder Rostock waren damals mindestens doppelt so groß wie Jena. Bleibt die Frage, wie und warum Jena trotzdem so maßgebend Eingang in die Perspektive des Vatikans fand. Eine erschöpfende oder auch nur teilweise analytisch abgesicherte Antwort auf diese Frage kann freilich so lang nicht gegeben werden, wie die Autorenschaft, die Textgenese und andere Texteinflüsse auf die Studie (z. B. weitere im vatikanischen Staatssekretariat eingegangene oder eingeforderte Informationen und Berichte von Vertretern der Kirche in der DDR) nicht klar erkennbar sind. Auf eine diesbezügliche Öffnung der vatikanischen Archive werden (Kirchen-)Historikerinnen und Historiker sicher noch länger warten müssen (im Moment sind die Akten des Pontifikats Pius XII. bis 1958 zugänglich). Und doch sei an dieser Stelle eine – nicht abschließend primärquellengestützte – vorläufige Interpretation des hier vorliegenden Umstandes erlaubt. Im Kontext der Rolle der Stadt Jena im Verlauf der DDR-Geschichte schienen immer wieder ausgesprochen bedeutsame Momente für die Opposition in der DDR auf. Zu nennen wäre hier z. B. das Wirken von Persönlichkeiten der Bürgerrechtsbewegung(en) wie Jürgen Fuchs, Lutz Rathenow, Roland Jahn oder der tragische Tod von Matthias Domaschk. Auch die UnterschriftenAktion der „Jenaer Jungen Gemeinde Stadtmitte“ 1976, neben dem Offenen Brief der Künstlerinnen und Künstler in der DDR gegen die willkürliche Ausbürgerung Wolf Biermanns, eine der wichtigsten Widerstandsaktionen der zweiten Hälfte der 1970er Jahre in der DDR. Das Geschehen in Jena und vor allem auch die darauffolgende Verhaftungswelle wurden weit über oppositionelle Kreise in der DDR hinaus und im Ausland rezipiert und waren Teil des durch die Ausbürgerung Biermanns dynamisierten Widerstands gegen das Regime. Es könnte also sein, dass die Perspektive des Vatikans auf Jena „als eine große Stadt“ keine einwohnerzahlzentrierte Betrachtung der Sachlage war, 49 L’Europa centro-orientale agli inizi del 1990 (AS Parma).

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sondern dass die allgemeine Wahrnehmung der in Jena durchaus außergewöhnlichen Oppositionsbewegung in den 1970er und frühen 1980er Jahren das Bild Jenas als eine Stadt des Widerstands gegen das DDR-Regime auch bis auf die Flure des vatikanischen Staatssekretariats getragen haben könnte. Entsprang die Einreihung Jenas in die Folge „großer Städte der DDR“ also dieser Sichtweise, dann wäre eine Nennung Jenas als „große Stadt“ in einer vatikanischen Studie durchaus gerechtfertigt.

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Falk Bersch

Die Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas als marginalisierte und diskriminierte Gruppe im Kontext der Einführung der Wehrpflicht „Als Zeuge Jehovas gehört es zur Biographie, dass man irgendwann eingesperrt wird. Das war mir schon als Siebenjähriger klar.“1 Die Worte stammen von Uwe Damm, der in den 1980er Jahren in der DDR den Wehrdienst verweigerte und daraufhin verurteilt und inhaftiert wurde. Sie spiegeln die Erfahrungen wider, die Zeugen Jehovas im vergangenen Jahrhundert in Deutschland gemacht haben. Sowohl im Nationalsozialismus als auch in der DDR wurden Angehörige der Religionsgemeinschaft schwer verfolgt. Es gibt Fälle, in denen Angehörige mehrerer Generationen einer Familie inhaftiert waren – der Vater in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten, der Sohn in den Haftanstalten des SED-Regimes der 1950er Jahre und der Enkel als Wehrdienstverweigerer in den 1970er oder 1980er Jahren. So war die Verfolgung beinahe schon zu etwas Selbstverständlichem geworden. Dabei machten die Kriegs- bzw. Wehrdienstverweigerer sowohl im NS-Staat als auch in der DDR nur einen Teil der verfolgten und inhaftierten Zeugen Jehovas aus.

1. Einführung Die Verfolgung von Mitgliedern der Religionsgemeinschaft begann bereits 1914. Für Bibelforscher – wie sich die Zeugen Jehovas bis 1931 nannten – war der Konflikt, einerseits der Obrigkeit untertan zu sein und andererseits nach biblisch-christlichen Werten, wie dem Gebot der Nächstenliebe, zu leben und sich neutral zu verhalten, schwer zu lösen. Ihnen war in den Schriften ihrer Gemeinschaft empfohlen worden, sich in Sanitäts- oder Verwaltungstruppen versetzen zu lassen. Wenn dies nicht gelingen sollte, so wurden sie erinnert, dürfe sie niemand zwingen, auf Menschen zu schießen. Im Ersten Weltkrieg begann die Geschichte der Kriegsdienstverweigerung der Glaubensgemeinschaft. In der Mitte des Krieges widersetzten sich immer mehr Bibelforscher dem Militärdienst. Während einige wenige schon vor der Einberufung den Militärdienst konsequent ablehnten, kamen vielen anderen während ihres Soldatendienstes starke Gewissenszweifel. Manchen von ihnen wurde klar, dass sie nicht weiter Soldat sein konnten. Von den etwa 400 Bibelforschern, die 1 Bersch, Opfer, 120.

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in die deutsche Armee einberufen wurden, leisteten die allermeisten zunächst Armeedienst, oft in einem nichtkämpfenden Truppenteil. Im Laufe des Krieges entschieden sich immer mehr zur totalen Verweigerung. Mindestens 46 von ihnen wurden nach psychiatrischer Begutachtung wegen religiös motivierter Wehrdienstverweigerung oder militärischem Ungehorsam von einem Kriegsgericht zu Haftstrafen verurteilt2. Im Nationalsozialismus waren die Folgen ihrer nun konsequenten Kriegsdienstverweigerung ungleich schwerer. Nach aktuellem Forschungsstand wurden nach Einführung der Wehrpflicht 1935 bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges 1939 97 Zeugen Jehovas militärgerichtlich verfolgt. Außerdem befanden sich zu diesem Zeitraum mehrere hundert Wehrpflichtige aus ihren Reihen in Schutz- oder Strafhaft, so dass die Wehrmacht nicht über sie verfügen konnte. Mit der totalen Mobilmachung traf immer mehr Zeugen Jehovas die Einberufung. Nach Forschungen von Marcus Herrberger sind bislang insgesamt 503 militärgerichtlich Verfolgte registriert. Von diesen wurden 282 nach einem Todesurteil hingerichtet, 22 verstarben in der Haft und 33 kamen bei Einsätzen in Strafeinheiten oder in Kriegsgefangenschaft ums Leben3.

2. Jehovas Zeugen in der SBZ und der DDR In der SBZ wurden die Zeugen Jehovas als Opfer des Faschismus (OdF) anerkannt, unter ihnen auch Opfer der NS-Militärjustiz bzw. deren Hinterbliebene. Nach der Gründung der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) in der DDR 1947 wurde der OdF-Status immer mehr von der politischen Gesinnung abhängig gemacht. Dem Maurer Herbert Jahn, der sich von 1936 bis 1945 aufgrund seiner Kriegsdienstverweigerung in Gefängnissen und Konzentrationslagern befand, wurde Mitte 1947 von seinem OdF-Betreuer in Parchim die Gewährung einer Beihilfe mit der Begründung „Jehovas Zeugen seien staatsverneinend“ und würden „verkappte Kriegshetze“ betreiben, verweigert4. Als sich Jahn daraufhin um eine Aussprache bemühte und auf das 2 Vgl. Herrberger, Bibelforscher. 3 Vgl. Herrberger, Jehovas Zeugen, 137 f. Diese Todesfälle haben die Gesetzgebung der jungen Bundesrepublik nicht unberührt gelassen. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland gewährleistet im Art. 4 das Recht auf Kriegsdienstverweigerung (Abs. 3). Im Parlamentarischen Rat waren es ehemals verfolgte Sozialdemokraten, die 1948/49 bei der Ausformulierung des Art. 4 ausdrücklich auf die „ernsten Bibelforscher“ hinwiesen, die „für ihre Glaubensüberzeugung gestorben“ seien (Hesse, Pflicht, 138 f.). 4 Schreiben Herbert Jahn an den OdF-Landesausschuss Schwerin vom 12.7. 1949 (LHA Schwerin, 7.11–1–2, Nr. 746). Der Vorwurf, der selbst heute noch erhoben wird, ist falsch. Jehovas Zeugen erkennen den Staat als die von Gott angeordnete Obrigkeit an, der sie sich vorbildlich unterzuordnen haben. Für sie findet die Autorität des Staates jedoch dort ihre Grenze, wo die Belange Gottes zu beachten sind. In einem Konfliktfall werden sie gemäß Apostelgeschichte 5,29 „Gott

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Verhalten der Zeugen Jehovas während des Zweiten Weltkrieges aufmerksam machte, entgegnete ihm der Betreuer : „Ihr seid ja nur zu feige, ein Gewehr in die Hand zu nehmen.“5 Eine Beschwerde bei der übergeordneten Dienststelle brachte Frucht. Der Betreuer wurde angewiesen, die Zeugen Jehovas so zu „behandeln, wie jedes andere anerkannte“ Opfer des Faschismus. Zur Begründung hieß es, die Bibelforscher seien „konsequente Kriegsgegner […] selten ist [im KZ] einer umgefallen […] bis zum Zeitpunkt unserer Befreiung mussten wir vor den Bibelforschern die größte Hochachtung haben. Wir werden den Bibelforschern weder im Guten noch im Bösen eine andere […] Staatsauffassung beibringen können“6.

1947 waren in SED und VVN noch zwei Tendenzen zu beobachten. Zum einen wollte man die Zeugen Jehovas trotz weltanschaulicher Gegensätze enger an die Arbeit der VVN heranführen; zum anderen gab es die geistig intolerante Strömung, die Zeugen Jehovas als Element der Spaltung zu denunzieren. Letzteres setzte sich schließlich durch7. Jahn wurde wie anderen Zeugen Jehovas spätestens kurz nach seiner Verhaftung und dem Verbot der Religionsgemeinschaft in der DDR am 30. bzw. 31. August 1950 der OdF-Status aberkannt. Dass die Kommunisten ihre ehemaligen Lagerkameraden nicht nur abwerteten, sondern auch kriminalisierten und erneut verfolgten, war ein Bruch und ein deutliches Zeichen für den Charakter des Regimes. Jahn wurde im Dezember 1950 vom Landgericht Schwerin zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt8. In der DDR gab es 1950 etwa 23.000 Zeugen Jehovas. Bis Mitte der 1960er Jahre wurden 2.253 Zeugen Jehovas von den Strafgerichten zu Zuchthausstrafen verurteilt, die Vorwürfe lauteten „Boykotthetze“ und „staatsgefährdende Nachrichtenübermittlung“ (nach Art. 6 der DDR-Verfassung, ab 1958 §§ 15 und 19 des DDR-Strafgesetzbuches) und/oder „Kriegshetze“ (nach Kontrollratsdirektive 38). 325 der Verurteilten waren bereits in der NS-Zeit in Haft. Mitte der 1960er Jahre hatte sich die Vorgehensweise gegen die Glaubensgemeinschaft geändert. Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) versuchte nun die Religionsgemeinschaft zu unterwandern und von innen zu „zersetzen“. Nur noch die Wehrdienstverweigerer aus den Reihen der Zeugen Jehovas wurden inhaftiert und verurteilt. Andere Mitglieder der Glaubensgemeinschaft, die etwa beim Verkünden von Haus zu Haus von der Volkspolizei gestellt wurden, mussten Geldstrafen bezahlen. Ab 1985 wurden auch

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dem Herrscher, mehr gehorchen als den Menschen“ (Vgl. Jehovas Zeugen Informationsbero, Staatsverständnis). Schreiben Herbert Jahn an den OdF-Landesausschuss Schwerin vom 12.7. 1949 (LHA Schwerin, 7.11–1–2, Nr. 746). Schreiben der Landesregierung Mecklenburg vom 23.9. 1949. In: ebd. Vgl. Bersch, Aberkannt, 110 f. Vgl. Bersch / Herrberger, Verfolgung, 16.

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keine Zeugen Jehovas mehr zum Wehrdienst eingezogen9. Von 1962 bis 1985 standen 2.750 junge Zeugen Jehovas wegen Wehrdienstverweigerung vor DDR-Gerichten. Sie machten etwa 45 Prozent aller Totalverweigerer10 und annähernd 90 Prozent aller verurteilten Totalverweigerer in der DDR aus. Auch etwa 50 Prozent der Verweigerer des Reservistendienstes waren Zeugen Jehovas. Die Zahlen zeigen deutlich, dass die meisten Totalverweigerer in der DDR aus den Reihen der Glaubensgemeinschaft kamen11.

3. Jehovas Zeugen und die Wehrpflicht 3.1 Die NVA als „Freiwilligenarmee“ Die Nationale Volksarmee (NVA) bestand seit 1956 zwar als „Freiwilligenarmee“, dennoch konnte es für Personen, die dem Militärdienst bzw. der Militarisierung der Gesellschaft kritisch gegenüberstanden, gesellschaftliche und berufliche Nachteile geben. Der Zeuge Jehovas Rainer Koch aus Bleicherode arbeitete nach seiner Schulentlassung zur Vorbereitung eines Studiums an der Bergarbeiter-Akademie im Bergbau. 1958 wurde nach einjähriger Tätigkeit seine Aufnahme zum Studium abgelehnt, da er „sich weigerte, an der vormilitärischen Ausbildung der GST [Gesellschaft für Sport und Technik] teilzunehmen und nicht bereit war, sich gesellschaftlich zu beteiligen.“12 Der Maurer Harry Krüger wurde 1961 wegen seiner fehlenden Bereitschaft, „freiwillig“ in der NVA zu dienen, durch den Volkseigenen Betrieb (VEB) Bau Oranienburg, Betriebsteil Velten, fristlos entlassen. Er musste stattdessen eine Tätigkeit im VEB Stahl- und Walzwerk in Hennigsdorf aufnehmen, die mit geringeren Einkünften verbunden war13. Die Kaderabteilung des VEB schrieb dazu am 25. September 1961: „Seine negative Einstellung [zum Arbeiter- und Bauernstaat] brachte er dadurch zum Ausdruck, dass er bei der Werbung unserer Nationalen Volksarmee es kategorisch ablehnte und sich nicht verpflichtet fühlte, die Errungenschaften unserer Deutschen Demokratischen Republik zu verteidigen. Bedingt durch seine negative Einstellung wurde durch die Werbungskommission vorgeschlagen, [ihn] 9 Vgl. Bersch, Aberkannt, 303. 10 Der Begriff „Totalverweigerer“ war im DDR-Sprachgebrauch unüblich. Er wird gebraucht, um den Unterschied zu den Bausoldaten aufzuzeigen, die auch Wehrdienstverweigerer waren. Alternativ kann auch von „Prinzipiellen Verweigerern des Militärdienstes“ gesprochen werden. Die Totalverweigerer in der DDR sind nicht gleichzusetzen mit der Gruppe der Totalverweigerer in der Bundesrepublik. 11 Vgl. Dirksen, Keine Gnade, 784, 869. 12 Militärgericht Erfurt, Urteil gegen Rainer Koch vom 2.12. 1964, Az.: S 88/64 MG-Er (Privatarchiv Bersch). 13 Vgl. Schreiben Harry Krüger an Falk Bersch vom 4.3. 2010 [Poststempel] (Privatarchiv Bersch).

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nach dem Stahl- und Walzwerk umzusetzen mit dem Hinweis, dass er für eine bestimmte Zeit seine Tätigkeit in der Giesgrube des Stahlwerkes aufnehmen solle.“14

3.2 Die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht Mit Einführung der allgemeinen Wehrpflicht am 24. Januar 1962 begannen Inhaftierungen der Wehrdienstverweigerer. Bereits bei der ersten Einberufungswelle im April 1962 verzeichneten die Behörden 231 Wehrdienstverweigerer. Ein ähnliches Bild ergab sich im Herbst 1962, als 287 junge Männer ihre Verweigerung erklärten15. Unter ihnen befanden sich auch Zeugen Jehovas. Wie viele von ihnen in dieser Anfangsphase verhaftet und in einigen Fällen verurteilt wurden, lässt sich heute nicht mehr genau feststellen. Für das Jahr 1962 sind für die gesamte DDR über 40 Fälle bekannt16. Dazu kommen diejenigen, die wie Rainer Koch 1962/63 festgenommen, deren Ermittlungsverfahren aber eingestellt wurden17. Obwohl 1963 in der DDR die Militärgerichte geschaffen wurden, finden sich bis in das Jahr 1964 noch Urteile ziviler Gerichte18. Dabei offenbarten die Kreisgerichte keine einheitliche Vorgehensweise gegen die Wehrdienstverweigerer. Eine Auswertung vorliegender Daten aus dem Jahr 1962 ergibt sowohl Bewährungsstrafen als auch Haftstrafen von sechs bis 15 Monaten. Beispielsweise wurde Peter Lobenstein am 5. April 1962 in Haft genommen und am 19. Mai 1962, wie er berichtet, „in einem Schnellverfahren vom Kreisgericht Bautzen wegen Wehrdienstverweigerung zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Die Strafe wurde für zwei Jahre zur Bewährung ausgesetzt.“19 Der Feinmechaniker Gerhard Kirsten hingegen wurde am 7. September 1962 „wegen Verletzung der Wehrpflicht […] zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt“20. 3.3 Zur Motivation der Wehrdienstverweigerung Gemäß den behördlichen Einschätzungen hatten die jungen Männer aus den Reihen der Zeugen Jehovas im Arbeits- und Privatleben einen guten Ruf. Stellvertretend soll hier aus dem Ermittlungsbericht der Volkspolizei-

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Privatarchiv Bersch. Vgl. Diedrich, Aufrüstung, 149 f. Vgl. Dirksen, Keine Gnade, 754. Erlebnisbericht Rainer Koch, Januar 1998 (Privatarchiv Bersch). Vgl. Dirksen, Keine Gnade, 761. Schreiben Peter Lobenstein vom 14.12. 1998 (JZArchZE, O-LB Lobenstein, Peter). Kreisgericht Dippoldiswalde, Urteil gegen Gerhard Kirsten vom 7.9. 1962 (JZArchZE, O-ZZ Kirsten, Gerhard).

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Dienststelle Eibau über den Arbeiter Helmut Rüster vom 20. November 1962 zitiert werden, in dem ihm bescheinigt wurde: „Sein Leumund im Ort ist einwandfrei. Im Betrieb gibt es keine Differenzen mit ihm, er zeigt eine vorbildliche Einstellung zur Arbeit. Sein Verhalten bei den anderen Kollegen ist einwandfrei und diszipliniert. Bei politischen Gesprächen verhält er sich passiv. Er tritt in keiner offenen Form negativ auf oder spricht sich gegen die Interessen unseres Staates aus. So erklärt er lediglich nüchtern und sachlich, dass ihm seine Überzeugung verbietet, einer politischen Organisation oder Partei beizutreten oder eine Waffe gegen einen anderen Menschen zu richten. Man muss real einschätzen und anerkennen, dass alle Familienangehörigen einen vorbildlichen Lebenswandel führen, ein mustergültiges und harmonisches Familienleben gestalten und nicht den geringsten Anlass für einen Tadel geben, was für uns ein Einschreiten notwendig machen würde. […] [Abschließend schränkt der Bericht ein:] Davon ausgeschlossen soll ihre Arbeit als Zeugen Jehovas betrachtet werden.“21

In den Anklage- und Urteilsschriften gegen die Wehrdienstverweigerer aus dem Jahr 1962 wird detaillierter auf deren Gewissensentscheidungen22 eingegangen, als in den späteren Urteilen der Militärgerichte. So heißt es in der Anklageschrift des Kreisgerichts Stollberg gegen den Schlosser Werner Barthel vom 18. April 1962 nur allgemein: „Sein Ablehnen begründet er damit, dass er aufgrund seiner christlichen Einstellung und Anschauung heraus, der Ableistung des Wehrdienstes nicht nachkommen kann.“23 Die Anklageschrift des Kreisgerichtes Freiberg gegen den Arbeiter Wolfgang Hanusch vom 21. April 1962 geht noch detaillierter auf dessen Verweigerungsgründe ein:

21 Volkspolizei Dienststelle Eibau, Ermittlungsbericht über Helmut Rüster vom 20.11. 1962 (Privatarchiv Bersch). 22 Ein Zeuge Jehovas sah es mit seinem Glauben als unvereinbar an, in der NVA zu dienen. Ebenso konnte ein Zeuge Jehovas nicht SED-Mitglied sein. Die Entscheidung, den Wehrdienst abzulehnen, traf eine Person durch ein sorgfältiges Studium der Bibel bevor sie ein Zeuge Jehovas wurde. Trat ein Zeuge Jehovas den Wehrdienst in der NVA an, ob regulär oder als Bausoldat, verließ er damit die Glaubensgemeinschaft, wobei dies in den ersten Bausoldatendurchgängen aufgrund Unklarheiten über den Charakter des Dienstes anders betrachtet worden sein mag. Ein Zeuge Jehovas, der Soldat wurde, hatte die Möglichkeit, später zur Gemeinschaft zurückzukehren, besonders – aber nicht nur – dann, wenn er unter Druck seiner religiösen Überzeugung zuwidergehandelt hatte. Die vorliegenden schriftlichen Zeugnisse zur Wehrdienstverweigerung von Angehörigen der Glaubensgemeinschaft (Verweigerungserklärungen, Verhörprotokolle, Anklage- und Urteilsschriften) zeigen eindeutig, dass der Entschluss zur Wehrdienstverweigerung des Einzelnen nicht aufgrund eines Druckes von Seiten der Gemeinschaft zustande kam, sondern in jedem Fall eine persönliche Gewissensentscheidung war, die der Betreffende mit sich und Gott ausgemacht hatte. Hier bietet sich ein Vergleich mit den Kriegsdienstverweigerern aus den Reihen der Zeugen Jehovas im Zweiten Weltkrieg an, wo die Konsequenz der Entscheidung die Todesstrafe war. Zu den Gewissenskonflikten von kriegsdienstverweigernden Zeugen Jehovas im Zweiten Weltkrieg vgl. Herrberger, Widerstand. 23 Dirksen, Keine Gnade, 758 f.

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„Als das Wehrpflichtgesetz von der Volkskammer beschlossen und verabschiedet wurde, machte sich der Beschuldigte Gedanken, wie er sich dazu verhalten solle. Er beriet sich mit seiner Mutter und las in der Bibel nach. Aufgrund dessen kam er zu dem Entschluß den Wehrdienst abzulehnen. […] Am 26.3. 1962 schickte der Beschuldigte den Einberufungsbefehl mit einem Schreiben an das Wehrkreiskommando zurück, indem er beantragte, ihn vom Wehrdienst zu befreien, da er aufgrund seines christlichen Gewissens keine Waffe in die Hand nehmen könne und in der DDR laut Verfassung Glaubens- und Gewissensfreiheit bestehe.“24

Über den Ofensetzer Wolfgang Haake hieß es in der Anklageschrift des Kreisgerichts Neubrandenburg vom 14. Mai 1962: „Der Beschuldigte führt an, dass er den Dienst in der Nationalen Volksarmee aus Glaubens- und Gewissensgründen nicht verantworten könne. Nach seinem Glauben würde es im Widerspruch zu ,Gottes Gesetzen stehen‘, wenn er […] Waffendienst erlernt.“25

Freilich nutzte der Hinweis auf Glaubens- und Gewissensfreiheit den Wehrdienstverweigerern ebenso wenig wie die Tatsache, dass ihre Väter und Großväter unter Adolf Hitler den Kriegsdienst verweigert hatten. Dass die Richter ein Problem damit hatten, die Verweigerungen als religiöse Gewissensentscheidungen einzuordnen, zeigen die Formulierungen in den Urteilen. So wird über den Kraftfahrzeughandwerker Jürgen Bock im Urteil des Kreisgerichts Gera-Stadt vom 30. Mai 1962 erklärt: „Er nahm nicht wie die große Mehrheit der gläubigen Menschen gemeinsam mit den nichtgläubigen Bürgern in [den Massen]organisationen vereint, den Kampf für die Erhaltung des Friedens auf. […] Der Angeklagte wollte dem Gericht glaubhaft machen, dass er wegen des Gebotes Gottes ,Du sollst nicht töten‘, das Waffenhandwerk nicht erlernen will. […] Wenn der Angeklagte wirklich nach den Geboten der Bibel handeln würde, wie das so viele christliche Bürger der Deutschen Demokratischen Republik tun, dann wäre es eine höchste und heiligste Pflicht, für die Erhaltung des Friedens in der Welt seine ganze Kraft einzusetzen. Und das ist in der gegenwärtigen Situation nur möglich, wenn die Kräfte des Militarismus und Imperialismus durch eine starke Verteidigungsarmee des sozialistischen Lagers in Schach gehalten werden.“26

Auch die Urteile der Militärgerichte ab 1963 lassen erkennen, dass angeführte Glaubens- und Gewissensgründe nicht anerkannt wurden. Vielmehr wurden sie als „Ausflüchte“27 bezeichnet, es wurde häufig von „angeblichen“ Glaubens- und Gewissensgründen gesprochen oder diese in Anführungszeichen

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Ebd., 755. Ebd., 756. Privatarchiv Dirksen. Dirksen, Keine Gnade, 766.

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gesetzt28. In späteren Urteilen wurde die Wehrdienstverweigerung immer wieder als „schwerwiegender Angriff gegen die Interessen zur Verteidigung und zum militärischen Schutz unseres sozialistischen Staates“29 hochstilisiert. Die Staatssicherheit nutzte die Einberufung zur NVA auch zur Ausschaltung besonders aktiver Zeugen Jehovas. Hier soll das Vorgehen gegen den Werkzeugmacher Horst Schleußner als Beispiel dienen. Im August 1967 plante das MfS die Ausschaltung des “ZJ-Funktionärs […] durch dessen Einberufung zum Wehrdienst”30. Da Schleußner die gesetzliche Altersgrenze für Wehrdienstleistende bereits überschritten hatte, wurde er zur Ableistung eines dreimonatigen Reservistendienstes einberufen. Schleußner erhielt im Januar 1968 den Einberufungsbefehl, den er mit einer Darstellung seiner Glaubensund Gewissensgründe zurückschickte. Er trat den Dienst nicht an und wurde am 4. April 1968 zu einer Gefängnisstrafe von sieben Monaten verurteilt. Während er in der Strafvollzugsanstalt (StVA) Cottbus inhaftiert war, plante das MfS weitere Maßnahmen gegen ihn. Er sollte kompromittiert werden, indem das Gerücht einer Zusammenarbeit mit dem MfS unter den Zeugen Jehovas verbreitet wurde31. 3.4 Jehovas Zeugen und der Bausoldatendienst Um der Verweigerungswelle den Druck zu nehmen arbeitete die DDR-Regierung ab Sommer 1963 an einem Konzept, das einen Wehrdienst ohne Waffe vorsah. Am 7. September 1964 trat dann die Verordnung zur Schaffung von Baueinheiten in Kraft. Der 18 Monate dauernde Bausoldatendienst war eindeutig militärisch geprägt: Ausbildung, Uniformen – wenn auch mit einem Spaten auf dem Schulterstück –, Arbeiten an militärischen Objekten und ein Gelöbnis statt Fahneneid, das aber dennoch verpflichtete, sich für die „Verteidigungsbereitschaft“ der DDR einzusetzen und den „Vorgesetzten unbedingten Gehorsam zu leisten“, ließen den Dienst in den Augen der Wehrpflichtigen immer wieder als einen „faulen Kompromiss“32 erscheinen. Diesen ging man nur ein, weil die Alternative Gefängnis und darüber hinaus verbaute berufliche Aufstiegschancen waren33. Der Bausoldatendienst war kein Wehr-

28 Vgl. Militärgericht Dresden, Urteil gegen Klaus Fleischer vom 1.12. 1964 (JZArchZE, O-ZZ Fleischer, Klaus); Militärgericht Erfurt, Urteil gegen Rainer Koch vom 2.12. 1964 (Privatarchiv Bersch); Dirksen, Keine Gnade, 771. 29 Ebd., 779; Bersch / Herrberger, Verfolgung, 29. 30 Dirksen, Keine Gnade, 771. 31 Vgl. ebd., 771 f. 32 Eppelmann, Acht Monate, 26. „Wer Bausoldat ist, sagt F., ist nicht konsequent.“ (Richter, Güllenbuch, 48). 33 Vgl. Bersch / Dirksen, Berndshof, 81.

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ersatzdienst, sondern ein Wehrdienst unter anderen Bedingungen34. Die Zeugen Jehovas lehnten ihn grundsätzlich ab35. Die Einführung des Bausoldatendienstes bedeutete für einige Zeugen Jehovas, die bereits ab 1962 aufgrund ihrer Wehrdienstverweigerung von den Kreisgerichten zu Haftstrafen abgeurteilt worden waren, eine erneute Inhaftierung und Verurteilung durch die Militärgerichte. Bisher konnten acht Personen namentlich ausgemacht werden, auf die dies zutraf. Andere Zeugen Jehovas wurden im Gefängnis mit dem neuen Gesetz konfrontiert und ihnen wurde die Entlassung in Aussicht gestellt, wenn sie den Bausoldatendienst aufnehmen würden. Durch drei Beispiele soll verdeutlicht werden, wie einzelne Zeugen Jehovas auf das neue Gesetz reagierten. Manfred Lüthy war am 5. Juni 1964 vom Militärgericht Schwerin wegen Wehrdienstverweigerung zu einer Haftstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt worden. Er wurde zunächst zur Haftverbüßung in die StVA Bützow-Dreibergen gebracht, drei Monate später dann in das Militärstrafgefängnis Berndshof. Dort wurde ihm im Herbst 1964 ein Vorschlag unterbreitet: „Eines Tages […] wurde ich in das Wachzimmer der Lagerleitung gerufen und man legte mir eine Gesetzesvorlage für den sogenannten Wehrersatzdienst zur Unterschrift vor. Es ging zwar um einen Dienst ohne Waffen, aber dass ich einsetzbar sein würde für den Bau von militärischen Anlagen […]. Der Fahneneid blieb bis auf eine kleine Änderung bestehen. Das war alles für mich unakzeptabel. […] Meine Unterschrift hätte die sofortige Haftentlassung bewirkt.“36

Im August 1965 wurde Lüthy in die StVA Bautzen verlegt, dort erfolgte Anfang November seine Entlassung37. Einige Zeugen Jehovas zogen den Dienst in den Baueinheiten zunächst aufgrund einer unzureichenden Informationslage über deren Charakter in Erwägung. Dies war später nicht mehr der Fall. An dem, was der am 4. März 1964 vom Militärgericht Berlin wegen Wehrdienstverweigerung zu 18 Monaten verurteilte Tischler Peter Rößler erlebte, lässt sich das verdeutlichen. In der Haftanstalt Berlin-Rummelsburg wurde ihm im Oktober 1964 ein Gnaden34 Vgl. Mengel, Anfang, 27. 35 So heißt es im Urteil des Militärgerichts Halle gegen Gerhard Huth vom 20.11. 1964: „Als mit der Aufstellung von Baueinheiten im Bereich des Ministeriums für Nationale Verteidigung unser Staat religiös gebundenen Menschen entgegengekommen war und ihnen die Möglichkeit gegeben hatte, Wehrersatzdienst ohne Waffe ableisten zu können, brachte der Angeklagte neue Ausflüchte. Er weigert sich nunmehr ein Gelöbnis abzulegen, Uniform zu tragen und keinerlei Dinge zu tun, die militärischen Charakter tragen. Er möchte demnach auch nicht in einem militärischen Objekt untergebracht sein. Mithin will er keinerlei mit der Ableistung des Wehrersatzdienstes bedingte persönliche Einschränkung auf sich nehmen und versucht diese seine persönlichen Motive mit Glaubensgründen zu überdecken.“ (zitiert nach Dirksen, Keine Gnade, 766). 36 Lebensbericht von Manfred Lüthy, undatiert (Privatarchiv Bersch). 37 Vgl. Entlassungsschein Manfred Lüthy vom 5.11. 1965 (Privatarchiv Bersch).

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gesuch vorgelegt, das seine Frau eingereicht hatte, und eine baldige Entlassung in Aussicht gestellt, wenn er sich schriftlich bereit erklären würde, den „Pflichten des Wehrersatzdienstes“ nachzukommen, wie es der Staatsanwalt formulierte. Auf seine Nachfragen, was für Pflichten das seien, antwortete dieser ausweichend. Auf die Frage, ob er eine Uniform anziehen müsse, auch: „Es kann sein, dass sie eine Arbeitskleidung kriegen. Aber es ist kein Dienst an der Waffe. Denn das ist für Leute wie sie.“38 Rößler unterschrieb, zog aber später, nachdem es ihm gelungen war, sich den entsprechenden Gesetzestext zu besorgen und sich besser zu informieren, seine Unterschrift zurück und wurde deshalb in das Militärstraflager Berndshof überführt39. Das Beispiel von Manfred Ruppert veranschaulicht, wie junge Zeugen Jehovas trotz Umwegen zu ihrer Gewissensentscheidung gelangten. Ruppert machte 1958 Abitur. Weil er anschließend Medizin studieren wollte, meldete er sich „freiwillig“ zum Dienst in der NVA. Ende Juli 1958 kam er zu einer Einheit nach Stern-Buchholz bei Schwerin. Der dortige Militärarzt stellte bei ihm jedoch eine mittelschwere Herzkrankheit fest, die sich im Nachhinein als Fehldiagnose erwies, aber bewirkte, dass Ruppert nach zwei Tagen Wehrdienst bereits wieder entlassen wurde. So begann er 1958 mit dem Medizinstudium in Greifswald. In Greifswald beschäftigte er sich auch mit der Bibel und wurde 1961 ein Zeuge Jehovas. Durch seinen neuen Glauben änderte sich seine Einstellung zum Wehrdienst. Nachdem 1961 auf der Universität das neue Wehrpflichtgesetz diskutiert wurde, kam auch Ruppert unter Druck. Nicht nur vor Beginn, auch mitten im Studium, wurden die Studenten aufgefordert, sich „freiwillig“ bei der NVA zu melden. In Greifswald geriet Ruppert in den Fokus der Universitätsleitung, als er solch eine „Freiwilligenmeldung“ ablehnte. Zudem hatte er nicht an der Volkswahl teilgenommen. Dass er nicht exmatrikuliert wurde, verdankt er seinen Kommilitonen, die sich zunächst nicht von ihm distanzierten40. Anfang 1962 trat schließlich das neue Wehrpflichtgesetz in Kraft. Im Frühjahr 1963 erhielt Ruppert den Musterungsbescheid. Auf die Frage der Musterungskommission, zu welcher Waffengattung er denn eingezogen werden wolle, antwortete er : „Zu gar keiner.“41 Die Konsequenzen folgten alsbald. Am selben Abend wurde er von der Musterungskommission ins Verhör genommen und der Rektor der Universität löste ein Disziplinarverfahren gegen ihn aus. Ruppert musste das Thema seiner Dissertation zurückgeben, durfte kein Universitätsgebäude mehr betreten, wurde behandelt „wie ein Krimineller“42 und im März 1963 exmatrikuliert. Bei der Aussprache versuchte ein Professor ihm das zu begründen:

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Interview Falk Bersch mit Peter Rößler am 8.3. 2010 in Seifhennersdorf (Privatarchiv Bersch). Vgl. ebd. Vgl. Bersch / Dirksen, Berndshof, 100. Ebd. Ebd.

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„Sie müssen das doch verstehen. Wenn wir jetzt nichts gegen sie unternehmen, dann wird aus einem von ihnen zehn und [es] werden Hunderte und [es] werden Tausende, die dann genauso handeln. Und das können wir uns nicht leisten.“ Ruppert erklärte sich dieses Eingeständnis der Schwäche der SED-Führung selbst so: „Das wäre ja auch so gewesen. Viele Studenten, die ich zum Teil gar nicht kannte, haben mir hinterher ihre Hochachtung versichert und haben zu mir gesagt: [W]ir hätten das genauso gemacht, wenn wir nicht gewusst hätten, wie gefährlich das ist, dass man rausgeworfen werden kann.“43

Im Herbst 1964 trat das Bausoldatengesetz in Kraft und Ruppert erhielt den Einberufungsbefehl. Auf sich allein gestellt, ohne Kontakt zu Glaubensbrüdern, die vor dergleichen Frage standen, sah er den Bausoldatendienst als einen nicht tolerierbaren Kompromiss. Er weigerte sich, den Dienst anzutreten und wurde verhaftet. Eine Woche war er in der Chemnitzer Untersuchungshaftanstalt inhaftiert. Seine Eltern setzten ihn in dieser Zeit massiv unter Druck. Ein Bekannter seines Vaters in höherer Position redete ihm freundlich zu: Das mit dem Gelöbnis lasse sich schon irgendwie regeln, er müsse nur Arbeiten ausführen, die er auch mit seinem Gewissen vereinbaren könne. Schließlich ließ er sich darauf ein. Das Verfahren wurde eingestellt und er wurde entlassen. Mit einem unguten Gefühl fuhr er zur Baueinheit nach Bärenstein. Dort stellte er fest, dass etwa sieben weitere Zeugen Jehovas und ihnen nahestehende Personen eine ähnliche Entscheidung getroffen hatten. Die kleine Gruppe versuchte, sich durch Bibelbetrachtungen zu stärken. Nach der Grundausbildung wurde den Bausoldaten das Gelöbnis vorgelesen. Dass es keiner nachsprach, ignorierte die militärische Führung. Die Baueinheit wurde nach Weißwasser verlegt, wo zunächst Waldarbeiten anfielen, nach einigen Monaten jedoch ein Schießplatz gebaut werden sollte: für Ruppert der letzte Anstoß, um sich total zu verweigern44. Er erklärte am 17. Juli 1965 seinen Vorgesetzten, dass er den Schießplatz nicht mit bauen werde: „Ich habe die ganze Sache schon nicht mit einem guten Gewissen gemacht. Also, ob ich nun hier den Schießplatz baue oder nachher selber auf die Pappfiguren schieße […], das ist fast dasselbe.“45 Nach etlichen vergeblichen Versuchen, ihn umzustimmen, kam er in den Arrest. Anschließend war er bis zur Gerichtsverhandlung in der Untersuchungshaftanstalt Leipzig inhaftiert. Am 24. Juli 1965 wurde er wegen Befehlsverweigerung zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt. Die Haftstrafe verbüßte er im Militärstraflager Berndshof. Nach der Verbüßung der Haftstrafe entstand für Ruppert die Situation, dass er nicht entlassen werden wollte, weil es hieß, er müsse die Uniform wieder anziehen und zu seiner Bausoldateneinheit zurückkehren. Am 28. Mai 1966 holte ihn ein Unteroffizier seiner Einheit ab und brachte ihn nach Bärenstein. Dort begannen

43 Interview Falk Bersch mit Manfred Ruppert am 5.9. 2007 in Karrendorf. 44 Vgl. Bersch / Dirksen, Berndshof, 100 f. 45 Ebd., 102.

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die Prozeduren erneut46. Noch am Tag der Ankunft kam es zu einer Aussprache mit einem verantwortlichen Hauptmann, der ihm vorwarf, die „Kampfmoral des Sozialismus zu untergraben“47. Ruppert war nicht zu überzeugen, den Bausoldatendienst wieder aufzunehmen. In Leipzig kam er in dieselbe Arrestzelle wie im Vorjahr. Am 2. Juni wurde er in die Untersuchungshaftanstalt Dresden Schießgasse überführt und am 22. Juni vor Gericht gestellt. Er erinnert sich noch an die in „sehr bösartigem Ton“ vorgetragene Urteilsbegründung: „Aufgrund der schweren gesellschaftsgefährdenden Handlungsweise des Angeklagten Ruppert finden wir die 15 Monate, die vom Staatsanwalt beantragt wurden, viel zu niedrig. Das Gericht hat auf eine Haftstrafe entschieden von zwei Jahren und zwei Monaten.“48 Aufgrund des hohen Strafmaßes war Ruppert nun nicht mehr Militärangehöriger, so dass er nach der Haftentlassung nicht nachdienen musste. Ruppert wurde in das Haftlager Rüdersdorf überführt. Am 1. November 1967 wurde er vorzeitig entlassen. Die bedingte Strafaussetzung wurde mit seiner Entwicklung während der Haft begründet: „Er leistete eine gute Arbeit und führte alle Weisungen zur vollsten Zufriedenheit aus.“49 3.5 Strafvollzugskommando Berndshof/Ueckermünde Die Haftanstalt in Berndshof bei Ueckermünde war von 1963 bis 1968 der Ort für einen zentralen Militärstrafvollzug der DDR. Militärstrafgefangene und Militärarrestanten sollten in Berndshof bestraft und erzogen werden50. Neben Manfred Ruppert sind weitere 20 Bausoldaten verschiedener Konfessionen bekannt, die nach Berndshof kamen, nachdem sie militärische Arbeiten oder das Ablegen des Gelöbnisses verweigert hatten. Sie waren mit den regulären Militärstrafgefangenen in einer Baracke untergebracht51. Die beiden anderen Baracken des Straflagers waren ab Ende 1964 mit Totalverweigerern belegt, die auch den Bausoldatendienst aufgrund seiner militärischen Strukturen von vornherein abgelehnt hatten. An ihnen wurde in Berndshof ein Experiment durchgeführt, das seinesgleichen in der DDR-Geschichte sucht und zu einer der beeindruckendsten Geschichten der Strafanstalt gehört. Vom Dezember 1964 bis zum Februar 1965 wurden 150 Totalverweigerer in Berndshof eingeliefert. Bis auf vier Personen aus den Reihen der evangelischen Landeskirchen, handelte es sich um Zeugen Jehovas. In Berndshof sollten sie von den

46 47 48 49 50 51

Vgl. ebd., 102 f. Ebd., 103. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., 64–78. Vgl. ebd., 79–98.

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regulären Militärstrafgefangenen völlig isoliert werden, um deren Beeinflussung entgegenzuwirken52. Die Totalverweigerer wurden hauptsächlich im Gleisbau eingesetzt, aber auch als Hausarbeiter oder in der Landwirtschaft. Die meisten der jungen Männer, die jetzt in Berndshof waren, hatten aufgrund des Verbotes ihrer Religionsgemeinschaft noch nie so viele Glaubensangehörige zusammen gesehen, so dass sie der Inhaftierung auch positive Aspekte abgewinnen konnten. Sie führten Gottesdienste durch, hielten Vorträge und organisierten, dass in allen Stuben täglich derselbe Bibeltext besprochen wurde. Sie ließen sogar Bibeln und die in der DDR verbotene Literatur der Glaubensgemeinschaft ins Lager schmuggeln. So kam es, dass die Zeugen Jehovas in Berndshof Möglichkeiten zur gegenseitigen Ermutigung fanden, die sie in Freiheit nicht gehabt hätten53. Die Gruppe der Totalverweigerer sollte umerzogen werden. Zumindest zur Aufnahme des Bausoldatendienstes wollte man sie während der Haftzeit bewegen. Die dafür vorgesehenen theoretischen Schulungen ließen die jungen Männer meist über sich ergehen, eine praktische militärische Ausbildung lehnten sie hingegen ab. Es wird über eine Vielzahl von Versuchen berichtet, bei denen die Totalverweigerer gezwungen werden sollten, zu exerzieren, Militärsport durchzuführen oder militärische Anlagen zu bauen. Die Versuche scheiterten am Widerstand der Zeugen Jehovas. Beispielsweise sollte am 15. Januar 1965 eine Brigade unter dem Vorwand, Ordnungsübungen durchzuführen, mit Holzgewehrattrappen exerzieren, was sie geschlossen ablehnte. Wolfgang Barth, einer der Totalverweigerer, erinnert sich an das, was dann passierte: „Strafstehen. Eisiger Wind weht über die Fläche […]. Außerhalb des Lagers müssen wir zwei Schritte voneinander auf Lücke stehen – Sprechverbot – innerhalb einer halben Stunde kriecht die Kälte unaufhörlich in die Glieder. Aus der warmen Wachstube werden wir hinter angelaufenen Fenstern beobachtet. Keiner zuckt sich – heute müssen wir es beweisen, dass wir zu unserem Wort stehen. Wir erhalten das Angebot, abtreten zu dürfen, wenn wir nachgeben. Niemand will abtreten. […] Denken an unsere Brüder im KZ. Da ist das hier ein Spaziergang!“54

Schließlich wurde ein ziviler Kraftfahrer, der immer wieder vorbeifuhr, auf die Gruppe aufmerksam. Daraufhin musste sie sich im Innenbereich des Lagers aufstellen und weiter stehen. Der Ausbilder, im dicken Uniformpelz, soll geäußert haben: „Ich friere nicht. Ihr friert! Wenn ihr dann [marschieren] wollt, könnt ihr es sagen!“55 Die Tortur dauerte nach den Aussagen ungefähr zwei Stunden. 52 53 54 55

Vgl. ebd., 112–123. Vgl. ebd., 123–136. Ebd., 135. Ebd., 136.

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Als am 13. Mai 1965 von einer anderen Brigade eine Sturmbahn errichtet werden sollte, weigerte sich schon der Brigadier, den Befehl weiterzugeben, und musste daraufhin mehrere Tage in eine Arrestzelle56. Auch die anderen Totalverweigerer lehnten diese Arbeit ab und wurden mit Stehen in praller Sonne bestraft. Anschließend mussten sie eine Fäkaliengrube leeren und reinigen. Die Totalverweigerer gelangten trotz vieler Diskussionen zu einer einheitlichen Haltung, wie sie auf verschiedene Forderungen des Strafvollzugspersonals reagieren wollten. Was das Exerzieren betraf, drückte es einer von ihnen einem Strafvollzugsangestellten gegenüber mit folgenden Worten aus: „Herr Polizeimeister. Rechtsrum, linksrum, gerade aus, mehr nicht!“57 Aus praktischen Gründen stellten sie sich in Reih und Glied auf, machten Gleichschrittübungen, lehnten jedoch jede weitere Annäherung an militärische Verhaltensformen ab, auch was die Kommunikation betraf. Der Brigadier Klaus D. sagte zum Beispiel nicht nach Vorschrift: „Augen nach rechts!“ oder „Im Gleichschritt marsch!“, sondern lächelnd „Also Brüder, guckt mich mal an. Wir müssen uns nun rechts rum drehen“ oder „Jungs, lauft mal los“58 – zur Verzweiflung des Personals. Die Umerziehungsversuche waren zum Scheitern verurteilt. Der Kontakt zwischen der Gruppe und den Militärstrafgefangenen konnte nicht völlig unterbunden werden. Zudem war man in und um Ueckermünde auf die Totalverweigerer aufmerksam geworden. So verlegte man sie in einer streng geheimen Aktion Ende August 1965 in die StVA Bautzen. Seitdem wurden Totalverweigerer nicht mehr in eine Militärstrafanstalt eingeliefert, sondern in unterschiedliche Zivilstrafanstalten aufgeteilt59. In Bautzen wurden die Totalverweigerer nach den Erinnerungen mehrerer Zeitzeugen von einem Oberstleutnant mit den Worten begrüßt: „Sie haben ein Verbrechen begangen, ein Verbrechen gegen den Frieden und das ist schlimmer als das eines Diebes, Einbrechers oder Mörders.”60 Die Haftbedingungen waren in Bautzen im Vergleich zu Berndshof nach den Erinnerungen der ehemaligen Häftlinge härter. Gemäß dem Arbeiter Rudolf Guretzka gab es mehr Verhöre und Drohungen sowie weniger und auch schlechteres Essen61. Die Haftbedingungen hatten sich im Vergleich zu den 1950er Jahren allerdings etwas verbessert. Auf Schläge oder gar Folter finden sich in den Erinnerungsberichten der Wehrdienstverweigerer keine Hinwei-

56 57 58 59 60

Vgl. ebd., 134. Ebd., 135. Ebd. Vgl. ebd., 137–143. Erlebnisbericht von Siegfried Fritzsch vom 16.6. 1998 (JZArchZE, O-ZZ Fritzsch, Siegfried). Vgl. auch Erinnerungsbericht Rudolf Guretzka vom 31.3. 2001 (JZArchZE, O-ZZ Guretzka, Rudolf); Erlebnisbericht Rainer Koch, Januar 1998 (Privatarchiv Bersch). 61 Vgl. Erinnerungsbericht Rudolf Guretzka vom 31.3. 2001 (JZArchZE, O-ZZ Guretzka, Rudolf).

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se62. In Berndshof kam „es wohl zu kleineren Schikanen, sie [wurden] aber nicht gequält oder drangsaliert.“63 Dennoch gab es in den Strafanstalten weiter drastische Strafmaßnahmen, auch gegen Wehrdienstverweigerer. Der Dreher Walter Müller, der 1968/69 in Bautzen inhaftiert war, berichtet über eine zehn Tage dauernde Einzelhaft in einer zwei mal zwei Meter großen Kellerzelle bei etwa minus zehn Grad Celsius. Die Strafe sollte er verbüßen, weil er seiner Frau in einem Brief auf nicht wohlwollende Weise über politische Fernsehsendungen, die er sich ansehen musste, berichtet hatte64. 3.6. Diskriminierungen nach der Haftentlassung Dass die Diskriminierungen auch im Alltagsleben nicht aufhörten, mussten viele der zwischen 1964 und 1966 aus der Haft entlassenen Wehrdienstverweigerer erfahren. Eine Reihe von ihnen verloren ihre bisherige Arbeitsstelle oder mussten andere berufliche Nachteile in Kauf nehmen. Egon Klärig arbeitete 1964 als Transportarbeiter im VEB Kohlenhandel. Im September 1964 bot der Betriebsleiter ihm eine Arbeit als Leiter einer Kleinverkaufsstelle an. Da Klärig damit rechnete, ins Gefängnis zu kommen, antwortete er : „Ich bin Zeuge Jehovas und da ich den Wehrdienst ablehne, muss ich ins Gefängnis, es hat keinen Zweck.”65 Der Betriebsleiter, der offenbar dringend eine geeignete Kraft suchte, versicherte ihm, wenn Klärig diese Stelle annehme, könnte er erfahrungsgemäß eine Freistellung vom Wehrdienst bewirken. Nach der Einberufung im Oktober 1964 erklärte der Betriebsleiter jedoch, er habe Ärger bekommen und drängte Klärig zur Kündigung. Dieser sah dazu keinen Anlass66. Wenige Wochen später erhielt Klärig, nun im Strafvollzugskommando Berndshof, die Kündigung mit der Begründung: „Wir haben jetzt davon Kenntnis erhalten, dass sie wegen Verletzung der Gesetze der DDR zu einer Gefängnisstrafe von 1 Jahr und 8 Monaten verurteilt wurden. Durch den Strafvollzug können Sie das bestehende Arbeitsrechtsverhältnis nicht aufrechterhalten. Wir sehen uns deshalb veranlasst, die Lösung des Arbeitsrechtsverhältnisses mit Wirkung vom 1. Februar 1965 auszusprechen.“67 62 Relativ nüchtern schätzt dies Dieter Engel ein, der in Berndshof und Bautzen inhaftiert war: „Über die Behandlung [im Gefängnis] kann ich mich persönlich nicht beklagen, man hat mich auch nicht schikaniert. Die medizinische Betreuung war gewährleistet. Fernsehsendungen wurden für uns ausgesucht, da wir ja umerzogen werden sollten.“ (Erlebnisbericht Dieter Engel vom 15.9. 1998 [JZArchZE, O-ZZ Engel, Dieter]). 63 Bericht Dorethee Heinß über die Erlebnisse ihres Mannes Eberhard Heinß in Berndshof, 2009 (Privatarchiv Bersch). 64 Vgl. Erlebnisbericht Walter Müller, Januar 1999 (JZArchZE, O-ZZ Müller, Walter [2]). 65 Erlebnisbericht Egon Klärig vom 15.11. 1999 (JZArchZE, O-ZZ Klärig, Egon). 66 Ebd. 67 Schreiben VEB Kohlehandel Erfurt in Weimar an Egon Klärig, Strafvollzugskommando Berndshof, vom 12.1. 1965 (ebd.).

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Als sich Steffen Jacobi im Februar 1964 nach seiner Haftentlassung auf seiner Arbeitsstelle – einer Produktionsgenossenschaft (PGH) Kraftfahrzeuginstandsetzung, in der er auch Mitglied war – meldete, eröffnete man ihm, dass erst die Mitgliederversammlung entscheiden müsse, ob er überhaupt wieder eingestellt werden könne. Die Mitgliederversammlung lehnte dies schließlich ab und beschloss, Jacobis Mitgliedschaft zu kündigen. Sein Beispiel wurde als Gefahr für die Jugendlichen im Betrieb bezeichnet68. Peter Lasch arbeitete als erster Fachverkäufer in einem Herrenkonfektionskaufhaus in Schwerin69. Er hatte einen Facharbeiterbrief und einen Lehrgang zur Qualifikation zum Verkaufsstellenleiter besucht. „Durch seine Bereitschaft zu lernen, bekam er die Möglichkeit, sehr schnell in verantwortungsvollen Funktionen, so z. B. als stellvertretender Abteilungsleiter, zu arbeiten“70, heißt es im Urteil des Kreisgerichtes Schwerin vom 22. Januar 1964. Über diesen beruflichen Aufstieg ist dort entschuldigend weiter formuliert: „Diese Möglichkeiten erhielt er aber nur, da er dem Arbeitskollektiv vortäuschte, eine gute und klare politische Einstellung zu unserer Arbeiter-und-Bauernmacht zu haben. Das zeigte sich ganz besonders in der Ablegung seiner Prüfungen, wo er jeweils in Staatsbürgerkunde die Note gut erreichte. Andererseits ist durch die falsche Erziehung im Elternhaus der Angeklagte nie richtig mit gesellschaftlichen Organisationen in Kontakt gekommen. Er war nicht Mitglied der Pionierorganisation und lehnte es auch ab, in die FDJ einzutreten. In gesellschaftlichen Auseinandersetzungen […] schwieg er und blieb stets im Hintergrund.“71

Nach seiner Haftentlassung im November 1964 wurde Lasch nur noch als einfacher Verkäufer eingestellt. Erst in den 1980er Jahren gelang es ihm, beruflich voranzukommen und Verkaufsstellenleiter eines Tapetengeschäftes zu werden72. Konrad Meuche, im September 1966 aus Bautzen entlassen, wurde wieder von seinem Betrieb, den VEB Leuna-Werken, beschäftigt. Allerdings durfte er nicht mehr im Schichtdienst arbeiten, was einen wesentlich Verdienstverlust bedeutete. Erst nach etwa zwei Jahren durfte er die Arbeit, die er vor seiner Inhaftierung durchführte, wieder aufnehmen. Die Betriebsleitung ließ ihn wissen, dass sich die Staatssicherheit immer wieder nach ihm erkundigte. Meuche erklärt sich seinen späteren beruflichen „Aufstieg“ so: „Aufgrund meiner Leistungen wurde ich später sogar als Schichtmeister über 10–14 Mitarbeiter eingesetzt. Es war für alle wie ein Wunder, dass ich ohne Par-

68 Vgl. Erlebnisbericht Steffen Jacobi, Januar 2007; Schreiben PGH Kraftfahrzeug-Instandsetzung Meißen an Steffen Jacobi vom 21.2. 1964 (Privatarchiv Bersch). 69 Vgl. Anklageschrift gegen Peter Lasch vom 18.12. 1963 (Privatarchiv Bersch). 70 Kreisgericht Schwerin-Stadt, Urteil gegen Peter Lasch vom 22.1. 1964 (Privatarchiv Bersch). 71 Ebd. 72 Vgl. Interview Falk Bersch mit Peter Lasch am 15.4. 2004 in Schwerin (Privatarchiv Bersch).

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teizugehörigkeit und ohne Beteiligung der politischen Aktivitäten, die in der DDR üblich waren, diese Stellung bekam.“73

Auch Hans-Dieter Riedel kam im September 1966 wieder in Freiheit. Er bekam allerdings eine neue Arbeitsstelle zugewiesen, denn er – so wurde ihm mitgeteilt – wäre „nicht würdig, in einem sozialistischen Betrieb tätig [zu] sein“74. Daraufhin suchte er sich Arbeit in einem Privatbetrieb, wo seine religiöse Überzeugung akzeptiert wurde75. Ähnliche Erfahrungen machten der Schlosser Frank Böhmer, der im Oktober 1964 nicht wieder eingestellt wurde, sondern eine Arbeitsstelle zugewiesen bekam, in der es „nur sozialistische Brigaden” gab und er „Außenseiter“ war76 sowie der Maler Werner Hempel, der im September 1964 nicht wieder eingestellt wurde, sondern in einer Papierfabrik arbeiten musste77. Der Dreher Klaus Fleischer konnte nach der Haftentlassung zwar im gleichen Betrieb die Arbeit fortsetzen und wurde von den Mitarbeitern wegen seiner Haftzeit auch nicht schikaniert. Mehr als einmal wurde ihm jedoch gesagt, dass ein weiteres berufliches Vorankommen, etwa eine Tätigkeit als Werkstattleiter oder Meister, aufgrund der Ablehnung gesellschaftlicher Tätigkeit und fehlender Zugehörigkeit zu Massenorganisation nicht möglich sei78. Und Manfred Ruppert wurde nach der Haftentlassung am 1. November 1967 erklärt, er dürfe nicht mehr in einem Krankenhaus arbeiten. Zugewiesen wurde ihm eine Arbeitsstelle in einer Ziegelei79. Die Diskriminierungen betrafen nicht nur die Wehrdienstverweigerer unter den Zeugen Jehovas. Uwe Damm, von dem das einführende Zitat stammte, wurde nach seiner Gesellenprüfung zum Installateur von der Staatssicherheit zu verstehen gegeben, dass damit sein sozialer Aufstieg beendet war. Es sei denn, er würde sich bereit erklären, doch den „richtigen Lebensweg“80 einzuschlagen. Im Laufe der vier Jahrzehnte SED-Herrschaft wurden Jehovas Zeugen mit unterschiedlicher Intensität und unterschiedlichen Methoden verfolgt und diskriminiert. Die Angehörigen der Religionsgemeinschaft wurden massiv unter Druck gesetzt, sich dem System anzupassen. Ihre Weigerungen, sich an Wahlen, politischen Schulungen, Unterschriftssammlungen usw. zu beteiligen sowie in die politischen und militärischen Organisationen einzutreten, führte zu Benachteiligungen, Drangsalierungen und Verhaftungen. Die Folgen sind kaum zu ermessen und wirken vielfach bis heute nach: Ehemänner oder Ehefrauen wurden jahrelang weggesperrt, Kinder weggenommen und so Familien zerrissen oder zerstört. Arbeitsplätze gingen verloren und wirtschaftliche Existenzen wurden ver73 74 75 76 77 78 79 80

Schreiben Konrad Meuche an Falk Bersch vom 13.9. 2010 (Poststempel). Schreiben Hans-Dieter Riedel an Falk Bersch vom 15.12. 2011. Vgl. ebd. Erlebnisbericht von Frank Böhmer vom 21.11. 1998 (JZArchZE, O-ZZ Böhmer, Frank). Vgl. Schreiben Werner Hempel an Falk Bersch vom 17.3. 2010 (Poststempel). Vgl. Erlebnisbericht Klaus Fleischer vom 20.8. 1998 (JZArchZE, O-ZZ Fleischer, Klaus). Vgl. Schreiben Manfred Ruppert an Falk Bersch vom 20.7. 2004. Interview Falk Bersch mit Uwe Damm am 30.5. 2007 in Kuhstorf.

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nichtet. Jugendliche durften aufgrund ihrer Gewissensentscheidungen keine weiterführenden Schulen besuchen oder keine Lehre absolvieren. Jahrelange psychische Zermürbung aufgrund ständiger Überwachung durch das MfS forderte ihren Tribut. Und die Glaubensfreiheit wurde behindert und unterdrückt81.

Quellen- und Literaturverzeichnis I. Unveröffentlichte Quellen Privatarchiv Hans-Hermann Dirksen, Frankfurt a. M. (Privatarchiv Dirksen) Kreisgerichts Gera-Stadt, Urteil gegen Jürgen Bock vom 30.5. 1962.

Privatarchiv Falk Bersch, Hohenkirchen (Privatarchiv Bersch) Bericht Dorethee Heinß über die Erlebnisse ihres Mannes Eberhard Heinß in Berndshof, 2009. Schreiben PGH Kraftfahrzeug-Instandsetzung Meißen an Steffen Jacobi vom 21.2. 1964. Erlebnisbericht Steffen Jacobi, Januar 2007. Militärgericht Erfurt, Urteil gegen Rainer Koch vom 2.12. 1964. Erlebnisbericht Rainer Koch, Januar 1998; Schreiben VEB Bau (K) Oranienburg, Betriebsteil Velten, an die Kaderabteilung des VEB Stahl- und Walzwerk „Wilhelm Florin“ Hennigsdorf vom 25.9. 1961. Anklageschrift gegen Peter Lasch vom 18.12. 1963. Kreisgericht Schwerin-Stadt, Urteil gegen Peter Lasch vom 22.1. 1964. Entlassungsschein Manfred Lüthy vom 5.11. 1965. Lebensbericht von Manfred Lüthy, undatiert. Volkspolizei Dienststelle Eibau, Ermittlungsbericht über Helmut Rüster vom 20.11. 1962.

Interviews Interview Falk Bersch mit Uwe Damm am 30. Mai 2007 in Kuhstorf. Interview Falk Bersch mit Peter Lasch am 15.4. 2004 in Schwerin. Interview Falk Bersch mit Peter Rößler am 8.3. 2010 in Seifhennersdorf. Interview Falk Bersch mit Manfred Ruppert am 5.9. 2007 in Karrendorf.

81 Hans-Hermann Dirksen in einem Referat in der Berliner Forschungs- und Gedenkstätte Normannenstraße am 3.6. 1999, zitiert nach Helwig, Zeugen Jehovas.

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Mündliche und schriftliche Auskünfte Schreiben Werner Hempel an Falk Bersch vom 17.3. 2010 (Poststempel). Schreiben Harry Krüger an Falk Bersch vom 4.3. 2010 (Poststempel). Schreiben Konrad Meuche an Falk Bersch vom 13.9. 2010 (Poststempel). Schreiben Hans-Dieter Riedel an Falk Bersch vom 15.12. 2011. Schreiben Manfred Ruppert an Falk Bersch vom 20.7. 2004.

Landeshauptarchiv Schwerin (LHAS) Bestand 7.11–1–2 VdN Schwerin: Nr. 746

Jehovas Zeugen Archiv Zentraleuropa Selters/Taunus (JZArchZE) Bestand: O-ZZ Böhmer, Frank Engel, Dieter Fleischer, Klaus Fritzsch, Siegfried Guretzka, Rudolf Kirsten, Gerhard Klärig, Egon Müller, Walter (2) Bestand: O-LB Lobenstein, Peter

II. Veröffentlichte Quellen und Darstellungen Bersch, Falk: Aberkannt! Die Verfolgung von Jehovas Zeugen im Nationalsozialismus und in der SBZ / DDR (Schriftenreihe der Beauftragten des Landes Brandenburg zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur 10). Berlin 2017. –: Vergessene Opfer? Veranstaltungen zur Verfolgung der Zeugen Jehovas in zwei Diktaturen. In: Zeitgeschichte regional. Mitteilungen aus Mecklenburg-Vorpommern 10 (2006), H. 1, 120 f. Bersch, Falk / Dirksen, Hans-Hermann: „Nie wieder nach Berndshof!“ Allgemeiner Strafvollzug und Militärstrafvollzug in Berndshof/Ueckermünde 1952–1972. In: Deutschland Archiv vom 18.6. 2015, http://www.bpb.de/208378 [22.12. 2022]. –: Strafvollzug Berndshof / Ueckermünde (1952–1972). Schwerin 2012. Bersch, Falk / Herrberger, Marcus: Die Verfolgung religiöser Wehrdienstverweigerer in den drei Nordbezirken der DDR (1962–1989). In: Zeitgeschichte regional. Mitteilungen aus Mecklenburg-Vorpommern 13 (2009), H. 1, 27–36.

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Falk Bersch

Diedrich, Torsten: Gegen Aufrüstung, Volksunterdrückung und politische Gängelei. Widerstandsverhalten und politische Verfolgung in der Aufbau- und Konsolidierungsphase der DDR-Streitkräfte 1948 bis 1968. In: Rüdiger Wenzke (Hg.): Staatsfeinde in Uniform? Widerständiges Verhalten und politische Verfolgung in der NVA (Militärgeschichte der DDR 9). Berlin 2005, 31–196. Dirksen, Hans-Hermann: „Keine Gnade den Feinden unserer Republik.“ Die Verfolgung der Zeugen Jehovas in der SBZ / DDR 1945–1990 (ZGF 10). Berlin 22003. Eppelmann, Rainer : Acht Monate Gefängnis wegen Gelöbnisverweigerung. In: Horch und Guck. Historisch-literarische Zeitschrift des Bürgerkomitees „15. Januar“ e. V. 15 (2006), H. 54, 26. Helwig, Gisela: Zeugen Jehovas in der SBZ / DDR. In: Deutschland Archiv – Zeitschrift für das vereinigte Deutschland, Juli / August 1999, 548. Herrberger, Marcus: Die deutschen Bibelforscher im Ersten Weltkrieg. Zwischen militärischem Ungehorsam und christlichem Gewissen. In: Religion-Staat-Gesellschaft 16 (2015), H. 1/2, 33–73. –: Jehovas Zeugen im Strafsystem der Wehrmacht – Forschung, Rezeption und Gedenken. In: Janna Lölke / Martina Staats (Hg.): richten – strafen – erinnern. Nationalsozialistische Justizverbrechen und ihre Nachwirkungen in der Bundesrepublik (Schriftenreihe der Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel 3). Göttingen 2021, 135–152. –: „Zu offenem Widerstand schreiten die Anhänger radikaler Sekten …“ – Die Kriegsdienstverweigerung von Zeugen Jehovas (Ernste Bibelforscher) unter dem Nationalsozialismus. In: Daniel Heinz (Hg.): Gab es Widerstand gegen den Nationalsozialismus? Kleinere Kirchen, Religionsgemeinschaften und Missionswerke im Spannungsfeld von Dissens, Selbstbehauptung und Anpassung. Göttingen [erscheint demnächst]. Herrberger, Marcus / Bersch, Falk: Die militärgerichtliche Verfolgung religiöser Kriegsdienstverweigerer in Mecklenburg und Pommern vom Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. In: Zeitgeschichte regional. Mitteilungen aus Mecklenburg-Vorpommern 12 (2008), H. 1, 5–19. Hesse, Hans: „Die Pflicht zum Widerstand gegen eine nicht von Gott gewollte Obrigkeit wird in der Bibel oft genug betont.“ Eine Skizze zur Verfolgungsgeschichte der Zeugen Jehovas im Nationalsozialismus. In: Horst Schmidt: Der Tod kam immer montags. Verfolgt als Kriegsdienstverweigerer im Nationalsozialismus, hg. v. Hans Hesse. Essen 2003, 113–143. Jehovas Zeugen Informationsbero (Hg.): Das Staatsverständnis der Zeugen Jehovas und ihre christliche Neutralität. Selters (Taunus) 2001. Mengel, Gert: „Der Anfang vom Ende der DDR.“ Die ersten Bausoldaten und die Pommersche Evangelische Kirche. Teil 1. In: Zeitgeschichte regional. Mitteilungen aus Mecklenburg-Vorpommern 3 (1999), H. 2, 21–34. Richter, Holger : Güllenbuch. Ein Buch über Bausoldaten. Leipzig 1991.

Bernhard Thiessen

Eingeschüchtert – Angepasst – Aufrechtgegangen: Mennoniten in der DDR

Die Mennoniten-Gemeinde in der DDR wurde 1962 gegründet. Auslösender Moment war der 13. August 1961, der Beginn des Mauerbaus. Doch bevor es um die Situation in den 1960er Jahren geht, soll zunächst erläutert werden, wer Mennoniten sind und wo sie herkommen. Bei lediglich ca. 250 getauften erwachsenen Mennoniten in einem Staat von etwa 18 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner (DDR, Ende der 1980er Jahre), ist diese Frage unerlässlich. Nach einigen Bemerkungen zur Geschichte der Mennoniten, durchaus mit Blick auf Thüringen, wird auf die Zeit unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs und die Ankunft mennonitischer Flüchtlinge aus dem Osten einzugehen sein. Schwerpunkt der Ausführungen ist sodann die Auswertung von 39 Besuchsprotokollen aus dem Jahre 1966.

1. Wer sind die Mennoniten? Wo kamen sie her? Was zeichnet sie aus? Die Mennoniten sind eine Evangelische Freikirche, die in der Europäischen Reformationszeit des frühen 16. Jahrhunderts aus der sogenannten Täuferbewegung hervorging. Die Täufer wurden auch als „Radikale Reformatoren“1, „Linker Flügel der Reformation“2 oder „Dritte Reformation“3 betitelt. Die Selbstbezeichnung einiger Täufer in Süddeutschland, Zürich sowie Schleitheim am Randen war „Brüder und Schwestern im Herrn“4. DDR-Historiker hatten immer ein gewisses Interesse an der Täuferbewegung, da sie sie mit der sogenannten „frühbürgerlichen Revolution“5 und den Bauernaufständen des 16. Jahrhunderts in Verbindung brachten6. Einer der damaligen Theologen, 1 Goertz, Reformatoren; Williams, Writers. 2 Fast, Flügel; Bainton, Wing. 3 Wenger, Reformation. Neben der lutherischen und zwinglischen, sei die dritte die täuferische Reformation. 4 So die Selbstbezeichnung im Begleitschreiben zur „Brüderlichen Vereinigung etlicher Kinder Gottes, sieben Artikel betreffend (1527)“ in: Fast, Flügel, 60–70; vgl. Blanke, Brüder. 5 Laube / Steinmetz / Vogler, Geschichte. 6 Antifeudale Opposition in Gestalt der Täuferbewegung, vgl. ebd., 328–334.

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mit denen auch Täuferkreise aus Zürich 1524 Kontakt suchten7, war Thomas Müntzer, Pfarrer in Mühlhausen, Thüringen – sein Konterfei prägte ab 1971 den 5-Mark Schein der DDR8. Zwar kann man Thomas Müntzer nicht als Täufer bezeichnen, doch gerade in Thüringen gab es zwischen den Bauernaufständen und der Täuferbewegung Berührungspunkte, wie Maximilian Rosin in seinem Vortrag am 18. Januar 2021 bei der Erinnerung an die am 18. Januar 1530 hingerichteten Täufer von Reinhardsbrunn am Beispiel des Täufers Heinz Kraut ausführte9. Die Wartburg bei Eisenach ist nicht nur Ort der sicheren Bewahrung Martin Luthers als „Junker Jörg“ 1521 gewesen, sondern für viele Jahre der Kerker des Täufers Fritz Erbe bis zu dessen Tod (1540–1548). Das Vergehen des Bauern Fritz Erbe aus Herda, einem Dorf in der Nähe von Eisenach, war, dass er sein Kind nicht taufen lassen wollte und dass er einer anderen Täuferin, Margarethe Koch, Gastfreundschaft gewährt hatte. Durch seine Weigerung, den Glauben zu widerrufen, blieb er im Kerker. So starb er im Südturm der Wartburg unweit des „Wallfahrtortes“ vieler Lutheraner aus der ganzen Welt, dem Lutherstübchen10. Damit wurden bereits drei Merkmale der Täufer und auch späteren Mennoniten hervorgehoben: a) Sie taufen keine kleinen Kinder, sondern Erwachsene in Folge eines eigenen Bekenntnisses. b) Sie pflegen Gemeinschaft, also auch Gastfreundschaft. c) Sie wollen aufrichtig in der Nachfolge Jesu bekennen und leben. Nach der Niederschlagung des Bauernaufstandes 1525 und des Täuferreiches zu Münster 1534/35 sammelte der friesische Priester Menno Simons, der 1536 die katholische Kirche verlassen hatte, die „verirrten Schafe“, wie er sie nannte – also die versprengten und verlorenen Täufer im norddeutschen und friesischen Raum. Nach den Gewalterfahrungen lag Menno Simons die Wehrlosigkeit und das friedfertige Leben in der Nachfolge Jesu besonders am Herzen. In Abgrenzung zu anderen, gewaltbereiten Täufern wurde seine Gruppe „Menisten“, später „Mennoniten“, in den Niederlanden „Taufgesinnte“ (Doopsgezinde) genannt11. Bereits die Brüderliche Vereinigung zu Schleitheim am Randen hatte am 24. Februar 1527 in ihrem sechsten Artikel über das Schwert die Wehrlosigkeit als Merkmal der wahren Christen festgehalten: 7 Vgl. zwei Briefe von Konrad Grebel und seiner Gruppe aus Zürich an Thomas Müntzer, dem „wahrhaftigen und getreuen Verkünder des Evangeliums“ vom 5.9. 1524 und danach, abgedruckt in: Fast, Flügel, 12–27. 8 Vgl. Abbildung im Kontext des Artikels von Rosin, Netzwerke. 9 Vgl. ebd. Zu den hingerichteten Täufern in Reinhardsbrunn vgl. das Begleitheft zur Ausstellung: Theringer Informationszentrum, Gefangen. 10 Zu Fritz Erbe vgl. ebd., 18; vgl. Verein 500 Jahre T-uferbewegung, gewagt!, 144–147. 11 Vgl. https://www.mennlex.de/doku.php?id=art:simons_simonszoon_menno.

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Abbildung 1: Menno Simons, Gemälde in der Mennonitenkirche in Hamburg-Altona, Foto: Matthias Bartel. In: Thiessen, Hundert Jahre Augenblicke, 100.

„Das Schwert ist eine Gottes Ordnung außerhalb der Vollkommenheit Christi“12. Gewalt und auch Todesstrafe sollten in Glaubensfragen und innerhalb der Gemeinde Jesu Christi, also der Kirche, nicht angewendet werden. Menno Simons und seine Anhängerinnen wie Anhänger griffen die Wehrlosigkeit und die Trennung von Kirche und Staat auf, in dem sie ebenfalls – wie bereits in der „Brüderlichen Vereinigung“ von 1527 – die Beteiligung an obrigkeitlichen Ämtern ablehnten. Das begründeten sie mit den Anweisungen Jesu in der Bergpredigt13. Damit kommt ein weiteres Kennzeichen von Mennoniten hinzu: d) Sie wollen wehrlos leben und verweigern den Fahneneid sowie den Kriegsdienst. Durch die Verweigerung von Eid und Militärdienst wurden Mennoniten im Laufe der nachfolgenden Jahrhunderte immer wieder vertrieben oder sahen sich gezwungen, innerhalb und außerhalb Europas neue Wohnorte zu suchen. So wanderten einzelne Gruppen beispielsweise in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts nach West- und Ostpreußen, seit 1683 nach Nord-Amerika, 12 Die Brüderliche Vereinigung, sechster Artikel über das Schwert. In: Fast, Flügel, 66. 13 Vgl. Mt 5–7 und die Feldrede Jesu Lk 6,17–49.

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seit 1788 nach Russland (Ukraine) und zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach Südamerika aus14.

2. Mennoniten nach dem Zweiten Weltkrieg in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) 1945–1961 Bis 1945 existierte auf dem Gebiet der SBZ und der späteren DDR keine eigenständige Mennonitengemeinde, jedoch lebten dort einzelne mennonitische Familien. Viele von ihnen waren seit 1776 in den Bereich des südlichen Thüringens eingewandert. Sie wurden geworben, um Pachthöfe und landwirtschaftliche Betriebe zu übernehmen, dabei bildeten sie Familien- und Hausgemeinden. Meist jedoch schlossen sie sich umliegenden Mennonitengemeinden in Franken und Bayern an15. Die Mennonitengemeinde Bad Königshofen hatte Gemeindeglieder dies und jenseits der deutsch-deutschen Grenze. Noch Anfang der 1950er Jahre gab es einzelne mennonitische Familien im südlichen Thüringen, deren von ihnen bewirtschaftetes Land meist einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) angegliedert wurde. Manche Familie aus der Grenzregion wanderte nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1950er Jahre nach Nordamerika aus16. Andere, bereits vor dem Zweiten Weltkrieg im Bereich Mitteldeutschlands wohnende, mennonitische Familien gehörten entweder noch zu ihren Herkunftsgemeinden in Süd- bzw. Norddeutschland oder schlossen sich der 1887 gegründeten Berliner Mennoniten-Gemeinde (BMG) an. Am Ende des Zweiten Weltkrieges flohen annähernd 2.000 Mennoniten aus Ost- und Westpreußen, wo vor dem Zweiten Weltkrieg mit etwa 13.000 getauften Erwachsenen die größte Ansiedlung von Mennoniten im Deutschen Reich existiert hatte. Da diese ostdeutschen Gebiete ab 1945 entweder der UdSSR oder der Volksrepublik Polen zugewiesen wurden, verließen fast alle Mennoniten das von ihnen annähernd 400 Jahre lang besiedelte Land und flohen in den Westen. Viele der Geflüchteten und nun im Bereich der SBZ als „Neubauern“ und „Neubürger“ angesiedelten Mennoniten gründeten zunächst keine eigene Gemeinde, sondern schlossen sich der BMG an oder wurden von dieser betreut, ohne dass sie Mitglieder wurden. Von Berlin (West) aus wurden ihre Adressen auf Listen geführt. Wenn möglich, kamen sie zu Gottesdiensten oder anderen Veranstaltungen nach Berlin-Lichterfelde im amerikanischen Sektor, trafen Gleichgesinnte und erhielten Hilfspakete. Auch wurde versucht, zeitweise an 14 verschiedenen Orten in der SBZ und späteren 14 Zur Geschichte der Täufer und Mennoniten vom 16.–21. Jahrhundert vgl. von Schlachta, Täufer. 15 Vgl. Hage, Entstehung. 16 Vgl. ebd., 160.

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DDR, Gottesdienste zu organisieren. Einige Mennoniten, die bereits in Westoder Ostpreußen ehrenamtliche Prediger und Älteste gewesen waren, übernahmen die seelsorgerliche Betreuung17. Eigens für die Mennoniten in der SBZ/DDR wurde von nordamerikanischen Mennoniten über ihr international agierendes Hilfswerk, das Mennonite Central Committee (MCC), der Älteste Bruno Goetzke mit monatlich 300 Ostmark entlohnt. Goetzke lebte mit seiner Frau Charlotte in Zörbig bei Halle an der Saale und bereiste von 1949 bis 1953 die ganze DDR von Schwerin bis in den Harz, besuchte Glaubensgeschwister und hielt Andachten. Als ihm durch einen Bekannten mitgeteilt wurde, dass er verhaftet werden sollte, floh das Ehepaar im Januar 1953 nach Berlin (West). Goetzkes wurden später nach Baden-Württemberg ausgeflogen18. Mit Bruno Goetzke verließ der letzte mennonitische Prediger die DDR, alle anderen waren bereits vorher in den Westen geflohen, weil Mennoniten von der SEDRegierung mächtig unter Druck gesetzt wurden.

Abbildung 2: Charlotte und Bruno Goetzke, ca. 1952, Gästebuch der BMG.

In mennonitischen Gottesdiensten tauchten immer wieder Spitzel der Volkspolizei und des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) auf. Aufgrund der so gesammelten Informationen sollten die Mennoniten in der DDR 1952 verboten und ihr Vermögen eingezogen werden. Nicht, weil sie besonders 17 Vgl. dazu und zum Folgenden Thiessen, Leben. 18 Vgl. ebd., 58 f.

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fromme Leute waren oder den Wehrdienst verweigerten, sondern weil sie vom nordamerikanischen, mennonitischen Hilfswerk MCC unterstützt wurden, das durchaus freundliche Beziehungen zum US-Militär des amerikanischen Sektors in Berlin pflegte. Auch half das MCC vielen Mennoniten bei der Flucht aus der DDR, indem es vor allem für Auswanderungen nach Süd- oder Nordamerika sorgte. Im Kontext dessen beantragte der Innenminister der DDR, Dr. Carl Steinhoff, das Verbot der Mennoniten in der DDR und den Einzug ihres Vermögens, da sie mit den „anglo-amerikanischen Kriegstreibern“ gemeinsame Sache machten, dem Volk der DDR durch Flucht in den Westen Arbeitskräfte und Werte (sprich: Pferde, Wagen, Fahrräder etc.) entzögen und somit den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft schädigten19. Zum Verbot kam es jedoch nicht. Ein Grund war vermutlich, dass Innenminister Dr. Steinhoff als zu bürgerlich galt und auf Betreiben von Josef Stalin durch Walter Ulbricht im Mai 1952 fristlos entlassen wurde20. Nachdem die letzten Prediger aus der DDR geflohen waren, wurde das seit 1952 genutzte Menno-Heim in Berlin-Lichterfelde das Zentrum aller Mennoniten in den vier Sektoren Berlins und der DDR. Noch war es möglich, die Grenzen zu passieren, wenn auch beschwerlich und mit vielen Schikanen bei den Kontrollen verbunden.

3. Der Mauerbau und die Folgen für die Mennoniten in der DDR 3.1 Gründung der Mennoniten-Gemeinde in der DDR Mit dem 13. August 1961 änderte sich alles, nicht nur die Stadt Berlin, sondern auch die Berliner Mennoniten-Gemeinde wurde durch die Berliner Mauer mitten durchgeteilt. Das Gemeindezentrum lag im Westen. Zu dem Zeitpunkt lebten über 500 der 840 Gemeindeglieder der Berliner Mennoniten-Gemeinde im Osten (Stand 1. Juni 1961)21. Nun aber hatten die Gemeindeglieder aus dem Ostsektor Berlins und aus der DDR keine Möglichkeit mehr, am Gemeindeleben teilzunehmen. Der ehrenamtliche Gemeindeleiter und Älteste Erich Schultz, Berlin (West), rief 19 Zum Brief von Carl Steinhoff an Anton Plenikowski vom 27.2. 1952, vgl. Faksimile in: Thiessen, Leben, 21. 20 Zu Innenminister Steinhoff vgl. Maeke, Steinhoff, 162–170; vgl. auch Baumann, Entwurf. 21 Im Mennonitischen Gemeinde-Kalender 1962 wird lediglich die Gesamtzahl der Mitglieder der Gemeinde mit 840 erfasst und ergänzt: „weitere Betreuung von 137 Mennoniten im Osten, die sich noch keiner Gemeinde angeschlossen haben“ (Mennoniten, Gemeinde-Kalender 1962, 80). Im Mennonitischen Gemeinde-Kalender 1967 wird erstmals differenziert: „Seelenzahl: 722, davon in Westberlin, Westdeutschland und Ausland 227, in der DDR stehen in brüderlicher Verbindung 495“ (Mennoniten, Gemeinde-Kalender 1967, 77).

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Abbildung 3: Menno-Heim, Grafik von Hildegard Kohnert auf Postkarte, Ausstellungsbestand „Mennoniten in der DDR“, handschriftliche Postkarte von Johanna Dueck, Straußberg, DDR, MCC Archives, Akron, Pa., USA, IX-19–06, MCC Centers Files – Germany (Berlin) Birthday Celebrations 1954–55.

beim Fuhrunternehmer Walter Jantzen auf dem Prenzlauer Berg, Berlin (Ost), an und bat ihn, sich um die mennonitischen Gemeindeglieder in der DDR zu kümmern, denn er wäre der Einzige aus dem Vorstand der Berliner Mennoniten-Gemeinde, der in der DDR lebte. Jantzen pflegte Kontakte zur Evangelischen Kirche Pfingst am Petersburger Platz, bzw. Kottikow-Platz (der Name änderte sich mehrmals) in BerlinFriedrichshain (Ost), insbesondere zu Pfarrer Johannes Mickley. Dieser und ein Mitglied aus der CDU-Ost, der Methodist Carl Ordnung, halfen Jantzen bei der Erreichung der Anerkennung der Mennoniten-Gemeinde in der DDR durch das Staatssekretariat für Kirchenfragen22. Zu der Zeit wurden etwa 500 erwachsene Mennoniten als Mitglieder der neu gegründeten Gemeinde geführt, 1989 waren es noch 24423. Walter Jantzen wurde ehrenamtlicher Gemeindeleiter und sorgte mit seiner Ehefrau Berta für das geistige Wohl der Mennoniten in der DDR. Ihr Privathaus in Prenzlauer Berg wurde zu einer Art geistlichem Zentrum der neuen Gemeinde. Jantzen arbeitete sich auch bald in die Predigtaufgabe ein und pflegte in den Grenzen des Möglichen Kontakte zu Mennoniten aus dem Westen24. Versammlungen und Gottesdienste fanden im Gemeindesaal der Ev. Gemeinde Pfingst in Berlin-Friedrichshain oft mit Gastpredigern aus Westdeutschland 22 Vgl. Brief von Carl Ordnung an Kollege Kusch, Staatssekretariat für Kirchenfragen, 26.11. 1963. 23 Vgl. Arbeitsgemeinschaft deutscher Mennonitengemeinden, Jahrbuch 1989, 159. 24 Zu den vielen Eintragungen im Gästebuch der Familie Jantzen vgl. Thiessen, Leben, 110–113.

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Abbildung 4: Berta und Walter Jantzen ca. 1975, Nachlass John R. Friesen, MHA, Winnipeg, Kanada.

und an verschiedenen Orten in der ganzen DDR statt. Der Gemeindebrief kam noch aus Krefeld (Westdeutschland) und wurde vom ehemaligen Vorsitzenden der BMG, Dr. Ernst Crous, und seinen Helferinnen und Helfer versandt. Walter Jantzen fuhr, oft mit seiner Frau Berta zusammen, von der Ostsee bis in den Thüringer Wald, um Gemeindeglieder zu besuchen und dabei auch Gottesdienste zu halten. Die Gemeindeglieder wohnten an fast 300 verschiedenen Orten in der DDR. In Thüringen war es Erfurt, wo in den 1960er Jahren mennonitische Gottesdienste in einer Baptistengemeinde abgehalten wurden. Diese Gesamtsituation der Mennoniten-Gemeinde in der DDR muss berücksichtigt werden, wenn es um das Thema geht: Diskriminierung von Mennoniten in der DDR der 1960er Jahre. 3.2 Besuche von Mennoniten in der DDR, Frühjahr 1966 3.2.1 Vorbemerkungen Fünf Jahre nach dem Bau der Berliner Mauer und den mühsamen Bestrebungen durch Walter Jantzen, eine neue Mennoniten-Gemeinde in der DDR zu gründen, machten eine Mennonitin aus den Niederlanden, Marie „Rie“ Hoogeveen, und ein Mennonit aus der Schweiz, Daniel Geiser, im Auftrag des

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Abbildung 5: Karte der DDR, mit roten Linien wurden von Berlin aus die Wohnsitze der Gemeindeglieder verzeichnet, Rotes Album. In: Nachlass John R. Friesen, MHA, Winnipeg, Kanada.

Internationalen Mennonitischen Hilfswerks (IMH) zwei mehrtägige Besuchsreisen in die DDR, von der Insel Rügen bis zum Harz, Thüringen. Die Adressen erhielten sie von Walter Jantzen, der sie vorher per Post bei den

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Abbildung 6: Rie Hoogeveen mit ihrem VW-Käfer mit niederländischem Kennzeichen, mit dem sie und Daniel Geiser durch die DDR fuhren. Foto: Sammlung Krüger.

Gemeindegliedern ankündigte. Die Reisen fanden vom 21. bis 25. Februar und vom 10. bis 17. März 1966 statt. Insgesamt besuchten Hoogeveen und Geiser 42 Einzelpersonen, Ehepaare oder Familien und trafen dabei etwa 100 Personen. Über jeden Besuch verfasste Rie Hoogeveen, in Abstimmung mit Daniel Geiser, einen Bericht. Diese Sammlung von 39 Texten über 42 Besuche ist in der Mennonitischen Forschungsstelle (MFSt) auf dem Weierhof/Pfalz archiviert und nach Familiennamen alphabetisch sortiert25. Ziel der Reisen war es, in persönlichen Begegnungen herauszufinden, inwiefern sich die Situation der mennonitischen Geschwister in den letzten fünf Jahren nach dem Mauerbau und der dadurch erfolgten Trennung der Gemeinde verändert hatte. Zwar kann aus diesen 39 Protokollen keine quantitative Statistik erhoben werden, vieles wird als Einzelbeleg bestehen, ohne letztlich entscheiden zu können, ob diese persönliche Erfahrung zu verallgemeinern wäre. Jedoch entstehen so Einblicke in Lebenssituationen von Mennoniten, die Eindrücke vermitteln und manche Schlussfolgerungen zulassen.

25 Vgl. Hoogeveen, Marie „Rie“, 39 Protokolle (MFSt Weierhof). Die Besuchsberichte sind im MFSt-Archiv alphabetisch abgelegt und wurden von B. Thiessen durchnummeriert. Zum Nachweis und leichterem Auffinden werden die jeweiligen Nummern genannt und die Nachnamen lediglich mit Anfangsbuchstaben wiedergegeben. Da die Berichte eine, höchstens zwei Seiten umfassen, wurde auf weitere Seitenangaben verzichtet.

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Abbildung 7: Daniel Geiser-Oppliger beim Interview am 13. Juli 2018, Foto: B. Thiessen.

3.2.2 Kontrolle – Einschüchterung – Anpassung Die Mennonitin Ilse H. (Jg. 1923) wohnte bei einer älteren Frau zur Untermiete, deren Mann im Gefängnis verstorben war. Er war als Jehova-Zeuge verhaftet worden (Nr. 14). Solch drastischen Erfahrungen haben Mennoniten, soweit bisher bekannt ist, nicht gemacht. In einem Protokoll wird erwähnt, dass Lother W. mit seinen beiden Kindern an der Sektorengrenze einen Tag lang festgehalten und verhört wurde, weil sie im Menno-Heim in Berlin (West) gewesen waren. Parallel dazu wurde seine Frau, die Mutter der Kinder, zuhause in Calbe an der Saale ebenfalls wegen des Kontakts zu Glaubensgeschwistern aus dem Westen intensiv befragt. Danach wurden Vater und Kinder wieder freigelassen. Diese Erfahrung machte die Familie kurz vor dem Mauerbau und sie führte zur Einschüchterung sowie zu defensivem Verhalten in Bezug auf ihre Religionsausübung (Nr. 38). Ähnliches wurde von Hans-Jürgen V. berichtet, den die Polizei wegen seiner Kontakte zur Mennoniten-Gemeinde in Berlin (West) mehrfach verhört hatte.

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Auch wurde er von der Stasi beobachtet, wie seine Mutter bei dem Besuch erzählte. Er traute sich danach nicht mehr, nach Berlin zu fahren. Das war ebenfalls vor dem Mauerbau, wirkte sich allerdings als Einschüchterung bis weit in die 1960er Jahre aus (Nr. 34). In den Besuchsprotokollen wurde nicht ausdrücklich berichtet, dass Menschen Nachteile hatten, da sie mennonitisch waren. Die Diskriminierung erfolgte auf subtile Weise. So berichtete die pensionierte Lehrerin Eva G. (Jg. 1892), dass sie keine Schwierigkeiten wegen ihrer kirchlichen Einstellung habe, sie wisse sich anzupassen, um kurzdarauf fortzufahren: Sie wolle ihre Schwester in Bayern besuchen und möchte als Rentnerin von West-Berlin nach Bayern fliegen. Ob dies wohl möglich sei? Sie traue sich nicht, die Behörden zu fragen. Immer wieder sagte sie: „Man darf hier nicht unangenehm auffallen“ (Nr. 11). Frau Elisabeth R. (Jg. 1909) war seit 20 Jahren Lehrerin für Sport, Mathematik und Deutsch an einer Schule in Quedlinburg. Man habe sie mehrfach gebeten, aus der Kirche auszutreten und Mitglied der Partei zu werden. Sie habe es immer abgelehnt, daraufhin habe man sie in Ruhe gelassen (Nr. 28). Die seltenen mennonitischen Gottesdienste, die außerhalb Berlins in der DDR gehalten wurden, besuchten nur wenige Mennoniten. Immer wieder spielten Angst und Einschüchterung in der DDR der 1960er Jahre eine große Rolle. So berichtete Frau Minna B., dass sie, als ihre Tochter anfing Medizin zu studieren, alle Beziehungen zur Mennoniten-Gemeinde abgebrochen habe, um das Studium der Tochter nicht zu gefährden, dennoch betrachteten sie sich noch immer als Mitglieder der Berliner Mennoniten-Gemeinde. Familie B. lebte im eigenen Haus und war von DDR-Behörden verpflichtet worden, bestimmte Mieter, „ganz unzuverlässige Menschen“, wie Frau B. sagte, in ihr Haus aufzunehmen. Seitdem lebten sie ständig in der Angst, eines Tages von jenen „verraten zu werden“ und fürchteten, dass ihre Beziehungen zur Gemeinde der Tochter beim Studium schaden könnte. Frau B. erzählte, dass ihr einziger Sohn, als er im zweiten Weltkrieg Soldat werden sollte, den Kriegsdienst verweigert habe und deshalb in ein Straflager gebracht wurde, wo er ums Leben gekommen sei. Daher, so die Berichterstatterin Rie Hoogeveen, sitze die Angst tief, nun auch der Tochter durch die mennonitische Glaubenseinstellung zu schaden. Frau B. war mürbe geworden (Nr. 3). Immer wieder wird in den Gesprächen die Ambivalenz zwischen der Verbundenheit mit den Glaubensgeschwistern und der Angst vor Schwierigkeiten durch die Macht einer atheistischen Regierung sichtbar. So fürchtete Frau Brigitta K. (Jg. 1923) aus Neinstedt im Harz negative Folgen, wenn sie von Hoogeveen und Geiser besucht würde. Denn, so sagte sie: „Der Bürgermeister bei uns ist ein Schwein.“ Sie traue ihm zu, dass er sie als Lehrerin entlassen würde, wenn der Kontakt zu Glaubensgeschwistern aus dem Westen bekannt würde. Allerdings lege sie „sehr viel Wert auf Beziehungen mit der Menn. Gem. und möchte schon gerne von Walter Jantzen mit seinem Ost-Wagen besucht werden.“ Auch erzählte sie, dass ihr Mann 1953 in Untersuchungshaft war und seine

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Stellung verloren hätte, da er Berlin-West besucht habe. Diese Erfahrung vor Augen wolle sie kein weiteres Risiko mit „Westkontakten“ eingehen (Nr. 33). Aus Furcht vor negativen Konsequenzen verzichteten viele Mennoniten in der DDR auf eine offensive Religionsausübung, reduzierten Kontakte zu Glaubensgeschwistern und sprachen mit anderen kaum über ihren mennonitischen Glauben. Sie wollten nicht unangenehm auffallen. 3.2.3 Aufrecht gegangen – durch Glaubensgeschwister gestärkt Teilweise wandelte sich Angst in Zuversicht, wie das folgende Beispiel zeigt: Adolf J. (Jg. 1918) war entsetzt, als Hogeveen und Geiser an seiner Tür klingelten. Er hätte nicht auf die Anfrage von Walter Jantzen geantwortet, damit ihn niemand besuchen käme. Als er hörte, dass das Auto ein niederländisches Kennzeichen hatte, entfuhr es ihm: „Ach du liebe Zeit, das ist ja noch schlimmer!“ Er meinte, der Besuch aus dem Westen wäre sofort in der ganzen Straße bekannt. Nachdem die erste Unruhe verflogen war, erzählte J., warum er Mitglied der Partei geworden wäre. Man habe ihn vor die Wahl gestellt, entweder von seiner Arbeit entlassen oder Parteimitglied zu werden. Obwohl er sich durch diesen Druck zur Mitgliedschaft in der SED durchgerungen habe, verlor er seine Arbeit. Wenn man einmal in der Partei wäre, käme man da nicht mehr raus, so seine Einschätzung. Am Schluss des Gesprächs notierte Rie Hoogeveen: „Eigentlich freuten wir uns besonders über diesen Besuch, wo wir nach Ablehnung durch Angst sehr die Verbundenheit spürten.“ Ob der Bruder sich traute, mal nach Halle zum Gottesdienst zu fahren, wüsste sie nicht, auf jeden Fall habe sie ihn dazu eingeladen. Zum Abschied begleitete das Ehepaar J. den Besuch auf die Straße und winkte in aller Öffentlichkeit, denn sie hätten ihre Angst völlig überwunden, so die Berichterstatterin (Nr. 15). Die Besuche und Kontakte zu Glaubensgeschwistern wurden von vielen als ermutigend und stärkend empfunden. So protokollierte Hoogeveen zum Abschied bei Frau Harder, dass diese „mit Heimweh“ zurückdenke an die Zeit im Menno-Heim, wo sie vor dem Mauerbau regelmäßig gewesen sei. Es sei für sie ein „Mut gebende[r] Gedanke“, dass in West-Berlin an sie gedacht würde (Nr. 12). Und Frau V. weinte beim Abschied, da es schwerlich zu ertragen sei, „dass man so wenig Beziehungen mit der Gemeinde in West-Berlin haben kann“ (Nr. 34). Frau R. freute sich sehr über den Westbesuch, besonders, dass „man mal wieder alles sagen kann, ist so schön“ (Nr. 28). Herr H. hatte aufgrund einer flapsigen Bemerkung große Schwierigkeiten mit den Sicherheitsbehörden bekommen. Er wurde vernommen und entlassen. Das war ca. 1955. Seine kritische Haltung gegenüber dem Staat hatte er sich jedoch nicht nehmen lassen. Nun war er Rentner, erhielt eine kleine Rente, ging jedoch zusätzlich noch arbeiten. Er und seine Frau freuten sich sehr über den Besuch der mennonitischen Glaubensgeschwister und fühlten sich gestärkt und ermutigt: „Wir sitzen auf einer Insel, wo wir nicht weg können. Was denken Sie, was für eine Freude es für uns ist, dass Sie hier sind“ (Nr. 13).

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3.2.4 Frieden, Friedenskirche sein – NVA und Bausoldaten In den Protokollen werden weder die Friedensthematik oder Mennoniten als Friedenskirche noch Bausoldatendienst begrifflich erwähnt. Allerdings existieren einzelne Hinweise auf das Thema Wehrdienst und Wehrdienstverweigerung. Jedoch muss zur Kenntnis genommen werden, dass die allgemeine Wehrpflicht 1962 und die Möglichkeit, einen waffenlosen Wehrdienst als Bausoldat abzuleisten, erst 1964 eingeführt wurde, während die diesem Artikel zugrundeliegenden Besuche 1966 stattfanden. Es gab daher wenige Erfahrungen mit Bausoldaten. Hans Jürgen J. (Jg. 1931), der als Konstrukteur in einer Werft arbeitete, hatte vor dem Mauerbau große Schwierigkeiten mit dem Staat gehabt. Immer wieder überlegte er, in den Westen zu fliehen, tat es aber nicht. Später wollte man ihn zwingen, in den Militärdienst zu gehen, allerdings verweigerte er immer wieder zu unterschreiben. Das war noch vor der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht. Lange Zeit sei er der Einzige in der Straße gewesen, der keine rote Fahne aus dem Fenster hängte, wenn „irgendetwas los war“. Man hätte ihn jedoch gezwungen mitzumachen, so dass er schließlich wegen Frau und Kind nachgab. „Man muss sich schon damit abfinden“, so sein resigniertes Fazit (Nr. 18). Gerhard D. wollte Medizin studieren und sollte dafür in die Partei eintreten, was er nicht tat. Seinen Grundwehrdienst als Soldat leistete er jedoch, danach konnte er studieren. Vor allem diejenigen, die nicht zur Partei gehörten, so seine Einschätzung, müssten schon gut aufpassen, dass sie mit dem Studium fertig würden. Es wird in dem Bericht nicht erwähnt, ob er sich mit dem mennonitischen Erbe der Wehrlosigkeit und der Kriegsdienstverweigerung auseinandergesetzt hat (Nr. 6). Ähnliches gilt für Familie W., die eine kleine Landwirtschaft besaßen und zum LPG-Typ 1 gehörten, das hieß, dass die 20 ha, die sie früher besessen und bewirtschaftet hatten, nun in die LPG eingegliedert wurden. Ein wenig Land und ihr Vieh durften sie (noch) behalten. Ihre eigene Landwirtschaft versorgten sie abends und an Wochenenden, ansonsten arbeiteten sie in der LPG. Den Grundwehrdienst bei der NVA betreffend steht im Protokoll lediglich, dass Frau, Kinder und Schwiegertochter bei der eigenen Landwirtschaft schon mithelfen müssten, sonst wäre es nicht zu schaffen. Bald müsste der Sohn zum Militärdienst und W. wisse nicht, wie er dann mit der Arbeit fertig werden sollte. Inhaltlich fand auch hier keine Auseinandersetzung mit Wehrdienst oder Verweigerung und dem mennonitischen Erbe der Wehrlosigkeit statt (Nr. 37). 3.2.5 Exkurs: Deutsche Mennoniten und die Wehrdienstfrage Die bisherigen Beispiele legen nahe, dass die aus Ost- und Westpreußen stammenden Mennoniten in der DDR die Frage der Wehrdienstverweigerung

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nicht ausdrücklich thematisierten. Darin spiegelte sich eine Grundproblematik der deutschen Mennoniten wider : Galt noch Anfang des 19. Jahrhunderts in den napoleonischen Kriegen die Teilnahme am Wehrdienst als Ausschlusskriterium für die Mitgliedschaft in einer Mennonitengemeinde, so änderte sich das im Laufe des Jahrhunderts. Deutlich wurde dies an den Forderungen der drei mennonitischen Abgeordneten in der Frankfurter Paulskirche 1848/49, die darauf drängten, mit der Erlangung der allgemeinen Bürgerrechte für Mennoniten auf Sonderprivilegien, wie beispielsweise die Wehrdienstverweigerung, zu verzichten. Die Ausprägung der nationalen Identität in Preußen und im frühen Deutschen Kaiserreich blieb auch für viele deutsche Mennoniten nicht ohne Folgen. Auffällig ist, dass mit der Beantragung der Korporationsrechte (Anerkennung der Mennonitengemeinden als Körperschaften des öffentlichen Rechts) nicht nur die allgemeinen Bürgerrechte erworben, sondern im selben Zuge Sonderrechte und Privilegien abgeschafft und die verpflichtende Wehrlosigkeit als Wehrdienstverweigerung aus den meisten mennonitischen Gemeindeordnungen gestrichen wurde. Mennoniten konnten sich zwar auf die preußische Kabinettsorder von 1868 berufen, die ihnen einen waffenlosen Dienst innerhalb des Militärs zusicherte, beispielsweise als Sanitäter, Koch, in der Schreibstube oder Forstwirtschaft. Jedoch nahmen deutsche Mennoniten zunehmend auch die Waffe für die Obrigkeit in die Hand, so dass im Ersten Weltkrieg etwa 2.000 mennonitische Männer als deutsche Soldaten in den Krieg zogen26. Diese Einstellung setzte sich bei den deutschen Mennoniten im 20. Jahrhundert fort. Bereits 1933 erklärten die ost- und westpreußischen Mennoniten bei einer Versammlung in Kalthofen, Westpreußen, unter der Leitung von Emil Händiges den Verzicht auf Wehrdienstverweigerung und stimmten einer noch nicht eingeführten allgemeinen Wehrpflicht zu27. Einzelne brachten zwar bei dieser Versammlung und auch später noch den waffenlosen Dienst innerhalb des Militärs in Erinnerung, viele aber verzichteten darauf28. Das Beispiel der Familie B. (Protokoll Nr. 3), bei dem nach Aussage der Mutter ein junger Mann in der NS-Zeit den Wehrdienst verweigert hätte und deshalb in einem Straflager ums Leben gekommen wäre, ist bisher ein Einzelfall und bedarf noch der genaueren Prüfung. Selbst der spätere Gemeindeleiter der Mennoniten-Gemeinde in der DDR trat während der NS-Zeit aus der Mennonitengemeinde aus und wurde Mitglied eines SA-Motorrad-Korps, wie seine der Stasi bekannte Entnazifizierungsakte ausweist29. Sein Sohn diente als

26 Vgl. Jantzen, Soldiers, 251. Zu den Kompromissen aufgrund der Körperschaftsrechte führt Jantzen unter anderen die Mennonitengemeinde Fürstenwerder in Westpreußen an, die zwar feststellte, dass jeder Krieg ein großes Übel sei, das aus der Sünde komme. Jedoch, wenn die Obrigkeit rufe, sei der Christ aufgefordert, sie auch militärisch zu unterstützen. Vgl. ebd., 249. 27 Vgl. https://www.mennlex.de/doku.php?id=art:haendiges_emil. 28 Zu deutschen Mennoniten im Nationalsozialismus vgl. Goossen, Nation. 29 Vgl. BArch, MfS, AP 16417–65_A, Blatt 16.

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Offizier der Reserve in der NVA.30 Damit zeigt sich, dass die Wehrdienstverweigerung in der mennonitischen Gemeinschaft der DDR eine untergeordnete Rolle spielte. Noch immer sind keine mennonitischen Bausoldaten namentlich bekannt, auch wenn sich Michael Ebeling im Interview an mindestens zwei Mennoniten aus Berlin erinnerte, die mit ihm zusammen von Herbst 1984 bis Frühjahr 1986 als Bausoldaten eingesetzt waren. Jedoch konnte er sich an keine Namen erinnern31. Besonders in der Bundesrepublik Deutschland – aber auch in der DDR – erfuhr der mennonitische Friedensgedanke und damit verbunden die Wehrdienstverweigerung durch nordamerikanische Mennoniten seit der zweiten Hälfte der 1940er Jahre eine Wiederentdeckung. 1966 siedelten der kanadischmennonitische Theologe John R. Friesen und seine Frau Marian als Hauseltern nach Berlin über und lebten mit Familie im Menno-Heim (Berlin West). Zu einem Drittel seiner Pastorentätigkeit war Friesen auch für die Betreuung und Begleitung der Mennoniten-Gemeinde in der DDR zuständig. Mit seinem kanadischen Pass vermochte er problemlos von Berlin-West nach Berlin-Ost und in die DDR zu reisen. Durch Pastor Friesen wurden Themen wie mennonitisches Friedenszeugnis, Pazifismus und Wehrdienstverweigerung erneut in die DDR-Gemeinde eingebracht. Zusammen mit Walter Jantzen prägte Friesen fortan das Bild der Mennoniten in der DDR-Ökumene mit. Er hielt Radioandachten im RIAS (Berlin-West), die auch in der DDR empfangen und gehört wurden32. Er vertrat die Mennoniten in verschiedenen Gremien, unter anderem in der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in der DDR (AGCK) und auch in der Christlichen Friedenskonferenz (CFK), an der die Mennoniten-Gemeinde in der DDR mit Gaststatus teilnahm. Durch seine ökumenischen Kontakte lernte Friesen den baptistischen Theologen Peter Müller kennen und überzeugte ihn, von 1967 bis 1970 bei den Mennoniten in der DDR als Pastor zu arbeiten. Müller war für seine antimilitaristische Haltung und die Beratung junger Männer als Bausoldaten bekannt.33 Friesen und Müller verband die christliche Friedensethik und die Befürwortung der Wehrdienstverweigerung. Diese Themen wurden zwar auch bei Zusammenkünften in der Mennoniten-Gemeinde in der DDR und in der Jugendgruppe diskutiert, wie einige handschriftliche Dokumente Friesens belegen34, doch noch ist nicht bekannt, ob auch junge Mennoniten aus der Gemeinde Bausoldaten waren.

30 Vgl. Thiessen, Leben, 114. 31 Vgl. das Interview mit Michael Ebeling, geführt von Bernhard Thiessen, 24.1. 2020 bei der Geschichtsmesse in Suhl. 32 Vgl. Thiessen, Leben, 103. 33 Näheres zu Peter Müller vgl. Eisenfeld / Schicketanz, Bausoldaten, 317, 333–335. 34 Friesen, Nachlass, Mappe: Mennonitengemeinde in DDR.

Eingeschüchtert – Angepasst – Aufrechtgegangen: Mennoniten in der DDR 331

3.2.6 Besonderes Problem: Der Gemeindebrief aus dem Westen Der Gemeindeleiter Walter Jantzen blieb von Berlin (Ost) aus mit allen Gemeindegliedern per Post und auch durch Besuche in Verbindung und lud sie zu den jeweiligen Gottesdiensten ein. Der Gemeindebrief für die Mennoniten in der DDR kam allerdings auch in den 1960er Jahren weiterhin von der Berliner Mennoniten-Gemeinde aus dem Westen. Er bestand aus einem beidseitig bedruckten Din A4 Blatt, beginnend mit der besinnlichen Auslegung eines Bibelverses. Es folgten einige Informationen über Mennoniten im Allgemeinen und Gemeindeglieder im Besonderen. Auch mennonitische Veranstaltungen wurden angekündigt und schließlich gab es Hinweise auf Gottesdienste in Berlin-West, Berlin-Ost und der DDR. Da es eine Zeitlang schwierig war, Post von Berlin-West nach Berlin-Ost und in die DDR zu schicken, übernahm es der ehemalige Gemeindeleiter der BMG Dr. Ernst Crous aus Krefeld, die Briefe in die DDR zu verschicken. Die Umschläge waren offen, kamen aus dem Westen und trugen einen großen Stempel mit Namen und Adresse von Crous. Das führte immer wieder zu Irritationen. Hinsichtlich des Bemühens, in der DDR als Mennoniten nicht aufzufallen, war diese Lösung völlig ungeeignet. Oft kamen die Briefe gar nicht bei den Empfängern an oder die Gemeindeglieder in der DDR verweigerten die Annahme, da sie Ärger wegen der Westkontakte fürchteten. Mit der Weigerung, die Gemeindebriefe anzunehmen, verzichteten diese Gemeindeglieder auf eine der wenigen Quellen, die Informationen über Mennoniten enthielten und so zur Stärkung der mennonitischen Identität in einer atheistischen Gesellschaft beitrugen. Meta und Julius K. erzählten, dass ihr Sohn – wie der Vater es nannte – „sich einmal den Mund verbrannt“ hatte. Als man ihn verhaften wollte, stellte sich heraus, dass er an TBC erkrankt war, deshalb erhielt er vom Arzt eine Bescheinigung, die ihn vor der Verhaftung bewahrte. Doch in der Folge dieser Erfahrung sagte Ehepaar K., dass sie lieber keinen Gemeindebrief aus Krefeld erhalten wollten, da sie wegen ihres Sohnes immer noch Angst hätten (Nr. 20). Frau Lisette L. (Jg. 1919) berichtete beim Besuch, dass sie durch die Konfirmation ihres Sohnes keine Schwierigkeiten bekommen hätte, jedoch den Gemeindebrief aus Krefeld weiterhin nicht beziehen wollte aus Angst, unangenehm aufzufallen (Nr. 23). 3.2.7 Mennonitische Taufe – Evangelische Konfirmation – Staatliche Jugendweihe Dies alles zeigt bereits eine weitere Besonderheit des Mennoniten-Seins in der DDR: In jeder zweiten von den 42 besuchten Familien war ein Elternteil mennonitisch, der andere evangelisch. Wenn ein Elternteil evangelisch war, wurden die Kinder meist ebenfalls evangelisch getauft und in der Regel konfirmiert oder blieben ohne Kirchenzugehörigkeit. Nur elf Familien waren rein mennonitisch. Auch deren Kinder konnten allerdings seit dem Bau der Mauer

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nicht mehr in den mennonitischen Unterricht gehen, da dieser im MennoHeim in Berlin-West stattfand. Außerhalb Berlins bestanden nur wenige Möglichkeiten, mennonitisches Gemeindeleben zu erfahren, deshalb schlossen sich viele Mennoniten der Evangelischen Kirche an, wollten aber weiterhin als Mitglieder der Berliner Mennoniten-Gemeinde „betrachtet werden“ (vgl. z. B. Nr. 7, 12, 16, 32, 37). Mennonitische Gottesdienste fanden beispielsweise nur zweimal im Jahr in Erfurt oder in Halle bzw. in Leipzig statt. So konnte mennonitische Identität nur schwer bewahrt und an die nächste Generation weitergeben werden. Die Kinder der beiden Töchter von Ehepaar B. nahmen an der evangelischen Christenlehre teil und wurden konfirmiert, hatten jedoch ein Jahr zuvor die Jugendweihe gefeiert. Zur Vorbereitung auf das Fest der Jugendweihe veranstaltete die FDJ viele Aktivitäten mit den Jugendlichen, z. B. Urlaubslager, Ausflüge, Besichtigungen. „Wir müssen die Kinder schon mitmachen lassen“, sagte Herr B., sie würden es nicht verstehen, wenn man es ihnen verböte. Sie stünden als Einzelgänger in ihrer Schule da und wären auch später in ihrer Berufswahl gehemmt, begründete er seine Entscheidung. Dabei war sich B. bewusst, dass man in der FDJ versuchte, die Kinder von der SEDIdeologie zu überzeugen (Nr. 2). Familie W. war noch zurückhaltender. Sie ließ die Kinder zwar alle evangelisch taufen, jedoch nicht konfirmieren. Denn ihre Überzeugung war : In der Schule hätten konfirmierte Kinder „ausgesprochen Schwierigkeiten“ und sie wollten ihren Kindern keine Steine in den Weg legen (Nr. 38). Die Neuntklässlerin Heidemarie W. berichtete, dass sie an der Jugendweihe teilgenommen habe und Mitglied in der FDJ wäre, „denn ich will noch etwas erreichen und nicht nur schlechte Noten bekommen“. Rie Hoogeveen bemerkte dazu, dass man in der DDR zwar nicht hungerte, der moralische Druck jedoch sehr groß wäre (Nr. 39). Gegen die FDJ hatte sich Familie S. entschieden. Kurt S. (Jg. 1909) war mennonitisch getauft worden und in der DDR in die Evangelische Kirche eingetreten. Er legte jedoch Wert darauf, weiter als Mitglied der MennonitenGemeinde in Berlin betrachtet zu werden. Er dachte mit Freude an die Begegnungen im Menno-Heim zurück und wollte versuchen, einmal wieder in der Andacht in Ost-Berlin zu erscheinen. Seine Frau Gisela (Jg. 1920) war evangelisch. Bei Familie S. fände manchmal sonntags evangelische Hausandacht statt, weil die Kirche im Dorf im Winter zu kalt wäre. Sie lebten bewusst als Christen. Schwierigkeiten wegen ihrer kirchlichen Einstellung hätten sie nicht erfahren. Die beiden jüngsten Kinder wären nicht Teil der FDJ, weshalb ihnen wiederholt zugesetzt würde. Kurt S. meinte, dass man dieses Zusetzen einfach überhören müsste. Tochter Ingrid dagegen wäre ganz vom christlichen Leben abgekommen. Ihr Mann war Schulrat, sie selbst Lehrerin. In diesem Beruf wäre es wohl schwierig, als Christen zu leben. Vater S. missbilligte allerdings das Verhalten seiner Tochter und das des Schwiegersohns (Nr. 32). Peter W. (Jg. 1914), der als Mennonit ebenfalls der Evangelischen Kirche

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beigetreten war, sah die Zeit für die Partei arbeiten. „Wir“, so konstatierte er „erzählen unseren Kindern noch von unserer Einstellung, aber was werden sie noch an ihre Kinder weitergeben?“ (Nr. 37). 3.2.8 Beobachtungen und versuchte Einflussnahme durch das MfS 3.2.8.1 Mennonitischer Pastor als Blinder Informand des MfS benutzt

1967 fand in Berlin (Ost) eine kleine internationale mennonitische Versammlung mit 40 ausländischen Gästen statt, zu der auch viele Gemeindeglieder aus der DDR anreisten. Die Staatssicherheit hatte rund um das Tagungsgebäude ihre Leute platziert, wie Peter Müller berichtete. Er kam von den Baptisten, war Berater für Bausoldaten und wurde an besagtem Wochenende (5. bis 6. August 1967) als mennonitischer Pastor für seinen Dienst gesegnet. Müller hätte „Spielchen [getrieben] mit ’ner ganzen Reihe von StasiLeuten“, welche „auffällig unauffällig“ die Straßen bewachten. Müller wäre an deren Auto getreten und habe sie begrüßt und ihnen über den Zeitungsrand geschaut. Dabei wollten sie nicht so „von Angesicht zu Angesicht gesehen und angesehen werden“35, wie Peter Müller im Interview mit Reinhard Assmann am 18. Mai 2001 rückblickend feststellte. Mindestens einer der Referenten bei der Tagung war ebenfalls Inoffizieller Mitarbeiter vom MfS. Dr. Herbert Landmann (IM „Chef“, bzw. IM „Chefarzt“) hielt einen Diavortrag über die Situation in Nord-Vietnam. Die Mennoniten, die seit 1954 mit ihrem Nordamerikanischen Hilfswerk MCC in Vietnam aktiv waren, suchten dringend Kontakt nach Nord-Vietnam, um als Friedenskirche den Opfern auf beiden Seiten des Krieges zu helfen36. Landmann vermittelte zwischen den DDR-Behörden und der Botschaft des „Bruderstaates“, der Volksrepublik Vietnam, die in Ost-Berlin ansässig war. Dass die Hilfslieferungen tatsächlich ankamen, belegt ein Telegramm aus Nord-Vietnam. Insgesamt konnten vier mennonitische Hilfslieferungen durch die Vermittlung Landmanns über die DDR nach Polen und von dort per Schiff nach Nord-Vietnam verschickt werden. Wovon die Mennoniten nichts ahnten, war die versuchte Einflussnahme von Herbert Landmann als IM auf seinen mennonitischen Ansprechpartner, Pastor John R. Friesen, mit dem er befreundet war und den er 1990 in Kanada besuchte. Auch missbrauchte er Friesen als sogenannten Blinden Informanten für die Stasi37.

35 Thiessen, Leben, 39. 36 Vgl. Beechy, Relief, 207. 37 Vgl. Thiessen, Telegramm, 199 f.

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Abbildung 8: Telegramm von Mr. Dang an Dr. Herbert Landmann, Berlin-Buch, 7.12. 1973 aus Hanoi, Nord-Vietnam, Nachlass John R. Friesen, MHA, Winnipeg, Ma, Kanada. 3.2.8.2 Mennonitischer Pastor vom MfS eingesetzt

Immer wieder hatte das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) nach Kontakten und Einflussmöglichkeiten im Hinblick auf Mennoniten gesucht. So wurde, als Walter Jantzen in den Ruhestand ging, Knuth Hansen von der Evangelischen Kirche zweimal für jeweils fünf Jahre freigestellt, so dass er von 1980 bis 1990 als Pastor der Mennoniten-Gemeinde in der DDR tätig war. Die umfangreiche Akte über Knuth Hansen wurde zwar im Dezember 1989 von der Stasi vernichtet. Aus anderen Quellen ist zu erschließen, dass er als Einfluss-IM gezielt bei den Mennoniten platziert worden war. Der bei den Mennoniten bekannte Evangelist, Prediger und Landvermesser Gerd Bambowsky (IM „Gerd“, alias IMF „Heinz Wendland“, alias IM „Kornelius Hammer“) sorgte dafür, dass sein Freund Knuth Hansen Nachfolger von Walter Jantzen wurde. Vorrangig sollten dabei nicht die Mennoniten in der DDR ausspioniert werden. Vielmehr war eine Zusammenarbeit der Stasi mit der Sowjet Union intendiert. Hansen sollte als IM „Paul“ im Auftrag der „Bruderorganisation“ KGB den internationalen mennonitischen Verbindungen in die UdSSR auf den Grund gehen, um so den Literatur- und Bibelschmuggel von West nach Ost zu unterbinden38. Dass sich im Rahmen 38 Näheres zu Hansen vgl. Reichardt, Schmuggler, 104–106.

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Abbildung 9: Pastor Knuth Hansen ca. 1983 Foto: privat, Sammlung C. Friesen.

der Überwachung durch die Stasi keine unabhängige mennonitische Friedenskirche in der DDR entwickeln konnte, liegt auf der Hand. Gerade in den 1980er Jahren, in denen der kirchlichen Friedensbewegung eine zentrale Rolle in der Entwicklung der DDR-Gesellschaft zukam, wirkte Pastor Hansen bremsend und verhinderte ein offenes mennonitisches Friedenszeugnis und damit auch die Schärfung einer mennonitischen Identität. Hansen war „Diener zweier Herren und hat dadurch der Gemeinde geschadet“39, so das Resümee der ehemaligen Schriftführerin der Mennoniten-Gemeinde in der DDR, Renate Roeser.

39 Thiessen, Leben, 143.

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4. Resümee Durch den Mauerbau am 13. August 1961 änderte sich die Situation der Mennoniten in der DDR vollkommen. Nun war es für sie nicht mehr möglich, zu den Gottesdiensten, Kleider- und Paketausgaben, Kinder-, Jugend- und Seniorenfreizeiten ins Menno-Heim nach Berlin-West zu gelangen. Viele wehmütige Erinnerungen an das Menno-Heim wurden in 25 der 39 verfassten Besuchsberichte wiedergegeben. Auch spielten besonders bei älteren Mennoniten die Erinnerungen an die großen Gemeinden und das aktive Gemeindeleben in West- und Ostpreußen eine wichtige Rolle. Nach 1961 baute der Fuhrunternehmer Walter Jantzen mit seiner Frau Berta mit all ihren Möglichkeiten ein neues Gemeindeleben in der DDR auf. In ihrem Privathaus fanden die ersten Jugendfreizeiten statt. Für die Gottesdienste war man in unterschiedlichen christlichen Gemeinden zu Gast. Zur Unterstützung wurden aus dem Westen Prediger für Gottesdienste und Freizeitgruppen eingeladen. Doch die Staatssicherheit und die atheistische Grundhaltung der DDR-Gesellschaft machten es den Mennoniten schwer, ein unbekümmertes Glaubensleben weiterzuentwickeln. Besonders die Westkontakte über Besuche, den Gemeindebrief und weitere Briefe oder Pakete aus Westdeutschland führten immer wieder zu Argwohn, Beobachtung und Diskriminierung durch Behörden sowie Nachbarinnen und Nachbarn. Wer als Mennonit christlichen Glauben leben wollte, schloss sich in der Regel der Evangelischen Kirche an, wollte aber weiterhin als Mennonit „betrachtet werden“, wie es oft in den Protokollen vermerkt wurde. Die Generation, die noch die Gemeinschaft mit den Glaubensgeschwistern, sei es in Ost- und Westpreußen vor dem Krieg oder im Menno-Heim in den 1950er Jahren erlebt hatte, dachte verklärend daran zurück. Die neue, junge Generation aber hatte es schwer, unter den DDR-Bedingungen eine eigene mennonitische Identität zu entwickeln. Da regelmäßige Begegnungen und eine klare Struktur für die Gemeindearbeit besonders außerhalb Berlins fehlten, diffundierten viele ehemalige Mennoniten, vor allem die zweite und dritte Generation entweder in die atheistische Gesellschaft oder in andere Kirchen. Letztlich scheint weniger die aktive Verfolgung durch die DDR-Sicherheitskräfte als vielmehr die Einschüchterung, der spürbar anti-kirchliche Druck und die massive Entfremdung von mennonitischen Glaubensinhalten zur rückläufigen Gemeindeentwicklung geführt zu haben. Den Mennoniten fehlten in der Diaspora klare Organisationsstrukturen, um dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen. Der Einfluss und die Wirkung des MfS auf die Entwicklung der Gemeinde wie im Falle Pastor Hansens kann noch nicht abschließend eingeschätzt werden. Es ist jedoch zu resümieren, dass die Zeit zwar nicht für

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die Partei arbeitete, jedoch gegen ein aktives mennonitisches Gemeindeleben40. Derzeit sind lediglich noch 20 Getaufte, meist ältere Personen als Mennoniten aus der ehemaligen DDR-Gemeinde, Glieder der Berliner Mennoniten-Gemeinde41.

Quellen- und Literaturverzeichnis I. Unveröffentlichte Quellen Bundesarchiv (BArch) Bestand DO 4: Staatssekretariat für Kirchenfragen, 723. Bestand: DY 30, Abteilung für Staats- und Rechtsfragen 1945–1989, 95105.

Bundesarchiv, Ministerium für Staatssicherheit (BArch, MfS) Jantzen, Walter, Hinweise auf Entnazifizierungsakte, Bestand: Allgemeine Personenablage (AP), 16417–65_A, Blatt 16. Ordnung, Carl, Brief an Kollege Kusch, Staatssekretariat für Kirchenfragen, vom 26.11. 1963, DO 4/723, Bl. 96.

Interviews Ebeling, Michael, Interview geführt von Bernhard Thiessen, am 24. Januar 2020 bei der Geschichtsmesse in Suhl.

Mennonite Heritage Archives, Winnipeg, Ma., Kanada (MHA) Dang, Telegramm an Dr. Herbert Landmann, Berlin-Buch, 7.12. 1973, Hanoi, NordVietnam, in: Nachlass: John R. Friesen, Mappe: Internationale Mennonitische Organisation, 1973–1982. Friesen, John R., Nachlass, Mappe: Mennonitengemeinde in der DDR.

Mennonitische Forschungsstelle Weierhof (MFSt) Bestand: A.27.1.3 IMH, Osthilfe und Berliner Menno-Heim. Hoogeveen, Marie „Rie“, 39 Protokolle von Besuchsreisen in die DDR, Mappe 3, Besuche Mitteldeutschland 1958–1966. 40 Zum Ausstellungsprojekt: Mennoniten in der DDR, vgl. https://mennoniten-ddr.de/. 41 Zur Situation von Mennonitengemeinden in den neuen Bundesländern vgl. Thiessen, Leben, 162.

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II. Veröffentlichte Quellen und Darstellungen Arbeitsgemeinschaft deutscher Mennonitengemeinden in der Bundesrepublik Deutschland und Berlin (West) e. V. (AdM) (Hg.): Mennonitisches Jahrbuch 1989. Karlsruhe, 1989. Bainton, Roland: The left wing of the reformation. In: JR 21 (1941), 124–134. Baumann, Imanuel: „Als der Entwurf zum Verbot der Mennoniten in der DDR bereits aufgesetzt war.“ Bemerkungen zu einem Fund von staatlichen Dokumenten aus den Jahren 1951 und 1952. In: MGB 73 (2016), 61–79. Beechy, Atlee: Our Relief in a Country at War (Vietnam). In: The Witness of The Holy Spirit. Proceedings of the Eighth Mennonite World Conference Amsterdam, The Netherlands July 23–30. 1967, o. O. 1967, 199–207. Blanke, Fritz: Brüder in Christo. Die Geschichte der ältesten Täufergemeinde (Zollikon 1525). Zürich 1955. Eisenfeld, Bernd / Schicketanz, Peter : Bausoldaten in der DDR. Die „Zusammenführung feindlicher-negativer Kräfte“ in der NVA. Berlin 2011. Fast, Heinold (Hg.): Der linke Flügel der Reformation. Glaubenszeugnisse der Täufer, Spiritualisten, Schwärmer und Antitrinitarier (KlProt IV). Bremen 1962. Goertz, Hans-Jürgen: Simons (Simonzoon), Menno. In: https://www.mennlex.de/ doku.php?id=art:simons_simonszoon_menno [22.12. 2022]. – (Hg.): Radikale Reformatoren. 21 Biographische Skizzen von Thomas Müntzer bis Paracelsus. München 1978. Goossen, Benjamin W.: Chosen Nation. Mennonites and Germany in a Global Era. Princeton 2017. Hage, Hermann: Die Entstehung und Entwicklung der mennonitischen Gemeinde im Herzogtum Sachsen-Meiningen und in Franken, von Beginn der Einwanderung 1776 bis zum Ende des 19. Jahrhunderts (Mainfränkische Hefte 117). Neustadt a. d. A. 2021. Jantzen, Mark: Mennonite German Soldiers. Nation, Religion and Family in the Prussian East, 1772–1880. Notre Dame IN 2010. Laube, Adolf / Steinmetz, Max / Vogler, Günther : Illustrierte Geschichte der frühbürgerlichen Revolution. Berlin 1982. Maeke, Lutz: Carl Steinhoff: Erster DDR-Innenminister. Wandlungen eines bürgerlichen Sozialisten. Göttingen 2020. Mennoniten, Konferenz der Süddeutschen Mennonitengemeinden (Hg.): Mennonitischer Gemeinde-Kalender für das Jahr 1962. Karlsruhe 1962. Mennoniten, Konferenz der Süddeutschen Mennonitengemeinden (Hg.): Mennonitischer Gemeinde-Kalender für das Jahr 1967. Karlsruhe 1967. Reichardt, Ann-Kathrin: Schmuggler, Spitzel und Tschekisten. Wie Stasi und KGB den Bibelschmuggel in die Sowjetunion bekämpften (BF informiert 43). Berlin 2020. Rosin, Maximilian: Netzwerke der Täufer in Thüringen. Vortrag beim Reinhardsbrunner Gespräch 2021. In: Die Brücke 2 (2021), 30–33.

Eingeschüchtert – Angepasst – Aufrechtgegangen: Mennoniten in der DDR 339 Schlachta, Astrid von: Täufer. Von der Reformation ins 21. Jahrhundert. Tübingen 2020. Theringer Informationszentrum Spiritueller Tourismus im Klosterpark Reinhardsbrunn (Hg.): Gefangen – Gelitten – Gestorben. Die Täufer in den Widersprüchen der Zeit. Zum Gedenken an die im Jahre 1530 in Reinhardsbrunn hingerichteten Täufer (Begleitheft zur Ausstellung, Eröffnung: 7. Juli 2015). Eckardtshausen 2017. Verein 500 Jahre T-uferbewegung 2025 e. V. (Hg.): gewagt! gemeinsam leben. Themenheft 2021. Kassel 2021, 144–147. Schmidt, Corinna: Emil Händiges. In: https://www.mennlex.de/doku.php?id=ar t:haendiges_emil [22.12. 2022]. Thiessen, Bernhard: Leben in Grenzen. Die Mennoniten in der SBZ und der DDR von 1945 bis 1990 (SMGV 12). Bolanden 2020. –: Telegramm aus Vietnam. Geschichtswissenschaft zwischen kriminalistischem Spürsinn, archäologischer Akribie und persönlicher Faszination. In: MGB 78 (2021), 191–200. – (Hg.): Hundert Jahre Augenblicke. Mennonitenkirche in Hamburg Altona. 1915–2015. Hamburg 2015. Wenger, John C.: Die Dritte Reformation. Kurze Einführung in Geschichte und Lehre der Täuferbewegung. Kassel 1963. Williams, George Huntston / Mergal, Angel M. (Hg.): Spiritual and Anabaptist Writers. Document Illustrative of the Radical Reformation (LCC XXV). London 1957.

III. Internetquellen https://mennoniten-ddr.de/ [22.12. 2022].

V. Interview

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Im Gespräch mit Rainer Eppelmann: Das Bausoldatentum als „Schule der Demokratie“ – Erfahrungen als Bausoldat LEHMANN: Er ist Theologe, Bürgerrechtler, Politiker und Mitinitiator der Blues-Messen in Berlin. Er war genau 199 Tage Minister für Abrüstung und Verteidigung in der letzten DDR-Regierung und danach 15 Jahre lang Mitglied des Deutschen Bundestages. Er ist Vorsitzender der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Sein Lebenswerk verlief, wie er es selbst beschreibt, vom „Staatsfeind“ zum „Parlamentarier“. Doch wenige wissen, welche Rolle für seine Entwicklung auch die Zeit als Bausoldat spielte. Was er dort erlebt hat, welche Bedeutung die Bausoldaten für die friedliche Revolution hatten und wie sehr – so seine Formulierung – heute noch die DDR-Geschichte „qualmt“, das wollen wir heute von ihm in einem Gespräch erfahren. Ich begrüße dazu ganz herzlich hier in unserer Aula der Friedrich-Schiller-Universität Rainer Eppelmann. Wir werden dieses Gespräch in zwei Teile teilen. Im ersten Teil stelle ich Fragen über Ihr persönliches Leben, danach werden wir über das Thema „Bausoldaten als Schule der Demokratie“ sprechen. Lieber Herr Eppelmann, der 13. August 1961 war für viele ein bewegender Moment. An dem Tag erfolgte die Abriegelung der Sektorengrenze und der Bau der Berliner Mauer. Wie sehr hat Sie dieses Datum in ihrem Leben beeinflusst? EPPELMANN: Es ist zwar schon einige Jahre her, aber gehört zu den drei zentralen Daten meines Lebens, mal abgesehen von der Geburt oder der Heirat. Der 13. August 1961, zu der Zeit war ich 18 Jahre alt. Ich ging – was damals noch möglich war – in West-Berlin aufs Gymnasium. Ich selbst wohnte noch in Ostberlin. Mein Vater arbeitete in Westberlin, weil er dort mehr Geld als in der Hauptstadt der DDR verdienen konnte. Mit dem 13. August 1961 hat Walter Ulbricht mir indirekt gesagt: „Junge, du hast genug gelernt!“ Denn nun konnte ich nicht mehr zu meiner Schule über die Grenze gehen. Leider hat Ulbrich mich nicht gefragt. Ich war nämlich erst in der elften Klasse und habe daher nie Abitur machen können. Ich war Dachdecker-Hilfsarbeiter. Nach einem Jahr durfte ich eine Lehre als Maurer anfangen und kam danach zur Armee. Mein Vater arbeitete weiter in Westberlin. Er und meine Mutter waren sich einig: „Das dauert nicht lange, die DDR hält das nicht durch und der Westen wird sich das nicht gefallen lassen“. 14 Tage später wurde der erste junge Mann

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erschossen, als er zu fliehen versuchte. Spätestens da musste jeder begreifen: „Die meinen es ernst!“ Von daher war das für mich eine totale Veränderung meines Lebens. Ich hatte die Absicht, Architektur zu studieren. Das konnte ich nun nicht mehr machen, weil ich ja kein Abitur hatte. Erst der der 9. November 1989 veränderte wieder so einschneidend mein Leben. Da stand ich nämlich an der Bösebrücke, dem Grenzübergang an der Bornholmer Straße. Als ich ankam, war der Schlagbaum noch unten – zweieinhalb Stunden später war er oben. LEHMANN: Am 24. Januar 1962 beschloss die DDR-Regierung die Einführung der Wehrpflicht. Von nun an mussten alle Männer zwischen 18 und 26 Jahren den 18-monatigen Grundwehrdienst ableisten. Auch Sie wurden gemustert – wenn man es genau nimmt, sogar zweimal. Sie entschieden sich nach dessen Einführung im Herbst 1964 zum Bausoldaten-Dienst. Welche Überlegungen führten zu dieser Entscheidung? EPPELMANN: Meine Entscheidung war nicht denkbar ohne den 13. August 1961. Ich hatte ja erlebt, wie die Regierenden mit mir als Bürger umgingen. Es fiel schwer, mir vorzustellen, dieses System und die Regierenden verteidigen zu sollen oder möglicherweise bereit zu sein, mein Leben für sie in die Schanze zu schlagen. Das erschien mir nicht möglich. Als für mich die Frage anstand, Wehrdienst oder nicht, waren für mich die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges ausschlaggebend. Ich bin im Februar 1943 geboren, habe mir hinterher von Menschen sagen lassen: Das war der Monat, in dem die meisten Bomben auf Berlin gefallen sind. Im Grunde habe ich Glück, dass ich überhaupt hier bin. Außerdem war ich in der Jungen Gemeinde. Dort haben wir von Dietrich Bonhoeffer, Martin Luther King und vom Kardinal Clemens August Graf von Galen gehört. Schließlich wusste ich natürlich auch von Auschwitz. Ich fragte meinen Erzeuger : „Wie konntet ihr solch schreckliche Dinge tun?“ Darauf wollte er nicht antworten. Und wenn ich eine Antwort hörte, war das immer : „Na, wir haben doch einen Eid gesprochen und wenn wir den nicht gehalten hätten, wären wir erschossen worden“. Das konnte ich zwar verstehen. Angst ist ja auch ein Menschenrecht. Aber ich wollte in eine solche verpflichtende Zwangssituation nicht kommen. LEHMANN: War die Frage des Eides auch für Sie als Bausoldat persönlich von Bedeutung? EPPELMANN: Ja, ich war zu dieser Zeit 22 und gehörte zum zweiten Jahrgang der Bausoldaten. In dieser Situation fragten wir uns alle: „Können wir tatsächlich einen Eid leisten?“ Zu der Zeit sind mir zwei junge Männer begegnet,

Im Gespräch mit Rainer Eppelmann: Erfahrungen als Bausoldat

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die im ersten Jahrgang der Bausoldaten waren. Einer davon war Jörg Hildebrandt, der Mann von Regine Hildebrandt. Er war noch da, als wir als Bausoldaten eingezogen wurden, weil er das Gelöbnis nicht abgelegt hatte. Dafür bekam er acht Monate Gefängnis, die er als Soldat noch nachleisten musste. Nun standen wir vor der Entscheidung, den Eid abzulegen oder ihn zu verweigern. Wir haben mit den beiden natürlich geredet. Uns quälte der Gedanke: „Was machen wir, wenn wir den Befehl bekommen?“ Die meisten von uns waren evangelisch, zwei waren katholisch, einer war Mitglied der SPD. Alle haben gesagt: „Wir gehen nicht!“ Deshalb sind wir in der Stube geblieben, als der Befehl zum Raustreten kam und haben uns geweigert, das Gelöbnis abzulegen. Da war auch schon der Staatsanwalt da. Aufgrund der Erfahrungen mit dem ersten Jahrgang hatten die Befehlshaber bereits Vorkehrungen getroffen. Der Staatsanwalt kam zu uns und sagte: „Sie kriegen jetzt noch einmal den Befehl. Und wenn Sie den Befehl erneut verweigern, werden Sie für mehrere Jahre ins Gefängnis kommen“. Da waren wir nur noch zwei, die erneut nicht rausgegangen sind. So sind wir dann tatsächlich für unsere Gewissensentscheidung acht Monate in den Knast gekommen. Als ich da wieder rauskam, hatte ich weniger Angst vor denen, die mir Befehle gaben. LEHMANN: Lassen Sie uns auf Ihre Zeit während der Haft schauen. Wie hat Sie diese Haft geprägt? Welche persönlichen Erinnerungen verbinden Sie mit dieser Zeit? EPPELMANN: Das war für mich zunächst eine schwere Zeit. Ich war Anfang 20 und kann mich noch erinnern, dass ich auch Wasser in den Augen hatte. Denn tatsächlich, im Knast zu sein, ist noch mal etwas ganz anderes, als es sich nur vorzustellen. In der Untersuchungshaft saß ich zusammen mit einem Häftling, der suizidgefährdet war. Man sagte zu mir, der ich selber genug mit mir zu tun hatte: „Passen Sie auf den auf, dass der sich nicht umbringt“. Wir waren in einer sogenannten „Tiger-Zelle“. Es gab keine Tür, sondern bloß ein Gitter, so dass man da jederzeit reingucken konnte. Ja, die ersten drei Tage waren für mich sehr schwer. LEHMANN: Was hat Sie durch diese Zeit gebracht? EPPELMANN: Was mir geholfen hat: Ich durfte lesen. Ich wollte aber nicht die fürchterlichen Bücher lesen, die es dort zumeist gab. In meinem Rucksack war eine Bibel. Ich bat darum, diese zu bekommen. Man hat sie mir gegeben. Und dann las ich das erste und einzige Mal in meinem Leben die ganze Bibel durch. Von einigen langweiligen Stellen mal abgesehen, hat mir das sehr geholfen, auch für mein weiteres Leben. LEHMANN: Hatte die Bausoldatenzeit auch Konsequenzen für Ihren weiteren Werdegang?

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EPPELMANN: Ja, am Ende der Bausoldatenzeit war für mich die Berufsfrage beantwortet: Was könntest du denn in diesem eingemauerten Land werden? Um wenigstens zufrieden, wenn irgend möglich auch noch glücklich zu sein? Das Einzige, was mir einfiel, war der Pfarrberuf, was sich für mich als die richtige Wahl herausstellte. Im Rückblick habe ich daraus gelernt: Der beste Weg ist häufig nicht der leichteste. LEHMANN: Lassen Sie uns zum Titel kommen, mit dem wir unser Gespräch angekündigt haben: „Bausoldaten als Schule der Demokratie“. Der Titel ist von Peter Maser inspiriert, der ein Buch geschrieben hat, das immer noch zu den besten Darstellungen der DDR-Kirchengeschichte zählt. Als jemand wie Sie, der auch diese „Schule“ besucht hat: Wie denken Sie über dieses Urteil? EPPELMANN: Peter Maser ist der Geburtshelfer dieser Formulierung. Ich habe sie von ihm gehört, als wir in der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zur Aufarbeitung der SED-Diktatur zusammenarbeiteten. Ich benutze die Formulierung immer mal wieder, nicht nur aus Hochachtung vor Peter Maser. Erlauben Sie mir, den Gedanken noch auszuweiten. Man könnte meines Erachtens sogar sagen: Die Kirche in der DDR war eine „Schule der Demokratie“. Für viele Menschen war es ein Freiraum, vielleicht sogar der einzige, den es in der DDR gab. Die einzigen freien und demokratischen Wahlen in der DDR, bei denen nicht betrogen wurde, waren die Wahlen zum Gemeindekirchenrat, zum Kreiskirchenrat oder zur Synode. Die einzigen Räume, in denen nicht die Partei oder der Generalsekretär bestimmte, was Thema war, was man sagen durfte und was am Ende rauskommen sollte, waren die Gemeindehäuser und Kirchen. Der einzige Raum der rechten Freiheit war der kirchliche Raum. Jedenfalls konnte man dort ein bisschen ahnen, was Demokratie sein könnte. Die Bausoldaten gehörten überwiegend der Evangelischen und Katholischen Kirche an. Besonders zu erwähnen sind die Zeugen Jehovas, die von Anfang an ja immer richtig Blutzoll bezahlt haben, d. h. sie entschieden sich stets zur Totalverweigerung und kamen deshalb in den Militärknast. LEHMANN: Die Entscheidung, Bausoldat zu werden, war ja auch so etwas wie ein verdeckter Protest. Die DDR-Regierung hat damit ungewollt einen Kommunikationsraum für Menschen gleicher Gesinnung geschaffen. Kann aber eine solche Gruppe tatsächlich eine Auswirkung auf das Ende der DDR gehabt haben? EPPELMANN: Selbstverständlich waren nicht alle Bausoldaten später politisch aktiv. Doch viele, die in Haft waren, begriffen, die Schicksalsfrage für uns Deutsche ist das Leben in einer freien Demokratie. Auch das DDR-Regime merkte bald, dass eine solche Ansammlung von gleichgesinnten Menschen keine gute Idee war. Deshalb wurden die Bausoldaten in kleinere Einheiten

Im Gespräch mit Rainer Eppelmann: Erfahrungen als Bausoldat

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aufgeteilt und auf das DDR-Gebiet verteilt. Auch nach der Zeit blieben wir zumeist in Kontakt. Bis heute trifft sich unsere Bausoldatengruppe. Sogar einer unserer damaligen Offiziere nimmt inzwischen daran teil. Und wenn Sie sich die Friedensinitiativen innerhalb und außerhalb der Kirche anschauen: Nicht wenige Bausoldaten waren dabei und wirkten bei der Friedlichen Revolution ‘89 mit. LEHMANN: Die Meinungen, wer die Protagonisten der Revolution waren, gehen ja auch heutzutage noch auseinander. Einige meinen, dass letztlich nicht die Demonstrationen, sondern die Ausreisewelle und der finanzielle Bankrott der DDR der Auslöser waren. EPPELMANN: Ich würde noch den öffentlich gemachten Wahlbetrug vom Frühjahr 1989 hinzufügen. Außerdem dürfte das Westfernsehen auch einen gewaltigen Einfluss gehabt haben. Wir als Bürger und auch die Regierenden konnten ja, dank ARD und ZDF, erfahren, wie die Menschen in Westdeutschland lebten. Natürlich wäre die Entwicklung auch nicht so verlaufen, wenn es die großen Politiker nicht gegeben hätte. Darunter zähle ich Michail Gorbatschow oder Papst Johannes Paul II. V#clav Havel hat einmal gesagt: „Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht“. LEHMANN: Das erinnert mich an das Gemälde hinter uns in der Aula der Jenaer Universität. Es stammt von Ferdinand Hodler und zeigt den Auszug deutscher Studenten im Freiheitskrieg von 1813 gegen Napoleon. Ich habe mich immer gefragt, welche Bedeutung die auffällige Zweiteilung des Gemäldes hat. In der oberen Bildhälfte sieht man Studenten in Reih und Glied schreiten. Die untere Bildhälfte ist geprägt von einzelnen Studenten, die sich strecken, anziehen und auf die Pferde steigen. Meiner Einschätzung nach geht es bei dieser Zweiteilung nicht um einen Klassenunterschied zwischen ärmeren Studenten im Freikorps und reicheren in der Kavallerie. Vielmehr ist oben das Kollektiv, bzw. das Aufgehen in den Gemeinwillen und unten wird das Individuum gezeigt. Was beide Bildhälften eint, ist die Entschlossenheit, für die Freiheit in den Krieg gegen Napoleon zu ziehen. Diese Interpretation leitet zu meiner nächsten Frage über. Gab es in Ihrem Leben diesen Moment der Entschlossenheit: „Es muss Schluss sein mit der DDR“? EPPELMANN: Ja, einen solchen Moment gab es. Aber es hat eine Weile gedauert, auch aktiv dafür Sorge zu tragen. Als ich eine Frau fand, mit der ich alt werden wollte, spätestens als unsere Kinder zur Welt kamen, dachte ich mir : „Wenn das so weitergeht, dann wird es auch in 10 oder 15 Jahren nicht besser, sondern noch schlechter“. Dabei ging es mir ja als Pfarrer noch besser als anderen Menschen in der DDR. Ich durfte ja sicher sein, dass ich mein Gehalt

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Roland M. Lehmann

von der Kirche erhalte. Ich brauchte mir keine Sorgen machen, was aus meiner Frau und meinen Kindern wird, sollte ich nochmals ins Gefängnis kommen. Mir half dabei das schöne Bild von einem Nussbaum. Ein Walnussbaum benötigt 60 bis 80 Jahre, bis er so richtig seine Früchte trägt. Ein Bauer, der einen solchen Baum pflanzt weiß also, dass er in seinem Leben nie die Ernte genießen kann. Er tut dies aber für seine Kinder und Enkel. Diese sollen später wenigsten die Möglichkeit haben, Nüsse essen zu können. Aber dafür brauchen sie den Baum! Und dann 1989 gingen DDR-Bürger auf die Straße und sagten offen die Meinung: „Wir sind mit dem nicht mehr einverstanden, was in unserem Land passiert“. Das interessierte natürlich auch ARD und ZDF. Das bedeutete: Wenn bei uns Leute auf die Straße gehen, war es abends im Fernsehen. Und dort sahen es dann 85 % aller DDR-Bürger. Es war also nicht mehr geheim zu halten. Die schlimmsten Stunden für das DDR-Regime waren, als die Westsender zeigten, wie die DDR-Bürger in Prag, Warschau und Budapest über die Zäune bzw. Mauern der westdeutschen Botschaften kletterten, um nach Westdeutschland ausreisen zu können. Gleichzeitig behauptete die Regierung: „99,9 % des Volkes stehen geschlossen hinter uns“. Für den 9. Oktober in Leipzig standen bereits die Panzer da. Erich Honecker rechnete mit 30.000 Protestierenden. Dann wurden es aber über 80.000. Da hat die Regierung sich nicht mehr getraut, dagegen gewaltsam vorzugehen. Der damalige Leipziger Superintendent Friedrich Magirius hat die Situation wunderbar auf den Punkt gebracht. Er sagte: „An diesem Abend hat die Angst die Seiten gewechselt!“ LEHMANN: Lieber Herr Eppelmann, wir danken herzlich für das Gespräch!

Abkürzungsverzeichnis

Die Abkürzungen in dem gesamten Band richten sich nach Schwertner, Siegfried M.: IATG3 –Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete, 3. überarbeitete u. erweiterte, Aufl. Berlin / Boston 2014. Zusätzlich werden folgende Abkürzungen verwendet: AG AGG AKG DRK EOS FDJ GST HA JArchZE LHA LKR MfS MFSt NVA o. Aut. OdF PGH POS Prov.Sig. S.E. SBZ SED Sig. StVA unpag. VEB VVN ZIW ZK

Arbeitsgruppe Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz Auswertungs- und Kontrollgruppe Deutsches Rotes Kreuz der DDR Erweiterte Oberschulen Freie Deutsche Jugend Gesellschaft für Sport und Technik Hauptabteilung Jehovas Zeugen Archiv Zentraleuropa Landeshauptarchiv Landkreis Ministerium für Staatssicherheit Mennonitische Forschungsstelle Nationale Volksarmee ohne Autor, ohne Autorin Opfer des Faschismus Produktionsgenossenschaft Polytechnischen Oberschulen provisorische Signatur Sua Eccellenza / Seine Exzellenz Sowjetische Besatzungszone Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Signore Strafvollzugsanstalt unpaginiert Volkseigener Betrieb Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes Zentralinstitut für Weiterbildung Zentralkomitee

Autorinnen und Autoren

Falk Bersch, freiberuflicher Historiker. Dr. Heiner Bröckermann, M.A., Oberstleutnant, Leiter des Bereiches Grundlagen in der Abteilung Bildung am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw). Dr. Roland Cerny-Werner, MMag. theol. / phil., Assoziierter Professor für Patristik und Kirchengeschichte an der Katholisch Theologische Fakultät der Paris-Lodron-Universität Salzburg. Dr. Hans-Hermann Dirksen, Rechtsanwalt und Professor für Wirtschaftsrecht und Digitalisierung an der Hochschule für Ökonomie und Management (FOM) in Frankfurt am Main. Rainer Eppelmann, Vorsitzender der Bundesstiftung Aufarbeitung der SEDDiktatur in Berlin und ehemaliger Minister für Abrüstung und Verteidigung in der DDR. Dr. Klaus Fitschen, Professor für Neuere und Neueste Kirchengeschichte an der Universität Leipzig. Dr. Kristina Koebe, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „Sozialistische Schule zwischen Anspruch und Wirklichkeit – die pädagogischen Lesungen in der DDR 1950–1989“ an der Universität Rostock. Dr. Roland M. Lehmann, Privatdozent für Kirchengeschichte und Wissenschaftlicher Koordinator des Projekts „Diskriminierung von Christen in der DDR. Dargestellt am Beispiel von Bausoldaten, Totalverweigerern und Jugendlichen im Widerstand gegen die Wehrerziehung in den 1960er Jahren mit Schwerpunkt Thüringer Raum“ an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Dr. Claudia Lepp, Professorin am Lehrstuhl für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte und Leiterin der Forschungsstelle für Kirchliche Zeitgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

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Autorinnen und Autoren

Dr. Henning Pietzsch, Vorsitzender Geschichtswerkstatt Jena e. V., Redaktion „der stacheldraht“ der Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft (UOKG) Berlin. Dr. Detlef Pollack, Seniorprofessor am Exzellenzcluster „Religion und Politik“ an derWestfälischen Wilhelms-Universität Münster. Dr. Albert Scherr, Professor für Soziologie an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Dr. Jörg Seiler, Professor für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit an der Universität Erfurt. Dr. Christopher Spehr, Professor für Kirchengeschichte und Leiter des Projekts „Diskriminierung von Christen in der DDR. Dargestellt am Beispiel von Bausoldaten, Totalverweigerern und Jugendlichen im Widerstand gegen die Wehrerziehung in den 1960er Jahren mit Schwerpunkt Thüringer Raum“ an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Christiana Steiner, Doktorandin und Lehrbeauftragte am Lehrstuhl für Kirchengeschichte der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Bernhard Thiessen, Pfarrer der Berliner Mennoniten-Gemeinde und Leiter des Projekts „Mennoniten in der DDR“.

Personenregister

Adenauer, Konrad (1876–1967) 46 f., 56, 59, 117 Adler, Friedrich „Fritz“ (1889–1970) 98 Althausen, Johannes (1929–2008) 103 Arlt, Gottfried (*1940) 206 Assmann, Reinhard (*1952) 333 Auerbach, Thomas (1947–2020) 17, 166, 168 f. Aufderbeck, Hugo (1909–1981) 289 Baldwin, James (1924–1987) 159 Bambowsky, Gerd (*1930) 334 Barth, Karl (1886–1968) 14, 34, 38, 56, 130 Barth, Wolfgang (*1941) 307 Barthel, Werner (*1941) 300 Baudissin, Wolf Graf von (1907–1993) 47 Bauer, Walter (1901–1968) 59 Bea, Augustin (1881–1968) 286 Benedikt XV. (1854–1922) 278 Bengsch, Alfred (1921–1979) 120, 251 f., 255–257, 259 f., 265, 281–285, 288 f. Berger, Christfried (1938–2003) 127, 243 Bersch, Falk (*1972) 21 Besier, Gerhard (*1947) 219 Besser, Otto (1927–?) 146 Biermann, Wolf (*1936) 17, 109, 168, 171, 290 Bismarck, Klaus von (1912–1997) 59 Blücher, Franz (1896–1959) 59

Bock, Jürgen (*1942) 301 Böhmer, Frank (*1939) 311 Bolte, Adolf (1901–1974) 284 Braecklein, Ingo (1906–2001) 142, 146 f., 149, 222, 235, 241, 243 Brinkel, Karl (1913–1965) 222 Bröckermann, Heiner (*1966) 16 Brunotte, Heinz (1896–1984) 117 Buck-Morss, Susan (*1942) 186 Cardenal, Ernesto (1925–2020) 159 Casaroli, Agostino (1914–1998) 277 f., 280, 285, 288 f. Cerny-Werner, Roland (*1975) 21 Christ, Karsten (*1978) 166 Chrusˇcˇ[v, Nikita (1894–1971) 119 Cox, Harvey (*1929) 160 Crous, Ernst (1882–1967) 322, 331 Damm, Uwe (*1956) 295, 311 Danielsmeyer, Werner (1910–1985) 64 Dibelius, Otto (1888–1967) 28, 34, 58, 117 f., 120 Dieckmann, Johannes (1893–1969) 35 f., 58 Dirksen, Hans-Hermann (*1966) 16, 312 Domaschk, Matthias (1957–1981) 109, 290 Döpfner, Julius (1913–1976) 252 f., 255–257, 265, 281–284 Dost, Herbert (1908–1990) 103 Droit, Emmanuel (*1978) 263

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Personenregister

Eberbach, Heinrich (1895–1992) 57 Eisenfeld, Bernd (1941–2010) 116 Eisenhower, Dwight D. (1890–1969) 47 Eisenhuth, Heinz-Erich (1903–1983) 222 Engel, Dieter (*1939) 309 Eppelmann, Rainer (*1943) 12, 22, 110, 343–348 Erbe, Fritz (1500–1548) 316 Falcke, Heino (*1929) 63 f., 66, 128 Fischer, Martin (*1980) 260 Fitschen, Klaus (*1961) 14, 208 Fleischer, Klaus (*1938) 311 Fränkel, Hans-Joachim (1909–1996) 203 f. Fricke, Karl-Wilhelm (*1929) 115 Friedrich, Gernot (*1937) 145 Friesen, John R. (1934–2011) 330, 333 Friesen, Marian (*1932) 330 Fritzsch, Siegfried (*1939) 308 Fuchs, Jürgen (1950–1999) 168 f., 290 Fuchs, Lieselotte „Lilo“, geb. Uschkoreit (*1953) 168 f. Führ, Fritz (1904–1963) 35 f. Fulbrook, Mary (*1951) 258 f. Galen, Clemens August Graf von (1878–1946) 344 Geiser, Daniel (*1939) 22, 322, 324–327 George, Reinhold (1913–1997) 103 Gerloff, Dietrich (1936–2021) 107 Gerstenmaier, Eugen (1906–1986) 57 Giersch, Martin (1901–1969) 226 Goetzke, Bruno (1895–1962) 319 Goetzke, Charlotte (1901–1987) 319 Götting, Gerald (1923–2015) 78, 127 Gorbatschow, Michail (1931–2022) 347 Graf, Friedrich Wilhelm (*1948) 40 Grebel, Konrad (1498–1526) 316 Große, Ludwig (1933–2019) 145 Grotewohl, Otto (1894–1964) 59, 224 Grüber, Heinrich (1891–1975) 28

Grundmann, Walter (1906–1976) 222 Grünstein, Herbert (1912–1992) 101 Guretzka, Rudolf (*1939) 308 Haake, Wolfgang (*1942) 301 Hamel, Johannes (1911–2002) 33 f., 102 f., 226 Hansen, Knuth (1938–2019) 334 f. Hanusch, Wolfgang (*1938) 300 Hassel, Kai-Uwe von (1913–1997) 49 Haug, Martin (1895–1983) 57 Hauskeller, Jürgen (*1937) 138, 145 Havel, V#clac (1939–2011) 347 Havemann, Katja, geb. Annedore Grafe (*1947) 168 Havemann, Robert (1910–1982) 168 Heine, Heinrich (1797–1856) 203 Heinemann, Gustav (1899–1976) 50, 56 Hempel, Werner (*1940) 311 Hermann, Arthur (*1940) 168 Herrberger, Marcus (*1968) 296 Hertzsch, Klaus-Peter (1930–2015) 145 Heye, Hellmuth (1895–1970) 49 Hildebrandt, Jörg (*1939) 345 Hildebrandt, Regine (1941–2001) 345 Hintzenstern, Herbert von (1916–1996) 222 Hitler, Adolf (1889–1945) 301 Hoffmann, Fritz (1906–1996) 103 Hoffmann, Heinz (1910–1985) 118 f., 126, 129 Hoffmann, Jürgen (1982/3–1988) 166 Holzbrecher, Sebastian (*1982) 259 Honecker, Erich (1912–1994) 78, 118, 289, 348 Honecker, Margot (1927–2016) 202 Hoogeveen, Marie „Rie“ (1929–2010) 22, 322, 324, 326 f., 332 Hummel, Karl-Joseph (*1950) 259 Huth, Heinz (1917–2002) 124

Personenregister Jacob, Günter (1906–1993) 32 f., 38, 59 Jacobi, Steffen (*1942) 310 Jaeger, Lorenz (1892–1975) 284 Jahn, Herbert (*1939) 296 f. Jahn, Roland (*1953) 109, 290 Jänicke, Johannes (1900–1979) 63, 241 Jantzen, Berta (1915–2000) 321 f., 329 Jantzen, Walter (1907–1993) 22, 321–323, 326 f., 329–331, 334, 336 Jefferson, Thomas (1743–1826) 186 Johannes, Wolfram (*1943) 146 f., 168 Johannes XXIII. (1881–1963) 21, 278, 280 f., 283 f. Johannes Paul II. (1920–2005) 277, 347 Jungmann, Erich (1907–1986) 104 Kahlenberg, Richard D. (*1963) 191 Kaiser, Jakob (1888–1961) 103 King, Martin Luther (1929–1968) 159, 344 Kirchner, Martin (*1970) 146 f., 154 Kirsten, Gerhard (*1938) 299 Klärig, Egon (*1939) 309 Klemm, Hermann (1904–1983) 64 Kleßmann, Christoph (*1938) 45 Knabe, Hubertus (*1959) 15 Koch, Ernst (*1930) 219 Koch, Margarethe (1470–1537) 316 Koch, Rainer (*1939) 298 f. Koch, Uwe (1950–2013) 135, 138, 144, 148, 152 Koch-Hallas, Christine (*1968) 220 Koebe, Kristina (*1972) 14 König, Franz (1905–2004) 286 König, Lothar (*1954) 17, 171 Kowalczuk, Ilko-Sascha (*1967) 15 Kramer, Helmut (1910–2011) 222 Kraut, Heinz (*?–1536) 316 Krüger, Harry (*1939) 298 Krummacher, Friedrich-Wilhelm (1901–1974) 36 f., 59, 64 f., 123 f., 233, 235 Krusche, Werner (1917–2009) 30 Kunst, Hermann (1907–1999) 117

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Kwiatkowski-Celofiga, Tina (*1974) 201 Landmann, Herbert (1919–2011) 333 f. Lasch, Peter (*1940) 310 Lehmann, Roland M. (*1973) 18 Leich, Werner (*1927) 152, 154, 164, 221 f. Lepp, Claudia (*1965) 13 Lobenstein, Peter (1941–2018) 299 Locher, Benjamin (1909–1987) 64 Lohan, Alfred (?) 106 Lotz, Gerhard (1911–1981) 20, 73, 146 f., 218, 220–225, 229 f., 233, 235–240, 242 f. Luther, Martin (1483–1546) 223, 316 Lüthy, Manfred (*1939) 303 Meckel, Markus (*1952) 207 Melsheimer, Ernst (1897–1960) 99 Merker, Paul (1894–1969) 104 Meuche, Konrad (*1942) 310 Mickley, Johannes (1910–1977) 321 Mielke, Erich (1907–2000) 101 f., 222 Mitzenheim, Edgar (1896–1983) 224 Mitzenheim, Hartmut (1921–2000) 142, 146, 154 f. Mitzenheim, Moritz (1891–1977) 20, 28, 31, 37, 73, 123, 146 f., 165, 217 f., 220, 222–242 Müller, Eberhard (1906–1989) 57 Müller, Peter (*1937) 330, 333 Müller, Ringo (*1982) 263 Müntzer, Thomas (1489–1525) 316 Musigmann, Wolfgang (*1956) 17, 171 Naumann, Martin (*1982) 203 f. Neubert, Ehrhart (*1940) 15, 229 Neururer, Otto (1882–1940) 289 Niemöller, Martin (1892–1984) 56 Noack, Axel (*1949) 74

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Personenregister

Noth, Gottfried (1905–1971) 37, 59, 126, 226, 232 Nuschke, Otto (1883–1957) 59 f. Ordnung, Carl (1927–2012) 321

78, 127,

Pabst, Walter (1912–1999) 221 Paul VI. (1897–1978) 21, 278, 285 Pflugk, Heinz-Friedrich (1903–1989) 64 Pietzsch, Henning (*1962) 17 Pilvousek, Josef (*1948) 251–253, 256–258 Pius IX. (1792–1878) 276 Pius XI. (1857–1939) 277 f. Pius XII. (1876–1958) 277 f., 280, 290 Planer-Friedrich, Götz (1939–2022) 219 Plenikowski, Anton (1899–1971) 233 Pollack, Detlef (*1955) 13 Prennig, Thomas (*1983) 202 f. Preysing, Konrad Graf von (1880–1950) 281 Putz, Eduard (1907–1990) 64 Rathenow, Lutz (*1952) 290 Riccardi, Andrea (*1950) 277 Riedel, Hans-Dieter (*1939) 311 Rochau, Lothar (*1952) 157 Roeser, Renate (*1946) 335 Rosin, Maximilian (*1993) 217, 316 Roßberg, Klaus (*1937) 153 f. Rößler, Peter (*1940) 303 f. Ruppert, Manfred (*1940) 304–306, 311 Rüster, Helmut (*1938) 300 Saft, Walter (1923–?) 146 f. Säuberlich, Gerhard (1901–1959) 222, 224 Schäfer, Hans (1928–2012) 147, 154, 168, 282

Scharf, Kurt (1902–1990) 34, 37, 120, 283 Scharnhorst, Gerhard von (1755–1813) 116 Schenk, Wolfgang (1934–2015) 241–243 Scherr, Albert (*1958) 17 f. Schicketanz, Peter (1931–2018) 241 Schilling, Walter (1930–2013) 16, 135–160, 168 f. Schlegel, Jochen (1929–2020) 146 Schleußner, Horst (*1935) 302 Schlüter, Gisela (*1957) 196 Schmutzler, Georg-Siegfried (1915–2003) 104 f., 226 Schneider, Paul (1897–1939) 289 Schnez, Albert (1911–2007) 49 Schönherr, Albrecht (1911–2009) 163 Schultz, Erich (1899–1969) 320 Schütz, Alfred (1899–1959) 189 Sefrin, Max (1931–2000) 233 Seigewasser, Hans (1905–1979) 35, 76, 123, 233, 239 f. Seiler, Jörg (*1966) 20 Sieber, Walter (1911–1984) 142, 146 f. Simmel, Georg (1858–1918) 181 Simons, Menno (1496–1561) 316 f. Sl#nsky´, Rudolf (1901–1952) 104 Sölle, Dorothee (1929–2003) 78 Spehr, Christopher (*1971) 20, 195 Spülbeck, Otto (1904–1970) 120, 284 Stalin, Josef (1878–1953) 28, 52, 104, 320 Stammler, Eberhard (1915–2004) 48 Steiner, Christiana (*1980) 16 Steinhoff, Carl (1892–1981) 320 Steinlein, Reinhard (1919–2006) 32 Stoph, Willi (1914–1999) 37, 60, 118, 123, 126, 233 f., 259 f. Strauß, Franz Josef (1915–1988) 117 Thurm, Christoph (1925–2000) Thieme, Paul 98

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Personenregister Thiessen, Bernhard (*1957) 22 Tilly, Charles (1929–2008) 189 Ulbricht, Walter (1893–1973) 35, 101, 118 f., 128, 218, 222, 225, 320, 343 Ullrich, Lothar (1932–2013) 258 Verner, Waldemar (1914–1982) 127 f. Verwiebe, Walter 64 Vogel von Frommannshausen-Schubart, Dietrich 154 Voigt, Erhard (1926–2023) 241, 243 Voigt, Gottfried (1914–2009) 64

Warnke, Hans (1896–1984) 101 Weber, Petra (*1958) 45 Weizsäcker, Carl Friedrich von (1912–2007) 117 Weltz, Friedrich (*1927) 49 Werneburg, Hans-Joachim (1922–2003) 146 f. Weskamm, Wilhelm (1891–1956) Widera, Thomas (*1958) 125 Wienert, Jürgen (1943–?) 107 Zick, Andreas (*1962) 197 Zuckermann, Leo (1908–1985)

281

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